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© Copyright Laudius GmbH DE-1055-00-00 Philosophie Lernheft 35 Rückblick: Vom Mythos zum Logos Inhaltsverzeichnis: 35.1 Einleitung ............................................................................................... 2 35.1.1 Orphik .................................................................................................... 3 35.1.2 Mythos und Logos ................................................................................. 4 35.1.3 Sieg der Vernunft?................................................................................. 5 35.2 Zur Bedeutung des Mythischen ............................................................. 7 35.3 Was ist ein Mythos? .............................................................................. 8 35.4 Kampf zwischen Mythos und Logos ...................................................... 8 35.5 Der Mythos in der Entwicklung .............................................................. 9 35.6 Mythos heute ......................................................................................... 10 35.6.1 Die Bedeutung des Mythos für den Menschen ..................................... 11 35.7 Selbstlernaufgabe.................................................................................. 14 35.8 Zusammenfassung ................................................................................ 14 35.9 Hausaufgabe ......................................................................................... 15 35.10 Lösung zu der Selbstlernaufgabe.......................................................... 16 35.11 Anhang .................................................................................................. 16

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Philosophie

Lernheft 35

Rückblick: Vom Mythos zum Logos

Inhaltsverzeichnis:

35.1 Einleitung ............................................................................................... 235.1.1 Orphik .................................................................................................... 335.1.2 Mythos und Logos ................................................................................. 435.1.3 Sieg der Vernunft? ................................................................................. 5

35.2 Zur Bedeutung des Mythischen ............................................................. 7

35.3 Was ist ein Mythos? .............................................................................. 8

35.4 Kampf zwischen Mythos und Logos ...................................................... 8

35.5 Der Mythos in der Entwicklung .............................................................. 9

35.6 Mythos heute ......................................................................................... 1035.6.1 Die Bedeutung des Mythos für den Menschen ..................................... 11

35.7 Selbstlernaufgabe .................................................................................. 14

35.8 Zusammenfassung ................................................................................ 14

35.9 Hausaufgabe ......................................................................................... 15

35.10 Lösung zu der Selbstlernaufgabe .......................................................... 16

35.11 Anhang .................................................................................................. 16

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35.1 Einleitung

Fast am Ende des Kurses angelangt, folgt nun ein Rückblick. Der Logos (Vernunft, Geist) löste den Mythos ab. Mythos – im weitesten Sinne verstanden – bedeutet Wort, Rede, Erzählung von göttlichem Geschehen. Der Mythos begründet und erläutert eine Tradition. Dieses im Kontext der griechischen Geschichte vorgegebene (damit aber noch nicht erschöpfte) Verständnis des Mythos findet sich in allen Kulturen, in denen die Tradition ungebrochene Gültigkeit beanspruchen kann. Darüber hinaus wird sichtbar, wie sehr die heiligen Berichte mit dem Identitätsbewusstsein menschlicher Gemeinschaft verwoben sind. Im Erzählen der Welt wird zwar die Ungesichertheit und Sinnbedrohung des Menschen erst wirklich offenbar, zugleich bedeutet jedoch die Tatsache, dass erzählt werden kann, eine Teilnahme an jenem Sinn, der dem Erzählen (oder besser: dem Artikulieren) grundsätzlich eigen ist. Aus diesem Grunde kann das Wesen des Mythos nicht auf diesen oder jenen Bericht beschränkt werden. Es ist vielmehr das Artikulieren und die Artikulation des Gege-benen als Tat und Tatsache des Menschlichen. In ihm versöhnt sich das Bewusstsein mit den Vorbedingungen, aber auch mit der Entfaltung der eigenen Existenz. Der Mythos entwirft ein Bild des Universums, gibt Rechenschaft von jenem Bild der Welt und des Miteinanderseins, das es als die gegebene Situation entworfen hat. Mit anderen Worten: Der Mythos orientiert und legitimiert, er erinnert an das, was als Orientierung und Legitimation vorgegeben ist. Der Weg vom Mythos zum Logos vollzog sich als allmähliche Loslösung/Kritik von/an der überlieferten Religion. Er stellt den Versuch dar, mit dem Mittel selbstständigen, vernunftmäßigen Denkens die Welt aus natürlichen Ursachen zu erklären. Auf diesem Weg entwickelte sich die Philosophie. An der Schwelle der griechischen Philosophie steht also etwas an sich Unphiloso-phisches, der Mythos. Er ist der Glaube der Gemeinschaft in den großen Fragen von Welt und Leben, Göttern und Menschen, der dem Volk angibt, was es hier zu denken und zu tun hat. Man übernimmt ihn aus der Überlieferung des Volkes, unreflektiert, gläubig und blind. Wie Aristotelkes bemerkt, so ist aber der Freund des Mythos trotzdem in gewisser Hinsicht auch schon ein Philosoph, und zwar deswegen, weil er sich im Mythos mit Problemen beschäftigt, die auch wiederum die Probleme der Philosophie sind. Und darum erwähnt Aristoteles, wenn er die Vorgeschichte einer philosophischen Frage und ihrer Lösungsversuche anführt, gerne auch die Meinungen der „ganz Alten, die einst am Anfang theologisierten“ (zitiert nach Hirschberger). In Frage kommen hier zunächst Homer und Hesiod und ihre Lehren über die Herkunft der Götter (Theogonien) und die Entstehung der Welt (Kosmogonien). So wäre nach der Mythologie Homers die Ursache für alles Werden in den Meergottheiten Okeanos und Tethys zu suchen sowie in dem Wasser, bei dem die Götter zu schwören pflegen, das die Dichter Styx nennen. Bei Hesiod erscheinen das Chaos, der Äther und der Eros als die Uranfänge des Alls. Aber auch andere Probleme werden angeschnitten: Die Vergänglichkeit des Lebens, der Ursprung des Übels, die Frage von Verant-wortung und Schuld, Schicksal und Notwendigkeit, das Leben nach dem Tode und vieles mehr. Immer wirkt sich dabei ein ganz und gar bildhaftes Denken aus, das einen konkreten Einzelfall intuitiv mit den hellen Augen des Dichters erlebt, dann die Intuition verallgemeinernd auf Leben und Welt überhaupt überträgt und so das ganze Sein und Geschehen deutet.

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In diesem Lernheft wird nun versucht, die Entwicklung vom Mythos zum Logos nachzuvollziehen, vor allem aber die Bedeutung des Mythos für den Menschen zu skizzieren und zugleich deutlich zu machen, inwiefern auch heute noch trotz – oder gerade wegen – des Vorrangs des Rationalitätsprinzips ein Bedürfnis des Menschen nach dem Mythos erhalten geblieben ist.

