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pema chödrön Wenn alles zusammenbricht

pema chödrön - VLB-TIX

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Goldmann_2011_Muster_118x187.indd 1 17.02.2011 13:27:20

pema chödrön

Wenn alles zusammenbricht

Unbenannt-2 1 02.05.12 15:06

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Buch

Eine der Grundaussagen des Buddhismus lautet, dass es für je-den Menschen Wege zu Zufriedenheit und dauerhaftem Glückgibt. Die buddhistische Nonne Pema Chödrön zeigt in ihremBuch sehr pragmatische Möglichkeiten auf, wie man sich vonseinem Leid befreien kann. Ihre Ratschläge sind mitunter vonprovokativer Direktheit und fordern den Leser auf, sich vollerNeugier in das unerforschte Gebiet seiner Schwierigkeiten vor-zuwagen. Chödrön ermutigt ihn dabei durch die offenherzigeSchilderung ihrer eigenen schmerzhaften Erfahrungen und diezuversichtliche Botschaft, dass Gelassenheit lernbar ist. Belohntwird der mühsame Weg mit der Erkenntnis, dass Glück und Zu-

friedenheit der wahren Natur des Menschen entsprechen.

Autorin

Pema Chödrön ist eine amerikanische Meditationsmeisterin inder Tradition des tibetischen Buddhismus. Sie war Schülerin vonChögyam Trungpa Rinpoche, der sie 1986 zur Leiterin von GampoAbbey, einem tibetisch-buddhistischen Kloster in Kanada, er-

nannte.

Von Pema Chödrön sind bei Goldmann und Arkana außerdemerhältlich:

Den Sprung wagen (22012)Die 3 Versprechen (34140)

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Aus dem Amerikanischen vonThomas Geist

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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel»When Things Fall Apart. Heart Advice For Difficult Times«

bei Shambhala Publications, Inc., Boston

Vollständige Taschenbuchausgabe Juni 2001

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

© 1998 der deutschsprachigen AusgabeHoffmann und Campe Verlag, Hamburg

© 1997 der Originalausgabe Pema ChödrönUmschlaggestaltung: Design Team, MünchenUmschlagabbildung: Premium/Stock Image

WL ⋅ Herstellung: WMSatz: DTP-Service Apel, Hannover

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-21525-6

www.goldmann-verlag.de

18. Auflage

Wilhelm Goldmann Verlag, München

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten enthalten, soübernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung,

da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im NetzMOMENTSof Happiness

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In Hingabe, Liebe und Dankbarkeitgewidmet dem

Sakyong Mipham Rinpoche

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Mit der Angst vertraut werden . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Wenn alles zusammenbricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Der gegenwärtige Augenblick

ist der vollkommene Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Alles lassen, wie es ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Es ist nie zu spät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Niemandem Schaden zufügen . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Hoffnungslosigkeit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 Die Acht Weltlichen Dharmas . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Die Sechs Arten der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . 84

10 Neugierig auf das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9411 Gewaltlosigkeit und die Vier Maras . . . . . . . . . . . . 10112 Erwachsenwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11213 Den Horizont des Mitgefühls erweitern . . . . . . . . 11814 Eine Liebe, die nicht vergeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12815 Gegen den Strich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13716 Diener des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14317 Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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18 Geheime mündliche Unterweisung . . . . . . . . . . . . 16419 Drei Methoden für die Arbeit

mit dem Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17220 Der Trick der Wahllosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18121 Den Kreislauf von Samsara umkehren . . . . . . . . . 19522 Der Weg ist das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Anhang

Das Leiden und seine Auflösungim Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Vorbemerkung des Übersetzers

Die Ratschläge, die Pema Chödrön in diesem Buch fürden Umgang mit Krisen gibt, sind in ihrer bisweilen pro-vokanten Direktheit universell anwendbar und richtensich daher an alle Menschen, gleich welchen kulturellenoder religiösen Hintergrunds. Als buddhistische Nonnestützt sich Pema Chödrön in ihrem Denken auf die Lehrendes Buddha. Daher tauchen im Buch hin und wiederbuddhistische Ausdrücke und Konzepte auf, die die Au-torin allerdings meist im Text selbst erklärt. Zum besserenVerständnis für die mit der buddhistischen Sichtweisegänzlich Unvertrauten finden sich im Anhang ein Glossarund ein kurzer Aufsatz des Übersetzers, in dem diegrundlegende buddhistische Interpretation vom Leidenund seiner Auflösung in aller Kürze vorgestellt wird.

