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146 GrosslHitzlerlHoner OZS t0. Js. ZWEIKULTUREN? DTAGNOSTISCHE UND THERAPEUTISCHE KOMPETENZ IM WANDEL Peter Gross, Ronald Hitzler und Anne Honer 1. Doktors Dilemma heute Um die Jahrhundertwende hat Bernhard Shaw in einer fulminanten Vorrede zur Komö- die ,,Der Arzt am Scheideweg" derSchulmedizin und ihren geschäftigen Ausbeutern der menschlichen Gläubigkeit undTodesfurchtdie Leviten gelesen (Shaw 1919). DerErfolg der Gesundbeter mit ihrenKathedralen und Gemeinden, ihrenZeloten und Wundern und Kuren erscheint ihm, gegenüber der Pseudowissenschaft desnaturwissenschaftlich orientierten Doktors, ,,obwohl töricht" noch sinnvoll undpoetisch. Des Doktors Dilem- ma rührt ausder Scharlatanerie und Hochstapelei seines Standes, derdie wundergläubi- ge Gesellschaft durcheine objektiv betrachtete nutzlose und parasitäre Medizin bedroht und darum beseitigt werden soll. Des Doktors Dilemma heute resultiert nunnicht mehr aus der Scharlatanerie seines Standes, sondern fatalerweise ausdem Abschied von der Scharlatanerie. Was heißt das? Die medizinische Kultur kann als eine Art Kokonbetrachtct werden, die deneinzelnen einspinnt, einbettet in einNetz vonVorstellungen undPraxen, welche ihm helfen sollen, mit den drei intimsten und fundamentalsten Gefahren fertig zu werden: nämlich mit Krankheit, Schmerz und Tod. Diese fundamentalen Gefährdungen haben in.ieder Ge- sellschaft Vontellungen, Vorkehrungen und Experten erzeugt, um diese dunklen Seiten jedes Lebens zu bekämpfen. Heute scheint sichdiese Kultur in einer zweifachen Weise geteiltzu haben: in eine Experten- und Laienkultur einerseits, in sichunterschiedlich und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickelnde ldentifikations- und Bewälti- gungssysteme der Gefährdungen und Krankheiten andererseits. Der ,,Krieg" zwischen Experten und Laien scheint sichin Anbetrachtder gegenseitigen Höflichkeiten und der politischen Unterstützung der Selbsthilfegruppen in ein friedliches und arbeitsteiliges Miteinander verwandelt zu haben. Arbeitsteilig in demSinne, daßdie Expertenkultur hinsichtlich vieler Krankheiten die ldentifikation bzw. Diagnose übernimmt, die Laien- kultur bzw. dieSelbsthilfegruppen hingegendieTherapie, die Rehabilitation undauch die Prävention. Diese Arbeitsteilung rührt ausder Schwierigkeit der Schulmedizin, der im- mer diffiziler und feiner werdenden Diagnostik therapeutisch zu folgen. ldentifikations- und Bewältigungssysteme, diagnostische und therapeutische Kompetenz driften so aus- einander, daß man von zwei Kulturen zu reden geneigt ist (vgl. Gross 1985a, 1985b). Sir Charles Snow,erfolgreicher Romancier, Wissenschaftler und hoher Staatsbeamter, der 1959in Cambridge einen Vortrag mit demTitel ,,The TwoCulturesandtheScien- tific Revolution" gehalten hat, hat mit seiner Annahme eines Auseinanderdriftens von naturwissenschaftlicher und literarischer Kultur, von Natur und Geisteine weltweite Resonanz ausgelöst (Snow 'l 969). In einem gewissen Sinne spiegelt die hier vertretene These seine Annahmen: Der interne und externe Anspruch an die medizinische Pro- fession auf präzise und überprüfbare Diagnosen verwissenschaftlicht den Arztberuf immer mehr. Das ist auch durchaus beabsichtigt und von der Profession selbst inten- diert.Hinterrücks schlägt aber die ,,lronie des Alltags" zu: Der Arzt, der immer genauer 3+411 985 Diognostische und theropeutische Konrpetenz 147 Krankheiten zu identifizieren weiß,weiß auch unr die prinzipielle Unzulänglichkeit medikamentöser und chirurgischer Behandlung. Er weiß ganz genau, daß der Orga- nismus grosso modo als Aquilibrium funktioniert und daß von daher die alternativen Medizinen, Naturheilkunde, Selbsthilfcgruppen, ja schon das therapeutische Gespräch, Wunder wirkenkönnen. Er ist aber dazu verurteilt, auf diesen ganzen Hokuspokus zu verzichten, und zwar auf den Hokuspokus der Geistheilung wie der Chemie. Er ver- liert sein (Amts-)Charisma, .jene Eigenschaften also, mit denen seine frühesten Kollegen, obwohl nach wissenschaftlichen standards ,,lausige" Diagnostiker, doch erfolgreich therpiert haben: mit Geheimnis, Begeisterung, Furcht und Schrecken, Ekstase, Ver- rückung, Austreibung etc. Die Ursachen, Bedingungen und Konsequenzen dieses Aus- einandertretens von diagnostischer und therapeutischer Kultur sind dasThemader nachfolgenden Überlegungen. 2. Unaufhaltsames Gesundheitswesen Die zivilisatorische Entwicklung hin zur und in der modernen Gesellschaft nimmt sich auswie ein riesiges Buchder Rekorde. Rekorde an erreichten Höhen undTiefen, an ge- bauten Autobahnkilometern und vom Band gelaufenen Autos,an verkabelten Häusern und installierten Bädern, an Ernteerträgen und Spitzenergebnissen, wobeiund wovon auch immer. Inzwischen jedoch istdiesportlich-schneidige Philosophie des ,immer mehr und immer größer'obsolet, ja,welk'geworden: Die dröhnende (Pseudo-)Religion der ,Bigness', wie sie Röpke (1942) schon vor Jahrzehnten persiflierte, und wie sie die Meadows, Gruhl,lllich, Schuhmacher undCapra (dazu Lutz 1984) dann gescholten und verdammt haben, hältsich selbst in solchdezidierten Hochleistungs-Kulturen wie dem sport nichtmehrunproblematisiert und unkritisiert. ungebrochen, ja im Grunde noch kaum hinterfragt hingegen gilt diese szientistisch-technologische Fortschrittsattitüde nach wie vor zumindest im Mainstream des medizinischen Sektors, in dem, was wir et- waseuphemistisch unser Gesundheitswesen oder Gesundheitssystem nennen. Auf das nochumfassendere System der Sozialen Sicherheit bezogen hat Achinger (1958, S.96) schon vor drei Jahrzehnten glossiert, daß jeder finanziell aufweisbare Zuwachs und Aus- bauin diesem Bereich stets und umgehend ,positiv'verbucht werde: wachstum undGe- deihen sozialpolitischer Einrichtungen und Rechtsverhältnisse ebenso wie eine in Jahres- berichten als ,wachsend' niedergelegte Geschäftsfätigkeit würden ganz selbstverständlich als Erfolge und als Fortschritt ausgewiesen und verstanden. umgekehrt würde jede so- zialreform, dienichtin dieses simple Ausbauschema hineinpaßt, als konservativ, als rück- schrittlich, ja als Demontage des Sozialstaates abqualifiziert. Aber mit einem solch schlichten ideologischen Häkelmuster läßtsich diese progressisti- sche Blauäugigkeit, oderbesser vielleicht dochgleich: Betriebsblindheit, selbst politisch nicht mehr ,vermarkten'. Zumindest die Frage nach der ,Effektivifät' (wieimmer sie sich definieren ließe) wird heute auch im Zusammenhang mit sozialpolitischen Maßnahmen aufgeworfen und diskutiert. Ja, gelegentlich wird die Höhe derSozialleistungsquote so- garzur Fortschrittsbilanz konträr interpretiert: nämlich nichtalsIndikator für die5o- zialitöt und Solidoritcit einer Gesellschaft, sondern als ,Spiegel' defekter zwischen- menschlicher Beziehungcn und Hilfestrukturcn (vgl. Badura/Gross 1976). Das Gesund- heitswesen jedoch scheint gegcnüber einem solchen Wechsel derBewertungsperspektive rcsistent, ia nachgerade immunzu scin. wer auch immer, von,innen'wie von,außen', die positive Funktion der technologisch-bürokratischen Expansion medizinischer ,Ver- sorgung' bezweifelt, ziehtallzuleicht denVerdacht auf sich, provokant, radikal, ja um- stürzlerisch zu sein. Nach wie vor werden in diesem institutionellen Sektor Entwicklung

OZS t0. Js. 3+411 985 ZWEI KULTUREN? DTAGNOSTISCHE UND ... · 146 GrosslHitzlerlHoner OZS t0. Js. ZWEI KULTUREN? DTAGNOSTISCHE UND THERAPEUTISCHE KOMPETENZ IM WANDEL Peter Gross,

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146 GrosslHitzlerlHoner OZS t0. Js.