35.1.1 Orphik

Im 6. Jahrhundert kam von den Bergen Thrakiens herab eine neue Mythologie nach Griechenland. In ihrem Mittelpunkt steht der Gott Dionysos, ihr Priester ist Orpheus, der thrakische Sänger. Orpheus gilt nach einigen Überlieferungen als Sohn der Muse Kalliope und des Apollon und als mythischer König aus dem Rhodopengebirge Thrakiens. (Nach anderen Quellen ist der Flussgott Oiagros sein Vater.) Sein Mythos verkörperte die Unsterblichkeit der Seele und vereinte starke orientalische Einflüsse mit den thrakischen Wurzeln. Die Griechen schrieben ihm die Erfindung der Musik und des Tanzes zu. Nietzsche hat später Dionysos zum Symbol des Lebens und des Zustimmens zum Leben in all seinen Höhen und Tiefen gemacht. Der Weingott Dionysos war auch tatsächlich ein Gott des Lebens, nämlich der zeugenden Natur; er wurde in den Bacchanalien in enthusiastischer Erdnähe verehrt. Die Dogmatik der Orphiker war aber alles andere als Lebensbejahung. Es handelt sich vielmehr um eine seltsame Mischung von Askese und Mystik, Seelenkult und Jenseitshoffnung, dass dem Volke Homers noch ganz fremd war. Die Seele ist jetzt nicht mehr Blut, sondern Geist; sie stammt aus einer anderen Welt; sie ist auf diese Erde verbannt zur Strafe für eine alte Schuld; sie ist an den Leib gefesselt und muss mit ihm eine weite Wanderung durchmachen, bis sie von der Sinnlichkeit erlöst wird. Ein Weg zu der erstrebten Reinigung von der Sinnlichkeit waren eine Reihe von Speiseverboten, etwa das Verbot von Fleisch und Bohnen. Goldplättchen, die man dem Toten mit ins Grab gab, bestätigten seiner Seele, dass sie als Reine von den Reinen kommt und dem beschwerlichen Kreise der Geburten entflogen sei. Die Anschauungen der Orphiker über das Schicksal der Seele nach dem Tode werden widergespiegelt in den großen eschatologischen (die Lehre vom Endschicksal des Menschen und der Welt betreffenden) Mythen in den platonischen Dialogen Gorgias, Phaidon und Politeia. Die orphische Dogmatik besaß auch bereits eine gut ausgebildete Theologie und Kosmogonie. Danach stehen am Anfang das Chaos (gähnende Leere, Kluft) und die Nacht. Die Nacht habe ein Ei, das Weltei, erzeugt und daraus sei ein geflügelter Eros hervorgegangen. „Und dieser, mit der gähnenden Kluft gepaart, der geflügelten, nächtlichen, im weiten Tartaros (Unterwelt der griechischen Sage), heckte unser Geschlecht aus und führte es empor ans Licht. Vorher war nicht ein Geschlecht der Unsterblichen, bevor Eros alles miteinander verband, wie sich aber verband das eine mit dem anderen, entstanden Himmel und Ozean und Erde und aller Götter unster-blich Geschlecht.“ Nach einer späteren Quelle wäre der Uranfang des Kosmos ein Drache mit den Köpfen eines Stieres und eines Löwen; in der Mitte habe er aber das Gesicht eines Gottes und an den Schultern Flügel. Bekannt sei er als der nicht alternde Zeitgott. Der Drache erzeuge einen dreifachen Samen, den feuchten Äther, die grenzenlose, gähnende Kluft und das neblige Dunkel, dazu auch wieder ein Weltei.

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All das ist phantasievolle, dichterische Intuition. Man hat in der orphischen Mythologie ‚handgreiflich’ orientalische Tradition gesehen. Insbesondere wäre der Dualismus von Leib und Seele, Diesseits und Jenseits und die weltflüchtige Lebensform seien über-haupt ,ein Tropfen fremden Blutesʼ im Griechentum. Ursprungsland dieser Anschau-ungen mag tatsächlich Indien gewesen sein, da solche Ideen nach 800 v. Chr. in den Upanishaden, den theologischen Erklärungsschriften zu den Veden, auftreten. Sie finden sich auch in der Religion Zarathustras (griech. Zoroaster, er lehrte im zweiten oder ersten Jahrtausend v. Chr. als alt-iranischer Priester) auf der Hochebene des Iran, wie sich aus den ältesten Gâthas (Gesänge) des Zendavest ergibt. (Das Avesta stellt das heilige Buch der auf den iranischen Religionsstifter Zarathustra zurück-gehenden Religion Zoroastrismus dar. Es besteht aus einer Sammlung verschiedener Texte unterschiedlicher sprachlicher und stilistischer Art sowie zeitlicher Abstammung und enthält unter anderem die dem Propheten selbst zugeschriebenen Gathas.)

35.1.2 Mythos und Logos

Aristoteles hat gegenüber dem Mythos mit Recht gesagt, dass er nicht Wissenschaft sei, weil diese archaischen ‚Theologen’ nur das traditionelle Lehrgut weitergaben, aber keine Beweise lieferten. Er stellt ihnen jene gegenüber, die „auf Grund von Beweisen reden“, von denen man darum ein echtes „Überzeugen“ erwarten kann. Damit sind die Philosophen gemeint. Durch dieses methodische Moment des Zweifels, des Beweisens und Begründens unterscheidet er nun doch Mythos und Philosophie, obwohl er zunächst zugegeben hatte, dass der Freund des Mythos in gewisser Hinsicht auch Philosoph sei. Die Philosophie ist gegenüber dem Mythos wirklich etwas Neues. Man lebt nicht mehr blindäugig aus dem Geistesgut der Gemeinschaft, sondern das Individuum wird ganz auf sich selbst gestellt und muss sich frei und mündig allein erarbeiten, prüfend und beweisend, was es denken und für wahr halten will. Das ist eine andere Geistes-haltung als die des Mythos. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass die Fragestellungen des Mythos und auch seine begrifflichen Intuitionen, die in grauer, unkritischer Vorzeit entstanden sind, in der philosophischen Begriffssprache noch weiterleben. Für die philosophische Erkenntniskritik entsteht hier die Aufgabe, zu prüfen, ob die vermeintlichen rationalen Denkmittel der Philosophie auch wirklich alle rational begründet sind. Vielleicht sind sie es nicht; und zwar nicht nur aus einem

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Versagen heraus, sondern auch deswegen, weil der Geist weiter ist als das Wissen und den Mythos in einem positiven Sinn als einen eigenen Weg zur Weisheit einschließt, so dass nur der Wissenschaftsgläubige der Aufklärung entmythologisieren will, während aber Aristoteles mit Recht sagt, dass auch der Mythos – auf seine Weise – philosophiere.