München 1998 Thomas Geist

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Vorwort

1996 habe ich ein Sabbatjahr genommen, das heißt, ichhabe zwölf Monate lang im Wesentlichen nichts getan. Eswar die spirituell inspirierendste Zeit meines Lebens. Ei-gentlich habe ich mich nur erholt. Ich habe gelesen, bin ge-wandert und habe geschlafen. Ich habe gekocht, gegessen,meditiert und geschrieben. Es gab keinen Stundenplan,keine Termine und keine Pflichten. Im Laufe dieser völligoffenen, unverplanten Zeit konnte ich eine Menge verdau-en. So hatte ich die Muße, mich durch zwei Pappkartonsmit sehr rohen Transkripten von Vorträgen zu wühlen, dieich zwischen 1987 und 1994 gehalten hatte. Anders als dieDathun-Vorträge, die mein Buch »Dharma als Lehre, Dhar-ma als Erfahrung« bildeten, und die Lojong-Belehrungen,die wir zu »Beginne, wo du bist« zusammengefasst hat-ten, schienen diese Vorträge keinen zusammenhängendenroten Faden zu haben. Hin und wieder nahm ich mir einsder Transkripte vor, von denen ich einige schulmeister-lich, andere mittelmäßig und manche wundervoll fand.Es war sowohl interessant als auch peinlich, mit einemderartig umfangreichen Erguss meiner eigenen Wortekonfrontiert zu sein. Je mehr ich las, desto mehr begann

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ich zu entdecken, dass ich, gleichgültig, welches Themaich gewählt hatte, in welchem Land ich mich gerade be-fand oder welches Jahr wir hatten, eigentlich immer das-selbe gelehrt hatte: die unbedingte Notwendigkeit vonMaitri (liebevolle Güte uns selbst gegenüber), um darauseine furchtlose, mitfühlende Einstellung gegenüber unse-rem eigenen Leiden und dem anderer erwachen zu lassen.Ich hatte den Eindruck, dass hinter jedem einzelnen Vor-trag die Ansicht stand, dass wir in unerforschtes Gebietvordringen und uns doch in der Bodenlosigkeit unsererSituation entspannen können. Das zweite Grundthemabetraf die Auflösung des Dualismus zwischen dem Ichund anderen, diesem und jenem, Gut und Böse, mit demwir das einladen, was wir uns gewöhnlich vom Hals hal-ten wollen. Mein Lehrer, Chögyam Trungpa Rinpoche, hatdiese Haltung »sich in die Brennpunkte hineinlehnen« ge-nannt. Es kam mir so vor, als hätte ich in den ganzen sie-ben Jahren meiner Lehrtätigkeit versucht, die hilfreichenund äußerst direkten Anleitungen zu verdauen undweiterzugeben, die Trungpa Rinpoche seinen Schülerngegeben hatte.

Als ich tief in die Pappkartons eintauchte, konnte ich se-hen, dass ich noch einen langen Weg vor mir haben wür-de, bevor ich wirklich schätzen konnte, was ich damalsgelehrt hatte. Indem ich Rinpoches Ratschläge, so gut iches vermochte, in die Praxis umgesetzt und versucht hatte,meine Erfahrungen mit anderen zu teilen, wurde mir klar,dass ich tiefes Glück und eine grundlegende Zufrieden-heit gefunden hatte, die ich bisher nicht gekannt hatte. Ichmusste lachen, als ich merkte, dass es sich tatsächlich ge-nauso verhielt, wie ich immer gelehrt hatte: Man findet

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seine natürliche Entspannung und Freude ganz einfach,wenn man sich mit seinen eigenen Dämonen und der mitihnen verbundenen Unsicherheit anfreundet.

