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Platon über Wahrheit und Kohärenz von Jan Szaif (Bonn) Das sokratische Fragen, so wie es in Platons Dialogen gestaltet wird, thematisiert bestimmte grundlegende Eigenschaften oder Begriffe. Es geht dabei von der Voraussetzung aus, daß diese wahr eingrenzbar sind und nicht nur von menschlicher Konvention abhängen, bzw. daß sie von sich her je einen definierbaren Seinsgehalt haben, eine ( . B. Euphr. 11A7, Phd. 65D13, 101C3, Grat. 423E1). Im Frühwerk wird auf die ontologischen Implikationen dieser Perspektive noch nicht reflek- tiert. Dies ändert sich mit der Wende zum mittleren Werk. Nun ist in der Platonforschung so gut wie nichts unumstritten, und dies betrifft auch die Frage der ontologischen Aussagen der Ideenlehre, ja sogar, ob Platon überhaupt jemals eine „Ideenlehre" vertreten habe. Ich werde in dieser Hinsicht eine eher traditionelle Deutungsweise Platons favo- risieren, die den Ideen-Chorismos nicht für eine bloße Erfindung des Aristoteles in polemischer Absicht hält, sondern darin eine theoretische Kernaussage Platons sieht, für die sich, wenigstens mit Blick auf das mittlere Werk, auch eine hinreichende Textbasis findet. Ein Vergleich der Aussagen im Menon und im Phaidon über die Gegenstände des Definierens könnte dies illustrieren. Da für den weiteren Fortgang mei- ner Argumentation Klarheit darüber bestehen sollte, wie ich den Cho- rismos auffasse und was ich als seine Grundlagen in Platons Verständ- nis von Wissen und Wahrheit betrachte, möchte ich mit einigen wenn auch nur thesenhaften Bemerkungen hierzu beginnen (I). Nach diesen Präliminarien werde ich mich Platons Auffassung der Methode philoso- phischen Erkennens zuwenden, so wie sie in seinen mittleren Werken greifbar wird. Mein besonderes Augenmerk wird der zentralen Rolle des Kohärenzkriteriunis für die Ausweisung von Erkenntnis gelten. Die Frage, die dabei dringlich werden wird und die das eigentliche Thema meiner Überlegungen darstellt, lautet, ob und in welcher Weise die zen- trale Rolle des Kohärenzkriteriums mit Platons realistischem Vorver- ständnis von Wahrheit zu vereinbaren ist (II). Archiv f. Gesch. d. Philosophie 82. Bd., S. 119-148 © Walter de Gruyter 2000 ISSN 0003-9101 Brought to you by | University of Minnesota Authenticated | 160.94.45.157 Download Date | 9/25/13 8:10 PM

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Platon über Wahrheit und Kohärenz

von Jan Szaif (Bonn)

Das sokratische Fragen, so wie es in Platons Dialogen gestaltet wird,thematisiert bestimmte grundlegende Eigenschaften oder Begriffe. Esgeht dabei von der Voraussetzung aus, daß diese wahr eingrenzbar sindund nicht nur von menschlicher Konvention abhängen, bzw. daß sievon sich her je einen definierbaren Seinsgehalt haben, eine ( . B.Euphr. 11A7, Phd. 65D13, 101C3, Grat. 423E1). Im Frühwerk wird aufdie ontologischen Implikationen dieser Perspektive noch nicht reflek-tiert. Dies ändert sich mit der Wende zum mittleren Werk. Nun ist inder Platonforschung so gut wie nichts unumstritten, und dies betrifftauch die Frage der ontologischen Aussagen der Ideenlehre, ja sogar, obPlaton überhaupt jemals eine „Ideenlehre" vertreten habe. Ich werdein dieser Hinsicht eine eher traditionelle Deutungsweise Platons favo-risieren, die den Ideen-Chorismos nicht für eine bloße Erfindung desAristoteles in polemischer Absicht hält, sondern darin eine theoretischeKernaussage Platons sieht, für die sich, wenigstens mit Blick auf dasmittlere Werk, auch eine hinreichende Textbasis findet. Ein Vergleichder Aussagen im Menon und im Phaidon über die Gegenstände desDefinierens könnte dies illustrieren. Da für den weiteren Fortgang mei-ner Argumentation Klarheit darüber bestehen sollte, wie ich den Cho-rismos auffasse und was ich als seine Grundlagen in Platons Verständ-nis von Wissen und Wahrheit betrachte, möchte ich mit einigen wennauch nur thesenhaften Bemerkungen hierzu beginnen (I). Nach diesenPräliminarien werde ich mich Platons Auffassung der Methode philoso-phischen Erkennens zuwenden, so wie sie in seinen mittleren Werkengreifbar wird. Mein besonderes Augenmerk wird der zentralen Rolledes Kohärenzkriteriunis für die Ausweisung von Erkenntnis gelten. DieFrage, die dabei dringlich werden wird und die das eigentliche Themameiner Überlegungen darstellt, lautet, ob und in welcher Weise die zen-trale Rolle des Kohärenzkriteriums mit Platons realistischem Vorver-ständnis von Wahrheit zu vereinbaren ist (II).

Archiv f. Gesch. d. Philosophie 82. Bd., S. 119-148© Walter de Gruyter 2000ISSN 0003-9101

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I

Der Chorismos1 hat eine ontologische und eine gnoseologische Dimen-sion: Mit ihm wird die ontologische Selbständigkeit der Definitionsge-halte gegenüber ihren Exemplifizierimgen im sinnlichen Erfahrungsbe-reich behauptet. Und es wird damit die gnoseologische These verbun-den, daß die Erkenntnis dieser Gehalte unabhängig von den SinnenAufgabe einer rein argumentativ-intellektuellen Erforschung ist. Wasmacht nun die ontologische These des Chorismos für Platon notwen-dig? Sie ergibt sich im Kern aus drei Voraussetzungen: Die erste istdie, daß Definitionen, über die Beschreibung sprachlicher Konventionhinaus, objektivierbar sind, wie wir sagen würden; die zweite Voraus-setzung liegt in einem strikt realistischen Wahrheitsbegriff, gemäß demAussagen und Kognitionen dann und nur dann wahr sind, wenn etwasin der denkunabhängigen Wirklichkeit genau so ist, wie es in dieserAussage oder Kognition gefaßt wird.2 Die dritte Voraussetzung schließ-lich besteht darin, daß die definierbaren eidetischen Gehalte in dersinnlich gegebenen Wirklichkeit nur in der Weise unvollkommener Ap-proximationen realisiert sind, daß aber die Wahrheit einer definito-rischen Eingrenzung unabhängig davon ist, ob überhaupt und in wel-chem Maße der Definitionsgehalt im sinnlichen Bereich realisiert wird.Also muß auch das, was die definitorische Formel wahr sein läßt unddem sie exakt entspricht, etwas von den sinnlichen Einzelfallen unab-hängig Wirkliches sein — ein eigener, rein intellektuell zu erschließenderGegenstand.3

1 Daß der Ausdruck „Chorismos" bei Platon nicht vorkommt, sondern uns erstbei Aristoteles begegnet, wo er vielleicht einen Sprachgebrauch der Akademiewiderspiegelt, ist kein stichhaltiger Einwand. Die entscheidende Frage lautet, obbei Platon eine ontologische Konzeption der Ideen formuliert wird, die es ange-messen macht, den Ausdruck „Chorismos" zur Charakterisierung dieser Konzep-tion zu gebrauchen. Vgl. im übrigen den Gebrauch der Wendung „ ...

$" zur Gegenüberstellung von Ideen und Einzelfallen in Parm. 130B—D.2 Die These des unthematisch bleibenden, aber um so wirksameren realistischen

Verständnisses von Wahrheit habe ich in J. Szaif: Platons Begriff der Wahrheit,Freiburg/München 21998, im einzelnen begründet (s. etwa 270-273, 337-343).

3 Die notorische Schwierigkeit, für welche Arten von Charakteristika Platon ei-gentlich „Ideen" einführt, hängt unter anderem mit der Frage zusammen, fürwelche Arten von Charakteristika das Approximationsmodell, das in diese drittePrämisse einfließt, überhaupt sinnvoll ist. Letztlich haben diese Schwierigkeitund die konfligierenden Belege bei Platon selbst und in der indirekten Traditionmit den heterogenen semantischen, erkenntnistheoretischen und metaphysisch-naturtheoretischen Funktionen der „Ideenlehre" zu tun. Der Chorismos, so wieer hier von mir holzschnittartig zusammengefaßt wird, stellt gleichsam eine Ma-ximalposition dar. Ob Platon sie auf Dauer so hat durchhalten können, oder in

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Der Philosoph befindet sich dabei in gewisser Weise in einer analogen Situationwie der Mathematiker, dessen Beweise von Definitionen und Grundannahmen aus-gehen, zu denen es in der sinnlichen Wirklichkeit nie eine genaue Entsprechung gibt.Man könnte, wie das der Sophist Protagoras getan hat, die Gültigkeit der mathema-tischen Beweise mit Verweis darauf kritisieren, daß sie von Prämissen ausgehen, dievon der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit falsifiziert werden: Die Tangente berührtden Kreis an mehr als einem Punkt.4 Soll unter Wahrung des implizit vorausgesetz-ten strikt realistischen Wahrheitsbegriffes dieser Art von Einwand begegnet werden,dann müssen die mathematischen Entitäten eben als eine eigene noetische Wirklich-keit vorausgesetzt werden, die den Voraussetzungen der Mathematik exakt ent-spricht, und analog dazu muß der Philosoph die ontologische Selbständigkeit derIdeen voraussetzen, damit sie als die exakten realen Entsprechungen der von ihmangestrebten Definitionen fungieren können.

Eine andere wesentliche Voraussetzung betrifft die Frage, ob Platondiese erkennbaren eidetischen Gehalte oder Ideen als beziehungsloseEinheiten faßt. In einigen Textpassagen, in denen er den Gegensatzzwischen den Ideen und der ungeordneten Mannigfalt im sinnlichenBereich besonders akzentuiert, legt seine Ausdrucksweise nah, die Ideengleichsam als in sich ungeteilte und beziehungslose Monaden zu be-trachten (z. B. Phd. 78C-E, Symp. 210E ff.). Ich habe an anderer Stellevon einem eleatisch-herakliteischen Schema gesprochen, das in solchenKontexten zur Anwendung kommt.5 Damit meine ich das bekannteFaktum, daß einerseits den Ideen, jeder für sich, gleichsam die Attri-bute des eleatischen einen Seienden zugeschrieben werden, während imgewollten Kontrast dazu der Bereich sinnlicher Wahrnehmung als einBereich von steter Veränderung und Vermischung des Konträren darge-stellt wird, in deutlicher Anlehnung an eine herakliteische Beschrei-bungsweise der Wirklichkeit. Die eigentliche Stoßrichtung dieses Sche-mas bei Platon liegt in der These, daß mit Bezug auf den sinnlichenBereich nicht die kognitive Stabilität genuinen Wissens erreicht werden

welcher Weise er gegebenenfalls zwischen unterschiedlichen Typen von Charakte-ristika ontologisch differenziert hat, muß hier (und vielleicht überhaupt) offenbleiben. Zu diesen und anderen Problemen (Stichwort „Selbstprädikation"), dieder Begriff subsistierender paradeigmatischer Ideen mit sich bringt, vgl. etwaG. Vlastos: Platonic Studies, Princeton 21981; G. Fine: On Ideas. Aristotle's Criti-cicsm of Plato's Theory of Ideas, Oxford 1993; A. Graeser: Platons Ideenlehre,Bern 1975; D. Ross: Plato's Theory of Ideas, Oxford 1951 (immer noch nützlich);J. Malcolm: Plato on the Self-Predication of Forms, Oxford 1991; Szaif, Wahrheit(Anm. 2), 85-91, 102-110.

