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oUd434 ý3 - mgh-bibliothek.de · Vom Handwerk zur Ingenieurwissenschaft Teil II von Hans Martin Klinkenberg Im 1. Teil dieser Untersuchung' haben wir Handwerk von Ingenieur-

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ARCHIV enllý�kA7 FÜR

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KULTURGESCHICHTE

In Verbindung mit

Karl Acham, Günther Binding, Wolfgang Bruckner, Kurt Düwell Wolfgang Harms, Gustav Adolf Lehmann

herausgegeben von

EGON BOSHOF

77. Band " Heft 2

SONDERDRUCK

im Buchhandel nicht erhältlich

oUd434 ý3

1995

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Inhalt

Aufsätze

LUTZ E. v. PADBERG, Odin oder Christus? Loyalitiits- und Orien- tierungskonflikte in der frühmittelalterlichen Christianisie- rungsepoche ....................................... 249

HUBERTUS LUTTERBACH, Pastor noster Anskarius'. Das Hirten- Ideal des Hl. Ansgar im Kontext der Entwicklungsgeschichte christlicher Frömmigkeit

............................. 279

KURT PREISSINGER, Die MacDonalds von Islay und Lords of the Isles. Schottische Adelige und gälische Fürsten ............ 301

VOLKER LEPPIN, Der Lateinische Totentanz aus Cpg 314 als Ursprungstext der europäischen Totentanztradition. Eine alte These neu bedacht .................................. 323 ULRICH MÜLLER, Künstlerische Fiktion zu Beginn des Ästheti-

schen Zeitalters .................................... 345

RAINER BRÜNING, Gulliver's Travels oder der englische Überfall

auf Kopenhagen (1807) in der Karikatur .................

371

GÜNTHER KRONENBITTER, �Trüffeln oder Erdäpfel�. Friedrich

Gentz und die politische Sprache ....................... 383

JÜRGEN STEINLE, Geschichtsmethode und Politik bei Karl Lamp- recht ............................................. 405

WOLFGANG KROGEL, Dante und die italienische Nation. Unter- suchung der 600-Jahr-Feiern zu Ehren Dantes in Florenz 1865 bis 1921

.......................................... 429

HANS MARTIN KLINKENBERG, Vom Handwerk zur Ingenieurwis- senschaft. Teil 11

.................................... 459

Kulturgeschichtliche Umschau

Besprechungen ..................................... 475

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Vom Handwerk zur Ingenieurwissenschaft

Teil II

von Hans Martin Klinkenberg

Im 1. Teil dieser Untersuchung' haben wir Handwerk von Ingenieur- wissenschaft prinzipiell unterschieden. Handwerk arbeitet nach Regeln, deren Herkunft und innere Logik dem Handwerker nicht bekannt sind und nicht bekannt sein müssen. Es genügt die Kunst der Meister zur Erreichung von deren handwerklichen Zielen. Ingenieurwissenschaft arbeitet nach Prinzipien und Methoden, im geläufigen Sinne�rational". Maßgebend dabei sind ontologische Vorstellungen von dem, was �ist" und was man tut.

Alle Wissenschaft ist Ideengeschichte bzw. Geistesgeschichte. Sie richtet sich nicht nach Gegenständen, sondern nach sich geschichtlich verändernden Theorien, die jung, aber auch sehr alt sein können, wie jene Theorie, die bei uns �Natur" heißt, welche erst eine ihr gemäße Form von Natur-Wissenschaft zur Folge hat.

Was Wissenschaft anbetrifft, so sind wir der Bestimmung K. Kor-

marschs gefolgt, daß Wissenschaft konstituiert werde durch Literatur2. Literatur ergibt die Möglichkeit, mit der Zeit Methoden und Kenntnisse

anzusammeln über das Können und Wissen einer jeweiligen individu-

ellen Person hinaus, und das über lange Zeit Gedachte und Getane jeweils �nach"-zudenken und neu zu reflektieren.

Andererseits haben wir die Rolle von handwerklichem Verfahren

auch in Wissenschaft betont. Alle Wissenschaften benutzen ihr �Hand-

werkzeug" an Methoden und Kenntnissen gemäß den Ideen, die sie von sich und Wissenschaft allgemein haben. Das legt ihre Grenzen fest und macht sie lehrbar, wie das an den Universitäten und Technischen Hoch-

t Archiv f. Kulturgeschichte 75,1993, S. 171ff. 2 Ebd.. S. 173

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schulen geschieht. Jedoch ist wissenschaftliche Reflexion in der Lage, diese Grenzen anders zu bestimmen, das heißt andersartige Wissen-

schaften zu machen. Das macht Wissenschaft prinzipiell zu einem historischen Vorgang, jedoch ohne Teleologie, statt dessen in Sprüngen. Es fällt uns nicht immer etwas grundlegend Neues ein; dann bleiben wir bei unserem gewohnten Handwerkszeug, bei unseren gewohnten Ideen

und Methoden. Nun setzen wir diese Überlegungen fort. Wissenschaften sind im

Laufe der Zeit zu bestimmten Formen geronnen. Wissenschaftshistorie muß mit diesen Formen rechnen, aber zugleich deren Auflösungen und die folgenden neuen Gerinnungsprozesse beobachten und untersuchen. Es gibt nicht immer dieselben Wissenschaften, nur alte Vorstellungen davon, was Wissenschaft allgemein sei und wie man ihren allgemeinen Prinzipien folgen müsse. Wissenschaft allgemein bezeichneten wir mit dem griechischen Begriff philosophia, ihre verschiedenen Aufteilungen in Teil- oder Spezialwissenschaften lateinisch als divisio philosophiae. Es gibt keine historia perennis, ebensowenig wie es eine technica perennis gibt oder eine unveränderliche Ingenieurwissenschaft. Daher ist auch die modernste Form einer Wissenschaft nicht diese Wissen- schaft selbst, sondern nur ein zeitweiliger handwerklicher Gebrauch. Wie entstehen diese verschiedenen Formen der Wissenschaften wie der Ingenieurwissenschaft, die uns hier besonders beschäftigt?