35.1.3 Sieg der Vernunft?

Die griechischen Philosophen suchten nach jenen Prinzipien, die dem Werden und Vergehen der Natur zugrunde liegen, die das Woher und Wohin des Menschen lenken und ihr Zusammenleben bestmöglich regeln. Was heute als Grundlage aller Wissen-schaft gilt, die Reflexion der eigenen Begriffe und Methoden, die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis, entstand in Kleinasien und Griechenland. Hielscher erläutert diesen Zusammenhang: „Die Wiege der abendlän-dischen Philosophie liegt im antiken Griechenland. Einmalige wirtschaftliche und soziale, religiöse und kulturelle Bedingungen wie etwa die Sprache und die Schrift schufen Bedingungen, unter denen das menschliche Denken und Ahnen zwischen Götterglauben und Alltagswelt jene besondere Richtung nahm, die wir Philosophie nennen.“ Dort, in den Epen des Homer und des Hesiod und im Denken der rund dreißig Weisen, die man später die Vorsokratiker nannte, wurde der entscheidende geistige Schritt vollzogen, der mit dieser Folgerichtigkeit und Leidenschaft und mit mehr als zweitausend Jahre anhaltender Wirkung damals nur im antiken Griechenland geschah: der Schritt vom Mythos zum Logos. Damit ist der Übergang von einer mythisch-religiösen Welterklärung mit Hilfe von Göttergenealogien und -geschichten, einer dämonisch belebten Natur und einem in strengen Dogmen und Riten befan genen Alltagsleben zu rationalen Modellen der Welterklärung (logos = Vernunft) gemeint, in denen sich zugleich auch der einzelne denkende Mensch emanzipiert. Wenn die Welt sinnvoll und nach ewigen Gesetzen geordnet ist und der Mensch als Teil dieser Welt in seiner Vernunft ein Werkzeug hat, die Ordnung dieser Welt zu erkennen, dann wird damit der einzelne denkende Mensch aufgewertet, die Vernunft bekräftigt. Der vernünftige Bürger befreit sich somit etwa von den Dogmen einer Priesterkaste oder den irrationalen Vorschriften politischer Tyrannen. (Darum waren Philosophen, wenn sie sich nicht ausdrücklich einer Staatsmacht oder einer politischen Philosophie der Herrschaft verschrieben, immer schon eine Gefahr für die Macht.) Griechenland wurde damit aber gleichermaßen zum Ursprungsort für das abendlän-dische Denken, also für die europäische Philosophie und Wissenschaft, aber auch für die Idee der Ausbildung der Persönlichkeit, für den Gedanken der Gleichberechtigung der Bürger und die Idee des demokratischen Rechtsstaates, der ihnen mit seinen Gesetzen Rechtssicherheit verschafft. Was aber ist die gemeinsame Ursache für eine sinnvoll geordnete Welt und den Verstand, der dies erkennt? Die Philosophie sucht genauso nach dem Ursprung der Welt und ihrer Einheit wie der Mythos, aber sie erzählt keine Geschichten, sondern formuliert Fragen, auf die ihre rationalen Modelle Antworten geben sollen. Sie stellt die gleichen Fragen wie die Religion, aber sie gibt andere Antworten, die nicht in der Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben münden, sondern in eine fortlaufende Geschichte der Vernunft selbst. Sie erforscht die einzelnen Bereiche der Natur, des Menschen und der

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Gesellschaft, genauso wie die Wissenschaften, aber sie fragt nach deren Zusammenhang und denkt über ihre eigenen Methoden und Begriffe nach. Die Philosophie entringt sich dem Mythos und der Religion beziehungsweise der Mystik, ohne dabei nur noch Einzelwissenschaft zu sein; und doch trägt sie die Spuren all dieser in sich. Ihre Geschichte, schon in den Anfängen, spiegelt das Wechselspiel vielfältigster Durchdringung von rationalen und mythischen, religiösen und mystischen Motiven mit solchen der Einzelwissenschaften. Der Anfang allen Philosophierens – diesen Gedanken haben Sie bereits zu Beginn des Kurses in Lernheft kennen gelernt – ist Aristoteles zufolge das Staunen oder das Wundern: „Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat.“ Dieses Unerklärliche waren aber zunächst für die Menschen der Antike die Naturphänomene, die sie umgebende und beherrschende Welt, die Naturgewalten und die Gestirne, das Werden und Vergehen und der Tod. So war die Philosophie des Thales, des Pythagoras, der sich als Erster ‚Philosoph‘ nannte, des Anaximander oder des Heraklit, des Zenon oder des Demokrit in einem sehr weit gefassten Sinne Naturphilosophie. Im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. vollzog sich ein Wandel in der philoso-phischen Spekulation, der im Auftreten einer der bedeutendsten philosophischen Gestalten, nämlich der des Sokrates, gipfelte. Dieser Wandel bezeichnet den Übergang von Beobachtung und Anschauung (theorein) der Natur zum Nachdenken über das Wesen des Menschen, der Gesellschaft und des richtigen Handelns und wie man dieses erkennt. Der Blick wendet sich vom gestirnten Himmel, dem Kosmos, nach innen: Der Gegenstand des Denkens ist nunmehr der Mensch selbst. Zunächst förderte das komplexer, vielfältiger und auch in seinen geistigen Anforder-ungen an den Bürger härter gewordene Leben in Griechenland die Entstehung eines neuen urbanen Ideals der geistigen Bildung, für deren Erlangung man Experten brauchte, Könner, die ihr Wissen und ihr Denken, ihre Rhetorik und ihre Anschau-ungen gegen Geld zur Verfügung stellten, Schulen gründeten und Vorträge hielten: die Sophisten (sophia = Kunst im Sinne von Können, Weisheit). Im Unterschied zu den Naturphilosophen und Weisen untersuchten die Sophisten nicht die Natur, sondern die Kultur und ihre Gesetzmäßigkeiten. Sie dachten nicht spekulativ, indem sie in abstrakten Sätzen nach den hinter der Erscheinungswelt verborgenen Prinzipien, nach Ursprung und Einheit der Welt forschten, sondern induktiv, indem sie von der Erfahrungswelt ausgingen, vom alltäglichen Leben und den Fragestellungen, die dieses aufwarf. Sie wollten keine Schüler heranziehen, die dann wieder Philoso-phen wurden, sondern die Laien bilden. Im günstigsten Fall waren sie Aufklärer, die Bildung verbreiteten, erste Überlegungen zum Naturrecht (jeder Mensch hat von Natur aus bestimmte allgemeingültige Menschenrechte) anstellten, über den Staat als einen formalen Vertrag unter gleichberechtigten Einzelnen nachdachten, die um der Funktion des Ganzen willen einzelne Rechte an den Staat abtraten (was später Rousseau als Contrat social bezeichnete und als Modell moderner Gewaltenteilung ausformulierte). Zugleich waren sie Skeptizisten, die den Menschen in seiner jeweiligen Verfassung zum Maßstab der Erkenntnis machten und eine objektive Erkenntnis ablehnten. Im ungünstigsten Falle waren sie daher totale Relativisten, die ihr Denken und Können jedem, der dafür zahlte, zur Verfügung stellten und die Philosophie als Wahrheit in Misskredit brachten: Sophismus ist bis heute ein Schimpfwort für vertrackte Rhetorik. „Am Ende des 5. Jahrhunderts“, so schreibt Nestle, „hat die

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griechische Philosophie die Bahn, die vom Mythos zum Logos führt, schon vollständig zurückgelegt. Der gebildete Grieche hat sich der Autorität der Religion entwunden und mit seinem Denken auf eigene Füße gestellt.“

