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DIE STELLUNG PLUTARCHS 1M PLA TONISMUS SEINER ZEIT HEINRICH DORRIE A (r) Diesen Seiten ist die Aufgabe gestellt, einige der Besonder- heiten, durch die sieh Plutarch von den Platonikern seines Jahrhunderts abhebt, darzustellen. Wenn diese Frage bisher kaum in Angriff genommen wurde, so liegt das daran, dass die herkommliche Methode sachlicher Vergleiehe nieht zu schliissigen Antworten fiihrt. Weder kann Plutarchs Philosophie von einem sonst wohl bekannten Lehrer hergeleitet werden 1 noch kann ein System Plutarchs Linie fiir Linie mit einem System anderer Platoniker vergleiehen werden. Und drittens hat Plutarch, so sehr er sieh von anderen Pla- tonikern unterscheidet, keine derartige Polemik gefiihrt, dass aus ihr seine eigene philosophische Entscheidung abzulesen ware. Denn die Wesensziige, durch die sieh Plutarch vom offi- ziellen Platonismus seiner Zeit (kurz benannt: Schulplatonismus) unterscheidet, entziehen sich vordergriindiger Untersuchung; sie sind tiefer begriindet. Sie werden nur zu einem kleinen Teil in sachlichen Diskrepanzen siehtbar (vgl. Teil B dieser Arbeit). Wesentlich mehr ergibt sieh, wenn man die philosophische Ab- sieht und das philosophische 2 Ziel Plutarchs ins Auge fasst; 1 Zweifellos war Plutarchs Lehrer Ammonios ein hoch geachteter Platoniker. Doch lasst Plutarch nichts an Lehr-Entscheidungen erkennen, durch die Ammonios den Platonismus bereichert oder beeinflusst hatte. Eindrucksvoll wird die tiefe Religiositat des Ammonios geschildert; bemerkenswert ist sein Hinneigen zu mathematischer Betrachtungsweise. Doch kann von da aus keine Charakteristik gewonnen werden, die den Ammonios etwa von anderen Platonikem grundsatzlich unterscheidet. 2 "Philosophisch" ist hier durchaus im antiken und im plutarchischen Sinne zu verstehen; danach ist "das Philosophische" ebenso sehr auf die R. B. Plamer et al. (eds.), Philomathes © Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 1971

Philomathes || Die Stellung Plutarchs im Platonismus Seiner Zeit

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Page 1: Philomathes || Die Stellung Plutarchs im Platonismus Seiner Zeit

DIE STELLUNG PLUTARCHS

1M PLA TONISMUS SEINER ZEIT

HEINRICH DORRIE

A

(r) Diesen Seiten ist die Aufgabe gestellt, einige der Besonder­heiten, durch die sieh Plutarch von den Platonikern seines Jahrhunderts abhebt, darzustellen.

Wenn diese Frage bisher kaum in Angriff genommen wurde, so liegt das daran, dass die herkommliche Methode sachlicher Vergleiehe nieht zu schliissigen Antworten fiihrt. Weder kann Plutarchs Philosophie von einem sonst wohl bekannten Lehrer hergeleitet werden 1 noch kann ein System Plutarchs Linie fiir Linie mit einem System anderer Platoniker vergleiehen werden. Und drittens hat Plutarch, so sehr er sieh von anderen Pla­tonikern unterscheidet, keine derartige Polemik gefiihrt, dass aus ihr seine eigene philosophische Entscheidung abzulesen ware.

Denn die Wesensziige, durch die sieh Plutarch vom offi­ziellen Platonismus seiner Zeit (kurz benannt: Schulplatonismus) unterscheidet, entziehen sich vordergriindiger Untersuchung; sie sind tiefer begriindet. Sie werden nur zu einem kleinen Teil in sachlichen Diskrepanzen siehtbar (vgl. Teil B dieser Arbeit). Wesentlich mehr ergibt sieh, wenn man die philosophische Ab­sieht und das philosophische 2 Ziel Plutarchs ins Auge fasst;

1 Zweifellos war Plutarchs Lehrer Ammonios ein hoch geachteter Platoniker. Doch lasst Plutarch nichts an Lehr-Entscheidungen erkennen, durch die Ammonios den Platonismus bereichert oder beeinflusst hatte. Eindrucksvoll wird die tiefe Religiositat des Ammonios geschildert; bemerkenswert ist sein Hinneigen zu mathematischer Betrachtungsweise. Doch kann von da aus keine Charakteristik gewonnen werden, die den Ammonios etwa von anderen Platonikem grundsatzlich unterscheidet.

2 "Philosophisch" ist hier durchaus im antiken und im plutarchischen Sinne zu verstehen; danach ist "das Philosophische" ebenso sehr auf die

R. B. Plamer et al. (eds.), Philomathes© Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 1971

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einer Praxis (wie er sie verstand) zu-, dem schulgerechten Theo­retisieren aber abgewandt, erarbeitete er sich einen Stil philo­sophischen Wirksam-Werdens, der sich von der gedanklichen Scharfe, aber lebensfremden Rigorositat der Schulplatoniker abhebt.

(2) Freilich stosst man auf einen gravierenden Unterschied, wenn man fragt, welches Publikum Plutarch sich zu Lesem wiinscht, und auf wen sich die Lehrschriften des Schulplatonis­mus beziehen. Ein Albinos in seinem Didaskalikos, ein Kalvisios Tauros in seinem Timaios-Kommentar 3 richten sich nur an Fach­leute, bestenfalls an den Nachwuchs; sie schliessen den nicht fachgerecht Vorbereiteten als Leser aus. Sie vermitteln hoch­wertige, dabei aber eindeutig rationale Information.

Plutarchs Absicht zu wirken muss sehr anders beschrieben werden; dem, was er niederschreibt - nur die rein polemischen Schriften sind auszunehmen - ist durchweg etwas Padagogisches beigemischt. Er schliesst nicht einmal die &(J.IX.&ei:c;; als Leser durchweg aus, ist sich aber bewusst, fiir die zu schreiben, die aus der Lektiire einen Gewinn zu ziehen vermogen. Gewiss ver­grobert der Gesamt-Titel M oralia das von Plutarch Gewollte sehr. Aber diese Benennung enthalt einen Kern des Richtigen. Mit dem Ziel ethischer Besserung und Reinigung seiner Leser ist gegeben, dass er nicht nur auf deren ratio, sondem ebenso sehr auf die noblen und dabei formbaren Triebe (nach Platons Terminologie ,",0 '&ufLoeL8ec;;) einwirkt. Dann geniigt ein diskur­siver Vortrag iiber das erweisbar Richtige nicht; dann muss die Darstellung auch im Psychagogischen eingangig sein.4 Und eben das hat Plutarch in hohem Masse erreicht.

Erkenntnis wie auf die LebensfUhrung gerichtet. Eine Unterscheidung von Reiner und Praktischer Vernunft ware fUr Plutarch unvoHziehbar gewesen.

3 Fragmente bei Johannes Philoponos, De aetern. mundi 6. 8, 21 passim, 13. 15. (pp. 144-149, 186 passim, 520-527 Rabe).

4 Was Gellius aus der Schulstube des Kalvisios Tauros berichtet, zeigt mancherlei Analogie zu Plutarchs Thematik; vgl. NA I. 26, 2. 2, 7. 10 passim, 18. 10, 20. 4; offenbar pflegte auch Kalvisios Tauros diese Art des Unterrichtes - aber vor aHem fiir Laien (wie Gellius) die zum Eigentlichen nie aufsteigen wiirden. In den Resten des Timaios-Kommen­tars zeigt sich Kalvisios Tauros als eine ganz andere Personlichkeit; vgl. K. Praechter in RE 2, IX (1934), col. 58-68, s.v. "Tauros."

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Dabei ist er keineswegs einem Maximos von Tyros zu ver­gleichen, dem es allzu sehr auf Breitenwirkung ankam; sondern Plutarch hat offenkundig die Mission gespurt, sein Wissen aus­zubreiten und weithin zugiinglich zu machen, wei! allem Wissen eine ethische Wirkung zukommt; 1t'oc~~e:Eoc im besten Sinne war der eigentliche Antrieb fur Plutarch, sein vielschichtiges Werk zu vedassen. Was dagegen aus dem Platonismus seines und des folgenden Jahrhunderts erhalten ist, ist durchweg schul-intern.