Dazu muß man sich ein wissenschaftshistorisches Modell ausdenken, in dem alle speziellen Wissenschaften im Laufe der Zeit, also synchron und diachron angeordnet sind mit den in ihnen jeweils bestimmenden Ideen, ihrer inneren Logik, um sodann zu untersuchen, wie diese Spe- zialwissenschaften aufeinander einwirken und dabei vielleicht neue Formen von Wissenschaften bilden, im ganzen dann eine neue divisio philosophiae. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von solchen Prozes- sen, und sie werden weiterlaufen, solange wir Wissenschaft betreiben. Noch einmal: Das geschieht in Sprüngen und ohne sichtbare Teleologie, wenn auch unsere Kenntnisse und unsere Methoden, unser Können wachsen. Insofern gibt es keinen teleologischen Fortschritt, wie das z. B. die Geschichtstheorie des 12. Jahrhunderts, besonders diejenige Joa- chims von Fiore, meinte, oder Darwin mit seiner Evolutionstheorie, der sich übrigens über deren theologische und philosophische Implikatio- nen sehr im Klaren war, oder das Hegel'sche und das Marx'sche Fort-

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schrittsmodell. Wenn wir uns kein Modell wie oben beschrieben bauen,

werden wir keinen Einblick in den geschichtlichen Wandel der Struk- turen von Wissenschaft insgesamt und den Wandel ihrer Teilwissen-

schaften gewinnen. Dabei ist im Sinn zu behalten, daß die Veränderun-

gen den einzelnen Wissenschaftlern zu allermeist nicht bewußt sind. Für den �normalen"

Gebrauch ihrer Wissenschaft in ihrer modernen Form benötigen sie auch solche historische Reflexion nicht. Sie erfahren dann jedoch nicht, was und warten im Inneren ihrer Wissenschaft geschieht, was sie im letzten tun, soweit wir dessen überhaupt ansichtig werden können.

Es gibt spezifische Sperren gegen die Einsichtnahme in die wissen- schafts-geschichtlichen Verlagerungen. Dazu gehören die lange einge- fahrenen handwerklichen Gebräuche der Teilwissenschaften. Dazu ge- hören aber auch Schulformen. Bezüglich der Ingenieurwissenschaft ist da zu nennen die heute durchweg gesetzte Bedingung für den Zugang

zum ingenieurwissenschaftlichen Studium, nämlich eine mit dem Abi- tur abgeschlossene Gymnasialausbildung. Damit fließen in das Denken des Ingenieurs Fächergerinnungen historisch durchsichtiger Art ein: Naturwissenschaften gemäß dem Naturbegriff des 12. Jahrhunderts, durch diesen ausgegrenzt �Geistes"-Wissenschaften wie die Philolo-

gien, das ebenso rationale wie hochästhetische Spiel der Mathematik,

anders in der Geometrie als in der Arithmetik usw. Aber der Ingenieur-

wissenschaftler reflektiert das nicht mehr, sondern setzt es voraus. Er

macht damit Voraussetzungen seiner eigenen Wissenschaft, ohne sie zu durchschauen. Vielleicht stößt er auf sie, wenn er sich gezwungen sieht, eine Diplomarbeit oder eine Dissertation sprachlich in

�ordentliche" Form seiner Wissenschaft zu bringen. Aber warum gerade in diese Form? Was steckt an Ideen und Theorien alles in ihr? Grundsätzlich

müssen wir die Wissenschaften in unserem Modell als sehr komplexe

geschichtliche Gebilde betrachten, deren Komplexität philosophisch und historisch aufzufächern ist.

Was die Ingenieurwissenschaft betrifft, so können wir da sogleich Einiges sagen. Eine Verbindung von Technik mit �Natur" und aus diesem Begriff folgender Naturwissenschaft gibt es erst seit dem abend- ländischen 12. Jahrhundert. Die Naturwissenschaft schließt durch ihre innere Logik aus, was man viel später �Geisteswissenschaft" genannt hat. Es ist die Wissenschaft von der sichtbaren Natur mit der hinter ihr

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steckenden (meta-physischen) Gesetzmäßigkeit. Was dem Naturwis- senschaftsbegriff noch fehlte, war Mathematik oder Mathematisierung, bis auf die pythagorische Idee, daß der Kosmos nach Zahlen und Zahlverhältnissen geordnet sei, oder die alttestamentliche Idee, daß Gott alles nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet habe; jedoch mathe- matisch wurde das nicht weiter konkretisiert. In dem Naturbegriff des 12. Jahrhunderts aus der sog. Schule von Chartres steckte von vornher- ein die Idee rationaler Regelhaftigkeit, mit der der optimale Techniker, der Ingenieur Gott - das Wort ingenarius taucht in derselben Zeit auf - die Welt konstruiert habe. Im 13. Jahrhundert erhielt diese Regelhaftig- keit in Analogie zur Denkfigur des Gesetzgebers in der römischen Jurisprudenz die Form der �Natur-Gesetze". Allgemeine Begriffe wie Kraft, Geschwindigkeit, Temperatur in Gradeinteilungen u. a. m, fehlten

noch, ebenso allgemein normierte Längenmaße, Gewichte, Hohlmaße. Alles wissenschaftliche Denken verlief jedoch in bereits geronnenen