35.2 Zur Bedeutung des Mythischen

Was haben wir eigentlich heute noch von Mythen? Wir leben, zumindest im alltäg-lichen Leben, ein eher nüchternes und zu großen Teilen von rationalen Anforderungen bestimmtes Leben, das mit Blick auf das tägliche Funktionierenmüssen wenig Raum für die anderweltlichen Elemente des Mythischen lässt. Und Transzendenz und die Überschreitung der Realität (beziehungsweise des in der Realität Möglichen) sind das wesentliche Gemeinsame, das alle Mythen verbindet. Welchen Platz hat aber der Mythos in einer Welt, die keine Magie gelten lässt, die diese im Alltag auch schlecht gelten lassen kann? Das war in einer vorrationalen Welt, die noch an Götter und die Wirkkraft transzen-denter Kräfte glaubte, natürlich ganz anders; der Mythos hatte eine dem Logos gleichrangige Bedeutung für das Leben. Logos und Technik erlaubten es den römischen Ingenieuren und Handwerkern, eine riesige Flotte von Frachtschiffen zu bauen, die einer Millionenstadt wie Rom zu dem dringend benötigten Getreide verhalf, das beispielsweise in Nordafrika angebaut wurde; der Mythos erklärte zufrieden-stellend, warum alle Ingenieurs- und Handwerkskunst nicht half, wenn die Götter beschlossen, die Flotte im Sturm zu versenken, um Rom einer Hungersnot zu überantworten. Heutzutage, so Weinreich, hilft der Logos dabei, Schiffe zu bauen, die unsinkbar sind; wenn sie dann doch auf dem Meeresboden landen, so ist es nicht mehr der Mythos, der tröstet, sondern die rational durchkalkulierte Versicherungs-leistung, die den entstandenen Schaden mit Geld behandelt. Die moderne Welt ist dem Mythos, wie es scheint, entwachsen. Der Mythos ist verstummt in einer von den Göttern verlassenen Welt. Oder stimmt das doch nicht? In Norddeutschland befällt viele Menschen auch heute noch ein ungutes Gefühl, wenn man eine Kerze vor ihrem vollständigen Abbrennen auspustet, denn der Aberglaube besagt, dass dann ein Seemann sein Leben lassen muss – ein Ereignis, das für den Betroffenen und seine Familie mit rational durchkalkulierten Versicherungsleistungen allein nicht zu reparieren ist. Vielleicht haben die Götter die Welt verlassen, aber der Mensch verspürt noch immer ihren Einfluss. Vom Tod des Mythos zu sprechen, wäre unzutreffend. Denn intuitiv wissen wahr-scheinlich die meisten Menschen, dass das Mythische Bedeutung für uns haben muss, schon weil es die Mehrzahl aller Menschen anspricht und in ihnen etwas zum Schwingen bringt. Diese intuitive Gewissheit (eine von der Rationalität allerdings eher skeptisch gesehene Erfahrungsweise; man traut sich gar nicht, von einer Erkenntnis zu sprechen) ist jedoch eine nicht sehr starke und vor allem individuelle Bedingung, die es schon deshalb wert ist, sie genauer zu untersuchen, sie hinsichtlich möglicher intersubjektiv gültiger Bedeutungen und ihrer Verallgemeinbarkeit und damit bezüglich ihrer gesellschaftlichen Rolle zu betrachten.

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35.3 Was ist ein Mythos?

Eine einheitliche Definition des Mythos ist nicht zu finden. Die meisten Denker, die sich mit dem Mythos beschäftigten, kamen auch zu der Einsicht, dass eine solche Definition wohl nicht möglich ist. Aber der Mythos lässt sich zumindest einigermaßen zuverlässig charakterisieren. Zunächst einmal bedeutet die altgriechische Vokabel Mythos nicht mehr als Erzählung, auch wenn der Mythos schon für antike Denker wie Platon, Hesiod und Aristoteles mehr war als eine beliebige Erzählung. Es ist aber wichtig, festzuhalten, dass der Mythos von erzählerischem Charakter ist. Ein Mythos ist und war immer schon eine Erzählung, die mittels symbolischer Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen, vor allem aber auch in der spirituellen Verfasstheit ihrer Ganzheit zu erklären versuchte. In Prähistorie und Antike war der Mythos ein Mittel zur symbolisch vermittelten Welterklärung, der von fabelhaften und magischen Dingen in vergangenen Zeiten oder außerhalb der realen Welt berichtete. Er hatte den Anspruch, den metaphy-sischen Überbau der Realität zu erklären und die Menschen einerseits durch die Erzählung in das größere Ganze des materiellen wie des spirituellen Kosmos einzubetten, sie andererseits aber auch durch den metaphysischen Verweis mit ihrer beschränkten Lebenssituation (der Erfahrung von Leid, Begrenztheit, Wandel, Tod) zu versöhnen. In dieser Hinsicht war der Mythos immer auch Therapie. Wichtig ist dabei, dass das mythische Denken, also das Denken in Begrifflichkeiten, die dem Mythos und der Mythologie entspringen, „nicht einfach Erzählung ist, sondern mit dem ausgesprochenen Wort einen Wahrheitsanspruch verbindet; die Erzählung bezieht sich auf die Wirklichkeit und vermittelt einen Sinn“ (Knatz). Doch mit dem wachsenden wissenschaftlichen Wissen über Welt und Universum wurde der Mythos immer weiter aus der Rolle des Welterklärers verdrängt. Es begann ein vermeintlicher Kampf zwischen Mythos und Logos.

35.4 Kampf zwischen Mythos und Logos

Die gewaltigen technischen Neuerungen und die politischen wie gesellschaftlichen Verschiebungen, die ausgehend von der Renaissance über die Neuzeit bis in die Moderne geschahen, führten, wie man seinerzeit allgemein annahm, zu einer verdrängenden Entwicklung vom Mythos zum Logos. Francis Bacon äußerte diese Gewissheit schon 1623 in einer Art Unabhängigkeitserklärung der Wissenschaft. Seine Schrift De Dignitate et Augmentis Scientiarium (Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften) beschwor ein neues Goldenes Zeitalter, das die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse errichten würden. Bewusst bediente sich Bacon damit eines uralten mythischen Topos, stand doch die Vorstellung eines Goldenen Zeitalters am Anfang der meisten Mythen der Menschheit. Diese Anspielung erscheint heute jedoch wie ein ironischer Wink des weiterhin bestehenden Irrationalismus. Fortgeführt wurden Gewissheiten Bacon‘scher Art durch Forscher und Denker wie Isaac Newton, Pierre-Simon Laplace oder den Begründer des Positivismus, Auguste Comte, und durch die große Mehrheit der Naturforscher überhaupt. Aber es gab immer auch Denker und vor allem Künstler, die das Gefühl hatten, dass der Logos allein nicht die Gesamtheit des Seins und der Erfahrung zu erklären vermag. Dies drückt sich beispielsweise in den im Glauben wurzelnden Überzeugungen John Lockes über die richtige Verfasstheit eines Staates aus, im

