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KlostermannRoteReihe Philipp Ammon Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924

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KlostermannRoteReihe

Philipp AmmonGeorgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation

Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jh. bis 1924

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Neuauflage 2020

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main 2020© erste Auflage 2015: Kitab-Verlag, KlagenfurtAlle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.Gedruckt auf Eos Werkdruck der Firma Salzer, alterungsbeständig nach DIN ISO 9706.Druck und Bindung: docupoint GmbH, BarlebenPrinted in GermanyISSN 1865-7095ISBN 978-3-465-04407-9

Dem Freund Kacha Kazitadse gewidmet.

Inhalt

I. Einleitung ................... .

1. Zur Aktualität des Konflikts ...................... . 2. Zum Aufbau der Arbeit ... 3. Methodologische Überlegungen .. . 4. Zur Begrifflichkeit ............... .

II. Vorgeschichte: Das christliche Georgien und das

Dritte Rom

I. Sakartvelo - Das Land unter dem Rebenkreuz . 2. Ältere und jüngere Orthodoxie ......................... . 3. Das Goldene Zeitalter ............................... . 4. Das Land der Blutzeugen .......... .

111. Russland und Georgien im 18. Jahrhundert ........... .

1. Georgien und das "weiße Russland des großen Nordens" .... . 2. Vaxt' ang V I. und Peter der Große ...................... . 3. Erek'le II. und Katharina die Große ........ . 4. Der Vertrag von Georglevsk .. . 5. Die Katastrophe von 1795 ............... . 6. Georgien am Vorabend der Annexion .................... . 7. Vom Protektorat zur Annexion ................... .

IV. Georgien unter russischer Herrschaft im 19. Jahrhundert

I. Das Ende der Bagratidenherrschaft ..................... . 2. lmeretien: Aufstand für Tradition und Kirche ....... . 3. Die Adelsverschwörung von 1832 .......... . 4. Rebellion, Annexion, Sammlung der georgischen Erde 5. Imperiale Leistungen und Verfehlungen .................. . 6. Entfeudalisierung a Ia russe- Bauernbefreiung in Georgien .. . 7. Die Ära panslawistischer Repression .................... .

V. Zuneigung und Entfremdung . . . ..... .

I. Der russische Kaukasus - Sehnsucht und Seelenlandschaft 2. Kaukasusmythos und mission civilisatrice russe ........... . 3. Zwischen Russophilie und Selbstbehauptung ......... . 4. Plus russe que !es Russes 5. Ambivalenz der Anpassung ...................... .

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VI. Die Nationalbewegung .. . . .. ... . ........ ........ .... 126

1. "Väter und Söhne" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

2. llia C'avC'avadze und die nationale Renaissance ......... .

3. Die Alphabetisierungsgesellschaft .................. .

4. Spaltungen der lntelligencija: Erste, zweite, dritte Gruppe

5. Das Seminar der Revolution ....

6. Sozialismus und nationale Frage .

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VII. Der Kirchenkonflikt ......... . 151

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VIII.

1. Die Aufhebung der Autokophalie ................ .

2. Der Tod des Lazarus . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .... . .

3. Unterdrückung und Gegenwehr ................ .

4. Die Wiederkehr der Autokephaliefrage ........... .

Von der Revolution bis zum Ende der ersten

georgischen Republik. . . .. . . .. . . . . . .... . . .

1. Vorspiel: Die Revolution von 1905 in Georgien .

2. Der Ruf nach Autonomie . . . .. . . . .

3. Zweierlei Patrioten: Georgier im Ersten Weltkrieg.

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4. Vom Exarchat zum Patriarchat . . 194

5. Sakartvelos Demok'rat'iuli Resp'ublik'a . . . . 196

6. Das Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

7. Nachspiel: Der Aufstand von 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . 211

IX. Schlussbetrachtung. 212

X. Bibliographie ..... . 224

I. Einleitung

1. Zur Aktualität des Konflikts

Am 25. Februar 1991, dem 70. Jahrestag des Einmarsches sowjetischer Truppen unter Befehl des Kriegskommissars Sergo Ordzonik'idze, der die 1918 gewonnene georgische Unabhängigkeit beendete, telefonierte

der sowjetische Präsident Michail Gorbacev mit Zviad Gamsaxurdia, dem Vorsitzenden des neuen Obersten Sowjets Georgiens. Er drohte dem Anfiihrer der georgischen Nationalbewegung im Falle einer georgischen Ablehnung des zur Rettung des sowjetischen Imperiums konzipierten neuen Unionsvertra­ges mit der Sezession Abchasiens und Südossetiens. 1 Tatsächlich mündete die Unabhängigkeitserklärung Georgiens vom 9. April 1991 in die angekündigten blutigen Konflikte um Ossetien und Abchasien sowie in bürgerkriegsähnliche Zustände im Lande.

Georgien ist seither nicht zur Ruhe gekommen. Es ist zu einem Austra­gungsort einer Neuauftage des Great Game2 zwischen Amerika und Russland im Nahen Osten geworden.3 Georgien, ein Land von der Größe Bayerns mit weniger als fiinf Millionen Einwohnern, bildet den westlichen Ausläufer des eurasischen Balkans, als dessen Dreh- und Angelpunkt (geopolitical pivot)

Zbigniew Brzezinski das benachbarte ölreiche Aserbaidschan, das antike Alba­nien, bezeichnet.4 Der am NATO Defense College in Rom lehrende französi­sche Historiker Pierre Razoux bezeichnet Georgien als "Ia cle du Caucase".5

Diente Georgien im frühen 18. Jahrhundert Peter d. Gr. als Aufmarschgebiet gegen Persien6, so wird ihm heute von den USA und Israel eine ähnliche Rolle

I Das Telefongespräch wurde im Magazin "Der Spiegel" am II. März 1991 abgedruckt. V gl. K. Gam­sachurdia, S. 116.

2 Der im Zeitalter des Imperialismus geprägte Begriff des Great Game geht ursprünglich auf das afgha­nisehe Reiterspiel Boz-Keshi (wörtlich: die Ziege packen), eine Vorform des Polo, zurück. Er wurde im 19. Jahrhundert auf die Auseinandersetzungen der Großmächte in Vorder- und Mittelasien über­tragen.

3 In einem das zwischenkriegszeitliche Konzept des Intermariums des polnischen Marschalls Pilsudski (1867-1935) wiederbelebenden Planspiel bildet Georgien ein südöstliches Glied eines Russland ein­dämmenden Cordon sanifaire vom Baltikum bis zum Kaspischen Meer (From Estonia to Azerbai­jan: American Strategy After Ukraine by George Friedman, Geopolitical Weekly; March 25, 2014, http://www.stratfor.com/weekly/estonia-azerbaijan-american-strategy-after-ukraine, aufgerufen den I. Mai. 20 14,).