Formen, welchen auch die Schulfächer folgten. Der Grad der Verwäs- serung spielte dabei eine hier zu vernachlässigende Rolle. Whisky mit Wasser wird nicht zu Pernod mit Wasser. Die geronnenen Disziplinen folgten zwei verschiedenen Einteilungen der umfassenden Wissen- schaft. Die erste und die Schulen beherrschende war die der artes liberales: Trivium (Grammatik, Rhetorik, Didaktik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik), letzteres auch unter dem Oberbegriff der Mathesis: Arithmetik als Lehre von den Zahlen als solchen, Geometrie als Lehre von den Zahlen in der Ebene, Astronomie als Lehre von den Zahlen in der Stemenwelt, Musik als Lehre von den Zahlenver- hältnissen in den Dingen, wie das Verhältnis 1: 2 von Grundton und Oktav.

Die Grammatik floß als erstes Fach des Triviums mit diesem in alle Wissenschaften ein, einschließlich der Ingenieurwissenschaften. Sie war geprägt als Sprachgebrauch von den gelesenen auctores. Keine Wissenschaft kommt ohne sprachliche Fixierungen, darunter auch de- finierte Begriffe (mit Definitionen durch Glossen) aus.

Hier ist allerdings anzumerken, daß die gern von Philologen vorge- tragene und von Philosophen nachgeredete Idee, alles Denken sei sprachlich, mehr als nur unbefriedigend ist. Zum ersten findet es nur in verschiedenen Sprachen verschiedener Bauart statt, und man kann kei- neswegs alles jederzeit in jeder Sprache ausdrücken; die spezielle Bauart einer jeden Sprache verbietet das, dazu ihr jeweils geschichtli-

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eher Zustand. Warum gibt es überall Fremdwörter aus andereren Sprachgestalten, und warum benutzen wir gerade in den Wissenschaften

systematisch Fremdwörter, die unserer Sprache Vorstellungen liefern,

welche sie sonst nicht besäße? Vor allem aber gibt es nichtsprachliche Darstellungsweisen. Dazu gehört die Zeichnung, die in der Technik eine

so große Rolle spielt. Auch sie hat ihre Geschichte, kann ausgeformt

werden wie eine Sprache, aber auch sie unter bestimmten Bedingungen

wie solchen der gleich zu behandelnden Geometrie. Sie hat ihre eigenen,

geschichtlich veränderbaren Konventionen und Bedeutungen. Wir se- hen sie seit dem 12. Jahrhundert - systematisch als technische Zeich-

nung im Gebrauch vor allem im Bauwesen, dort zuerst im Maßstab 1: 1

beim Kirchenbau. Von Villard de Honnecourt besitzen wir, zu datieren

ca. 1235, Teile eines Skizzenbuches, das der gebildete Architekt für

seine Bauhütte anlegte3. Die Kunsthistorie erfaßt seit den 40er Jahren

unseres Jahrhunderts immer mehr Quellen der Herstellung und Benut-

zung der Zeichnung als eigenländigel�Sprache" nichtsprachlicher Art4.

Einen sehr interessanten Entwurf einer Geschichte der technischen Zeichnung lieferte in seiner Aachener philosophischen Dissertation der Ingenieurwissenschaftler Joachim Kuns5.

Man darf sich durch die Sprache nicht täuschen lassen. Sie kann erst nachträglich nomina verleihen an Ideen, Vorstellungen und Dinge, die längst vorhanden waren. So z. B, an den geraden Strich, den rechten Winkel, den Kreis mit Mittelpunkt und Peripherie. Diese nomina führen nicht zur Kenntnis und Erkenntnis der Sache. So wenig wie das Wort �Curry" Geschmack und Geruch von Curry wiedergibt, sagen �Kreis" oder �Gera- de", was diese Gebilde sind. Sie müssen als Idee oder Gewürz vorher da

sein, und man kann denkend mit ihnen umgehen, ohne diese nomina zu

3 Paris, Nationalbibliothek, ms. fr. 19093; Faksimiledruck von J. B. Lassus, L'album de Villard de Honnecourt, publie en fac-simile, Paris 1858; vorzüglich ediert von Hans R. Hahnloser, Villard de Honnecourt, Wien 1935; vgl. Hans Jantzen, Die Kunst der Gotik, Rohwohlts deutsche Enzyclopädie; Hamburg 1957

a Hans Kauffmann, Die Kölner Domfassade (mit Rissen 10-14), in: Der Kölner Dom, Festschr. zur Siebenhundertjahrfeier (1248-1948), hg. v. Zentral-Dombau-Verein, Köln

1948, S. 78-137. Kauffmann fordert darin eine systematisch-historische Aufsuche und Auswertung aller vorhandenen Risse, ihrer Benutzung und Interpretation und führt das

vor am Beispiel des Kölner Doms. Ich kenne keine Arbeit, die früher eine historisch-sy-

stematische Aufarbeitung postulierte. 3 J. Kuns, Betrachtungen zur Geschichte der technischen Zeichnung, Philos. Diss.

Aachen 1980, wo K. besonders auf den Unterschied zwischen architektonischer und Aiaschinenbau-Zeichnung eingeht.

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I 4pe.

haben. Sprache spielt also beim Denken eine zwar gewichtige, aber nur begrenzte Rolle.

Zurück zu den Fächern des Triviums, nun zur Rhetorik. Die Rhetorik wird zuallermeist nicht in ihrem vollen Gewicht erfaßt. Sie war nicht nur eine bestimmte Redeweise, sondern zu ihrer Methode, besonders in ihrem Teil, der sog. inventio, zu dem umfangreiche Lehrbücher seit der Antike verfaßt wurden, gehörte die auch begriffliche Festlegung, was denn überhaupt

�die Sache" sei, von der zu handeln sei; Begriffsdefini- tion ist in diesem Sinne immer Rhetorik, bis heute.