(3) Die Absicht, auf weite Kreise zu wirken, erlegte Plutarch freilich zwei wichtige Beschriinkungen auf. Dass er systematische Darstellungen platonischer Probleme fast v6llig vermeidet, ist wohl verstiindlich. Damals wie heute galt, dass man eine weitere Offentlichkeit mit Systematischem nicht langweilen dad. Zu­gleich aber war ein jeder Platoniker - und dazu gehOrte Plutarch­von der Gultigkeit des Axioms uberzeugt, dass der Gipfel der Philosophie - 1t'pw'O) cprJ.OcrOcpLOC - nicht mitgeteilt werden dude. Das sei erstens unnutz, denn der nicht Vorgebildete k6nne das hierzu Vorgetragene nicht verstehen; es sei zweitens gefiihrlich, denn es werde mit Sicherheit Missverstiindnisse und Miss­brauche hervorrufen, und es sei drittens unfromm, weil ein solches Reden die Wurde der Gottheit zerrede.

An diese ungeschriebene Regel hat sich Plutarch durchweg gehalten; wohl teilt er - auch das sehr selten - hier und da -&e:OAOYOUfLe:VOC mit, i.e. Aussagen uber das G6ttliche, die er oben­drein gern anderen Gewiihrsmiinnern in den Mund legt. Auf kei­nen Fall spricht er - urn hier die Terminologie des platonischen Timaios 29b zu gebrauchen - A6youc; fLOVLfLouC; xoct cXfLe:'t'OC1t''t'w't'ouC;,5 sondern er spricht, wie Platon, ~~' e:~x6't'(.o)v. Urn es noch deutlicher zu sagen: er vollzieht das platonische OC~VL't''t'e:cr-&OC~ nach, womit erunter den Platonikern schlechthin allein steht. Da alle ubrigen zu Mit­gliedern ihrer Schule, also zu e:~~6't'e:c; sprechen, hat niemand sonst diese von Plat on her vorgegebeneArt der Verschlusselung gewiihlt.

5 Diese Stelle im Timaios hat eine ganz ungemeine methodische Be­deutung gewonnen; vgl. vor allem Proklos zur Stelle, wo die wichtige Distinktion des Gaios hierzu mitgeteilt wird. Auch Macrob. Commentarii in Somnium Scipionis 1. 2 (wohl aus Porphyrios) iiber die Legitimitat allegorischer Darstellung steht in der Nachfolge von Ti. 29bc. Zum Problem im Ganzen: K. Praechter, "Zum Platoniker Gaios," Hermes 51 (1916), pp. 510-259; Bernd Witte, "Der e!xooc; Myoc; in Platons Timaios, Beitrag zur Wissenschaftsmethode und Erkenntnistheorie des spaten Plato," Archiv fur Geschichte der Philosophie 46 (1964), pp. 1-16.

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(4) Es wird also notwendig sein, diese cxMY/-Lcx't'cx so gut und so weit das moglich ist, zu entschliisseln, urn die Moglichkeit des Vergleichens zu gewinnen. Dabei wird sich freilich heraus­stellen, dass Plutarch jenes cxtv~'t"t'e;O".&cx~ nicht nur aus frommer Ehrfurcht anwandte. Durch solche Verschliisselung entzog er sich zugleich den Vorwiirfen, will sagen den voraussichtlich sehr scharfen Diskussionen, die unvermeidbar gewesen waren, wenn er seine Philosophie im Klartext - ~oY/-Lcx't'~xwc;; - vorgetragen hatte. Dann namlich werden schwerwiegende Diskrepanzen yom offiziellen Platonismus sichtbar. In diesem Punkte haben die spateren Neuplatoniker, vermutlich unter Fiihrung von Por­phyrios,6 sehr klar gesehen: Fiir den, der darin geschult war, eine Aussage auf ihren dogmatischen Gehalt zu reduzieren, konnte kein Zweifel sein, dass Plutarch dogmatisch am Rande des Platonismus steht. Diesen Vorwurf, Plutarch weiche an ent­scheidendem Punkt (Ideenlehre) von Platon ab, hat nachmals Syrian 7 mit ernster Deutlichkeit ausgesprochen. Wohl gilt es zu bedenken, dass im J ahrhundert Plutarchs ein Sich-Absondern von der Lehre der Akademie anderes Gewicht und anderen Wert hatte als hernach, da der Abwehrkampf der Platoniker Ge­schlossenheit forderte. Voraussichtlich wird sich sogar das Motiv bestimmen lassen, das Plutarch dazu bewog, die akademischen Denk-Modelle zu verlassen: Plutarch kam mit pythagoreischen, vielleicht gar mit gnostischen Gedanken von Weltentstehung und Seelenwanderung in Beriihrung. Diese scheint er fUr wertvolle Erganzungen des ihm wohl vertrauten Platonismus angesehen zu haben. Er wollte sie, ohne das bewahrte platonische Funda­ment zu verlassen, mit dem iiberkommenen Lehrgut vereinigen. So wie zuvor eine Verbindung pythagoreischer Elemente mit der Stoa fruchtbar geworden war, so ging es Plutarch darum, Elemente pythagoreischer, vielleicht gar poseidonischer Prove­nienz in den Platonismus einzupflanzen. Ja, es wird in Betracht zu ziehen sein, ob Plutarch mit gnostischen Vorstellungen yom Abstieg der fehlbaren und yom Aufstieg der gereinigten Seele

6 Die schroffe Kritik an Plutarchs Lehre von der Weltentstehung im zeitlichen Sinne, die bei Proklos mehrfach laut wird (z.E. In Ti. I, p. 276. 31 passim) geht mit Sicherheit auf Porphyrios' Einwande zuriick.

7 Vgl. Syrian, In Arist. Metaph. M 4, p. 105. 36 ff. Kroll (ausgeschrie­ben unten, p. 53).

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in Beriihrung kam. Auf jeden Fall hat er ausser-platonischen Elementen in viel starkerem Masse Rechnung getragen als die ihm zeitgenossischen Platoniker, von denen zumindest das Lehr­gebaude des Kalvisios Tauros zu Athen und das des Albinos zu Smyrna gut bekannt sind.

B

(r) Wollte man ganz im Groben die charakteristischen Dogmata des friihen Mittelplatonismus umschreiben, so miisste man auf die Lehre von den eXPXoc( und vom .. dAm;; hinweisen. Wieder und wieder werden als die drei Urgriinde oder Prinzipien der Welt &e:6~, \SAl), 'ltOCpoc~e:~y(LOC = SchOpfer, Materie und Vorbild bezeich­net, die man gern in der prapositionalen Umschreibung ocp'oo, e~ 06, 'ltpO~ 15 wiedergibt. Als Ziel und Zweckbestimmung wird das Axiom verkiindet o(Lo(w(n~ &e:<;l xoc"rd: "ro ~u\loc"r6\1 - so die For­mulierung Platon, Tht. r76ab, die in umsichtig vollzogenen Beweisgangen als das eigentliche und unumstossliche Postulat Platons erwiesen wird.

Was Plutarch hierzu sagt, steht zu dieser gangigen Lehre der iibrigen Platoniker nur in gebrochenem Verhaltnis. Er kennt jene im Platonismus geradezu kanonischen Formulierungen sehr wohl. Er wendet sie aber nie in der iiblichen Weise an, sondern macht einen eigenartig preziosen Gebrauch von diesen gangigen For­meln: Er sucht dem Zwang, dem jeder unterliegt, der diese Formeln geradlinig anwendet, zu entrinnen und bietet darum sehr subtile Umsetzungen, ja Umdeutungen dieser Formeln an.

Nun lohnt es sich, einigen dieser Umwertungen nachzugehen, weil an ihnen der Abstand vom zeitgenossischen Platonismus erkennbar wird.

In den Quaest. Plat. 2. IOorbc gibt Plutarch in knapper Raf­fung Einblick in seine Prinzipien-Lehre: ~ue:r:\I il\l"rw\le~ &\1 0

, , , '.1, - , l. , " ~ , XOO'(LO~ O'U\le:O''''lJXe:, O'W(LOC"rO~ xoc~ 't'UXl)~, "r0 (Le\l OUX Eye:\I\Il)O'E 'lTe:0~

eXAAd:, "r1j~ 5Al)~ 'ltOCpocO'xo(Le\ll)~, e(L6pcpwO'E XOCL O'U\I~P(LoO'e:, 'ltepocO'~\I

olxe:(o~~ XOCL O'X~(LocO'~ ~~O'oc~ XOCL op(O'oc~ "ro &'lte:~pO\l' ~ ~e ljJux~, \IOU (Le:"rocO'xouO'oc XOCL AOy~O'(Lou XOCL &:p(LO\l(oc~, OUX ~pyo\l eO'''rL "rOU &e:OU (L6\1o\l eXAM XOCL (Lepo~, OU~'O'lt' ocu"rou, eXAAd: XOCL eX'lt' ocu"rou XOCL e~ ocu"rou yeyo\le:\I.