4 Brzezinski, S. 41, 124. 5 Razoux, Histoire de Ia Georgie: La cle du Caucase, Paris 2009. 6 Zur Problematik der Nomenklatur: Der Verfasser ist sich durchaus bewusst, dass es sich bei den

Bezeichnungen Perser und Persien um Exonyma (Fremdbezeichnungen) handelt, welche sich durch die Rezeption der klassischen griechischen Autoren (wie Herodots Historien oder Xenophons Anaba­sis und Kyropädie) und die biblische Tradition (Chronik bzw. Paralipomenon, Es(d)ra(s), Nehemia(s), Esther, Judith und Daniel) in Europa eingebürgert haben und supraethnisch gebraucht wurden, d.h. nicht allein die Perser, sondern auch die von ihnen beherrschten V ölker bezeichnen. Seit sassanidi­scher Zeit bezeichneten sich die Großkönige (seit Sapur 1., 239-70) als Sähän säh erän ud anerän,

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als strategische Basis gegen den Iran zugedacht. 7 Georgien dient überdies als energiepolitisch wichtiges Transitland der Baku-Ceyhan-Pipeline.

Georgiens geopolitische Lage ist nicht minder bedenklich als die seiner Nachbarn. Seit der Antike im Spannungsfeld zwischen Ost und West, entsprin­gen des Landes Nöte seiner Mittellage. Als Karawanenweg wird die strategisch bedeutsame Georgische Heerstraße schon von dem griechischen Geographen und Universalgelehrten Strabon ( ca. 63 v. Chr. - 23 n. Chr.) erwähnt. Von Osten war das Land über Jahrhunderte dem Expansionsdrang des persischen Großreiches ausgesetzt, im Westen lösten sich Pontier, Römer, Byzantiner und Türken8 als Vormächte ab.

als König der Könige von Iran und Aniran (der Iraner und Nichtiraner), was wie bei anderen Großrei­chen einen Weltherrschaftsanspruch implizierte. Seit des Dichters Ferdosis (940- 1 020) Zeiten wurde der Titel Aniran durch Turan (die Turaner bzw. turkstämmigen Völker) verdrängt. - 1 935 forderte das Teheraner Außenministerium in einem Rundschreiben sämtliche Staaten, welche diplomatische Beziehungen zum Pahlawikönigreich unterhielten, auf, fortan das Endonym (die Eigenbezeichnung) Iran statt Persien zu gebrauchen. Nach Ehsan Yarshater, dem Herausgeber der Encyclopredia lranica, geschah dies auf sanften Druck Hitlerdeutschlands. Dieser Schritt sollte die Herauslösung aus der russisch-britischen Umklammerung (wie sie zuletzt unter dem sich von den Mongolen herleitenden Herrscherhaus der Kadscharen vorherrschte) durch Unterstützung des die Ideologie des Arierturns verbreitenden Reiches bekräftigen (Ehsan Yarshater, Persia or Iran, Persian or Farsi, lranian Stu­dies, Vol . XXII , No. l , 1 989). Dieser Schritt leitete gleichzeitig die staatlich forcierte Assimil ierung der ethnischen Minderheiten des Landes ein. Nicht allein aus diesem Grunde wurde dieser Schritt nicht einhellig begrüßt. Die Umbenennung habe den kulturelle Imaginationen weckenden Klang des Landesnamens gelöscht: nicht zuletzt die im Bewusstsein der Europäer verankerte metaphysische Bedeutung als Befreier des Gottesvolkes und die mythologische Verbindung zu den Griechen durch Perseus, aber auch die Assoziation mit kultureller Verfeinerung wie persischer Dichtung, persischer Kunst, persischen Gärten, persischer Küche, persischem Kaviar, Perserteppichen oder Perserkatzen. Selbst die Verbindung zum Persischen Golf und damit geopolitische Ansprüche würden zerstört. Auch stehe Kyros für Toleranz, das den Namen Iran einführende Sassanidenreich und seine Erben für religiösen Eifer. Eine Gruppe von Gelehrten und Staatsmännern bildete 1 959 ein Komitee, wel­ches die Rückbenennung forderte. Sie fand die Unterstützung des Schahs, welcher das Außenmi­nisterium in diesem Sinne anwies. Um nicht als allzu wechselhaft zu erscheinen, schwächte das Außenministerium die Forderung ab und empfahl den ausländischen Botschaften nunmehr lediglich, den traditionellen Landesnamen zu verwenden. Heutzutage gebrauchen manche säkularen Perser das Pars pro toto auch, um ihre Distanz zur Islamischen Republik zu betonen. Die im Klang des Wortes "persisch" mitschwingenden Assoziationen galten in der orientalischen Welt nicht minder. Der ausschließlich von Persia sprechende Tadeusz Swietochowski betont: "A prominent Azerbaijani writer and a future Turkish nationalist Ahmad bay Aghaoghli in the 1 890's sti l l referred to his coun­trymen as the 'societe persane' . . . " (Tadeusz Swietochowski, National Consciousness and Political Grientations in Azerbaijan, /905-1920, Washington, D.C. : Woodrow Wilson International Center for Scholars; Kennan Institute Occasional Paper Series 96, 1 980, S . 3). - Wenn im vorliegenden Text beide Begriffe verwendet werden, so mit der leichten Tendenz, mit Persien auf die äußere Sicht­weise auf das Land und die äußeren säkularen Kulturerscheinungen abzuheben, während Iran eher in Michael Axworthys geistlichem Sinne des Empire ofthe Mind gebraucht wird (Iran. Empire of the Mind. A History from Zoroaster to the Present Day, London 2008). An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass der Verfasser den Begriff russisch nicht anders als persisch allenthalben supraethnisch gebraucht.

7 V gl. Borchgrave, Israel of the Caucasus. 8 Wenn hier von Türken die Rede ist, so ist dies selbstverständlich ebenso wenig wertend gemeint wie

der ebenfalls verwendete, ursprünglich als lateinischer Schmähbegriff geprägte Name Byzantiner (welche wir ihrem Selbstverständnis nach als "Römer" bezeichnen sollten). In unserem Text wird erstere Bezeichnung als Oberbegriff gebraucht, um das Sultanat der Rumseldschuken abzudecken

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Seit Ausgang des Mittelalters befand sich das christliche Land in einem Teilungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu zwei islamischen Mächten: im Osten zu Persien, im Westen zum Osmanischen Reich. Seit dem 1 6. Jahrhun­dert erschien das aufsteigende Moskowien georgischen Königen als perspek­tivenreicher Bündnispartner gegen die südlichen Flankenmächte. Im Verbund mit den Glaubensbrüdern im Norden suchten sie ihren Traum eines befrei­ten und geeinten Georgiens zu verwirklichen. Diese Hoffnungen wurden von der Geschichte enttäuscht. Die heutigen Spannungen zwischen Georgien und Russland sind nicht ohne die im 1 8 . und 1 9 . Jahrhundert geschlagenen Wun­den zu verstehen.