Das Quadrivum oder die Mathesis (= Lehre, daher latinisiert auch doctrinalis genannt) gehört zum Ideenarsenal der sich bildenden Ingenieur- wissenschaft vorzüglich durch ihr Teilfach der Geometrie. Diese ist jedoch nicht aufzufassen als begründet erst durch die späte Form der euklidischen Lehre, die die Geometrie in bestimmter Weise weiter rationalisiert und begrifflich fortentwickelt samt auf bestimmten Axiomen aufgebauten Be- weisen. Die im Neolithicum entstandene Idee vom Rechteck, seinen ein- fachen Teilungen, parellel zu den Seitenund diagonal (wodurchrechtwink lige Dreiecke entstehen), sodann die ebenso pure Idee des Kreises mit Teilungen durch dessen gedachten Mittelpunkt, wird in ihrer Bedeutung durch das Werk Euklids und dessen problemata leicht verkannt. Diese Rechteck- und Kreisformen waren in idealer Form mit einfachen, aber ebenso idealen, das heißt allein einer Idee und nicht einem Ding folgenden technischen Mitteln wie Lineal und Zirkel zu zeichnen und aneinanderzu- setzen. Vitruv besaß noch eine sehr genaue Vorstellung davon, welche Bedeutung dabei die Ebene hatte, nicht nur als Zeichenfläche, sondern als Idee von ebener Fläche überhaupt. Ebenso bewahrt des Boethius Definition der Geometrie als Wissenschaft von den Zahlen in der Ebene Entscheiden- des auf: Diese Idee von Geometrie als solche von Ebenen oder Flächen stellte 411 einfache, das heißt analytische Flächen her, die auch gemäß dieser Idee gedachte Körper begrenzen können. Ohne diese pure Idee ist keine mechanische Technik, auf welchem Niveau von Technik auch im- mer, denkbar. Das betrifft sowohl die gedachte Rechteck- und Dreieckgeo- metrie als auch die ebenso ideale von Rolle und Kugel und Rad. Arithmetik braucht man nur minimal dafür.

Die längst voreuklidische Geometrie der analytischen Flächen ebener oder gebogener Form wurde zugleich die Grundlage aller Architektur und begriindete damit das, was wir Hochkulturen nennen, nicht umgekehrt.

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L/

Stets handelt es sich um sehr ideale Rechteck- oder Kreisformen zur Körperbegrenzung, sei es der des Gebäudes als ganzen, sei es der von Bausteinen oder Bauhölzern, aus welchen das Gebäude zusammenge- setzt wird, stets dem Axiom der prinzipiellen Lotrechten und der recht- winklig dazu liegenden Waagerechten folgend, so Tragendes und La-

stendes begrifflich klar voneinander scheidend. Straßenbau in Verbin- dung mit dreidimensionalem Gebäudebau gehört in denselben Zusam-

menhang, z. B. Bau der frühantiken Sakralstraßen, der Profanstraßen des Hippodamischen Systems, in Milet unserer Kenntnis nach zuerst von Hippodamos entworfen, oder später das römische System der Ach-

sen und insulae. Diese Geometrie bei minimalsten arithmetischen An- forderungen wie ganzzahliger Vermehrung von Grundmaßen war die

�Mathematik", die vom Architekten gefordert wurde. Sie war es auch, die mechanische Konstruktionen erst zu denken erlaub-

te. Die Antike besaß bereits eine auch literarisch weit ausgearbeite Mecha-

nik. Das Mittelalter aber kannte diese Literatur nicht mehr, jedoch die hier

skizzierte Geometrie. Mit ihr arbeiteten dann die Architekten, die Grund-

risse und das Aufgehende zeichnend. Darauf beruht die gesamte früh- und hochmittelalterliche Architektur, die ihre Gebäude bis in enorme Höhen

trieb, auch in der späteren Romanik bereits tragende Pfeiler und nur fällende Wände unterscheidend''in der Gotik ebenso mit analytischen Formen spielend, nicht anders in der-Renaissance und auch weiter. Die Probleme der Festigkeit konnten dabei nicht nach ihren Prinzipien behan- delt werden. Sie blieben handwerkliche Erfahrungswerte der Meister. Statische Berechnungen gehören erst zum 19. Jahrhundert und kommen zu hoher Vollkommenheit erst im 20. Jahrhundert. Da beginnen dann die beiden bisher sehr getrennten Teile des Bauwesens, Architektur und Bau- ingenieurwesen, ineinander zu verwachsen wie bei den modernen Trag-

werk-Konstruktionen (z. B, im Münchener Olympiastadion)Ldie Architek-

tur- und dynamische Ingenieurleistung zugleich sind - Statik lediglich als Sonderfall der Dynamik.

Aus dem Trivium holen wir jetzt das Fach der �Dialektik" nach. Von höchster allgemein wissenschaftlicher Bedeutung wurde es dadurch,

6 vgl. Stefan Polöny, Revision des Wissenschaftsverständnisses, in: Revision des Wissenschaftsverständnisses, Festschrift für Stefan Polöny, Gesamthochschul-Biblio- thek Kassel, 1986. Polöny ist Statik-er und in geschichtlicher Folge Dynamiker; er geht auf den Zusammenhang von Architektur und Dynamik ein.