Z W E I K U L T U R E N ? D T A G N O S T I S C H E U N D T H E R A P E U T I S C H EK O M P E T E N Z I M W A N D E L

Peter Gross , Rona ld H i tz le r und Anne Honer

1. Doktors Dilemma heute

Um die Jahrhundertwende hat Bernhard Shaw in e iner fu lminanten Vorrede zur Komö-die ,,Der Arzt am Scheideweg" der Schulmedizin und ihren geschäftigen Ausbeutern dermenschl ichen Gläubigkei t und Todesfurchtd ie Levi ten gelesen (Shaw 1919). Der Er fo lgder Gesundbeter mi t ihren Kathedralen und Gemeinden, ihren Zeloten und Wundernund Kuren erscheint ihm, gegenüber der Pseudowissenschaft des naturwissenschaftl ichor ient ier ten Doktors, , ,obwohl tör icht" noch s innvol l und poet isch. Des Doktors Di lem-ma rührt aus der Scharlatanerie und Hochstapelei seines Standes, der die wundergläubi-ge Gesellschaft durch eine objektiv betrachtete nutzlose und parasitäre Medizin bedrohtund darum besei t ig t werden sol l . Des Doktors Di lemma heute resul t ier t nun n icht mehraus der Scharlatanerie seines Standes, sondern fatalerweise aus dem Abschied von derScharlatanerie. Was heißt das?Die mediz in ische Kul tur kann a ls e ine Ar t Kokon betrachtct werden, d ie den e inzelneneinspinnt , e inbet tet in e in Netz von Vorste l lungen und Praxen, welche ihm hel fen sol len,mit den drei intimsten und fundamentalsten Gefahren fertig zu werden: nämlich mitKrankheit, Schmerz und Tod. Diese fundamentalen Gefährdungen haben in.ieder Ge-sel lschaf t Vonte l lungen, Vorkehrungen und Experten erzeugt , um diese dunklen Sei tenjedes Lebens zu bekämpfen. Heute scheint sich diese Kultur in einer zweifachen Weisegeteilt zu haben: in eine Experten- und Laienkultur einerseits, in sich unterschiedlichund mi t unterschiedl icher Geschwindigkei t entwickelnde ldent i f ikat ions- und Bewäl t i -gungssysteme der Gefährdungen und Krankheiten andererseits. Der ,,Krieg" zwischenExperten und Laien scheint sich in Anbetrachtder gegenseitigen Höflichkeiten und derpolit ischen Unterstützung der Selbsthilfegruppen in ein friedliches und arbeitsteil igesMite inander verwandel t zu haben. Arbei ts te i l ig in dem Sinne, daß d ie Expertenkul turhinsichtl ich vieler Krankheiten die ldentif ikation bzw. Diagnose übernimmt, die Laien-kul tur bzw. d ie Selbsth i l fegruppen h ingegendieTherapie, d ie Rehabi l i ta t ion und auch d iePrävention. Diese Arbeitsteilung rührt aus der Schwierigkeit der Schulmedizin, der im-mer diff izi ler und feiner werdenden Diagnostik therapeutisch zu folgen. ldentif ikations-und Bewältigungssysteme, diagnostische und therapeutische Kompetenz driften so aus-einander, daß man von zwei Kulturen zu reden geneigt ist (vgl. Gross 1985a, 1985b).Sir Charles Snow, erfolgreicher Romancier, Wissenschaftler und hoher Staatsbeamter,der 1959 in Cambr idge e inen Vort rag mi t dem Ti te l , ,The TwoCul turesandtheScien-tif ic Revolution" gehalten hat, hat mit seiner Annahme eines Auseinanderdriftens vonnaturwissenschaftl icher und literarischer Kultur, von Natur und Geist eine weltweiteResonanz ausgelöst (Snow 'l 969). In einem gewissen Sinne spiegelt die hier vertreteneThese seine Annahmen: Der in terne und externe Anspruch an d ie mediz in ische Pro-fession auf präzise und überprüfbare Diagnosen verwissenschaftl icht den Arztberufimmer mehr. Das ist auch durchaus beabsichtigt und von der Profession selbst inten-diert. Hinterrücks schlägt aber die ,, lronie des Alltags" zu: Der Arzt, der immer genauer

3+411 985 Diognostische und theropeutische Konrpetenz 147

Krankhei ten zu ident i f iz ieren weiß, weiß auch unr d ie pr inz ip ie l le Unzulängl ichkei tmedikamentöser und chi rurg ischer Behandlung. Er weiß ganz genau, daß der Orga-nismus grosso modo a ls Aqui l ibr ium funkt ionier t und daß von daher d ie a l ternat ivenMediz inen, Naturhei lkunde, Selbsth i l fcgruppen, ja schon das therapeut ische Gespräch,Wunder wirken können. Er is t aber dazu verur te i l t , auf d iesen ganzen Hokuspokus zuverz ichten, und zwar auf den Hokuspokus der Geisthei lung wie der Chemie. Er ver-l iert sein (Amts-)Charisma, .jene Eigenschaften also, mit denen seine frühesten Kollegen,obwohl nach wissenschaftl ichen standards ,, lausige" Diagnostiker, doch erfolgreichtherpier t haben: mi t Geheimnis, Begeisterung, Furcht und Schrecken, Ekstase, Ver-rückung, Austre ibung etc. Die Ursachen, Bedingungen und Konsequenzen d ieses Aus-einandert retens von d iagnost ischer und therapeut ischer Kul tur s ind das Thema dernachfolgenden Überlegungen.

2. Unaufhaltsames Gesundheitswesen

Die z iv i l isator ische Entwick lung h in zur und in der modernen Gesel lschaf t n immt s ichaus wie ein riesiges Buch der Rekorde. Rekorde an erreichten Höhen und Tiefen, an ge-bauten Autobahnkilometern und vom Band gelaufenen Autos, an verkabelten Häusernund install ierten Bädern, an Ernteerträgen und Spitzenergebnissen, wobei und wovonauch immer. Inzwischen jedoch is t d ie spor t l ich-schneid ige Phi losophie des , immer mehrund immer g röße r ' obso le t , j a ,we l k ' geworden : D ie d röhnende (Pseudo - )Re l i g i on de r,Bigness ' , wie s ie Röpke (1942) schon vor Jahrzehnten pers i f l ier te, und wie s ie d ieMeadows, Gruhl , l l l ich, Schuhmacher und Capra (dazu Lutz 1984) dann geschol ten undverdammt haben, häl t s ich selbst in solch dezid ier ten Hochle is tungs-Kul turen wie demsport n icht mehr unproblemat is ier t und unkr i t is ier t . ungebrochen, ja im Grunde nochkaum hinterfragt hingegen gilt diese szientistisch-technologische Fortschrittsattitüdenach wie vor zumindest im Mainstream des mediz in ischen Sektors, in dem, was wir et -was euphemist isch unser Gesundhei tswesen oder Gesundhei tssystem nennen. Auf dasnoch umfassendere System der Sozia len Sicherhei t bezogen hat Achinger (1958, S.96)schon vor drei Jahrzehnten glossiert, daß jeder finanziell aufweisbare Zuwachs und Aus-bau in d iesem Bereich stets und umgehend ,posi t iv 'verbucht werde: wachstum und Ge-deihen sozia lpol i t ischer Einr ichtungen und Rechtsverhäl tn isse ebenso wie e ine in Jahres-berichten als ,wachsend' niedergelegte Geschäftsfätigkeit würden ganz selbstverständlichals Er fo lge und a ls For tschr i t t ausgewiesen und verstanden. umgekehrt würde jede so-z ia l reform, d ie n icht in d ieses s imple Ausbauschema hineinpaßt , a ls konservat iv , a ls rück-schr i t t l ich, ja a ls Demontage des Sozia ls taates abqual i f iz ier t .Aber mi t e inem solch schl ichten ideologischen Häkelmuster läßt s ich d iese progressis t i -sche Blauäugigkei t , oder besser v ie l le icht doch g le ich: Betr iebsbl indhei t , se lbst pol i t ischnicht mehr ,vermarkten ' . Zumindest d ie Frage nach der ,Ef fekt iv i fä t ' (wie immer s ie s ichdef in ieren l ieße) wird heute auch im Zusammenhang mi t sozia lpol i t ischen Maßnahmenaufgeworfen und d iskut ier t . Ja, gelegent l ich wird d ie Höhe derSozia l le is tungsquote so-gar zur For tschr i t tsb i lanz konträr in terpret ier t : näml ich n icht a ls Indikator für d ie 5o-zialitöt und Solidoritcit einer Gesellschaft, sondern als ,Spiegel' defekter zwischen-menschl icher Beziehungcn und Hi l fest rukturcn (vgl . Badura/Gross 1976). Das Gesund-hei tswesen jedoch scheint gegcnüber e inem solchen Wechsel der Bewertungsperspekt ivercs is tent , ia nachgerade immun zu sc in. wer auch immer, von, innen'wie von,außen' ,d ie posi t ive Funkt ion der technologisch-bürokrat ischen Expansion mediz in ischer ,Ver-sorgung' bezwei fe l t , z ieht a l lzu le icht den Verdacht auf s ich, provokant , radikal , ja um-stürz ler isch zu sein. Nach wie vor werden in d iesem inst i tu t ionel len Sektor Entwick lung

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und Fortschritt synonyrn oder jedenfalls äquivalent gesetzt rnit wachscnden Geschäfts-tätigkeiten, wachsenden Ausgaben, wachsenden Arztedichten, wachsenden Konsulta-tionen, wachsendem Geräteeinsatz, mit steigenden Zahlen von Krankenhausbetten undmit s te igenden Zahlen verordneter und verkauf ter Br i l len, Schuhein lagen, Prothesen,Transplantationen und künstl ichen Zähnen. Dem medizinischen Koloß scheint das ideo-logische Säurebad,das den Progressismusandererleviathanischer Ausgeburten geradezer'setzt oder schon destruiert hat, nichtsanhabenzu können. Zwar bündelt sich immer wie-der, wie in einem Brennglas, jedwelches Unbehagen an der an immer neue finanzielleGrenzen stoßenden Kostenlowine des Gesundheitswesens auf solche Exponenten, dieauch dem sogenannten ,gesunden Menschenverstand' sichtbar und faßbar werden (ent-facht vor allem durch krit ische Mcdienreports und spektakuläre Arzteprozesse). AberAnlaß zur ,a l lgemeinen' Aufregung geben eben n icht d ie e igent l ichen Quant i tä ten undQuantitätssteigerungen, sondern individuelle oder ständische Einkommenshöhen undVerdienstspannen, n icht d ie mediz in ische ,Kolonia l is ierung' des öf fent l ichen und pr iva-ten Bereiches schlechth in, sondern s inguläre Okkupat ionen des Pr ivat lebens e inzelner .Diese ant iprogressis t ische Mental iü t n immt s ich h ins icht l ich der mediz in ischen bzw. der,helfenden' Professionen überhaupt aus wie eine allenfalls diffuse Hintergrunds- und Be-gle i tmusik zum di f ferenzier t expansiven Etabl ierungsprozeß von immer mehr und immerneuen Berufsfeldern und Zusländigkeitsbereichen. Nahezu ungehemmt entfalten, spal-ten, te i len und vermehren s ich d ie Ableger mediz in ischer Dienste, rh izomart ig durch-wuchern die Netze des Gesundheitswesens die Gesellschaft und treiben, oft ganz unver-mutet , ver führer ische Blüten an d ie Oberf läche. Ei f r ig drängt der Bi ldungsnachwuchs mi tden besten Abi turnoten in d ie Hörsäle der mediz in ischen Fakul täten, und unverdrosseninnovieren, propagieren und install ieren Akademien, Hochschulen und Universitätenimmer ar t i f iz ie l lere Techniken des ,Hel fens ' . Aber: Sind d iese neuen ,Hel fer ' denn Pro-tagonisten, Vorläufer oder Träger einer neucn Solidarifdt? Realisieren sie tatsächlich dieWiederentdeckung solcher Werte wie Al t ru ismus und Phi lanthropie, Verantwortungsbe-wußtsein und zwischenmenschliches Engagement? Oder untergraben sie als professionel-le und paraprofessionelle Instanzen gerade die noch verbliebenen unzeitgemäßen weilunwägbaren, in formel len mi tmenschl ichen Vernetzungen? Komplet t ieren s ie d ie zweck-rat ionalen Überwachungs- lnteressen gegenüber dem,störenden' indiv iduel len Faktor?Verwandeln s ie ,Hel fen ' in e in Verantwortungsr is iko, das durch er lernbare methodischeKompetenzen entschärft werden muß und dazu führt, ,,daß sich die professionelle Ver-s ion a ls a l le in r icht ige Form des Hel fens (durchsetzt ) , derngegenüber pr ivate Hi l fever-suche immer in der Gefahr stehen, dilettantisch, falsch oder gar gefährlich für den Hilfe-emp fänge r zu se in " (Wo l f f 1981 , S . 213 )?Die professionellen und paraprofessionellen Helfer beanspruchen typischerweise zumin-dest außergewöhnl iche, durch Schulung und Ausbi ldung systemat isch in ternal is ier tezwischenmenschl iche Kommunikat ionskompetenz. Sie handeln überdies typ ischerweiseaus e iner pr inz ip ie l len Gewißhei t über Therapienotwendigkei ten und Therapiewürdigkei -ten, auch wenn s ie gegenüber konkreten Hi l femögl ichkei ten und Hi l feprakt iken,kr i -t isch ' s ind, auch wenn s ie durch best immte Rahmenbedingungen und Begle i terscheinun-gen ihrer Tät igkei t , f rust r ier t 's ind, auch wenn s ich res ignat ive Reakt ionen e inste l len.Denn Hel fen is t , jensei ts a l len a l t ru is t ischen Selbstverständnisses, e in Handeln, das vora l lem darauf abzie l t , Devianzen zu korr ig ieren, d ie e ine l r r i ta t ion akzept ier ter Normal i -täten darstellen.Ern essent ie l les Axiom diescs a l t ru is t ischcn Selbstverständnisscs des profcss ionel lcn undparaprofessionellen Helfers ist offenkundig, daß es - wie auch immer erkennbar - hilfs-bedürf t ige Mi tmenschen und Zei tgenossen g ibt (vg l . exemplar isch Egan 1979). Als h i l fs-bedürf t ig und h i l fewürdig wird der andere vor a l lem dann themat isch, in terpretat iv und