4 DK 80. B7 (Diehls/Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, wird hier und im weite-ren nach der 6. Auflage zitiert, Berlin 1952). Vgl. Szaif, Wahrheit (Anm. 2), 267-270.

5 Ebd. 111-115,275-278.

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kann, weil dieser Bereich dazu nicht die n tigen ontologischen Voraus-setzungen mitbringt. Nun w rde andererseits strikte Beziehungslosig-keit der Ideen untereinander ebenso deren Erkennbarkeit aufheben. Insp teren Dialogen jedenfalls arbeitet Platon explizit heraus, da einteil- und beziehungsloses εν nicht in einem λόγος zu fassen und darumauch nicht denkbar oder erkennbar ist (Soph. 244B-245E, vgl. Parm.137C-142A). Aber auch schon im mittleren Werk wird von Platon imKontext seiner methodischen berlegungen vorausgesetzt, da zwi-schen den Ideen Beziehungen bestehen.6 Und dies entspricht einersachlichen Notwendigkeit, denn ein Begriffswissen, das durch die F -higkeit des λόγον διδόναι, d. h. des Sich-Ausweisens in Aussagen undArgumenten, gekennzeichnet ist, ist nur m glich auf der Grundlage derVerkn pfbarkeit dieser zu erkennenden begrifflichen oder eidetischenGehalte.

F r Platon besteht eine Korrelation zwischen der ausgezeichnetenSeinsweise der Ideen und ihrer ausgezeichneten Erkennbarkeit. Genauhierauf zielt ja auch das eleatisch-herakliteische Schema, von dem icheben gesprochen habe. Der (selbst ndig subsistierende) eidetische Gehaltist das, was er ist, in eindeutiger (das Kontr re strikt ausschlie ender) undunver nderlicherweise, weshalb er einen eindeutigen und stabilen, ein f ralle Mal g ltigen kognitiven Zugriff erlaubt. Die Einzelfalle dagegen ha-ben dieses stabile und eindeutige Was-Sein nicht, weil sie, wie Platon inseinem ausf hrlichsten Argument zu diesem Thema, Rep. 476E ff., her-ausstellt, je nach Hinsicht oder Vergleichsobjekt auch als Exemplifizierun-gen des Gegenteiles gesehen werden k nnen (s. a. Phd. 74A—D, Rep.523A—524D) und dar ber hinaus realen Ver nderungsprozessen unter-worfen sind. Und in diesem ontologischen Defizit liegt begr ndet, da sienicht Gegenst nde von Wissen werden k nnen, sondern nur einen inferio-ren kognitiven Zugriff erlauben, den Platon δόξα nennt.

Bei diesem Gesichtspunkt des doxastischen versus epistemischen Erfassens gehtes um, wie man es nennen kann, „Gegenstandskognition", d. h. um die Qualit t deskognitiven Erfassens und Erkennens eines (nicht propositional verfa ten) Gegen-standes. Die Ideen oder eidetischen Gehalte sind nicht Propositionen und ihre Er-kenntnis insofern (trivialerweise) Gegenstandskognition. Gleichwohl mu die Redevom Erkennen der Ideen nicht bedeuten, da diese Erkenntnis nicht in propositiona-

6 Dies ergibt sich m. E. aus der Untersuchung von Implikationsbeziehungen zwi-schen eidetischen Gehalten im Phaidon 103Cff., vor allem aber auch aus derCharakterisierung des Prozesses philosophischer Einsicht im Ausgang vomGrundprinzip, die sich im Kontext des Liniengleichnisses findet, wo von Bezie-hungen zwischen den είδη die Rede ist (ausgedr ckt durch mediales „εχεσθαίτίνος"), die in diesem Proze nachvollzogen werden (Rep. SllBf., vgl. Szaif,Wahrheit [Anm. 2], 277 f. Anm. 95).

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ler Form auszubuchstabieren ist. Generell gilt, daß Gegenstandskognition nicht dieForm eines strikt vorpropositionalen knowledge by acquaintance zu haben braucht.Ich habe bereits angedeutet und werde noch im einzelnen begründen, warum ichmeine, daß für Platon Ideenerkenntnis die Fähigkeit einschließt, sich in Aussagenüber diese Gegenstände zu artikulieren und diese Aussagen argumentativ zu bewäh-ren. Aber auch wenn die Kognition eines nicht-propositionalen Gegenstandes sichpropositional ausbuchstabieren läßt, so bringt der Aspekt, daß es um das Erkenneneines Gegenstandes geht, doch eigene Qualitätskriterien ins Spiel gegenüber demAspekt des Erkennen-daß... Denn ein Gegenstand als solcher ist noch nicht dadurcherkannt, daß man irgendeinen ihn betreffenden Sachverhalt erkannt hat, sondern ineinem starken Sinne erst durch einen auf das Wesentliche gehenden, bleibend gülti-gen und nicht nur aspekthaften kognitiven Zugriff. Und ein solcher Zugriff ist nachPlaton bei den sinnlichen Einzelfallen aufgrund der angedeuteten ontologischen De-fizite von vornherein ausgeschlossen.7

Die im eleatisch-herakliteischen Schema ausgedrückte Dichotomieist aber nur ein grundlegender Aspekt der Ideenlehre. Der Bereich derIdeen steht ja nicht einfach beziehungslos neben den sinnlichen Gegen-ständen. Vielmehr sind die eidetischen Gehalte, als die eigentlichen Ob-jekte und vollkommenen Entsprechungen der Definitionen, in Relationzu den unvollkommenen Exemplifizierungen im Bereich der Einzelfalledie Maßstäbe, an denen sich unsere Beurteilung dieser Einzelfalle orien-tieren muß (Rep. 520C, s. a. Phd. 74D-75B). Mit Blick auf diese Maß-stabfunktion können wir von ihrer Idealität gegenüber dem sinnlichenErfahrungsbereich sprechen, wenn dies auch eine eher moderne Termi-nologie ist. Und die Aufgabe des Philosophen in der Konzeption Pla-tons kann man dann als die der Erschließung idealer begrifflicher Ge-halte und Strukturen bezeichnen, die wir zum einen unseren konkretenUrteilen als objektiven Maßstab zugrundelegen sollen, die aber zugleicheinen höheren, ontologisch vorgeordneten Wirklichkeitsbereich bilden,dessen Erkenntnis schon um seiner selbst willen, und nicht nur mitBlick auf die Anwendung in Urteilen über Konkretes, die Erfüllungunseres Erkenntnisstrebens darstellt.

Wie sich in diese ontologischen und gnoseologischen Perspektiven der Ideenlehredie Rede von Wahrheit und dem Wahren einfügt,8 braucht hier nicht rekapituliertzu werden, da im weiteren nur ein bestimmter Aspekt der Wahrheitsthematik beiPlaton von Interesse sein wird, nämlich sein implizites realistisches Vorverständnis

7 Zu Ideenerkenntnis als „Gegenstandskognition" vgl. ebd. 210-216, zur Interpre-tation von Rep. 476E ff. und der „epistemischen Instabilität" der sinnlichen Ein-zelfälle ebd. 110-124.

8 Vgl. ebd. 91-102, 315-324, sowie zu den sprachlichen Grundlagen 26-71, zuden besonderen Fragen, die der Begriff der im Sonnengleichnis aufwirft,132 ff., zu Platons theoretischer Konzeption von Falschheit und Wahrheit alsEigenschaft von Aussagen und Urteilen 327 ff.

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von Wahrheit. Es sei nur darauf hingewiesen, daß grundlegend eine Betrachtungs-weise ist, gemäß der als der Inbegriff des Erkennbaren gefaßt und mit dererkennbaren Wirklichkeit gleichgesetzt wird. Wahrheit im Sinne einer Eigenschaftvon Aussagen oder Urteilen kommt dagegen im mittleren Werk für die theoretischeReflexion, wenn überhaupt, nur sekundär in den Blick, und das leitende Vorver-ständnis scheint zu sein, daß eine Aussage gerade dadurch wahr wird, daß sie „etwasWahres" trifft und aussagt, gewissermaßen ein Stück der vorgegebenen Wirklichkeit.Da für Platon jene idealen begrifflichen Strukturen den allein uneingeschränkt er-kennbaren Gegenstandsbereich bilden, kann er in erkenntnismetaphysischer Per-spektive die Rede von Wahrheit oder dem Wahren als Inbegriff erkennbarer Wirk-lichkeit auf diese idealen Strukturen eingrenzen. Zugleich bezeichnet er die Ideenauch mit Blick auf ihre ontologischen Auszeichnungen, etwa mit Blick auf ihre Un-vermischtheit und ihr urbildhaftes, nicht bloß abgeleitetes Sosein, als das Wahre, inAnlehnung an bestimmte logisch attributive Gebrauchsweisen von „wahr"/,,wirk-lich" (SachWahrheit). Und da die ausgezeichnete Erkennbarkeit der Ideen, wie erläu-tert, ihr Fundament gerade in den ontologischen Auszeichnungen hat, ergibt sichjener bezeichnende Doppelsinn in der Charakterisierung der Ideen als ,9der sowohl auf deren Status als erkennbarer Wirklichkeit als auch auf deren ontolo-gische Auszeichnungen, die Grund der spezifischen Erkennbarkeit sind, zielt. Daßdabei dieser Bereich der für das Denken prinzipiell transparenten und zugleich maß-stabgebenden als denkunabhängige Wirklichkeit verstanden wird, hierin u. a.manifestiert sich Platons implizites strikt realistisches Vorverständnis von Wahrheit,das in Verbindung mit bestimmten zusätzlichen Gesichtspunkten die Hypostasierungder Ideen veranlaßt.

Der Ideen-Chorismos hängt, wie ausgeführt, mit dem Bestreben zu-sammen, die idealtypischen Gegenstände des Definierens als eine denk-unabhängige Realität betrachten zu können, um so die Wahrheitsfähig-keit von Definitionen im Sinne eines realistischen Vorverständnissesvon Wahrheit zu sichern. Im Ergebnis bringt dies aber auch mit sich,daß der kognitive Zugang zu den Ideen zum Problem werden kann.Mag der Bereich der Ideen zwar von sich her, aufgrund seiner ontologi-schen Auszeichnungen, vollständig transparent sein, so fragt es sichdoch, wie die erkennende Seele überhaupt in Kontakt treten kann mitdiesem separaten Wirklichkeitsbereich (vgl. Farm. 133B-134C). Klarist, daß Platon einen rein intellektuellen Erkenntnisweg ins Auge faßt.Was heißt dies aber genauer? Damit sehen wir uns auf die Frage nachder Vorgehensweise oder Methode philosophischer Wahrheitserschlie-ßung verwiesen.

9 Charakteristische Beispiele für die Anwendung des Wahrheitsbegriffes auf dieErkenntnisgegenstände und die Ideen im besonderen sind Phd. 84A8, Symp.212A5, Rep. 519B4, Phdr. 247D4, 248C3f., 249D5. S. auch den Gebrauch von„ " und „ " im Liniengleichnis, Rep. 510A9, 511E, und im Höhlen-gleichnis95l5C2,O6f.

