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5. Der Wirtschaftskreislauf 5.1 Die Idee des Wirtschaftskreislaufs 5.1.1 Der Wirtschaftskreislauf als gesamtwirtschaftliches Modell Die Idee des Wirtschaftskreislaufs dient dazu, flir eine gesamte Volkswirtschaft die gegenseitige Abhangigkeit oder Interdependenz der Wirtschaftssubjekte zu erfassen. Ausgangspunkt sind wirtschaftliche Strome, die zwischen den Wirt- schaftssubjekten flieBen, dabei von einer Stelle ausgehen und unter Umstanden iiber mehrere Zwischenstationen dort wieder ankommen. Der Kreislauf kann sich insoweit beliebig wiederholen, sofem die Kreislaufstrome ihren Umfang beim ProzeB des Umlaufens nicht verandem oder es zu Sickerverlusten bzw. Zufliissen von auBerhalb des Kreislaufs kommt. Ein solcher Kreislauf wirtschaftlicher Strome ist ein Modell fUr die Ablaufe in einer Volkswirtschaft. Die urspriingliche Konzeption dieses Modells geht von der Analogie zum Blutkreislauf im menschlichen Korper aus. Sie wurde insbesondere von dem Phy- siokraten Francois Quesnay (1694-1774) entwickeIt. 1m menschlichen Korper existieren danach zwei in gegensatzlicher Richtung verlaufende Blutkreislaufe aus arteriellem und venosem Blut. Ubertragen auf den WirtschaftsprozeB ergibt sich ein Kreislauf aus realen Strom en und ein entgegengerichteter Kreislauf, der aus Geldstromen besteht. Mittels der Kreislaufidee sollen die wirtschaftlichen Strome zusammengefaBt und auf einfache und plausible Weise gegenseitig verbun- den werden, urn zu einer geschlossenen und widerspruchsfreien, d.h. konsistenten Beschreibung gesamtwirtschaftlicher Abhangigkeiten zu gelangen. Die Strome sind nie vollstandig beobachtbar. Insoweit ist die Idee eines Wirtschaftskreislaufs immer eine gedankliche Konstruktion. Der Kreislauf ist mit anderen Worten ein typisches Modell, mit dessen Hilfe wirtschaftliche Vorgange in einer Volkswirt- schaft insgesamt erfaBt und so strukturiert werden sollen, daB sie aus Sicht des Beobachters schllissig und vollstandig sowie in ihren wechselseitigen Zusammen- hangen deutIich werden. Das Modell eignet sich aber nicht nur zur gedanklichen Einordnung der wirt- schaftlichen Ablaufe in einer Volkswirtschaft in Form eines Kreislaufs, es gibt auch eine Struktur vor, die dazu dient, das Ergebnis der Giiterproduktion einer Volkswirtschaft in einem vorgegebenen Zeitraum zu messen, bzw. die damit ver- bundenen Einkommensstrome zu ermitteln. Die heutzutage liblichen gesamtwirt- schaftlichen GroBen werden daher mit Hilfe einer Kreislaufvorstellung flir die Volkswirtschaft gewonnen. Das Kreislaufmodell zeigt mit der wechselseitigen Abhangigkeit gesamtwirt- schaftlicher Strome auch die Beschrankungen flir das Wirtschaften des Menschen auf. Es bietet daher eine Moglichkeit, die gesamtwirtschaftIich vorliegende Knappheit der Ressourcen einzufangen und fUr die Beschreibung sowie die Erklarung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhange nutzbar zu machen. Denn jede G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre © Physica-Verlag Heidelberg 2002

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5. Der Wirtschaftskreislauf

5.1 Die Idee des Wirtschaftskreislaufs

5.1.1 Der Wirtschaftskreislauf als gesamtwirtschaftliches Modell

Die Idee des Wirtschaftskreislaufs dient dazu, flir eine gesamte Volkswirtschaft die gegenseitige Abhangigkeit oder Interdependenz der Wirtschaftssubjekte zu erfassen. Ausgangspunkt sind wirtschaftliche Strome, die zwischen den Wirt­schaftssubjekten flieBen, dabei von einer Stelle ausgehen und unter Umstanden iiber mehrere Zwischenstationen dort wieder ankommen. Der Kreislauf kann sich insoweit beliebig wiederholen, sofem die Kreislaufstrome ihren Umfang beim ProzeB des Umlaufens nicht verandem oder es zu Sickerverlusten bzw. Zufliissen von auBerhalb des Kreislaufs kommt. Ein solcher Kreislauf wirtschaftlicher Strome ist ein Modell fUr die Ablaufe in einer Volkswirtschaft.

Die urspriingliche Konzeption dieses Modells geht von der Analogie zum Blutkreislauf im menschlichen Korper aus. Sie wurde insbesondere von dem Phy­siokraten Francois Quesnay (1694-1774) entwickeIt. 1m menschlichen Korper existieren danach zwei in gegensatzlicher Richtung verlaufende Blutkreislaufe aus arteriellem und venosem Blut. Ubertragen auf den WirtschaftsprozeB ergibt sich ein Kreislauf aus realen Strom en und ein entgegengerichteter Kreislauf, der aus Geldstromen besteht. Mittels der Kreislaufidee sollen die wirtschaftlichen Strome zusammengefaBt und auf einfache und plausible Weise gegenseitig verbun­den werden, urn zu einer geschlossenen und widerspruchsfreien, d.h. konsistenten Beschreibung gesamtwirtschaftlicher Abhangigkeiten zu gelangen. Die Strome sind nie vollstandig beobachtbar. Insoweit ist die Idee eines Wirtschaftskreislaufs immer eine gedankliche Konstruktion. Der Kreislauf ist mit anderen Worten ein typisches Modell, mit dessen Hilfe wirtschaftliche Vorgange in einer Volkswirt­schaft insgesamt erfaBt und so strukturiert werden sollen, daB sie aus Sicht des Beobachters schllissig und vollstandig sowie in ihren wechselseitigen Zusammen­hangen deutIich werden.

Das Modell eignet sich aber nicht nur zur gedanklichen Einordnung der wirt­schaftlichen Ablaufe in einer Volkswirtschaft in Form eines Kreislaufs, es gibt auch eine Struktur vor, die dazu dient, das Ergebnis der Giiterproduktion einer Volkswirtschaft in einem vorgegebenen Zeitraum zu messen, bzw. die damit ver­bundenen Einkommensstrome zu ermitteln. Die heutzutage liblichen gesamtwirt­schaftlichen GroBen werden daher mit Hilfe einer Kreislaufvorstellung flir die Volkswirtschaft gewonnen.

Das Kreislaufmodell zeigt mit der wechselseitigen Abhangigkeit gesamtwirt­schaftlicher Strome auch die Beschrankungen flir das Wirtschaften des Menschen auf. Es bietet daher eine Moglichkeit, die gesamtwirtschaftIich vorliegende Knappheit der Ressourcen einzufangen und fUr die Beschreibung sowie die Erklarung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhange nutzbar zu machen. Denn jede

G. Graf, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre© Physica-Verlag Heidelberg 2002

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Veranderung der Strome, jede Erweiterung oder Reduktion der Kreislaufzusam­menhange erfordert eine Erkliirung, die innerhalb eines betrachteten Kreislaufs nachpriifbar und konsistent sein mufi.

5.1.2 Kreislaufstrome

Eine einfache, grundlegende Darstellung eines Wirtschaftskreislaufs geht von der Einteilung einer Volkswirtschaft in produzierende und konsumierende wirt­schaftliche Einheiten aus. Die produzierenden Einheiten seien Unternehmen ge­nannt, die konsumierenden Einheiten werden als Haushalte bezeichnet. Die Haus­halte stellen ihre Faktorleistungen (Arbeit und Kapital) den Untemehmen zur Ver­fligung, damit diese Giiter produzieren konnen. Die Guterproduktion flieBt von den Untemehmen an die Haushalte. Diese konsumieren die Guter und sind somit in der Lage, ihre Faktorleistungen in einer weiteren Kreislaufrunde den Untemehmen fiir eine emeute Guterproduktion bereitzustellen. Hiermit ist ein Kreislauf aus realen wirtschaftlichen Stromen dargestellt, der in nachfolgenden Perioden wiederum entsprechend ablaufen kann.

Wird flir die Abwicklung der Strome beispielsweise auf Tauschprozesse unter Verwendung von Geld zuruckgegriffen, so gibt es zu den realen Stromen entgegengerichtete monetare Strome. Die Haushalte erhalten demnach fiir ihre Faktorleistungen Einkommen von den Untemehmen. Dieses Einkommen flieBt im einfachen Kreislauf der Abb. 38 als Konsumausgaben flir den Erwerb der produ­zierten Guter an die Untemehmen zuruck. Der monetare Kreislauf kann grund­satzlich in nachfolgenden Perioden entsprechend ablaufen.

.•.. .......

.... ..•...

............. ~I Einkommen r ......

F aktorleistungen

Untemehmen I . '" .-~ Guterproduktion ..•.

..... .... ...... ....... ........ 1 Konsumausgaben ~ ..

Abb. 38: Ein einfacher Kreislauf

. .....

. ..... . . ....

. .... . ...

Haushalte

. ... . ....

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Der innere reale Kreislaufstrom in Abb. 38 ist kein Kreislauf im wortli­chen Sinne, denn die produzierten Giiter oder die Faktorleistungen laufen nicht vollstandig urn. Sie werden bei den Haushalten bzw. den Untemehmen jeweils im Konsum oder in der Produktion eingesetzt und gehen dabei unter. Nur in Ubertra­gener Bedeutung flieBen sie weiter, da die KonsumgUter zur Wiederherstellung der Arbeitsfahigkeit und damit zu emeuten Arbeitsleistungen in der nachfolgenden Wirtschaftsperiode beitragen. Der in Abb. 38 auBere oder monetare Kreislauf kann hingegen in einer Wirtschaft, die nur Barzahlungen verwendet, ein tatsachli­cher und vollstandiger Kreislauf sein. Das Bargeld wiirde als Einkommen an die Haushalte ausbezahlt, die damit ihre Konsurnausgaben tatigen konnen, was in einer weiteren Wirtschaftsperiode die Untemehmen wiederurn in die Lage versetzt, mit den gleichen Mitteln die Einkommenszahlungen zu finanzieren.

In Kreislaufmodellen werden die Ausgangs- und Endpunkte der wirtschaftli­chen Strome als Pole bezeichnet, die auch fur die wirtschaftlichen Sektoren einer Volkswirtschaft stehen. In der Abb. 38 flieBen daher die Strome zwischen den Sek­toren Untemehmen und Haushalte.

5.1.3 Kreislaufzusammenhange

Die Vorstellung eines Kreislaufs ist nur dann sinnvoll und laBt sich nur insoweit logisch widerspruchsfrei auf tatsachliche wirtschaftliche Vorgange Ubertragen, wenn das sogenannte Kreislaufaxiom beachtet wird. Dieses besagt, daB aIle in einen Pol oder Sektor hineinflieBenden Strome in ihrem Umfang, z.B. in ihrem monetaren Wert, gleich groB sein mUssen, wie die aus dem Pol oder Sektor her­ausflieBenden Strome. Es darf mithin keine Sickerverluste geben, denn sonst ware die Darstellung unvollstandig und es kame zu Widerspriichen oder der Kreislauf konnte sich nicht unverandert wiederholen und fortsetzen. Ein Kreislauf, in dem das Kreislaufaxiom beachtet wird, ist daher immer ein geschlossener Kreislauf.

Diese zunachst nicht von vornherein nachvollziehbare Voraussetzung fUr die Benutzung von Kreislaufmodellen kann an einem Beispielsfall plausibel gemacht werden. FUr den Fall namlich, daB die Haushalte nicht ihr gesamtes Einkommen wie in Abb. 38 fur Konsurnausgaben verwenden, sondem auch einen Teil davon sparen, konnte ein VerstoB gegen das Kreislaufaxiom und die Geschlossenheit des Kreislaufs vermutet werden. Der von den Haushalten wegfiihrende Geldstrom fUr die Erspamis in einer Wirtschaftsperiode muB aber einem anderen Pol des Kreis­laufs zuflieBen, der in der kreislauftheoretischen Betrachtung Vermogensverlinde­rung genannt wird, weil die Erspamis der Haushalte ihrer Vermogensverlinderung in der gleichen Periode entspricht. Der Geldstrom, der zu diesem Pol Vermogens­veranderung flieBt, geht dort aber nicht unter, sondem wird entsprechend wie­derum in den allgemeinen Wirtschaftskreislauf zuriickgefUhrt und dient in aller Regel als Finanzierungsquelle fur Investitionen bei den Untemehmen. Der Kreis­lauf wird mit der Beriicksichtigung des Sparens der Haushalte gegenUber der Abb. 38 erweitert, er bleibt aber insgesamt geschlossen, weil weiterhin aIle Strome voll­standig erfaBt sind und gleichartig weiter flieBen konnen. Die Interdependenz des

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wirtschaftlichen Handelns in der Volkswirtschaft kann damit nachvollzogen wer­den. Dies bedeutet, daB zwischen allen Wirtschaftssektoren eine gegenseitige Abhangigkeit besteht, so daB z.B. Veranderungen an einer Stelle immer auch an anderer Stelle des Kreislaufs zu Ruckwirkungen und entsprechenden Anpassungen ruhren.

Am einfachen Kreislaufschema der Abb. 38 lassen sich im ubrigen Zusam­menhange vergegenwartigen, die in tatsachlichen Volkswirtschaften vielfach hinter der Fulle von Einzelerscheinungen nicht mehr himeichend deutlich werden. So ist den Kreislaufstromen in Abb. 38 zu entnehmen, daB im Umfang der Giiterpro­duktion, die im Sektor Untemehmen stattfindet, nicht nur KonsumgUter an die Haushalte flieBen, sondem daB im gleichen Umfang Einkommen entsteht. Der einfache Kreislauf zeigt damit die grundsatzliche Gleichheit zwischen Giiterpro­duktion und Einkommen auf, wobei nur in dem Urn fang Einkommen entsteht, in dem Giiterproduktion stattfindet.

Die Gleichheit von Giiterproduktion und Einkommen gilt zudem nicht nur in dem einfachen Kreislaufmodell der Abb. 38, sondem auch in weiterent­wickelten Kreislaufen, mit denen volkswirtschaftliche Strome z.B. von auBenhan­delsorientierten Industrienationen erfaBt werden, in denen damber hinaus ein Staatssektor existiert und in denen Finanzstrome uber Banken und Versicherungen geleitet werden. Die Gleichheit von GUterproduktion und Einkommen ist in sol­chen erweiterten Wirtschaftskreislaufen zwar nicht mehr so leicht nachvollziehbar, sie bleibt jedoch prinzipiell erhalten und muB bei der Erfassung der wirtschaftli­chen Strome immer bemcksichtigt werden.

5.1.4 Erweiterungen des Kreislaufmodells

Fiir Volkswirtschaften unserer Tage genugt es nicht mehr, nur die beiden Sektoren Untemehmen und Haushalte und die zwischen diesen flieBenden wirt­schaftlichen Strome zu betrachten. Es ist vielmehr erforderlich, zumindest eine Er­weiterung des Kreislaufinodells urn einen Sektor Staat und einen Sektor Aus­land vorzunehmen sowie einen rein finanziellen Sektor mit zu bemcksichtigen, uber den die finanziellen oder Geldstrome im Inland und mit dem Ausland flieBen.

Derartige Erweiterungen urn zusatzliche volkswirtschaftliche Sektoren ma­chen es zugleich erforderlich, sich bei der Erfassung der Strome im wesentlichen auf die monetaren bzw. Geldstrome zu konzentrieren. Dies dient nicht nur der Ubersichtlichkeit. In einem erweiterten Kreislaufinodell mit Staat, Ausland und einem Finanzsektor treten vielmehr wirtschaftliche Beziehungen oder Strome auf, die keinerlei realen Gehalt haben. Beispiele rur solche ausschlieBlich monetaren Strome sind Steuerzahlungen, Subventionen, staatliche Untersrutzungszahlungen (Renten, Sozialhilfe etc.) und Sparleistungen, aber auch Zahlungen bei der Ver­gabe und der Tilgung von Krediten sowie Umbewertungen von Aktiva. Es liegt daher nahe, sich auf die Geldstrome oder Wertstrome zu beschranken, zumal sie sich yom statistischen Erfassungsverfahren her leichter messen lassen.

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Auch die erweiterten Kreislaufmodelle, mit denen die wirtschaftliche Inter­dependenz in einem groBeren Zusammenhang und unter weitergehender Beachtung tatsachlicher Gegebenheiten abgebildet wird, mussen aus Grunden der Logik und Widerspruchsfreiheit geschlossene KreisHiufe bleiben. Wenn mithin ein weiterer Kreislaufstrom berucksichtigt werden soIl, ist auf das Kreislaufaxiom zu achten, d.h. der weitere Strom darf nicht nur von einem Sektor abflieBen, er moB auch bei einem anderen Sektor zuflieBen und dort in der Folge zu Veranderungen der Strome fUhren. Dies gilt nicht nur fUr die bereits erwiihnten monetaren Strome im Zusammenhang mit dem Sparen der Haushalte. Es ist auch leicht einsichtig, daB eine Einkommensverwendung der Haushalte in Form von Steuerzahlungen an den Staat ebenfalls mit einem geschlossenen Kreislauf darstellbar bleibt, weil die Steu­ermittel yom Staat unmittelbar wieder fUr staatliche Ausgaben verwendet werden. Finanzstrome zum Ausland hin lassen zwar nicht immer den direkten RuckfluB deutlich werden, gleichwohl sind auch reine Geldabflusse an das Ausland mit ei­nem Aufbau oder ZufluB von okonomischen Forderungen verbunden, so daB eine vollstandige Erfassung der Strome wiederum in einem geschlossenen Kreislauf moglich ist.