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Unbehagen Blaise Pascals an der Himmelsmechanik Newtons oder in der Klage darüber, dass dieser das Universum entzaubert und zu einem ärmeren Ort gemacht habe. Gebrochen wurde die Gewissheit von der Bedeutungslosigkeit des Mythos aber nicht vor der Erfahrung der Weltkriege, des Totalitarismus und des Atomzeitalters, die den Glauben an die lineare Fortentwicklung der Menschheit erstmals seit Jahrhunderten nachhaltig erschütterten. Der ehedem ungebrochene Fortschritts- und Rationalitätsglaube, insbesondere im Laufe der Industrialisierung, führte nicht nur zur vermeintlichen Verdrängung des Mythischen aus der Lebenswelt der Menschen in Europa und den USA, er führte auch zu der mehr oder weniger deutlich geäußerten Überzeugung, dass Mythos und Logos sich antagonistisch gegenüberstünden, weil beide für sich beanspruchten, in dem Sinne wahr zu sein, da sie jeweils eine zutreffende Weltbeschreibung liefern könnten. Demzufolge müsse einer von beiden untergehen, sich also als falsch erweisen. Dass falsch nur der Mythos mit seinen unhaltbaren Spekulationen über eine dies- wie jenseitige Verfasstheit des Seins sein könne, war dabei selbstverständlich. Reste dieser Überzeugung schwingen heute in den meisten Überlegungen zum Mythos mit und lassen es sinnvoll erscheinen, die Eingangsfrage, was wir heute eigentlich von Mythen haben können, zu stellen, auch wenn sich die Diskussion gewendet hat und man ernsthaft nicht mehr von einem Antagonismus von Mythos und Logos ausgeht, sondern von komplementären Rollen beider. Blumenberg weist ausdrücklich auf eine gleichberechtigte Bedeutung von Mythos und Logos hin, also der irrationalen Überlieferung und des rationalen Weltverständnisses. Unter Anerkennung der Tatsache der grundlegenden Verschiedenheit von Mythos und Logos lässt sich ihre Komplementarität folgendermaßen zusammenfassen: Im Gegen-satz zum Mythos muss der Logos den objektiven Tatsachen entsprechen. Er bezeichnet die geistige Tätigkeit, die wir einsetzen, um etwas in der Außenwelt zu bewirken, wenn wir unsere Gesellschaft organisieren oder Technik entwickeln. Im Gegensatz zum Mythos ist er im Grunde pragmatisch. Da Mythos und Logos sich einander nicht überlappende Grenzen aufweisen, ergänzen sich ihre jeweils eigenen Sphären von jeher: Ein Mythos konnte einem Jäger nicht sagen, wie er seine Beute erlegen oder eine Jagd effizient organisieren sollte, aber er half ihm, mit seinen Gefühlen beim Töten der Tiere umzugehen. Der Logos war effizient, praktisch und rational, konnte aber weder Fragen zum Wert des menschlichen Lebens beantworten noch menschlichen Schmerz und menschliches Leid mildern. Instinktiv begriff der Homo sapiens daher von Anfang an, dass Mythos und Logos unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Dieses Begreifen der Komplementarität der beiden menschlichen Wissenssphären ist aller-dings erst im Zuge der neuen Ungewissheiten nach den Weltkriegen wieder zum Wissensbestand in der Fachdiskussion geworden und in der allgemeinen Diskussion immer noch nicht wieder ganz angekommen.

35.5 Der Mythos in der Entwicklung

Die Komplementarität von Mythos und Logos besteht darin, dass Logos und Mythos verschiedene Rollen haben, die sich gegenseitig nicht übernehmen lassen. Der Logos berichtet vom Faktischen, der Mythos vom Transzendenten: Tod, Grenzerfahrungen, das Unbekannte und Unaussprechliche und das Göttliche (als seinen ganz zentralen Begriff). Daraus entwickelt Armstrong die These, dass der transzendentale Inhalt des Mythos Erklärungsmuster der Realität aus dem Grund widerspiegelt, weil die

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Menschen sich als Mängelwesen (Gehlen) erkannten und Zuflucht auf einer „anderen Ebene suchten, die neben unserer Welt existiert und sie in gewisser Weise trägt“ (Armstrong). Das zeigt sich dann beispielsweise darin, dass wenn Männer und Frauen in der Antike vom Göttlichen sprachen, sie damit meist einen Aspekt des Irdischen meinten. Dieses göttliche Element stellt eine „mächtigere Realität“ dar und bietet Schutz, Anleitung und Erklärungsmuster vornehmlich dadurch, dass es Sinn zu stiften vermag. Und dem Sein Sinn zu verleihen, das ist etwas, dass der Logos per definitionem nicht kann. Logos, das ist das Synonym für wissenschaftliches, für um Objektivität sich mühen müssendes Denken. Der Logos sagt, was ist. Der Logos kann nur beschreiben, was er zu erkennen meint. Einen tieferen Sinn kann er dem Erkannten nicht zuweisen. Der Logos arbeitet deskriptiv, während der Mythos interpretiert. Insofern ergänzen sich Mythos und Logos, wobei auch der Mythos imstande ist, in gewissem Sinne Wahrheiten zu formulieren: „Ein Mythos ist also wahr, weil er wirkt, nicht weil er uns faktische Informationen liefert“ (Armstrong). Zum Problem kann dabei nur werden, dass Interpretationen immer subjektiv bleiben müssen. Wer nicht anerkennen will, was der gerade herrschende Mythos aussagt, der kann mit legitimen Mitteln nicht dazu gezwungen werden. Doch muss dies nicht unbedingt ein Mangel sein. Solange man diesen speziellen Umstand im Bewusstsein behält, kann man ihn (ganz im Gegenteil) zur persönlichen wie gesellschaftlichen Bereicherung nutzen, da die Subjektivität des Mythos letztlich eine nahezu unendliche Verbreiterung der Sichtweisen erlaubt. Im Nachhinein, also beispielsweise in der Rückschau auf die Menschheitsgeschichte, kann der Mythos aber doch wieder wissenschaftlich verwendet werden, dient er doch hervorragend dazu, die Entwicklung des Denkens zu erklären. Denn die Rückschau und die Begutachtung der mythischen Überlieferungen zeigen, wie sehr Mythos und Realität eigentlich verwoben sind, wie alt sie eigentlich sind. Die Anfänge mythischen Denkens in der Altsteinzeit (und sogar früher) sind belegt. Und von Anfang an weisen sie darauf hin, dass der Mythos einen Nutzwert aufweist, den er nur erhalten kann, wenn er die Verbindung zur Realität beibehält, indem er die Realität zu erklären versucht und in ihr Sinn zu stiften verspricht. Der Ursprung mythischen Denkens und mythischer Überlieferung ist dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Todeserfahrung und der mit ihr verbundene Ursprung von Religiosität.

35.6 Mythos heute

Das beharrliche Fortbestehen des Mythos widerspricht dem Programm der Moderne, das in Form des Rationalismus und seiner diversen Strömungen eigentlich angetreten war, um den Mythos endgültig ad absurdum zu führen. Ein Kennzeichen von Neuzeit und Moderne ist die Aufklärung, die „Mythen als nutzlos, falsch und überlebt abtat“ (Armstrong). Das wissenschaftliche Denken versuchte, von nun an als einzig legitime Welterklärung aufzutreten. Und das Credo des wissenschaftlichen Denkens lautet: Jegliche Erkenntnis ist ehrlich, transparent, rückhaltlos und falsifizierbar darzulegen, aber es sind auch nur diejenigen Erkenntnisse als objektivierbar zuzulassen, die empirisch nachweisbar sind. Besonders die empirische Erkenntnis ist nun allerdings im mythischen Denken nicht enthalten. Der in der Verachtung des Mythos liegende Denkfehler der Aufklärung liegt jedoch nicht in diesem Umstand, sondern in einem falschen Vulgärverständnis von Aufklärung selbst.