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Dies ist eine Prinzipien-Lehre, aus welcher die Idee als Vorbild verschwunden ist; der Schopfer bedient sich der Seele, um dem materiellen Prinzip, das als das Grenzenlose bezeichnet wird, Grenze und Mass aufzuerlegen. Dabei ist die Seele keineswegs Objekt der gottlichen SchOpfung - ~Pyov - sondern sie ist ein Teil Gottes; die Stellung der Seele kann nicht allein durch die prapositionale Umschreibung t'nt'ocu't'ou bezeichnet werden,s son­dern die Umschreibungen OC7t' ocu't'ou und e:~ ocu't'ou gelten ebenso. Es ist also nur noch die sprachliche Form einer prapositionalen . Umschreibung erhalten; diese richtet sich indes nicht auf mehrere Prinzipien, sondern allein auf die Seele, wodurch deren vielfaltige Funktion, den Schopferwillen Gottes auf die Materie zu uber­tragen, bezeichnet wird.

(2) Eine analoge Umdeutung der formelhaft gewordenen Drei­Prinzipien-Lehre bietet Plutarch De an. pracr. 5. 1014ab. Dort wendet Plutarch die wohl bekannten Benennungen an:

I) 't'ov !LEV x60'!Lov \ntO '&EOU YEyovevoc~, ) ,~, ""I. 'l:' ~' , , 2 't'7)v oE •.. UI\'Y)V, E.., 'je; yEyOVEV, OU yEV0!LEV'Y)V ...

Von der Materie heisst es folgerichtig, sie sei nicht entstanden, sondern unterliege standig dem Geordnet-Werden durch den Schopfer (was soweit gut platonisch ware): \ntOXE~!Lev'Y)v oce:l. 't'<!> a'Y)!L~Oupy<!> ELe; a~cX.&EO'~V XOCL 't'cX~w ocu't'~e; XOCL 7tpOe; ocu't'ov e:~0!L0(cuO'~v we; auvoc't'ov ~v E:!L7tOCPOCO'X,Ei:V.

Das uberkommene Axiom, es musse ein Prinzip geben, nach dessen Vorbild die Welt, wenn nicht geschaffen, so doch geordnet sei, ist zwar nicht aufgegeben; aber dieses Prinzip, nach dem an dritter Stelle gefragt werden musste, wird mit dem Schopfer gleichgesetzt: Er selbst ist das Vorbild der Welt; er wollte, dass die Welt ihm gleichartig sei. So wird nun die wichtige Wander­stelle (aus dem Theaetet 176b), die eigentlich die Zweckbestimmung des Menschen bezeichnet, hierher gezogen und als eine Aussage uber . die SchOpfer-Absicht Gottes ausgewertet. 1m Weltbild Plutarchs ist kein Raum fur einen an und fur sich bestehenden x60'!Loe; vO'Y)'t'6e; der ewigen und unveranderlichen Vorbilder; wo nachmals die Neuplatoniker die drei transzendierenden Stufen des 't'E)..,~x6v, 7tOCpOCaE~Y!Loc't'~x6v, a'Y)!LLOupy~x6v sonderten, da besteht

8 Dieses ist die iiberlieferte Bezeichnung des schopferischen Prinzips; die iibrigen prapositionalen Bezeichnungen bietet die Dberlieferung der Schule nicht.

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fiir Plutarch eine Einheit, deren dihairetische Aufspaltung 9 er nieht zuHi.sst. Mit grossem Nachdruck beschreibt Plutarch un­mittelbar nach der soeben zit. Stelle 10 die Funktion von Seele und Korper bei der Erschaffung der Welt.

Die Absage an eine Vorstellung der Ideen als Wesenheiten vor dem Schopfer steht, wenn auch in sehr vorsiehtiger Formulierung, Quaest. conv. 8. 2. 7I9a: OU ycXP 't't 7tOU Xott &eoc; 8er:'t'otL ILotMjILot't'oC; orov opyocvou (J't'pec:pov't'oc; cx7to 't'6lV yevlj't'6lV Xott 7tepLcXyov't'OC; S7tt 't'a llv't'ot 't'~v 8LcXVOLotV' SV otu't'ij) yap ~(J't'LV sKetVCf) Kott (JUV otU't'ij) Kott 7tept otu't'6v.

Damit wird ein Vorbild, nach dem sieh der Schopfer richtet, abgewertet zu einem Werkzeug; hatte der Schopfergott eine Belehrung notig, so ware er nieht mehr autark. Damit wird eine Prinzipien-Lehre negiert, welche diskursiv yom Gottlichen tren­nen mochte, was notwendig zu seinem Wesen gehort. Dieser Gedanke, hier nur im Voriibergehen geaussert, war fiir Seneca, Ep. 65. II das wiehtigste Hindernis gegen die Annahme einer turba causarum. Der gottliche Baumeister ist dem menschlichen Architekten darin unahnlich, dass er 't'a 6)V OUK &veu nicht ausser sieh, sondern in sieh hat.

(3) Dem eben Gesagten scheint zu widersprechen, dass Plu­tarch sowohl in dem Text, der unmittelbar auf die soeben zit. Stelle folgt, wie auch De del. or. 35. 428f., an beiden Stellen in enger Anlehnung an Formulierungen Platons, einen Schritt auf eine Ideenlehre hin zu tun scheint. Sieht man aber genau hin, so werden - vor allem Quaest. conv. 8. 2. 720a-c - die Ideen ver­standen als das formale Prinzip, das das Ungeformte ordnet. Die Ideen haben also eben die Funktion, die Plutarch im iibrigen der Seele zuschreibt; in merkwiirdiger Schematik wird den Ideen eine qualitative, dem Materiellen eine quantitative Wirkung (= Di­mensionierung) zugeschrieben. Das so sieh ergebende Problem versteht Plutarch als ein mathematisches. Gott setzte sich die

9 Hierzu ist der wie ein Axiom formulierte Satz De del. or. 37. 430e zu stellen: ou y&:p 0 &eo~ 8L~a't'lJaeV ou8e 8L$xLae -rljv oua£or.v, ItAA' ••• ~'ror.~e xor.l O"Uv1]pl.I.0ae aL'ltvor.Aoy£or.~ xor.ll.l.ea6't'lJ'ro~. Kein Wort davon, dass die Ideen a1s ewige Vorbilder das Mass fur die "Analogie" hatten geben mussen, nach der der Schopfer die Welt ordnet: Plutarch kennt nur eine oua£or..

10 Das dort Gesagte ist fast gleichlautend mit Quaest. Plat. 2. IOOIbc. Auf diesen fUr Plutarch zentralen Komplex wird unten, p. 52 f. eingegan­gen.

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Aufgabe, zu diesen beiden Gegebenheiten, dem qualitativen und dem quantitativen Prinzip, die mittlere Proportionale zu finden: Und so erschuf der SchOpfer die Welt, die dem Vorbild der Ideen ahnlich und an Quantitat der Materie gleich ist (da es nichts ausserhalb der Welt geben kann). Zwar ist damit die ausdriicklich zitierte Vorstellung vom 7tOl.:p&i3e:~Y(LOI.: = Ti. 28bc nachvollzogen, aber doch mit der bezeichnenden Abweichung, dass das Quali­tative und das Quantitative wie zwei Seiten, namlich wie die Katheten im Dreieck gesehen werden, zu denen die Hypotenuse gesucht wird, in denen sich beider Potenzen - i3uv&(Le:~c; - addieren: a2 + b2 = c2• Die Ideen liegen also nicht im Metaphysischen vor dem Schopfer, sondern sie gehoren zu den Gegebenheiten der mathematischen Aufgabe, die er erfiillt.11 Das hier Gesagte wiederholt Plutarch in einer Art Kurzfassung in De Is. et Os. 56. 373f-374a.