Die Idee eines Wirtschaftskreislaufs dient zunachst dazu, den Ablauf gege­bener wirtschaftlicher Strome in einer Zeitperiode zwischen ausgewahlten Sektoren oder Polen vollstandig zu erfassen und zu beschreiben. Das einfache Kreislauf­schema stellt dabei bewuBt auf eine stationare Wirtschaft ab, bei der sich an den GesamtgroBen der Produktion und des Einkommens einer Beobachtungsperiode zu nachfolgenden Perioden hin nichts verandert. Der WirtschaftsprozeB fUhrt dement­sprechend in dem Modell des stationaren Wirtschaftskreislaufs zu fortwahrend gleichen Produktions- und Einkommensgro8en.

Dieses Bild der stationaren Wirtschaft und ihrer fortwahrenden Gleichf6rmig­keit stimmt mit den Beobachtungen der konkreten wirtschaftlichen Umwelt nicht uberein. Dort sehen wir vielmehr Phiinomene wie Wachstum der Guterproduktion und des Einkommens oder Schwankungen der Guterproduktion im Konjunktur­verlauf sowie Veranderungen der Produktionsbedingungen durch technischen Fortschritt. Es ist Aufgabe der fortgeschrittenen Wirtschaftstheorie, derartige Phanomene zu analysieren und ihre Ursachen und Auswirkungen in Kreislaufzu­sammenhange einzubeziehen, so daB daraus eine dynamische Abfolge sich an­demder KreislaufgroBen erkennbar wird.

Eine solche dynamische Analyse muB allerdings darauf achten, daB die sich andemden Produktions- und EinkommensgroBen in einer jeweiligen Periode weiterhin durch einen Kreislaufzusammenhang miteinander verbunden sind und die AnstoBe zu den Anderungen sich in diesen logischen Zusarnmenhang einordnen lassen mUssen. Diese komplexe Aufgabenstellung wird von den vorliegenden wirt­schaftstheoretischen Modellen keinesfalls zufriedenstellend gelost. Es ist allerdings nicht Aufgabe dieses Lehrbuchs auf entsprechende Erweiterungen des Kreis­laufrnodells fUr dynamische Wirtschaftsprozesse einzugehen, zumal dafUr auch Methoden erforderlich waren, die das Grundlagenwissen bei weitem Ubersteigen.

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III

Die nachfolgende Betrachtung des Wirtschaftskreislaufs wird sich auf ausge­wahIte Aspekte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen beschranken, die seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Industrielandern aufbreiter Basis nach international abgestimmten Verfahren aufgestellt werden. 1m Vordergrund steht dabei die Erfassung der gesamtwirtschaftlichen Produktions- und Einkom­mensgroBen. Die damber hinaus in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen enthaltenen gesamtwirtschaftlichen Rechenwerke, wie z.B. die Input-Output-Rech­nung, die Vermogensrechnung oder die Finanzierungsrechnung werden hier nicht erIautert. W ohl aber wird im Kapitel 11 noch auf die Zahlungsbilanz als Bestand­teil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen einzugehen sein.

5.2 Volkswirtschaftliche Sektoren

5.2.1 Eine einfache Abgrenzung der Sektoren

Volkswirtschaften unserer Tage bestehen aus Millionen selbstandiger wirt­schaftlicher Entscheidungseinheiten oder Wirtschaftssubjekte, die sich in GroBe, Verhalten und wirtschaftlicher Betatigung recht weitgehend voneinander unter­scheiden. Will man aus gesamtwirtschaftlicher Sicht die Wirtschaftstatigkeit erfas­sen, wird zunachst eine Systematisierung oder Ordnung der Wirtschaftssubjekte erforderlich sein, damit man groBere Einheiten bilden kann, die besser uberschau­bar sind. 1m Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung war es ublich, die Wirtschaftssubjekte nach ihrem wirtschaftlichen Verhalten und nach ihrer Stellung zum Markt und den daraus resultierenden Finanzierungsmoglichkeiten in Sektoren zusammenzufassen. Dies wird auch als Aggregation oder Zusammenfassung nach institutionellen Gesichtspunkten bezeichnet. Diese einfache Einteilung hat zu vier gesamtwirtschaftlichen Sektoren gefiilirt, den Unternehmen, den private Haushal­ten, dem Sektor Staat und dem Ausland.

Zum Sektor Unternehmen rechnen aile Institutionen, die vorwiegend Waren und Dienstleistungen, d.h. Guter, produzieren und diese gegen spezielles EntgeIt verkaufen, das Uberschusse abwerfen, zumindest jedoch annahernd die Kosten decken soIl. Das zentrale Kriterium hierbei ist die Produktion von Gutern und deren entgeltliche VerauBerung. Ob dabei im Einzelfall ein Gewinn erzielt wird, bzw. in einigen Perioden ein Verlust entsteht, ist eher nachrangig.

Der Sektor private HaushaIte bietet den anderen Wirtschaftssektoren Fak­torleistungen an und bezieht daraus Einkommen. Er erhalt im ubrigen Einkom­men aus Ubertragungen (Renten, Pensionen, Wohngeld, Kindergeld, Sozialhilfe etc.). Das Einkommen wird fiir Konsumausgaben und fiir die Ersparnis ver­wendet. Es wird daneben unterstellt, daB private Haushalte nicht produzieren. Damit wird die in privaten Haushalten stattfindende produktive Tatigkeit wie Ko­chen, Was chen, Heimarbeit etc. nicht als Giiterproduktion gewertet.

Der Sektor Staat produziert ebenfalls Guter, vornehmlich offentliche Gu­ter, die er in der Regel der Allgemeinheit unentgeItlich zur Verfiigung stellt.

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Dber den Sektor Staat vollzieht sich der Uberwiegende Teil der Einkommensum­verteilung in der Volkswirtschaft. Seine Mittel erhalt der Staat hauptsachlich durch Zwangsabgaben. Zum Sektor Staat gehOren die Gebietskorperschaften, d.h. Bund, Lander, Gemeinden einschlieBlich der Gemeindeverbande, sowie die Sozialversicherung.

SchlieBlich werden aile Wirtschaftseinheiten, die ihren stiindigen Sitz oder Wohnsitz auDerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben, unabhangig von ihrer StaatsangehOrigkeit und von der Art ihrer wirtschaftlichen Tatigkeit zum Sektor "ubrige Welt" zusammengefaBt. Die ubrige Welt oder der Auslandssektor wird nieht weiter nach einzelnen lnstitutionen untergliedert.

5.2.2 Die volkswirtschaftlichen Sektoren im ESVG 1995

Die oben dargestellte einfache Abgrenzung der Sektoren entsprieht dem Vorgehen in der fiiiheren Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Seit 1999 wird in Deutsch­land das Europiiische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen, ESVG 1995, angewandt. Das ESVG 1995 beruht auf dem revidierten System of National Accounts, SNA 1993, das im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelt wurde und das fiiihere SNA aus 1968 abgelost hat. Das neu konzipierte ESVG 1995, welches nach einer Verordnung des Europaischen Rates in den EU-Landem zugrunde zu legen ist, fiihrt zu einer Reihe von ..Anderungen gegenuber den bisheri­gen Konzeptionen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, was sich auch bei der Sektorenabgrenzung niederschlagt. Dernnach werden die nachfolgenden fUnf inliindischen Sektoren unterschieden: • Die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften produzieren marktbestimmte Wa­

ren und nichtfinanzielle Dienstleistungen. Zu diesem Sektor zahlen die Kapital­gesellschaften, wie AG's und GmbH's. AuBerdem sind Personengesellschaften, wie Offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften und abgeleitete Rechtsformen Bestandteil dieses Sektors, sie werden als Quasi-Kapitalgesell­schaften bezeichnet. Hinzugerechnet werden zudem die rechtlich unselbstandi­gen Eigenbetriebe des Staates und der privaten Organisationen ohne Erwerbs­zweck, wie Krankenhauser, Pflegeheime sowie die Wirtschaftsverbande. Der Sektor niehtfmanzielle Kapitalgesellschaften wird noch in drei Teilsektoren untergliedert: Offentliche nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften, private nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften und ausliindische nichtfinanzielle Kapi­talgesellschaften (diese werden von gebietsfremden institutionellen Einheiten kontro lliert).

• Die finanziellen Kapitalgesellschaften betreiben Tiitigkeiten des Kredit- und Versieherungsgewerbes. Zu diesem Sektor zahlen auch die entsprechenden Hilfsgewerbe wie Effekten- und Warenterminborsen, Versicherungsmakler, Versicherungsvertreter etc. 1m Sektor finanzielle Kapitalgesellschaften werden fUnf Teilsektoren unterschieden: Zentralbank, Kreditinstitute, sonstige Fi­nanzinstitute (u.a. Leasinggesellschaften, Factoringgesellschaften, Wertpapier­handler und Handler, die flir eigene Rechnung mit derivativen Finanzinstru-

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menten handeln), Kredit- und Versicherungshilfstatigkeiten wie z.B. Makler, Versicherungsgesellschaften und Pensionskassen.

• Der Staat befaBt sich mit der Produktion von nichtmarktbestimmten Waren und Dienstleistungen fUr den Kollektiv- und Individualverbrauch, finanziert sich primar mit Zwangsabgaben und ist in der Umverteilung von Einkommen und Vermogen tatig. Zum Staat zahlen die vier Teilsektoren: Bund, Lander, Gemeinden und die Sozialversicherung.

• Die privaten Haushalte umfassen Einzelpersonen und Gruppen von Einzelper­sonen in ihrer Funktion als Konsumenten und auch in ihrer Eigenschaft als Pro­duzenten soweit sie fUr den Markt produzieren. Zu diesem Sektor zahlen nun auch Untemehmen ohne eigene Rechtspersonlichkeit (u.a. selbstandige Land­wirte, Einzeluntemehmer, Freiberufler), da angenommen wird, daB sich bei die­sen Untemehmerhaushalten Untemehmens- und Privatsphare nicht vollstandig voneinander trennen laBt. Die Tatigkeit des Sektors private Haushalte besteht somit im Konsum und in Unternehmertatigkeit. Eingeschlossen sind Perso­nen und Personengruppen, die Waren und nichtfinanzielle Dienstleistungen ausschlieBlich fUr die eigene Endverwendung produzieren. Die yom ESVG ge­messene Giiterproduktion fUr den Eigenkonsum bezieht sich auf die Nutzung eigener Wohnungen und die Leistung bezahlter Hausangestellter. Der Sektor private Haushalte wird in secbs Teilsektoren untergliedert: Selbstandigenhaus­halte, Arbeitnehmerhaushalte, Haushalte von Vermogenseinkommensbeziehem, Haushalte von Renten- und Pensionsempfangem, sonstige Nichterwerbstati­genhaushalte (z.B. Sozialhilfeempfanger), sonstige private Haushalte (z.B. Per­sonen, die auf Dauer in Anstalten leben). Die Zuordnung der privaten Haus­halte zu den Teilsektoren erfolgt anhand der groJ3ten Einkommenskategorie des privaten Haushalts insgesamt.

• Die privaten Organisationen obne Erwerbszweck produzieren nichtmarktbe­stimmte Waren und Dienstleistungen fUr den Kollektiv- und den Endverbrauch. Ihre Hauptmittel stammen, von etwaigen Verkaufserlosen abgesehen, aus frei­willigen Geld- oder Sachbeitragen, die private Haushalte in ihrer Eigenschaft als Konsumenten leisten, aus Zahlungen des Staates sowie aus Vermogensein­kommen. Zu den privaten Organisationen ohne Erwerbszweck zahlen Gewerk­schaften, Fachverbande und wissenschaftliche Gesellschaften, Verbraucherver­bande, politische Parteien, Kirchen, soziale und kulturelle Vereinigungen, Sport- und Freizeitvereine, Wohlfahrtsverbande sowie Hilfswerke und Ent­wicklungshilfeorganisationen.

Die fiinf Sektoren sind Sektoren im Inland. Sie bilden zusammen die Volkswirt­schaft oder das Inland. Die Volkswirtschaft besteht mit anderen Worten aus ge­bietsansassigen Einheiten, die den Schwerpunkt ihres wirtschaftlichen Interesses im Wirtschaftsgebiet des Inlandes haben.

Diese flinf Sektoren im Inland konnen nun mit gebietsfremden Einheiten Transaktionen durchfUhren und insoweit mit der tibrigen Welt in wirtschaftlichen Kontakt treten. Die Ubrige Welt wird dann wie ein weiterer Sektor behandelt. Der Sektor der iihrigen Welt soIl einen Gesamruberblick tiber die Wirtschaftsbezie-

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hungen zwischen dem Inland und den Einheiten in der ubrigen Welt geben. Der Sektor der ubrigen Welt wird dabei als GlobalgroBe gesehen und nicht zusatzlich in institutionelle Einheiten untergliedert.

5.3 Okooomische Strome ood Bestiinde

5.3.1 Die Erfassong des Wirtschaftsgeschehens in Konten

Das Wirtschaftsgeschehen in einer Volkswirtschaft laBt sich im wesentlichen als Kreislauf von StrorngroOen verstehen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums ablaufen. Die StromgroBen bestehen zurn einen aus Transaktionen. Dies sind meist Wirtschaftsprozesse zwischen zwei oder mehreren institutionellen Einheiten. Es werden jedoch auch einige Vorgange innerhalb von institutionellen Einheiten den Transaktionen zugeordnet. Zurn anderen fiihren Verrnogensanderungen ebenfalls zu Stromen. Beide Strome werden mit Hilfe von Konten gebucht. Daneben beriicksichtigt das ESVG 1995 auch Bestande. Die BestandsgroBen beziehen sich auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Bestande an Aktiva und Passiva. Sie werden am Anfang und am Ende jedes Rechnungszeit­raums in den als Vermogensbilanzen bezeichneten Konten ausgewiesen.

Die Transaktionen bewirken beispielsweise fur einen bestimmten Aspekt des Wirtschaftsgeschehens ein Aufkornmen und eine Verwendung von Gutem und finanziellen Mitteln, die mit einem Transaktionskonto nach dem Muster des Konto 1 erfaBt werden. Die rechte Seite der Konten fur die laufenden Transaktionen wird als Aufkommensseite bezeichnet. Sie enthalt die Transaktionen, die fur eine Ein­heit oder einen Sektor zu einer Wertzunahmen fuhren. Die linke Seite der Trans­aktionskonten weist den WerteabfluB fur eine Einheit oder einen Sektor aus, sie ist die Verwendungsseite.

Konto 1: Aufbau eines Transaktionskontos Verwendung der Mittel oder Aufkommen der Mittel oder WerteabfluB Wertzunahme

Die rechte Seite der Vermogensanderungskonten wird wie in Konto 2 mit Veranderung der Passiva, die linke Seite mit Veranderung der Aktiva bezeichnet.

Konto 2: Aufbau eines Yermo ensanderungskontos Veranderung der Aktiva Veranderung der Pass iva

Eine Verrnogensbilanz enthalt auf der linken Seite der Bilanz oder des Bi­lanzkontos die Aktiva bestehend aus Vermogensgutem und Forderungen und auf der rechten Seite die Pass iva, die neben den Verbindlichkeiten das Reinvermogen umfassen. Eine entsprechende Vermogensbilanz ist in Konto 12 unten ausgewie­sen.

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Bezogen auf einzelne Einheiten oder Sektoren ist jede Transaktion nach dem Prinzip der doppelten Buchfiihrung zweimal zu buchen, einmal auf der Autkommensseite oder der Seite Veranderung der Pass iva und einmal auf der Verwendungsseite oder der Seite Veranderung der Aktiva. Damit wird die Konsi­stenz der Konten untereinander sichergestellt, wie sie u.a. das Kreislaufaxiom fordert.

5.3.2 Die Kontenabfolge im ESVG 1995

Das ESVG 1995 verwendet eine Folge von miteinander verbundenen Konten, wobei das vollstandige Kontensystem aus Konten fUr die laufenden Transaktionen, Vermogensanderungskonten und Vermogensbilanzen besteht. Das Kontensystem erlaubt es, den Wirtschaftskreislauf von der Entstehung von Einkommen tiber dessen Verteilung und Umverteilung bin hin zum EinfluB auf die Vermogensbe­stande abzubilden. Die Kontenabfolge ist yom ESVG 1995 fUr aile inlandischen Sektoren und fUr die Volkswirtschaft insgesamt vorgegeben. Sie setzt sich im we­sentlichen aus den nachfolgend aufgefiihrten Einzelkonten zusammen. In der vor­liegenden Darstellung wird die Abfolge mit Ausnahme der Produktionskonten an­hand ausgewahlter Konten des Sektors private Haushalte erlautert. Dies ist eine bewuBte Vereinfachung. Sie soli dazu dienen, die Zusammenhange beispiel haft zu verdeutlichen. Selbstverstandlich existieren fUr die weiteren Sektoren und die Volkswirtschaft insgesamt gleichfalls entsprechende Konten bzw. Kontenabfolgen. Eine vollstandige Darstellung der Kontenabfolgen fUr alle institutionellen Einhei­ten wlirde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit tibersteigen. • Das Produktionskonto enthalt die Transaktionen, die den ProduktionsprozeB

abbilden. Es stellt auf der Aufkommensseite den Produktionswert dar. Dies ist der Wert aller Gtiter, die im Rechnungszeitraum produziert werden. In ei­nem einzelwirtschaftlichen Produktionskonto, z.B. im Konto 3 fUr ein Unter­nehmen aus dem Sektor nichtfmanzielle Kapitalgesellschaften, besteht der Pro­duktionswert aus der Marktproduktion und der Nichtmarktproduktion fUr die Eigenverwendung. Der Produktionswert wird zu Herstellungspreisen bewertet. Auf der Verwendungsseite werden die Vorleistungen gebucht. Diese messen den Wert der im ProduktionsprozeB verbrauchten, verarbeiteten oder umgewandelten Waren und Dienstleistungen. Die Vorleistungen werden zu An­schaffungspreisen bewertet. Als Saldo des Produktionskontos ergibt sich auf der Verwendungsseite die WertschOpfung, die angibt, was von einer Einheit selbstandig durch die Produktionstatigkeit an okonomischem Wert geschaffen worden ist. Die WertschOpfung kann vor oder nach Abzug der Abschreibungen, brutto oder netto ausgewiesen werden. Die Abschreibungen messen im we­sentlichen die Wertminderung des Anlagevermogens wiihrend einer Peri ode durch normalen VerschleiB und wirtschaftliches Veralten. Die Nettowert­schOpfung setzt sich zusammen aus den Einkommensbestandteilen Arbeitneh­merentgelt und Vermogenseinkommen wie Zinsen und Gewinne.