3+4ll 985 Diognostisclte und theropeLttisclte Kompetenz t49

n l<- r t i va t iona l rc lcvant , wcnr r c r a ls fak t i scher odcr p<- r tcn t ic l l c r Unruhc- unc l Konf l i k t -hcrd wahrgenommen wi rd , wcnn er gcr tenc le wer to rdnungen und Normengef i ige s tö r to d c r d u r c h b r i c h t . S o l c h c s , l l c l f c n ' i s t d e m n a c h v o r a l l c m c i n k o n f l i k t r e a k t i v e s o d c r k o n -kor r f l i k tp r ; i vcn t ivcs soz ia lcs l lanc lc ln , < jas konkre t darau f abz ie l t , dc f in ie r te p rob lem-oc le r Nots i tua t io t rcn zu vcrändcrn . So lche S i tua t ionsr ie f in i t ionen aber bedür fen o f fcn-s ich t l i ch der Beru fung au f c ine ,ob , iek t i vc ' Kompetenz zur Ausrcgung von wahrnchmba-ren Anzc ichen a ls Appräscnta t ion der sub jek t iven Lebens lage e i ies änderen, s ie bedür -fen der Beru fung au f cbcn außera l l täg l i che Kenntn isse undtäh igke i ten von , leg i t imer -we ise ' zus tänd igen Exper ten mi t besonderen Wissenssys temen "und

Or ien t ie rungsrah-men (vg l . Honcr 1985) . Während He l fen pr inz ip ie l l . , i .n a l l täg l i chen Se lbs tvers ränd-l i chke i ten des mensch l ichcn Lebens gehör t , a lso c inc ,Urka tegor ie des Gemeinschaf ts -handc lns 'dars te l l t , w i rd es ak tue l l immer s tä rker p ro i . rs iona i i s ie r t , ver rech t l i ch t undbürokra t is ie r t , w i rd es auch immer unabhäng iger von dcr sub lek t iven S i tua t ionsdef in i -t jon dcs anderen, dcr dcnr p ro fess ionc i l cn ,nJ parupro fess ionc len Her fe r eben zumin-des t po ten t ic l l g rundsätz l i ch a ls ,K l ien t ' und dar i r i t a ls ob jek t der ,H i l fezunru tung,g i l t .Unübersehbar f inde t darn i t e ine ,Trans format ion des He l fens un ter den Bed ing"urüenmoderner Soz ia ls taa t l i chkc i t ' s ta t t , d ie den quas i -na tür l i ch h i l f sbere i ten A l l tagsme-nsc f ,enzum inkompetenten La ien nracht (vg l . Gross l9g4) .

3 . Machse l igke i t a ls Menta l i tä t

wcnn w i r uns f ragen, wo dcnn < l ieser , rmper ia r ismus ' und d iese , rmmuni tä t ,gerac le c lesins t i tu t ione l l cn Gesundhc i tswescns und der dar in invo lv ie r ten Pro fess ionen her rühr t ,dann s toßen w i r au f e ine Re ihe von Erk lä rungsvar ian ten , d ie au f fa l lend p las t i sch mi t je -ner Metapher vom Heuschrcckenf lug kor respond ieren , d ie Luhmann ( rsb : ) in d ie neue-re soz ia lw issenschaf t l i che D iskuss ion imp lan t ie r t ha t . Danach g ib t es e in sozusagen,au to-poet isches ' Pr inz ip des schwärmens der Heuschrecke, oas a ie r . immer we i te r voran-treibt, bis sie die Erschöpfung ihres Glucose-Vorrates zu Boden zwingt - oder, so kön_nen w i r woh l h inzu l ' i i gen , b is s ie im b l inden F lugrausch an e iner wand, e inem Baum,c inem Te le fonmast oder woran auch imnrer zerb i rs t . - lm Gesundhe i tssek tor s toßen w i rau f e inc (sche inbar ebenfa l l s ,au topoet ische, ) E igendynamik der Techn is ie rung, d ie im_mer größere Inves t i t ionen und teurere Le is tungen er fo rder t . Wi r s toßen au f den euas i -Automat ismus e iner - zumindes t f i i r den ,La ien , - gänz l i ch undurchs ich t igen Zwangs_f inanz ie rung gesundhe i t l i cher Le is tungen, au f d ie we i tgeöf fne te Rat iona l i fä ten fa l le , ind ie e inerse i ts d ie Pat ien ten gera ten , wenn s ied ie ä rger l i ih hohen Be i t räge w ieder e inzu-ziehen versuchen, und in der siclr andererseits die Kässenärzte fangen, *?n r i . ihren in_d iv idue l len Ante i l an der ausgehande l ten pauscha lvergü tung or r . t I vo i a i lem appara_tive

-- Vermehrung ihrer Leistungen erhöhen (vgl. züsamÄenfassend Herder-Dorneich' l 985) ' Wi r s toßen au f das - zumindes t o f f i z ie i l - ungebrochene pres t ige dermed iz in i -

schen Pro fess ionen, in denen s ich d ie ldee des Beru fes"a ls e iner a . ru iu f , ! vordem Hin-te rgrund e iner a l lgemein s ich verbre i tenden Job-Menta l i tä t noch e inmal e i ien tüml ich zu-gespitzt und ausgeprägt hat.Das charak ter is t i kum der personenbezogenen D iens t le is tungsberu fe - parsons ( i96g)hat das als erster deu t l ic h au.fgezeigt -, näri I ich <Jaß ih re Arbe i t ebe n Arbeit m it u nd an Men-schcn is t , daß h ie r Arbe i t ( in r we i ten Versü indn is von schütz /Luckmann 19g4) im we_scnt l i chen mi t In te rak t ion . verschmi lz t , cn tkoppe l t d iesc Pro fess ioncn - jedenfa l l s no-minc l l und aus der S ich t .c iner ,g läub igen 'K l ien te le ' - uoo, g .n . r . r ien t r .nazum mehroder minder be i läu f igen Job und bewähr t ihnen - noch - J inen nachgerade,unze i tge_mäßen' Glanz. wird deshalb der Dienstreistungs-professionutir.rs ,o gäne mit ,posit i-

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I 50 GrosslHitzler/Honer AZS 10. /s.

vcr Professional i tä t ' ident i f iz ier t? Gi l t er deshalb a ls idealer Prototyp c incr postmater ia l i -

s t ischen Lebensweise? Nennt Gorz (1984) deshalb d ie hel fenden Professionen d ie ncuc

,c lass is ex machina '? Und konnten deshalb Fourast ie (1969), Bel l (1975), Gartner und

Riessman(1978) so ,wunderbare ' Vers ionen der nachindustr ie l len Gesel lschaf t t räumen(vgl . Gross 1983)?Wie immer diese Faktoren, einzeln oder gebÜndelt, das ungebremste, gegen alle polit i-

schen Steuerungsversuche und moral ischen Appel le res is tenteWachstum des Gesundhei ts-

wesens auch zu p lausib i l is ieren scheinen, so scheint es doch vor a l lem, b is lang noch gera-

dezu verdeckt durch die Reden von Anspruchsdynamik, Rationalitätsfalle, Profitstre-ben, Technis ierungsschüben und so wei ter , e inen mehr oder minder s t i l lschweigendenKonsens a l ler Bete i l ig ten zu geben: den, daß so etwas wie e in l inearer Konnex zwischenModerni tät und Pathogeni fät , zwischen Plura l i tä t und anomischer Maladie bestehe. Ver-einfacht ausgedrückt: daß die Gegenwartsgesellschaft eine solche Vielzahl von Krankhei-ten produziere, daß maneigent l ich, F inanzierungsprobleme hin oder her , gar n icht genuginst i tu t ional is ier te und professional is ier te Mediz in haben könne.Wenn dies zutrifft, dann ist die Entwicklung im Gesundheitswesen allenfalls vordergrün-dig e in Problem der F inanzierbarkei t , h intergründig erweist ess ich dann a lsProblem un-serer kol lekt iven Mental i tä t ! Und d ieser Menta l i tä t kommt man durchaus auf d ie Spur,schon wenn man auch nur einige ,zufäll ige' Beispiele all läglicher Ereignisse in scheinbarganz verschiedenen Bezugsrahmen betrachtet: Unlängst ist ein Fernsehfilm ausgestrahltworden mi t dem Ti te l , ,Männer, d ie Frauen waren" (ARD,23. Septernber 1984). Dar inis t das Leiden am Mann-sein a ls e ine mi t te ls operat iverTechnik zu behebende Krankhei tdargeste l l t worden. Was, wenn e ine Frau daran le idet , e ine Frau zu sein? Oderein Mannes bei dem Gedanken n icht mehr aushäl t , daß er n icht daran le idet , daß er e in Mann is t?In den Zei tungen wurde uns kürz l ich der Fal l e ines Mörders nahegebracht , der auf gräß-l ichste Weise dre i Frauen gequäl t und getötet hat . Natür l ich war er krank - denn in denhöheren Etagen ger icht l icher Verhandlungen und mi t den entsprechenden Anwäl ten undGutachtern wird d ie für jede Gesel lschaf t unumgehbare Grenze zwischen Krankhei t undKriminalit i t mit Bewill igung der Gesellschaft eingenebelt. lm Vorwort zum eindrück-l ichen Buch von Fr i tz Mertens (1984, S. 10) , , lch wol l te l ieben und lernte hassen", indem ein Doppelmörder sein Schuldbekenntn is protokol l ier t , erk lär t z .B. der Jugend-psychiater d ie Gesel lschaf t f i i r schuld ig und den Täter fÜr krank. Er schr ieb: , ,E inesis t mir deut l ich geworden: es is t n icht unser Verdienst , wenn wir n icht s t raf fä l l ig wer-den, wenn wir in unserem Leben n iemals durch unsere Schuld töten. . . " Nichts is tunser Verdienst , und wir s ind a l le schuld ig - aber n icht durch e igene Schuld; Krank-sein h ieß immer, daß e inem etwas zugestoßen is t , das man nicht wi l l und für das mannichts kann.Sobald jedes Tun und jedes Lassen aus der Selbstverantwortung ent lassen und e inerneuen Macht des Schicksals, d iesmal in Form gesel lschaf t l icher oder b iographischer Um-stände, ausgeliefert wird, läßt es sich immer ins Krankhafte und Kranke wenden. So istes heu te ( vg l . G ross 1985 ; vg l . auch d ie Ku l t u r k r i t i k i n H i t z l e r 1985a ) . I n immerncuenFormat ionen türmen s ich Krankhei ten auf und bündeln s ich d iese in immer neuen An-sprüchen an d ie Gesel lschaf t , wei l der e inzelne ja aus der Verantwortung für d ie Gesel l 'schaft entlassen ist. Was für den kranken Wald gilt, soll auch für das Herz, die Zähne, dieDepressionen, d ie St immungen gel ten, in der Verursachung und in der Therapie. Es g ibtg le ichfa l ls n ichts mehr, was n icht krank macht . Nach der ungesunden Lebensweise is t esnun d ie gesunde, d ie gefährdet . Schon g ibt es St immen, welche d ie f rüher ungesundenVerhal tensweisen zu gesunden erk lären. Tr iv ia le Beispie le s ind Bauchrol ler und das Son-nenbad, aber schon sind Forschungen im Gange, die nachweisen, daß dauernd risikover'meidendes Verhalten (etwa Nichtrauchen) selber riskant ist.