Nach etwa der Hälfte meines freien Jahres meldete sichmeine Herausgeberin, Emily Hilburn Sell, und fragtemich, ob ich nicht noch Vorträge hätte, aus denen man einweiteres Buch machen könnte. Ich schickte ihr die Papp-kartons. Kaum hatte sie die Transkripte gelesen, rief sieShambhala Publications an und sagte: »Wir haben einneues Buch.«

Die nächsten sechs Monate war Emily damit beschäf-tigt, zu sieben und zu schieben, zu streichen und stilistischzu überarbeiten. Ich konnte den Luxus genießen, an je-dem Kapitel so lange zu arbeiten, bis ich wirklich zufrie-den war. Wenn ich mich nicht gerade ausruhte, über denOzean blickte oder in den Hügeln spazieren ging, versankich völlig in den Vorträgen. Rinpoche hatte mir einst denRat gegeben: »Entspanne dich und schreibe.« Damalshatte es nicht so ausgesehen, als ob ich auch nur eins vonbeiden jemals würde tun können, aber Jahre später saß ichnun hier und befolgte seinen Rat.

Das Ergebnis meiner einjährigen Pause und der Zu-sammenarbeit mit Emily ist dieses Buch.

Möge es Sie ermutigen, in Ihrem Leben heimisch zu wer-den und sich die Lehren über Aufrichtigkeit, Güte undTapferkeit zu Herzen zu nehmen. Wenn Ihr Leben chao-tisch und gestresst sein sollte, dann finden Sie hier eineMenge Rat. Wenn Sie sich in einer Übergangsphase befin-den, einen Verlust erlitten haben oder sich einfach nur ru-helos fühlen, sind diese Lehren für Sie maßgeschneidert.Die Hauptsache ist, dass wir alle ständig erinnert und er-

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mutigt werden müssen, allem, was geschieht, gelassen zubegegnen und alles in den Pfad zu integrieren.

Wenn wir diese Anleitungen in die Praxis umsetzen, ge-sellen wir uns zu einer langen Reihe von Lehrern undSchülern, die den Buddha-Dharma direkt auf die Hochsund Tiefs ihres Lebens angewandt und damit wirksam ge-macht haben. Ihrem Beispiel folgend, können auch wiruns mit uns selbst anfreunden und unseren essenziellenWeisheitsgeist entdecken.

Ich danke dem Vidyadhara, dem Ehrwürdigen Chög-yam Trungpa Rinpoche, dass er sein Leben rückhaltlosdem Dharma gewidmet und keine Mühe gescheut hat, dieEssenz dieser Wahrheit den Menschen des Westens zuübermitteln. Möge die Inspiration, die ich von ihm emp-fangen durfte, ansteckend wirken. Mögen wir seinem Bei-spiel folgen und das Leben eines Bodhisattvas führen,und mögen wir niemals seinen Aufruf vergessen: »DasChaos ist eine äußerst frohe Botschaft!«

Pema Chödrön Gampo AbbeyPleasant Bay, Nova Scotia, 1996

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Mit der Angst vertraut werden

Wenn wir der Wahrheit näher kommen, istAngst eine natürliche Reaktion.

Wenn man sich auf die spirituelle Reise macht, besteigtman gewissermaßen ein winziges Boot und erforscht indieser Nuss-Schale die Ozeane auf der Suche nach unbe-kannten Ländern. Zwar stellt sich mit ernsthafter Übungdurchaus Inspiration ein, aber früher oder später begeg-nen wir auch der Angst. Das einzige, was wir wissen, ist:Wenn wir den Horizont erreichen, werden wir über dieKante der Welt stürzen. Wie alle Forscher, so drängt esauch uns, zu entdecken, was dort draußen auf uns wartet.Dabei wissen wir nicht, ob wir dann auch den Mut habenwerden, uns dem Unbekannten zu stellen.

Wenn uns der Buddhismus zu interessieren beginntund wir uns fragen, was er uns persönlich zu bieten hat,entdecken wir sehr bald, dass es verschiedene Wege gibt.Mit der Einsichts-Meditation beginnen wir, Achtsamkeitzu üben, das heißt, wir lernen, in all unseren Handlungenund Denkvorgängen vollständig präsent zu sein. In der

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Zen-Praxis hören wir die Lehren von der Leerheit undsind aufgefordert, uns mit der offenen, ungebundenenKlarheit des Geistes zu verbinden. Die Vajrayana-Lehrenwiederum stellen eine Möglichkeit dar, mit sämtlichen Si-tuationen zu arbeiten, indem man alles, was entsteht, alsuntrennbar vom erwachten Zustand erkennt. Jeder dieserZugänge kann uns faszinieren und unseren Enthusiasmuszu weiterer Erforschung anstacheln. Wenn wir aber tiefergehen und uns, ohne zu zögern, tatsächlich auf eine ent-sprechende Übung einlassen wollen, begegnen wir un-vermeidlich irgendwann der Angst.