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nWenn man ber Platons Auffassung philosophischer Methode10 spricht,ist wohl zuerst eine Bemerkung zu seinem Verst ndnis des Ausdrucks„Dialektik" angeraten, um bestimmten Mi verst ndnissen vorzubeu-gen, die sich aus moderneren Assoziationen dieses Begriffs ergebenk nnen, διαλεκτική leitet sich nat rlich vom Verb „διαλέγεσθαι" her,„sich unterreden", und meint darum zun chst einmal die Methode phi-losophischer Gespr chsf hrung,, die nach dem Vorbild des Sokrates inFrage und Antwort und, in Abhebung zu eristischen Gespr chsformen(vgl. etwa Gorg. 453AB, 457C-458B), wahrheitsonenuert vorgeht. Da-f r, da gerade dieser Ausdruck in der Politeia und sp ter zur Bezeich-nung der genuin wissenschaftlichen Untersuchungsweise berhauptdient, kann man als einen Grund anf hren, da f r Platon Argumentie-ren einen grunds tzlich dialogischen Charakter besitzt, sei es auchnur in Form eines inneren διάλογος, der das F r und Wider entfaltet.11

Als Kunst der wahrheitsorientierten Gespr chsf hrung ist die Dialek-tik aber zugleich auch Kunst des wahrheitsorientierten Umgangs mitden W rtern, eines Umgangs, der unter dem Ziel der Einsicht in diebezeichneten „Sachen selbst", die objektiven eidetischen Gehalte, steht(vgl. Crat. 390Cf. mit438D-439B). „Dialektisch" im Platonischen Ver-st ndnis sind darum letztlich spezifisch solche Verfahren, die es erlau-ben, diese den W rtern zugrundeliegenden objektiven eidetischen Ge-halte einzugrenzen und in ihren Beziehungen zu verstehen. Und diesist f r Platon zugleich der Kern aller wissenschaftlich-argumentativenErkenntnis berhaupt.12

Die sokratischen Unterredungen in den fr hen Dialogen Platons las-sen bereits ein bestimmtes methodisches Vorgehen erkennen, f r dassich in der Forschungsliteratur der Titel Elenchos eingeb rgert hat,auch wenn dieses Wort selbst nur „Widerlegung" hei t. Seit den 80erJahren ist das elenktische Verfahren zum Gegenstand einer intensivenForschungsdiskussion geworden, insbesondere im Ausgang von denVer ffentlichungen Gregory Vlastos'.13 F r das Verst ndnis der Pro-

10 Zu Gebrauch und Bedeutung des Wortes „μέθοδος" und seiner quivalente beiPlaton vgl. R. Robinson: Plato's Earlier Dialectic, Oxford 21953, 61-69.

11 Vgl. Tht. 189Ef. und Soph. 263Ef. zur dialogischen Struktur des dem Urteilvorauslaufenden gedanklichen Prozesses.

12 Zu „διαλέγεσθαι" und „διαλεκτική" bei Platon, mit den entsprechenden Belegen,siehe u. a. W. M ri: „Das Wort Dialektik bei Platon", in: Museum Helveiicum l(1944), 152-168; R, Robinson, Dialectic (Anm. 10), 69-92.

13 Die Beitr ge Vlastos' zu diesem Thema finden sich zusammengefa t in: G. Vla-stos: Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge 1991; ders.: Socralic

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grammatik, die hinter dem elenktischen Verfahren steht, ist die vonPlaton nachgestaltete Apologie des Sokrates hilfreich. Sokrates beruftsich dort bekanntlich auf einen göttlichen Auftrag, den er dem Orakel-spruch des Apollon entnimmt, niemand sei weiser als Sokrates. Weil ersich selbst keiner Weisheit bewußt ist, deutet er diesen Spruch als Auf-trag, seine Mitbürger auf deren Weisheit oder Wissen hin zu überprü-fen, um zu sehen, ob nicht gerade darin, daß er selbst sich wenigstensnicht einbildet, Wissen zu besitzen, seine größere Weisheit besteht. Daselenktische Gespräch verläuft im Prinzip so, daß der Fragende (in denDialogen Sokrates) von seinem Gesprächspartner, der etwas zu wissenmeint, zuerst verlangt, eine bestimmte Aussage über den Gegenstandseines vermeintlichen Wissens zu machen. Die Frage ist typischerweiseeine Definitionsfrage mit Bezug auf eine sittliche oder evaluative Eigen-schaft, aber es kann sich auch um eine andere Art von Frage handeln(etwa wie man sich die Eigenschaft aneignen kann). Nachdem der Be-fragte sich auf eine Ausgangsthese festgelegt hat (wir können sie als dieThesis bezeichnen), versucht der Fragende aus Prämissen, denen derBefragte jeweils zugestimmt hat, in einzelnen Argumentationsschritten,die der Befragte jeweils erst akzeptieren muß, das Gegenteil der Thesisabzuleiten.

Was ist nun eigentlich geschehen, wenn die Widerlegung erfolgreichwar? Als Widerlegung der Thesis ist der Elenchos strenggenommen bloßhypothetisch, denn nur unter der Bedingung, daß die Prämissen, denender Befragte zugestimmt hat, tatsächlich wahr sind, folgt die Falschheitder Ausgangsthese. Weil aber die Wahrheit der Prämissen nicht gesi-chert worden ist, haben wir es allenfalls mit dem Erweis der Inkonsi-stenz zwischen der Thesis und mindestens einer der Prämissen zu tun(und das auch nur, wenn die akzeptierten Argumentationsschritteschlüssig sind, was oft genug fraglich ist). Nun zielt ja der Elenchos,wenigstens gemäß dem in der Apologie formulierten Programm, unmit-telbar nur auf die Prüfung des Anspruchs zu wissen beim jeweiligenGesprächspartner. Und die begrifflichen Unsicherheiten und Inkonsi-

Studies (ed. by M. Burnyeat), Cambridge 1994. Gegen Vlastos' Deutungen sindallerdings m. E. eine Reihe von Bedenken geltend zu machen. Für kritische Stel-lungnahmen oder weiterführende Diskussion vgl. etwa Ch. Kahn: „Vlastos's So-crates", in: Phronesis 37 (1992), 233-258; M. Frede: „Plato's Arguments and theDialogue Form", in: J. C Klagge/N. D. Smith (Hgg.): Methods of InterpretingPlato and his Dialogues, Oxford 1992, 201-219; H. Benson: „The Problem ofthe Elenchus Reconsidered", in: Ancient Philosophy 7 (1987), 67-85; P. Stemmer:Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin 1992; Th. C. Brick-house/N. D. Smith: Plato's Socrates, New York/Oxford 1994.

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stenzen, die der Elenchos bei dem Befragten an den Tag bringt, sindgemäß der sokratischen Konzeption mit dem Anspruch auf Wissennicht vereinbar. Es ist dieser Charakter des Auf-die-Probe-Stellens einesWissensanspruches, der , der Aristoteles dazu veranlaßt, diesensokratischen Typus eines elenktischen Gespräches als peirastisch zu be-zeichnen. 14 Ich werde die Elenktik der frühen aporetischen Dialoge inAnlehnung daran das peirastisch-elenktische Verfahren nennen.

Nun wäre es aber eine unzulässige Verengung, das sokratische Fra-gen allein auf die Intention der Entlarvung irriger Wissensansprücheund Erkenntnis des Nichtwissens festlegen zu wollen. Der platonischeSokrates auch schon der frühen Dialoge betont immer wieder sein Er-kenntnisanliegen hinsichtlich der Gegenstände seines Fragens, wasumso verständlicher ist, als in seiner Perspektive von der Klärung derin Frage stehenden sittlichen und evaluativen Grundbegriffe geradezudas Gelingen menschlicher Praxis abhängt/Die Aporie ist nicht Ziel,sondern notwendiges Durchgangsstadium.15 Wenn die peirastischeElenktik definitive Resultate aber nur in negativer Hinsicht ermöglicht,nämlich als Widerlegung unfundierter Wissensansprüche durch Auf-weis von Inkonsistenzen, dann wird fraglich, ob die sokratische Me-thode dieser weiterreichenden. Erkenntnisintention überhaupt gerechtwerden kann. Zwar kann man die Möglichkeit ins Auge fassen, daßjemand, indem er mit diesem Verfahren verschiedenste Antwortmög-lichkeiten austestet und latent vorhandene Unklarheiten und Inkonsi-stenzen zutage fördert, letztendlich zu einer in sich stimmigen unddarum widerlegungsresistenten Position gelangt. Doch würde dies, soscheint es, mit Blick auf das gesetzte Ziel nicht genügen. Denn dieBegriffsklärung geschieht unter dem Anspruch, daß die fraglichen eide-tischen Gehalte etwas von sich aus Feststehendes sind. Und es wäredenkbar, daß jene in sich stimmige Position, die jemand erarbeitet hat,gleichwohl den wahren Gehalt jener denkunabhängig feststehendenDefinitionsgehalte verfehlt.

Diese Problematik ist keineswegs von außen an Platon herangetra-gen. Platon selbst thematisiert das Ungenügen bloßer Kohärenz zurBegründung von Wissen in verschiedenen Zusammenhängen, wobei erdie Kohärenz der Aussagen einer Theorie als deren oder -

bezeichnet. Ich verweise hier auf seine Kritik am Wissensstatus

'4 Aristoteles, Soph. el. 165b4-6, 172a21 ff Vgl. Vlastos, Socrates (Anm. 13), 94f.15 Zum Thema Aporie bei Platon vgl. M. Erler: Der Sinn der Aporicn in den Dialo-

gen Plat ons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin 1987.

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der Mathematik in der Politeia, wo er der Mathematik zwar die ομολο-γία ihrer Aussagen zubilligt (Rep. 533C, 510D2)16, ihr aber zugleichden Status von επιστήμη abspricht, weil sie die Grundannahmen ihrerBeweise nur voraussetzt, aber nicht begr ndet. Von besonderer Bedeu-tung ist auch eine Passage im Dialog Kratylos, in der Kratylos versucht,die Wahrheit der von ihm favorisierten Theorie ber die Grundverfas-sung der Wirklichkeit durch Verweis auf deren Koh renz oder Stimmig-keit zu belegen: Jemand k nne nicht die Wahrheit verfehlt haben, soder Kern seines Argumentes, wenn alles so gut „zusammenstimme"(Crat. 436C2—6). Darauf entgegnet Sokrates, da man auf der Grund-lage eines falschen Ausgangspunktes sehr wohl eine in sich stimmigeTheorie zusammenzwingen k nne, die aber falsch sei, eben weil schonihr Prinzip, ihre αρχή, an der Wahrheit vorbeigehe. Darum m sse manalle M he auf die hinl ngliche Untersuchung dieses Ausgangspunktesverwenden (Crat. 436C7-D7).17

Platon sieht also das Problem, da eine in sich stimmige (koh rente)Theorie gleichwohl die Wahrheit verfehlen kann, und verbindet es mitder Frage der Sicherung der αρχή. — brigens spreche ich hier bewu tvon „Koh renz" und nicht von „Konsistenz", weil der Gedanke jener„ομολογία" oder „συμφωνία" der eigenen Auffassungen mehr als blo elogische Vertr glichkeit (Konsistenz) meint/Es geht darum, da die inFrage stehenden S tze oder Kognitionen einander sinnvoll erg nzen,

16 Da mit dem „ομολογουμένως" in 510D2 die innere bereinstimmung oder Kon-sistenz der Aussagen einer mathematischen Theorie gemeint ist und nicht derKonsens der Mathematiker untereinander, geht m. E. deutlich genug aus demdas „ομολογουμένως" aufgreifenden Passus in 533C hervor, „ομολογία" beziehtsich dort auf die συμπλοκή („συμπέπλεκται") zwischen dem, was am Anfang,was dazwischen und was am Ende steht, also auf ein Verh ltnis von S tzen oderErkenntnisgegenst nden, nicht auf ein Verh ltnis von Personen. Vgl. auch Tim.29C6, wo innerhalb eines Passus, der das epistemische Schema des Liniengleich-nisses aufgreift, von der nachfolgenden naturphilosophischen Abhandlung, mit

'· Blick darauf, da sie Konkretes und Ver nderliches zum Gegenstand hat, gesagtwird, da man wohl nicht in der Lage sein werde, wirklich genaue und miteinan-der bereinstimmende λόγοι zu produzieren („αυτου$ έαυτοΐς όμολογομένου$ λό-γους").