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Konto 3: Einzelwirtschaftliches Produktionskonto Verwendun

Vorleistungen BruttowertschOpfimg

Abschreibungen N ettowertschOpfimg

Autkommen Produktionswert

Marktproduktion Nichtmarktproduktion flir die Eigenverwendung

Anhand des einzelwirtschaftlichen Produktionskontos bleibt darauf hinzu­wei sen, daB die GroBe Produktionswert als MaBgroBe fur den Output oder das Produktionsergebnis Doppelzahlungen enthalt, weil im Produktionswert auch die Vorleistungen enthalten sind. Die BruttowertschOpfung hingegen ist eine urn Doppelzahlungen bereinigte GroBe, die auf den individuellen Beitrag ei­ner wirtschaftlichen Einheit zur gesamten Giiterproduktion in der arbeitsteiligen Volkswirtschaft abstellt.

1m Konto 4, dem Produktionskonto fUr die gesamte Volkswirtschaft, werden auf der Aufkommensseite neben dem Produktionswert der Giiter noch die Giitersteuern abziiglich der Giitersubventionen gebucht. Giitersteuem umfassen die nichtabziehbare Umsatzsteuer, Importabgaben und sonstige Ver­brauchsteuem. Giitersubventionen sind Subventionen, die bei produzierten oder eingeflihrten Waren und Diensdeistungen yom Staat oder Institutionen der Europaischen Union an gebietsansassige Produzenten geleistet werden. Auf der Verwendungsseite des gesamtwirtschaftlichen Produktionskontos ergibt sich nach Abzug der Vorleistungen das Bruttoinlandsprodukt als Summe der Bruttowertschopfimgen oder nach Abzug der Abschreibungen das Nettoinland­sprodukt. Sowohl das Bruttoinlandsprodukt als auch das Nettoinlandsprodukt werden zu Marktpreisen bewertet. Die Bewertung zu Marktpreisen fur das Bruttoinlandsprodukt ergibt sich dadurch, daB zu dem Produktionswert zu Her­stellungspreisen noch der Saldo von Giitersteuem abziiglich Giitersubventionen hinzugerechnet wird.

Konto 4: Gesamtwirtschaftliches Produktionskonto Verwendun

Vorleistungen Bruttoinlandsprodukt

Abschreibungen Nettoinlandsprodukt

Autkommen Produktionswert Giitersteuem abziiglich Giiter­subventionen

• Das Einkommensentstehungskonto flir den Sektor private Haushalte zeigt in Konto 5 die Zusammensetzung der auf der Autkommensseite gebuchten Netto­wertschOpfung. Sie besteht aus den Arbeitnehmerentgelten und den sonstigen Produktionsabgaben abziiglich der sonstigen Subventionen. Die sonstigen Pro­duktionsabgaben urnfassen z.B. Grundsteuem, betriebliche Ktz-Abgaben und Umweltabgaben. Zu den sonstigen Subventionen zahlen Subventionen flir die

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Beschaftigung von Korperbehinderten oder Langzeitarbeitslosen, Subventionen zur Verringerung der Umweltverschmutzung und Zinszuschiisse. Auf der Ver­wendungsseite weist das Einkommensentstehungskonto daneben den Betriebs­iiberschuB aus, der die Entgelte aus Eigennutzung von W ohnraum umfaBt. 1m iibrigen wird das Selbstandigeneinkommen aufgefiihrt, das die von Mitgliedem dieses Sektors bezogenen Arbeitsentgelte enthalt, die auBerdem nicht von den in ihrer Eigenschaft als Untemehmer erzielten Gewinne unterschieden werden konnen.

Verwendun Arbeitnehmerentgelt sonstige Produktionsabgaben ab­ziiglich sonstige Subvention en BetriebsiiberschuB Selbstandigeneinkommen

rivaten Haushalte Autkommen

N ettowertschopfung

Das Einkommensentstehungskonto der privaten Haushalte enthalt nur Ein­kommensbestandteile, die an die Giiterproduktion des Sektors selbst gebunden sind. Nun beziehen die privaten Haushalte vomehmlich aus ihrer Beteiligung an der Giiterproduktion in anderen Sektoren Einkommen. Insoweit spielen sich Einkommensverteilungen zwischen den Sektoren abo Diese zu erfassen, ist die Aufgabe des primaren Einkommensverteilungskontos.

• Das primare Einkommensverteilungskonto der privaten Haushalte zeigt sie in ihrer Eigenschaft als Empfangende von Primareinkommen. Primareinkom­men ist das Einkommen, das hier die privaten Haushalte aufgrund ihrer unmit­telbaren Teilnahme am ProduktionsprozeB erhalten, sowie das Einkommen, das der Eigentiimer eines Vermogenswertes oder eines nichtproduzierten Sachver­mogensgegenstandes dafiir erhalt, daB er einer anderen institutionellen Einheit finanzielle Mittel oder nichtproduziertes Sachvermogen zu Verfiigung stellt, wie es Konto 6 ausweist.

Vermogenseinkommen

Primareinkommen

rivaten Haushalte

Selbstandigeneinkommen Arbeitnehmerentgelt Vermogenseinkommen

Das Primareinkommen besteht aus dem BetriebsiiberschuB und den Selb­standigeneinkommen, den Arbeitnehmerentgelten sowie aus der Differenz von empfangenen (Autkommensseite) und geleisteten (Verwendungsseite) Vermo­genseinkommen.

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• Das Konto der sekundaren Einkommensverteilung zeigt, wie das Primarein­kommen durch Umverteilungsvorgange, wie Einkommen- und Vermogensteuer usw., Sozialbeitrage und - leistungen und sonstige laufende Transfers gebildet wird. Zu den sonstigen laufenden Transfers zahlen beispielsweise auf der Ver­wendungsseite Nettopramien fUr Schadenversicherungen und auf der Autkom­mensseite Schadenversicherungsleistungen. Der Saldo des Kontos der sekunda­ren Einkommensverteilung ist das verfUgbare Einkommen als Ergebnis laufen­der Transaktionen. Dieses Konto der sekundaren Einkommensverteilung wird in Konto 7 wie beschrieben als Konto der sekundaren Einkommensverteilung nach dem Ausgabenkonzept dargestellt.

Konto 7: Konto der sekundaren Einkommensverteilung der privaten Haushalte (Ausgabenkonze t)

Verwendun Einkommen- und Vermogensteuem Sozialbeitrage sonstige laufende Transfers verfiigbares Einkommen (Ausgaben­konzept)

Autkommen Primareinkommen monetare Sozialleistungen sonstige laufende Transfers

Daruber hinaus gibt es das Konto der sekundaren Einkommensverteilung nach dem Verbrauchskonzept, das die StromgroI3en erganzend berucksichtigt, die der Verwendung von individuellen Waren und Dienstleistungen entspre­chen und die den privaten Haushalten kostenlos zur VerfUgung gestellt werden. Bei diesen Stromgrofien handelt es sich urn soziale Sachtransfers. Die sozialen Sachtransfers besitzen in der deutschen Volkswirtschaft eine durchaus beachtli­che Dimension und konnen insoweit das verfUgbare Einkommen nach dem Verbrauchskonzept nennenswert erhohen. Das entsprechende Konto ist hier gleichwohl nieht dargestellt, da es grundsatzlich nur die Ausweitung des ver­fUgbaren Einkommens wie in Konto 7 um die Sachtransfers ausweist.

• Das Einkommensverwendungskonto zeigt fUr die institutionellen Einheiten, die Letztverbraucher sind, wie das verfUgbare Einkommen auf den Konsum und das Sparen aufgeteilt wird. Lediglich beim Sektor Staat, den privaten Organisa­tionen ohne Erwerbszweck und den privaten Haushalten wird die Position Kon­sum gebucht. Zusatzlich wird im Einkommensverwendungskonto der privaten Haushalte und der Pensionskassen ein Korrekturposten ausgewiesen, und zwar die Zunabme betrieblicher Versorgungsanspruche. Das Einkommensverwen­dungskonto fUr private Haushalte hat beispielsweise nach dem Ausgabenkon­zept den in Konto 8 enthaltenen Aufbau.

1m ESVG 1995 wird neben dem Ausgabenkonzept fUr die Einkommens­verwendung noch ein Verbrauchskonzept unterschieden. Dabei sind die so­zialen Sachtransfers als Autkommen neben dem verfiigbaren Einkommen mit­berucksichtigt. Die Haushalte konnen dernnach nicht nur ihr monetares verfUg­bares Einkommen fUr den Verbrauch verwenden. Ihnen stehen daruber hinaus

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Sachtransfers fUr den Konsum zur Verfiigung, fUr die sie keine Ausgaben lei­sten mussen. Der Aufbau des Einkommensverwendungskontos andert sich al­lerdings nicht, wenn man yom Verbrauchskonzept ausgeht. Beim Ver­brauchskonzept ist der Konsum lediglich als Individualkonsum zu sehen, der im Umfang der sozialen Sachtransfers uber die rein monetaren Konsumausgaben hinausgeht.

Verwendun Konsumausgaben Sparen

skonto fUr private Haushalte Autkommen

verfiigbares Einkommen Zunahme betrieblicher Versor­gungsanspriiche

• Das Konto der Reinvermogensanderung durch Sparen und Vermogenstrans­fers ist ein Stromkonto. Es laBt die Veranderung des Reinvermogens aufgrund von Sparen und Vermogenstransfers erkennen. Die Reinvermogensanderung entspricht dem Sparen (netto) zuziiglich empfangener und abziiglich geleisteter Vermogenstransfers.

Konto 9: Konto der Reinvermogensanderung durch Sparen und Vermo enstransfers

Veranderun der Aktiva Veranderun der Passiva Reinvermogensanderung durch Sparen und Vermogenstransfers

Sparen, netto zu empfangende Vermogenstransfers zu leistende Vermogenstransfers

• Das Sachvermogensbildungskonto zeigt den Nettozugang an Vermogensgu­tern. Dieser ergibt sich gemaB Konto 10 aus den Bruttoanlageinvestitionen ab­ziiglich der Abschreibungen, den Vorratsveranderungen, dem Nettozugang an Wertsachen sowie dem Nettozugang an nicht produzierten Vermogensgutern. Zugleich wird die Finanzierung des Nettozugangs an Vermogensgutern aus Sparen, Vermogenstransfers und dem Finanzierungssaldo dargestellt.

Konto 10: Sachvermo Veranderun der Aktiva

Bruttoanlageinvestitionen Abschreibungen V orratsveranderungen Nettozugang an Wertsachen Nettozugang an nichtproduzierten Vermogensgutern Finanzierungssaldo

Veranderun der Passiva Reinvermogensanderung durch Sparen und Vermogenstransfers

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Wenn auf der linken Seite des Kontos lO ein positiver Finanzierungssaldo (FinanzierungstiberschuB) verbleibt, so tragt die entsprechende Einheit zur Fi­nanzierung der Vermogensbildung anderer Einheiten oder Sektoren bei. Ein ne­gativer Finanzierungssaldo (Finanzierungsdefizit) zeigt, urn wieviel sich eine Einheit oder ein Sektor bei anderen Einheiten oder Sektoren zusatzlich ver­schuldet hat.

• Das in Konto 11 dargestellte Finanzierungskonto zeigt die Veranderungen der Forderungen und Verbindlichkeiten, aus denen sich der Finanzierungssaldo zu­sammensetzt. Zu den Forderungen zahlen u.a. Geldbestande, Wertpapiere, An­teilsrechte und versicherungstechnische Rtickstellungen. Die Verbindlichkeiten bestehen im wesentlichen aus Krediten.

Konto 11: Finanzierun skonto Veranderun der Aktiva Veranderun der Passiva

Nettozugang an Forderungen Nettozugang an Verbindlichkeiten Finanzierungssaldo

• Das Konto sonstiger Vermogensanderungen erfaBt Veranderungen der Ak­tiva und Verbindlichkeiten, die nicht mit dem Sparen oder mit freiwilligen Vermogenstransfers zusammenhangen. Hierzu zahlen die sonstigen realen Ver­mogensanderungen wie Katastrophenschaden oder Enteignungen. Daneben werden in Umbewertungskonten die Veranderungen des Wertes der Aktiva und Verbindlichkeiten ausgewiesen, die auf Preisanderungen zuruckzufiihren sind. Die Berucksichtigung der sonstigen Vermogensanderungen und Umbewertun­gen ist erforderlich, urn einen vollstandigen Zusammenhang zu den nachfol­genden Vermogensbilanzen herstellen zu konnen. Die Konten der sonstigen Vermogensanderungen sind hier nicht dargesteIlt, sie weisen als Saldo die Reinvermogensanderung durch sonstige reale Vermogensanderung und durch Umbewertung aus.

• Vermogensbilanzen sollen einen Uberblick tiber die Aktiva, die Verbindlich­keiten und das Reinvermogen der Einheiten am Anfang und am Ende des Rech­nungszeitraums sowie tiber die Veranderungen des Wertes der Vermogensbe­stande zwischen diesen beiden Zeitpunkten geben. Sie bestehen insoweit aus drei Teilbilanzen: einer Bilanz zum lahresanfang, einer Bilanz zum lahresende und einer Bilanz, in der die Vermogensanderungen durch Sparen und Vermo­genstibertragungen, durch sonstige reale Vermogensanderungen und durch Umbewertungen erfaBt sind. Die Bilanz am lahresende (und am lahresanfang) hat folgendes Aussehen:

Konto 12: Yermo ensbilanz am lahresende Aktiva

Vermogensgtiter F orderungen

Passiva Verbindlichkeiten Reinvermogen

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Die von den Produktionskonten bis zu den Vennogensbilanzen reichende Kontenabfolge des ESVG 1995 wird noch erganzt durch ein Giiterkonto, in dem fUr die Gesamtwirtschaft oder fUr Gutergruppen das Aufkommen (Produktion und Import) und die Verwendung von Gutem (Vorieistungen, Konsum, Vorratsveran­derungen, Bruttoanlageinvestitionen, Nettozugang an Wertgegenstanden sowie Exporte) gezeigt werden.

SchlieBlich stellen Konten der iibrigen Welt die Transaktionen zwischen gebietsansassigen und gebietsfremden Einheiten dar. Die ubrige Welt als solche ist kein institutioneller Sektor, spielt jedoch eine vergleichbare Rolle. Das AuBen­konto und seine Teilkonten (Transaktionskonten, Vennogensanderungskonten und Vennogensbilanzen) werden aus der Sicht der ubrigen Welt erstellt.

5.3.3 Bewertungen und Abgrenzungen

1m ESVG 1995 werden die Strom- und BestandsgroBen in monetaren Einheiten ausgewiesen. Dabei erfolgt die Bewertung nach ihrem Tauschwert, d.h. grundsiitz­lich zu Marktpreisen. Liegen keine Marktpreise vor oder lassen sie sich nicht von vergleichbaren Giitem ubertragen, so sind, wie etwa bei den nichtmarktbestimmten Dienstleistungen des Staates, die Produktionskosten zur Bewertung heranzuzie­hen. Die BestandsgroBen werden zu den am Bilanzstichtag jeweils geltenden Prei­sen bewertet.

Wesentlich fUr die Erfassung wirtschaftlicher Tatigkeiten in einer Volkswirt­schaft ist der Produktionsbegriff, der benutzt wird, wen man eine Produktionsta­tigkeit von anderen Aktivitaten abgrenzen mochte. Produktion ist generell eine unter Kontrolle und Verantwortung einer institutionellen Einheit ausgefiihrte Tatig­keit, bei der diese Einheit durch den Einsatz von Arbeitskraften, Kapital sowie Wa­ren und Dienstleistungen andere Waren und Dienstieistungen produziert. Fur die statistische Erfassung ist die Moglichkeit der Bewertung der Produktion zentral. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung stellt hierbei grundsiitzlich auf die Marktbestimmung abo Danach liegt Giiterproduktion insoweit vor, als ein Gut (Ware oder Dienstieistung) auf dem Markt einen positiven Preis erzielt. Der Markt als gesellschaftlicher ProzeB fiihrt zur Bewertung von Tatigkeiten oder Bestands­groBen und laBt somit deren okonomischen Wert erkennen. Es gibt allerdings auch Giiterproduktion, die nicht uber Markte abgesetzt und bewertet wird. Hierzu zahlen Dienstieistungen des Staates und nichtmarktbestimmte Guter von privaten Organi­sationen ohne Erwerbszweck. Diese werden mangels Marktpreisen von der Ko­stenseite her bewertet.

Bei der Giiterproduktion werden drei Produktionsarten unterschieden: die Marktproduktion, die Nichtmarktproduktion fiir die Eigenverwendung und die sonstige Nichtmarktproduktion. Marktproduktion ist die Herstellung von Giitem, die auf dem Markt verkauft werden oder verkauft werden sollen. Zum marktbe­stimmten Produktionswert zahlen beispielsweise die zu wirtschaftlich signifikanten Preisen verkauften Guter, wobei in der Regel ein wirtschaftlich signifikanter Preis angenommen wird, wenn die Verkaufseriose mehr als 50 % der Produktionskosten

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decken. Nichtmarktproduktion fUr die Eigenverwendung umfaBt die selbstpro­duzierten Giiter, die von einer institutionellen Einheit fUr ihren eigenen Konsum oder fUr ihre eigenen Bruttoanlageinvestitionen verwendet werden. Die hauslichen und personlichen Dienste, die ein privater Haushalt fUr sich selbst erbringt, werden jedoch nicht hinzugerechnet. Sonstige Nichtmarktproduktion ist der Produkti­onswert, der anderen Einheiten unentgeltlich bzw. zu wirtschaftlich nicht signifi­kanten Preisen zur Verfiigung gestellt wird. Die Sonstige Nichtmarktproduktion erfolgt vomehmlich beim Sektor Staat und bei den privaten Organisationen ohne Erwerbszweck.

