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Leseprobe aus: Jochen Distelmeyer Otis Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Jochen Distelmeyer

Otis

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

JOCHEN DISTELMEYER

OTIS

ROMAN Rowohlt Taschenbuch Verlag

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,Reinbek bei Hamburg, August 2016

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH,Reinbek bei Hamburg

Umschlagabbildung freeimages.com/Marcin KuligowskiSatz aus der Hoefler Text, PostScript, InDesign,

bei Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH, Leck, Germany

ISBN 978 3 499 22300 6

«There is no such thing as society.There are men and women and families.»

Margaret Thatcher

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Die Sonne hatte sich den Himmel zurückerobert und schien über die Häuser der Stadt, als sei nichts gewe-

sen. Von den Bäumen zwitscherten die Vögel, und weiter unten hatten einige, trotz der anhaltenden Kälte, an den noch spärlichen Tischen vor den Cafés Platz genommen. Auf den Spielplätzen standen vereinzelt Mütter, die ihren Kindern zusahen, während in den umliegenden Gebäuden die Menschen wieder ihren Geschäften und gewohnten Ar-beiten nachgingen. Der Berufsverkehr der frühen Morgen-stunden hatte sich gelegt und war mittlerweile in ein hier und da aufbrandendes Rauschen übergegangen, eine Art Singsang oder Takt, der dem Tag eine andere, menschliche Struktur verlieh. Einheimische und Zugereiste aus allen Tei-len der Welt bevölkerten dazu bald die Straßen und unter-irdischen Verkehrsnetze, machten ihre Besorgungen in den Läden oder standen in Schlangen vor den Fahrkartenauto-maten. Alle nahmen sie teil an den komplexen Segnungen und Gewissheiten der Metropole, die sich bereitgemacht hatte, auch an diesem Tag die ganze Pracht ihrer Errungen-schaften zu entfalten.

Als Tristan Funke an diesem Vormittag das Haus verließ, kam es ihm vor wie das Eintauchen in etwas Vergangenes. «Schade.» Sein Blick fiel auf eine neben dem Haus abgestell-

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te Jugendstilkommode, deren Holz sich vom Dauerregen der letzten Tage so mit Wasser vollgesogen hatte, dass ihre Deckplatte sich bereits zu wellen begann und sie als Ganzes nicht mehr zu gebrauchen war. Tristan ließ daher von sei-nem ursprünglichen Plan, das Möbel in seine Wohnung zu schaffen, ab und setzte sich wieder in Bewegung.

Der Himmel leuchtete über ihm, und beim Anblick der strahlenden Weite erfüllte ihn wieder jenes Gefühl tiefer Dankbarkeit und Freude, wie er es bei seiner Ankunft hier vor einigen Jahren zum ersten Mal erlebt hatte.

Infolge einer gescheiterten Liebe hatte er seine Anstel-lung bei einem Hamburger Verlagshaus gekündigt und war hierher, in eine kleine Wohnung im Ostteil der Stadt, ge-zogen. Die Großzügigkeit der Straßenverläufe, die schiere Dimension der Stadt und ihrer Möglichkeiten waren ihm dabei wie ein Geschenk vorgekommen, das ihn für Ver-letzungen der Vergangenheit entschädigen sollte. Anfangs hatte er sich an all dem nicht sattsehen können und tägliche Exkursionen unternommen, um, wie er sich sagte, «ein Ge-spür fürs Ganze» zu bekommen, sich ein Bild zu machen von dem, was von nun an sein neues Zuhause sein würde. Dabei schien die Offenheit der Menschen mit seiner eige-nen, der eines gebrochenen Herzens, zu korrespondieren, und schon bei seinem ersten Eintreten in den anonymen Strom der Menge in den Gängen unterhalb des Alexander-platzes hatte er das Gefühl gehabt, angekommen zu sein.

Er hatte den Eingang seiner U-Bahn-Station erreicht, ging die Stufen hinunter und warf einen Blick auf die An-zeigetafel. Noch eine Minute. Er war auf dem Weg zu einer Verabredung mit seinem Onkel Cornelius, der ihn vor ein

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paar Tagen angerufen hatte: «Tristan! Conny hier. Du, ich bin mit Juliane in der Stadt. Hatte ihr doch zum Abitur ei-nen Berlinbesuch versprochen. So, und jetzt sind wir noch bis nächste Woche hier und wollten dich gern zum Lunch einladen. Vielleicht am Donnerstag? Gib doch Bescheid, ob’s passt, ja? Wir würden uns sehr freuen. Also, bis dann. Tschüs.»