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Maßgeblich für das Verständnis von Aufklärung ist Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Darin ist aber nichts zu finden von einer prinzipiellen Abwertung der Irrationalität (oder gar des mythischen Denkens). Der Aufklärung im Sinne von Kants Schrift geht es um die Rahmenbedingungen des öffentlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskurses; aus ihnen ist keine Abwertung des Mythos ableitbar. Zwar werden Mythen in der religiösen wie der politischen Praxis immer wieder in propagandistischer Hinsicht formuliert und erzählt, dies widerspricht dem Aufklärungsgedanken allerdings. Der Mythos als subjektives Moment der Welterklärung ist damit aber nicht gemeint und schon gar nicht ist er abgeschafft. Doch wurde die Aufklärung nach Kant falsch als mit dem Mythos unvereinbar gelesen. Folgen hatte die Abwertung des Mythos im westlichen Denken dann natürlich: „Da die meisten westlichen Menschen keinen Gebrauch von Mythen machten, verloren viele jeglichen Sinn dafür“ (Armstrong). Wenn Nietzsche dann am Ende des 19. Jahrhunderts sein „Gott ist tot“ verkündet, so ist das nicht die Proklamation eines Atheisten, sondern Nietzsche beschreibt Gottes Tod als Folge des aufgeklärten Denkens, das dem Gottesmythos keinen Platz mehr lässt. Bezeichnenderweise lässt Nietzsche den „tollen Menschen“, also einen Verrückten, mit einer Laterne auf die vergebliche Suche nach Gott gehen. Die Laterne ist als Lichtspender ein Symbol für die Aufklärung. Nietzsche lässt nun aber jene Menschen den Verrückten auslachen, die schon nicht mehr an Gott glauben, Menschen, die glauben, aufgeklärt zu sein. Die Aufgeklärten erkennen also gar nicht, dass ihr Programm es war, eben das Licht der Aufklärung, das Gott tötete. Sie verstehen aber auch nicht, was die Konsequenz von Gottes Tod ist. Der Verrückte sagt angesichts des Verschwindens des Gottesmythos: „Was taten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“; Nacht und Dunkel sind demnach also die paradoxen Folgen eines falsch verstandenen Lichtes der Aufklärung; in Nacht und im Dunkeln fühlt der Mensch sich verloren, es fehlt ihm etwas. Mythos und mythisches Denken erlangten schließlich wieder mehr Beachtung. Wenn sie schon keine welterklärende Funktion mehr besitzen, so erobern sie doch ihre therapeutische Rolle in Psychologie (Freud, Jung), Philosophie (Cassirer, Blumenberg) und Soziologie (Eliade) zurück. Die Nachricht vom Tod des Mythos, dessen sich Neuzeit und Moderne auf den ersten Blick so gewiss schienen, war wohl doch etwas verfrüht. Das Pendel schlug in den vergangenen 500 Jahren zwar zuerst heftig zugunsten des Logos aus, doch hinterließ all dies auf einer intuitiven und emotionalen Ebene eine Lücke, die Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit bewirkte. Eine Lücke, die erst das mythische Denken zu schließen imstande ist.

35.6.1 Die Bedeutung des Mythos für den Menschen

Was haben wir also heute vom Mythos? Er kann heilen; zu heilen heißt, Dinge wieder zu ihrer Ganzheit zu führen; sie sind heil, wenn all ihre Teile wieder am rechten Platz sind. Der Mythos war als Welterklärungsmuster aber auch als Therapeutikum angetreten. Die Welt zu erklären, vermochte er aber vielleicht niemals wirklich. Denn was wurde wohl wirklich geglaubt, und zwar in dem Sinne, dass Menschen überzeugt gewesen wären, im Mythos Fakten vermittelt zu bekommen? Glaubten die Menschen

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wirklich, Himmel und Erde seien aus dem Körper Tiamats entstanden? Glaubten Sie, dass das Feuer ihnen von Prometheus geschenkt worden sei? Das muss ungewiss bleiben. Aber die Menschen begriffen immer schon, dass die Ordnung dem Chaos abgerungen werden muss und das eben deshalb das Leben immer auch Kampf ist. Und sie verstanden intuitiv, dass der Gebrauch von Feuer und Technik die Menschheit der umgebenden Natur unwiderruflich entfremdete, dass es aber für den Menschen keine Alternative zu Technologien geben würde. Beides sind Beispiele für nicht unbedingt glücklich machende Erkenntnisse. Glück zu spenden, vermag der Mythos auch nur in den seltensten Momenten; aber er vermag es sehr oft, Menschen mit den Faktizitäten des Seins zu versöhnen und zugleich Ausblick und Hoffnung darauf zu geben, dass da irgendwo noch etwas ist, das über diese Welt hinausgeht. Mythisches Denken bleibt ein Therapeutikum, das viele vielleicht nicht brauchen werden, das aber immer da ist, dessen man sich immer bedienen kann – manchmal auch jene, die davon überzeugt sind, seiner niemals zu bedürfen. Welches Bedürfnis, welche Sehnsucht des Menschen wird durch den Mythos befriedigt bzw. gestillt? Zunächst ist aber weiterhin zu fragen, was unter einem Mythos zu verstehen ist. Blumenberg beantwortet diese Frage, indem er sagt: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.“ Im Zuge seiner historischen Phänomenologie untersucht Blumenberg die Leistungen von Unbegrifflichem, also von Metaphern, Mythen, Anekdoten, Fabeln und Gleich-nissen, für das menschliche Selbstverständnis. Die dem Mythos eigene Rationalität ist Blumenberg zufolge ein Mittel der Selbstbehauptung des Menschen und der Befrie-digung der elementaren Bedürfnisse nach Weltvertrauen, Sinn und Geborgenheit: „Der Mythos schafft Vertrautheitsbedingungen nicht nur durch seine allzu menschlichen Geschichten von Göttern.“ Die Leistung des Mythos ist die Gewinnung von Distanz zu einem Ausgangszustand, den Blumenberg „Absolutismus der Wirklichkeit“ nennt, ein Zustand totaler Übermacht und Fremdheit der Wirklichkeit. Die Leistung des Mythos ist auch die Gewinnung eines vertrauten Verhältnisses zur Welt. Somit erfüllt der Mythos das elementare Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit der Welt: „Mythos ist ein dynamisches Prinzip der Sinnstiftung“. Ein solches Bedürfnis wird von den Wissenschaften unbefriedigt gelassen und führt deshalb zu Re-Mythisierungen. Blumenberg zufolge liegt gerade „in der Geschichtslosigkeit die Chancen aller Re-Mythisierungen“. Geschichtslos ist der Mensch im Zeitalter der Post-Historie (vgl. Lernheft 21 Mensch und Geschichte) geworden und sucht gerade deshalb nach einer Verankerung in der Welt. Und deshalb wird gewarnt vor der Gefahr einer remythologisierten Welt, die eine Flucht ermögliche. Eine Mythisierung ist aber schon im Gange (oder sie wird durch den Verlust des geschichtlichen Bewusstseins alsbald erzwungen). Mythen, so kann gefolgert werden, entziehen sich der geschichtlichen Vorstellung von Zeit. Ihre Ursprünge sind nicht zu identifizieren, sie waren sozusagen immer schon vorhanden, bedürfen also nicht eines empirischen Nachweises, sie sind sogar über einen solchen Nachweis erhaben. Sie sind wirklich. „Wirklichkeitsrang bedeutet nicht den empirischen Nachweis; an seine Stelle kann Selbstverständlichkeit, Vertrautheit, archaische Weltzugehörigkeit treten.“ Diese Unanzweifelbarkeit hält Blumenberg für ein wesentliches Merkmal von Mythen: „So sicher es ist, dass Mythen erfunden worden sind, obwohl wir keinen Erfinder und