Die Bewertung zu konstanten Preisen heiBt, daB die StromgroBen einer Pe­riode zu Preisen einer frUheren Periode bzw. die BestandsgroBen eines Zeitpunkts zu Preisen eines frUheren Zeitpunkts bewertet werden. Auf diese Weise sollen die im Zeitablauf aufgetretenen Veranderungen der Werte der Strom- und BestandsgroBen in Preis- und in Volumenanderungen aufgegliedert werden. Strom­und BestandsgroBen in konstanten Preisen werden als Volumenangaben bezeich­net. Sie sollen die rein mengenmaOige Entwicklung erkennbar machen. Um zu den Volumenangaben zu gelangen, ist eine Preisbereinigung, eine Deflationie­rung, erforderlich. Deflationierte Strom- und BestandsgroBen werden als GroBen in Realwerten bezeichnet.

Der Zeitpunkt der Buchung bei StromgroBen orientiert sich am Grundsatz der periodengerechten Zurechnung. Der Buchungszeitpunkt ist mithin der, zu dem ein wirtschaftlicher Wert geschaffen, umgewandelt oder aufgelOst wird bzw. zu dem Forderungen oder Verbindlichkeiten entstehen, umgewandelt oder aufgehoben werden. Das Produktionsergebnis wird daher nicht gebucht, wenn der Kaufer es bezahlt, sondem wenn es produziert wird. Der Verkauf eines Vermo­gensgegenstandes wird wiederum unabhangig yom Zahlungszeitpunkt zu dem Zeitpunkt ausgewiesen, zu dem das Eigentum wechselt. Zinsen werden in der Peri­ode gebucht, in der sie auflaufen, unabhangig davon, ob sie in dieser Periode tat­sachlich gezahlt werden.

Konsolidierung bedeutet, daB Transaktionen zwischen Einheiten, die dersel­ben Gruppe von Einheiten angehOren, sowohl auf der Autkommens- als auch auf der Verwendungsseite ebenso wie wechselseitige Forderungen und Verbindlichkei­ten eliminiert werden. Dies erlaubt eine groBere Dbersichtlichkeit.

5.4 Die wichtigsten gesamtwirtschaftlichen GroDen

5.4.1 Entstehung des Inlandsprodukts

Die Kontenabfolge fUr die Sektoren der Volkswirtschaft gibt zwar ein detailliertes Bild der wirtschaftlichen Vorgange und ihrer Zusammenhange in einer Zeitperiode. Fur makrookonomische Analysen, wirtschaftspolitische Aussagen und fUr zeitliche und raumliche Vergleiche sind aber die aus den Konten insgesamt gebildeten volkswirtschaftlichen Aggregate von groBerer unmittelbarer Bedeutung. Die we-

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sentlichen Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden daher mit Hilfe gesamtwirtschaftlicher GroBen zusammengefaBt, wobei die Aggregate das Ergebnis der Wirtschaftstatigkeit der Volkswirtschaft unter bestimmten Ge­sichtspunkten zeigen. Ein so1cher Gesichtspunkt besteht darin, die Entstehung der Giiterproduktion im Inland aufzuzeigen. Die Entstehungsrechnung hat daher folgenden Aufbau:

Produktionswerte zu Herstellungspreisen der Wirtschaftsbereiche im Inland - V orleistungen zu Anschaffungspreisen = BruttowertschOpfung zu Herstellungspreisen (unbereinigt) - Unterstellte Bankgebiihr = BruttowertschOpfung zu Herstellungspreisen (bereinigt) + Giitersteuem abziiglich GUtersubventionen = Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) - Abschreibungen = Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen (NIP).

Die Entstehungsrechnung verdeutlicht mithin, wie man ausgehend von der Giiterproduktion der Wirtschaftsbereiche (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Produ­zierendes Gewerbe, Handel) iiber aIle Sektoren im Inland zu einem gesamtwirt­schaftlichen Aggregat fUr die Giiterproduktion gelangt. Ausgangspunkt sind die Produktionswerte, die bei den produzierenden Einheiten mit ihren Herstellungs­preisen erfaBt werden. Wie im Zusammenhang mit der Darstellung des gesamtwirtschaftlichen Produktionskontos in Konto 4 oben bereits erlautert wurde, sind in den Produktionswerten Doppelzablungen enthaIten, wenn ein Gut bis zur endgiiltigen Vennarktung mehrere Umsatzprozesse durchlauft. Urn diese Dop­pelzahlungen zu vermeiden, ist es daher erforderlich, die Vorleistungen vom Produktionswert insgesamt abzuziehen. Als Resultat ergibt sich die Bruttowert­schOpfung, die gesamtwirtschaftlich zunachst als unbereinigte Bruttowertschop­fung ausgewiesen wird.

In der unbereinigten Bruttowertschopfung ist noch eine von der amtlichen Statistik hinzugeschatzte GroBe enthaIten, die "unterstellte Bankgebiihr". Die unterstellte Bankgebiihr besteht aus Entgelten fUr Bankdienstleistungen, die des­halb unterstellt werden, urn fUr Kreditinstitute, die nur fUr einen Teil ihres lau­fenden Geschafts Gebiihren erheben und sich im iibrigen aus der Differenz zwi­schen empfangenen Zinsen und gezahlten Zinsen finanzieren, einen gegeniiber anderen Wirtschaftsbereichen vergleichbaren Produktionswert und damit eine vergleichbare Bruttowertschopfung nachweisen zu konnen. Nach Abzug der un­terstellten Bankgebiihr von der unbereinigten BruttowertschOpfung erhaIt man die bereinigte BruttowertschOpfung. Sie wird erhebungstechnisch zu Herstellungs­preisen ennittelt. Herstellungspreise sind der Betrag, den ein Produzent der GUter vom Kaufer erhalt ohne die auf die produzierten oder verkauften Giiter zu zahlende Steuem aber einschlieBlich der Giitersubventionen. Urn zu den Marktpreisen der WertschopfungsgroBe zu gelangen, ist es deshalb erforderlich, den Saldo aus Gii-

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tersteuern abzUglich GUtersubventionen hinzuzurechnen. Daraus ergibt sich eine gesamtwirtschaftliche Bruttowertschopfung zu Marktpreisen oder das Brut­toinlandsprodukt zu Marktpreisen.

Das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) ist die Ma8gro8e fUr die im Inland produzierten Giiter. Das BIP millt den Wert der GUterproduktion im Inland in einer Zeitperiode, wobei Doppelzahlungen ausgeschaltet sind.

Die Abschreibungen messen die Wertminderung des Anlagevermogens wah­rend einer Periode durch normalen Verschleill und wirtschaftliches Veralten, unter EinschluB des Risikos fUr Verluste von Anlagevermogen durch versicherbare Schadensfalle. Abschreibungen sind auf das gesamte Anlagevermogen zu berech­nen. Eingeschlossen in das Anlagevermogen werden nach dem ESVG 1995 auch zivil nutzbare militarische Einrichtungen und Bauten sowie offentliche Tietbauten wie StraJ3en, Brucken und Wasserwege. Auch immaterielles Anlagevermogen, wie Suchbohrungen, Computerprogramme, Urheberrechte, Bodenverbesserungen und aktivierte Grundsrucksubertragungskosten, wird zorn gesamten Anlagevermogen gezahlt und dementsprechend abgeschrieben. Der Abschreibungsbetrag orientiert sich an der normalen wirtschaftlichen Nutzungsdauer der einzelnen Guterarten. Die Abschreibungen werden nach der linearen Methode berechnet, also gleichmaBig uber die gesamte Nutzungsdauer des jeweiligen Anlagegutes verteilt. Grundlage des Abschreibungsbetrags ist im ubrigen der Bestand an Anlagevermogen zu den Anschaffungspreisen der jeweiligen Berichtsperiode, d.h. es wird yom jeweils aktuellen Wiederbeschaffungswert ausgegangen.

Nach Abzug der Abschreibungen yom Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) gelangt man zum Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen (NIP). Das Net­toinlandsprodukt ist ebenfalls ein GUterman, das den Wert der im Inland pro­duzierten GUter nach Abzug der Wertminderung fUr das Anlagevermogen erfaBt.

5.4.2 Verwendung des Inlandsprodukts

Die Verwendungsrechnung zeigt auf, wie das Bruttoinlandsprodukt zu Marktprei­sen (BIP) verwendet wird, d.h. fUr welche Zwecke die im Inland produzierten Giiter Verwendung finden. Die Verwendung der GUter laBt sich den nachfolgen­den Positionen zuordnen.

Zu den Konsumausgaben der privaten HaushaIte zahlen neben den tat­sachlichen Giiterkaufen die Entgelte fUr hausliche Dienste, aber auch unterstellte Kaufe, wie z.B. der Eigenverbrauch der Untemehmer, der Wert der Nutzung von Eigentiimerwohnungen sowie Naturalentgelte.

Die Konsumausgaben der privaten Organisationen obne Erwerbszweck bestehen aus dem Eigenverbrauch, d.h. dem Wert der von diesen Organisationen produzierten Giiter abzilglich selbsterstellter Anlagen und Verkaufe sowie aus den Ausgaben fUr Giiter, die als soziale Sachtransfers den privaten Haushalten fUr ihren Konsum zur VerfUgung gestellt werden.

Die Konsumausgaben des Staates entsprechen dem Wert der Giiter, die yom Staat selbst produziert werden, jedoch ohne selbsterstellte Anlagen und Ver-

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kaufe, sowie den Ausgaben fur Guter, die als soziale Sachtransfers den privaten Haushalten fur ihren Konsum zur Verfiigung gestellt werden. Die Konsumausga­ben des Staates errechnen sich als Summe aus den Vorleistungen und der Wert­schOpfung (Arbeitnehmerentgelt, Abschreibungen, Produktionssteuem abziiglich Subventionen) abziiglich der Verkaufe sowie der Produktion flir die Eigenver­wendung. Damit sind die Konsumausgaben des Staates dem Wert der unentgeltlich abgegebenen staatlichen Dienstleistungen gleich.

Die Bruttoanlageinvestitionen umfassen den Erwerb abziiglich der Verau­Berung von AnlagegUtem durch gebietsansassige Produzenten in einem Zeitraum zuziiglich gewisser Werterhohungen an nichtproduzierten VermogensgUtem durch produktive Tatigkeiten von Produzenten oder institutionellen Einheiten. Zum Anla­gevermogen zahlen produzierte Sachanlagen und produzierte immaterielle Anlage­guter, die wiederholt oder kontinuierlich Hinger als ein Jahr in der Produktion eingesetzt werden.

Die Positionen Vorratsveriinderungen, Nettozugang an Wertsachen so­wie der Au6enbeitrag sind yom Worts inn oder der bereits gegebenen Erklarung hinreichend verstandlich, auch wenn es im Einzelfall durchaus zu Abgrenzungsfra­gen bei deren inhaltlicher Definition und deren Bewertung kommen mag.

Insgesamt stellt sich damit die Verwendungsrechnung wie folgt dar:

Konsumausgaben privater Haushalte + Konsumausgaben der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck + Konsumausgaben des Staates + Bruttoanlageinvestitionen (Investitionen in Ausrllstungen, Bauten und sonstige

Anlagen) + V orratsveranderungen + N ettozugang an Wertsachen + Au6enbeitrag (= Exporte von Waren und Dienstleistungen abziiglich Importe

von Waren und Dienstleistungen)

= Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP)

5.4.3 Gesamtwirtschaftliche Einkommensgro8en und ihre Verteilung

1m AusmaB der GUterproduktion entstehen Einkommen. Diese einfache Erkenntnis aus dem Abschnitt 5.1.3 ist nun auf die konkrete Ebene der Erfassung der gesamt­wirtschaftlichen GroBen zu Ubertragen. Hierbei ist zuniichst zu kliiren, fUr wel­chen geographischen Raum oder welche Grundgesamtheit von Einkommensbe­ziehem das gesamtwirtschaftliche Einkommen ermittelt werden solI. Wahrend mit dem Bruttoinlandsprodukt die im Inland, d.h. innerhalh der nationalen Gren­zen, produzierten GUter gem essen werden, ist es in der Volkswirtschaftlichen Ge­samtrechnung Uhlich, die gesamtwirtschaftlichen EinkommensgroBen nicht von der regionalen Entstehung her ahzugrenzen (z.B. Einkommen aus inlandischer GU­terproduktion), sondem danach zu fragen, welches Einkommen insgesamt den

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Inlandem, den gebietsansassigen oder inlandischen Einheiten zugeflossen ist unab­hangig davon, woher das Einkommen im intemationalen Zusammenhang stammt. Die gesamtwirtschaftlichen EinkommensgroBen stellen damit auf das Einkommen der Inlander ab, das sie nicht nur aus dem Inland selbst erhalten, sondem auch aus ihrer Beteiligung an der GUterproduktion im Ausland beziehen konnen. Der okonomische Gehalt des Einkommens wird insoweit zutreffend erfaBt, da fur Wirt­schaftssubjekte deren Einkommen insgesamt von Bedeutung ist und die regionale Entstehung - aus dem Inland oder aus dem Ausland - fur ihr wirtschaftliches Ver­halten nachrangiger sein diirfte.

Zu den gesamtwirtschaftlichen EinkommensgroBen kann man dadurch gelan­gen, daB die entsprechenden Einkommen bei den inlandischen Wirtschaftseinheiten festgestellt und aufaddiert werden. Es ist allerdings auch moglich, von der bereits vorgestellten MaBgroBe fur die gesamtwirtschaftliche GUterproduktion BIP auszu­gehen, dann jedoch den Ubergang vom Inlandskonzept des BIP auf das Inlander­konzept fur das EinkommensmaB vorzunehmen. In der Regel werden die gesamt­wirtschaftlichen EinkommensgroBen in ihrem Zusammenhang mit dem BIP abge­leitet und erlautert. Dieser Ubergang laBt sich wie folgt darstellen:

Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen (BIP) - Saldo der Primareinkommen zwischen Inlandem und der ubrigen Welt = Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (BNE).

Das BIP miBt grundsatzlich den Wert der Giiterproduktion im Inland, aber auch das daraus entstehende Einkommen im Inland. Da Inlander daruber hinaus aus der Uhrigen Welt Einkommen heziehen konnen, ist dieses hinzurechnen. Gleichzeitig sind die Einkommensbestandteile abzuziehen, die an auslandische Wirtschaftseinheiten abflieBen, welche sich an der Produktion des nationalen BIP beteiligt haben. Dies geschieht mit dem Saldo der Primareinkommen zwischen Inlandem und der ubrigen Welt. Ais Resultat ergibt sich das Bruttonationalein­kommen (BNE), das die den Inlandern per saldo zugeflossenen Primarein­kommen miBt.

Der Saldo der Primareinkommen zwischen Inlandem und der ubrigen Welt umfaBt zwei Teilsalden. Zum einen besteht er aus dem Saldo der Erwerbs- und Vermogenseinkommen zwischen Inlandem und der ubrigen Welt; zum anderen enthiilt er noch den Saldo aus empfangenen Subventionen und geleisteten Pro­duktions- und Importabgaben. Der Saldo der Erwerbs- und Vermogenseinkom­men zeigt die direkt an die Giiterproduktion gebundenen grenziiberschreitenden Einkommensstrome auf, die sich daraus ergeben, daB Wirtschaftssubjekte im je­weiligen Ausland erwerbstatig sein oder dort Vermogenseinkommen erzielen kon­nen. Der Saldo aus empfangenen Subventionen und geleisteten Produktions- und Importabgaben besteht inhaltlich aus den von der Europaischen Union empfange­nen Subventionen, die das Einkommen der Inlander erhOhen, und aus den an die Europaische Union geleisteten Produktions- und Importabgaben, also den Zollein­nahmen aus dem Handel mit Drittlandem, den Einnahmen im Rahmen der gemein-

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samen Agrarpolitik und den Mehrwertsteuereigenmitteln. Auch dieser Saldo ist von seiner Entstehung und Dimension an die Gllterproduktion gebunden.

Das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (BNE) ist ein Einkom­mensma8, das die den Inlandern aus ihrer Beteiligung an der GUterproduktion weltweit zuflieBenden Einkommen miBt. Diese gesamtwirtschaftliche Einkom­mensgroBe wurde durch das ESVG 1995 neu eingefiihrt. Das BNE lost das bishe­rige Bruttosozialprodukt (BSP) ab, das ebenfalls ein EinkommensmaB fUr das den Inlandern aus ihrer Beteiligung an der GUterproduktion weltweit zuflieBende Einkommen war. Der Unterschied besteht lediglich darin, daB das BNE auf die Primareinkommen insgesamt abstellt. Bei der Errechnung des BNE aus dem BIP werden insoweit noch die im Verhaltnis zur EU saldierten empfangenen Subven­tionen und geleisteten Produktions- und Importabgaben berlicksichtigt. Das Brutto­sozialprodukt ergab sich aus dem BIP dadurch, daB lediglich der erste Teilsaldo der Primareinkommen verrechnet wurde, namlich der Saldo der Erwerbs- und Vermogenseinkommen zwischen Inlandern und der Ubrigen Welt.

Ausgehend yom Bruttonationaleinkommen (BNE) lassen sich nun weitere ge­samtwirtschaftliche EinkommensgroBen darstellen, die auch verteilungspolitische Aspekte verdeutlichen konnen.

Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (BNE) - Abschreibungen = Nettonationaleinkommen zu Marktpreisen (NNE) = Primareinkommen der

Inlander - Produktions- und Importabgaben + Subventionen = Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten = Volkseinkommen = Arbeitnehmerentgelt + Unternehmens- und Vermogenseinkommen.

Das Nettonationaleinkommen (NNE) zu Marktpreisen ist das Primarein­kommen der Inlander. Es zeigt das Einkommen auf, das die Inlander aus ihrer unmittelbaren Teilnahme am ProduktionsprozeB weltweit erhalten einschlieBlich der Einkommen, die Eigentlimer von Vermogenswerten oder von nichtproduzierten Sachvermogensgegenstanden als Gegenleistung daf'iir erhalten, daB sie anderen institutionellen Einheiten finanzielle Mittel oder nichtproduziertes Sachvermogen zur Verfiigung stellen. Das Nettonationaleinkommen zu Marktpreisen (NNE) ist neben dem Bruttonationaleinkommen (BNE) das weitere international verwendete gesamtwirtschaftliche EinkommensmaB.