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Entsprechend der Dehnung dcs Krankhei tsbegr i f fs hat s ich der Gesundhei tsbegr i f fgleichsam zusommengezogen, Er fungiert als ein abstrakter Wert, der alle anderen An-sprüche begrenzt . Er is t anonymis ier t und ent indiv idual is ier t - d ie ganze Indiv idual is ie-rungsthemat ik is t spur los an ihm vorbeigegangen. Man hat se in c igenes Urte i lsvermögen,was Gesundhei t - Krankhei t betr i f f t , ver loren, wei l man weiß, daß d ie jenigen, d ie s ichgesund fühlen und auch gesund sind, gegenüber denjenigen, die sich gesund fühlen unddennoch krank s ind, e ine hof fnungslose Minderhei t darste l len. Der Gesundhei tsbegr i f fis t android geworden: ldealb i ld is t der immerfor t gesunde, res is tente, zähe, ewig lebendeKunstmensch. Nachdem die menschl iche Machsel igkei t gegenüber der Natur ihre Lek-t ion erhal ten hat , hat s ie s ich mi t vo l ler Wucht auf den Menschen selber geworfen. DieMischung von Faszinat ion und Grausen, mi t der wi r heute d ie Maschinengeschöpfe derRomant ik aus Eisen, Leder und Porzel lan beargwöhnen und d ie in der L i teratur be-schr iebenen, in Retor ten ge- bzw. erzeugten Homuncul i und d ie aus Lehm geknetetenGolems, is t von der Wirk l ichkei t e ingehol t worden. Heute s ind Retor tenbabys und Men-schen mi t Kunstherzen und Kunstg l iedern mi t ten unter uns. In Sal t Lake Ci ty baut d ieFi rma Symbion Incorporat ion e inen Markt f i . i r e lekt ronische Körper te i le auf und hof f t ,dre iß ig Prozent des , ,ohrengeschäf ts" in Europa abzuwickeln (c le is 1985). Die Biotech-nologie ersetzt ausfa l lende Funkt ionen bzw. auf fa l lende ,Fehl ' -Funkt ionen, defekte undunschöne organe, durch biologische oder technische substitute, die - wie etwa dieZahnprothesen - den Menschen um ein Vie l faches überdauern, g le ichsam für d ie Ewig-kei t gehärtet scheinen.Es is t ke ine Häresie mehr, s ich über das col lagieren, ja das Komponieren von MenschenGedanken zu machen, d ie a l les ,Edle und schöne' in s ich vere inen und s ich a l les Un-schöncn und Unappet i t l ichen ent ledigt haben. Gesundhei t is t e in Wert ohne Maß gewor-den, cr fungier t außcrhalb a l ler ideologischen Meinungen, er begrenzt in seiner Grenzen-los igkei t a l le anderen Ansprüche. Tr i f f t d ieser unbegrenzte Anspruch, d iese hyper-t rophe Gesundhei tsomnipotenz, auf das oben beschr iebene Krankhei tsverständnis, sogibt es sozusagcn ,ke in Hal ten mehr ' . Wenn e inera ls Ehrenret tung des Laiensystems ge-dachten Studie zufo lge mehr a ls zwei Dr i t te l a l ler Krankhei ten im Laiensystem verble i -ben und dor t mehr schlecht a ls recht kur ier t werden, so kann man das auch a ls Mani-festat ion e iner Menta l i tä t auf fassen, f i i r d ie d ie Wel t zu e inem großen Krankenhaus ge-worden is t , a l lerd ings zu e inem schlecht gerüsteten.

4. Hilf lose Virtuosirät

Diese hypert rophe mediz in ische Kul tur , von Kr i t ikern des Mediz inbetr iebes a ls Medical i -s icrung der Gesel lschaf t gegeißel t , gcrät nun f re i l ich angesichts epidemisch auf t retenderneuer Krankhei tsb i lder doch selber in Schwier igkei ten, ihren Bestand und ihr wei teresWachstum zu legi t imieren. Das naturwissenschaf t l ich-d iagnost ische Inst rumentar ium, d iein großer Zahl entwickel ten psychodiagnost ischen Theor icn und Nomenklaturen undein immer wei ter in d ie ,T iefen ' des menschl ichen Körpers und der menschl ichen Seelevordr ingendes sz ient is t isches Interesse haben s ich - nun of fenkundig - von der thera-peut ischen Kompetenz abgekoppel t und d iese nachgerade pr inz ip ie l l zumindest zum,Nachhinken' verur te i l t . E inc anschcinend unproblcmat ische Verknüpfung von Diagnoseund Thcrapic l icgt zwar noch immcr bei v ic len Krankhei ten vor : vor a l lem bei den bak-ter ie l lcn Infckt ionskrankhei ten. Aber d iese e infachen Krankhei tsb i lder s ind mediz in-sozio logisch re lat iv unintcressant , obrvohl d ie spektakulärsten Er fo lge der modernen Me-diz in wohl auch künf t igh in danr i t assozi ier t werden.

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An eine neue, unvermutete Grenze ist vor wenigen .f ahren allerdings auch die medizini-sche lnfektionsforschung und -bekämpfung gestoßen; Gerade als es den Anschein hatte,als seien die Menschheitsgeißeln infektiöser Epidemien ,unter Kontrolle' und damit ge-brochen, begann sich eine bislang unbekannte, bis heute prinzipiell mit tödlichen Kon-sequenzenbehaftete Krankheit zunächst diskret, inzwischen mit epidemieartigen Ratenauszubreiten: eine virusbedingte Abwehrschwäche des menschlichen lmmunsystems, be-kannt a ls ,AIDS'(Acquired lmmune Def ic iency Syndrome). Gegen d iese, wie auch im-mer, ansteckende Schwächung des menschlichen Organismus, deren Erreger unterdes-sen ihrer Herkunft, ihrer genetischen Struktur und ihrer biochemischen Wirkungsweisenach als bekannt gelten, lernen wir derzeit zwar das Ansteckungsrisiko mindern de pmk-tische Yorsichtsmaßnahmen , medizinische Vorbeugungsmittel allerdings sind noch nichtin Sicht. Mit einer zielgerichteten Behandlung oder gar einer Heilung von AIDS-Krankenist vorläufig noch weniger zu rechnen. AIDS erweist sich aber nicht nur als vorderhandunlösbares Problem der medizinischen Experten, AIDS dürfte, wenn nicht alsbald docherfolgreiche Mittel dagegen bereitgestellt werden können, auch zu einem gravierendensoziokulturellen Problem werden: Die Furcht vor AlDS mobilisiert bei immer mehrMenschen in unserer medizinisch anscheinend so perfekt versorg,ten modernen Gerll-schaft hysterische Ansteckungs- und archaische Todesängste, die sich gegenüber derrealen Gefährdung zunehmend zu verselbständigen und unseren Alltag, unsere Ge-wohnheiten, unseren gesamten Lebenssti l zu verändern drohen (vgl. Hitzler 1985b).Schon immer ist den Menschen als naheliegendste Reaktion auf Epidemien, wenn nichtdie physische Vernichtung der Kranken, dann eben die Flucht erschienen (vgl. Sigerist' l 963). Vor dem utopischen Schreckensgemälde barbarischer Möglichkeiten (die mit un-

sinnigen Zwangsisolationen und Massendemonstrationen beginnen) könnte deshalb dieUmkehrung des aktuellen freizeitkulturellen Trends zur Gesell igkeit ,weg von den eige-nen vier Wänden'(Opaschowski 1983) in den fluchtartigen Rückzug genau dorthin nochzu den harmloseren potentiellen Erscheinungen zählen.Aber diese Lücke zwischen Diagnose und Therapie hat esnatürlich auchschon in bezugauf andere Infektionskrankheiten gegeben. Z.B. nahm die Entwicklung eines lmpfstoffsgegen Hepatit is 17 Jahre in Anspruch. Somit könnte eine neue, zwar grausame, aberauch hoffnungsträchtige ,Faustregel' Gültigkeit bekommen: Je differenzierter und kom-plexer die Krankheitsbilder werden, die die modernen diagnostischen Apparaturen im-mer frühzeitiger zu erfassen imstande sind, desto unabwendbarer und existentiellproblematischer könnte sich der ,t ime-lag', möglicherweise sogar die prinzipielle Un-möglichkeit einer adäquaten Therapie erweisen. Wenn ein Pharma-Forscher zu bedenkengibt, daß ,,von den bekannten Krankheiten ... erst ein Drittel medikamentös wirksam zubehandeln ( is t ) , und nur knapp zehn Prozent . . . wi rk l ich hei lbar (s ind)" (Deck 1982); somag das als Ansporn für die Pharma-lndustrie wirksam sein. Je wirksamer die Arbeit imdiagnostischen Sektor aber wird, desto größer wird auch die ,,technologische Lücke"zwischen Diagnose und Therapie.Das Morbiditäts- und Mortalifdtsspektrum hat sich in modernen Gesellschaften in denletzten hundert Jahren erheblich verändert. Die Statistiken zeigen einen Rückgang derInfekt ionskrankhei ten und e ine Zunahme tödl ich ver laufender Krebs- , Hea- und Kreis-lauferkrankungen. Das ist wohlvertraut. Ebenso daß daseine Phänomen zum Teil das an-dere bedingt: Personen, die in frühem Alter an Infektionen sterben, haben nicht mehrdie ,,Chance", einem Karzinom oder einem Apoplex in ihren späteren Lebensjahren zuer l iegen (vgl . Geis ler ' l 981) . Mi t anderen Worten: d ie Ver längerung der Lebenserwartungmuß zwangsläufig zu einem veränderten Mortalitätsspektrum führen. ln bezug auf Hez-und Kreislauferkrankungen, wie in bezug auf Krebs und chronisch-degenerative Leidenklaffen aber diagnostisches und therapeutisches Wissen weit auseinander. Die Exaktheit