Cornelius Wegener war ein erfolgreicher und angesehe-ner Rechtsanwalt aus Düsseldorf. Ein Mann von einneh-mendem Wesen, der sich den Elan seiner Jugend auch im höheren Alter erhalten hatte und trotz seines häufig knap-pen Zeitplans von einer unkomplizierten und verbindlichen Art war, die Tristan immer bewundert hatte. Seitdem er sich aber vor ein paar Monaten einen größeren Geldbetrag von seinem Onkel hatte leihen müssen, die Möglichkeiten des engeren Familienkreises waren erschöpft, war ein Wan-del in ihrer Beziehung für Tristan spürbar geworden. Das freundschaftlich distanzierte Verhältnis der beiden schien durch Tristans Abhängigkeit vom Wohlwollen seines On-kels eine Kränkung erfahren zu haben, die das Gleichge-wicht störte und den Umgang miteinander erschwerte. Es war ihm, als sei er mit der erklärten Absicht, ein Buch schreiben zu wollen, in den Augen seines Onkels zu einem bedauernswerten Vertreter jener Spezies hinabgesunken, die er selber noch vor nicht allzu langer Zeit als «Projekt-schwafler» abgetan hatte. Verkrachte Existenzen, die die Stadt und die Erzählungen über sie seit jeher geprägt hat-ten, bis diese nicht einmal mehr als Klischee taugten. Neue Schlagworte und Formeln waren an ihre Stelle getreten und dominierten die Rede.

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Aus dem Tunnel war jetzt das Geräusch des nahenden Zuges zu hören. Dann sah er die Lichter.

Als er die U-Bahn am Hausvogteiplatz wieder verlassen hatte und einen Tabakwarenladen betrat, sah er, dass es den Zeitungen gelungen war, den Bundespräsidenten zu stürzen. Der hatte sich erst vor kurzem als genauso unehrenhaft und offenbar korrupt erwiesen, wie es seine jetzigen Verfolger schon immer gewusst hatten. Schließlich waren sie es ge-wesen, die durch die gegenseitigen Gefälligkeiten im Zuge seiner medialen Inszenierung mit dafür gesorgt hatten, dass der ehemalige Landesfürst trotz oder gerade wegen seiner bemerkenswerten Eigenschaftslosigkeit das höchste Amt im Staate bekleiden konnte. Mit fast schon der Würde des Amtes entsprechendem Trotz hatte dieser sich allerdings nicht bereit gezeigt, sich von seinen Häschern wieder in den Schmutz der gemeinsamen Niedertracht ziehen zu lassen, und alle Anstalten gemacht, den Skandal auszusitzen. Wäh-rend anderswo Diktatoren unter großem Beifall ein langer oder kürzerer Prozess gemacht wurde, war in den hiesigen, medialen Ränkespielen die unterschwellige Sehnsucht nach einem ebenso selbstgerechten wie unangreifbaren und also charismatischen Souverän allzu offensichtlich. Die Wahl seines Nachfolgers galt vielen daher längst als beschlossene Sache und war auf den ehemaligen Leiter der nach ihm be-nannten Stasi-Unterlagen-Behörde gefallen, der sich neben seiner pastoralen Redegewandtheit schon früher durch gro-ße, beinahe präsidiale Integrität ausgezeichnet hatte.

Auch die übrigen Meldungen von nicht enden wollenden

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Katastrophen und drohenden Untergängen ließen seit ge-raumer Zeit erkennen, dass sich das Vertrauen in die demo-kratischen Kräfte verbraucht hatte und die Märkte nicht länger auf sie angewiesen waren. Zwar sollte die Bevölke-rung noch in der Sicherheit ausländischer Krisenszenarien gewiegt werden, aber instinktiv war es allen klar, dass das Spiel längst gelaufen und auf friedlichem Weg nichts mehr zu machen war. «15 Cent.» Er bezahlte die Streichhölzer und ging.

