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8/8/2019 Pierre-Laurent-Aimard - Sudoku Auf Dem Klavier http://slidepdf.com/reader/full/pierre-laurent-aimard-sudoku-auf-dem-klavier 1/2 DIE ZEIT 08/2008 S. 50 [ http://www.zeit.de/2008/08/Pierre-Laurent-Aimard ] Klassik Sudoku auf dem Klavier Leiser, musikalischer Denksport ganz im Sinne Bachs: Der Pianist Pierre-Laurent Aimard spielt die »Kunst der Fuge« in München. Von Wolfram Goertz Johann Sebastian Bach würde heutzutage vielleicht in einem Max-Planck-Institut arbeiten – als Experte für »Kybernetische Regelkreise der Fugenkomposition«. Für den Thomaskantor war Musik eine Wissenschaft, Schwester von Mathematik und Astronomie, die Töne nach den Gesetzen geometrischer Parabeln, Ellipsen, Zyklen, Treppen und Terrassen sortierte. Zugleich trieb er die Möglichkeiten kontrapunktischer Verknüpfung an die Grenzen. Das Höchste war Bach die Fuge: Ein Thema läuft durch mehrere Lagen, spricht mit sich selbst, beschleunigt, bremst, geht rückwärts, spiegelt sich. Die Fuge nutzte er als ideales, schier altertümliches Modul, das sich selbst limitierte und zugleich ergebnisoffen war. In den beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers hatte Bach der Fuge bereits hohe Ehre erwiesen; nun, in vorgerücktem Alter nach 1740, schritt er zu härteren Aufgaben, die an Selbstkasteiung grenzten. Er beschloss, eine Art Standardwerk der Kombinatorik vorzulegen, ein Lehrbuch über die unerforschte Frage, welche inwendigen Verrenkungen der Fuge als Konstruktionsprinzip noch abzuringen seien. Bach hatte Gigantisches im Sinn: Doppel-, Tripel-, Quadrupelfugen, Spiegelfugen, Kanons in allen möglichen Transpositionsintervallen. Bei aller Mathematik, Logik, Formstrenge des Zyklus, der so geheimnisvoll wirkt, dass er kaum je aufgeführt wird: Ist dieKunst der Fuge auch fesselnde Musik? Wenn der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard das Podium des Münchner Herkulessaals betritt, schwebt im Raum die Ahnung, gleich werde ein Testament eröffnet. Über dieser Musik, glaubt die Nachwelt, sei Bach gestorben. Das ist er mitnichten. Aimard findet dennoch, dass der Hörer einen heiligen Raum spüren solle, den er imContrapunctus I betritt. Sein Spiel ist ein behutsames Tasten, als klopfe der Pianist leise an eine Tür und warte, dass Bach ihn hereinbitte. Solche Diskretion hat Gründe. Vor Bach, dem Gesetz, wartet Aimard schon lange, er hat geforscht, welche der verschiedenen Textgestalten und Reihenfolgen er wählen soll (es gibt keine definitive Aufführungsversion), hat Fachleute konsultiert, Diskografien durchforstet und das Zentralproblem gewichtet: Für welches Instrument ist die Kunst der Fuge überhaupt komponiert? Die Fugen erklingen wie unter Kerzenschein Bach hat den Zyklus aus 14 Fugen und vier Kanons, der mit einer unvollendeten Fuge abbricht (gleich nach dem unterschriftsechten B-A-C-H-Motiv), auf vier Notenlinien formuliert, was jedoch nicht bedeutet, dass er an vier Instrumente dachte. Polyfone Kunstfertigkeit wurde damals so präsentiert, für Spieler wie Leser, und die Lektüre gelang besser, wenn sich die Stimmen separat verfolgen ließen. Bach kannte die theorielastigen Usancen von Lorenz Mizlers LeipzigerCorrespondierender Page 1 of 2 03-04-2008 http://images.zeit.de/text/2008/08/Pierre-Laurent-Aimard

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DIE ZEIT 08/2008 S. 50 [http://www.zeit.de/2008/08/Pierre-Laurent-Aimard]

Klassik

Sudoku auf dem KlavierLeiser, musikalischer Denksport ganz im Sinne Bachs: Der PianistPierre-Laurent Aimard spielt die »Kunst der Fuge« in München.

Von Wolfram Goertz

Johann Sebastian Bach würde heutzutage vielleicht in einem Max-Planck-Institutarbeiten – als Experte für »Kybernetische Regelkreise der Fugenkomposition«. Für den Thomaskantor war Musik eine Wissenschaft, Schwester von Mathematik undAstronomie, die Töne nach den Gesetzen geometrischer Parabeln, Ellipsen, Zyklen,Treppen und Terrassen sortierte. Zugleich trieb er die Möglichkeitenkontrapunktischer Verknüpfung an die Grenzen. Das Höchste war Bach die Fuge:Ein Thema läuft durch mehrere Lagen, spricht mit sich selbst, beschleunigt, bremst,geht rückwärts, spiegelt sich. Die Fuge nutzte er als ideales, schier altertümlichesModul, das sich selbst limitierte und zugleich ergebnisoffen war.

In den beiden Bänden desWohltemperierten Klaviers hatte Bach der Fuge bereitshohe Ehre erwiesen; nun, in vorgerücktem Alter nach 1740, schritt er zu härterenAufgaben, die an Selbstkasteiung grenzten. Er beschloss, eine Art Standardwerk der Kombinatorik vorzulegen, ein Lehrbuch über die unerforschte Frage, welche

inwendigen Verrenkungen der Fuge als Konstruktionsprinzip noch abzuringen seien.Bach hatte Gigantisches im Sinn: Doppel-, Tripel-, Quadrupelfugen, Spiegelfugen,Kanons in allen möglichen Transpositionsintervallen. Bei aller Mathematik, Logik,Formstrenge des Zyklus, der so geheimnisvoll wirkt, dass er kaum je aufgeführtwird: Ist die Kunst der Fuge auch fesselnde Musik?

Wenn der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard das Podium des Münchner Herkulessaals betritt, schwebt im Raum die Ahnung, gleich werde ein Testamenteröffnet. Über dieser Musik, glaubt die Nachwelt, sei Bach gestorben. Das ist er mitnichten. Aimard findet dennoch, dass der Hörer einen heiligen Raum spüren solle,den er imContrapunctus I betritt. Sein Spiel ist ein behutsames Tasten, als klopfe der

Pianist leise an eine Tür und warte, dass Bach ihn hereinbitte. Solche Diskretion hatGründe. Vor Bach, dem Gesetz, wartet Aimard schon lange, er hat geforscht, welcheder verschiedenen Textgestalten und Reihenfolgen er wählen soll (es gibt keinedefinitive Aufführungsversion), hat Fachleute konsultiert, Diskografien durchforstetund das Zentralproblem gewichtet: Für welches Instrument ist die Kunst der Fuge überhaupt komponiert?

Die Fugen erklingen wie unter Kerzenschein

Bach hat den Zyklus aus 14 Fugen und vier Kanons, der mit einer unvollendetenFuge abbricht (gleich nach dem unterschriftsechten B-A-C-H-Motiv), auf vier

Notenlinien formuliert, was jedoch nicht bedeutet, dass er an vier Instrumente dachte.Polyfone Kunstfertigkeit wurde damals so präsentiert, für Spieler wie Leser, und dieLektüre gelang besser, wenn sich die Stimmen separat verfolgen ließen. Bach kanntedie theorielastigen Usancen von Lorenz Mizlers Leipziger Correspondierender

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