17 Kratylos' Argument und Sokrates' Erwiderung beziehen sich zun chst nur aufdie Konzeption der Wirklichkeit, so wie sie ex hypothesi in der Etymologie derW rter enthalten ist. Sokrates erweitert die Perspektive jedoch durch einen Ver-gleich mit der Situation bei geometrischen Beweisen und trifft dann diese ganzallgemein und grunds tzlich gemeinte Feststellung (D4ff.), die auf jegliche wis-senschaftliche Untersuchung anwendbar ist. Vgl. auch Phdr. 265D, wo unter-schieden wird zwischen der Frage der Richtigkeit oder Wahrheit und der Frageder Klarheit und Konsistenz („το γουν σαφέ$ και το αυτό αυτό όμολογουμενον").

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bestätigen und ein zusammenhängendes Ganzes bilden, mit dem einbestimmtes Untersuchungsfeld, oder sogar die Grundstruktur derWirklichkeit im ganzen, erschlossen wird. Dies wird noch deutlicherwerden. - Wenn die philosophische Begriffsexplikation auf rein argu-mentativ-intellektuellem Wege geschehen soll, ohne Rekurs auf sinnli-che Evidenzen, aber bloße Kohärenz von Annahmen Wahrheit nichthinreichend ausweisen kann, was bleibt dann zur Stützung noch übrig?Löst sich dieses Problem für Platon vielleicht dadurch auf, daß er einVermögen intellektueller Wesensschau postuliert (welches dann etwa dieSicherung der zu leisten vermag)?18 Die Rede vom Schauen derIdeen, die uns bei Platon wiederholt begegnet, ist geeignet, eine solcheAuffassung nahezulegen, und diese These hat auch in der Platon-Exe-gese eine lange Tradition. Der dabei vorausgesetzte Begriff intellektuel-ler Anschauung hat in diesem Zusammenhang jedoch nur dann wirk-lich eine Pointe, wenn er eine Form der Erkenntnis meint, die nicht imMedium propositionaler und argumentativer stattfindet, sonderneinen von argumentativer Prüfung unabhängigen kognitiven Zugangdarstellt. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, daß der unmittelbareZugang zu den eidetischen Gehalten in Form von Anschauung ein kog-nitiver Zugang wäre, der die Fähigkeit, Aussagen über den Gegenstandder Anschauung zu machen und diese Aussagen in elenktischen Wider-legungsversuchen zu bewähren, genausowenig implizierte, wie dies beivisueller Anschauung der Fall ist. Es wäre noch nicht einmal klar, obsich die Anschauung überhaupt verbalisieren ließe, und die Fähigkeitzur argumentativen Verteidigung dieser Aussagen wäre jedenfalls einedavon unterschiedene, zusätzliche kognitive Leistung, die für denSchauenden selbst überflüssig wäre, da er ja direkte Evidenz besitzt.

Nun sind, wenn man sich an den relevanten Textpassagen des mittle-ren Platon orientiert, überhaupt nur zwei Alternativen haltbar: Entwe-der die diskursiven dialektischen sind so etwas wie die Vorberei-tung zur eigentlichen Ideenschau, eine Art Katharsis der Seele, durchdie sie befähigt wird, sich von der Fixierung auf den sinnlich-empiri-schen Bereich zu lösen und ihr intellektuelles Anschauungsvermögengewissermaßen zu aktivieren, welches dann eine unmittelbare, vor-pro-positionale Vertrautheit mit der Sache selbst stiftet (die gegebenenfalls

18 Vgl. zu dieser These, mit den entsprechenden Literaturverweisen, Szaif, Wahrheit(Anm. 2), 168-182. Zu weiterführenden Bezügen dieser Thematik vgl. etwa K.Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristo-teles, München 1962; R. Sorabji: „Myths about Non-Propositional Thought", in:ders.: Time, Creation and the Continuum, London 1983,137-156.

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auch als anamnetische Reaktivierung einer urspr nglichen Vertrautheitgedeutet werden kann). Oder aber das Erkennen ist in Platons Sichtdoch untrennbar gebunden an das Medium des Aussagens und Argu-mentierens, weshalb auch die F higkeit zur argumentativen Auswei-sung das entscheidende Wissenskriterium bleibt. Den Ausschlag mugeben, da Platon in zwei Schl sselpassagen im Phaidon und in derPoliteia, bei denen es zum einen um die Deutung der Erkenntnis alsAnamnesis, zum anderen um die h chste Stufe des dialektischen Er-kenntnisfortschrittes in der Schau der Idee des Guten geht, auf derF higkeit des λόγον διδόναι als des Kennzeichens von Wissen insistiert(Phd. 76B5f., Rep. 534B3ff., vgL Symp. -202Α5Γ.) - einer F higkeit,die f r Platon mit dem negativen Kriterium argumentativer Widerle-gungsresistenz im elenktischen Verfahren verbunden bleibt, und zwarauch und gerade im Kontext der Sicherung der αρχή (Rep. 534C1 f.).Darum braucht es auch nicht zu berraschen, da Platon gerade in derprogrammatischen Passage Phd. 65 f., die die Rede von der „Schau"der Ideen („Sachen selbst") einf hrt (66E1 f.), das Erfassen der Ideenmit dem Begriff des „λογισμός" verbindet (66A1, vgl. 65C2f., s.a.Soph. 254A). Dieser Ausdruck ist aufgrund seiner Standardbedeutung„rechnen, kalkulieren" denkbar ungeeignet zur Beschreibung eines reinintuitiven Schauens.

H ufig wird in der Forschung auf die Unterscheidung im Liniengleichnis zwischenνοϋς/νόησι$ und διάνοια verwiesen (Rep. 511D2—5, D8~El). Aber in dieser Passagegeht es sicher nicht um den Gegensatz zwischen einem diskursiven, „dianoetischen"Denken und einem „noetischen" Denken. Die Zuordnung des Ausdrucks „νοϋς/νόη-σι$" wird dort eingef hrt durch den Ausdruck „νουν εχειν περί..." (511Dlf.), dersoviel wie „Einsicht haben" bedeutet. Einsicht in die Gegenst nde des Denkens ge-winnt man aber, so die Aussage dieser Passage, durch die δύναμι$ του διαλέγεσθαι(511B4, vgl. C5), was einen diskursiven Proze nahelegt, der dann des n heren alsein Aufstieg und Abstieg, in dem die Beziehungen der είδη erschlossen werden, be-schrieben wird (B5-C2). Das Defizit der Mathematiker liegt demgegen ber darin,da sie mit Blick auf ihre Ausgangspunkte zum λόγον διδόναι nicht f hig sind(510C7, vgl. 533C2f.), undper implicationem hei t dies, da diese F higkeit geradedie als „νοΰς/νόησις" rubrizierte Form genuinen Wissens auszeichnet. Im brigengeht es Platon hier gar nicht um terminologische Fixierungen. In der sp teren Pas-sage (533D5 ff.), die sich auf das Liniengleichnis zur ckbezieht, wird betont, da essich bei dem Ausdruck „διάνοια" f r das mathematische Denken nur um eine ad hocgew hlte Terminologie handelt. Dem obersten Liniensegment wird jetzt der Aus-druck „επιστήμη" zugeordnet, w hrend „νόησι$" als Gattungsbegriff f r „επιστήμη"und „διάνοια" fungiert. — Der springende Punkt bei dieser ganzen Unterscheidungliegt darin, da das mathematische „Denken" (διάνοια), anders als die Dialektik,seine Grundannahmen nicht rational auszuweisen vermag und darum den Status

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von Einsicht und Wissen, vo $ und επιστήμη nicht erreicht. Die behauptete Unter-scheidung eines nicht-diskursiven „noetischen" von einem „dianoetischen" Denkenist ein Produkt der Interpretationstradition des sp teren Platonismus.

Was Platons metaphorische Rede vom „Auge der Seele" (Rep. 533D2, vgl. 540A7)betrifft, so geht diese auf den 518C eingef hrten Vergleich der „Umwendung" desKognitionsverm gens der Seele vom doxastischen zum epistemischen Gegenstands-bereich mit der Umwendung des leiblichen Auges zur ck, ein Vergleich, der seiner-seits die Bildlichkeit von Umwendung und Aufstieg im H hlengleichnis fortf hrt.Vorausgesetzt wird dabei, da das „Auge der Seele", d. h. ihr Denkverm gen, zu-n chst gew hnlich auf den Bereich des Sinnlichen und Ver nderlichen ausgerichtetist, was gerade nicht vereinbar ist mit der These, es w rde hiermit ein Verm genbezeichnet, das ausschlie lich der Intuitio reiner intellektueller Wesenheiten dient.Diese metaphorische Rede bezieht sich vielmehr auf das eine Erkenntnisverm gender Seele im ganzen, deren Umwendung und Aufstieg sich nur in einem rational-diskursiven Proze vollziehen kann.19

L t sich aber nicht gegen den von mir favorisierten diskursivenDeutungsansatz einwenden, da er nicht verst ndlich werden l t,warum die Rede von der Schau berhaupt einen so breiten Raum beiPlaton einnimmt? Der diskursive Deutungsansatz kann ohne weitereszugeben, da es ein Erleben des Verstehens und des Sich-Klarwerdensgibt, das spezifisch durch „νοΰς/νοείν" konnotiert werden kann und daszugleich zu Metaphern des Sehens einl dt: Wenn einem Begr ndungs-zusammenh nge „pl tzlich" klar werden, dann „sieht" man in gewis-sem Sinne, warum etwas sich so und so verh lt. Es findet gleichsam einqualitativer Sprung statt, der aber nicht impliziert, da die Diskursivi-t t eines solchen Erkennens geleugnet werden mu . Denn Verstehenund Einsicht, so kann man sagen, sind zwar selbst nicht propositional,beziehen sich aber auf diskursiv auszudr ckende Begr ndungszusam-menh nge und sind darum von der Diskursivit t nicht abzul sen, wes-halb vo $ und dialektische λόγοι untrennbar zusammengeh ren. - Dadie Metaphorik des Schauens bei Platon aber einen so breiten Raumeinnimmt, erfordert wohl doch noch einen weiteren Erkl rungsgrund.Ich meine, da man dies in Zusammenhang mit Platons kontemplativen

19 Vgl. die Rede von „τα τή$ δόξης όμματα" in Gorgias' Schrift Ελένης έγκώμιον(DK 82. B11, S. 292, 7), die anzeigt, wie leicht im Griechischen die Gesichtsmeta-phorik in die Charakterisierung des Denkens einflie t, ohne da damit schon dieTheorie eines intellektuellen Anschauungsverm gens formuliert w rde. Sospricht Platon ja auch vom „ϊδεΐν τη διάνοια" (Rep. 476B6f., 511 AI), was ehernahelegt, da Diskursivit t und Anschauungserlebnisse in Platons Verst ndniszusammengeh ren und nicht ein Anschauungsverm gen jenseits der Diskursivi-t t und des „Dianoetischen" gemeint ist.