Das «Hotel de Rome», eigentlich «Rocco Forte Hotel de Rome», lag zwischen dem Bebelplatz und der St.-Hedwigs-Kathedrale, in Nähe des Brandenburger Tors und anderer Sehenswürdigkeiten der Stadtmitte. Umgeben von zahlrei-chen Baustellen, bereits fertiggestellten Townhouses und Plakaten, auf denen «Exklusive Eigentumswohnungen für das 21. Jahrhundert» beworben wurden, machte es mit sei-nem an die italienische Hochrenaissance angelehnten Bau-stil einen eher unscheinbaren Eindruck. Nur der Portier und ein Page im Eingangsbereich ließen erahnen, dass es sich bei dem ehemaligen Bankgebäude um ein De-Luxe-Hotel der Spitzenklasse handelte.

Tristan hatte unter den prüfenden Blicken des Personals seine Zigarette aufgeraucht und war eingetreten. Nach ei-nem Rundgang durch die Hotelbar und das anliegende Re-staurant kehrte er in die Lobby zurück und setzte sich auf eines der ausladenden, schwarzen Loungesofas gegenüber der Rezeption. Der Concierge und zwei Empfangsdamen waren mit dem Ein- und Auschecken einiger Gäste be-

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schäftigt, und da sein Onkel und seine Cousine noch nicht erschienen waren, bestellte er bei einem Hoteldiener einen Espresso und wartete. Er hatte seinen Mantel gerade neben sich abgelegt, als er das leise Brummen aus der Seitentasche bemerkte. Kaum hatte er sein Handy ergriffen, um den Anruf entgegenzunehmen, war das Brummen aber bereits wieder verklungen und auf dem Display lediglich eine ihm unbekannte Nummer verzeichnet. Er steckte das Telefon zurück in seine Manteltasche und wandte sich wieder dem entspannten Treiben im Empfangsbereich zu. Die Opulenz der Räumlichkeiten und das verzweifelte Zuviel der Innen-einrichtung hatten etwas Irritierendes, ja Einschüchterndes für Tristan. Umso mehr beeindruckte ihn das beiläufige Benehmen der Anwesenden. Fasziniert verfolgte er den rei-bungslosen Ablauf des Geschehens, und fast war es ihm, als wohne er einer gelungenen Aufführung bei, in der alle Be-teiligten bemüht waren, sich ihren Rollen entsprechend un-auffällig zu verhalten. Als die Kellnerin den Kaffee brachte und ihm die Rechnung überreichte, bedankte er sich mit ei-nem angemessenen Trinkgeld. Anschließend nippte er den Espresso in kleinen Schlucken.

Nach einer Weile hatte er auch das Glas Wasser ge-leert und auf dem Tisch vor sich abgestellt, da bemerkte er die junge Frau, die aus dem Aufzug in die Halle getreten war und dort für einiges Aufsehen sorgte. In ihren langen, schwarzen, mit weißen Rüschen besetzten Kniestrümpfen, dem schwarzen, mit ebensolchen Rüschen und Spitzen ver-ziertem Petticoat-Mini, einem Brokatmantel im Arm und mit den typischen «Mary Jane»-Spangenschuhen ganz im Stil einer «Gothic Lolita» gekleidet, steuerte sie direkt auf

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ihn zu. Vor Tristan angekommen, drückte sie ihm zur Be-grüßung einen Kuss auf die Wange.

«Wow, kein schlechter Auftritt!»«O komm, krieg dich wieder ein.»«Nee, im Ernst. Wo ist Cornelius?»«Telefoniert noch.»Er hatte seine Cousine das letzte Mal anlässlich ihrer

Konfirmation vor knapp vier Jahren gesehen und war jetzt doch einigermaßen überrascht, wie sie sich seitdem gemacht hatte. Nur das zarte Rosa ihrer Handflächen und der helle, makellose Teint ließen noch auf das Kind schließen, als das er sie in Erinnerung hatte. Sie setzten sich.

«Und, wie isses? Was habt ihr gemacht?»«Ach, das Übliche. Sightseeing, Museen, Shoppen.

Kommt mir vor wie ein Schulausflug. Bisschen öde, aber ganz nett. Vorgestern haben wir einen Makler getroffen, der sich nach einer Wohnung umschauen soll. Aber ich hab Paps schon gesagt, dass ich lieber irgendwo was zur Miete hätte.»