Die vorliegende Arbeit soll die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts freilegen. Sie entstand aus der den Verfasser bewegenden Fragestellung, wie es zur Konfrontation zweier Völker kam, die keine tiefverwurzelte, gleichsam metaphysische Feindschaft trennt. Die Antworten liegen auf verschiedenen Ebenen. Auf der realpolitischen Ebene geht es im Kaukasus um imperiale Poli­tik, um geopolitische und geostrategische Interessen. Unterhalb dieser Ebene liegen Tiefenschichten, denen von Anbeginn tragische Momente eingewoben sind. Kennzeichnend für die Gemütsverfassung einfacher Georgier im Verhält­nis zu ihrer eng mit Russland verknüpften Historie ist das Phänomen, dass im Volk verehrungsvolle Bewunderung für Stalin - vergleichbar dem korsischen Stolz auf Napoleon - und Antikommunismus nicht als Widerspruch empfun­den werden.9 Daran hat auch die Schleifung des Stalinde nkmals zu Gori im Jahre 20 1 0 nicht viel geändert.

sowie den Erhabenen Staat der Osmanen. Der spätere begriffliche Wechsel zwischen Osmanen und Türken ist einer der hermeneutischen Perspektive und der sprachlichen Ebene. Die Verwendung des gemeinsprachlichen Begriffs geschieht hier im Sinne der Arbeitsgruppe Wissenschaftssprache der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in deren Forschungsbericht 1 0 (Linguistik der Wissenschaftssprache) Die Lehre der deutschen Wissenschaftssprache (hg. v. Heinz L. Kretzenbacher und Harald Weinrich, Berlin - New York 1 994) der Linguist Konrad Ehrlich den Theoretiker der Geisteswissenschaften Karl-Otto Apel zitiert: "Die Alltagssprache ist die letzte Metasprache; insofern ist sie nicht hintergeh bar" (S. 344). Im selben Sinne redet der Wissenschaftsphilosoph A. M . K . Müller i n der Präparierten Zeit: der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen (Stuttgart 1 972), der gemeinsprachlichen Iingua mentis das Wort: "Die Umgangssprache hat stets die Priorität" (S. 209). Auch Ludwig Wirtgenstein wendet sich schließlich vom Purismus des Tractatus absolutus ab und schreibt: "Ich glaube, dass wir im Wesen nur eine Sprache haben und das ist die gewöhnliche Sprache" (WA 3 [WWK], S . 46). Wenn also im Folgenden begriffsstumpf von türkisch die Rede ist, so ist vom I 4. Jh. bis zum 4. November I 922 stets osmanisch gemeint. Auch Swietochowski spricht fiir diesen Zeitraum passim von Turkey.

9 Genauer gesagt reicht die Bewunderung des Genies des Sowjetherrschers sogar bis weit in die liberale georgische Intelligenz hinein. Mal wird ihm zugutegehalten, er habe ein Agrarland in eine atomare Supermacht verwandelt; mal heißt es, er allein habe den Sowjetstaat regieren kön­nen. Danach sei das Reich im Grunde genommen nur noch zerfallen. Nie wieder habe das Kul­turleben in Moskau ein solches Niveau erreicht, nach seinem Tode sei die Sowjethauptstadt im Dreck versunken. Unbezeugte Auseinandersetzungen im Kreml werden kolportiert, so habe er den Abriss der Basil iuskathedrale auf dem Roten Platz gegen seine Genossen im Politbüro verhindert. Selbst von Merab Mamardasvili , der die Erscheinung Stalins krankhafter russischer Religiosität zuschrieb (M.K. Mamardasvili , <<Tret'e» sostojanie, http://philosophy.ru/library/mmklsostojanie.

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html, I . Nov. 20 1 3, 1 9 : 50), berichten seine Gesprächspartner vom Tifliser Institut fiir Philosophie, er l iebte es, Pfeife schmauchend zu verkünden: "Auch ich rauche Pfeife. Auch ich bin aus Gori ." Die Talsohle der geistigen Auseinandersetzung mit Russland ist schließlich erreicht, wenn in selbstge­rechter Externalisierung eigener Verfehlungen festgestellt wird, die Russen hätten den zarten Soso verdorben. Die georgische Publizistin Nest'an Cark'viani, Enkelin von Stalins Prolege Candide Cark'viani ( 1 906-94, Erster Sekretär des ZK der KP Georgien 1 938-52), welche dem Stalinbio­graphen Sirnon Sebag Montellore bei der Archivarbeit assistierte, deutet die georgische Apologie Stalinscher egregia facinora als Ausdruck eines nationalen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber Russland (http :/ /www.welt.de/kultur/article 1 1 4 1 08099/Wo-Stalin-noch-wie-ein-Gott-verehrt-wird. html) - Die Gespaltenheil der Georgier hinsichtlich ihres großen Sohnes kann als Spiegelbild des innerrussischen Wechselspiels mit dem Sowjetherrscher gesehen werden. Schon lange vor der