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der Diagnosc hat , schrc ibt Pctcr Nol l (1984) in seinem Tagebuch , ,Diktate über Ster-bcn & Tod", verglichen mit dcr Ungewißheit des therapeutischen Erfolges, etwas Absur-dcs: , ,Wie e in F i lm im Zei t lupentcmpo einen Autounfa l l oder e inen Flugzeugabsturzdarstc l l t . Man s icht a l lcs ganz genau, aber man kann n ichts dagcgen nrachen. . . " (1984,s .4s ) .Auch h ier is t d ie Lücke te i lweise pr inz ip ie l ler und n icht zu schl ießender Natur . Bei denchronisch dcgenerativen Leiden liegen häufig keine akuten Funktionsstörungen vor, son-dern degcnerat ive Prozesse, d ie höchstens zu ver langsamen, aber n icht umzukehren s ind.Anders a ls bei den Infekt ionskrankhei ten s ind bezügl ich derHerz- und Kreis lauferkran-kungcn und auch für Krebs d ie Ursachen n icht genau bekannt , n icht auf e inen Erregerbcschränkbar. lhre mul t i faktor ie l le Verursachung verh inder t e ine gezie l te Therapie. DieFlut von therapeut ischen Erkenntn issen und immer neuen Ris ikofaktoren führ t zu e inerArt In format ionskol laps - bcsonders dann, wenn neue Erkenntn isse a l ten widerspre-chen. Es is t auch kc incswegs erwiesen, daß d ie Früherkennung h i l f re ich für d ie Therapieis t . So zeigt s ich e in deut l icher Morta l i tä tsanst ieg auch bei lenen Krebsarten, derenFrüherkennungsuntersuchung sei t

. l 911 zu den Pf l icht le is tungen der gesetz l ichen Kran-

kenkassen gehören: Mamma{arcinom, Cervix{arcinom und Prostata{arcinom. Zumin-dest an Morta l i tä tsraten läßt s ich Wirksamkei t prävent iver Maßnahmen nicht nachweisen(vgl . Greiser 1981, S. 15) . Die Frage is t , woran das l iegt , ob an der Unfo lgsamkei t derPatienten oder daran, daß eine feinere und umfassendere Diagnostik erst jene Krankhei-ten ans L icht br ingt , deren Therapie entsprechend schwier ig is t .Erwcist s ich der mediz in ische For tschr i t t a lso insgesamt a ls d iagnost ische Einbahn-st raßc? Werden d ie ldent i f ikat ionssysteme von Krankhei ten auf Kosten der Bewäl t i -gungssysteme von Krankhei ten entwickel t? Oder g ibt es e inen pr inz ip ie l len Zusammen-hang der Art, daß die Komplexität der ldentif ikotionisysteme zu einem immer ekla-tanten, sozusagen ,automatischen' Nachhinken der Bewöltigungssysteme von Krank-hei ten f thr t? Wie steht es überdies mi t der bürokrat ischen Einf lußnahme auf d ieseEntwick lung? ls t n icht e ine hohe d iagnost ische Sensib i l i lä t gefragt? Hat denn e inArzt n icht grundsätz l ich ,bessere ' (d.h. in tersubjekt iv befr iedigendere) Entschuld igun-gen f i . i r d iagnost ische Fehler a ls für n icht gelungene Therapien? Welches ärzt l iche Tun- das diagnostische oder das therapeutische - ist denn leichter überprüfbar? WelcheArt von Fehler wi rd wohl der selbsterhal tungsbedachte Arzt fo lg l ich auf jeden Fal lzu vermeiden versuchen? Was kann im Nachhinein k larer a ls Versäumnis ausgelegtwerden: e ine fa lsche oder unvol ls tändige Diagnost ik oder e ine n icht gel ingende Thera-p ie? Gibt es für e ine n ichtgel ingende Therapie n icht zahl lose Entschuld igungen, füre inen d iagnost ischen Fehler aber kaum eine? Gerät so das ärzt l iche Tun n icht in e innachgerade paradoxes D i lemma?

5. Hi l f re iche,Begeisterung'

Das noch immer insgesamt ungebrochen hohe Prestige der medizinischen Professionen,insbesondere das des Arztes, beruht auf der , oft als ,magisch' erscheinenden, Fähigkeit,zu hel fen und zu hei len. Die Verfügungsmacht der ,Hel fer und Hei ler 'über ihre Kl ien-te le, d ie, von uneingeschränkten Herr-Sklaven-Verhäl tn issen abgesehen, a l lenfa l ls nochmit der von Pr iesterköten best imnrter Kul turen und mi t ( in e inem nicht pc lorat ivenSinne) tyrannischen Herrschaftsverhältnissen zu vergleichen ist, legitimiert sich und be-z ieht ihre ,normat ive Würde' (vg l . Berger /Luckmann 1969) für den Al l tagsmenschendurch den Glouben (im Sinne Webers 1972) daran, daß alle Eingriffe in die Intimzonedes Leibes und in das Innere des Körpers, daß alle Schmezzufügungen und Plagen dazu

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dienen, ein fiktives Aquil ibrium des Körpers, des Geistes, von Körper und Geist, oderauch von Körper, Geist und Kosmos, herbeizuführen oder wiederherzustellen.Diese religiös-magische Komponente des Heilens, die auf ,Vertrauen' basiert, resultiertaus der Zuschreibung alltagstranszendenter Befähigungen zunr Umgang mit Leid undLeiden an den medizinischen Experten. Diese Zuschreibung, darauf habcn wir eingangsbereits hingewiesen, erfolgt in unserer Kultur aufgrund scheinrationaler Prämissen hin-sichtl ich der Wissenschaftl ichkeit ärztl icher Kunst. Das gali leisch-kopernikanisch-new-tonsche Paradigma is t so verb indl ich, daß auch ,a l ternat ive 'Hel fer und Hei ler ihr Tunquasi- oder pseudo-szientistisch legitimieren bzw. legitimieren zu müssen glauben (vgl.im Überblick Löbsack 1980, fi ir die Homöopathie z.B. Hochstetter 1913;für die Orgo-nomie Raknes 1973). ln vormodernen Kul turen h ingegen gal ten andere Paradigmen, d iedie Welt f i ir den Einzelmenschen wie für die Gemeinschaft sinnhaft und glaubwürdigordneten (vgl . Luckmann 1972 und 1980b; vgl . zur Archaik auch Durkheim/Mauss1963; zum Mittelalter Gurjewitsch 1980, zum Übergang in die Neuzeit Thomas 1973).fn archaischen Kulturen etwa galt typischerweise, daß es so etwas wie eine notürlicheErkrankung und einen natürlichen Tod nicht gibt. Verursacht wurden individuelles Lei-den und Sterben ebenso wie sozialeKatastrophen durch außeralltägliche Kräfte, simpli-f iziert ausgedrückt: durch Geister und Dämonen. Vermittels besonderer Fähigkeiten undTechniken war es pr inz ip ie l l mögl ich, zu d iesen Kräf ten auchakt iv in Beziehungzu t re-ten, mit ihnen zu kommunizieren, ja sogar sie zu beeinflussen und auch vorübergehendund in beschränktem Umfang zu ,beherrschen' (vg l . Mauss 1974). Mi th in korrespondier tdie medizinische Kompetenz eines archaischen Menschen hochgradig damit, wie glaub-haft seine kommunikative Kompetenz gegenüber diesen Kräften seinen Mitmenschen er-schienen ist. Am plausibelsten wurden solche interaktiven ,Jenseits'-Beziehungen natür-l ich dann, wenn die Kontaktperson selber ,besessen' war, wenn also der menschlicheKörper von einer transzendenten Kraft bewohnt oder mitbewohnt wurde. Solche ,be-geisterten' Körper werden in der einschlägigen Literatur normalerweise als Schamonenbezeichnet (vg l . Hi tz ler 1982).Ein Schamane übt, fast ausschließlich in archaischen, gelegentlich auch in Enklaven tra-ditionaler Gesellschaften religiös-medizinische Funktionen aus aufgrund seiner, aus sei-ner ,Begeisterung' resultierenden, empathischen Kornpetenz gegenüber all den Geistern,die sich in der Welt herumtreiben, die Menschen ängstigen, ihnen nachschleichen, auf-lauern, ihnen Besuche abstatten, sie heimsuchen und sie eben manchmal auch krank ma-chen. Die ,Begeisterung', die sich in Ekstase, Trance und Träumen manifestiert, reichtwei t über das h inaus, was wir heute a ls ,professionel les Sonderwissen' bezeichnen wür-den. Sie verweist sozial glaubhaft auf eine besondere Quolitöt der Erfahrung. Der Scha-mane ,verkörpert' ( im wörtl ichen Sinne) das Außeralltägliche, während eben ,normale'Experten, wie Medizinmänner, Zauberer und Priester, zum Transzendenten lediglich ineiner rituellen Beziehung stehen. Der Schamane istinspiriert, ein Körper im (Mit-)Be-sitz einer nichtmenschlichen Kraft. Sozial berätigt er sich beispielsweise als Mystiker,Magier, Mythologe, Dichter, Tänzer, Künstler, Polit iker und - nicht zuletzt - als Medi-z iner , a ls Arzt (vg l . E l iade 1975, Hal i fax 1980). Er s te l l t , im Dienste derGemeinschaf t ,die Verbindung mit dem Jenseits nicht nur her sondern auch dor.Insbesondere Hans Schadewaldt (1968) hat auf die Unterschiede zwischen den Heil-methoden des Schamanen und denen des gewöhnlichen Medizinmannes hingewiesen:Während letzterer, persönlich distanziert, mit einer Mischung aus Beschwörungstechni-ken und rational€mpirischer Erfahrung arbeitet, also professionelles Sonderwissenanwendet, erfolgt beim Schamanen eine ldentif ikotion mit dem krankheitsverursachen-den Dämon. Der Schamane hat also ein anderes Selbst- und Wirklichkeitsbewußtseinafs der Medizinmann. Zwar greift er in seiner medizinischen Praxis ebenso wie dieser