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466 Hans Martin Klinkenberg

daß es als Logik betrieben wurde, zunächst im Abendland als allgemei- ne, auch für die Theologie verpflichtende Methode seit der Mitte des 11. Jahrhunderts, bei Anselm von Canterbury als �natürliche Theolo-

gie", ohne Zuhilfenahme biblischer Argumentation, �so als ob Christus nie gelebt hätte", jedoch im festen Vertrauen darauf, daß diese Methode

am Ende zu gleichen Ergebnissen führen müsse wie die biblische Theologie, weil auch die menschliche ratio von Gott stamme. Theologie und Philosophie trennen sich, jedoch als komplementäre Disziplinen. Das 12. Jahrhundert ist sodann gekennzeichnet durch die Wiedergewin- nung der logischen Schriften des Aristoteles, des sog. Organons, über diejenigen hinaus, die von Boethius ins Lateinische übersetzt und kom- meniert, insofern im Abendland schon bekannt waren.

Die Aristoteliker rechneten die Logik nicht zu den Teilfächern. Das

war gut begründet dadurch, daß Logik als allgemeine Grundlage aller Fächer, als innere Form der philosophia insgesamt angesehen wurde. Die Platonisten hingegen zählten sie zu den Teilwissenschaften, eben- falls gut begründet, weil zumal durch das aristotelische Organon eine spezielle literarische Tradition grundgelegt war, durch die der Logiker Aristoteles zu dem Philosophen schlechthin wurde. Die anderen großen aristotelischen Schriften wurden erst nachträglich wieder entdeckt und aus dem Arabischen und unmittelbar dem Griechischen seit der großen Übersetzertätigkeit des 12. und dann des 13. Jahrhunderts ins Lateini-

sche übersetzt, womit der �Aristoteles

Latinus" entstand und die ausge- dehnte scholastische Theologie und Philosophie, die Grundlage aller abendländischen Wissenschaft nach der Patristik.

Logik betrifft unser Problem der Entstehung der Ingenieurwissen- schaft in einer spezifischen Weise. Grammatik und Rhetorik waren Schulfächer, die zwar ein rationales Fundament für alle Wissenschaft lieferten, die ja ohne verbale Begriffe und ohne deren Handhabung nicht auskommt, jedoch lösten sich Grammatik und Rhetorik in Praxi nicht aus sprachlich-literarischen Bindungen. Solche Bindungen streift Logik ab bis auf die Logik-Autoren selbst. Sie wird reine Denkwissenschaft und dann jahrhundertelang als eigenes Fach, als collegium logicum, vor aller Teilwissenschaft, sowohl der Theologie als auch der artes-Fakultät (der späteren sogenannten philosophischen, in der aber auch die Natur- wissenschaft untergebracht war) gelehrt.

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Diese Lösung kam der sich bildenden Technikwissenschaft sehr entgegen. Offensichtlich nämlich konnte man dort mit den großen in Grammatik und Rhetorik gelesenen Autoren, den Poeten und Prosai- kern, mit Horaz und Cicero und dem auctor ad Herennium und aller Literatur De inventione usw. wenig anfangen. Technik sperrt sich völlig gegen alle bisherige Wissenschaft, wenn man sie von ihren �Anwen- dungen", ihren handwerklichen Verfahren und ihrem Material her be-

trachtet. Wir brauchen daher auch die artes mechanicae hier nicht eigens zu betrachten wie die theatrica (die Theatertechnik), den Schiffbau, die Medizin (als Heiltechnik), deren Existenz lediglich in der artes-Litera- tur seit Varro festgestellt wurde, ohne daß man konkret in sie eindrang. Dieses Konkrete schlug sich vielmehr in den zahlreichen Rezepten

nieder wie den mathematischen, den medizinischen, den chemistischen, von deren Bedeutung wir im 1. Teil gehandelt haben.

Für die Schwierigkeit, das Technische zu erfassen, zeugt des Hugo

von St. Victor Abwertung der artes mechanicae als Disziplinen gleich-

sam illegitimer Geburt, als artes �moechanicae", die der große Wissen-

schaftstheoretiker und Didaktiker daher auch nicht weiter behandelte in

der Weise, wie er das mit den artes liberales tat. Bis zur Mitte unseres Jahrhunderts sperrten sich daher unsere Universitäten gegen die Auf-

nahme technischer Fakultäten. Dann aber war es zu spät, das zu tun;

denn die Ingenieurwissenschaft hatte sich inzwischen so weit entwik- kelt, daß sie mit einer Reihe von Fakultäten, in einem allgemeinwissen-

schaftlichen Zusammenhang, wenigstens der Idee der Technischen

Hochschule nach, seit der Gründung und Begründung der Technischen

Hochschule Aachen, einen großen eigenen Wissenschaftsteil, eine gro- ße pars philosophiae bildete, auch wenn sie ihren eigenen Werdegang

und damit ihren Charakter samt allen in ihr steckenden philosophischen Implikationen nicht sah und in ihrer �Praxis" auch bis heute kaum kennt.