Angst ist eine universelle Erfahrung, die selbst das win-zigste Insekt empfindet. Wenn wir im Meer tauchen undeinen Finger in die Nähe des weichen, offenen Körpers ei-ner Seeanemone bringen, schließt sie sich. Alles Lebenreagiert unmittelbar auf diese Weise. Aber es ist nichtschlimm, dass wir, konfrontiert mit Unbekanntem, Angstempfinden. Es ist Teil des Lebendig-Seins, etwas, das wiralle miteinander teilen. Wir reagieren auf die Möglichkeit,dass Einsamkeit und Tod uns treffen und wir uns annichts mehr festhalten können. Sobald wir der Wahrheitnäher kommen, ist Angst eine natürliche Reaktion.

Wenn wir uns entscheiden, dabeizubleiben und nichtauszuweichen, wird unsere Erfahrung äußerst lebendig.Die Dinge werden sehr klar, wenn es keine Möglichkeitmehr zur Flucht gibt.

Während eines langen Retreats kam mir die, wie mirschien, erderschütternde Erkenntnis, dass wir nicht imgegenwärtigen Augenblick sein und gleichzeitig unser ei-genes Drehbuch weiterverfolgen können! Ich weiß, dasklingt ziemlich offensichtlich, aber eine derartige Tatsache

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wirklich selbst zu erkennen verändert uns. Vergänglich-keit wird nur im gegenwärtigen Augenblick lebendig, dasselbe gilt für Mitgefühl, Staunen und Mut – und eben-so für die Angst. Tatsächlich erlebt jeder, der an der Gren-ze zum Unbekannten steht und gleichzeitig ganz in der Gegenwart und ohne Bezugspunkte bleibt, Bodenlosig-keit. Das geschieht dann, wenn unser Verständnis tiefer geht, wenn wir begreifen, dass der gegenwärtige Augen-blick ein recht schutzloser Ort ist und dass diese Erfah-rung vollständig entnervend und gleichzeitig äußerst zart sein kann.

Es geht hier darum, die Angst kennen zu lernen und

mit ihr vertraut zu werden, ihr direkt ins Auge zu bli-cken – nicht damit wir unsere Probleme lösen, sondern um den Weg zu finden, der zur völligen Aufhebung alter Seh-, Hör-, Riech-, Tast-, Schmeck- und Denkgewohnhei-ten führt. Wenn wir mit dieser Haltung tatsächlich Ernst machen, werden wir kontinuierlich gedemütigt. Für die Arroganz, die das Festhalten an Idealen nach sich ziehen

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Wenn wir unsere Forschungsreise beginnen, haben wir die unterschiedlichsten Ideale und Erwartungen. Wir suchen nach Antworten, die endlich unseren ewigen Hunger stillen. Das, was wir uns am wenigsten wün-schen, ist eine nähere Bekanntschaft mit dem Tod. Na-türlich versucht man, uns zu warnen. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Anleitungen zur Meditation. Eine Frau erklärte mir die Techniken und sagte zum Ab-schluss: »Glauben Sie nur ja nicht, Meditation sei ein Urlaub vom Ärger.« Aber sämtliche Warnungen der Welt können uns nicht vertreiben. In Wirklichkeit ziehen sie uns an.

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kann, ist dann nicht mehr viel Raum. Der sich unver-meidlich immer wieder einschleichende Stolz wird durchunseren Mut, uns stets noch ein kleines Stückchen weitervorzuwagen, jedesmal wieder vertrieben. Die Entdeckun-gen, die wir dank unserer Übung machen, haben nichtsdamit zu tun, an irgendetwas zu glauben. Es geht viel-mehr um den Mut zu sterben – den Mut, kontinuierlich zusterben.