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auf naturkundliches Wissen zurück, das Wesentliche seiner therapeutischen Kompetenzbesteht fedoch darin, daß sich in seinem außergewöhnlichen Zustand selber Katharsisund Hei lung intersubjekt iv wahrnehmbar ,verkörpern ' . Anders ausgedrückt : Der Körperdes Schamanen is t für se ine Mi tmenschen Ausdruck e iner Umwandlung des, lnneren'in e inem v ie l e inschneidenderen Sinne a ls f l i r uns moderne Menschen Körpermodi f ika-t ionen Anzeichen für St immungsänderungen sein können. Gerade info lge der in tersub-jekt iv wahrgenommenen körper l ichen Repräsentanz des ,Jensei t igen' wi rd das Phäno-men des ,begeisterten'Schamanen in einem sozial gültigen Klassifikationssystem alsheil-krciftige I nstitution legitim iert.Schamanismus, so könnten wir das Phänomen v ie l le icht in unsere moderne (und damiteigentlich schon inadäquate) Denkweise übersetzen, repräsentiert eine Art und Weiseder universalh is tor ischen Bemühungen des Menschen, durch Wissen d ie Beherrschung derdem Alltagsverstand unergründlich scheinenden Mächte in seinem Inneren zu erlangen(vgl . Kre i t ler /Kre i t ler 1980, S. 320) . Schamanismus is t , funkt ional betrachtet , e ine kom-plexe, in tegrat ive Sozia l -Kunst , d ie d ie Kompetenz zum Hei len, im mediz in ischen Sinne,e inbet tet in d ie Sorge um und in den Dienst am exis tent ie l len,Hei l 'des Mi tmenschenüberhaupt. lm schieren Gegensatz zu einer solchen emphotischen Heilkunst reduzierendie szientistisch legitimierten Reparaturdienstleistungen des rein naturwissenschaftl ichor ient ier ten Mediz iners heute den maladen Kl ienten zum unpersönl ichen Forschungs-und Behandlungsobfekt. Statt wechselseitiger Kommunikation und mitmenschlicherFürsorge findet - idealtypisch - Exploration, Analyse, Diagnose statt. Polemisch for-mul ier t : Der im Banne des gal i le isch-kopernikanisch-newtonschen Paradigmas agierendeArzt versteht n icht mehr v ic l von Gesundhei t , aber dafür umso mehr von Krankhei t .Seinc ,Kunst ' ze i t ig t hypert rophe, ja kontraprodukt ive Konsequenzen: Gal t b is lang nochdie Devise ,Keine Therapie ohne Diagnose', so gilt heute für viele Krankheiten sozusagenein achselzuckendes ,Keine Therapie trotz Diagnose'.

6. Apparate und Alternativen

Heinr ich Schipperges (1970, S. 1) kr i t is ier t das ver fehl te Schema, d ie Geschichte der Me-diz in a ls e ine Geschichte des beständigen For tschre i tens zu begrei fen. Nun spiegeln d ieHistor ien der Einzeld isz ip l inen ja d ie neuzei t l iche Deutung der Wel tgeschichte: s to lzposier tendiewesteuropäischen Wohl fahr tsstaaten noch b is vor wenigen Jahrzehnten aufdem Gipfe l des For tschr i t ts , b is s ich der For tschr i t t g le ichsam selber zu überschlagen be-gann und d ie Phi losophie des , immer mehr und immer größer 'das Abendland an d ieGrenze des Abgrundes getr ieben hat . Zwei fe l los schrei tet d ie moderne Mediz in in e in igerHins icht immer noch for t : in der Diagnost ik , in der chi rurg ischenTechnik, in der Biotech-nologie, in dcr Prothesenmediz in. Aber d ie gewal t ige Umstruktur ierung der Kranken-landschaf t , n icht zu letzt durch d ie modernen d iagnost ischen Mögl ichkei ten selber , ha-ben d ie therapeut ischen Mögl ichkei ten gegenüber den modernen Ziv i l isat ionsseuchennicht steigern können. Je differenzierter die Objektivierungsverfahren, von der Rönt-genologie über d ie Computer- und Kernspin-Tomographie b is zur Scint iagraphie, und jedeta i l l ier ter d ie Laborprodukte, je t ie fer d ie d iagnost ischen Geräte in den Körper e in-dr ingcn, a lso je exzessiver d ie apparat ive Diagnost ik wi rd, desto armsel iger erscheinendic therapeut ischen Mögl ichkei ten. Jede Diagnose wird von den Menschen g le ichsamals e in Versprechen rez ip icr t , d ic entdeckte Krankhei t auch zu hei len. Die moderneMediz in weckt durch ihre analyt ischen Tr iumphe immcr neue unerfü l lbare Anspr i iche.Die offenkundig theropeutisch ertolgreiche Medizin in vormodernen Gesellschaften hin-gegen hat auf e iner analyt isch höchst unzureichenden, in sz ient is t ischer Perspekt ive typ i -

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scherweise sogar gänzlich falschen Diagnostik beruht. Wenn eben in der magischen Heil-kunst das Leid und das Leiden e ines Menschen ,über t ragen'und damitd ie Krankhei t -nach unserer Denkweise - e infachsymbol ischüberwundenwird, wenn s ich der Ehemannim ,,kuwade" ,dem sympathetischen Männerkindbett, lautklagend vor Schmerzenkrümmt, sobald sein Weib zu gebären beginnt, wenn der Schamane auf dem Höhepunktseiner Zeremonie den Krankheitsdämon auf sich zieht und dabei zusammenbricht, sosprechen diese Therapien jeder naturwissenschaftl ichen Krankheitslehre Hohn - und ge'l ingen doch, sozusagen ,auf wunderbare Weise ' (dazu L ippross 1971). Wenn d ie a l tenGriechen glaubten, daß Krankheiten Strafen seien, die erzürnte Götter über die Men-schen verhängt hätten, und daher durch Sühnemittel,Zaubergesänge und Opfer Heilungsuchten, wenn so manche christl iche Heilmethode sich auf den Sühneglauben stützt,d.h. die eigentlichen Krankheits-Ursachen in ungetilgter Schuld und in der Erbsündesah (so galt vor noch nicht allzu langer Zeit die erbliche Fallsucht als Zeichen Gottesund wurde deshalb , ,morbus sacer" genannt) , und wenn schl ießl ich b is heute MenschenHilfe vor Gnadenbildern und Alt?iren suchen und ihre kranken Glieder und Organe inVotiv-Gaben aus Wachs und Holz nachbauen und damit Gott darbringen, so zeigt dies,daß doch auch d ie,andere 'Hei l -Kunst , g le ichsam im,Unter leben'zum of f iz ie l len me-dizinischen System, bis in die Gegenwart hineinwirkt. Auch hier zeigt sich, daß das na-turwissenschaftl ich orientierte Krankheitsverständnis immer mit einem lebensweltl ichenzu konkurrieren hatte, und daß das letztere letztl ich für den gewöhnlichen Menschenwohl doch nicht nur ,dereinst', sondern noch wie vor bedeutsamer ist.Üblicherweise versucht man, diese differierenden Bezugs- und Beurteilungssysteme einerExpertenkultur einerseits und einer Laienkultur andererseits zuzuweisen (vgl. dazuBadura/v. Ferber 1981; Gross 1982). Die unbestreitbaren Erfolge der naturwissenschaft-l ichen Mediz in (verg le ichbar der Einf i jhrung des Schießpulvers! ) in a l len Kul turen, unddie anscheinend universelle Anwendbarkeit der entsprechenden Medikamente und Me-thoden, mag dazu geführ t haben, daß das sz ient is t ische,Model l 'des Hei lens e inersei tsfast allgemein die legitimatorischen Standards setzt, andererseits aber nicht mehr undnirgends rnehr als Oktroi aufgefaßt wird. Vor allem die wohlfahrtsstaatl iche Einbindungdes Gesundheitswesens, mit der versicherungsrechtlich notwendigen Kalkulierbarkeitder Kosten e iner Behandlung und der pol i t ischen und bürokrat ischen bzw. recht l ichenKontroll ierbarkeit der Verfahren, erfordert eben ,verständlicherweise' die Orientierungdes Krankheitsbegriffs an Maß und Zahl, an der experimentellen Erarbeitung der Er-kenntnisse und der darin l iegenden Chance der Nachprüfbarkeit.Nochmals also: Das Verhältnis von Diagnose und Therapie, das Verhältnis von ldentif i-zierung und Bewältigung von Krankheiten ist historisch variabel; die unaufhaltsamenFortschr i t te in der Diagnost ik haben zu e inem Nachhinken - v ie l le icht zu e inem pr inz i -piellen, nie mehr einholbaren Nachhinken - der Therapeutik gell ihrt. Die Professionenblühen gleichsam diagnostisch auf und glühen therapeutisch aus. Und die anschwellen-de Flut pharmazeut ischer Erzeugnisse, e inschl ießl ich der auf der Gesundhei tswel le mi t -schwimmenden ,,Medikamentenflihrer", versfärkt die therapeutische Not noch. Das hatnicht nur Krit iker des modernen Medizinbetriebes auf den Plan gerufen, sondern auchzu e iner Renaissance,a l ternat iver 'Therapieangebote geführ t . Die Selbstentzauberung desärzt l ichenTuns, d ie im Auseinanderdr i f ten von d iagnost ischerundtherapeut ischerKompe-tenz so sichtbar wird, wird neuerdings auch vom Arzt selber durch das freundliche und ver-ständnisvol le Eint reten f i i r Fern- und Geisterhei ler , Handauf legen und ,e lekt r ische Felder 'kompensiert.Die Arzteschaft taucht ihre, gegenüber dem diagnostischen Wissen abfallende und sichder einfachen Empirie des Alltags anschmiegende, therapeutische Vagheit in das sanfteLicht ganzheitl icher Orientierung. Die ganzheitl iche Orientierung ist das schlechte Ge'

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wissen des naturwisscnschaftl ich orientierten Arztcs, cler selber lebensweltl ich weiß, daßKrankscin und Hei lung aus mehr besteht a ls aus berechenbaren Kausalzusammenhän-gcn, d icses Wissen aber im Rahmen seines professionel len Bezugssystems nicht unter-br ingt . Hingegcn dcuten und behancle ln d ie ,ganzhei t l ichen Hei le i ' , wie etwa Naturhei l -kundige, Physiothcrapeuten, Homöopathen und andere mediz in ische Außensei ter ,immer den Gesamtzustand des Kranken. Diagnost ik im Sinne derSchulmediz in wird ge-genüber dem beinahe ausschl ießl ichen Zie l c iner - grundsätz l ich - a l lgemeinen Gesun-dung fast nebensächl ich. Die Grundübel werden in den Lehren der NatJrhei lkunde typi -schcrweise mehr oder weniger hypothet ischen Gewebeverschlackungen, Venaueiun-gen. odcr Vcrg i f tungen zugeschr ieben. Rein igung, Entschlackung, A-usscheidung undAusle i tung s ind d ie entsprechenden therapeut isch bedertsam.n üärgange. Auch d ie _in ihrer Theor ie und ihrcm Hei l -Er fo lg ganz unterschiedl ich beurte i l te - Homöopath ievcrsteht sich zucrst als Therapie, bzw. Therapie ist hier zugleich Diagnose. Werden dieKrankhei tssymptome durch e in Mi t tc l n icht gedeckt , wi rd