Seit den 60er Jahren unseres Jahrhunderts sieht man nun eine vertief- te Einsichtnahme in das ingenieurwissenschaftliche Denken, betrieben

von Ingenieuren selbst, ohne deren umfängliche Erfahrung das nicht

möglich wäre. Die reifste Frucht dieser Arbeit liegt vor in Rudolf Kollers umfänglicher �Konstruktionslehre

für den Maschinenbau. Grundlagen des methodischen Konstruierens"7. Da sieht man nun nicht

7 Zu benutzen in der 2. Auflage, Berlin-Heidelberg-New York-Tokio, 1985. Eine dritte Auflage ist in Vorbereitung.

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einen allgemeinen Geist aus sich vernünftig walten, sondern einen geschichtlich geprägten. Dieser kann nicht anders als einzugreifen in die geschichtlich geronnenen Formen der philosophia. Und er tut es als Eingriff in die Logik, speziell die Kategorienlehre, das vor allem in die großen Hauptkategorien, neben der Substanz (die man zu den Katego- rien rechnen muß, weil sie nicht absolut gegeben ist, sondern mensch- licher Definition unterliegt) vor allem die Quantität, Qualität, Relation und die weiteren kleineren" aristotelischen Kategorien des Wo und Wann usw., ohne die logisch mögliche, aber letztlich unglückliche Kant'sche Verringerung der Kategorien auf vier. Kollers Überlegungen werden dabei von allgemeiner, nicht nur ingenieurwissenschaftlicher Bedeutung. Und das nicht nur wegen der allgemeinen Logik der Kate- gorien, sondern weil nicht nur der Ingenieur geistig gestaltet, sondern jegliche Wissenschaft, weil eine jegliche ihre Begriffe und Methoden selbst gestaltet. Eine jede ist Gestaltung, wie alles Denken; absolut-ob- jektive Wirklichkeit gibt es für uns nicht; homo faber mentalis.

Entgegen der naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftli- chen Gewohnheit der Quantitierung, die die Kategorie der Quantität gemäß schon antiker Tradition an die erste Stelle setzt vor der Qualität, gewinnt Koller der Qualität ihre eigene Bedeutung zurück und setzt sie vor die Quantität, sachlich und zeitlich im Konstruktionsprozeß. Das hat für das Verständnis ingenieurwissenschaftlichen Tuns höchste Be- deutung. Koller beobachtet die Verfestigung eines jeden technischen Produktes als einen Prozeß, der von einer sehr allgemeinen qualitativen Idee ausgeht und dann allmählich zu immer deutlicheren und genaueren quantitativen Festlegungen von Einzelheiten kommt, bis der Prozeß bei völliger quantitativer Dimensionierung zum Stillstand kommt. Will man dann noch etwas ändern, muß man auf der Linie dieses Prozesses Schritte zurückgehen, u. U. bis zum Entwurf einer anderen qualitativ- allgemeinen Idee. Beispiel: Die allgemeine Idee sei ein Auto, das bestehen soll aus einem Fahrgestell mit Rädern, aber fester stehen soll als ein Zweirad, also mindestens drei Räder haben muß, einem (leich- ten) Motor, einer Karosserie, Sitzgelegenheit, und es soll lenkbar sein. Von da ab geht der Prozeß in die Dimensionierung von Teilen", die aber durch die qualititative Grundidee nicht bestimmt sind. Diese Of- fenheit oder vorläufige Unbestimmtheit kann man in zweifacher Weise begünden. Zum ersten ist die letztlich nicht durchschaubare individuelle

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Person des Konstrukteurs oder Erfinders unausweichlich im Spiel. Zum zweiten ist Logik im Spiel, und zwar in der Weise, daß Deduktion von einer simplicitas zu einer pluralitas von propria, vom Einfachen zur Vielfalt von Besonderheiten nur zu Beliebigkeiten führt und daher logisch �verboten"

ist. Es sei nur daran erinnert, daß sie die Dimensio-

nierung der Geometrie mit einfachen, mit analytischen Flächen und von ihnen begrenzten Körpern bedienen muß, also rein idell-denkerischen Gebilden wie Sitzebenen, Stangen, Rädern mit Achsen im Kreismittel-

punkt, dazu von Material bestimmter erfahrungsgemäßer Festigkeit. Ferner stellt sich die Frage, was und welcher Art denn die Teile" sein sollen, Beleuchtung etwa mit Petroleumlampen oder elektrisch, Reifen

aus Holz oder massiv aus Gummi oder Pneus usw. Die qualitative Grundidee sagt das nicht. Konkretisierungen sind aber abhängig vom jeweiligen geschichtlichen Zustand einzelner Techniken und ihrer in-

genieurwissenschaftlichen Reflexion und Rationalisierung. Bei Quan- titierung oder Dimensionierung denkt man sogleich an Mathematik. Aber Koller läßt in seinem Buch Methoden zur Berechnung bzw. Dimensionierung, also mathematische Methoden, aus, und das mit Recht, da es zu diesen einerseits eine umfangreiche Spezialliteratur

gebe (Vorwort 2. Aufl. S. VI). Aber man muß auch historisch daran denken, daß die Mathematik zu verschiedenen Zeiten ingenieurwissen-

schaftlichen Denkens verschieden war. Vor allem: Koller will und muß den Konstruktionsprozeß allgemein darstellen, nicht einzelne Kon-

struktionen. Sein Denkgebäude soll daher �produktneutral" sein, das heißt für alle Produkte von deren allgemein-qualitativer Idee bis zu den Konkretisierungen als Dimensionierungen zutreffen. Das ist der ent- scheidende Denkschritt über alle Einzelheiten und damit die Polytech-

nik hinaus zu einer wissenschaftlichen Einheit �der Ingenieurwissen-

schaft" über ihren Teilen, der Idee einer simplicitas über einer ge- schichtlich unterschiedlichen universitas, einer nur organisatorisch und juristisch vereinigten Vielheit.