Die Anleitungen zur Achtsamkeit, zur Leerheit oder zurArbeit mit Energie sagen alle dasselbe: dranbleiben, exaktam Punkt bleiben, das nagelt uns fest. Es legt uns auf ge-nau den Kreuzungspunkt von Raum und Zeit fest, andem wir uns jetzt befinden. Wenn wir genau hier innehal-ten und die Impulse nicht ausagieren oder unterdrückenund weder anderen noch uns selbst die Schuld geben,dann treffen wir auf eine offene Frage, auf die es keineschematische Antwort gibt. Wir treffen auf unser Herz.Wie ein Meditationsschüler es einmal ausgedrückt hat:»Geschickt als Angst verkleidet, tritt uns die Buddha-Naturin den Hintern, damit wir uns endlich öffnen.«

Ich habe einmal einen Vortrag gehört, in dem ein Mannüber seine spirituellen Erlebnisse im Indien der sechzigerJahre berichtete. Er sagte, er sei fest entschlossen gewesen,seine negativen Emotionen loszuwerden. Er kämpfte ge-gen Zorn und Begierde; er kämpfte gegen Faulheit undStolz. Aber am dringendsten wollte er seine Angst los-werden. Sein Meditationslehrer ermahnte ihn immer wie-der, mit dem Kämpfen aufzuhören, aber er verstand auchdiese Ermahnung als Aufforderung zur Überwindungseiner Widerstände.

Schließlich schickte der Lehrer ihn zur Meditation in

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eine kleine, in den Ausläufern des Gebirges gelegene Hüt-te. Dort angekommen, schloss er die Tür und setzte sichzur Praxis nieder. Als es dunkel wurde, entzündete er dreikleine Kerzen. Gegen Mitternacht hörte er ein Geräuschund entdeckte in einer dunklen Ecke des Raumes eine rie-sige Schlange. Sie sah aus wie eine Königskobra undwiegte sich ganz in seiner Nähe gemächlich hin und her.Die ganze Nacht über blieb er hellwach und behielt dieSchlange im Auge. Vor lauter Angst war er wie gelähmt.Es gab nur noch die Schlange, ihn selbst und die Angst.

Als kurz vor Dämmerungsbeginn schließlich auch dieletzte Kerze ausging, begann er zu schluchzen. Er weintenicht aus Verzweiflung, sondern vor lauter Zärtlichkeit.Er empfand die Sehnsucht aller Tiere und Menschen inder ganzen Welt; er wusste um ihre Entfremdung und ih-ren Kampf. Seine ganze bisherige Meditationspraxis warnichts anderes gewesen als weitere Trennung und zusätz-licher Kampf. Aufrichtig und von ganzem Herzen nahmer nun seinen Zorn und seine Eifersucht, seine Widerstän-de und sein ewiges Kämpfen und auch seine Angst an. Erkonnte ebenfalls akzeptieren, dass er selbst über alle Ma-ßen kostbar war – weise und töricht, reich und arm undganz und gar unergründlich. Eine so tiefe Dankbarkeit er-füllte ihn, dass er in der völligen Dunkelheit aufstand, aufdie Schlange zuging und sich vor ihr verneigte. Dannschlief er auf dem Fußboden ein. Als er wieder erwachte,war die Schlange verschwunden. Er fand nie heraus, ob essie tatsächlich gegeben oder ob er sie sich nur eingebildethatte. Letztlich war es auch nicht wichtig. Am Ende seinesVortrages sagte er, dass er es seiner großen Angst verdan-ke, dass seine persönlichen Dramen endlich zusammen-

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gebrochen waren und die reale Welt zu ihm vordringenkonnte.

Nur äußerst selten begegnen wir einem Menschen, deruns auffordert, nicht mehr vor der Angst davonzulaufen.Noch viel seltener lädt uns jemand ein, ihr doch näher zukommen und einfach nur da zu sein, um mit ihr vertrautzu werden. Ich habe den Zen-Meister Kobun Chino Roshieinmal gefragt, wie er mit Angst umgehe. Er hat gesagt:»Ich bin mit ihr einverstanden.« Meistens bekommen wirjedoch den Rat, uns die Angst zu versüßen, sie zu überde-cken, eine Pille zu nehmen oder uns abzulenken, sie aberum jeden Preis zu vertreiben.