-das nächsie Mi t te l angewen-

det. Nicht zuletzt deshalb hat man die Homöopathie auch verächtlich als ,Symiptom-decke re i ' beze i chne t ( vg l . L i pp ross 1971 ,s .112 ; aus de r Fü l l e de r neuen L i t e ra tu r :Petersohn/Petenohn 1 981; Grossinger 1982; kr i t isch zum Verhäl tn is von Schulmediz inund a l ternat iven Mediz inen Schoene 1980; kr i t isch in h is tor ischer Betrachtung Wuttke-Groneberg .l

983).wenn nun d ie schulmediz in angepaßte Vers ionen von Akupunktur , Chiroprakt ik ,Homöopath ie, Makrobiot ik usw. in ihre prax is e infügt , wenn s ich nun'moderne Arztemit den Techniken, Ver fahren und Wissenssystemen von indianischen Mediz inmännern,von christl ichen Gesundbetern, T'ai-chi-Meistern unc.l Vegetariern, von yoga- und Atem_spezia l is ten und spi r i tua l is ten a l ler Ar t befassen, und wenn nun New-Age- und Ganz-hei tsphi losophien e ine L i teratur f lu t auch zu a l ternat iven Mediz inen bewirkt und provo-ziert haben, so fragt sich freil ich, ob daraus mehr wird und überhaupt mehr werdenkann, als eine temporäre Reaktion auf das lebenspraktische UngenügÄ unseres natur-wissenschaftl ich ausgerichteten offiziellen Gesundheitswesens. öenn"das gali leisch-ko-pernikanisch-newtonsche Weltbild und das ihm inhärente Krankheitsverständnis, das dieSchulmediz in le i te t , is tpr inz ip ie l l inkompat ibel mi t den Kosmologien a l ternat iver Medi-zin.en,die eben typischerweise fundamentale Fragen nach dem iin, uon Krankheitenstellen und auch Anrworten darauf geben (vgl. schoene 19g0). Das gilt für schamanis_mus, vodoo und Geisthei lung, aber auch f l j r Akupunktur und KräuteÄeirkunde.Die Verwissenschaf t l ichung des Arztberufes is t in der west l ichen neuzei t l ichen Kul turnotwendig einhergegangen mit kognitiver Distanzierung vom konkreten Mitmenschen.Der moderne Arzt hat es - bei aller selbstverständlichen Freundlichkeit des Umgangesmit dem Patienten - soweit er eben naturwissenschaftl ich orientierter Rrzt istl tyi i-scherweise nicht mit wirklichen Menschen zu tun, sondern mit einem Menschenmodell.Insofern t re ibter auch keine Krankhei ten mehr ,aus, , sondern spür t s ie auf , te i l t s ie mi tund verordnet e in Mi t te l , an das s ich dann der Pat ient hal ten (ann oder n ichL Nun is tdiese Art der medizinischen Behandlung - objektiv betrachtet - zwar hochkompatibelmi t dem s inn- und st i lp lura l ismus e iner of fenen und f re ien Gesel lschaf t ar ; i . 'G; ; lH-itzler/Honer 1985), aber das Bedürfnis des Patienten nach Entlastung und Entschul-digung, nach religiöser Erklärung, nach sinndeutung der Krankheit, r.6li"ht, das Ver-langen nach Autorität und entsprechender Verantwortungsübernahme durch den Heiler,wird dabei evidentermaßen nicht gesti l l t. Pointiert ausgedrückt: Gerade, weil der Arztnach szientistischen Kritericn kompetenter, gerade wäil er pragmatisch distanzierterwird, gerade desholb zweifelt der patient, derklient zunehmendäuch und geradedieseKompetenz an, fühlt sich unverstanden, unerkannt, schlecht ,behandelt, - iÄ doppeltenWortsinne: als Person und als Rollenträger. Der Arztberuf wird gewissermaßen ,reeller,

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t iv detail l ierte ,,naturwissenschoftl iche" Thesen über den Ursachen-wirkungszusammen-hang psychischer, organischer und somatischer Phänomene. Schließlich verfügt sie überre lat iv t r iv ia l 'sz ient is t ische Erk lärungsmuster zum Ursachen-Wirkungszusammenhangmenschl icher Gesel lschaf t l ichkei t , Geschicht l ichkei t und Körper l ichkei t . Vereinfachtausgedrückt: Die medizinische Profcssion steht, nicht erst heute, aber heute unübeneh-bor , in dem Di lemma, d ie sozia l -Kunst des Hei lens im kosmologischen Bezugsrahmendes gal i le isch-kopernikanisch-newtonschen Paradigmas (Luckmann 1980a) auszuüben.Die hieraus zwangsläufig resultierende ,Krise', nämlich diagnostisch in einem noturwis-senschoftl ichen Verständnis immer perfekter und damit gegenüber allen alltäglichen Er-fahrungen immer ,apar ter ' (und vom Nichtmediz iner un-nachvol lz iehbarer) zu werdenund zugleich den offensichtl ich eben nicht auf szientistische Kausalerklärungen redu-zierbaren therapeutischen Bedürfnissen ihrer Klientele immer weniger entsprechen zukönnen, läßt s ich auch a ls Abkoppelung des mediz in ischen wissens- und Handlungssy-stems von der Lebenswel t dcs Menschcn ( im Sinne Husser ls 1954) verstehen. Die neuer-d ings zu beobachtende ,Kr isenreakt ion ' , daß Mediz iner nunmchr (wieder) dazu überge-hen, ihre - im sz ient is t ischen Sinne - v i r tuose Diagnost ik therapeut isch damit zu kop-peln, daß s ie ihre g le ißende technische Ausstat tung ins Schummerl icht ganzhei t l icherVorste l lungentauchen,daß s ie ihre Kl iente le an vernachlässigte und zum Tei l vergessene,Rezepte ' des Al l tagswissens über e ine s innvol le , normale, gesunde Lebensführung er-innern, korrespondier t zwar mi t der aktuel len ideologischen ,wende' zurück zumMythos quasi -natür l ichen,Hel fens ' , insbesondere der ,selbst ' -Hi l fe in Betrof fenhei ts-Gruppen und -Gruppierungen, ver fehl t aber in der je tz igen Form einen wesent l ichen Ge-s ichtspunkt der Hei l -Kunst (vg l . dazu Wutrke-Groneberg 1983).Hei l -Kunst is t e ine Sozia l -Kunst . Das heißt , daß ,Hei len ' zumindestauch, v ie l le icht sogarvor o l lem eine re l ig iöse Angelegenhei t se i . Und , re l ig iös ' is t e ine Angelegenhei t dann,darauf hat schon Durkheim (1981, ursprüngl ich 1912) aufmerksam gemacht , und d ieshat Luckmann (2.8. 1967 und 1984) auch für d ie neuere Rel ig ionssozio logie wieder inGeltung gesetzt, wenn sie dazu beiträgt, das Einzeldasein in ein transzendierendes Sinn-gef tge e inzubeziehen und e inzubinden. Diese Veror tung indiv iduel ler Er fahrungen inübergre i fenden symbol ischen Sinnsystemen is t e ine pr inz ip ie l l prekäre gesel lschaf t l icheKonstrukt ion, zu deren stabi l is ierung es e inschlägiger Experten bedarf (vg l . Berger lLuckmann 1969). Diese Experten s ind deshalb im a l lgemeinsten Verstande eben Sozia l -Künst ler , V i r tuosen der Sinnst i f tung und vor a l lem derSinnvermi t t lung. Und d ie Kunstdes ,Hei lens ' is t essent ie l l (d .h. ihrer ex is tent ie l len Funkt ion nach, d ie s ie fürdas mensch-l iche Dasein schlechth in hat) d ie Kunst , l r r i ta t ionen und Depr ivat ionen der sozia len Si -cherhei t und Selbstvers ländl ichkei t , wie Anomie und Maladie, aufzufangen, auszubalan-c ieren und zu entwirk l ichen.Katastrophen im Leben des e inzelnen wie in dem der Gesel lschaf t (n icht nur ,große' ,sondern auch ,k le ine ' ) erschüt tern d ie a l l rdgl ichen Vert rauthei ten und Gewißhei ten. Sieverweisen auf a l l tagstranszendente Wirk l ichkei ten (Schütz/Luckmann 1984), n icht etwanur im Rahmen von so gern a ls ,naiv 'angesehenen vormodernen wel tb i ldern, sondernauch im Rahmen moderner Wirklichkeitsauffassungen. Vom Alltagsverständnis aus be-t rachtet (a lso n icht im Kontext sz ient is t ischer Sonderwissenssysteme, über d ie der mo-derne Normalmensch zweifcllos nicht vertügl, verweist der Rekurs z.B. auf Viren, Bak-ter ien und Mikroben zur Erk lärung c iner Maladie n icht weniger auf ,myster iöses ' , jen-sei t iges Wisscn, a ls dcr Rckurs z.B. auf dcn böscn Bl ick oder auf e in göt t l iches Strafge-r icht . Dic Eins icht , daß dern so is t , und daß s ich d ies auch n icht rn i t aufk lärcr ischen Ent-zauberungsprogrammen besci t igen läßt (wei l d iese Entzauberung in der tatsächl ichen Er-fahrung des Al l tagsmenschen nur d ie Auf forderung zum Glauben an den e inen durch denan den anderen Zauber ersetzt ) , läßt s ich im Rahmen desgal i le isch-kopernikanisch-newton-

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und produziert gerade dadurch einc Bedarfs- und Bedürfnislücke, in die nun dic alter'

nat iven Mediz inen, d ie Hei lkundigen, Neo'schamancn und Gesundbeter - aber auch d ie

Selbsth i l fegruppen - nachstoßeni d ie nach ,Hel fen und Hei len ' im ganzhei t l ich re l ig iö-

sen S inne.Di . Akr .pt rnz der selbsth i l fegruppen im Gesundhei tsbcre ich durch d ie große Pol i t ik ,

das Werben fur diese durch prominente Sozialsenatoren, das unterdessen ganz selbstver'

s tändl iche Funkt ionieren von Tausenden solcher Gruppen weist im übr igen darauf h in,

daß s ich d ie schulmediz in zumindest mi t therapeut ischen Laien^Gruppen arbei ts te i l ig

i r "a"rä i*ngl j e inger icLtet hat . Die Professionel len nehmen eine Auslagerung ihrer Pro-

ü i . rnf t . in ä ie SetUsth i l fegruppen vor , d ie Selbsth i l fegruppen werden zu e iner Ar t Aus-

fallbürge einer diagnostiscien Profikultur. Der Aufbau solidarischer Handlungsfelder'

i.nr.it i r"" Marktirnd staat, wie es so schön h.eißt, entlastet das professionelle Gesund-

ir"its*es"n (vgl. Gross .l 982). Insbesondere die ,,worme" AtmolPh.tire..der Selbsthilfe'

gruppe als hJfend-heilende lnstanz scheint ia auch das ,unsichtbar' religiöse Bedürfnis