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Wissensideal sehen muß, das ihn dazu führt, jene mit Anschauung ver-gleichbare erlebnismäßige Seite des erfüllten Erkenntnisstrebens beson-ders herauszustellen, ohne deshalb „Schau" vom dialektisch-diskursi-ven Vermögen zu dissoziieren. Die Metapher vom „Auge der Seele"steht bei Platon, wie schon erläutert, für das eine Erkenntnisvermögender Seele, das sich seinen eigentlichen Gegenständen, den objektivenBegriffs- oder Definitionsgehalten, nur durch einen diskursiv-dialekti-schen Forschungsprozeß zuwenden kann. Diese Metapher weist aberzugleich auch auf das Ziel hin, unter dem dieser Forschungsprozeß beiPlaton steht, nämlich daß er letztlich in einem klaren und gesichertenZugang zur Wahrheit mündet, in dem sich das Grundstreben der (inihrem Kern) rationalen Seele erfüllt. „Schau" und „Kontakt" ist dannnicht als Frucht eines höheren, nicht-diskursiven Erkenntnisvermögenszu verstehen, das der diskursiven Ausweisung nicht bedürfte, sondernals jenes erhoffte Stadium, in dem die Diskursivität, nachdem sie allenotwendigen Prüfungen vollzogen und die in Frage stehenden objekti-ven Begriffsgehalte von allem nicht Dazugehörigen abgesondert hat,als in sich klar und sicher gewordenes Verstehen dieser Begriffsgehalteund ihrer Struktur gleichsam zur Ruhe kommt.

Um die Bedeutung des kontemplativen Ideals für Platon richtig zu würdigen,muß man sich die Platonische Seelenkonzeption und die damit zusammenhängendeKonzeption des Glücks vergegenwärtigen. Ohne hier ins Detail zu gehen,20 sei nurherausgestellt, daß in der Platonischen Perspektive die Seele bzw. ihr rationaler Kern,der das eigentliche Selbst des Menschen ausmacht, seine höchste Daseinsmöglichkeitin der Verbindung mit dem Gegenstandsbereich des eigentlich Seienden und uneinge-schränkt Erkennbaren findet. Dementsprechend wird die Philosophie im Phaidonals Vorbereitung auf jenen Erfüllungszustand gedeutet und zugleich die Verbindunghergestellt zu einer Seelenkonzeption in der orphisch-pythagoreischen Tradition, ge-mäß der die Seele in der Verbindung mit dem Körper an ihrer eigentlichen undbesten Daseinsweise gehindert wird. Dieser spezifische Seeleriglaube, den Platon auf-nimmt, wird von ihm aber zugleich transformiert, indem die „Lösung" vom Leiblich-Sinnlichen jetzt nicht mehr als eine rituell-kultische Angelegenheit aufgefaßt, sondernmit dem Weg rationaler Erkenntnis, der auf den Ideenbereich hinführt, identifiziertwird. Das Glück des Menschen liegt darum in jenem Zustand, der teils, in haptischen

20 Vgl. Szaif, Wahrheit (Anm. 2), 156-168. Es gibt im übrigen auch noch andere,sozusagen „diesseitigere" Ansätze und Entwicklungsmöglichkeiten in Platons Er-örterungen zum Glück (vgl. dazu meine Überlegungen in J. Szaif: „Strebensnaturund Interpersonalität in Platons Konzeption vonphilia (Lysis 213D—222D)", in:M. Dreyer, K. Fleischhauer [Hgg.]: Natur und Person im ethischen Disput, Frei-burg/München 1998). Aber was ich im folgenden beschreibe, ist das für das kon-templative Ideal Maßgebliche.

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Metaphern, als „Kontakt" und Vereinigung mit jenem uneingeschränkt Seienden(z. B. Rep. 490Af.), teils als „Schau" dieses Seienden beschrieben wird. Weil gemäßdieser Konzeption nicht im Suchen, sondern in der gesicherten Habe die Erfüllungliegt, nehmen hier zusätzlich Metaphern der Stabilität einen wichtigen Platz ein. Nunist aber die Erfahrung der dialektisch-sokratischen Praxis zunächst die des Schei-terns, Widerlegtwerdens. Diese Erfahrung kann, wie Platon im Phaidon und in derPoliteia herausstellt, sogar zu der Überzeugung führen, daß die Begriffsgehalte oderEigenschaften, die in diesen Argumentationen untersucht werden, von sich her garkeine stabile Bestimmtheit aufweisen (Phd. 90B-D, Rep. 537E-539D, s. a. Crat.411B f.). Dann wäre aber das ganze dialektische Unterfangen praktisch sinnlos, essei denn, man wollte es gerade nur in einer skeptischen Absicht gebrauchen. PlatonsOntologie der Ideen erwächst aus dieser mit der argumentativen Untersuchungsformder Dialektik verbundenen Problemperspektive, und ihre grundlegende These lautet,

' wie oben bereits kurz skizziert, daß die Definitionsgegenstände als solche, anders alsdie Gegenstände unserer sinnlichen und doxastischen Betrachtung, eindeutig undstabil bestimmt sind, also eine $ aufweisen, die von sich her ein entsprechendstabiles Erfassen ermöglicht, das nicht mehr bloß eine Funktion der je gewähltenHinsichten und Vergleichsperspektiven ist. Die Metaphern des „Fassens" und„Schauens" bezeichnen den Zustand, in dem der diskursive Erkenntnisprozeß dieeidetischen Gehalte, so wie sie als sie selbst sind, erschlossen und damit die Unstetig-keit ( Phd. 79Cf., Rep. 484B) und Perspektivität doxastischer Kognitionüberwunden hat.21

Gehen wir also im weiteren davon aus, daß von Platon kein geistigerZugang zu den intelligiblen Gegenständen durch eine unvermittelte An-schauung postuliert wird und die Einsicht in den Wesensgehalt eideti-scher Gehalte immer an das Medium diskursiver Überprüfung gebun-den bleibt. Dann bleibt die aufgeworfene Frage akut, wie das dialekti-sche Argumentationsverfahren diesen Zugang vermitteln und die Wahr-heits- und Erkenntnisintention einlösen kann. Nun verweist Platon imZusammenhang mit dem Ungenügen jener Kohärenz, wie sie sich beimathematischen Theorien findet, auf die Notwendigkeit der Sicherungeines Prinzips. Gegenüber den bloß kohärenten Theorien der Mathe-matiker soll es die dialektische Untersuchungsmethode, so die Politeia,auszeichnen, daß sie deren hypothetische Prinzipien zu klären und si-chern vermag, indem sie diese auf ein oberstes, nicht mehr bloß hypo-thetisches Prinzip zurückführt und von dort aus zur Einsicht bringt.Allerdings sind die Andeutungen in der Politeia dazu, wie die dialekti-

21 Es ist im übrigen schwer zu sehen, wie der Ansatz von Wolfgang Wieland (Platonund die Formen des Wissens, Göttingen 1982), Platons Wissenskonzeption vomAspekt des Gebrauchswissens her zu deuten, dem kontemplativen Wissensidealgerecht werden kann.

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sehe Methode dies bewerkstelligt, reichlich kryptisch, und es hat sichm. E. als erfolgversprechend herauskristallisiert, sie von den etwas ex-pliziteren methodischen Andeutungen im Phaidon her zu interpretie-ren,22 Ich möchte darum zuerst vergegenwärtigen, wie man sich in mei-ner Sicht das im Methoden-Abschnitt des Phaidon anvisierte hypothe-lisch-elenktische Verfahren (so möchte ich es nennen) vorzustellen hat(Phd. 99D-102A).23

Es handelt sich um den Versuch, die peirastische Elenktik der frühenDialoge, die vor allem auf die kritische Prüfung von Wissensansprü-chen zielt, umzuformen in Richtung einer konstruktiven Untersu-chungsmethode. Platon orientiert sich weiterhin an der Gesprächssitua-tion zwischen einem Fragenden, der zu widerlegen versucht, und einem,der Rede und Antwort steht. Aber das ganze wird jetzt gewissermaßenaus der Perspektive des Befragten gesehen, der eine These verteidigt,und die jetzt die Perspektive dessen ist, der Wissen zu erarbeiten ver-sucht. Und es wird zugelassen, daß der Befragte bei der Wahl seinerAntworten eine hypothetische Annahme zugrundelegt, so daß das Ge-spräch die Qualität eines argumentativen Experimentes bekommt, des-sen eigentlicher Zweck in der Prüfung dieser Grundannahme und Ex-ploration ihrer Konsequenzen liegt. Dies vollzieht sich jeweils in zweiPhasen: In der ersten Phase wählt der Antwortende hypothetisch eineGrundannahme aus, von der aus er dann jeweils entscheidet, auf wel-che Thesis zu einem gegebenen Problem er sich festlegt und welcheweiteren Prämissen er zugesteht. Die Hypothesis selbst wird also indieser Phase noch nicht thematisiert, sondern steht im Hintergrund alsdas Prinzip, von dem aus man seine Antworten organisiert. Wenn sichherausstellt, daß man mit seinen Antworten nicht in Widersprüche ver-strickt wird, daß also die Konsequenzen dieser Hypothesis in sichstimmig und darum widerlegimgsresistent sind, dann hat sie sich als„stark" bewährt. Der Übergang zur zweiten Phase der Untersuchungbesteht darin, daß man es zuläßt, daß diese Hypothesis nun selbst zurThesis im elenktischen Test wird. Ihre Verteidigung muß man dannaber von einer höheren Hypothesis aus organisieren, die ein Satz ist,

22 Diese Herangehensweise hat u. a. schon Richard Robinson in seiner klassischenStudie zur Platonischen Dialektik gewählt (s. oben, Anm. 10). Vgl. auch I. Muel-ler: „Mathematical Truth and Philosophical Method", in; R. Kraut (Hg.): TheCambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, 170—199, der die Bezüge zumathematischer Analysis und Synthesis berücksichtigt, die wir hier übergehenmüssen.

23 Vgl. Szaif, Wahrheit (Anm. 2), 250-258.

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dem die urspr ngliche Hypothesis nachgeordnet ist und zu deren insich stimmigen Konsequenzen sie geh rt. Bew hrt sich auch diese h -here Hypothesis, so kann zur n chsth heren Stufe bergegangen wer-den und so fort, bis man, wie es hei t, „zu etwas Hinl nglichem gelangtist" (101E1).24 - Was dieses „Hinl ngliche" ist, wird im Phaidon offen-gelassen. Grunds tzlich bleibt die Untersuchung aber so lange vorl u-fig, wie nicht als Endpunkt ein Prinzip erreicht worden ist, ber dasnicht mehr hinausgegangen werden kann und braucht Und dies w redann eben jene άνυττόθητο$ αρχή, auf die gem der Politeia ein genuinwissenschaftliches Verfahren hinf hren mu (51 OB, 511B).

Um die These wirklich zu rechtfertigen, da sich die Beschreibung des hypothe-tisch-elenktischen Verfahrens bertragen l t auf das im Kontext des Liniengleich-nisses der Politeia angedeutete Modell des Aufstiegs zu einer letzten, umfassendenαρχή, m ten allerdings auch die entsprechenden Passagen in der Politeia (511B3 ff.,533Cf., 534Bf.) genauer analysiert werden, was hier nicht geleistet werden kann. Essei nur meine Antwort auf die zwei wichtigsten denkbaren Einw nde angedeutet.