Es ist eine alte crux im Verstandnis des Plutarch, wieso er in der Polemik gegen eine Definition der Seele des Poseidonios 12

in mehreren Punkten dem bisher Gesagten zu widersprechen scheint. In dieser Zuriickweisung der poseidonischen Definition kommt es dem Plutarch vor allem darauf an, dass die dem Korperlichen zugeordnete Seins-Weise des £"t"e:pov XOl.:~ (Le:p ~cr"t"6v radikal von der Seins-Weise der Identitat und des Qualitativ Wirksamen gesondert bleibt. Um dieser Polemik willen wieder­holt Plutarch die wohl bekannten Wesensbestimmungen von den Ideen, die unbeweglich sind, und im Gegensatz dazu von der Seele, die stets in Bewegung und die Ursprung aller Bewegung ist; die Ideen sind gesondert - xwp~cr"t"& - die Seele dagegen dem

11 1m weiteren Verlauf vereinfacht Plutarch die Aufgabe, die er zuvor sehr pragnant, aber doch in virtuoser Kunstprosa dargestellt hat. Es ist die von Euklid, Elem. 6. 25 behandelte Aufgabe: Es soll eine Figur gezeichnet werden, die einer gegebenen Figur flachengleich, und einem gegebenen Dreieck ahnlich (also winkelgleich list. Plutarch fiihrt die Losung dieser Auigabe gar nicht vor; sie ist durch Konstruktion zweier Parallelogramme zu losen, die den beiden gegebenen Figuren flachengleich sind und mit dem Dreieck den grossten Winkel gemeinsam haben. Fur Plutarch vereinfacht sich die gestellte Aufgabe auf die Diagonale als die mittlere Proportionale zwischen den Seiten eines Rechtecks.

12 Plutarch, De an. procr. 22. I023b 'l"l)V <jJUXl)V 13ecxv dVCXL 'l"OU 1tIXV'l"71 3LCXcr'l"CX'l"OU XCX'l"' &'PL'&ILOV cruve:cr't"(;)crcxv d:PILOVLCXV 7te:pLexov't"CX. Seltsamer Weise kommt diese Definition derjenigen sehr nahe, die Iamblich als die Seelen­Definition Speusipps uberliefert: jrg. 40: 't"l)V oUcrLcxv 't"'ii~ <jJux'ii~ .•. &.cpwpl­croc't"o .•• ev t3eq: 3e 't"OU 7tCtV'l""I) 3LOCcr't"CX't"ou L:7te:UcrL7t7tO~.

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K6rper eingefiigt - GUveLPYf.LeV1j. Am deutlichsten wird der Wider­spruch zum bisher Dargelegten in dem abschliessenden Satze I023C: 0 .&eo~ TIj~ f.LeV taecx~ w~ 'Tt"CXpcxae(yf.Lcx't"o~ yeyove f.LLf.L1j't"~~, 't"~~ ae ljiux.~~ &cmep OC'Tt"o't"eAecrf.Lcx't"o~ a1jf.LLoupyk

Hier liegt eine Wiedergabe der traditionellen Drei-Prinzipien­Lehre vor, nach welcher der Demiurg die Funktion des Mittlers zwischen 'Tt"CXp&aeLYf.LCX und OC'Tt"o't"eAecrf.LCX hat. In der Abwehr einer von aussen kommenden, nicht-platonischen Lehre bietet Plutarch das Riistzeug der herk6mmlichen Systematik auf; aber die zuvor angefiihrten Zeugnisse lassen keinen Zweifel daran, dass Plutarch von dieser Systematik keinen konstruktiven Gebrauch macht.

(4) In der 3. der Quaest. Plat., vor allem IO02bc wird erkenn­bar, wie sich die bisher beobachtete Widerspriichlichkeit zum Teil wenigstens aufl6sen lasst. Schon bei Behandlung der Frage "Wieso sagt Platon, dass Gott stets Geometrie treibt?" (Quaest. conv. 8. 2) war eine pythagoreische Komponente spiirbar ge­worden. Diese pythagoreische Blickrichtung hat nun in Quaest. Plat. 3 entschieden den Vorrang: Hier werden die Ideen als das Mass und OrdnungGebende, d.h. als idealeZahlen verstanden. Frei­lich ist der Abstand, den diese mathematische Betrachtungsweise Plutarchs von der der Alten Akademie hat, sehr gross. Immerhin verdient dieses Textstiick grosse Aufmerksamkeit (die es bisher nicht gefunden hat); denn soviel ich sehe, liegt hier der einzige ernstliche Versuch vor, die mathematische Philosophie der Alten Akademie zu erneuern. Derlei wurde hier und da - in Anlehnung an die wahl bekannten Postulate Platons - gefordert,13 aber nie verwirklicht.

(5) Nur im Vorbeigehen kann auf das eigenartige Lehrstiick verwiesen werden, mit Hilfe dessen Plutarch den Nachweis fiihrt, dass es Ideen gibt. Er geht, ahnlich der auf den Gottesbe­weis fiihrenden via negationis den Weg der Depotenzierung (roOI f.) -nicht viel anders, als Albinos es forderte und als das bei Aristoteles erhaltene Modell 14 es nahelegt. Zu den drei raum­lichen Dimensionen tritt (fiir Plutarch) als vierte Dimension die Bewegung - so namentlich der Sterne, und als fiinfte Dimension die Harmonie, die Bewegungen gar h6rbar macht. Geht man diesen Weg zuriick, so stasst man auf die Ideen als ein-dimensio-

13 So Albinos, Did. 7, p. 161. 10 ff. c. F. Hermann. 14 Arist. De an. A 2. 404b21 ff.

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nale Wesen: Hier wird das Axiom von den unteilbaren Linien emeuert (I002a). Eine Genese der Zahlen findet erst statt, wenn das Prinzip der &:op~O"'t'oc;; aucXc;; hinzu tritt; die Ideen als Monaden sind mithin nicht zahlbar; sie sind gar in zwei Richtungen gar nicht unterscheidbar von einander: XIX't'OC 'ro ~v XIXl. [LOVOV voou[Levov.

Als Monaden sind sie aile Manifestationen des Einen. In ihrem Bereiche gibt es daher nur ein Kriterion: ~'r~ 'r&V [LEV V01j'r&v ~v

\ , t ....

[Lev XP~'r1jP~OV 0 vouc;;. Das ist ein Kriterion, das sich in den niederen Stufen der

Erkenntnis analog fortsetzt: a~cXVO~1X ist das Kriterion im Bereiche der Mathematik, die das Intelligible widerspiegelt; im Bereiche der K6rperlichkeit entsprechen dem die Wahmehmungen durch die fiinf Sinne.

Alles Bisherige diente dem Nachweis der These, die hOheren Wesenheiten seien raumlich kleiner als die K6rperwelt. Nun, da Plutarch zum Gegenbeweis ansetzt, fallt der wichtige Satz: (; y&p &eoc;; ~v 't'o~c;; V01j't'O~C;;. Was Gott unter den V01j'r& eigentlich ist, prazisiert Plutarch nicht. Auf keinen Fall sind die Ideen Ge­danken Gottes - von dieser Formulierung macht Plutarch nie­mals Gebrauch. Sondem in einem nicht naher zu bestimmenden Verhaltnis befindet sich das G6ttliche unter den Monaden, unter den unteilbaren Linien. Wie so oft, verschweigt Plutarch die theologische Folgerung, die nun gezogen werden miisste. Die­jenigen Kriteria, durch die man die K6rperwelt ergreift, gleichen Werkzeugen. Der vouc;;, der das einzige Kriterion in der Welt der V01j't'& ist, darf er mit einem Werkzeug verglichen werden, dessen ein menschlicher 'rex,vE'r1jC;; bedarf? Nach dem Quaest. conv. 8. 2 Gesagten (oben, p. 42) wahrscheinlich nicht.

Offenbar hat sich Plutarch durch einen pythagoreischen Ge­wahrsmann lenken und anregen lassen. Wieder und wieder ist Plutarch geneigt, auf die Formulierungen Platons, namentlich im Timaios, zuriickzugehen und auf ihnen seine Beweisfiihrung aufzubauen. Aber diese Beweisfiihrung ist seltsam unorthodox. Es fehlt ganzlich eine Verwendung der auf Xenokrates 15 zuriick­gehenden Definition der Ideen; an ihre Stelle tritt IOore eine in so1cher Form nicht schul-platonische Anwendung des Siegel-

15 Xenokrates t"g. 30 Heinze pp. 169-170: t8ea; ••• .&e(LEVoc; a;h!a;v 7ta;pa;-8ELY(La;TL)(~V T(;)V xa;TcX rpuow dE! cruVEO'T6>Tc.)V.