In Deutschland wird erganzend noch das Nettonationaleinkommen zu Fak­torkosten berechnet, das dem Volkseinkommen entspricht. Es ergibt sich aus dem NNE dadurch, daB die dem Staat zuflieBenden Produktions- und Importabgaben abgezogen und die Subventionen hinzugerechnet werden. Produktions- und Im­portabgaben erhebt der Staat unabhangig davon, ob Betriebsgewinne erzielt wor­den sind oder nicht. Sie sollen die Marktpreise der Gllter erhOhen. Die Subventio­nen knUpfen ebenfalls an der Gllterproduktion an und haben das Ziel, die Ver-

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kaufspreise der Produzenten zu senken oder die marktbezogene Entlohnung der Produktionsfaktoren zu reduzieren. Das Volkseinkommen besteht inhaltlich aus den von Inl1mdem insgesamt aus ihrer Beteiligung an der GUterproduktion weltweit empfangenen Erwerbs- und Vermogenseinkommen. Diese Aufteilung des Volkseinkommens wurde (und wird) nicht immer zutreffend dazu benutzt, urn die Einkommensanteile der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu messen. Dabei bleibt namlich unberiicksichtigt, daB auch in der Position Vermogenseinkommen Bestandteile des Faktoreinkommens aus Arbeit enthalten sind. 1m ESVG 1995 werden die Erwerbseinkommen von vornherein aufgeteilt auf die Positionen Arbeitnehmerentgelt und Untemehmenseinkommen, so daB die obige Ubersicht das V olkseinkommen als Summe der Arbeitnehmerentgelte sowie der Untemeh­mens- und Vermogenseinkommen darstellt. Hierbei ist gleichfalls zu beachten, daB mit dem Untemehmenseinkommen auch Leistungen des Faktors Arbeit entgolten werden. Die aus dem Volkseinkommen und seinen Verteilungskategorien zu ge­winnenden EinkommensgroBen eignen sich daher nicht, urn definitive Aussagen zur Einkommensverteilung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu machen.

FUr einige Fragestellungen sind nicht so sehr die globalen Einkommensgro­Ben BNE, NNE oder Volkseinkommen von Bedeutung, sondem vielmehr das ver­fiigbare Einkommen, das den Wirtschaftssubjekten einerseits insgesamt zuflieBt oder verbleibt und Uber das sie eigenstandig entscheiden und verfUgen konnen. In der Volkswirtschaft ergibt sich das verrugbare Einkommen ausgehend beispiels­weise yom Nettonationaleinkommen NNE durch Beriicksichtigung des Saldos der laufenden Transfers zwischen Inlandem und der Ubrigen Welt. Zum verrugbaren Einkommen der privaten Haushalte gelangt man, wenn yom Volkseinkommen zunachst der BetriebsUberschuB und die Vermogenseinkommen der Kapitalgesell­schaften und des Staates abgezogen werden. SchlieBlich ist noch der Saldo der Einkommen- und Vermogensteuem, der Sozialbeitrage, monetiiren Sozialleistun­gen und sonstigen laufenden Transfers abzuziehen. Das so gebildete verrugbare Einkommen der privaten Haushalte kann dann im wesentlichen fUr Konsurnausga­ben und fUr das Sparen verwendet werden.

5.4.4 Das Bruttoinlandsprodukt als zentrales volkswirtschaftliches Leistungsma6

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ein MaB, mit dem die wirtschaftliche Leistung in einer Volkswirtschaft wahrend einer bestimmten Periode, z.B. in einem Quartal oder in einem Jahr, erfaBt werden solI. Als Leistung wird dabei der Wert der GU­terproduktion im Inland gemessen. Das GUtermaB BIP miDt somit nicht irgend­welche "Leistungen", sondem es konzentriert sich auf den Wert der im Inland pro­duzierten GUter. An der Giiterproduktion im Inland sind alle inlandischen Sekto­ren beteiligt, und es darf nicht vergessen werden, daB zu den GUtem neben den Waren auch die Dienstleistungen zahlen.

Die GUterproduktion wird grundsatzlich anhand der jeweils geltenden Werte, z.B. der aktuellen Marktpreise, Herstellungspreise oder Anschaffungskosten, stati-

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stisch erhoben. Insoweit entsteht der Gesamtwert des BIP nach den laufenden Preisverhaltnissen in den Berichtsperioden. Die BIP-Werte sind daher zunachst immer Werte in jeweiligen Preisen, in denen sich auch aIle Preisveriinderungen der GUter niederschlagen. Die jeweiligen oder laufenden Preise spiegeln die in den Berichtsperioden tatsachlich herrschenden Preisgegebenheiten wider, wobei insbe­sondere die absolute PreishOhe der GUter fUr die ausgewiesenen Werte entschei­dend ist. Diese Werte werden auch als Nominalwerte bezeichnet, es sind nomi­nelle GroBen oder GeldgroBen. Zur deutlicheren Charakterisierung laBt sich das so ermittelte Bruttoinlandsprodukt als BIP nom ausdriicken.

Wird das Bruttoinlandsprodukt zu konstanten Preisen bewertet, werden die darin enthaltenen GroBen einer Berichtsperiode mit den Preisen einer fiiiheren Periode, der zu wiihlenden Basisperiode, belegt. HierfUr benutzt die amtliche Stati­stik soweit moglich das Verfahren der doppelten Deflationierung, wonach in den Produktionskonten einerseits der Produktionswert zu konstanten Preisen und ande­rerseits die Vorleistungen zu konstanten Preisen errechnet werden. Ziel dieser Preisbereinigung ist es, das Volumen der Giiterproduktion festzustelIen, das sich unabhiingig von Preisveriinderungen Uber die Zeit hin ergibt. Eine solche Werter­mittlung fUr das BIP zu konstanten Preisen soIl mithin die mengenma8ige oder reale Entwicklung der Giiterproduktion erkennen lassen. Das Bruttoinlandspro­dukt zu konstanten Preisen wird mit BIPreal bezeichnet. Die Werte des BIPreal

geben an, wie sich die produzierten GUtermengen bei Konstanz der Preise der Basisperiode entwickeln.

In der Wirtschaftspolitik und in der Wirtschaftswissenschaft stoBt man auf beide Abgrenzungen der Werte des Bruttoinlandsprodukts. In aller Regel fmden sich die realen und die Nominalwerte des BIP jeweils bei typischen Sachverhalten, wobei dann vorrangig nur eine Abgrenzung in Frage kommt. So wird fUr die Kon­junkturbeobachtung und die Messung des Wirtschaftswachstums vornehmlich das Bruttoinlandsprodukt in realer Abgrenzung, d.h. zu konstanten Preisen eines Basisjahres, z.B. 1995, benutzt. Mit dem RIPreal laBt sich die reale oder quantita­tive GUterproduktion in ihren Bewegungen am besten erfassen. Wirtschaftswachs­tum bedeutet insoweit, daB die reale GUtermenge im Verhiiltnis zum Vorjahr ge­stiegen ist; es sind mengenmaBig mehr GUter produziert worden.

Es gibt allerdings auch Fragestellungen, bei denen die Betrachtung des Brut­toinlandsprodukts in jeweiligen Preisen, als Nominalreihe, im Vordergrund steht. Die Nominalreihen sind beispielsweise Ausgangspunkt fUr die wesentlich­sten Komponenten bei Steuerschatzungen, denn unsere groBen Steuern wie die Lohn- und Einkommensteuer sowie die Umsatzsteuer knUpfen von ihrer Bemes­sungsgrundlage her an nominellen GroBen wie laufendes Einkommen oder Umsatz an. Daher wird das Autkommen dieser Steuern von der Entwicklung der nominel­len Werte der gesamtwirtschaftlichen GroBen getragen. Haufiger stoBt man auf Verwendungen des BIP nom, wenn es urn die Messung staatlicher EinflUsse geht und beispielsweise eine Staatsquote zu errechnen ist. Sie ergibt sich als Relation von Staatsausgaben zum BIPnom• Die aus dem Maastricht-Vertrag bekannten Staats­schuldenquoten und Defizitquoten werden ebenfalls als Verhiiltniszahlen zwi-

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schen den Staatsschulden oder den laufenden Staatsdefiziten zum BIP nom gebildet. Die sachliche Begriindung fUr die Verwendung der Nominalreihe liegt nahe, denn Staatsausgaben, Schuldensummen oder Defizite sind reine GeldgroBen, deren volkswirtschaftliche Gewichtigkeit am besten im Verhaltnis zur GroBe des Brutto­inlandsprodukts in jeweiligen Preisen deutlich wird.

Es bleibt schlieBlich noch darauf hinzuweisen, daB wir hier das Bruttoin­landsprodukt, in gleich welcher Abgrenzung ob als BIP nom oder BIP reah als zen­trales volkswirtschaftliches Leistungsma8 vorgestellt haben, das die Giiterpro­duktion im Inland miBt. Andere GiitermaBe und insbesondere die gesamtwirt­schaftlichen EinkommensmaBe spielen in der Wirtschaftsbeobachtung und in der Wirtschaftspolitik kaum noch eine Rolle. Sie werden daher seit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nur in Ausnahmefallen verwandt. Dies ist eher fUr deut­sche Verhaltnisse eine Umstellung, denn international steht das BIP der jeweiligen Lander schon lange im Vordergrund fUr die wirtschaftspolitischen Argumentatio­nen. Das fiiihere Bruttosozialprodukt hatte international nie den gleichen Stellen­wert wie in Deutschland. Mit der Einfiihrung des Bruttonationaleinkommens als gesamtwirtschaftlichem EinkommensmaB dilrfte angesichts seiner geringen Be­kanntheit das gelaufigere MaB des Bruttoinlandsprodukts in der nachsten Zeit generell dominieren. Diese wirtschaftspolitische Dominanz des Bruttoinlandspro­dukts heiBt allerdings nicht, daB die anderen gesamtwirtschaftlichen GroBen ein­schlieBlich der EinkommensgroBen nicht mehr berechnet oder verwendet werden. Die Argumentation mit Hilfe der EinkommensgroBen wird sich jedoch auf einen engeren Kreis von Wirtschaftswissenschaftlern konzentrieren, die damit speziellen Fragestellungen nachgehen konnen. FOr die Studenten der Volkswirtschaft sollte nach allem die zentrale GroBe Bruttoinlandsprodukt als GiitermaB gut bekannt sein, sie sollten jedoch auch wissen, daB es daneben andere volkswirtschaftliche MaBgrOBen wie EinkommensmaBe gibt, die eine spezifische Abgrenzung und Be­deutung haben.

5.5 Wirtschaftspolitische Bedeutung gesamtwirtschaftlicher Ma8gro8en

5.5.1 Wohlfahrtsmessung

Volkswirtschaftliche LeistungsmaBe wie das Bruttoinlandsprodukt und fiiiher das Bruttosozialprodukt, mit denen die gesamtwirtschaftliche G'Uterproduktion oder das gesamtwirtschaftliche Einkommen gemessen werden, finden in nationaler Be­trachtung und in internationalen Vergleichen zwischen Volkswirtschaften immer wieder Verwendung als MaBgroBen fUr Wohlstand der betreffenden Volkswirt­schaften. Sie werden insoweit als Wohlfahrtsindikator herangezogen. Dies stoBt nicht selten auf Kritik, die insoweit nachvollziehbar ist, als es keine allgemein anerkannte, objektivierbare Definition des Wohlstands und der Wohlfahrt gibt.

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W ohlstand und W ohlfahrt mUssen daruber hinaus nicht den gleichen Bedeu­tungsinhalt haben. Vielfach wird Wohlstand eher mit materiellen Gegebenheiten in Verbindung gebracht und solI die Verfiigungsmoglichkeiten Uber GUter in Form von Waren und Dienstleistungen umschreiben. Wohlfahrt hebt daneben auch die Bedeutung immaterieller GUter hervor und stellt ab auf Aspekte wie GlUck, Zufrie­denheit, Sicherheit. Wohlstand und Wohlfahrt enthalten zum einen gleichartige Komponenten, was es erlaubt, von einem positiven Zusammenhang dieser Gro­Ben zu sprechen. Sie konnen jedoch dann in einem Widerspruch zueinander ste­hen, wenn die angestrebten immateriellen GUter durch ein Mehr von Waren und Dienstleistungen nieht besser erreieht, sondem sogar beeintrachtigt werden.

Die konkreten Dimensionen von Wohlstand und Wohlfahrt und die Zusam­menhange zwischen ihnen lassen sich nicht leicht erkennen oder gar allgemein festlegen. Dies liegt vor allem daran, daB beide GroBen grundsatzlich subjektive Argumente enthalten. Es kommt hinzu, daB die fUr W ohlstand und W ohlfahrt we­sentlichen Grunde und Bestandteile zwischen den Personen differieren. Von daher kann auch ausgeschlossen werden, daB ein intersubjektiv einvemehmlich aner­kanntes W ohlstandsmaB konstruierbar ist, das gewissermaBen die Summe der indi­viduellen W ohlstandsbestandteile reprasentiert. Dies gilt verstarkt noch fiir einen Wohlfahrtsindikator, was es von vornherein erschwert, eindeutig meDbare Kom­ponenten hierfiir festzustellen.

In der Wohlfahrtsokonomik, einer Teildisziplin der theoretischen Volkswirt­schaftslehre, werden Fragen der Wohlfahrtsmessung und des dafiir notwendigen Indikatorensystems ausfUhrlich diskutiert. Ausgangspunkt sind dabei individuelle Praferenzsysteme oder Nutzenfunktionen, die zu einer gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsfunktion aggregiert werden sollen. Befriedigende Losungen haben sich dabei nieht ergeben. Daher existiert bis heute kein operationales Verfahren, mit dem tatsachlich gesamtwirtschaftliche W ohlfahrt gemessen werden konnte. Auch in den methodischen Voruberlegungen zum ESVG 1995 und dessen Verwendungs­zwecken findet sich der insoweit einschrankende Hinweis, daB die gesamtwirt­schaftlichen GroBen die Veranderungen der wirtschaftlichen W ohlfahrt nicht be­schreiben.

Gleichwohl werden die gesamtwirtschaftlichen GroBen immer wieder zumin­dest als W ohlstandsindikatoren verwendet. Dieser offensichtliche Widerspruch erfordert einige Erklarungen, mit denen die Unterschiede in den Sichtweisen deut­lich gemacht werden sollen. Ausgangspunkt ist zunachst die einzelwirtschaftli­che, subjektive Sicht von Wohlstand. Legt man einem einzelnen Wirtschafts­subjekt die Frage nach WohlstandsmaBen und deren Objektivierbarkeit vor, so scheiden durch die Nebenbedingung, nur objektivierbare, meBbare GroBen als WohlstandsmaBe zuzulassen, von vornherein wesentliche, allerdings hochst sub­jektive GroDen aus, wie GlUck oder Wohlergehen oder die Wohlfahrt insgesamt. Vollig unbestritten ist hierbei, daB diese GroBen Zielcharakter haben und von den Menschen angestrebt werden. Ebenso klar ist aber auch, daB einzelne Personen iiberaus individuelle Vorstellungen mit GlUck oder Wohlergehen verbinden und sich diese Vorstellungen zwischen den Personen teilweise deutlich unterscheiden.

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Es kommt hinzu, daB die subjektiven Wunsche nach Gluck oder Wohlergehen vielfach nicht offenbar werden und damit fUr Dritte nicht beobachtbar oder mellbar sind.

Sehr wohl beobachtbar ist allerdings eine Verhaltensweise von Menschen, die nicht vollig unabhiingig von deren subjektiven Wohlergehen und ihrem indi­viduellen Wunsch nach Glilck sein kann: es ist ihr Streben nach einer Mehrzahl von Giitern, und es sind dies ihre prinzipiell unbegrenzten Wiinsche und Bedilrf­nisse nach Giitem. Das Streben nach personlichem Einkommen kann als Zwi­schenziel auf dem Weg zu den angestrebten Giitem angesehen werden. Giiter die­nen der Befriedigung von Wiinschen, sie sollen subjektive Bediirfuisse erfiilIen, und sie tragen insoweit zum W ohlstand und zum W ohlergehen bei.

Nun sind aber Giiter und das zu ihrem Erlangen erforderliche Einkommen durchaus meDbar. Von daher ergibt sich nicht nur eine Verbindung zwischen dem eher objektivierbaren Begriff des Wohlstands und dem rein subjektiven Ziel des Wohlergehens oder Gliicks. Auf die Frage nach dem individuellen Wohlstand werden einzelne Personen daher immer mit Hinweisen auf Giiter-MaDe oder Ein­kommens-Malle begegnen. Sie interpretieren eine Einkommenssteigerung oder die Moglichkeit, iiber groBere Giltermengen oder ilber zusatzliche Gilter zu verfiigen, als W ohlstandssteigerung, die bewuBt angestrebt wird, urn auch die W ohlfahrt zu fordem.

Diese simple okonomische Erkenntnis kann durch einen UmkehrschluB noch deutlicher werden. Der bewuDte Wunsch nach Einschrankung bei den Giitern insgesamt, die eine Person zur Verfiigung hat, oder das Ziel einer Reduktion des individuellen Einkommens ist namlich bei beobachtbaren Personen in aller Regel nicht feststellbar. Vielmehr greifen die Menschen auf den positiven Zusammen­hang zwischen erkennbaren Giltermengen oder Einkommensniveaus zurUck, urn fUr sich oder bei anderen das W ohlstandsniveau einzuschatzen.

Das heiBt insgesamt, daB einzelne Personen bei der Frage nach dem Umfang und der Messung ihres eigenen Wohlstands, bzw. ihres Wohlstands im Verhiiltnis zu anderen Menschen in erster Linie objektivierbare Giiter-Malle oder Einkom­mens-MaDe benutzen, selbst wenn sie wissen, daB mit Hilfe dieser MaBe das Ziel Glilck oder Wohlergehen nicht zureichend erfaBt werden kann. Dies gilt bis hin zu der eigenen individuellen Erfahrung, daB ein Mehr an Giltem oder Einkommen nicht notwendigerweise glilcklicher macht, gleichwohl wird dieses Mehr an Giltem oder Einkommen von beobachtbaren Personen offenkundig angestrebt.