Diese Art von Ermutigung brauchen wir im Grundenicht, denn wir meiden die Angst ganz von allein; das istunser natürliches Verhalten. Ganz gewohnheitsmäßigwenden wir uns ab oder drehen durch, wenn sich auchnur die leiseste Spur von Angst zeigt. Sobald wir fühlen,dass sie kommt, melden wir uns ab. Wenn wir uns derAngst aussetzen, tun wir das nicht, um uns noch zusätz-lich zu strafen, sondern um bedingungsloses Mitgefühl zuentwickeln. Es kann uns das Herz brechen, wenn wir be-greifen, wie wir uns selbst ständig um das Hier und Jetztbetrügen.

Manchmal allerdings werden wir erwischt; alles brichtzusammen, und uns gehen die Fluchtmöglichkeiten aus.Zu diesen Zeiten sind selbst die tiefsten spirituellen Wahr-heiten plötzlich ziemlich direkt und gewöhnlich. Es gibtkein Versteck mehr. Das sehen wir genauso gut wie alleanderen – besser als alle anderen. Früher oder später ver-stehen wir: Die Angst wird zwar niemals in einem ange-nehmen Licht erscheinen, aber sie bringt uns in lebendi-

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gen Kontakt mit allen Lehren, die wir je gehört oder gele-sen haben.

Wenn Sie das nächste Mal der Angst begegnen, freuenSie sich über die günstige Gelegenheit. Hier kommt Mutins Spiel. Normalerweise glauben wir, mutige Menschenhätten keine Angst. In Wahrheit sind sie mit der Angst zu-tiefst vertraut. Mein früherer Mann hat mir einmal gesagt,ich sei der mutigste Mensch, den er kenne. Als ich ihnfragte, warum, antwortete er, weil ich immer vorwärts ge-hen und die Dinge zum Abschluss bringen würde – ob-wohl ich eigentlich ein totaler Feigling sei.

Der Trick liegt darin, immer weiter zu forschen undnicht abzuspringen, selbst wenn deutlich wird, dass et-was nicht unseren Erwartungen entspricht. Das genau istes, was wir immer wieder entdecken: Nichts ist so wie er-wartet. Das kann ich mit tiefer Gewissheit behaupten.Leerheit ist nicht so, wie wir sie erwarten, ebenso wenigwie Achtsamkeit oder Angst. Mitgefühl, Liebe, Buddha-Natur, Mut – all dies sind Chiffren für Dinge, die mannicht intellektuell verstehen, die aber jeder von uns erle-ben kann. Diese Begriffe weisen darauf hin, was das Le-ben in Wirklichkeit ist, und darauf, was wir finden kön-nen, wenn unsere Welt zusammenbricht und wir uns imgegenwärtigen Moment, im Hier und Jetzt, festnageln las-sen.

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Wenn alles zusammenbricht

Wenn alles zusammenbricht und wir am Abgrund stehen, dannist es der Prüfstein für jeden von uns, auf dieser Kippe stehen zubleiben und nichts zu verfestigen. Der spirituelle Weg führtnicht in den Himmel. Es geht nicht darum, an einen Ort zu

kommen, an dem endlich alles vollkommen ist.

Gampo Abbey ist ein Ort von großer Weite, in der Meerund Himmel ineinander fließen. Der Horizont erstrecktsich ins Unendliche, und Möwen und Raben bevölkernden weiten Raum. Die ganze Gegend gleicht einem riesi-gen Spiegel und unterstreicht das Gefühl, dass es unmög-lich ist, sich zu verstecken. Und da Gampo Abbey auchnoch ein Kloster ist, sind die Fluchtmöglichkeiten ohne-hin recht eingeschränkt – kein Lügen, kein Stehlen, keinAlkohol, kein Sex – kein Ausweg.

Gampo Abbey war der Ort, nach dem ich mich immerschon gesehnt hatte. Eines Tages bat Trungpa Rinpochemich, die Leitung des Klosters zu übernehmen, und sofand ich mich schließlich hier wieder. In der Folge solltemeine Vorliebe für jede echte Herausforderung auf dieProbe gestellt werden. Im ersten Jahr fühlte ich mich, alswürde ich bei lebendigem Leibe gekocht.

Als ich ankam, brach alles über mir zusammen. Alle

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