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lleinrich 1)6rrie

vergleiches.16 Die Konzeption, die Ideen seien Gedanken Gottes fehlt nicht nur; sie ist sogar in diesem Zusammenhang gar nicht vollziehbar. Vielmehr ist der vout;, nicht ausdriicklich mit 6e:6t; gleichgesetzt, eine unter vielen Monaden. Plutarch, der sich in der bezeichneten Polemik als wohlerfahren in der schuliiblichen Terminologie ausweist, hat hier den Versuch gemacht, die Welt; ihre Entstehung und ihre VieWiltigkeit auf die beiden Prin­zipien des Identischen und des Verschiedenen zuruckzufiihren. Ihre Wirkung auf die Welt wird im Bereich des Mathematischen widergespiegelt ClG7te:p ev xoc't"67t't"POLt; (Iooza). Hier hat sich Plutarch, unter entschiedener Ablehnung der offiziellen Ideen­lehre, einer pythagoreischen Vulgat-Uberlieferung angeschlossen. Halt man sich dies vor Augen, so wird unmittelbar einsichtig, warum Plutarch in der Lehre von der Weltenstehung yom Schul­platonismus abwich: Sein Hinneigen zum pythagoreischen Dua­lismus empfahl den Ansatz einer Materie, die im Zustand der Unordnung vor der Weltschopfung besteht. (6) Ahnlich der Prinzipien-Lehre und der auf Xenokrates zu­riickgehenden Definition der Idee lasst Plutarch auch die 6(LOLCUaLt; - Lehre in den Hintergrund treten. Er zitiert sie De sera 5. 550d, zieht aber sogleich eine unorthodoxe Folgerung aus ihr: Xoc't"oc IIAoc't"cuvoc mxv't"cuv XOCAWV 6 .&e:Ot; eocu't"ov ev (Leacp 7tOCpOCae:LY(LOC .&e(Le:vot; 't"~v OCV.&pCU7tLV'1jV ocpe:'t"~v e~o(Lo£cuO"LV ooaocv &(Lcuaye7tcut; 7tPOt; ocu't"6v, eVa£acuaLV 't"o~t; ~7te:a.&OCL .&e:if> aUVOC(LeVOLt;· xoc1 yap ~ 7tOCV't"CUV <puaLt;, &'t"OCX't"Ot; ooaoc, 't"ocu't"'1jV ~axe: 't"~v ocpx~v 't"ou (Le:'t"oc~ocMdv xoc1 ye:vea'&ocL x6a(Lot;, 6(LOL6't"'1J't"L xoc1 (Le:.&e~e:L 't"Lv1 '"it; 7te:p1 ~O .&dov taeoct; xoc1 ocpe:'t"~t;.

Gott hat sich also selbst als 7tOCp&.8e:Ly(LOC gesetzt.17 Mithin bietet er allen Wesen, die ihm zu folgen vermogen,18 Beispiel und

16 Dagegen spielt der Siegel-Vergleich bei Philon von Alexandreia eine ganz ungewohnliche Rolle, so Ebr. 133; Mig. 102 ff.; Mut. 134 ff.; Pug. 13; sehr breit Op. 17-24. Der offizielle Platonismus hat von dieser Metapher, welche die Ideen zum Werkzeug des Schopfers macht, nur sehr vorsichtig Gebrauch gemacht - vor allem mit Riicksicht auf die Einheit der Welt. Ware das Vorbild der Welt einem Siegel gleich, es konnte, ja miisste viele Abdriicke geben.

17 Vgl. oben, p. 43; es liegt die gleiche Konzeption vor, dass Gott yom Vorbild nicht getrennt sein kann.

18 Dies die wichtige, im Platonismus immer wieder vorgetragene Ein­schrankung: Keineswegs haben alle, vielmehr haben nur weruge die Anlage dazu, das -reAoc; zu erreichen.

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Die Stellung Plutarehs im Platonismus seiner Zeit 47

Anreiz zur O!J.O(WO"Le;. Dass dies die Zweckbestimmung fiir den einzelnen Menschen ist, wird urn des grosseren Beispiels willen sogleich verlassen: Die o!J.o£wO"Le;-Formel gilt nicht nur fiir den Menschen, den Mikrokosmos - sondern eben fiir den Makrokos­mos, fUr die Natur des Alls, die - nun im physikalischen Sinne­nach der Verahnlichung mit Gott strebt.

1m iibrigen macht Plutarch keinen Gebrauch von der O!J.O(WO"Le;­Formel. Dass er De sera r7. 560b fordert, ein jeder Mensch miisse ein 7tpo0"6!J.OLOV cX.!J.WcryE7tWe; exE.£v<p in sich tragen; dass er Ad prine. inerud. 3. 780e den Herrscher fiir einAbbild Gottes -etxwv .&eo13 - erklart mit der naheren Bestimmung IXU't'Oe; IXO't'OV ete; O!J.oL6't'1)'t'1X .&ecj> ~L' <xpe't'~e; XIX'&LO"'t'cXe; - das alles erschiittert die eben ausgesprochene Feststellung nicht. la, an der zuletzt zit. Stelle 3. 78ra ist gar die entscheidende Abschwachung zu lesen: 't'oue; ~e 't'1jv <xpe't'~v ~"I)A013V't'IXe; IXU't'013 XlXt 7tpOe; 't'0 XIXAOV XlXt tpL/lcXV.&pW7tOV

<XtpO!J.OL013V't'IXe; EIXU't'OUe; ~M!J.evoe; IXtS~eL". (0 .&e6e;). Das gleiche Konvergieren auf eine ethische Bemiihung Hndet

sich ausgesprochen De sera 5. 550e: ou yap ~o"'t'LV 8 't'L !J.ei:~ov

&v.&pW7tOe; <X7tOAIXUeLV .&eo13 7tEtpuxev ~ 't'0 !J.L!J.~O"eL XlXt ~Lw~eL 't'WV ev hdv<p XIXAWV XlXt <XYIX'&wv ete; <xpe't'1jv XIX,&LO"'t'IXO"'&IXL.

Bei den im Ganzen seltenen Belegen, in denen Plutarch mit der viel diskutierten Formel spielt, bleibt er seltsam im Vorder­griindigen. Er stellt die Verbindung zum Problem der o"W't'1)PLIX nicht her; es fehlt die schon fiir Platon wichtige Verbindung zum 80"LOV und damit fehlt jeder Ausblick auf eine Kathartik, die den Menschen heilswiirdig macht. Warum derlei - in Verbindung mit der o!J.o£wO"Le;-Formel fiir Plutarch kaum Bedeutung hatte, wird klar, wenn man sich Plutarchs Oberlegungen zur Soteriologie und zur Rechtfertigung der menschlichen Seele vor Augen stellt.

c

(r) Ais Zwischen-Ergebnis ist festzuhalten: Plutarch ist mit der Fachsprache des zeitgenossischen Schul­

platonismus vollauf vertraut; er ist auch damit vertraut, in­wiefern wichtige Wendungen (wir nennen sie gern Wander­Zitate) aus Platon hergeleitet sind. Aber ganz offenkundig wider­setzt sich Plutarch der offiziellen Verwendung dieser Wander-

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Heinrich Dorrie

Zitate. Er entzieht sich einer "Sprachregelung," die, wenn man ihr folgt, zu systematischen Ergebnissen fiihrt. Plutarch ist "unorthodox," indem er den in der offiziellen Schule gezogenen Schlussfolgerungen geradezu planmassig ausweicht. Er ist inso­fern ein "besserer Platoniker" als die schulgerechten Vertreter, als er sich seinen eigenen Weg zu Platon durch keine Tradition verlegen lassen will. Sehr lehrreich hierfiir ist sein Ansatz zu Beginn der Schrift De animae procreatione in Timaeo; dort lehnt Plutarch beide Definitionen, die zum Wesen der Seele vorge­tragen sind, als unzureichend ab und nimmt sich vor, einen mittleren Weg zu gehen, der Plat on besser gerecht wird (vgl. cap. 2. I013b).

Es ware unangemessen, von Plutarch ein Gegen-System (ge­richtet gegen das offizielle System) zu verlangen; was er an verschiedenen Stellen, namentlich zur Idee, vortragt, miisste, nahme man's als Teile eines Systems, zu einander in Widerspruch riicken. Wahrscheinlich sind derlei "Widerspriiche" als Ansatze Plutarchs zu verstehen, bestimmten Konsequenzen des offiziellen Systems zu entfliehen.

D

(I) K6nnen nun - yom eben untersuchten Detail abgesehen­die grossen Linien bezeichnet werden, in denen sich Plutarchs Konzeption grundlegend von der des Schulplatonismus unter­scheidet?