"Wahl" Stal ins zum "Namen Rußlands" im staatlichen Fernsehsender "Rosslja- 1 " 2008 (http://www. ogoniok.com/50551 1 3/, http://www.pressmon.com/cgi-binlpress _ view.cgi?id= 1 8 1 2 1 00,; als sich im Juli 2008 dessen "Sieg" mit weitem Abstand abzeichnete, wendete man den Skandal ab, indem man die Abstimmungsergebnisse annulierte, s. Sonja Margolina, Der heilige JosefWissarionowitsch, Die Welt, 1 7 . 1 2 .08, http:/ /www.welt.de/welt_print/article28903 73/Der-heilige-Josef-Wissarionowitsch. html,) war dessen historische Rolle Gegenstand der ernsthafteren Debatte, ob die Rede von einem Thermidor sovietique berechtigt sei . Sonja Margolina, Der heilige Josef Wissarionowitsch, Die Welt, 1 7 . 1 2.08, 1 8 . Dez. 20 1 3 , 1 5 :29) Diese These Trockijs erhielt im postkommunistischen Rus­sland eine positive Umwertung. Zunächst wurde darauf hingewiesen, Stalin habe die Kulturrevolu­tion beendet und vorrevolutionäre Klassiker rehabilitiert. Sodann habe er die 7.arischen Ränge in der Armee wiederhergestellt, deren Uniformen, aber auch die sowjetischen Geldscheine dem vorrevo­lutionären Vorbild angepasst. Er habe Versuchsprojekte der zwanziger Jahre, Menschen mit Affen zu kreuzen, gestoppt, die Freudsche Schule des Landes verwiesen, den Kampf gegen das Institut der Familie beendet und die Abtreibungsgesetze der Zarenzeit erneuert. Seine Säuberungen hätten die kommunistischen Kader durch eine Staatsdienerschaft ersetzt und damit den nationalen "Dienstkon­sensus" (s/uiilyj konsensus, so der Solzenicynpreisträger von 2002 Aleksandr Panarin in den 1 990er Jahren) wiederhergestellt. Die von zarischen Juristen geschriebene Verfassung von 1 936 habe nicht allein der Täuschung des Auslands gedient, sondern seine politischen Absichten ausgedrückt. Er habe vor seinem Tode sogar beabsichtigt, den Goldrubel wiedereinzufuhren. Nach Beendigung des Kirchenkampfes 1 943 habe er schließlich sogar gewünscht, sich zum Zaren salben zu lassen, so der Stalinbiograph Edvard Radzinsklj 1 997. Dabei ist umstritten, inwieweit Stalins Maßnahmen wie die Beendigung des Kirchenkampfes während des Weltkrieges von Nützlichkeitserwägungen geleitet waren, ob innere oder taktische Beweggründe verantwortlich zu machen sind. Hitzig gestritten wird über die Frage, ob Stalin tatsächlich 1 94 1 angesichts der vor Moskau stehenden Wehrmacht die (2004 kanonisierte) Matrona von Moskau aufgesucht und die Ikone der Gottesmutter von Kasan nach Aufforderung des griechisch-orthodoxen Mitropoliten von Libanon Elias (Salim Nasif Karam, 1 903-69) zu Prozessionen nach Leningrad, Moskau und Stalingrad habe fliegen lassen. (Kazanskaja ikona Bozlej Materi, I NI-2006, http://www. interfax-rcligion.ru/?act=refercncc&div=28, 4. Nov. 20 1 3 , 1 9 :24). Verbürgt ist, dass Stalin sich im Kreml eine persönliche Kapelle einrichten ließ, wo er vor seinem Tode mehrmals beichtete und die Kommunion empfing. Die Enkelin von Stalins Nennpatenonkel und Förderer lak'ob Egnat'asvili berichtete: "Durch Zufall traf ich bei einer Kir­che in der Nähe von Moskau einen tief gläubigen Mann. Irgendjemand hatte ihm erzählt, dass ich Stalins Enkelkinder kannte. Ich stellte mich als Tina Egnatasvili vor und er sagte: ,Ich kenne diesen Nachnamen. Sie müssen mit Stalin verwandt sein . ' Als wir an der Kirche vorbeigingen, zog er mich zur Seite, um sich mit mir zu unterhalten. Er sagte: ,Wußten Sie, dass Stalin die Beichte abgelegt hat?' Völlig erstaunt fragte ich: ,losif Vissarlonovic Stalin?' ,Ja' , sagte er, ,er hat vierrnal gebeichtet: 1 94 1 , '43, '45 und '48 '" (zitiert nach n-tv History: Stalin, wiederholt ausgestrahlt im November 2008) . - Ironischerweise erhalten die Stalinrevisionisten inzwischen Schützenhilfe vom marxistischen italienischen Kritiker des deutschen Geschichtsrevisionismus Domenico Losurdo, der in Stalin. Storia e critica di una leggenda nera (Roma 2008, deutsch: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Köln 20 1 2) die These vertritt, Chruscev habe im Gefolge Trockijs eine schwarze Legende gestrickt, welche die Eigendynamik der Säuberungen missachte und die eigene Betei l igung reinzuwaschen suche. - Der heutige Kremlherrscher, dessen Großvater Stalin bekochte, ist pragmatisch darum bemüht, weder Stalinverehrer noch -gegner vor den Kopf zu sto­ßen, (http://www.youtube.com/watch?v=QwgHuYNYB-s) 4. Nov. 20 1 3 , 20:33) . Mal bringt er zu

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Auf georgischer Seite stoßen wir auf ein widersprüchliches Gemisch von politischen Hoffnungen und Enttäuschungen, von Sympathien und Verlet­zungen, von Identifikation und Selbstbehauptung gegenüber dem mächti­gen Imperium im Norden. Das verletzte Selbstbewusstsein einer der ältesten christlichen Nationen mit einer gegenüber Russland älteren, wenn auch gleich­gläubigen kirchlichen Tradition spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch von russischer Seite wird der geistige Reichtum Georgiens häufig gewürdigt. So soll der russische Philosoph Alexej Losev in den l 970er Jahren gegenüber Zviad Gamsaxurdia geäußert haben: "Was soll Solov'ev, wenn es auf dieser Welt einen Philosophen wie Johannes P ' et 'rici gab." 1 0

Im historischen Bewusstsein vieler Russen hat ihr Land nie eine andere Rolle als die einer selbstlosen Schutzmacht seiner Nachbarn gespielt. So meinte etwa Alexander Solzenicyn unter Bezug auf den Historiker V.O. Kljucevsklj , dass "die Kosten für den Kaukasus b is zur Revolution die von dort erzielten Einnahmen [überstiegen] . Das russische Imperium zahlte für das Glück, dieses Territorium zu besitzen. Dabei hat es, das sei festgehalten, ,nie die fremden Sitten zerstört ' (Kljutschewskij) . " 1 1 In seiner von Bestürzung über den Zusam­menbruch seines Heimatlandes gezeichneten Schrift Rossfja v obvale (Moskva 1 998, "Rußland im Absturz") klagt Solzenicyn denn auch über die Unbill, wel­che die Russen durch die Georgier erfahren mussten, über deren Undankbar­keit gegenüber dem uneigennützig zu Hilfe geeilten Reich. 12 Ein ähnliches Selbstbild pflegt der zeitgenössische russisch-orthodoxe Autor Vale nj Archi­pov, Herausgeber einer Anthologie byzantinischer Prophezeiungen über das Geschick Konstantinopels sowie von Aufsätzen russischer Dichter und Den­ker wie Dostoevsklj , Tjutcev, Solov 'ev und Leont'ev zur russischen Rolle als orthodoxer Schutzmacht und seiner Mission, die Kaiserstadt Konstantinopel zu befreien. Als christliches Imperium, so Archipov, habe Russland nie Erobe­rungskriege geführt, sondern nur seine Grenzen verteidigt oder auf Hilfsgesu­che seiner Glaubensbrüder geantwortet. "Eine besondere geopolitische Mis­sion in der sakralen Geographie Rußlands gehört dem Kaukasus." 1 3

Kritische Kontrapunkte seien hier nicht verschwiegen. So schreibt der russische Religionsphilosoph Georglj Fedotov 1 947 im amerikanischen Exil : "Was ist aber über die jüngsten Eroberungen des Imperiums zu sagen, welche zweifelsohne durch reichlichen Blutzoll erkauft worden sind: der Kaukasus,

Stal ins Geburtstag Trinksprüche auf den Diktator aus, mal wirft er den Gegnern der Anerkennung Cxinval is und Sochumis vor, sie seien Stalinisten.