Die Einschiitzung und Bewertung von Giltem ist nun allerdings keinesfalls objektiv, sie wird vielmehr durch subjektive und sich immer wieder andemde Wilnsche und Bediirfuisse mit gepragt. Daher sind die individuellen Verfiigbar­keiten ilber Gilter nicht einfach zu einem gesamtwirtschaftlichen WohlstandsmaB aufzuaddieren. Eine gleichwohl mogliche objektivierbare Einschatzung der Giiter erfolgt aber in Form der gesellschaftlichen Bewertung von Giitern in einem offenen Marktprozell. In einem solchen MarktprozeB kommen alle vor­handenen ·Informationen und Einschiitzungen zu den Giltem zusammen, werden im PreisbildungsprozeB aufeinander abgestimmt und nach auBen erkennbar. Ein ge-

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samtwirtschaftliches Giiter-MaB, das die Bewertung der Giiter aus den Marktpro­zessen entnimmt, stiitzt sich daher auf eine gesellschaftliche Einschiitzung der Gtiter. Dies gilt auch fur die in vorangehenden Abschnitten erlauterten gesamt­wirtschaftlichen Gtiter-MaBe.

In die gesamtwirtschaftlichen Gtiter-MaBe gehen aber auch GUter mit ein, die nicht Uber Marktprozesse angeboten und nachgefragt werden, bei denen also die gesellschaftliche Marktbewertung fehlt. Zurn groBten Teil handelt es sich dabei urn Offentliche GUter, die der Staat unentgeltlich bereitstellt und fur die eine Marktbewertung nicht erfolgt. Es kommt hinzu, daB der Staat tiber seine Gesetzge­bung, seine Normensetzung und sein Verwaltungshandeln in die Bewertung von Gtitem eingreift, die ansonsten tiber offene Miirkte gehandelt werden (das gilt bereits fur die Festsetzung von Hochstgeschwindigkeiten auf StraBen und deren Uberwachung oder die Vorschriften bzw. den Zeitaufwand fur das Erteilen einer Baugenehmigung). In nicht wenigen Darstellungen sind solche staatlichen Eingriffe aus Sicht der Gesellschaft suboptimal, womit nahegelegt werden solI, daB der Ein­griff zu "falschen" gesellschaftlichen Bewertungen fUhrt.

Aus Sicht der negativ betroffenen Personen mag diese Einschiitzung des Staatshandelns durchaus nachvollziehbar sein, und zumindest insoweit begriindet erscheinen, als vergleichbare Marktprozesse zu anderen Ergebnissen und Bewer­tungen fiihren mogen. Es muB aber andererseits auch bedacht werden, daB staat­Hche Bewertungsverfahren von Giitern, die EinfluBnahme des Staates auf die Bewertung von Gtitem tiber Marktprozesse sowie Art und Umfang der ausschlieB­lich vom Staat bereitgestellten offentlichen Gtiter in unseren parlamentarischen Demokratien immer unter ma8gebJicher Beteiligung der MitgJieder der Volks­wirtschaft bzw. der Gesellschaft erfolgen.

1m Unterschied zu Marktprozessen wird beim staatlichen Handeln aber nicht auf aile Informationen und Bewertungen der Mitglieder der Gesellschaft zurtickgegriffen. Das parlamentarische System sieht vielmehr tiber Mehrheits­entscheidungen bewuBt vor, daB Bewertungen und Vorgehensweisen des Staates nicht mit den Bewertungen und Vorstellungen einer unter Umstanden groBen Min­derheit tibereinstimmen. Das Angebot an Offentlichen Gtitem kann daher deutlich anders ausfallen als es den Wtinschen oder Bedtirfnissen einer kleineren oder gro­Beren Minderheit entspricht. Der Staat neigt in diesem Zusammenhang auch eher dazu, Alles- oder Nichts-Entscheidungen zu treffen, bzw. andere Bewertungen als die von ihm gewiinschten mit Verboten und Sanktionen zu belegen, wahrend Untemehmen auf offenen Markten tiber Produktdifferenzierung und Marktsegmen­tierung eher bestrebt sind, auch unterschiedlichste Wtinsche und Bewertungen mit ihrem Angebot abzudecken. Insgesamt ist die staatliche Entscheidungsfindung und Durchsetzung von MaBnahmen aber gleichwohl eine nicht nur anerkannte, sondem auch bewahrte Bewertungsmethode fUr staatliche Leistungen allgemein.

Aus alledem kann geschlossen werden, daB die Summe der in einer Volks­wirtschaft produzierten privaten und Offentlichen Giiter, bzw. die Summe der den Inlandem aus der Gtiterproduktion zugeflossenen Einkommen auf gesell­schaftlichen Bewertungen beruht, die diesen GroBen eine nachvollziehbare und

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insoweit objektivierbare Grundlage gibt. Die Bewertungen reflektieren einerseits die Wiinsche und Infonnationen aller an den Giitem interessierten Wirtsehafts­einheiten, so wie sie sich auf den Mfu"kten herausbilden; sie greifen dane ben auf die Ergebnisse politiseher Entscheidungsprozesse zurUek, die in ihrer Summe von Mehrheitsentseheidungen getragen werden.

Die gesamtwirtschaftlichen Guter-MaDe und Einkommens-MaDe repra­sentieren damit wesentliche Aspekte des gesamtwirtschaftlichen Wohlstands. Sie messen nieht nur eine allgemeine wirtsehaftliche Leistung. In sie flieBen sehr konkret die Wohlstandswiinsehe und die daraus folgenden Bewertungen der Wirt­sehaftseinheiten ein, die sieh iiber Marktprozesse und politisehe Entseheidungspro­zesse in einer Gesellschaft insgesamt ergeben. Die gesamtwirtsehaftliehen MaBe hiingen - zumindest bei Konstanz der unten noeh naher aufgefiihrten Kritikpunkte, bzw. der daraus flieBenden negativen oder einschrankenden Aspekte - direkt mit dem Wohlstand in einer Gesellschaft zusammen. Es ist jedoeh darauf zu achten, daB sie nieht aus einer einfachen Summe individueller W ohlstandseinsehatzungen bestehen, sondem komplexe Aggregate sind.

Bei Wohlstandsvergleiehen iiber die Zeit hin ist im iibrigen zu beriieksiehti­gen, daB die absolute Dimension einer gesamtwirtschaftliehen GroBe nieht unmit­telbar hinreiehende Infonnationen iiber den Wohlstand und seine Veranderungen gibt. Es ist vielmehr auf die preisbereinigten, d.h. die realen Werte, abzustellen. Dieses Vorgehen liegt aueh der Messung des Wirtsehaftswaehstums zugrunde, bei dem Zuwaehse des realen Bruttoinlandsprodukts betrachtet werden. AuJ3erdem sind die gesamtwirtsehaftliehen GraBen in ihrer absoluten Dimension kaum inter­pretierbar. Sie miissen daher in Relation zu anderen wirtsehaftlieh interpretierbaren GroBen gesehen werden, wobei die Bevolkerungszahl eine durchaus bedeutsame BezugsgroBe ist. Insoweit findet vomehmlieh das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als W ohlstandsindikator Verwendung.

Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als HilfsgroDe fUr die Wohl­standsmessung in einer Volkswirtschaft beruht auf gesellsehaftlichen Bewer­tungen der Giiter. Dieses gesellschaftliche MaO muB untersehieden werden von dem fUr einzelne Personen wiehtigen Nutzen, der eine rein subjektive Einschatzung von Giitem darstellt. Das reale Bruttoinlandsprodukt spiegelt nicht eine Summe individueller Nutzen wider. Ein solches auf subjektiven GroBen basierendes Ge­samtmaD fUr Wohlfahrt, das sich aus der Zusammenfassung der individuellen Nutzen ergabe, die einzelne Wirtschaftssubjekte den Giitem zuordnen, existiert nieht, obwohl in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre immer wieder entspre­chende Versuehe angestellt wurden.

Die gesellschaftliche Bewertung der Giiter in einer gesamtwirtsehaftliehen MaBgroBe unterscheidet sich in einem grundlegenden Aspekt von den individu­ellen Nutzen, die den Giitem zugeordnet werden konnen. Ais iiberwiegendes Be­wertungsverfahren werden beim Bruttoinlandsprodukt Marktprozesse benutzt und es treten ergiinzend Bewertungsprozesse in politischen, insbesondere pari amen­tarischen Entscheidungen hinzu. Beide Verfahren kennzeiehnen sieh dadurch, daB sie faktiseh niemals zu Resultaten fiihren, die mit den Vorstellungen und Wiinschen aller einzelnen Betroffenen und Beteiligten am MarktprozeB oder am politisehen

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ProzeB ubereinstimmen. Es ergeben sich vielmehr Kompromisse bzw. aus Sicht von einzelnen mehr oder weniger verzerrte Losungen, die nicht nur Durchschnitts­sondem auch Extremwerte zum Inhalt haben konnen. Als Konsequenz werden einzelne Personen von den Ergebnissen her immer enttauscht sein, obwohl die Ergebnisse auf einem sozialen AbstimmungsprozeB beruhen. Der soziale Abstim­mungs- und BewertungsprozeO durch Markte oder Wahlen will aber bewuOt nicht die Bewertung von einzelnen zur entscheidenden MaBschnur machen, sondern aile an einem Gut oder an einem politischen Vorgang interessierten Personen mit ihren Bewertungen einbinden. AuBerdem ist zu beachten, daB viele Argurnente der individueIlen Nutzenfunktionen gar nicht in geseIlschaftliche Be­wertungen einflieBen, da sie nicht hinreichend offenbar werden.

Gesamtwirtschaftliche MaBe werden nicht nur fUr die nationale W ohlstands­messung benutzt, sondem auch fUr internationale Vergleiche, urn Wohlstand oder wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft im Verhiiltnis zu anderen deutlich werden zu lassen (etwa mit der Folgerung, daB es den Luxemburgem besser geht als den Deutschen, daB diese wiederum wirtschaftlich besser gesteIlt sind als die Portugiesen und die letzteren ein deutlich hOheres Wohlstandsniveau haben als z.B. einige Under in Afrika). Bei intemationalen Vergleichen sind die aus nationa­len Werten gewonnenen Daten zuniichst mittels eines gemeinsamen Nenners vergleichbar zu Machen. Hierfiir bietet sich in einer ersten Uberlegung der Wechselkurs der betreffenden Wahrungen an, in denen das Bruttoinlandsprodukt fUr eine jeweilige Volkswirtschaft ermittelt wurde. Mit dem Wechselkurs werden schlieBlich auch sonstige intemationale Vergleiche durchgefUhrt, zumal der Wech­selkurs auf offenen Devisenmiirkten die weltweit herrschenden Bewertungen der Wahrungsrelationen widerspiegelt. Nicht immer ist aber der Wechselkurs die geeignete UmrechnungsgroOe, urn die GUterstrome von Volkswirtschaften sinn­voU miteinander vergleichen zu konnen.

Der Wechselkurs ist zu einem wesentlichen Teil Spiegelbild der unterschied­lichen Finanz- und Kapitalmarktverhiiltnisse zwischen den Volkswirtschaften und ist im ubrigen nicht nur von entsprechenden Einflussen zwischen zwei zu verglei­chenden Landem gepriigt, sondem unterliegt weltweiten wirtschaftlichen Abhan­gigkeiten. Er kann daher nicht notwendigerweise als unverzerrte Umrechnungs­groBe angesehen werden, die sich fUr aIle Wirtschaftsdaten jeweils zweier Lander anbietet. Ein Wechselkurs ergibt sich seiner Hohe und Veriinderung nach nicht ausschlieBlich aus den GUtermarktverhiiltnissen der betroffenen Volkswirtschaften. Er entspricht auch nicht notwendigerweise zu einem konkreten Zeitpunkt der Kauf­kraftparitiit zwischen den nationalen Wiihrungen der Volkswirtschaften, fUr die ein Wohlstandsvergleich vorgenommen werden solI. Es kommt hinzu, daB die in ei­nem intemationalen Vergleich zugrunde gelegten gesamtwirtschaftlichen MaBgro­Ben immer nur fUr Vergangenheitsperioden festgestellt werden, der Wechselkurs aber die in einer gegebenen Periode herrschende Einschiitzung kllnftiger Wirt­schaftsentwicklungen zwischen den betreffenden Volkswirtschaften zu Ausdruck bringen will.

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Daher sollten internationale Wohlstandsvergleiche vorrangig an hand von Kaufkraftparitaten vorgenommen werden, auch wenn diese noch kein "idealer" VergleichsmaBstab sind. Die Kaufkraftparitat der Lander A und B gibt beispiels­weise an, wieviel Wahrungseinheiten des Landes B benotigt werden, urn im Land B die Menge eines bestimmten Gutes zu kaufen, die im Land A mit einer Wah­rungseinheit des Landes A gekauft werden kann. Kaufkraftparitaten beziehen sieh daher direkt auf Guter oder Giitergruppen und gehen von historischen Preisverhalt­nissen aus. Selbst wenn intemationale W ohlstandsvergleiche mit Hilfe von Kauf­kraftparitaten durchgefiibrt werden, bleiben sie in ihrer Aussagef<ihigkeit begrenzt. Dies liegt zum einen daran, daB die statistische Erfassung der Guterproduktion un­terschiedlich ausfallen kann. Wesentlicher ist aber, daB die gesellschaftlichen Be­wertungen der Giiter zwischen den V olkswirtschaften unterschiedlich sein werden und daher vergleichbare Giitermengen nicht auch vergleiehbare oder ubereinstim­mende Wohlstandseinschiitzungen bei den jeweiligen Bevolkerungen zum Inhalt haben mussen.

5.5.2 Kritikpunkte an den gesamtwirtschaftlichen Ma6konzepten

Die gesamtwirtschaftlichen GroBen begegnen in der Literatur und in der Wirt­schaftspolitik einer Reihe von Kritikpunkten. Die Kritik knupft nicht nur an ihrer Verwendung fUr die Wohlstandsmessung an, sondem hinterfragt auch die Voll­standigkeit oder Sinnhaftigkeit der MaBkonzepte selbst beispielsweise als gesamt­wirtschaftliche Guter-MaBe. Nicht aile in der Literatur geau6erten Kritikpunkte sind okonomisch sinnvoll und begriindbar. Sie spiegeln nicht selten die subjektive Sieht eines einzelnen wider, der selbstverstandlich niemals mit allen gesellschaftli­chen Bewertungen in einer Volkswirtschaft ubereinstimmen muB und der auch immer auf Guter (in einer speziellen Art und in einer Zusammensetzung) trifft, die seinen Wiinschen nicht entsprechen. LaBt man diese subjektiven und vordergriin­digen Kritikpunkte auBer acht, verbleiben nur wenige okonomisch und inhaltlich begriindeten Einwande, deren Kenntnis jedoch hilfreich ist, urn die gesamtwirt­schaftlichen MaBkonzepte auch von ihren Beschrankungen her zu verstehen. Die berechtigten Kritikpunkte beziehen sich auf folgenden Sachverhalte:

• Die Eigenleistungen der privaten Haushalte oder die Haushaltsproduktion, die aus Sicht der NutznieBer der Eigenleistungen produktiven oder nutzenstif­tenden Charakter haben, werden in den gesamtwirtschaftlichen MaBgroBen nicht erfa6t. Die Eigenleistungen der Haushalte fUhren zu GOtern, die den Haushalten in der Regel auch uber einen MarktprozeB zur Verfugung gestellt werden konnten. Viele Haushalte greifen aber bewuBt auf Eigenleistungen zu­ruck, da der technische ProduktionsprozeB, d.h. vorrangig die dafur benotigte Arbeitszeit und Arbeitskraft, von ihnen selbst nieht als KostengroBe bewertet wird. Ein Haushalt zieht die insoweit kostengunstigeren selbsterstellten Guter den uber Markte produzierten und abgesetzten Gutem vor. Zu den Leistungen, die Haushalte in Eigenproduktion erstellen, zahlen typischerweise: Kochen,

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Putzen, Waschen, Kinderbetreuung. Krankenpflege, aber auch Reparieren von Wasserleitungen, Montieren von Lampen und Gardinen, Renovieren von Rliu­men, Rasenmahen und dergleichen. Diese Eigenleistungen der Haushalte werden wegen der schlechten statistischen Erfa8barkeit und der Schwierig­keit, dafilr allgemein anerkannte Bewertungsansatze zu emden, im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht als Giiterproduktion erhoben.

Die Haushaltsproduktion dient gleichwohl dazu, die Summe der Giiter in der Volkswirtschaft zu erMhen. Ein aufgetischtes Essen aus der Haushalts­produktion besitzt Gutsqualitiit und vermittelt einen ahnlichen okonomischen Nutzen wie eines, das in einem Restaurant serviert wird. Das Essen im Restau­rant geht jedoch mit allen damit verbunden Dienstleistungen in die gesamtwirt­schaftlichen MaBgroBen ein, das im Haushalt erstellte Essen aber nur mit dem Materialwert und dem Wert der sonstigen Vorleistungen wie Strom oder Was­ser. Die Messung der GUterproduktion ist insoweit unzureichend, als die Haus­haltsproduktion unberilcksichtigt bleibt und nur deren Substitut, die Marktpro­duktion, einbezogen wird.

Es kommt hinzu, daB die den GUtervorrat in einer Volkswirtschaft beein­flussende und von daher den Wohlstand der Bevolkerung priigende Haushalts­produktion nicht einfach nur als gleichbleibender und damit gewissermaBen konstanter prozentualer Zuschlag auf die gesamtwirtschaftlichen GroBen angesehen werden kann. Die Haushaltsproduktion und die daraus stammende GUterfillle unterliegen vielmehr konjunkturellen Schwankungen und daneben Uingerfristigen Trends. Vnter konjunkturellen Aspekten ist zu beachten, daB mit groBeren Einkommenssteigerungen und sich verbessemden Einkommens­erwartungen im Konjunkturaufschwung die Haushalte eher auf Eigenleis­tungen verzichten und daw Marktleistungen in Anspruch nehmen werden. Wenn es den Haushalten finanziell besser geht oder sie Verbesserungen ihrer okonomischen Lage erwarten, nimmt daher die statistisch unzureichend erfaBte Haushaltsproduktion ab und die im Inlandsprodukt vollstandig erfaBten Markt­leistungen steigen. Von daher ergibt sich eine Tendenz zu steigenden gesamt­wirtschaftlichen Produktionswerten, so daB der gemessene Konjunkturauf­schwung groBer und dynamischer erscheint, als es die den Haushalten zur Ver­filgung stehende GUtersumme belegen wiirde.