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keinen Augenblick der Erfindung kennen, wird doch diese Unkenntnis zum Indiz dafür, dass sie zum Bestand des Uralten gehören müssen und alles, was wir kennen, schon in die Rezeption eingegangener Mythen ist.“ Mythen können somit als Bestandteil oder auch als konstituierendes Moment des kollektiven Unbewussten angesehen werden. Mythen, wie die von Prometheus, zeichnen sich nach Blumenberg durch Prägnanz und ikonische Konstanz aus, die im Prozess ihrer Rezeption entstehen und sich erhalten. An die Zurückdrängung des Mythos fällt den Menschen für sie selbst die Figuration eines göttlichen Bewusstseins zu. Die Grundhypothese bei Lévi-Strauss ist ähnlich der Blumenbergs: Die Menschen haben das Bedürfnis, ihre Welt zu deuten und zu verstehen. Lévi-Strauss behauptet, dass „jene Menschen, von denen wir gewöhnlich meinen, sie stünden ausschließlich unter dem Zwang des Überlebenstriebs und könnten unter sehr harten materiellen Bedingungen gerade noch existieren, durchaus zu uneigennützigem Denken fähig sind, d.h. dass sie das Bedürfnis haben, die sie umgebende Welt, deren Natur und ihre eigene Gesellschaft zu verstehen.“ Dabei habe das mythische Denken eine den politischen Ideologien vergleichbare Funktion, in heutigen Gesellschaften werden die Mythen durch Ideologien möglicherweise nur ersetzt. Der Mensch forme sich sein Weltbild unter gewissen geistigen Zwängen; die Art seines Weltbilds bestimmt sehr weitgehend die Art und Weise, in der die Welt auf ihn einwirkt. Wissenschaftliches Denken sei wiederum nur in der Lage, begrenzte Phänomene zu erklären; im Gegensatz dazu sei das mythische Denken „der kürzeste Weg zu einem totalen Verständnis“. Lévi-Strauss hat die Frage nach dem Verhältnis Mythos – Geschichtlichkeit umgangen, indem er sich vorwiegend mit Gesellschaften ohne Geschichte beschäf-tigte, mit Völkern oder Ureinwohnern, die sich selbst als unveränderlich ansahen. Der Archaismus (auch für moderne Gesellschaften) der Techniken und Institutionen dieser primitiven Völker legt für Lévi-Strauss den Schluss nahe, dass sie so, wie sie vor langer Zeit gelebt haben, bis heute geblieben sind. So sei eine Debatte irrelevant, warum sich in manchen Fällen ein Fortschritt ereignet hat und in anderen nicht. Der Mythos hat für Lévi-Strauss keinen Ort in der chronologischen Zeit. Ein Mythos bildet immer eine Dauerstruktur aus, die sich gleichzeitig auf Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft bezieht: „Die Mythologie ist statisch – wir sehen, dass ein und dieselben mythologischen Elemente immer neu kombiniert werden, aber gleich-sam in einem geschlossenen System, im Gegensatz zur Geschichte, bei der es sich um ein offenes System handelt.“ Ebenso ist bei Lévi-Strauss die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur unwesentlich, eine Erfahrung, die die Menschen prägt. Wenn Lévi-Strauss nach den Mythen fragt, fragt er nach dem „unbewussten Charakter kollektiver Phänomene“ und er versucht damit Prinzipien der Gedankenbildung zu entdecken, die für die Menschen allgemeingültig sind; ein Mythos ist eine Art kollektiver Traum, der interpretiert wird und so seine verborgene Bedeutung enthüllt. Ob eine Gesellschaft als höher entwickelt erscheint als eine andere, das ändere Lévi-Strauss zufolge nichts an den sie verbindenden Mythen, die einander ähneln. Stellt man sich die Frage, ob eine Gesellschaft primitiv sei, zieht man zur Betrachtung den Kontrast gegenüber benachbarten Kulturen hinzu; dabei zeigt sich, dass sich die betreffenden Gesellschaften nicht in jeder Hinsicht von ihren zivilisierteren Nachbarn unterscheiden, sondern nur in manchen Aspekten, sich aber auf anderen Gebieten zahlreiche Übereinstimmungen finden lassen. Die damit verbundenen sozialen Strukturen sind Objekte, die unabhängig vom Bewusstsein existieren und so verschieden vom Selbstbild der betrachteten Gesellschaften sein können, dass sie sich von der physischen Wirklichkeit und den Hypothesen, die daraufhin aufgestellt werden, sehr deutlich unterscheiden. Die konstitutiven Einheiten des Mythos sind

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keine isolierten Beziehungen, sondern Beziehungsbündel; jene erlangen nur in Form von Kombinationen solcher Bündel eine Bedeutungsfunktion. Mythen sind nach Lévi-Strauss Ausdruck unbewusster Wünsche, die mit der bewussten Erfahrung nicht zu vereinbaren sind. Mythologie (im Sinne von Lévi-Strauss) beginnt als mündliche Überlieferung im Zusammenhang mit religiösen Zeremonien. Lévi-Strauss ist der Ansicht, dass diese Geschichten die wichtigsten Struktureigenschaften, die sie von Anfang an besaßen, bewahrt haben, so dass sie die Eigenschaften einer nicht-rationalen Universallogik aufweisen. Das Problem besteht allerdings darin, dass die nicht zusammenhängenden Erzählungen ohne direkten Bezug zueinander vorkommen. Die Strukturen müsse man da suchen, wo man sie möglicherweise findet, nicht anderswo, und zwar „in den Systemen der Verwandtschaft, der politischen Ideologie, der Mythologie, des Rituals, der Kunst, der Höflichkeitsformen und – warum nicht? – auch der Küche.“ Dabei können sich Mythen entweder als unverbundene Elemente im Stadium des Zerfalls befinden, als zerstreute Elemente eines ehemals sinnvollen Ganzen oder sie sind als kohärente Systeme im Begriff, die archaischen Elemente fortzuentwickeln, die in eine Ordnung gebracht wurden.

35.7 Selbstlernaufgabe

Wie kommt es – auch heute noch – zur Mythenbildung in der Familie?