Kollers Darstellung des Konstruktionsprozesses von der Qualität

eines ersten allgemeinen Entwurfes bis zu allen Details ist in ihrer Produktneutralität nicht nur Darstellung des Maschinenbau-Konstruie-

rens, auch nicht nur des Konstruierens in allen Teilwissenschaften des Ingenieurwesens, sondern Modell jeglichen wissenschaftlichen und auch handwerklichen Verfahrens, Naturwissenschaft und Geisteswissen-

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schaft eingeschlossen. Man muß nur die Ideen- und Kenntnisbedingun-

gen einer jeglichen Disziplin in jeglichem geschichtlichen Moment

einrechnen. Wir mußten zunächst die auch schulisch institutionierte Disziplinein-

teilung der artes liberales betrachten, weil alle Denker der für die

Entstehung wenigstens der Bedingungen der Ingenieurwissenschaften ins Auge zu fassenden Zeit in der arten-Schule herangebildet und selbst Artisten waren. Jedoch gab es seit der Antike noch eine andere Wissen-

schaftseinteilung, die seit dem 12. Jahrhundert erhöhte Bedeutung ge-

wann. Es war die platonistisch-aristotelische Teilung in praktische und theoretische Philosophie, letztere wieder geteilt in Dialektik (Logik),

Mathesis, Physika und Metaphysika. Von Logik und Mathesis war bereits die Rede. Jetzt ist von physica und metaphysica zu handeln.

Das Umgehen mit Literatur war in der Spätantike auch für die

mittelalterlichen Träger der Gelehrsamkeit, Mönchtum wie Klerus, zur

selbstverständlichen Methode geworden. Hier konnte alles an antiken Ideen einfließen, was latinisiert war. Es fragt sich nur, welche neuen Filter oder Brillen dazu benutzt wurden. Die physica blieb nicht, was

mit der griechischen physis gedacht war, nämlich ein Wachstum der

Dinge in der sichtbaren Welt, biologistisch und chemistisch, bis zu ihrer

vollen Ausgewachsenheit, die nach Aristoteles erst deren physis war. Die Lehre von der physis, die physikä, wurde umgebaut zu etwas ganz

anderem, nämlich zur Physik. Das geschah im 12. Jahrhundert, späte-

stens bis 1170, dem wahrscheinlichen Entstehungsjahr einer Sammlung

diesbezüglicher Schriften, die im heutigen Codex Cotton Galba E. IV,

British Museum, nur noch bruchstückhaft vorhanden ist, aber von Rich.

C. Dales rekonstruiert werden konnte8.

Obenauf scheinen die jüngsten zu liegen, beide von Rich. C. Dales

ediert: Die sehr gedrängte Arbeit eines Anonymus De elementis und das

ausführliche Buch eines uns sonst unbekannten Marius in Form eines Lehrer-Schüler-Dialogs De elementis. Vom Anonymus fehlt wohl der Schluß, vom Marius gewiß der Anfang. Beide aber ergänzen sich vorzüglich.

In das seit Bernhardus Silvestris, Thierry von Chartres und Wilhelm

von Conches sichtbare neue Konzept eines Begriffes von Natur als

8 Vgl. H. M. Klinkenberg, Ortens und occidens etc., in: Miscellanea Mediaevalia 17, 1985, S. 396 u. Arm. 38.

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optimal-rationaler Konstruktion des christlichen Ingenieur-Gottes wird vom Anonymus und von Marius eine entscheidend modifizierte Theorie der antiken vier Elemente eingebaut. Diese Elemente sind das von Gott

selbst geschaffene Material, aus dem in verschiedenen Mischungen alle Dinge der sinnlich wahrnehmbaren Natur zusammengesetzt sind, und zwar stets aus allen vier Elementen. Sie verändern sich nicht, da von Gott geschaffen; eine vorhergehende materia prima wird nicht akzep- tiert. Zugleich werden die Elemente mit Hilfe der antiken Atomtheorie

als Partikel gedacht, die nicht weiter teilbar sind, als atoma. Den Partikeln sind verschiedene Bewegungsarten eigen: Feuer schnell und nach oben strebend, Erde langsam und nach unten strebend, zwischen beiden als Verbindungselemente dieser Extreme Luft und Wasser. Der Kern dieser Naturwissenschaft ist also metaphysisch - man kann die Partikel sinnlich nicht wahrnehmen -, zum anderen mechanizistisch, um die vorsichtige Formulierung von E. J. Dijksterhuis zu gebrauchen, zur Vermeidung vorschneller Assoziation bestimmter Ausprägungen der geschichtlichen Mechanik9. Die nicht mechanizistische Chemie

wird so von der neuen physica beiseite geschoben. Die weitere Entwick- lung der Naturwissenschaft wird mechanizistische Physik. Vorgezeich-

net ist ihr dabei die Richtung auf Erforschung der Elemente samt deren

möglicher Umdefinierung (z. B, nach Atomgewichten) als kleinsten Teilchen. So wird sie bis heute gesehen in der von der Göttinger Schule

so genannten Hochenergiephysik neben der sog. Festkörperphysik, wel- che Einteilung die frühere in Experimentalphysik und theoretische Physik umsichtig vermeidet, da beide primär theoretisch sein müssen. Der Anonymus De elementis nimmt einen Abstieg vor von der theolo-

gischen Grundlage (alle Elemente und alle aus diesen zusammengesetz- ten Dinge der wahrnehmbaren Natur sind von Ewigkeit her in mente dei) bis zur Teilchenphysik und allen aus diesen zusammengesetzten Dingen, das heißt jener Physik

�um die es uns geht", also um eine Teil-

wissenschaft der theoretischen Philosophie; er erweist sich im weiteren als sehr umsichtiger Physiker bedeutenden Formates. Marius, der Ta- bellen von Elementenmischungen aufstellt, schneidet dem Schüler alle dessen Fragen ab, die nicht in die metaphysische und physische Teil-

chenphysik gehören, auch das sehr umsichtig. In summa: Die neue

9 E. J. Dij{sterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, deutsch von H. Habicht, Berlin-Göttingen-Heidelberg, 1956, passim.