10 Zit. in:. Gamsachurdia, S . 1 05f. Johannes P'et'rici ( loane P 'et 'rici) war im 1 1 ./ 1 2 . Jahrhundert Rektor der Akademie von Gelati . Er deutete den dreistimmigen georgischen Kirchengesang als Ausdruck der Göttlichen Trinität.

II Solschenizyn ( 1 994), S. 82. VasilYj Osipovic KljucevskYj ( 1 84 1 - 1 9 1 1 ) ist Russlands bis heute bedeu­tendster Historiker, der das russische Volk erstmals zum historischen Subjekt erhob.

1 2 Solzenicyn ( 1 998), S. 64 u. 69. 13 Archipov, S . 1 6f.

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Turkestan? Wir lieben den Kaukasus, betrachten aber seine Unterwerfung durch das Prisma der romantischen Dichtung Puschkins und Lermontows. Doch selbst Puschkin ließ einmal ein hartes Wort über Zizianow fallen, der ,Stämme mordete und merzte '. Von Kindesbeinen auf hörten wir vom friedli­chen Anschluss Georgiens, doch kaum einer weiß, mit welcher Treulosigkeit und welcher Erniedrigung Georgiens Russland dem Land seinen freiwilligen Anschluss entgalt. Kaum jemand weiß, dass nach der Ergebung Schamils bis zu einer halben Millionen Tscherkessen in die Türkei auswanderte. Al l dies trug sich erst vor kurzem zu." 14 Trotz der auf den Fall des Kommunismus fol­genden Wiederentdeckung der emigrierten russischen Religionsphilosophen fanden die Worte Fedotovs in seiner Heimat jedoch keine breite Rezeption.

Die Beziehung Russlands zum Kaukasus ist alt. Sie reicht bis in die Vormon­goiische Zeit zurück. Schon seit dem Mittelalter übt das südliche Nachbarland auf Russland anhaltende Faszination aus. lberien, der alte Name Georgiens, taucht in der altrussischen Folklore als Vyrfj-sad auf, als mythischer Paradies­garten, südlich der Rus gelegen . Vom russischen Großfürsten Vladimi'r Mono­mach ( 1 053- 1 1 25) ist das Wort überliefert: "Alsda die himmlischen Vögel aus Irien [ =Iberien] kommen . . . " (,,Kako ptica nebesnaja iz Ir 'ja idut ") . Das Wort, eine Verballhornung von Iverien, der kirchlichen Bezeichnung für Georgien, erinnert an die geradezu mythische Bedeutung Georgiens für die Russen. 1 5 Auf einer Karte des 1 8 . Jahrhunderts verortete der russische Bischof Dmitri'j von Rostov ( 1 65 1 - 1 709) den Garten Eden im georgischen Kernland Tao-Klar­dschetien (T'ao-K' lardzeti) .

Intuitiv erfasste der amerikanische Schriftsteller John Steinheck diese uralte Paradiesvorstellung, als er kurz nach dem II. Weltkrieg zusammen mit dem Fotografen Robert Capa eine Reise durch das Sowjetreich unternahm. In seinem Reisebericht "A Russian Journal" ( 1 948) notierte er: "Wherev er we had been in Russia, in Moscow, in the Ukraine, in Stalingrad, the magical name of Georgia came up constantly. People who had never been there, and who possibly never could go there, spoke of Georgia with a kind of Ionging and a great admiration. They spoke of Georgians as supermen, as great drink­ers, great dancers, great musicians, great workers and Iovers . And they spoke of the country in the Caucasus and around the Black Sea as a kind of second heaven. Indeed, we began to believe that most Russians hope that if they live

14 Fedotov, Georglj Petrovic, Sud'ba imperiJ, in: Novyj furnal NQ 1 7, New York 1 947, http://www. krotov.info/library/2 1 _f/fed/otov _ 06.html, aufgerufen den 3 1 . Okt. 20 1 3 , 23 :37, Übertragung Ph. A. Wieder erschienen in Russland im zweibändigen Sammelwerk G.P. Fedotov, Sud'ba i grechi Rossli. lzbrannyja stat ' i po filosofii russkoj istorli i kul'tury ("Rußlands Sünden und Geschick. Aus­gewählte Artikel zur russischen Geschichts- und Kulturphilosophie"), Sankt Petersburg 1 99 1 -92.

1 5 Kyrion: Kultur'naja rol ' lverii, S . 247; Grusko I Medvedev: Slovar' slavjanskoj myfologli, S. 1 36f., s.v. lrij-Sad (VyriJ -Sad).

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very good and virtuous J ives, they will not go to heaven, but to Georgia, when they die.

" 1 6 Die historische Verbindung Russlands mit Georgien wurde in der russi­

schen Tradition eschatologisch überhöht. Gegen Ende des 1 8 . Jahrhunderts prophezeite der russische Mönch Serafirn von Sarov ( 1 754- 1 833) , der Wieder­begründer des Starzentums und einer der am meisten verehrten Heiligen Russ­lands, in den Tagen vor der Wiederkunft Christi werde man in Russland das Messopfer mit georgischem Wein vollziehen. Außerdem werde Georgien als das der Gottesmutter beim Apostelkonzil zu Jerusalem zugefallene Los nicht der Herrschaft des Antichristen unterworfen sein. 1 7

Im 1 9 . Jahrhundert begegnen wir in Russland der Kaukasusromantik seiner Dichter Puskin, Lermontov und Tolstoj . Im Sowjetrussland des 20. Jahrhun­derts ist die Hochschätzung des Landes im sonnigen Süden und seiner Lebens­art in allen Schichten, in der Intelligenz wie im einfachen Volk verbreitet. "Das russische Verhältnis zu Georgien war ein wenig wie das von Deutschland zu Italien", erklärt der russische Komponist Vladimlr Tamopol'skrj . "Georgier verkörpern für uns Lebenskunst." 1 8 Der frühere UN-Sonderbeauftragte und Leiter der Beobachtermission der Vereinten Nationen in Georgien (UNOMIG) Dieter Boden beschreibt das Verhältnis Russlands gegenüber Georgien als das eines enttäuschten oder verratenen Liebhabers . 1 9 Als noch inniger beschrieb

16 Steinbeck, A Russian Journal, New York 1 948, S. 1 50. 17 Mitteilung von Vater Michael Bregvadze, in: E-Brief an den Verf. vom 04.05.2008. Die