Ja - das wird m6glich sein, wenn man es als methodisch zulassig ansieht, die Entschliisselung der drei Mythen,19 die Plutarch in seine Dialoge eingefiigt hat, als Beweisstiick hier einzufiigen.

Den My then liegen - zum Teil in klar erkennbarer Korrektur Platons - zwei hauptsachliche Gedanken zu Grunde:20 Erstens, niemand braucht zu befiirchten, dass er nach dem Tode un­verdienter Qual oder namenloser Schrecknis entgegengeht. Mit den starksten Stil-und Beweismitteln wird der Leser darauf

19 Die Belegstellen: De sera 22. 563b-33. 568a; De gen. 22. 590b-23. 592£; De fac. 26. 940£-30. 945e.

20 Genauer: Ein Gedanke driickt sich in zwei Aspekten aus.

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Die 5tellung Plutarchs im Platonismus seiner Zeit 49

hingedrangt, dass eine schlechthin unbestechliche Gerechtigkeit alle Verfiigung trifft; so ist keine neidische Rache fiir Missetaten zu fiirchten,21 sondern wohltatige Machte, die im Dienste von Weisheit und Gerechtigkeit stehen, wirken darauf hin, dass alles reiner und besser wird. Darum muss Unreinheit, durch bose Taten erworben, freilich in langer und schmerzhafter Reinigung abgelegt werden. Letzten Endes aber ist niemandem der Aufstieg verwehrt.

Die Emphase dieser Theodizee muss in einen Zusammenhang mit eschatologischen Vorstellungen der Gnosis gebracht werden: Dort die Angst um die vollig in Frage gestellte Existenz, die moglicherweise irrationalen oder feindlichen Machten ausge­liefert ist; hier die biindige V ersicherung, dass j edem nach seinem Verdienste geschieht. Zwar konnen die Strafen lang und schreck­lich sein - aber sie sind niemals willkiirlich oder unverdient; an ihrem Ende steht immer das Wieder-Rein-Werden. Insofern enthalten die Jenseits-Mythen Plutarchs eine Antwort auf die geangstigten Fragen, die in der Gnosis laut wurden.

(2) Es ware aber falsch, Plutarch in einen diametralen Gegen­satz zur Gnosis zu riicken. Seine Antwort freilich ist von einem in der Gnosis ungewohnten Optimismus; seine Konzeption von den Vorgangen des Auf- und Absteigens von Seelen hat mancher­lei Analogie zu gnostischen Vorstellungen und ist gerade darum von Vorstellungen Platons weit verschieden.

Denn hierein liegt der zweite Aspekt des oben p. 40 skizzierten Grundgedankens: Dem Aufstieg der gereinigten Seele sind keine Schranken gesetzt; sie kann sich, wenn sie das Seelisch-Triebhafte ablegt, zum reinen vO'Y)1'6v lautern, also zur Idee, und kann als solche zur Einung mit dem intelligiblen Zentralfeuer, der Sonne 22 gelangen.

Diese wichtige Vorstellung hat Plutarch nicht nur in der Ver­schliisselung seiner My then, also IXLV~Y[LIX1'<U~c;)~ gegeben; er hat sie auch im Klartext als eine der wichtigsten Erkenntnisse, ja als ein N aturgesetz formuliel t, so De def. ro. 4ISb ~1'epo~ (sc. qlLA6O"ocpo~)

21 Selbst Nero, wiewohl als Muttermorder mit dem scheusslichsten Makel behaftet, wird wegen des meritum, das er durch die Befreiung der Hellenen erwarb, zu milderer Bestrafung begnadigt.

22 So De taco 30. 944e. Auf die vielfachen Verbindungen, die zwischen Plutarchs Kosmologie und der Solar-Theologie des Poseidonios bestehen , kann hier nicht eingegangen werden.

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So Heinrich Dorrie

~e ILe't'ot~OA;~V 't'o~~ 't'e O'6lILotO'LV OILO(W~ 1tO~OUO'~ Xott 't'ot~~ ljiuXot~~, &O'1tep ex y1j~ (S~wp ex ~'(S~ot't'O~ eX~p ex ~'eX€pO~ 1tUP yeVV6lILeVOV opii't'ot~, 't'1j~

ouO'(ot~ l1vw cpepOIL€V1J~, o(s't'w~ ex ILeV eXv.&p6l1tWV et~ ~PWot~ ex ~'~p6lWV et~ ~ot(ILOVot~ ott ~eA't'(ove~ ljiuxott -r1jv ILe't'ot~oA-YjV AotIL~OCVOUO'LV. ex ~e

~ot~IL6vwv bA(Yot~ ILeV I£'t'~ xp6vCJ) 1tOAACJl ~~' eXpe't'1j~ xot.&otp.&e~O'ot~ 1totV't'OC1totO'~ .&e~6't'1J't'o~ ILe't'€O'xov.23

Schlechtes macht schwer, Frei-Sein von Schlechtem macht leicht. Wenn dieses Axiom gilt, dann muss die Vertikal-Bewegung der Seelen dem gleichen Naturgesetz folgen, das die Stoa ihrer Kosmogonie zu Grunde gelegt hatte: Alles Leichte strebt nach oben; je leichter ein Materie-Teilchen ist, urn so mehr gleicht es dem feurigen 1tveUILot. Der Aufstieg der Seelen wird also durch eine physikalische Selbstverstandlichkeit mehr beschrieben als erklart. Dem Leser bleibt kein Ausweg: er muss diese Gleichung einer Eschatologie mit einem Naturgesetz anerkennen. Es ist so! und es ist ganz einfach!

Damit tritt Plutarch in Widerspruch zu dem Stufungs­Gedanken, der alle platonischen Systeme beherrscht; es ist etwa an den Mythos im Phaidros zu erinnern, wonach die Seele auf die ewigen Ideen schaut; wohl ist solche '&ewp(ot als IL€.&e~~~ voll­ziehbar, ja, dutch sie gewinnt die Seele die Kraft, ihre Bahn auf dem Himmelsrund einzuhalten. Aber es ware unvorstellbar, dass die Seele in das Reich der Ideen aufstiege.

Die Vorstellung von einem mehrfach gestuften J enseits hat Plutarch in breiter Schilderung De gen. 22. SI9b 24 ausgefiihrt. An sich sind diese Bereiche, die einander wie Spharen iibedagern, durch scharf markierte Grenzen von einander abgeschlossen. Aber die gottliche Vorsehung hat an die Stellen, wo sich die Spharen beriihren, je eine der Moirai eingesetzt mit dem Auftrage zu binden und zu losen: Ais die Schliisselbewahrerinnen geben oder versagen diese Machte den Auf- oder Abstieg. Mit anderen Worten, der vierfach gestufte, im Sinne des Schulplatonismus konzipierte Kosmos ist - in entscheidender Abanderung - durch­lassig gemacht worden; wer dessen wiirdig ist, kann in diesem Gebaude auf und absteigen; das De del. or. IO. 4ISb formulierte

23 Vgl. Verg. Aen. 6. 129-130 und E. Norden (ed.), Publius Vergilius Maro Aeneis Buch VI (Stuttgart, 1957), ad loco

24 Vgl. H. Dorrie, "Zur Ursprung der neuplatonischen Hypostasen­lehre," Hermes 82 (1954), pp. 331-342.

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Die Stellung Plutarchs im Platonismus seiner Zeit 5I

Naturgesetz kann in dieser so geordneten Welt vollzogen werden. Offensichtlich geht Plutarch von einer zunachst stoischen

Konzeption aus; er harmonisiert diese mit der platonischen Vorstellung vom vierfach gestuften Weltgebaude, behalt aber den fiir ihn hochwichtigen Gedanken bei, dass ein Auf- und Ab­steigen von Seelen (deren Qualitat sich beim Auf- und Abstieg wandelt) moglich ist.

Vollzieht man diese Gedanken nach, so wird zunachst klar, warum Plutarchs Vorstellung von den Ideen so seltsam gebrochen ist: Die Welt der Ideen - x60"fL0C;; v0'YJ't"6c;; - kann ja bei solcher Konzeption keineswegs als Vorbild alles Irdischen, als 7tOCPcX~e:~YfLOC allein, aufgefasst werden. Die Ideen stellen keine Welt fiir sich - ocu't"oc xoc.&' eocu't"cX - mehr dar, sondem sind in das Gefiige einbezogen.