24 Da man die genannten zwei Phasen auseinanderhalten mu , vertritt Platon mitbesonderem Nachdruck (lOlDf.). Bei der Rede von den „Konsequenzen" einerHypothesis mu man Vorsicht walten lassen, weil die Verh ltnisse der Nachord-nung dabei keineswegs immer strikt deduktiver Natur sind — ich werde daraufzur ckkommen. Die Unterscheidung zwischen Hypothesis und Thesis, die wirhier treffen, ergibt sich aus dem Grundsatz, da in der ersten Phase zwar eineHypothesis zugrundegelegt, aber noch nicht direkt zum Gegenstand der Untersu-chung gemacht wird. Einen Satz im Elenchos zu untersuchen, hei t ja, ihn zurThesis zu machen. Die Hypothesis, auf die sich die allgemeinen Bemerkungenvon 101D f. konkret zur ckbeziehen (101D1 f.: έχόμενο$ εκείνου του ασφαλούς τή$υποθέσεως...), ist der Grundsatz, da etwas F ist jeweils durch Teilhabe an demEidos F-selbst (gro durch Teilhabe am Eidos Gr e etc.). Wie das Frage- undAntwortspiel auf der Grundlage dieser Hypothesis aussehen k nnte, l t sichanhand von Platons eigenen Beispielen verdeutlichen (96D-97B, 100E-101B):Derjenige, der zu widerlegen versucht, stellt bspw. die Frage, wodurch die 10mehr sind als die 8. Die Antwort (und d. h. Thesis), auf die sich der Antwortendefestlegt, der noch nicht diese Hypothesis zugrunde legt, wird dann etwa lautenk nnen: „Durch die 2". Dies wird dem Einwendenden aber verschiedene Ansatz-punkte liefern, ihn in Widerspr che zu verwickeln, etwa indem er ihm das Zuge-st ndnis abgewinnt, da die gleiche Ursache nicht entgegengesetzte Wirkungenhaben kann, und dann darauf verweist, da ja nicht nur die 10 um 2 mehr sindals die 8, sondern die 8 um zwei weniger als die 10, so da die 2 hier gegens tzli-che Wirkungen entfalten w rden. Wenn der Befragte statt dessen f r seine Ant-worten die genannte Hypothesis zugrunde legt, sich also nur auf solche Thesenund Pr missen festlegt, die im Einklang mit dem Prinzip stehen, da etwas nur Fist durch Teilhabe an F-selbst, so wird er nicht in solche Widerspr che verwickeltwerden. Und genau darauf d rfte die Rede von der ασφάλεια (101D2, 100D8,El) zielen, welche der hypothetische Grundsatz in Hinsicht auf solche ihm nach-geordneten S tze gew hrt und wodurch er sich als „stark" (vgl. 100A4) erweist.

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Das auf den ersten Blick größte Problem besteht vielleicht darin, daß es beim hypo-thetischen Verfahren, so wie es im Phaidon veranschaulicht wird, jeweils um Sätzeund deren Beziehungen, beim Auf- und Abstieg im Liniengleichnis aber um Eide undderen Beziehungen zu gehen scheint. In diesem Kontext ist wichtig, was ich obenbereits zum Zusammenhang von Gegenstandskognition und propositionaler Kogni-tion bei Platon angedeutet habe. Der Dialektiker versucht eidetische Gehalte undderen Beziehungen zu erschließen. Ein Eidos ist zwar keine Proposition, aber dieErkenntnis eines eidetischen Gehaltes muß (schon allein, um elenktisch prüfbar zusein) einhergehen mit der Fähigkeit, ihn in Sätzen zu charakterisieren, und zwarzuvörderst (wenigstens als Ideal) in einem defmitorischen Satz. Die innere Stimmig-keit des Beziehungsgefüges eidetischer Gehalte, so wie der Dialektiker es zu rekon-struieren versucht, muß sich darum erweisen in der Kohärenz der Sätze, mit denener seine Rekonstruktion artikuliert.

Aber ist es nicht schon ein schlagender Einwand, daß die hypothetische Methodeim Phaidon als etwas bloß Zweitbestes im Vergleich zu einer Methode, die vom Be-griff des Guten ausgeht (Phd. 99Cf.), und als eine Art Notbehelf gegenüber einemdirekteren Zugang auf die Wirklichkeit charakterisiert wird? Die Antwort hieraufhat zwei Teile: Wenn in dem Passus 99Dff., der die „Zuflucht zu den " pro-grammatisch einführt, die Untersuchungsform im Medium der als bloßer Not-behelf dargestellt wird gegenüber dem Versuch, durch direkte Betrachtung der (sinn-lich gegebenen) Dinge die Strukturen der Wirklichkeit zu verstehen, so steckt darinein gehöriges Maß an Ironie, wie Sokrates in 99E6ff. selbst andeutet. Tatsächlichsind es jene Theorien, die mit ungeklärten Begriffen direkt auf die Wirklichkeit zuge-hen, welche nur an „Bildern" haften bleiben. Zum zweiten ist herauszustellen, daßder Gedanke, die bestmögliche Form der Untersuchung müsse in einer bestimmtenWeise vom Begriff des Guten Gebrauch machen, durch das Modell wissenschaftli-cher Einsicht im Kontext des Liniengleichnisses ja aufgegriffen wird. Die Pointe istdie, daß jene „Zuflucht zu den ", die in Phd. 99E nur erst als ein Zweitbesteseingeführt wird, sich schließlich als die Einlösung jener Forderung erweist, alles imLicht der Idee des Guten zu untersuchen, und zwar indem sich herausstellt, daßder Rückgang auf höhere Hypothesen auf die Wesensbestimmung des Guten alsGrundprinzip hinführt und in diesem entscheidenden Schritt einen nicht mehr bloßhypothetischen Ausgangspunkt erreicht.

Verschiedene Fragen drängen sich hier auf: In welcher Weise fundiertdie , wenn sich denn eine solche auffinden läßt, alle übrigen, nach-geordneten Erkenntnisse? Wie steht es eigentlich mit der Sicherung die-ser selbst? Und warum kann gerade die Wesensbestimmung desGuten die Funktion der übernehmen? Beginnen wir mit der Frage,in welcher Weise die die übrigen Erkenntnisse fundiert. Grund-sätzlich ist die Rede von „Ableitung" aus einem Prinzip bei Platon nochnicht im Sinne eines strikten deduktiven Modells zu verstehen, wie wires aus den Ersten und Zweiten Analytiken des Aristoteles kennen. Ge-rade die entsprechenden Ausführungen und Beispiele in der Methoden-Passage des Phaidon zeigen, daß Platon ein Konzept strenger logischer

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Deduktivit t noch nicht zur Verf gung steht. Eher haben wir es miteiner vagen Vorstellung logischer Nachordnung zu tun, die daf r offenist, da eine komplexere These q, die eine elementarere These p voraus-setzt und sinnvoll erg nzt, als ein p nachgeordneter und aus p „folgen-der" Satz betrachtet wird.

Ein Beispiel daf r, das wir dem Phaidon entnehmen k nnen, ist das Verh ltniszwischen der These, da es Ideen gibt (bzw. da es Gegenst nde wie das Gerechteselbst, das Sch ne selbst etc. gibt), und der These, da etwas F ist jeweils durchTeilhabe an der entsprechenden Idee, also gerecht durch Teilhabe am Gerechtenselbst etc.25 Die erstere These, in der Forschung auch als die „Ideen-Hypothesis"bezeichnet, h ngt nat rlich mit der These bez glich der αιτία-Funktion der Ideeneng zusammen. Die αιτία-These ist aber kaum ein Satz, der streng deduktiv aus derIdeen-Hypothesis folgt. Eine logische Folgebeziehung besteht hier eher in umgekehr-ter Richtung, weil n mlich die These zur αιτία-Funktion der Ideen die Annahme derExistenz von Ideen voraussetzt. Gleichwohl wird die These zur αιτία-Funktion vonPlaton als ein Beispiel f r einen der Ideen-Hypothesis nachgeordneten, ihr „nachfol-genden" Satz behandelt. Und der Grund d rfte eben sein, da die Ideen-Hypothesisgegen ber der αϊτία-These eine elementare Voraussetzung darstellt, die zugleich inder αιτία-These so etwas wie eine sinnvolle Fortf hrung und Entfaltung erfahrt.Auch f r die Fundierungsfunktion des obersten Prinzips, von dem die Politeiaspricht, sollten wir dieses sozusagen weichere Verst ndnis von „Ableitung" oderNachordnung voraussetzen.26

Wenden wir uns nun der zweiten oben genannten Frage zu, wie mansich gem Platons Andeutungen die Sicherung (oder „Stabilisierung",Rep. 533C8—Dl) der αρχή selbst vorzustellen hat. Die Wesensbestim-mung des Guten ist f r Platon keineswegs ein aus sich selbst herausevidentes oberstes Prinzip. Ausdr cklich fordert er, da ein jeder Ver-such ihrer Wesensbestimmung zun chst als ein Satz zu behandeln ist,der sich elenktisch bew hren mu (534Bf.). Und da f r das λόγονδιδόναι hier gerade der Elenchos die entscheidende Rolle spielt, kannnicht berraschen, wenn man die methodischen Regeln des Phaidonber cksichtigt. Denn da das h chste Prinzip sich nicht mehr auf einnoch h heres zur ckf hren l t, bleibt in seinem Fall nur der elenkti-sche Teil der Bew hrung brig, d. h. die Pr fung der sich daran an-schlie enden Theoreme auf ihre Stimmigkeit. Und weil die Eingren-zung des Guten als αρχή f r das gesamte Wissensgeb ude dienen und

25 Die erste These wird in 100B5-7 als eine Hypothesis eingef hrt, die zweite100C3ff. als ein „Nachfolgendes" (τα έξη? έκείνοι$),

26 So z. B. auch L Mueller: „On the Nation of a Mathematical Starting Point inPlato, Aristotle, and Euclid", in: A. C Bowen (Hg.): Science and Philosophy inClassical Greece, New York/London 1991, 59-97 (s. 82 f.).

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alle Erkenntnisse direkt oder indirekt auf sie rückbeziehbar sein sollen,weist ihre elenktische Prüfung im Grunde auf das ganze System vonWissensinhalten hinaus, die in dieser ihre letzte Voraussetzunghaben. Weil jedoch zugleich diese nachgeordneten Wissensinhalte selbsterst auf der Grundlage des Prinzips in ihren Bedingungsverhältnissenvollständig zur Einsicht gebracht werden können, haben wir es mit ei-nem zweiseitigen Prozeß zu tun, bei dem das Prinzip sich erst im Nach-geordneten als Prinzip bewährt und zugleich vom Nachgeordneten erstim Lichte dieses Prinzips volle Einsicht erlangt werden kann.

Damit ergibt sich also, gerade im Kontext der Bewährung einer letz-ten , das Bild einer holistischen Wissenskonzeption Platons (wobeiich hier unter „Wissensholismus" die These verstehe, daß es Wissen nurals einen Zugriff auf das Ganze des Wißbaren geben kann). Daß diesesBild richtig sein könnte, bestätigt auch der für Platon zentrale Gedankeder Verbindung genuinen Wissens mit der Fähigkeit der Zusammen-schau. Nur wer $ ist, sei ein heißt es in der Politeia(537C7). Zwar wird dies an dieser Stelle mit Bezug speziell auf mathe-matische Kenntnisse gesagt. Aber die Aussage, daß sich gerade in derFähigkeit zur Zusammenschau die dialektische Veranlagung zeige, weilerst diese Zusammenschau die für genuines Wissen kennzeichnende„Stabilität" (537C4) gewährleiste, ist prinzipiell gemeint. Einzelkennt-nisse stehen immer unter dem Vorbehalt, daß die Berücksichtigung desgrößeren Bedingungszusammenhanges zur Revision der Teilergebnisseführen kann, und dies gilt um so mehr für das dialektische Projektder Erschließung der in sich zusammenhängenden idealen Struktur derBegriffe. Erst die Übersicht über das gesamte Beziehungsgefüge kannhier bleibende Gültigkeit gewährleisten, so wie sie die Voraussetzungdafür ist, daß man sich mit seinen Antworten bei der elenktischenÜberprüfung nicht in Unklarheiten und Widersprüche verstricken läßt.Und die fungiert dabei als das eine und umfassende Prinzip, indem die Zusammenschau des Ganzen ihren Zielpunkt hat.