Überlieferungskette des letzteren u\no<; i:cpu erscheint dem Verfasser eher fragwürdig. 18 Zit. in: K. Holm: Stal ins Miene, böses Spiel, FAZ, v. 9.9 .2008, S. 37. Der sowjetische Schriftstel­

ler und "Serapionsbruder" Nikolaj Tichonov ( 1 896- 1 979) schrieb in seinem Essay Das Land des großen dichterischen Atems: "Es gibt Länder voll von besonderer Bedeutung für andere Länder. Dies drückt sich nicht auf dem Gebiet der Wirtschaft oder Politik aus. Nein, sie erscheinen vielen einander ablösenden Generationen in einem besonderen poetischen Glanz. Ihre Natur, ihre Kunst, ihre uralte Kultur bewegen nicht nur die Kenner. Sie üben ihren Einfluß auf Künstler, Schriftsteller und Gelehrte aus. Sie ziehen tausende Reisende an. Eines solcher Länder in Europa, solcher Länder, welche für das europäische Bewusstsein als voll von besonderem Sinn erscheinen, ist meines Erach­tens - Italien. Sämtliche europäischen klassischen Dichter bereisten es, alle erwiesen ihm einen besonderen Herzenstribut Den russischen Dichtem wurde unser Italien zweifelsohne Georgien." Zit. In U�topis' druzby, Bd. II, S . 28 1 . Ähnlich äußerte sich Sonja Margolina in ihrer Geschichts­betrachtung Rußland ist einsam 1 990: "Vor dem Hintergrund der unendlichen russischen Räume, in dem nur schwermütige Kutscherlieder geboren wurden und sogar die schneidigsten Husaren in Melancholie und Suff verfielen, war der Süden mit seiner mannigfaltigen Natur und ethnischen Vielfalt ein Ersatz für Griechenland und Italien, der romantische Zufluchtsort der Dichter - (in: Kursbuch, Heft 1 00, Juni 1 990, S . 1 68). Der ehemalige deutsche Botschafter in Georgien (200 1 -2006) Uwe Schramm berichtete in einem Vortrag am 30/XI-2007, Georgien werde i n Russland nach wie vor in der Zuständigkeit des Inlandsgeheimdienstes FSB, nicht des Auslandsgeheimdien­stes geführt (Die deutsche Georgienpolitik zwischen russischen und US-amerikanischen Interessen, gehalten bei der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung im Rahmen des Seminars Der Kaukasus - Brücke

zwischen Europa und Asien v. 29/X l - 1 /Xl l-2007). 1 9 Dieter Boden in einem Vortrag bei der Berliner Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik (BAS) am

9. Juli 2008 in der Thüringischen Landesvertretung. Siehe auch Robert Parsons Artikel vom 5. Oktober 2006: Russia and Georgia: a lover's revenge, http://www.opendemocracy.net/democra­cy-caucasus/georgia_russia_3972.j sp), (30. Okt. 20 1 3 , 1 9 :34) und Donald Rayfields Essay vom

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die russisch-georgische Wahlverwandtschaft der Sowjetkritiker und Drehbuch­autor Viktor Sklovski:j : "Rußland kennt Georgien ein ganzes Jahrtausend, wir sind mit ihm möglicherweise durch die glagolitische Schrift verbunden, durch die Architektur, die Malerei . Es handelt sich dabei gar nicht um Freundschaft, sondern um Verwandtschaft. Die Bande dieser Verwandtschaft rissen nie ab : Haben Sie bei der Lektüre von Krieg und Frieden bemerkt, dass auf dem schon verblühten Antlitz der Mutter Natasa Rostovs noch Spuren östlicher Schönheit zu finden sind, - sie ist eine Georgierin. Wir lieben Georgien so wie Pierre Bezuchov und Andre) Bolkonskfj Natasa liebten." 20

Die Bindung der Russen an Georgien und die Abwendung der Georgier von Russland wirken mithin als nicht zu unterschätzendes Moment des Konflikts . Ein Schlaglicht auf die emotionalen Aspekte aller Auseinandersetzungen im Kaukasus wirft eine von dem Berliner Publizisten und Verleger Wolf Jobst Siedler berichtete Episode aus der Endphase des Sowjetreichs. In Gesprächen mit russischen Militärs und Diplomaten Anfang der 90er Jahre zeigte sich der Deutsche überrascht, "dass sie [die Russen] unter dem Verlust des Kaukasus so sehr litten, obwohl er eigentlich nie unbestritten zu ihnen gehört hatte". Die Russen, an ihrer Spitze der letzte Oberkommandierende der "Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte" Matvej Burlakov und der letzte sowjetische Bot­schafter in Bonn Julij Kvicinsklj , äußerten ihrerseits Erstaunen darüber, dass Deutschland 1 990 anscheinend ohne historische Schmerzen auf seine Ostge­biete verzichtet habe. Dem Unverständnis darüber entsprach die Wehmut der Russen über den Verlust ihrer kaukasischen Besitzungen, insbesondere Geor­giens. Die Sezession des islamischen Mittelasiens und selbst der Ostseepro­vinzen sei zu verschmerzen gewesen, nicht hingegen die Einbuße des Kau­kasus, einer russischen Seelenlandschaft.2 1 Die in dem Gespräch offenbarte Gefühlslage nahm die alsbald aufbrechenden blutigen Auseinandersetzungen im Nord- und Südkaukasus vorweg.

24. August 2007: Russia vs . Georgia: a war of perceptions, (http://www.opendemocracy.net/articie/ confticts/caucasus_fractures/georgia_russia_war), (30. Okt. 20 1 3 , 1 9:38), wo es heißt: "The rela­tionship [between Russia and Georgia] is both full of bittemess and extremely close, reminiscent of that between an acrimoniously and recently divorced couple.

" Tatsächlich werden in der Erinne­

rung erlebte Begegnungen mittlerweile verbittert zu des anderen Ungunsten ausgelegt: Russen wirft man georgischerseits vor, erfahrene Gastfreundschaft nicht zu würdigen; jene deuten die georgische Gastfreiheit - im Gegensatz zur gänzlich uneigennützigen slaworussischen - als interessengeleitet

20 Zit. In Letopis' druzby, Bd. li, S. 492f. 2 1 E-Brief von W.J . Siedler an den Verf. vom 2 1 .09.2007; E-Brief von W.J .S . an den Verf. vom

02. 1 0.2007. in diesem Sinne schreibt auch Margolina im vorletzten Sommer der Sowjetunion (Ruß­land ist einsam): "So sind Kaukasus und Krim keine exotischen Länder, die der russischen Krone untertänig gemacht worden sind, sondern Areale der russischen Kultur. ( ) Auch der Russe, der noch nie im Kaukasus war, empfindet diese Gebiete psychologisch als ihm zugehörig - (in: Kursbuch, Heft I 00, Juni 1 990, S. 1 67). Die Sowjetdissidentin und einstige Mitstreiterio Zviad Gamsaxurdias Valerlja Novodvorskaja bezeugt, dass auch die russischen Menschenrechtier der 1 990er Jahre in ihrer überwältigenden Mehrheit den Kaukasus nicht in die Unabhängigkeit entlassen wollten.