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Physik setzt sich fest, indem sie zu neuer definierter Form gerinnt. Diese Ideenform wirkt bis heute.

Es besteht nun eine untergründige Verbindung zur Ingenieurwissen- schaft, die ansatzweise von Wilhelm von Conches theologisch gedacht war: Sowohl bei Gott als auch beim Menschen geschieht Gestaltung. Beide sind opifices, Hersteller von Werkstücken gemäß rationaler Über- legung, wenn auch Gott vollkommen operiert, der Mensch viel weniger vollkommen. Ingenieurwissenschaft ist auf der Bahn der Mechanik

ausgebaut worden. Was außerhalb dieser Bahn lag oder liegt, findet keine Aufnahme in Ingenieurwissenschaft. Dazu gehörte die Chemie, für die man seit der Antike kein mechanisches Modell mit festen Körpern besaß; Chemie hat daher bis heute bei uns nicht die Form einer ingenieurwissenschaftlichen Fakultät erhalten, obgleich sie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Form mechanizistischer Ele- mententheorie physikalisiert worden war und seitdem eine sehr umfang- reiche Chemotechnik gewann.

Die Gründe sind für uns nicht durch ein einfaches Modell zu fassen. Sehen wir die Sache im gebräuchlichen Sinne historisch an, dann hat die Ideenform von Technik als mechanischer Zubereitung von Werk- stoffen zu Gegenständen menschlichen Gebrauchs gleichsam eine hohe Trägheit, mit der sie in Zeitrichtung vorwärts fliegt bis heute. Sehen wir sie jedoch biologisch an, dann hängt sie ab von unserem instrument mental, d. h, der Konstruktion unseres Denkapparates, der nur durch die Chemie und Physikunseres Körpers samt aller Anatomie und Histologie usw. bestimmt ist, wenigstens, so lange er schon so existiert wie er ist. Auch er unterliegt natürlich unseren Theorien, die übrigens alle merk- würdig mechanisch aussehen, so die Lehre von den Instinken, die mit mechanischer Sicherheit funktionieren - der Mediziner Thure v. Uex- küll hat daher schon lange gefordert, die Instinktlehre aufzugeben -; so auch die verwandte Lehre K. Lorenz' von den �Schlüsselreizen", wobei z. B. ein Farbfleck oder die Form eines Tieres bei einem anderen Tier feststehende, im zentralen Nervensystem verankerte Bewegungen auslöst, mechanisch-instinkthaft. Es ist offenbar sehr schwer, sich von diesen mechanisch-technischen Modellen zu lösen.

Wie auch immer unser instrument mental in objektiver Wahrheit - die wir nie erreichen - gebaut sein möge: Es liegt wohl näher, mecha- nizistisch zu denken und auch zu handeln, als etwa chemistisch.

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Soweit wir auch bei intelligentem Hinsehen erkennen können, funktio-

nieren unsere Sinne hinsichtlich der Form unserer Wahrnehmung unter- schiedlich. Die Augen nehmen �leicht" wahr die optischen Gestalten, ihre Ganzheit, ihre Trennung in Teile, ihre Zusammenfügung bzw. Verbindung, und je einfacher, mehr analytisch die begrenzenden Flä-

chen gedacht und gemacht werden, um so leichter sind Trennung und Verbindung auch zu praktizieren. Daß auch Luft körperhaft sei, war den Physikern des 12. Jahrhunderts durchaus experimentell nachweisbare Tatsache, schon gar Wasser; das kann dann (muß nicht) zur Mechanik

gasförmiger und flüssiger Körper weitergedacht werden. Anders funktioniert unser Geschmacks- und Geruchssinn, der in der

Chemie eine so große Rolle spielt. Seine Wahrnehmungen sind nicht mit ihm selbst zu analysieren. Er kann den Geruch von Thymian oder Koh- lenwasserstoff sehr genau erkennen, im Gedächtnis behalten und wieder- finden, aber die Gerüche sind in ihm Einheiten, deren Zusammengesetzt- heit ihm die sinnliche Wahrnehmung nicht liefert; ähnlich ist es bei den Farben und ihrer Warnehmung. Er kann sie nur erdenken, wenn er sich ein Modell dazu baut, das Teile dieses Ganzen in mechanizistischer Manier baut. Ein solches Modell kann völlig statisch sein; die Teile sind von Ewigkeit her gegeben und bleiben so lange bestehen, wie die Welt besteht, eine letztlich theologische Überlegung, oder sie wachsen im Laufe der Zeit notwendig zu ihrer heutigen Form, also eine teleologische Evolutionstheorie. Es scheint also bei der Komplexität unseres instru- ment mental nahezuliegen, daß technisches Denken primär eine mecha- nizistische Form annimmt, die Formung und Verformung, Teilung und Verbindung praktizieren kann. Das heißt, daß Ingenieurwissenschaft

nicht zufällig auf der mechanizistischen Bahn ausgebildet und fortgebil- det wurde und weiterhin wird. Es sei hier Kollers Gedanke wiederholt, daß ingenieurwissenschaftliches Denken nicht an bestimmten Materia- lien und Produkten hängenbleiben darf, sondern prinzipiell produktneu- tral sein muß. Und hinzuzufügen ist, daß es prinzipiell historisch sein muß, das heißt, nicht an bestimmten geschichtlichen Denkformen, Ideen

und Niveaus hängen bleiben darf. 10

10 Inzwischen erschienen: H. M. Klinkenberg, Homo faber mentalis. Über den Zu- sammenhang von Technik, Kunst, Organisation und Wissenschaft, Beiheft 37 zum Archiv für Kulturgeschichte, hg. v. Egon Bushof, Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien, XXIV u. 812 ss.. 1995.