Bei einem Konjunktureinbruch mit drohender Arbeitslosigkeit und zu er­wartenden Einkommensverlusten werden die Haushalte umgekehrt eher auf marktmiiBig erstellte und marktmiiBig bewertete Giiter verzichten und sich auf Eigenleistungen verlegen, wodurch die erfaBte Wirtschaftstiitigkeit in ihren Zahlenwerten noch negativer ausflillt als es den tatsiichlichen Veriinderungen der GUtermengen entspricht, die die Haushalte zur Verfilgung haben. Damit er­gibt sich insgesamt die Konsequenz, daB das gemessene Inlandsprodukt stiir­kere Ausschliige aufweisen dUrfte, als es den nutzenstiftenden GUtermengen entspricht.

Bei Uingerfristigen Betrachtungen von gesamtwirtschaftlichen GroBen kann es daneben zu Fehlinterpretationen bzw. verzerrten Aussagen kommen,

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wenn die Gutermengen bzw. die darin zum Ausdruck kommenden Wohlstands­aspekte ausschlieBlich anhand der gemessenen Daten gedeutet werden. Dies Iiihrt daher, daB der Anteil der Haushaltsproduktion zeit- und kulturabhin­gig unterschiedlich ist. Die in den letzten Jahrzehnten stark anwachsenden Sin­gle-Haushalte greifen beispielsweise in viel groBerem Umfang auf Marktleis­tungen ZUIiick, die im Rahmen von GroBfamilien (noch) als Eigenleistung im Haushalt produziert werden. Eine vereinfachte, vordergriindige Interpretation der Gutersituation wiirde daher eine Volkswirtschaft mit vie len GroBfamilien (fiUschlicherweise) als iirmer einstufen als eine Volkswirtschaft, in der eine Vielzahl von Single-Haushalten vorkommt, obwohl sich die Verfligbarkeit an Giitem zwischen den Volkswirtschaften nicht wesentlich unterscheiden moB. Diese Beobachtung kann auch vielfach zwischen sogenannten reicheren Indu­strienationen und den iirmeren Volkswirtschaften gemacht werden. Die Nichtberiicksichtigung der Haushaltsproduktion ftihrt in jedem Fall zu ei­ner Unterschatzung der verfiigbaren Guter und des Wohlstands in einer Volkswirtschaft, wobei die Tendenz besteht, die Differenz in den gemessenen GroBen eher groBer auszuweisen als sie nach den jeweils vorhandenen Giitem tatsiichlich ausfallt.

• Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt an den gesamtwirtschaftlichen GroBen als umfassenden LeistungsmaBen ergibt sich bislang dadurch, daB z.B. das Bruttoinlandsprodukt bei der Messung der in einer Periode produzierten Giiter die Verbindung zu den Vermogensgro8en in einer Volkswirtschaft noch nicht vollstandig erfa8t. Dies kann an drei Beispielsfallen verdeutlicht wer­den.

Ein privater Vermogensgegenstand, der wegen eines Schadens untergeht und von einem Haushalt neu nachgefragt wird, erscheint im Inlandsprodukt als laufende Produktion und damit als Zunahme der Guter, obwohl aus der Sicht des Haushalts nur die ursprungliche Situation wiederhergestellt wurde. Wird z.B. rur einen privaten PKW, der einen Totalschaden hatte, ein gleichartiges neues Auto gekauft, so legt das gemessene BIP einen Giiterzuwachs von einer Periode zur anderen nahe, der so tatsiichlich nicht eingetreten ist. Geht man al­lerdings von der Vergleichssituation unmittelbar nach dem Schadenseintritt aus, so kann der ausgewiesene Guterzuwachs als zutreffende Beschreibung der wirt­schaftlichen Veriinderung angesehen werden. Die Problematik ergibt sich beim privaten Gebrauchsvermogen deshalb, weil es von der Erfassung her nicht als Vermogensgegenstand gewertet wird, der abgescbrieben werden kann, sondem als einmaliger Konsum in einer Periode interpretiert wird.

Die mangelnde vollstiindige Beriicksichtigung von Vermogensgro8en in einer Volkswirtschaft zeigt sich zum anderen an dem Vermogen, das eine Volkswirtschaft in Form von abbaubaren aber zugleich erschoptbaren Res­sourcen besitzt. Wenn Ressourcen, z.B. Bodenschiitze, abgebaut werden, dann wird die Abbautiitigkeit als Guterproduktion erfaBt. Die damit gleichzeitig ver­bundene Abnahme der natiirlichen Ressourcen wird allerdings bislang nicht ge­bucht. Es erscheint also nur die laufende Giiterproduktion als gemessene

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StromgroBe, nicht aber die Abnahme der Bestands- oder VermogensgroBe. In­soweit wird die Giiterproduktion zu hoch ausgewiesen. Das ESVG 1995 ist je­doch so konzipiert, daB die abgebauten Vermogensbestande in den Vermo­gensbilanzen kiinftig ausgewiesen werden konnen, was diesen Kritikpunkt ent­kraften wiirde.

Zum Vermogen einer Volkswirtschaft kann scbJieBlich die natiirliche Umwelt gerechnet werden. Die natiirlichen Lebensgrundlagen haben Ver­mogenscharakter und sind kein freies Gut, das unbeschrankt zur Verfiigung steht. Wenn Produktion oder Konsum von Giitem die Umweltqualitat dauerhaft schadigen, so reduzieren sie das Umweltvermogen. Dies wird allerdings im gemessenen BIP nicht in Form einer Abschreibung als vermogensmindemd be­riicksichtigt. Die Aufwendungen zur Beseitigung von Umweltschaden, z.B. der Bau von Klaranlagen, erscheinen jedoch als positiver Beitrag zum Inlandspro­dukt, obwohl das Umweltvermogen dadurch lediglich aufrecht erhalten werden solI. Insgesamt wird durch die VernachHissigung des Umweltvermogens die gemessene Giiterproduktion zu hoch dargestellt.

• Die Nichterfassung sozialer Kosten und Ertriige, d.h. der extern en Effekte, kann in ihrer Wirkungsrichtung auf die gemessene Giitermenge nicht eindeutig geklart werden. Zu den sozialen Kosten zahlen Schaden, die durch Giiterpro­duktion und Giiterkonsum bei anderen Wirtschaftssubjekten eintreten (z.B. Be­lastungen durch Verschmutzungen oder Larm). Soziale Ertrage sind Vorteile, die dritten Personen oder Wirtschaftssubjekten unentgeltlich durch den Kon­sum oder die Produktion eines anderen Wirtschaftssubjektes zugute kommen. Da es sich bei den sozialen Kosten und Ertragen urn Einfliisse handelt, die de­finitionsgem1i.B nicht iiber Markte vermittelt werden, fehlt von vornherein ein geeigneter BewertungsmaBstab. Es bleibt nur festzustellen, daB im AusmaB der sozialen Kosten oder negativen extemen Effekte, die gemessene Giitersumme zu hoch ausgewiesen wird, bzw. daB im Umfang der sozialen Ertrage oder po­sitiven extemen Effekte die gemessene Giiterproduktion entsprechend geringer ausf<illt.

• Die Erfassung schattenwirtschaftlicher Tiitigkeiten erfolgt in den gesamt­wirtschaftlichen GroBen ebenfalls nicht oder nicht vollstiindig. Die Schatten­wirtschaft insgesamt und die hierin enthaltene Schwarzarbeit ist zwar mit Giiterproduktion verbunden und tragt insoweit zum Wohlstand bei. Die an der Schattenwirtschaft Beteiligten legen aber Wert darauf, daB ihre Tatigkeiten auf dem "Markt fUr Schattenwirtschaft" nicht erfaBt werden, weil sie vomehmlich die dam it verbundenen und auf offiziellen Markten anfallenden Steuem und Abgaben scheuen, bzw. die fUr offizielle Markte gegebenen staatlichen Re­striktionen umgehen wollen. Eine Erfassung von der Entstehungsseite der Gii­terproduktion ist daher schlecht moglich. Die schattenwirtschaftliche Giiterpro­duktion schlagt sich aber gleichwohl in Einkommen nieder. Soweit dieses Ein­kommen wiederum im offiziellen Teil einer Volkswirtschaft verwandt wird, er­gibt sich zumindest eine teilweise Moglichkeit der Erfassung dieser Tatigkei­ten.

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• Ais Kritikpunkt gilt auch, daB die in den gesamtwirtschaftlichen GroBen erfaBten staatlichen Leistungen wie andere Endprodukte aus der privaten Giiterproduktion behandelt werden, die urn ihrer selbst willen von den Wirt­schaftssubjekten geschlitzt und nachgefragt werden. Dies trifft jedoch fUr jene staatlichen Leistungen nicht zu, die Vorleistungscharakter fUr weitere Berei­che der wirtschaftlichen Tlitigkeiten in der Volkswirtschaft haben. Zurnindest fUr einen Teil der staatlichen Dienstleistungen wie Aufrechterhaltung der Infra­struktur oder die Bereitstellung von innerer und liuBerer Sicherheit ist der Vor­leistungscharakter naheliegend. Die damit in Zusammenhang stehenden staatli­chen Ausgaben dienen zwar durchaus der Herstellung und Aufrechterhaltung der Funktionsflihigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sie stellen je­doch nicht immer Endprodukte dar. Die gemessene Giiterproduktion wird dem­entsprechend zu hoch ausgewiesen.

• Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lliBt als EinzelgroBe keine Aussage iiber die Verteilung von Giitern und Einkommen auf Haushalte oder Perso­nen in einer Volkswirtschaft zu. Es ist eine DurchschnittsgroBe, hinter der sich sowohl eine Gleichverteilung als auch eine extreme Ungleichverteilung verber­gen konnen. Inwieweit viele oder alle Mitglieder einer Volkswirtschaft an einer Steigerung der Giitermenge beteiligt sind oder ob nur wenige davon profitieren, ist ohne ergiinzende Information nicht zu beurteilen. Insbesondere bei intemationalen W ohlstandsvergleichen muB man sich dariiber im klaren sein, daB das BIP kein VerteilungsmaO ist und man daher nicht von gleichartigen Einkommens- und Giiterverteilungen zwischen den zu vergleichenden Volks­wirtschaften ausgehen darf.

Die Kritikpunkte an den gesamtwirtschaftlichen MaBkonzepten werden vielfach so weit interpretiert, als daB sie deren Verwendung weitgehend beeintrlichtigten. Aus der Darstellung der Kritikpunkte erweist sich, daB die gemessene Giitermenge in einer Volkswirtschaft teilweise unterschiitzt (z.B. durch Vemachllissigung der Haushaltsproduktion), teilweise iiberschiitzt wird (durch unvollstlindige Einbezie­hung der Vermogensaspekte bzw. durch Behandlung der staatlichen Leistungen als Endprodukte). Ob die Uberschiitzung oder Unterschiitzung Uberwiegt oder ob es zu systematischen Verzerrungen kommt, kann gegenwlirtig nicht allgemein be­stimmt werden.

Die nach aHem erkennbare Unsicherheit bei der Interpretation der MaBkon­zepte kann gleichwohl nicht dazu fiihren, den gesamtwirtschaftlichen GroBen jegli­chen systematischen Bezug zu Giitermengen oder Einkommen in einer Volkswirt­schaft insgesamt abzusprechen. Die Kritikpunkte sollten jedoch vor einem zu leichtfertigen Umgang mit den gesamtwirtschaftlichen GroBen wamen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das wirtschaftliche Gewicht, der von ihnen angesproche­nen Sachverhalte tiber die Zeit hin variiert bzw. zwischen zu vergleichenden Volkswirtschaften differiert.

Aus der DarsteHung und Interpretation der Kritikpunkte an den gesamtwirt­schaftlichen GroBen kann auch die Folgerung gezogen werden, daB eine vollstiin­digere Messung der wirtschaftlichen Leistung durch Einbeziehung weiterer

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wichtiger Grofien sinnvoll oder gar erforderlich ist. Entsprechende Uberlegungen konnten direkt mit dem System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ver­kntipft oder aber als zunachst unabhangige Erganzung dazu entwickelt werden. Der letzte Weg ist in den vergangenen Jahren beschritten worden. Es kam zur Kon­struktion sogenannter Satellitensysteme, die unabhangig von der Volkswirt­schaftlichen Gesamtrechnung sind, deren Ergebnisse jedoch bei einer Gesamtbe­trachtung der Giitermengen und der W ohlstandssituation in einer Volkswirtschaft einzubeziehen sind. Solche Satellitensysteme liegen mittlerweile fUr drei Berei­che vor: die Haushaltsproduktion, die Umwelteinfltisse von Produktion und Kon­sum sowie die sozialen und Lebensbedingungen, die mit Sozialindikatoren erfaBt werden sollen.

5.5.3 Erfassung der Haushaitsproduktion

Das Statistische Bundesamt hat im Jahr 1992 eine statistische Erfassung der Haus­haltsproduktion vorgenommen und dam it Schatzungen flir deren monetaren Wert erstellt. Ausgangspunkt war eine Zeitbudgeterhebung, die 1991192 bei 7200 Haushalten in den alten und neuen Bundeslandem durchgeflihrt wurde. Sinn der Zeitbudgeterhebung war es herauszufinden, wie Haushalte ihre gesamte Zeit des durchschnittlichen 24-Stunden-Tages einteilen und welche Tatigkeiten verrichtet werden. Dabei ergeben sich grobe Unterscheidungen der Zeitverwendung in Er­werbstatigkeit, unbezahlte Arbeit (= eigentliche Haushaltsproduktion), Qualifika­tion oder Bildung, Ruhezeiten und Geselligkeit. Zur Haushaltsproduktion zahlen die Produktionstatigkeiten fUr den eigenen Haushalt, unbezahlte Produktion flir Dritte und ehrenamtliche Tatigkeiten in sozialen Organisationen.

Die Haushaltsproduktion wird nach dem sogenannten Dritt-Personen-Kri­terium abgegrenzt. Danach zahlen zu den unbezahlten Tatigkeiten der Haushalts­produktion nur solche Aktivitaten, die auch von Dritten gegen Bezahlung tiber­nommen werden konnen. Dieses Kriterium zielt darauf ab, aIle Tatigkeiten einzu­beziehen, die auch tiber Markte abgewickelt werden konnten. Ais Ergebnis konnte festgestellt werden, daB z.B. das Jahresvolumen flir Erwerbsarbeit im fiiiheren Bundesgebiet bei 48 Mrd. Stunden lag, der Umfang der unbezahlten Arbeit aber mit 77 Mrd. Stunden die Erwerbsarbeitszeit urn 60 % tiberstieg. In diesem Zu­sammenhang spielt natiirlich auch eine Rolle, daB die unbezahlte Arbeit im Haus­halt an allen Wochentagen, tiber den gesamten Tag verteilt und auch an Feiertagen und in den Ferienzeiten stattfindet.

Eine grofiere Unsicherheit ergibt sich nach der Ermittlung der geleisteten Zeiten flir unbezahlte Arbeit bei der Bewertung der Arbeitszeiten. Man kann beispielsweise eine outputorientierte Bewertung vomehmen und insoweit den Wert der Haushaltsproduktion nach den erzeugten Giitern und deren vergleich­baren Marktpreisen messen. Es gibt hierbei aber Erhebungsprobleme tiber Art, Qualitat und Menge der erbrachten Dienstleistungen und tiber die im einzelnen zu verwendenden Wertansatze fUr diese Dienstieistungen. Das Statistische Bundesamt hat diesen Ansatz nicht we iter ausgefiihrt.

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Grundlage einer inputorientierten Bewertung bilden die Aufwendungen fUr die produzierten Guter. Danach ist der Zeitaufwand der in die Haushaltspro­duktion einflieBenden Tatigkeiten zu ennitteln und mit einem bestimmten Lohn­satz zu bewerten. 1m Rahmen der inputorientierten Bewertung gibt es zwei An­satze: die Bewertung mit Opportunitatskosten und die Bewertung mit Marktlohn­satzen. Beim Opportunitatskostenansatz wird danach gefragt, welches Einkom­men ein Haushaltsmitglied erzielen konnte, wenn es anstelle der unbezahlten Haus­arbeit einer bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen wiirde. Gleiche Tatigkeiten werden hierbei mit unterschiedlichen Lohnsatzen bewertet, je nachdem wieviel eine Person bei der bezahlten Erwerbsarbeit verdienen konnte. Eine Stunde Hausarbeit eines Hochschullehrers wird damit hOher bewertet als die einer Haushalterin. Das Stati­stische Bundesamt hat diesen Ansatz abgelehnt, weil er mit den Bewertungsregeln der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht vereinbar ist, die primar auf tat­sachliche Vorgange und weniger aufhypothetische Situationen abstellen.

Bei der Bewertung mit Marktlohnsatzen wird eine Verlagerung der Haus­haltsproduktion auf bezahlte Arbeitskrafte unterstellt. Es wird gefragt, wieviel die Beschaftigung von Personen kosten wllrde, die die Hausarbeit zu verrichten haben. Dabei laBt sich die Generalistenmethode, bei der die Anstellung einer bzw. eines vollverantwortlichen, verschiedene Tatigkeiten ausfUhrenden Hausangestellten angenommen wird, von der Spezialistenmethode unterscheiden. Nach der Spezia­listenmethode werden einzelne Tatigkeiten mit entsprechenden Marktlohnsatzen fUr Spezialisten im Marktbereich, die ahnliche Funktionen ausUben (z.B. KUchen­angestellte, Handwerker, Erzieher oder Erzieherinnen), bewertet. Beide Methoden halt das Statistische Bundesamt fUr grundsatzlich geeignet. Es zieht allerdings den Generalistenansatz vor, da er das hauswirtschaftliche Produktionsumfeld fUr viele Aktivitatsbereiche besser widerspiegeln durfte als der Spezialistenansatz.