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2. Zum Aufbau der Arbeit

Der vielschichtige russisch-georgische Konflikt ist maßgeblich bedingt durch das historisch-kulturelle Selbstverständnis des kaukasischen Landes "unter dem Weinrebenkreuz der heiligen Nino" (Peter Hauptmann) mit seiner spezifischen christlich-orthodoxen Tradition (Kapitel II). Zur Vorgeschichte des Konflikts gehören die russisch-georgischen Beziehungen vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit, insbesondere die früh einsetzenden Versuche Georgi­ens, die eigene Glaubenstradition im Bündnis mit dem "weißen Rußland des großen Nordens" - so die Formel aus einem Hilfsgesuch König Alexanders V. von Imeretien an die Zarin Anna im Jahr 1 73222 - zu wahren (Kapitel III). Vor dem Abgrund des Verschwindens stehend, wandte sich Georgien im 1 8 . Jahrhundert mehrfach hilfesuchend an Russland.

Die einseitige Hinwendung der Georgier zu Russland als Schutzmacht bildet das Vorspiel zu den Konflikten im 1 9 . , 20. und 2 1 . Jahrhundert. Eine zentrale Rolle spielt darin der Vertrag von Georgi'evsk ( 1 783), mit dem die Georgier die Hoffnung auf Erhaltung ihres nationalen Eigenlebens unter russi­schem Protektorat verbanden. Er mündete in die wechselvolle, von großen Tei­len der georgischen Nation als traumatisch empfundene Einverleibung in das russische Reich. Umgekehrt bezog sich noch bei seiner Rechtfertigung der rus­sischen Rolle im Augustkrieg ("Olympiakrieg") 2008 der Ständige Vertreter Russlands bei der NATO Dmitri'j Rogozin auf den Vertrag von Georgi'evsk. 23

Das Hauptaugenmerk der Arbeit gilt dem 1 9 . Jahrhundert und der Her­ausarbeitung der seit der Annexion 1 80 1 entstehenden Konflikte (Kapitel IV). Diese manifestieren sich auf unterschiedlichen Ebenen des Politischen:

22 Zit. in: Gvosdev, S. 9. Siehe unten Kap. 111, I. Im Folgenden wird auch die georgische Form Alek­sandre gebraucht.

23 Dmitrij Rogosin, Aufs Haupt geschlagen, in: FAZ v. 1 9 . 08.2008 (http://www.faz.net/aktuelllpoli­tik/konftikt-zwischen-russland-und-der-nato-aufs-haupt-geschlagen- 1 68 1 037.html,) 6. Nov. 20 1 3 , 1 9 :22). Im Umgang mit den Fakten zeigte sich der russische Diplomat äußerst großzügig, wenn er etwa die Bevölkerung Georgiens zu Sowjetzeiten von fünf auf fünfzehn Mill ionen Einwohner verdreifachte. Das Register der selbstgerechten moralischen Erpressung der Gegenseite und der Außenwelt bildet insbesondere seit dem Augustkrieg 2008 eine nicht zu vernachlässigende Res­source der russisch-georgischen Polemik. Dabei wird russischerseits die dialektische Volte vollzo­gen, die Petersburger Vertragsbrüche seit 1 783 georgischer Treulosigkeit anzulasten, den georgi­schen Wunsch nach Wiederherstellung der Unabhängigkeit gar als Verrat umzudeuten (unter unzäh­ligen Beispielen sei hier der Artikel "War Georgien ein Bundesgenosse Rußlands? Das politische Überlebensmodell des georgischen Staats" genannt, http://www.apn.ru/publications/article2 1 26 1 . htm, 1 6 . Nov. 20 1 3 , 1 7 :46). Selbst die Einrichtung der südossetischen Autonomie wird georgi­schem Expansionismus zugeschrieben. Andererseits wird auf georgischer Seite der eigene Angriff im Augustkrieg trotz des Tagliaviniberichts geleugnet, die Folgen der eigenen Unbedachtsamkeil gar dem Ausland angelastet. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den inneren Gründen der versagten nationalen Souveränität wird verweigert, der geringe nationale Zusammenhalt, die unbe­fangene Bereitschaft zum Bürgerkrieg, die eigene staatsfeindliche Disposition ignoriert. Im Gefolge des Augustkrieges gerät der so einnehmende tragische Optimismus der Georgier nicht anders als die freigebige russische Seele nicht selten zum wohlfeil kalkulierten Mittel der öffentlichen Aus­einandersetzung.

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in der Ablösung der alten Ordnung durch das russisch-imperiale Herrschafts­system und im lange anhaltenden Widerstand gegen spezifische Momente der "Modernisierung". Zentral erscheinen die Beseitigung der Bagratidendynas­tie, das Zurückdrängen des Georgischen als Amts- und Unterrichtssprache und insbesondere die in der Literatur kaum behandelte Knebelung des georgischen Kirchenlebens.

Die teils von tatkräftigen, teils von unfähigen oder korrupten, zuletzt pan­slawistischen Vertretern der zarischen Staatsmacht exerzierte Politik traf weit­hin auf Unverständnis und Widerspruch und führte zu immer wieder aufflam­menden Rebellionen. Allerdings bildet das Erklärungsschema von autokrati­schem Imperium und unterdrückter Nation nur einen, wenngleich bedeutsamen Aspekt der russisch-georgischen Geschichte. Nicht zu vernachlässigen sind die Leistungen Russlands im transkaukasischen Raum. Im Rückblick sind die vertanen historischen Chancen im russisch-georgischen Verhältnis zu bekla­gen. Georgische Russophilie fand ihre Entsprechung in russischer Kaukasus­sehnsucht Diese emotionalen Aspekte des russisch-georgischen Verhältnisses, wie sie vor allem in der russischen Literatur - weniger in der georgischen - des 1 9 . und 20. Jahrhunderts immer wieder aufscheinen, sucht die Arbeit im V. Kapitel zu erhellen.

Nicht zufällig entsteht die jüngere georgische Nationalbewegung in dem Augenblick, wo die Integration des Kaukasus ins Imperium erfolgreich vollen­det scheint. Im letzten Drittel des 1 9 . Jahrhunderts kommen parallel zur Natio­nalbewegung infolge der Bauernbefreiung soziale und ideologische Momente ins Spiel, die das georgisch-russische Verhältnis auf neue Weise prägen. Die sozialistischen Strömungen bilden trotz internationalistischer Theorie ein Vehikel nationaler Emotionen und mehr oder weniger ausgeprägter politischer Selbständigkeitsbestrebungen. Soweit die kurze Unabhängigkeit Georgiens 1 9 1 8- 1 92 1 unter menschewikischer Führung stattfand, ist es notwendig, auf diese ideologischen Tendenzen und ihre Repräsentanten in den kritischen Jahr­zehnten vor dem Ersten Weltkrieg einzugehen (Kapitel VI).