Da Plutarch die Sonderung zweier Weltseelen, die Platon vollzog,25 nachgebildet hat,26 wird er gem als "Dualist" be­zeichnet. Das ist aber nur fiir jenen engen Bereich zutreffend, wo es urn die Erklarung der Frage geht 7t6.&e:v 't"oc xocXcX - nur hier ist der Ansatz einer bosen Seele sinnvoll, welche die gute Seele daran hindert, sich voll in der Welt zu verwirklichen. Blickt man auf Plutarchs Kosmologie im Ganzen, so ist er in viel hoherem Sinne Monist als die meisten Platoniker. Die von Platon ein­deutig gezogene Grenzlinie zwischen dem "An-und-fiir-sich" und dem Abgeleiteten und Bezogenen ist aufgehoben. Da jede mensch­liche Seele J...6yoC;; enthalt, und da dieser Besitz unverlierbar und unzerstDrbar ist, muss es Wege des Auf- und Abstieges geben. Platons Gedanke von der Teilhabe wird aufgelost und iiberwun­den, das fLe:'t"ex.e:~v wird zum ~x.e:w, das Intelligible, zuvor Objekt der Schau, wohnt der Seele bereits inne.

Alles dieses ist von Plutarch noch keineswegs im Sinne neuplatonischer Systematik formuliert; lediglich Ansatze, die freilich deutlich in diese Richtung weisen, sind den ocMYfLOC't"OC Plutarchs zu entnehmen. Unverkennbar sind erhebliche Teile des stoischen Weltbildes: Die freie Beweglichkeit des Logos, der,

25 PI. Leg. 10. 896e-897e. 26 Plutarch De Is. et Os. 30. 362e ff. beschreibt Typhon als das Symbol

der b6sen Seele; vgI. ferner De an. procr. 5. IOI4b-e. Hier ist der Dualismus durch eine geschichtstheoretische Oberlegung entkrll.ftet: Unordnung und Unvernunft werden durch die ordnende Vernunft iiberwunden: 00 ydtp ex TOU (J.l) 8I/TOt; lj yeveaLt;, &AI..' EX TOU (J.l) xlXAiiit; (J.l)3'txlXviiit; ~XOVTOt;.

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gemass seiner physikalischen und seiner ethischen Valenz, das leichteste "Element" ist und darum zum Aufsteigen drangt, ist ganz offensichtlich stoischen Vorstellungen, vielleicht gar Posei­donios selbst, entnommen und nachgebildet. 1st Plutarch darum Eklektiker? Ganz gewiss ware es einseitig, solchen vorgeblichen Eklektizismus zum bezeichnenden Merkmal Plutarchs zu er­klaren. Jene monistische "Weltsicht" bot Plutarch die Ansatz­punkte, urn die Stufungslehre des Schulplatonismus entscheidend zu korrigieren. Ob dieses Weltbild der stoischen Schule entstamm­te oder nicht, durfte fur Plutarch gleichgiiltig bleiben. Denn er kannte Platons Schriften gut genug, urn zu wissen, dass dieses Weltbild auch aus Platon abzuleiten ist - wenn man den Timaios im Wortsinne nimmt. Mogen die Einflusse einer durch Posei­donios' Schule geformten Stoa auf Plutarch erheblich gewesen sein - dieser durfte die subjektiv berechtigte Dberzeugung hegen, durch selbstandigen Ruckgriff auf einen besser (als von anderen) verstandenen Platon die Wahrheit gefunden zu haben.

E

Diese von Plutarch gefundene und vertretene Kosmologie hat einen ruckwarts gewendeten und einen in die Zukunft weisen­den Aspekt:

(r) Einerseits steht Plutarch auf dem Boden der hellenistischen Philosophie. Dieser Kosmos, dieses Weltgebaude, das uns um­gibt, enthiilt alles; I;>lutarchs Philosophieren "durchstudiert die gross' und kleine Welt" 27 - aber sie dringt, beim Wortsinn ge­nommen, nirgendwo in den Bereich der eigentlichen Transzendenz vor: Man konnte versucht sein, von einer platonisierenden Kon­struktion zu sprechen, die Punkt urn Punkt mit der stoischen Konstruktion konkurriert, ohne deren Bezug auf diese eine Welt je zu verlassen: Tatsachlich hat ja Plutarch dieser Welt kein von ihr gesondertes Paradigma vorgeordnet. Wenn man zu seiner Zeit 28 den Platonismus durch die drei im Grunde gleiches be-

27 J. W. Goethe, Faust I, Studierzimmer, V. 2012.

28 Iustin, Dial. 2. 6 schildert, was ihn an dem Unterricht in der Schule eines Platonikers faszinierte: xlXl [LE ~PEL !1cp68plX ij 'rWV &!1oo[Lch·oov V67)!1Lt; XIX~ ij .&EoopllX 'rWV t8EWV &VE7'C'rSPOU fJ.0U 'rlJV cpp6V7)!1LV ••• XIX~ imo ~AIXXE(IXt; ~A1CL~OV <xo'rlx<x xlX'r6cj1Eo".&IXL 'rov .&E6v· 'rolho yckp 'rSAOt; 'rijt; IIM.'roovoc; CPLAOO"0cpL<xt;.

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Die Stellung Plutarchs im Platonismus seiner Zeit 53

deutenden Merkmale: "Unkorpediches denken; die Ideen schau­en, Gott erblicken" kennzeichnete, so trifft das nur ganz am Ran­de auf Plutarch zu: Sein Philosophieren gilt im Grunde nicht dem voue:;, sondern der Seele; und alle Zugange zum voue:; sind nicht im absoluten Sinne, sondern nur durch das Medium der sich reinigenden Seele praktikabel.

Mit der Genauigkeit des geschulten Systematikers trifft Sy­rian 29 diese Abweichung Plutarchs von der Grundlinie des Pla­tonismus. Zwar sei ihm und seinen Gesinnungsgenossen noch nicht zum Vorwurf zu machen, dass sie die Allgemeinbegriffe, die in der psychischen Substanz ewig anwesend sind, Ideen nann­ten (auch das sind Ideen, nur hat man damit ihre Transzendenz verkannt); sondern der an Abfall grenzende Irrtum Plutarchs bestand darin, dass man jene Trenn-Linie - XCUP£~ELV - nicht zog, also das Transzendente und das Immanente verwirrte und ver­mischte: [J.'YJae: In.ou't"ocPXov xoct 'A 't"'t"LXOV xoct ~'YJ[J.6XPL't"OV 't"oue:; IIf...oc't"cuvLxoue:; xoc't"' ocu't"o 't"ou't"o ~'YJf...OU[J.EV, ()'t"L yE 't"oue:; XOC&6f...OU f...6youe:; 't"oue:; &v oUO'(qt 't"7j IjiUXLX7j aLOCLCUV(CUe:; U7tCXPXOVTOCe:; ~yoUV't"OCL ELVOCL 't"ae:; '~I '~~'!! " I , " I ~.1. ~ LOEOCe:;' ••• oc,.." u[J.cue:; ou XP'YJ O'U[J.qmpELV ELe:; 't"ocu't"o 't"OUe:; 't"'Yje:; 'l'UX'YJe:; A6youe:; xoct 't"ov gVUf...OV XOCAOU[J.EVOV vouv 't"OLe:; 1t'OCpOCaELY[J.OC't"LXOLe:; xoct OCUf...OLe:; EtaEO"L xoct 't"OCLe:; a'YJ[J.LOUpYLXOCLe:; VO~O'EO'LV' OCf...f...' if>O'1t'EP 0 &ELOe:; IIM't"cuv 't"0 [J.e:v ~[J.e't"Epov Ete:; ~V f...OyLO'[J.CJ) O'UVOCLPELO'&OC( cp'YJO'L xoct OCVcX[J.V'YJO'LV E!VOCL 6)V &&EOCO'cX[J.E&cX 1t'O't"E O'U[J.1t'OpEu&eVTEe:; &ECJ), 't"0 ae: &ELOV OCEt XOC't"a 't"a ocu't"OC WO'OCU't"cue:; gXELV, oihcu xoct ocu't"oue:; aLOCLpELV, gO''t"' alv &&ef...CUO'LV ELVOCL TIf...OC't"cuVLxoL

Diese harte Kritik ist berechtigt, ja sie beschreibt Plutarchs Verharren in der Diesseitigkeit richtig, wenn Plutarchs Text nur einem, d.h. wortwortlichen Verstandnis geoffnet werden solI; seiner Ambivalenzen, seiner octv(y[J.oc't"ot, seines achtungsvollen Verschweigens theologischer Aussage wird dann keine Rechnu~g getragen:30 Vermutlich ist seiil Weltbild in den transzendenten

29 Syrian, In Arist. Metaph. M 4, p. lOS. 36 ff. Kroll. 30 Hierzu ein Beispiel: De taco 29. 944e-94Sb wird der Vorgang be­

schrieben, wie die Seele auf dem Monde ein zweites Mal "stirbt," d.h. zu wahrem Leben gelangt und nun in die Sonne eingeht. SolI man hier "physikalisch" die wahrnehmbare Sonne verstehen? Neben und hinter diesem Verstandnis steht die Sonne des Platonischen Sonnen-Gleichnisses, das Zentrum des Intelligiblen: Die Seele ist ein vo7j't'6v geworden; sie vereinigt sich nun mit den iibrigen V07j't'tX. Es liegt am Mythos, dass dies an der Reise vom Mond zur Sonne anschaulich gemacht wird.