äes'mod"rnen Lebens-Bastlers nach sicheren, kleinen, überschaubaren Heimatwelten be-

,ona." adäquat zu befr iedigen (vgl . Luckmann/Berger 1964; Hi tz le. r 1985a) - zumin-

dest vorläufi! (nämlich Uis i ictr unweigerlich auch deren kosmologische Unzulänglich-

kei t erweisen wird) .Alles was in die vom Arzt hinterlassene Sinn-Lücke springt, ist grosso modo gekenn-

..i.tt"., durch eine (im notunuissenschoftl ichen Sinne) frappante diagnostische Unzu'

längl ichkei t , um nicht zu sagen: durch e ine horrende Inkompetenz, d ie s ich beeindruk-

kend ideologisch zu verschleiern versteht. Die Frage ist nur: lst.diese ,Helferschaft '

therapeutisci so erfolgreich, obwohl oder gerade weil sie diagnostisch dilettiert? Wird

der Mediziner zum organischen Not-Dienstler, obwohl oder weil er sein Geschäft,reell '

iu betreiben versuchtl Des Doktors Dilemmo heute also'. indem er die diagnostische

Kompetenz ständig erwei ter t und immer sfärker e ine re in sz ient is t ische Einste l lung an-

nimmt, verliert er-seine therapeutische Kompetenz (die eben nicht aus objektivem Tat-

sachen-wissen resultiert, sondern aus sozialer Approbation), weil die therapeutische

Funktion der Scharlatanerie vernachlässigt wird, weil die Profession zwar Not'Dienstlei-

s tungen anbietet , aber eben immer weniger - man gestat te den Ausdruck - , ,Kuhsta l l -

wärme".

7. Vergessene Fundamente

Hei len is t essent ie l l e in Bündel heterogener prosozia ler Funkt ionen' Mediz in is t vor a l -

lem Heil-Krnst und nur unter anderem auch Wissenschaft' Der abendländische Rationa-

lismus korrespondiert als diffuse Gesamtentwicklung mit der Entwicklung der Medizin

von e iner Sozia l -Kunst zu e iner Natur-Wissenschaf t .b iese Entwick lung kulmin ier t (vor-

fautigl) im offenkundigen Auseinanderklaffen von diagnostischer und therapeutischer

for"pät.n. bei der t,", it i l .n medizinischen Profession- Die Definit ion von ,Kompetenz'

(dieser wie iener Ruspraäung) meint nicht eine Bewertung von Kompetenz aufgrund

(wie auch immer geartetä4 läUl.t t iu'wissenschaftl icher Kriterien. Kompetenz ist hier

i i.t."f,, gemeint im Sinne vtn ,intersubiektiv erfolgreich ,gelingend'..Bewertet werden

sol l a lso i i rh t . t * . Oie Kompetenz der (mediz in ischen) Profession in bezug auf ihre

,i irnin Kompetenzkriterien, sondern bezogen auf die sozialwissenschaftl ich konsta-

ii i iU"r.n (nicirt etwa die von Sozialwissenschlft lern konstruierten) Kompetenzkriterien,

und das heißt, bezogen auf die Kompetenz-Zuschreibungen durch die faktische und po-

tentielle Klientele sälber, also ,orrräg.n aufgrund der Rekonstruktion der ,typischen'

Alltagsperspektive.In d iäsLm i inne ver fügt d ie mediz in ische Profession heute über e in re lat ives Opt imum an

oUi.Liiui.r"nOen Tech-niken zur Diagnose von Krankheiten. Sie verfügt überdies über rela-

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schen Paradigmas nicht Sewinnen. Sie bedarf unumgänglich der Reflexion auf die vor-

wissenschaftl lche Gegebenheit der welt f i ir das menschliche Bewußtsein, eben auf die

al l täg l iche Lebenswel t . In d iesem Sinne e iner in terpretat iven Grundlegung (und n icht

im S]nne eines normativ-szientistischen lmperialismus) muß sich die Medizin, wil l sie ih-

re therapeut ische,Kr ise 'überwinden, entweder versozia lwisscnschaf t l ichen oder a l le

pötoralen Funktionen abweisen und sich auf die ,,Knochenschlosserei" beschränken.

3 ie muß die s innst i f tende, a lso im Grunde d ie re l ig iöse Bedeutung des,Zaubers 'wieder-

entdecken oder ihren Anspruch, zu,hei len ' , aufre in handwerk l ich- technische Reparatur-

d ienst le is tungen reduzieren und damit d ie ursprüngl iche Domäne der h ippokrat ischen

Kunst zum größeren und existentiell entscheidenden Teil der massiv herandrängenden

Konkurrenz neuer bzw. wiederbelebter Heil-Künste überlassen'Ünter den gegebenen Umständen einer ungebremsten Kostenentwicklung im (bundesre-

publikaniscf,e-n) Gesundheitswesen, einer haltlosen und verantwortungsethisch proble'

matischen Dehnung des Krankheitsbegriffs und der parallelen ,,androiden" Verengung

der Vorste l lung von Gesundhei t und den daraus resul t ierenden Grenzüberschrei tungenzwischen Eigen- und Fremdverantwortung und zwischen Krankheit und kriminellem

Verhalten wäre eine Beschränkung auf die handwerklich-reelle Seite der medizinischen

Tätigkeit möglicherweise wünschenswerter als die ganzheitl iche Vezauberung oder Ver-

bräriung einer naturwissenschaftl ich-somatisch orientierten Medizin. Die Beschränkung

auf hanäwerklich-technische Reparatur würde keinesfalls die ganzheitl iche Wende über-

flüssig machen, diese hilft vielmehr die Grenzen einer erfahrungs- und naturwissen-

schafil ich orientierten Medizin sichtbar zu machen. Sie fördert auch die Besinnung

darauf , daß d ie,Anfänge der Mediz in 'n icht nur von bei läuf igem histor ischen, sondern

im Sinne eines Rückganges auf die Lebenswelt vor allem von systematischem lnteresse

sein dürften (vgl. Sigerist 1963). Dieses systematische Interesse richtet sich darauf, un'

ter selbstkrit ischer Bewahrung der akkumulierten naturwissenschaftl ichen Erkenntnisse

die mediz in ische Kul tur n icht mehr nur a ls Technik, sondern a ls Leiden und Leid

begfeitendes, minderndes und manchmal auch beseitigendes soziales Handeln, als kom-ple-xen Zusammenhang von diagnostischen und therapeutischen, von helfenden und hei'

ienden Vorkehrungen zu verstehen, deren arbeitsteil ige Ausformung ein historischvariables und von den Heilern und ihren Patienten gleichermaßen mitzuformendes Pro-

dukt darste l len.

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Page 9: OZS t0. Js. 3+411 985 ZWEI KULTUREN? DTAGNOSTISCHE UND ... · 146 GrosslHitzlerlHoner OZS t0. Js. ZWEI KULTUREN? DTAGNOSTISCHE UND THERAPEUTISCHE KOMPETENZ IM WANDEL Peter Gross,

1 62 Gross I H itzlerl Honer ÖZS 10. lg, 3+4/l 985 Gestörte Kommunikotion bei der Anamnese 163

GESTöRTE KOMMUNIKATION ZWISCHEN ARZT UND PATIENTI M K R A N K E N H A U S ( 1 )

Eine Analyse von Kommunikat ionsbedingungen am Beispiel der Anamnese

Helga Wimmer und Jürgen M. Pe l ikan

1, Kommunikation zwischen Arzt und Patient als Problem

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient, wie sie sich in theoretischen und empirischenUntersuchungen darste l l t , ze igt a l le Merkmale e iner asymmetr ischen Si tuat ion (Parsons1951): Dem mediz in ischen Experten Arzt a ls Wiederherste l lungs- und Kontro l l instanzsteht der Laie Pat ient a ls Wiederherzuste l lender und zu Kontro l l ierender gegenüber.Mediz in ische Expertenste l lung bedeutet Fachwissen - und damit verbunden Autor i -fä t - , Kenntn is der Fachsprache und Handeln in beruf l icher Rout ine. Laienste l lungheißt ger ingeres mediz in isches Wissen, e ingeschränkte Kenntn is der Fachterminologieund existentielle Betroffenheit durch die Krankheit.lm Gespräch real is ier t s ich d iese Asymmetr ie

in e iner dominanten, auch Gesprächsinhal te und Gesprächsst i l best immenden Hal-tung des Arztes, d.h. in e inem an den fachl ichen lnteressen des Arztes or ient ier ten,,Frage-Antwort-Spiel" unter Vernachlässigung der Bedürfnisse des Patienten undin e iner passiven Hal tung des Pat ienten, der t rotz Unzufr iedenhei t mi t lnhal t undSt i l der Kommunikat ion und nachgewiesener Informat ionsdef iz i te überwiegend aufln i t ia t iven des Arztes reagier t und wenig e igene (Frage-)Akt iv i tä t ze igt (vg l . a lsÜbers icht Köhle/Raspe 1 982).

Während Parsons von e iner gesel lschaf t l ichen Notwendigkei t und Funkt ional i tä t d ieserAsymmetrie ausgeht, zeigen empirische Untersuchungen immer häufiger die negativenKonsequenzen der damit verbundenen Vernachlässigung von Patientenbedürfnissen(vgl . a ls Übers ichtWimmer/Pel ikan 1984). Von besonderer Relevanz is t d ieses Problemangesichts gesel lschaf t l icher und mediz in ischer Entwick lungen, d ie ef fekt ive Kommu-nikat ion in verstärktem Maße notwendig machen.Veränderungen innerhalb der Gesamtgesel lschaf t , wie ste igendes Bi ldungsniveau, ver-stärkte Demokratisierungsbestrebungen etc. lassen Patienten und öffentl ichkeit immerhäufiger eine partnerschaftl iche Beteil igung am medizinischen Entscheidungsprozeß for-dern. Effektivstes Medium zur Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen durchAufk lärung und lnformat ion des Pat ienten b i ldet das Gespräch zwischen Arzt undPatie n t.lm medlz in ischen Bereich gewinnt d ie Kommunikat ion im Zusammenhang mi t denBemühungen um die Durchsetzung e iner s färker pat ientenzentr ier ten Mediz in an Bedeu-tung: Ausgelöst durch e inen, a ls Folge geänderter Lebens- und Arbei tsbedingungen an-zusehenden Wandel des Krankhei tsspektrums t r i t t e in mediz in isches Model l immer rnehrin den Vordergrund,das n ichtKrankhei tssymptome, sondern den , ,ganzen" Menschen inden Mi t te lpunkt therapeut ischer Bemühungen ste l l t . Innerhalb d ieses Konzeptes kommtder Kooperat ion und Kommunikat ion zwischen Arzt und Pat ient wei taus größere Be-deutung zu a ls im Model l e iner krankhei tszentr ier ten Mediz in.

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