«Ah, verstehe! Du ziehst nach Berlin.»«Mal sehen. Weiß noch nicht genau. Wegen Uni.»«Welches Fach?»«Psychologie.»«Na, super!»«Tja, bei der Familie hat man ja auch einiges an Anschau-

ungsmaterial!»Juliane lächelte ihn jetzt durch ihre pinken, zu langen

Zöpfen gebundenen Haare herausfordernd an.«Ha!» Tristan lachte. Es freute ihn zu sehen, dass seine

Cousine offenbar die charmante Angriffslust ihres Vaters ge-

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erbt hatte, und bezweifelte nicht, dass sie nach abgeschlos-senem Studium und einem gewissen «Mehr» an Lebenserfah-rung eine ausgezeichnete Therapeutin abgeben würde.

«Und dein Bruder?»«Freimut? Studiert noch Jura in Oxford. Hängt aber grad

’n bisschen durch. Liebeskummer. Sieht so aus, als wollte er es schmeißen. Aber Paps meint natürlich, so kurz vorm Ab-schluss … Ah, wenn man vom Teufel spricht!»

In diesem Moment hatte Rechtsanwalt Cornelius Wege-ner die Lobby betreten und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

«Tristan, wie schön! Toll, dass du’s einrichten konntest. Und, was sagst du zum neuen Look? Man nennt es Visual Kei!»

Dabei sah er schmunzelnd zu seiner Tochter, die mit halb herausgestreckter Zunge und gerümpfter Nase den Kopf leicht hin und her warf und dazu die Augen verdrehte.

«Okay. Sorry! Wollen wir gleich weiter?»Nachdem man das Hotel verlassen und die Straße be-

treten hatte, reichte Cornelius seiner Tochter den Arm und wandte sich im Gehen wieder an den Neffen.

«Und, was macht die Kunst?»Tristan stutzte. Da war er. Jener leicht herablassende

Unterton, mit dem er gerechnet, auf den er insgeheim sogar gewartet hatte, dessen ironische Spitze ihn aber dennoch unvorbereitet traf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als wahrheitsgetreu zu antworten.

«Ganz gut so weit. Arbeite noch am Schluss. Lasse den Protagonisten gerade seinen Wendepunkt erreichen. Mal sehen, wohin es ihn treibt.»

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«Ah, Wendepunkt! Sehr interessant! Musst du mir unbe-dingt ausführlicher erzählen. Entschuldige kurz …»

Cornelius hatte sich von Juliane gelöst und nach seinem klingelnden Handy gelangt. Dann änderte sich sein Tonfall.

«Und?! Was sagt er? … Nein, auf keinen Fall! … Hast du ihm gesagt, dass er … Mhm … Na, das wär das Dümmste! …» Während der Anwalt sich weiter zurückfallen ließ und sie in die Charlottenstraße einbogen, warf Juliane ihrem Cousin flüchtig einen entnervten Blick zu. Am Restaurant ange-kommen, warteten sie vor dem Eingang, bis ihnen Corne-lius signalisierte, doch schon ohne ihn einzutreten.

Das «Fischers Fritz», über viele Jahre Berlins einziges Zwei-Sterne-Restaurant, stellte mit seinem gediegenen, holzvertäfelten Ambiente und den anspruchsvollen Prei-sen einen exklusiven Ruhepol im Getriebe der Stadt dar. Am Empfang zunächst mit einiger Zurückhaltung begrüßt und nach einer Reservierung befragt, hielten sie für einen Moment inne, als Rechtsanwalt Wegener zügigen Schritts hinter ihnen auftauchte und die Räumlichkeiten in Augen-schein nahm.

«Leider nein, aber Sie wirken leicht reserviert. Ob Sie uns trotzdem einen Tisch anbieten könnten?»

Mit gequältem Lächeln wurden die drei daraufhin an ei-nen der raumteilenden Tische in der Mitte des Restaurants geführt. Nachdem man die Menüs zusammengestellt hatte, wandte sich der Anwalt mit sorgenvoller Miene an Juliane und Tristan.