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Raum hinein geoffnet 31 - aber keines Menschen Seele hat je soweit dringen konnen.32

(2) Nun ware es fruchtlos, in Spekulationen iiber Plutarchs metaphysische Spitze einzutreten: Er hat dariiber nichts gesagt und nichts sagen wollen, weil es die Aussage-Moglichkeiten dessen, der es findet, und die Verstandnis-Moglichkeit derer, denen es seiner mitteilen mochte, iibersteigt.33

Wohl aber lasst sich der Grund erweisen, warum Plutarch jene fast archaisch anmutende Zuriickhaltung iibt, d.h. den Schritt in die (neu-)platonische Transzendenz absichtsvoll unter­lasst. J ene Antwort (vgl. oben, p. 48 f.), die Plutarch den urn ihre GUl'r'YlPLOC Bangenden gibt, setzt die Offenheit und die Durchlassig­keit der plutarchischen Welt voraus; wer etwa das Gebaude der gegeneinander abgeschlossenen Stufen vertrat - was in der von Justin besuchten platonischen Schule, vgl. oben, p. 52, Anm. 28 offenbar der Fall war, der konnte jene seelische Hilfe ganz zweifellos nicht bieten.

Plutarch widersetzt sich dem herrschenden System, weil es auf dem Wege ist, ein geschlossenes System zu werden. Er errichtet auf platonischer Basis, aber mit weitgehender Eigenwilligkeit, ein offenenes "System" - eine Lehre, die den grossen Vorteil hat, Lebenshilfe bieten zu konnen.

Nun ist es bemerkenswert, in wie hohem Masse Plutarch damit "nach vorne" weist. Gewiss ist er von dem, was fiir Plotin ~VUlGL<;; bedeuten sollte, noch sehr weit entfernt; weit entfernt ist er vor allem davon, die "Eins" aIs den Ur-Faktor von Jenseits und Diesseits zu erweisen. Nichts ist bei ihm davon zu lesen, dass aile VielfaIt der Welt als eine "Entfaltung" der Eins zu ver­stehen sei - kurz, von der weit angelegten Begriindung der Eins-Lehre weiss Plutarch nichts.

Dennoch gibt es fiir ihn eine ~VUlGL<;; als die Erfiillung aIler

81 Das driickt Albinos, Did. 10, p. 164. 18 Hermann aus: ... ()1tE:P iiv ~'t"~ &.voo't"epoo 't"ou't"oov ucpea't"1)xe:v.

32 In den beiden My then, die die Wanderung einer Seele durch den Weltenraum schildern, wird deutlich bezeichnet, dass die menschliche Seele bis zur Sphare des Mondes, aber nicht weiter aufsteigt. Denn auf dem Monde legt sie ihr Seelisches abo

33 Dies der Nachvollzug von Platons Warnungen, das &pP1)'t"ov nicht zu profanieren; eng damit zusammenzuhalten ist Kelsos (bei Origenes) 7.36; 39 und bes. 42; vgl. NAG (1967), 2, 32 ff.

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Die SteUung Plutarchs im Platonismus seiner Zeit 55

Existenz nach dem Tode. Sein ]enseits transzendiert nicht den Raum, es transzendiert die Lebenszeit. In ferner Zukunft wird die Seele zum Daimon, der Daimon zum Gott ;34 dass der Grosse Pan 35 stirbt, ist nicht als seine Aufl6sung, sondern als seine Erh6hung zu verstehen; denn aIle Seelen wandeln sich fruher oder spiiter 36 zur reinsten Substanz und steigen empor. ]edes Sterben ist Aufsteigen 37 und Anniiherung an das H6chste.

Soweit Plutarch vom offiziellen Platonismus entfernt ist, so nahe steht er den Entwicklungslinien, die auf Porphyrios' Schrift De regressu animae hinfuhren; in weiter Entfernung - von Plutarch als selten verwirklicht, aber doch als m6glich erwiesen - wird die als die Vereinung der Seele (oder des Wesent­lichen an ihr) mit der Sonne als dem Fuhrungs-Organ der Welt erkennbar. So wei ten Abstand Plutarch von neuplatonischer Mystik hiilt, so wird doch der Weg sichtbar, der spiiter zur Mystik Plotins und Porphyrios' fUhren soUte.

Auch Plotin hat sich, angeleitet von seinem Lehrer Ammonios, radikal uber die Grenzlinien und Unterscheidungen, die der offizielle Platonismus gezogen hatte, hinweggesetzt. In diesem Schritt hatte er in Plutarch einen Vorgiinger: Beide fanden in der Kosmologie der offizielIen Schule ein System vor, das den heils­notwendigen Aufstieg der Seele schwerlich zuliess ;38 wie fur Plotin (und ganz besonders fUr Porphyrios) wird man fur Plutarch mit alIer Sicherheit diese Schlussfolgerung ziehen durfen: Der Widerspruch gegen das offizielle System ist nicht aus schul-

34 Plutarch De Is. et Os. 362e '0 ... "Oatpt.; xod 1) "I at.; tx lloct[L6vwv ayoc%wv d.; %eou.; [Le't"~AAoc~ocV.

35 Plutarch De dej. or. 17. 419b-e; alle Damonen "sterben" derart und horen damit auf, Mittler von Orakeln zu sein.

36 Dass der letzte Reinigungsprozess viel Zeit erfordere, deutet Plutarch mehrfach an, bes. De jac. 30. 944f und 945a.

37 Darum kommt Plutarch viel auf die Berichtung der herkommlichen Vorstellung an: Die Toten halten sich nicht unter der Erde auf; vielmehr bewegen sie sich in der Richtung des Auf-Steigens, wo der Mond ihr eigentlicher Ruhe- und Aufenthaltsort wird; so bes. De jac. 27. 942d. We1chen Einfluss das Buch des Herakleides Pontikos ausiibte, lasst sich kaum abschatzen. Plutarch zitiert es De lib. et aegr. 5; VII 5. 5 Bernardakis. Vgl. im Dbrigen F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles (Basel, 1944-1959), VII, jrg. 71, 72.

38 Fiir Plotin bestand ein hauptsachlicher Anstoss darin, dass den 1deen eine eigene Existenz ausserhalb des voG.; eingeraumt war; iiber die Kontroversen, die sich daraus dem Schulhaupte Longinos gegeniiber ergaben, vgl. Porphyrios Plot. 18. IO-24.

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56 Die Stellung Plutarchs im Platonismus seiner Zeit

internen Grunden herzuleiten; er war nicht auf theoretische Erwagungen gegrundet. Sondern Plutarch hat, hierin den Be­grundern des Neuplatonismus vergleichbar, etwas von der dran­genden Sorge, ja Beangstigung39 seines saeculum verspurt. Den Auftrag, eben dazu etwas Hilfreiches zu sagen, hat er offen­sichtlich h6her gesteUt, als sich im Einklang mit dem Schul­platonismus zu wissen. Bei ihm wird etwas von einer Offenheit spurbar, die die ubrigen Platoniker seiner Zeit vermissen lassen. Plutarch hielt daran fest, dass die Philosophie magistra vitae sein musse, und er hat diese ihre Funktion einer Zeit gegenuber neu begrundet, die "Leben" im Hinblick auf die ~ax(x:roc verstand. Dass Plutarch sich diese Aufgabe steUte, und dass er, fest in seinem Platon-Verstandnis wurzelnd, darauf Antworten zu geben versuchte, denen die offizielle Schule sich entzog - das begrundet seine besondere Stellung unter den Platonikern jener Zeit.

Munster

39 Zur Charakteristik jener Zeit in diesem Fragen-Bereich hat Wich­tiges zusammengetragen E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age 01 Anxiety (Cambridge, 1965).