Obgleich an den europäischen säkularen Nationalbewegungen orientiert, war für die jüngeren Patrioten um Ilia C 'avc 'avadze die Erhaltung der geor­gischen Kirchentradition ein zentrales Thema. Die nie erlahmten national­kirchlichen Bestrebungen treten als hochpolitisches Konfliktmoment beson­ders intensiv um 1 900 hervor. Im Anschluss an den Kirchenkonflikt (Kapitel VII) werden die Vorgeschichte, die historischen Bedingungen der georgischen Unabhängigkeit im Ersten Weltkrieg, die innen- und außenpolitischen Prob­leme der Republik sowie deren Ende - herbeigeführt von georgischen Bol­schewiken und russischen Generälen - dargestellt (Kapitel VIII).

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3. Methodologische Überlegungen

Im Hinblick auf den Gegenstand - die Analyse eines facettenreichen Kon­fliktes - bedient sich die vorliegende Arbeit einer kulturgeschichtlich-herme­neutischen Methode. Dieses Instrumentarium schärft den Blick für politisch relevante Phänomene, die sich einer tendenziell soziologistischen Herange­hensweise entziehen würden. Mit Vorsicht zu betrachten ist auch die in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, erst recht in der Politikwissenschaft, zu beobachtende "normative" Tendenz, die das Konzept der Nation als eines politische Legitimität beanspruchenden historischen Subjekts negiert. Wenn die Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts bis in einen weit zurück­reichenden Zeitraum zu verfolgen sind, so folgt daraus ein konzeptionelles Verständnis realer historischer Gebilde - hier: die georgische Nation in ihrer Beziehung zum russischen Reich -, welches sich abhebt von dem heute in der scientific community vorherrschenden Ideologem der "erfundenen Nation".

Ein derartiges Konzept liegt auch dem für unser Thema ertragreichen Buch von Ronald G. Suny: The Making of the Georgian Nation, S. xiii, zugrunde. zugrunde. Wie der Historiker im Titel seiner georgischen Nationalgeschichte "The Making of the Georgian Nation" (erstmals 1 988) proklamiert, sind für ihn Nationen keine eigenwüchsigen historischen Erscheinungen. Die Insignien einer historischen Nation erscheinen vielmehr als künstlich gestiftete Konst­ruktionen national gesinnter Intellektueller des bürgerlich-liberalen Zeitalters. Suny, Nachfahre armenischer Einwanderer in der "reinen" Vertragsgesellschaft USA, bekennt sich unter Bezug auf Benedict Anderson ("imagined commu­nities")24 sowie Eric Hobsbawm ("inventing traditions")25 zum konstruktivis­tischen Konzept der Nationsbildung: "The writing of national history is most often a Iabor of Iove performed by patriots who, in the process of creating a narrative unity for their people's past, serve as both chroniclers and inven­tors of tradition . . . The nineteenth-century flourishing of national histories, in the period of nation-formation and the proliferation of nationalisms, testifies to their importance and influence. Together with grammars, dictionaries, and primers, national histories shaped the self-image and perceptions of ethnic groups as they developed their own cultural and political agenda.

" Nicht nur

Sunys lebenslange Beschäftigung mit seinen nationalen Wurzeln scheint seine These zu relativieren. Die Zähigkeit der Bindung an die geschichtliche Her­kunftsnation wird anscheinend genausowenig durch den Aufstieg in das ame­rikanische politische Establishment zermürbt. Peter Kuznick berichtet, Carters Nationaler Sicherheitsberater Zbignew Brezinski "bragged about being 'the

24 Benedict Anderson, Imagined Communities. Refiections on the Origin and Spread ofNationaiism, 1 983 . In dt. Ausgabe erstmals 1 988, hier: I 998.

25 Eric J. Hobsbawm, Introduction: Inventing Traditions, in: E. J . Hobsbawm - Terence Ranger (Hg.), The Invention ofTradition, Cambridge I983.

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first Pole in 300 years in a position to really stick it to the Russians" ' (The Untold History ofthe United States, New York 20 1 2, S. 406).

Gegen den von Anderson etablierten Begriff der "erfundenen Nation", wel­cher auf die "postmoderne" Dekonstruktion von Nation und Identität abhebt, lassen sich begründete Einwände erheben. Anderson gründet seine These von Nationen als seit Ende des 1 8 . Jahrhunderts entstandener "kultureller Produkte"26 vornehmlich auf die zu "Nationalstaaten" mutierten ehemaligen Kolonien in Südostasien - als durchschlagendes Beispiel dient ihm Indonesien - und in Lateinamerika, deren Ursprung ausschließlich im Kontext der europä­ischen Expansion und auf dem Reißbrett der Machtpolitik zu verorten ist. Eine Übertragung dieser Form des "nation-building" auf andere, genauer: die alten europäischen oder asiatischen Geschichtslandschaften erscheint indes bedenk­lich. Hilfreicher zum Verständnis aktueller Konflikte erscheint vielmehr die vom deutsch-amerikanischen Kulturhistoriker Friedrich G. Friedmann getrof­fene Unterscheidung zwischen Vertragsgesellschaften (wie den USA) und geschichtlich geprägten organischen Gesellschaften.

Wenig überzeugend ist Andersons Bezug auf die ,Jungen" Schriftspra­chen Europas und die Lesekultur als Medium der Nationswerdung ("Jedem Menschen kann man im Bett beiwohnen, doch lesen kann man nur die Worte einiger Menschen"27) . Durch den Verweis auf die Geschichte der georgischen Liturgie als verbindendem Element der Regionen und der historischen Reiche des kaukasischen Georgiens ist ein solches Argument leicht zu widerlegen. Als Gewährsmann gegen die Dekonstruktion des Begriffs "Nation" sei der von Anderson selbst zitierte Hugh Seton-Watson genannt: "Thus I am driven to the conclusion that no 'scientific definition' of a nation can be devised; yet the phenomenon has existed and exists.

"28 Bei Seton-Watson, der die "alten fort­

dauernden Nationen" von den in den multinationalen Reichen entstandenen "neuen Nationen" (mit einer ihrerseits alten Geschichte wie die der Ungarn und Rumänen) unterscheidet, reichen die Ursprünge der Nationen viel weiter zurück als bei Anderson. Ganz selbstverständlich spricht Zbigniew Brzezinski in "The Grand Chessboard" in Bezug auf die Staaten des Kaukasus von "truly historic nations".29

In der oben zitierten Passage Sunys wird ebendieser Begriff anerkannt, wenn er schreibt, den Nationalpatrioten sei es um "eine narrative Einheit der Vergangenheit ihres Volkes" ("creating a narrative unity oftheir people 's past

")

gegangen. ,,People" bezeichnet hier offensichtlich "Volk" und nicht Bevöl­kerung. Kurz: Dem auf fehlenden historischen Realitätsbezug abzielenden

26 Anderson, S. 1 3 . 2 7 Anderson, S . 72. 28 H . Seton-Watson, S. 5, zitiert von Anderson auf S. 1 3 . 29 Brzezinski, S. 4 1 , 1 24.

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