Tatsachlich hat das Statistische Bundesamt im Rahmen der inputorientier­ten Bewertung drei unterschiedliche Ansatze fUr die Bewertung, d.h. die Entlohnung der unbezahlten Arbeitszeit im Haushalt vorgenommen. Es hat einmal den Generalistenansatz aufgegriffen und den Lohnsatz einer qualifizierten Haus­wirtschafterin unterstellt. Es hat daneben fUr den Spezialistenansatz die Lohne entsprechender Berufsfelder zugrunde gelegt. SchlieBlich hat es die Durch­schnittslOhne aller Beschaftigten herangezogen, urn insoweit noch Teilaspekte der Opportunitatskostenbewertung zu beriicksichtigen. Dabei waren fUr die Entlohnung noch weitere Details festzulegen, wie z.B. ob ein Nettostundenlohn oder ob der Durchschnittslohn eines sozialversicherungspflichtigen Beschaftigten die geeigne­tere LohngroBe ist. Je nachdem ergeben sich mit den drei Ansatze gravierende Unterschiede in der Dimension des Wertes der unbezahlten Arbeit. Sie reichen von 897 Mrd. DM fUr das Jahr 1992 bis zu 2.805 Mrd. DM als Schatzwert fUr die Haushaltsproduktion. Entsprechend miiBte das Bruttoinlandsprodukt urn bis zu 73 % hoher ausgewiesen werden als es fUr 1992 festgestellt wurde.

Die Uberlegungen des Statistischen Bundesamtes zur Erfassung der Haus­haltsproduktion machen deutlich, daB die gesamte Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft erheblich (urn mindestens ein Drittel) steigen wllrde, wenn man

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Eigenleistungen privater Haushalte vollstlindig in die Volkswirtschaftliche Gesam­trechnung einbeziehen wiirde. Es bleibt dabei allerdings eine betriichtliche Erfas­sungs- und Bewertungsunsicherheit fiber die ,,richtige" Bewertung, weshalb eine weitergehende Integration der Haushaltsproduktion in das Bruttoinlandsprodukt gegenwartig nicht vorgesehen ist.

5.5.4 Umweltokonomische Gesamtrechnungen

Die mit der GOterproduktion und der Einkommensverwendung verbundenen U m­welteinflfisse sollen im Rahmen eines weiteren Satellitensystems, d.h. in einer Umweltokonomischen Gesamtrechnung (UGR) erfaBt werden. 1993 gaben die Vereinten Nationen ein Handbuch filr ein System fiber eine integrierte Umwelt­und Wirtschaftsbuchfiihrung (System for Integrated Environmental and Economic Accounting - SEEA) heraus, das eine Zusammenfiihrung von Umweltbuchfiihrung und Wirtschaftsbuchfiihrung vorsieht. Die Bundesregierung halt im Einvemehmen mit dem Statistischen Bundesamt jedoch die Entwicklung eines einzigen hochaggregierten Indikators, mit dem die wirtschaftliche und okologische Ent­wicklung abgebildet werden kann, filr nicht realisierbar. Sie begrOndet dies mit der Komplexitat der okologisch-okonomischen Zusammenhange, den unzureichenden Kenntnissen fiber Ursachen-Wirkungs-Zusammenhiinge, dem Selektions- und Ge­wichtungsproblem sowie der monetiiren Bewertung von Umweltveriinderungen, filr die es bislang keine allgemein akzeptierten Bewertungsansatze gibt. Ein Okosozi­alprodukt, mit dem die Abschreibungen auf das Naturvermogen in einer einzigen Zahl erfaBt werden, erscheint nicht machbar. Ziel ist es vielmehr, mit Umweltoko­nomischen Gesamtrechnungen die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Umwelt in verschiedenen Indikatoren darzustellen.

Eine erste Konzeption der Umweltokonomischen Gesamtrechnungen (UGR) hat vorgesehen, Berichtssysteme aufzubauen, mit denen Beziehungen zwischen wirtschaftlichen Aktivitaten und der Entwicklung des Umweltzustandes statistisch dokurnentiert werden sollen. Der Zusammenhang zwischen Okonomie und Okologie war danach in funf Darstellungsgebiete gegliedert worden:

(1) Entnahme und Verbrauch naturlicher Rohstoffe. Hierbei geht es urn eine Dokurnentation des Stroms von Ressourcen in das Wirtschafts- und Sozialsy­stem, d.h. der durch inliindische Aktivitaten verursachte Ressourcenverzehr wird quantifiziert.

(2) AusstoD und Verbleib von Emissionen. 1m Rahmen dieses Problemfel­des wird am Aufbau einer Emittentenstruktur mit weitgefaBtem Emissionsbegriff gearbeitet. Ziel ist es, mit Hilfe der Input-Output-Analyse die gesamten durch eine jeweilige Produktions- und Konsurnaktivitat verursachten Emissionen zu bestim­men. Dabei werden neben den unmittelbaren Schadstoffemissionen einer Aktivitat auch die durch den Bezug von V orleistungen verursachten indirekten Emissionen bei anderen Produktionsbereichen ermittelt.

(3) Nutzung der naturlichen Umwelt als Standort fur menschliche Akti­vitiiten. Die Darstellung der Bodennutzung spielt hier eine zentrale Rolle. In der

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Nutzung des Bodens z.B. fUr Siedlungs- und Verkehrszwecke dokurnentieren sich menschliche Aktivitaten.

(4) Qualitativer Zustand der UmweIt (Immissionslage). Hierbei werden Indikatoren gesucht, mit deren Hilfe Zustand und Veranderung der Umwelt in aggregierter und aussagefahiger Form erfaBt werden konnen.

(5) UmweItschutzma6nahmen. Die UmweltschutzmaBnahmen werden an­hand der Ausgaben fUr Anlagevermogen und laufende Ausgaben flir Umwelt­schutzzwecke erfaBt. Die genannten Bausteine fUr Umweltokonomische Gesamtrechnungen sind zwi­schenzeitlich we iter ausgearbeitet worden und werden in Berichten zu den Um­weltokonomischen Gesamtrechnungen zusammengefaBt. Die Berichte liegen seit 1999 vor und gehen dabei u.a. auf die nachfolgenden sechs Sachverhalte ein:

(1) Produktivitat der Naturnutzung. Mit der Produktivitat der Naturnut­zung solI erkennbar werden, wie effizient eine Volkswirtschaft mit dem Einsatz der Natur urngeht. Dies ist ein wichtiger Indikator fUr die Nachhaltigkeit der Ressour­cennutzung. Solche Produktivitaten werden fUr die natiirlichen Einsatzfaktoren Flache, Energie, Rohstoffe und Wasser errechnet. Daneben laBt sich feststelIen, wie die Natur als Senke fUr Rest- und Schadstoffe in Anspruch genommen wird. Das Statistische Bundesamt kann hierbei durchaus steigende Produktivitaten er­kennen, die jedoch hinter der Produktivitatsentwicklung des Arbeitseinsatzes zu­riickb leiben.

(2) Materialentnahme. Wirtschaftliche Aktivitaten sind mit MaterialflUssen verbunden. Das Material wird aus der Natur entnommen und nach Umwandlung im WirtschaftsprozeB und im Konsurn als Rest- und Schadstoff wieder an die Natur abgegeben. Das Statistische Bundesamt verfolgt das Ziel, diese Stoff strome liik­kenlos in physischen Einheiten darzustellen. Eine Materialbilanz kann insoweit Anhaltspunkte fUr AusmaB und Entwicklung der physischen Inanspruchnahme der Umwelt geben. Bisher konzentriert sich die Erhebung auf den unmittelbaren Materialeinsatz, d.h. die Rohstoffentnahme aus der inlandischen Natur sowie die importierten Materialien. Der mittel bare Materialeinsatz, der sich im Zusam­menhang mit der Erzeugung der importierten GUter und deren Materialentnahmen aus der Natur in der Ubrigen Welt ergibt, laBt sich aber noch nieht hinreiehend genau ermitteln. Gleichwohl ist feststellbar, daB der Materialdurchsatz der deut­schen Wirtschaft in den 90er Jahren gesunken ist.

(3) Energieverbrauch. Den Energieverbrauch kann man nach mehreren Aspekten betrachten. Zum einen kann danach gefragt werden, wie hoch der di­rekte Energieverbrauch der Produktionsbereiche bei ihrer Produktion und der privaten Haushalte bei ihrem Konsum ist. Zum anderen laBt sieh ermitteln, wie hoch der kumulierte Energieverbrauch bei der Herstellung der Produkte unter Beriicksichtigung aller Produktionsstufen ausfallt. Schlief31ich kann nach der Hohe des Energieeinsatzes bezogen auf die jeweilige letzte Verwendung gefragt wer­den, urn z.B. festzustelIen, welche Energiemengen bei privaten Haushalten fUr Bekleidung, Nahrungsmittel etc. verbraucht wurde.

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(4) Nutzung der Bodenflache. Die bisherigen UmweltOkonomischen Gesam­trechnungen weisen fUr das fiilhere Bundesgebiet einen relativ stabilen Zusam­menhang zwischen dem globalen realen Wirtschaftswachstum und der Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsflichen aus. Zwischenzeitlich geht es darum, die Fliichennutzung durch die einzelnen Produktionsbereiche und die privaten Haushalte zu ermitteln, urn die Siedlungs- und Verkehrsfliichen den jeweiligen direkten okonomischen Nutzem zuzuordnen. Es zeigt sich dabei, daB die gesamte Zunahme der Fliicheninanspruchnahme zu einem groBen Teil auf den Konsurn der privaten Haushalte zuriickzufiihren ist.

(5) Umweltschutzma6nahmen. Mit UmweltschutzmaBnahmen von Unter­nehmen und dem Staat sollen die Beeintriichtigungen der Natur vermieden, ver­ringert oder beseitigt werden. Hierzu werden Angaben fiber die Umweltschutz­ausgaben der Untemehmen des Produzierenden Gewerbes und des Staatsbereichs sowie deren Anlagevermogen fUr den Umweltschutz ermittelt. Die yom Statisti­schen Bundesamt ausgewiesenen Ausgaben fUr Umweltschutz setzen sich mithin aus den Investitionen und den laufenden Ausgaben fUr Umweltschutzzwecke zu­sammen. Wegen fehlender Daten sind die Umweltschutzausgaben der Landwirt­schaft und der privaten Haushalte noch nicht enthalten.

(6) Umweltbezogene Steuern. Zu den urnweltbezogenen Steuem werden in Deutschland die MineralOlsteuer, die Stro)11steuer und die Kraftfahrzeugsteuer gerechnet. Deren Aufkommen und Entwicklungstrends werden dargestellt.

Diese Berichte zu den Umweltokonomischen Gesamtrechnungen lassen im wesentlichen noch keinen Riickschlu6 auf den Wert der Umwelt oder den Wert bzw. die Kosten ihrer Nutzung zu. Sie liefem zwar eine breite Datenbasis urnwelt­relevanter Informationen, bleiben aber auch zwischen ihren Bausteinen unverbun­den. Es kommt hinzu, daB weiterhin erhebliche wissenschaftliche Erkenntnisdefi­zite fiber okologische Prozesse in ihrer naturwissenschaftlichen Ursachenstruktur vorhanden sind. Die vorliegenden Ergebnisse der Umweltokonomischen Gesamt­rechnungen erlauben insoweit nur wenige SchluBfolgerungen fUr die Nachhaltig­keit des Wirtschaftsprozesses. Gleichwohl machen sie die Dimensionen urnweltpo­litischer Fragestellungen deutlich und geben eine Struktur fUr die weitergehenden Analysen vor.

5.5.5 Sozialindikatoren

Sozialindikatoren haben das Ziel, eine Beurteilung der Lebensqualitit in einer Gesellschaft zu ermoglichen. Dieses Ziel kann selbstverstandIich subjektiv unter­schiedlich aufgefaBt und interpretiert werden, da es fUr Lebensqualitiit ebenso wie fUr das Ziel der gesellschaftIichen Wohlfahrt keine allgemein verbindliche Um­schreibung gibt. Es ist daher nicht fiberraschend, daB kein einheitlicher Katalog von Sozialindikatoren existiert. Es konnen aber beispielhaft die Versuche erwiihnt werden, MaBgroBen oder auch nur Argurnente zusammenzustellen, die in ihrer Summe als Indikatoren fUr Lebensqualitiit gelten sollen. Solche Indikatoren sind

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beispielsweise von der OECD, der Weltbank und den Vereinten Nationen vorgestellt worden. • In einer fiiiheren Arbeit hat die OECD Zielbereiche genannt, die das Wohler­

gehen (Well-being) erfassen sollen und insoweit ein System von Sozialindi­katoren darstellen. Diese Zielbereiche bestehen aus folgenden Sachverhalten, fUr die im einzelnen noch geeignete MaBgroBen zu finden sind: Gesundheit, Entwicklung der Personlichkeit durch Bildung, Erwerbstatigkeit und Qualitat des Arbeitslebens, Zeiteinteilung und .Freizeit, VerfUgung tiber Waren und Dienstleistungen, physische Umwelt, personliche Sicherheit und Rechtspflege sowie gesellschaftliche Chancen und die Moglichkeiten zur Beteiligung am ge­sellschaftlichen Leben.

Ein neueres System von Sozialindikatoren der OECD greift auf viele der fiiiheren Argumente zurUck, erglinzt sie und ordnet sie teilweise neuen Zielbe­reichen zu. Die Zielbereiche sprechen nachfolgende Sachverhalte und Einzel­aspekte an: Allgemeine Indikatoren (V olkseinkommen, Geburtenraten, Alten­quotient, Auslander, Asylsuchende und Fltichtlinge, Scheidungsraten, Alleiner­ziehende); Indikatoren fUr selbstandige LebensfUhrung (Erwerbstatigkeit, Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Arbeitslosigkeit ganzer Haushalte, er­werbstatige MUtter, Rentenalter, Beschaftigungspolitik, Bildungsausgaben, Vorschulerziehung, SchulabschlUsse, Alphabetisierung, Steuerbelastung); Gleichheitsindikatoren (relative Armut, Einkommensungleichheit, gering be­zahlte Beschliftigungsverhliltnisse, geschlechtsspezifische Lohnunterschiede, Mindestlohne, staatliche Sozialausgaben, private Sozialausgaben, Zahl der Un­tersrutzungsempfanger); Gesundheitsindikatoren (Lebenserwartung, Kinder­sterblichkeit, Potential verlorener Lebensjahre, Lebenserwartung ohne Behinderung, Unfalle, altere Heimbewohner, Gesundheitsausgaben, Zustandig­keiten bei der Finanzierung der Gesundheitsausgaben, Gesundheitsinfrastruk­tur); Indikatoren des sozialen Zusammenlebens (Streiks, Drogentote, Selbstmorde, Verbrechen, Mitgliedschaften, Wahlverhalten, Gefangene).

• Die Weltbank benutzt in im Zusammenhang mit Indikatoren des Entwick­lungs stands ein Indikatorensystem zur Erfassung der Lebensqualitat. Hierzu werden sechs Einzelindikatoren herangezogen und mit Zahlenwerten belegt. Die konkreten MeBwerte dienen dann fUr intemationale Vergleiche der Le­bensqualitaten in den Volkswirtschaften der Welt. Als Einzelindikatoren fun­gieren folgende GroBen: die Lebenserwartung bei der Geburt (aufgegliedert nach mannlich und weiblich); Unteremahrung bei Kindem unter 5 Jahren; der Zugang zu sanitaren Einrichtungen; der Zugang zu Trinkwasser; Analphabetis­mus bei Erwachsenen (aufgegliedert nach Mannem und Frauen); industrieller Stromverbrauch.

• Die Vereinten Nationen greifen in ihren Berichten zum Stand der menschli­chen Entwicklung auf mehrere Entwicklungsindikatoren zuruck. Der Indika­tor der mensch lichen Entwicklung (Human Development Index) verwendet lediglich drei ZielgroOen: die Moglichkeit ein langes und gesundes Leben zu fiihren, den Stand des Wissens und einen angemessenen Lebensstandard.

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Diese allgemeinen Ziele werden dann mit MaBgroBen erfaBt, namlich der Le­benserwartung, der Alphabetisierung der Erwachsenen sowie der Teilnahme an den Schul- oder Ausbildungsstufen und schlieBlich einer Pro-Kopf-Einkom­mensgroBe in Kaufkrafteinheiten.

Die genannten und die dariiber hinaus existierenden weiteren Sozialindikatorensy­sterne machen grundsatzlich deutlich, welche Argumente benutzt werden, wenn es darum geht, mehr als nur Giitermengen oder Einkommen in einer Volkswirtschaft zu messen, urn die fiir das menschliche Leben bedeutsamen Aspekte zu erfassen. Insoweit werden in den Sozialindikatoren durchaus wichtige zur Lebensqualitat beitragende Sachverhalte dargestellt. Gleichwohl bleibt das Problem der subjekti­ven Auswahl der Einzelindikatoren und deren Gewichtung, die ebenfalls nur je­'weils aus der Sicht eines einzelnen Beobachters nachvollziehbar oder plausibel erscheint. Andere Beobachter werden daher durchaus auf andere Einzelindikatoren mit einer anderen Gewichtung zurUckgreifen. 1m Unterschied zur Marktbewertung der gesamtwirtschaftlichen Giiterproduktion gibt es fiir die Sozialindikatoren keine gesellschaftlichen Abstimmungs- oder Bewertungsprozesse. Wegen der subjekti­ven und insoweit fiir Dritte willkiirlichen Pragung der Sozialindikatoren bleibt ihre Verwendungsmoglichkeit immer eingeschrankt. Sozialindikatoren konnen daher die Verwendung von GroBen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht ersetzen, zumal sie selbst immer auch die gesamtwirtschaftlichen GroBen Giiterproduktion oder Einkommen als Bestandteil der Lebensqualitat mit einbezie­hen miissen.