Warum ist aber gerade die Wesensbestimmung der Idee des Guten, die die Funk-tion dieser einen und umfassenden übernehmen kann? Zu dieser Frage kannman leider nur Mutmaßungen äußern, da Platon hier einfach nicht explizit genugist. Es sei nur die Richtung meiner Vermutungen angedeutet (wobei dann natürlichnoch viele Fragen offen bleiben).27 Das Sonnengleichnis und das Liniengleichnisscheinen auf zwei verschiedene Fundierungsfunktionen der Idee des Guten hinzudeu-ten. Ich möchte die eine als die formale, die andere als die inhaltliche Fundierungs-funktion bezeichnen. Mit formaler Fundierungsfunktion" meine ich, daß die onto-

27 Vgl. Szaif, Wahrheit (Anm. 2), 279-287, mit Literaturverweisen.

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logische Form, die allen Ideen gemeinsam ist und die ihre spezifische Erkennbarkeitbegr ndet, in der Teilhabe an der Idee des Guten wurzelt. (Aber auch die συμφωνίαder Ideen im ganzen l t sich als ein solcher Formaspekt betrachten, der auf dieIdee des Guten zur ckverweist.) Unter „inhaltlicher Fundierungsfunktion" versteheich dagegen den Versuch, von diesem Grundprinzip her alle anderen Ideen auch inihrem je unterschiedlichen spezifischen Gehalt zu verstehen. Das Liniengleichnisscheint in seinen Andeutungen auf eine solche inhaltliche Fundierungsfunktion zuzielen, da hier im Blick steht, die je unterschiedlichen eidetischen Gehalte zur Ein-sicht zu bringen (SllBf.), w hrend es im Sonnengleichnis um die Seinsqualit t zugehen scheint, die den Ideen als solchen, qua Erkenntnisgegenst nden, zukommt(508D).28 Damit steht diese formale Fundierungsfunktion im Zusammenhang mitder Ideen-Hypothesis, also der Annahme eines Gegenstandsbereiches, der von sichher, durch seine ontologischen Auszeichnungen, uneingeschr nkt erkennbar ist, wo-bei im Hintergrund wohl die Auffassung wirksam ist, da diese ontologischen Aus-zeichnungen, die die Erkennbarkeit konstituieren, eine Manifestation des Gutensind, ja in ihrem Kern sogar die fundamentale Bewertungsdimension berhaupt dar-stellen, und dementsprechend im Wesensgehalt des Guten ihre letzte Voraussetzunghaben. Da die Ideen aber, wenigstens wenn sie unter ihrer paradeigmatischen Funk-tion betrachtet werden, sich je auch ihren spezifischen Inhalten nach als Formen desGuten verstehen lassen, mag Platon, wenigstens in dieser Phase seines Denkens, dieWesensbestimmung des Guten auch als den angemessenen Ausgangspunkt f r dieEntfaltung der unterschiedlichen Wesensbestimmungen der brigen Ideen betrachtethaben.

Wenn Platon in der Politeia einen λόγο$ τή$ ουσίας der Wesensbestimmung desGuten ins Auge fa t (Rep. 534B3f. mit B8—Cl), dann scheint er zu unterstellen,da man das Gute als solches in irgendeiner Weise inhaltlich deskriptiv fassen kann,also da mit „gut" nicht nur „subjektive Pr ferenzen" ausgedr ckt werden, sondernda es hier einen objektiven Gehalt gibt, und zwar sozusagen sub specie aeternitatisund nicht nur im Sinne dessen, was gut ist f r einen Menschen. Nun sagt uns Platonallerdings nicht, wie er das Wesen des Guten in einem λόγος einzugrenzen gedenkt.Immerhin gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, da er sich die deskriptive Be-stimmung des Guten im Ausgang von Begriffen wie Einheit, Stabilit t, Ordnungdenkt.29 Und in Verbindung mit der indirekten berlieferung kann man sogar an-nehmen, da f r Platon spezifisch Einheit der Kern aller jener Auszeichnungen ist,durch die eine von sich aus unspezifische Vielheit zu einer rational fa baren Ordnungwird, weshalb Einheit zugleich als Wesensgrund des Guten begriffen werden kann.Es bleibt aber fraglich, ob und inwieweit er, im Kontext seines m ndlichen Unter-richts, sich sozusagen verbindlich auf ein ausgefeiltes Ableitungssystem im Ausgangvon dem Einen-Guten festgelegt hat, so wie es manche Interpreten aus der (unsiche-ren) indirekten berlieferung zu rekonstruieren versuchen.30

28 Zum Sinn von „αλήθεια τε και το όν" in Rep. 508D vgl ebd. 135 f. und 1391T.29 Ebd. 87-89 und Anm, 21, 281-284 und Anm. 99.30 Die These, da f r Platon die Wesensbestimmung des Guten und damit der αρχή

auf den Begriff des Einen hinf hrt, die man heute insbesondere mit der durchH. J. Kr mer und K. Gaiser begr ndeten „T binger Schule" assoziiert (zum Zu-

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Meine These hier lautet also, daß der Wissensholismus, der in Pla-tons Spätwerk explizit formuliert wird,31 bereits die Wissens- und Prin-

sammenhang von Iv und siehe etwa H. J. Krämer: Arete bei Platon undAristoteles, Heidelberg 1959; zum Zusammenhang mit Dialektik und Zusammen-schau ders.: „Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik beiPlaton", in: Philologus 110 [1966], 35-70; K. Gaiser: „Platons Zusammenschauder mathematischen Wissenschaften", in: Antike und Abendland 32 [1986],89-124), ist schon im antiken Platonismus fest verwurzelt, anscheinend auf demHintergrund der Überlieferung, die sich auf Platons Vorlesung über das Gutebezieht. Sie geht insbesondere auch in die Darstellung der Platonischen Philoso-phie bei Aristoteles ein (Metaph. 987bl8ff., 988a7ff., vgl. damit 1091bl3ff. undE. E. 1218al5ff.). Und sie läßt sich mit bestimmten Andeutungen und Ausspa-rungen im geschriebenen Werk, und zwar gerade der Politeia, sinnvoll verbinden.Sie darf darum den Status einer zwar nicht sicheren, aber doch plausiblen Hypo-these für sich beanspruchen und wird von weiteren wichtigen Vertretern der ge-genwärtigen Platon-Forschung ernst genommen, die in anderen zentralen Punk-ten nicht mit der Tübinger Schule übereinstimmen, z. B. M. Burnyeat: „Plato-nism and Mathematics: A Prelude to Discussion", in: A. Graeser (Hg.): Mathe-matics and Metaphysics in Aristotle, Bern 1987, 213—240; D. Frede: Platon. Phi-lebos (= Platon. Werke, III 2, hg. v. E. Heitsch/C. W. Müller), Göttingen 1997,403 ff. Sie ergibt, für sich genommen, noch nicht das „Tübinger Platon-Bild". Zuder in diesem Zusammenhang zentralen Debatte um Platons Schriftlichkeitskri-tik vgl. etwa Th. A. Szlezäk: Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstadt 1993, undE. Heitsch: Platon. Phaidros (= Platon. Werke, III4), Göttingen 1993, sowiemeine Rez. zu letzterem in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49 (1995),620—626. Zur englischsprachigen Debatte über die Funktion der Dialogform beiPlaton vgl. etwa Ch. Gill: „Afterword: Dialectic and the Dialogue Form in LatePlato", in: Ch. Gill/M. M. McCabe (Hgg.): Form and Argument in Late Plato,Oxford 1996, 283-311 (mit weiteren Literaturverweisen).

31 Zum Holismus in Platons Spätwerk vgl. Phil. 18C7f.: Illustriert durch das Bei-spiel der Kenntnis der Laute, jedoch in Anwendung auf die Methode des Dialek-tikers, wird dort die Feststellung getroffen, daß ein Element nicht allein für sichzum Gegenstand von Wissen werden kann, sondern nur zusammen mit allenanderen Elementen. Die Analogie von Lauten/Elementen ( ) ist ein wie-derkehrendes Thema im Spätwerk Platons. So wird u. a. die dialektische Wissen-schaft von den grundlegenden Strukturbegriffen, die im Mittelteil des Sophistesins Auge gefaßt wird, mit der Kenntnis des Lautsystems verglichen (Soph.253Aff.). Und so ist auch im Politikos von der Kenntnis der „ -

" die Rede (Pol. 278C f.). Die Pointe, auf die vermutlich auch schon dieErörterung von Wissen am Beispiel der Beherrschung des Systems der Lauteoder Buchstaben im dritten Teil des Theaitetos hinausläuft, liegt darin, daß jeneGrundkonstituentien der Wirklichkeit letztlich nur in ihrem systematischen Zu-sammenhang, nicht je isoliert für sich, Objekt von Wissen sein können. Auch dieErkenntnis jener den grundlegenden Strukturbegriffen nachgeordneten deskripti-ven Begriffe in Form von Dihairesen paßt in jenes holistisch-synoptische Grund-muster von Wissen, insofern jede Dihairese die Fähigkeit der „Zusammenschau"zu einer Gattungseinheit, die sich dann als in sich gegliedert erweist, voraussetzt(Phdr. 265D-266C). - Daß Wissen für Platon im systematischen Zugriff je auf

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zipienkonzeption der Politeia prägt, und daß sich daran als Implikationaus der dialektischen Methode anschließt, daß das Erkenntnisbemühenals Erfolgskriterium letztlich doch nur die Kohärenz der Aussagen überdie eidetischen Gehalte zugrunde legen kann. Denn die dialektischeErkenntnis der liefert nicht ein fundamentum inconcussum, das insich ruht, so daß sich alles andere auf es stützen kann, sondern eher,um Platons eigenes Bild zu gebrauchen, den „Schlußstein" im Bau desWissens (Rep. 534E), der seine feste Position nur im Ganzen des Baushat, den er vollendet, der dabei aber zugleich (so können wir ergänzen)dem Bau erst seine Einheit und Stabilität gibt. Nun kommt unsere Nei-gung, die gleichwohl als einen aus sich selbst heraus evidentenletzten Beweisgrund zu verstehen, doch nicht von ungefähr. Wir sindhier ja von Platons eigener Kritik an bloßer Kohärenz als hinreichen-dem Erkenntniskriterium und seiner damit verbundenen Forderungnach einer genauen Untersuchung der ausgegangen und habendies in Verbindung zu seinem Wahrheitsrealismus gesetzt. Wenn nunaber die kein aus sich selbst heraus evidentes Prinzip ist, sondernletztlich nur in Verbindung mit dem ganzen Bau des Wissens bewährtwerden kann, was unterscheidet dann noch die Situation des Platoni-schen Dialektikers von der des Mathematikers, dem Platon es dochzum Vorwurf macht, daß er nur Kohärenz auf der Grundlage ungeklär-ter Voraussetzungen erreicht? Und was bedeutet dann überhaupt dieKennzeichnung der als eines , eines nicht mehr bloßhypothetischen Ausgangspunkts?