«Okay, ihr zwei, wird wohl das Beste sein, wenn ich’s kurz mache. Die Kanzlei hat einigen Ärger mit einem wichtigen Mandanten. Das heißt, ich werde morgen nach Frankfurt

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fliegen müssen und würde dich, meine Liebe, gern der Ob-hut deines Cousins überlassen. Vorausgesetzt, Tristan, es macht dir nichts aus, dich für ein paar Tage um Juli zu küm-mern. Ihr die Stadt zu zeigen, du weißt schon. Natürlich nur, falls du nicht schon anderweitig verplant bist.» Juliane blickte achselzuckend zu ihrem Cousin, dem das plötzliche Anliegen seines Onkels tatsächlich ungelegen kam. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, übers Wochenende weiter an seinem Roman zu arbeiten, den Faden nicht abreißen zu lassen. Stattdessen fand er sich jetzt in einer Situation wieder, die ihm auf beklemmende Weise das Ausmaß sei-ner Abhängigkeit vor Augen führte. Seinem Onkel zu Dank verpflichtet, konnte er dessen Bitte unmöglich abschlagen. Vielmehr war die Entscheidung längst ohne ihn gefallen. So war es weniger der Umstand, die kommenden Tage anders als geplant zu verbringen, als die Einsicht in die eigene Un-freiheit, die Tristan zögern ließ, bevor er sich mit einigem Unbehagen in sein Schicksal fügte.

«Kein Problem! Ich bräuchte die Tage nur ein paar freie Stunden, um arbeitstechnisch nicht ganz aus dem Tritt zu kommen. Aber sonst stehe ich gern zur Verfügung.»

«Ausgezeichnet! Juli, was sagst du? Schätze, du lässt dich eh lieber von deinem Cousin durch Berlin führen, als mit deinem alten Vater von Museum zu Museum zu schleichen.»

«Genau.»«Na, dann ist ja alles bestens. Ach, wir haben ja für mor-

gen noch Karten fürs Theater! ‹Das Loch› am DT! Da könn-tet ihr doch eigentlich zusammen hingehen. Wäre wirklich zu schade, die verfallen zu lassen!»

Während die Amuse-Gueules gereicht wurden, kleine

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Aufmerksamkeiten der Küche, die auch den weiteren Ver-lauf der Menüfolge begleiten sollten, verständigte man sich darauf, dass die jungen Leute sich am morgigen Abend beim Hotel treffen und dann gemeinsam die Aufführung am Theater besuchen würden. Bald darauf brachte der Service die Vorspeisen. Ein Tatar von geräuchertem Havelaal mit Chips und Gelee vom Granny Smith und einer Meerrettich-Crème-fraîche für Cornelius, das Saiblingscarpaccio mit Chicoree-Haselnusssalat und Limettenvinaigrette für seine Tochter und Tristans pochiertes Onsenei mit mildgesäuer-ten Bohnen und Hummerjus, ein Klassiker des Restaurants. Angesichts des überbordenden Angebots der Weinkarte war man der Empfehlung des Maître gefolgt und hatte sich für einen Riesling pur mineral aus Franken entschieden. Ein trockener, strohgelber Weißwein, der trotz seiner mangeln-den Tiefe mit einem Duft nach Pfirsich und Limone und der jugendlichen Spannkraft seines Säurespiels überzeugte und sich perfekt zu den robust-ausgeklügelten Fisch- und Meerestierkreationen des Küchenchefs fügte. Auch die nach einem weiteren Gruß aus der Küche folgenden Haupt-gänge, ein St.-Patricks-Lachs mit knusprigen «Ladyfingers», in indisch-scharfer Panade gebackene Okraschoten, ein Kabeljauconfit mit Couscous und Jus von Korinthen und Salzzitronen sowie ein Cassoulet vom Wolfsbarsch im Boh-nensud, standen dank ihrer handwerklich hohen Präzision in schönem Gegensatz zum prätentiösen Flair des Restau-rants.

Dass man während des Beisammenseins nicht weiter auf Tristans literarische Gehversuche zu sprechen kam, war da-bei nur im Interesse des jungen Autors. Stattdessen tausch-

te man sich über die Verwandtschaft aus und besprach die Vor- und Nachteile einer Eigentumswohnung für Juliane. Wie immer entspannte sich Tristan in der Gesellschaft seiner Familie zunehmend, und bald sah er auch dem Wo-chenende als Begleiter seiner Cousine deutlich gelassener entgegen.

Als man sich später vor dem Restaurant voneinander ver-abschiedete, bedankte er sich bei dem Onkel für die Ein-ladung, wünschte einen guten Flug und winkte den beiden im Weggehen ein letztes Mal zu.