35.8 Zusammenfassung

Aristoteles zufolge ist der Mythos keine Wissenschaft, da er lediglich das Wissen aus archaischer Zeit überliefere, ihm fehle das methodische Moment des Zweifels, des Beweisens und Begründens, das die Philosophie charakterisiere. Der Mensch müsse sich vom Hergebrachten emanzipieren, das heißt, dass er ganz auf sich selbst gestellt, frei und mündig, kritisch prüfend und beweisend denken müsse. So suchten die griechischen Philosophen nach jenen Prinzipien, die dem Werden und Vergehen der Natur zugrunde liegen, die das Woher und Wohin des Menschen lenken und ihr Zusammenleben bestmöglich regeln. Was heute als Grundlage aller Wissenschaft gilt, die Reflexion der eigenen Begriffe und Methoden, die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnis, entstand in Kleinasien und Griechenland. Der Schritt vom Mythos zum Logos bildet den Übergang von einer mythisch-religiösen Welterklärung mit Hilfe von Göttergenealogien und -geschichten, einer dämonisch belebten Natur und einem in strengen Dogmen und Riten befangenen Alltagsleben zu rationalen Modellen der Welterklärung (logos = Vernunft). Damit wird der Mensch mit der Vernunft als Werkzeug (die Ordnung dieser Welt zu erkennen) aufgewertet und die Vernunft bekräftigt. Die Philosophie sucht genauso nach dem Ursprung der Welt und ihrer Einheit wie der Mythos, aber sie erzählt keine Geschichten, sondern formuliert Fragen, auf die ihre rationalen Modelle Antwort geben sollen. Sie stellt die gleichen Fragen wie die Religion, aber sie gibt andere Antworten, die nicht in der Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben münden, sondern in eine fortlaufende Geschichte der Vernunft selbst. Sie erforscht genauso die

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einzelnen Bereiche der Natur, des Menschen und der Gesellschaft wie die Wissenschaften, aber sie fragt nach deren Zusammenhang und denkt über ihre eigenen Methoden und Begriffe nach. Der Mythos (eigentlich: Erzählung) war für antike Denker mehr als eine beliebige Erzählung. Der Mythos ist eine Erzählung, die mittels symbolischer Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen, vor allem aber auch spirituellen Verfasstheit und in ihrer Ganzheit zu erklären versuchte. In Prähistorie und Antike war der Mythos ein Mittel zur symbolisch vermittelten Welterklärung, der von fabelhaften und magischen Dingen in vergangenen Zeiten oder außerhalb der realen Welt berichtete. Er hatte den Anspruch, den metaphysischen Überbau der Realität zu erklären, die Menschen einerseits durch die Erzählung in das größere Ganze des materiellen wie des spirituellen Kosmos einzubetten, sie andererseits aber auch durch den metaphy-sischen Verweis mit ihrer beschränkten Lebenssituation (der Erfahrung von Leid, Begrenztheit, Wandel, Tod) zu versöhnen. In dieser Hinsicht war der Mythos immer auch Therapie. Doch mit dem wachsenden Wissen der Wissenschaft über Welt und Universum wurde der Mythos immer weiter aus der Rolle des Welterklärers verdrängt. Dennoch kommt Mythos und Logos eine gleichberechtigte Bedeutung zu, denn trotz der grundlegenden Verschiedenheit von Mythos und Logos lässt sich ihre Komplementarität darin sehen, dass Logos und Mythos verschiedene Rollen haben, die sich gegenseitig nicht übernehmen lassen. Der Logos berichtet vom Faktischen, der Mythos vom Transzendenten: Tod, Grenzerfahrungen, das Unbekannte und Unaussprechliche und das Göttliche (als seinen ganz zentralen Begriff). Somit spiegelt der transzendentale Inhalt des Mythos Erklärungsmuster der Realität aus dem Grund wider, weil die Menschen sich als Mängelwesen erkannten und Zuflucht auf einer anderen Ebene suchten, die neben unserer Welt existiert und sie in gewisser Weise trägt. Der Logos ist hingegen das Synonym für wissenschaftliches, für um Objektivität sich mühen müssendes Denken. Der Logos sagt, was ist. Der Logos kann nur beschreiben, was er zu erkennen meint. Einen tieferen Sinn kann er dem Erkannten nicht zuweisen. Der Logos arbeitet deskriptiv, während der Mythos interpretiert. Insofern ergänzen sich Mythos und Logos, wobei auch der Mythos dazu imstande ist, im gewissen Sinne Wahrheiten zu formulieren. Erst die Rückschau und die Begutachtung der mythischen Überlieferungen zeigen, wie sehr Mythos und Realität eigentlich verwoben sind, wie alt sie eigentlich sind. Die Anfänge mythischen Denkens weisen darauf hin, dass der Mythos einen Nutzwert aufweist, den er nur erhalten kann, wenn er die Verbindung zur Realität beibehält, indem er die Realität zu erklären versucht und in ihr Sinn zu stiften verspricht. Die Leistung des Mythos ist die Gewinnung von Distanz zu einem Ausgangszustand, der mit Blumenberg „Absolutismus der Wirklichkeit“ genannt wurde, ein Zustand totaler Übermacht und Fremdheit der Wirklichkeit. Die Leistung des Mythos ist auch die Gewinnung eines vertrauten Verhältnisses zur Welt. Somit erfüllt der Mythos das elementare Bedürfnis nach der Sinnhaftigkeit der Welt: Der Mythos ist, so Blumenberg, ein dynamisches Prinzip der Sinnstiftung.

35.9 Hausaufgabe

Skizzieren Sie in knappen Worten, worum es in der Entwicklung vom Mythos zum Logos geht.

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35.10 Lösung zu der Selbstlernaufgabe

Mythos bedeutet Geschichte, sagenhafte Erzählung. Eltern erzählen Geschichte und reichen somit Geschichte weiter, aus der Eltern wie auch Kinder (zunächst) ihr Selbstverständnis beziehen. (Mein Vater war …, Meine Großmutter sagte immer …). Mythos wird somit auch für legendär gewordene Personen oder Ereignisse verwendet. Der Begriff des Mythos kann insofern auf die Familie übertragen werden, als analog zum Mythos der Versuch unternommen wird, den Ursprung der Welt (den Ursprung der Familie), die Entstehung der Götter (der angesehenen Verwandten) in Erzählungen zu deuten. Aus seiner sinnstiftenden Funktion heraus gewinnt der Mythos Bedeutung für das Existenzverständnis des Menschen, er ist somit stets auch Ausdruck einer Weltanschauung. Der Mythos weist enge Beziehungen zum Kult auf, der den wiederholenden Nachvollzug (Ritus) mythischer Vorgänge darstellt, analog dazu sind Familienrituale zu sehen, deren Sinn oftmals gar nicht (mehr) erkannt wird.

35.11 Anhang

Literaturverzeichnis:

1. Armstrong, Karen: Eine kurze Geschichte des Mythos, Berlin Verlag. 2005.

2. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 2006.

3. Hielscher, Martin: Woher wir kommen, wohin wir gehen, in: Wolf Schön (Hg.): Die schöne Mutter der Kultur. Unsere Grundlagen in der antiken Welt. Darmstadt 1996.

4. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie, Erster Teil: Altertum und Mittelalter, Freiburg 1996.

5. Knatz, Lothar: Mythos/Mythologie, in: H. J. Sandkühler. Enzyklopädie Philosophie, I. 1999, S. 887 – 894.

6. Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung – Vorträge, Frankfurt/M. 1980.

7. Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1998.

8. Schäfer, Siegfried (Hg.): Vom Mythos zum Logos: Philosophisches Denken zwischen Homer und Sokrates, Berlin 2005.

9. Segal, Robert A.: Mythos. Eine kleine Einführung. Stuttgart 2007.

10. Verweyen, Hansjürgen: Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, Darmstadt 2005.