Zunächst einmal kann man auf diese beiden Fragen mit dem Hinweisdarauf antworten, daß der Dialektiker, anders als der Mathematiker,seine Forschung gewissermaßen bis auf ein äußerstes Limit, einen letz-ten Ausgangspunkt zurückführt, der als formales und inhaltliches Prin-zip für das Ganze der erkennbaren eidetischen Gehalte maßgeblich istund über den auch tatsächlich, von der Sache her, nicht mehr hinausge-gangen werden kann (das Eine-Gute?). Zweitens setzt der Dialektikerdieses Prinzip eben nicht einfach nur voraus, sondern unterzieht es ei-

das Ganze eines eidetischen Untersuchungsfeldes besteht, ist das Thema auchanderer Autoren, z. B. M. Burnyeat: The Theaetetus of Plato, Indianapolis 1990;ders.: „Aristotle on Understanding Knowledge", in: E. Berti (Hg.): Aristotle onScience. The "Posterior Analytics", Padua 1981, 97-139; ders.: „Socrates andthe Jury: Paradoxes in Plato's Distinction between Knowledge and True Belief',in: Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. vol.54 (1980), 173-191;D. Frede: „The Soul's Silent Dialogue, A Non-Aporetic Reading of the Thcactc-tus", in: Proc. of the Cambridge Philological Society 215 (1989), 20-49, dies.:Philebos (Anm. 30), 146 ff.; A. Nehamas: »Episteme and Logos in Plato's LaterThought", in: Archiv für Geschichte der Philosophie 65 (1983).

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ner elenktischen Prüfung, Durch den Grenzcharakter und den elenk-tisch bewährten Bezug auf das Ganze des Wißbaren ist die alsoein nicht bloß vorläufiges, und in diesem Sinne nicht bloß hypotheti-sches Prinzip. Da elenktische Bewährung aber bestenfalls die Kohärenzdes gesamten Wissensgebäudes ausweisen kann, bleibt unser Ausgangs-problem im Grunde bestehen, ob nicht auch ein in sich klar und kohä-rent gewordenes Denken die denkunabhängig vorgegebene Wahrheitim ganzen verfehlen kann.

Kommen bei Platon Zusatzprämissen ins Spiel, die garantieren, daßeine Theorie, die das radikalisierte Kohärenzkriterium der Dialektikerfüllt, mit der denkunabhängigen Wirklichkeit der Ideen zur Deckungkommen muß? Liefert vielleicht die Anamnesislehre eine solche notwen-dige Zusatzannahme? Man kann das Lehrstück von der Anamnesis alseine Konzeption verstehen, gemäß der die Begriffe der unabhängig sei-enden Ideen unserer Seele schon vorgeburtlich eingegeben und in unse-ren subsumierenden Urteilen, wenigstens auf unklare Weise, immerschon wirksam sind,32 weshalb (so kann man dann weiter extrapolie-ren) das Denken umfassende Kohärenz und Transparenz nur unterEinbeziehung dieser in unserer Seele latent schon wirksamen Erkennt-nisse zu bewerkstelligen vermag. Dies ergibt das Bild von einem inunserem Denken immer schon wirksamen und unverlierbaren Elementder Wahrheit, das bei dem Versuch, vollständige Kohärenz und Klar-heit der Begriffe zu erreichen, solange als Korrektiv wirkt, wie sichdas Denken noch nicht in Übereinstimmung mit der ganzen Wahrheitbefindet. Auf den Einwand, daß Platon in der Politeia ohne Rekurs aufdie Anamnesis-Lehre auskommt, könnte man entgegnen, daß schonder Gedanke der Verwandtschaft ( ) der Seele bzw. ihres ratio-nalen Teiles mit dem Ideen-Bereich auf jene Voraussetzung zielt, daßdas in sich transparent gewordene Denken nicht an der Wahrheit vor-beigehen kann.33 Die Anamnesis-Lehre wäre demnach lediglich eineWeise, die -Vorstellung gleichsam auszubuchstabieren. Alseine andere Weise, dies zu tun, könnte etwa der im Timaios entwickelteGedanke betrachtet werden, wonach die Seele geradezu aus bestimm-

32 So kann man Stellen wie Phd. 74D-75B und Phdr. 249Bf. ausdeuten. Als eineKritik an einem solchen Deutungsansatz ist beachtenswert D. Scott: Recollectionand Experience. Plato's Theory of Learning and its Successors, Cambridge 1995.Zur Einordnung der Anamnesis-Lehre in Platons Konzeption dialektischer Wis-senschaft vgl. A. Nehamas: „Meno's Paradox and Socrates as a Teacher", in:Oxford Studies in Ancient Philosophy 3 (1985), 1-30.

33 Der programmatisch in Phd. 78B—79E eingeführte Gedanke der derSeele mit den Ideen wird etwa in Rep. 490A f. wieder aufgegriffen.

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ten grundlegenden Strukturbegriffen gebildet ist und der Prozeß desVernünftigwerdens mit dem Vorgang gleichzusetzen ist, in dem dieseverlebendigten Begriffe, die zunächst durch die unkontrollierten Ein-flüsse der Sinnlichkeit verirrt werden, zu ihrer ordnungsgemäßen Inter-aktion zurückfinden (Tim. 35A, 41 D, 43 A ff., 90A-D).

Allerdings könnte ein Argumentationsgegner sofort einwenden, daßdie Wahrheit der Anamnesis-Lehre und überhaupt jener -Vor-stellung selbst nicht mehr als eine unbewiesene Voraussetzung ist, dieman in Frage stellen kann. Tatsächlich gehört das Problem der wahr-heitserschließenden Qualität von Kohärenz, von dem wir hier ausge-gangen sind, in einen größeren Kontext skeptischer Fragen, die sichgegen Platons Erkenntnisprojekt nicht nur aus unserer Perspektive er-geben können, sondern auch schon in der philosophischen Diskussionvor und während Platons Zeit virulent waren, wobei man zwei Pro-blemkomplexe herausheben kann, die Platon selbst thematisiert: näm-lich die Möglichkeit, daß die Gegenstände von sich her gar nicht soverfaßt sind, daß sie eindeutige und bleibend gültige Erkenntnis erlau-ben (z. B. Phd. 90Bf., Tht. 152Dff.); und die Möglichkeit, daß, selbstwenn es ein eindeutiges Sein gibt, unser menschliches Erkenntnisver-mögen dazu nicht in Beziehung treten kann (Parm. 133B—134C). Letz-teres Problem hat sich, im Rahmen einer ganz anders gearteten Kon-zeption der Grundelemente der Wirklichkeit, etwa auch schon für De-mokrit ergeben.34 Und auch der zweite Teil der Gorgianischen Schrift

OVTOS (DK 82. 3 [281, 22 ff.]) liefert einen guten Belegdafür, daß schon vor Platon Argumente im Umlauf waren, die sich,unter der hypothetischen Voraussetzung, daß es ein in sich bestimmtesSein gibt, gegen die Erkennbarkeit des Seins wendeten. Für PlatonsZugang zu dem ersteren Problemkomplex, der sich aus der Leugnungauch dieser Voraussetzung ergibt, ist seine grundsätzliche (durch dieeleatische Tradition inspirierte) Unterscheidung zwischen sinnlichemPhänomenbereich und begrifilich-eidetischen Strukturen maßgeblich.Den Gegenständen des sinnlichen Bereichs schreibt er ja selbst ontolo-gische Defizite zu, durch die sie der eindeutigen Bestimmtheit und un-eingeschränkten kognitiven Transparenz entbehren, um davon abergleichzeitig einen Bereich eidetischen Seins abzuheben, dessen Gegen-stände eindeutig bestimmt sind und der rein intellektuell-argumentativerforschbar ist. Die eigentliche Herausforderung für das dialektischeErkenntnisprojekt ergibt sich dann aber aus der Erfahrung mit der Prä-

DK 68. B6-10, B117 (vgl. J. Barnes: The Presocratic Philosophers, London/NewYork 1982, 559 ff.).

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xis einer vor allem in der eleatischen Tradition (Zenon) und in derSophistik entwickelten destruktiven Argumentations- und Widerle-gungskunst, auf die Platon des fteren mit dem Wort „άντιλογική"(oder verwandten Formen) Bezug nimmt.35 F r den „Widerlegungs-k nstler" ist kennzeichnend, da er beansprucht, zu jeder These eineWiderlegung auffinden zu k nnen, wobei am wirkungsvollsten solcheWiderlegungen sind, die die gegnerische Position aus sich selbst herausdurch innere Widerspr che destruieren. Ohne die Vorgeschichte dieserWiderlegungskunst w re auch Sokrates nicht denkbar gewesen. Die Er-fahrung der scheinbaren Widerlegbarkeit aller argumentativen Positio-nen kann aber, wie Platon selbst herausstellt, zu der berzeugung f h-ren, da das, was im argumentativen Gespr ch thematisiert wird, vonsich aus gar keine eindeutige Bestimmtheit aufweist (Phd. 90B—D,Rep. 537E-539D, vgl. auch Phdr. 261Cf.).

Was die Einw nde gegen die Bestimmtheit des Seins oder seine Er-kennbarkeit f r uns betrifft, so setzt der Dialektiker dem einige grund-legende Annahmen entgegen. Da ist zum einen die eben erw hnteGrundvoraussetzung, n mlich da den Gegenst nden der sinnlich ver-mittelten Wirklichkeit, die in der Tat keinen mehr als nur vor berge-henden und perspektivischen kognitiven Zugriff erlauben, ein Bereicheindeutig bestimmten eidetischen Seins zugrunde liegt. Mit dieser„Ideen-Hypothesis" verkn pft sich sodann die Annahme der kausalenRelevanz der eidetischen Gegenst nde f r den sinnlichen Bereich. Dadie Dinge von ihren Ursachen und Gr nden her erkannt werden m s-sen, ist durch die letztere These auch klar, da die Gegenst nde dessinnlich-doxastischen Bereichs ad quat nur im Ausgang von den Ideenbeurteilt werden k nnen. Aber was garantiert, da diese denkunabh n-gig subsistierenden eidetischen Gehalte durch unser Denken erschlos-sen werden k nnen? Hierauf antworten die συγγένεια-Vorstellung unddie Anamnesislehre, die eine m gliche Weise ist, die συγγένεια-Vorstel-lung zu konkretisieren.36 Die Antwort auf das grunds tzliche methodi-sche Problem, von dem wir ausgegangen waren, ob und unter welchenBedingungen Koh renz des Denkens wahrheitssichernd ist, geh rt inden Kontext dieser συγγένεια-These, weil, wie erl utert, nur auf dieser

35 Zur Praxis der „άντιλογική" und zur Rolle, die die Auseinandersetzung mit ihrf r Platon spielt, vgl. Szaif, Wahrheit (Anm. 2), 260-267. Den „άντιλογικό$"kann Platon h ufig ebensogut als Eristiker bezeichnen (vgl. ebd. 267 Anm. 90).

36 Da die Anamnesis-These der Ideen-Hypothesis nachgeordnet ist, ergibt sichschon aus dem schlichten Grund, da eine These bez glich unseres Wissens derdenkunabh ngigen Ideen die Annahme solcher Ideen voraussetzt. Und so wirddies auch im Phaidon konstruiert, wie insbesondere aus 92D6—E2 hervorgeht.

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Basis verständlich wird, wie Kohärenzkriterium und Wahrheitsrealis-mus zu vereinbaren sind. - Dies ist der Komplex von Grundannah-men, der sich schon aus dem Phaidon rekonstruieren läßt. In der Per-spektive der Politeia, insbesondere des Sonnengleichnisses, wird danndie Ideen-Hypothesis selbst noch einmal auf ein Höheres zurückge-führt, nämlich die Wesensbestimmung des Guten, in der die gemein-same Form der Ideen gründet, dank der sie in ontologische Differenzzu den Gegenständen des sinnlichen Erfahrungsbereiches treten undetwas von sich her uneingeschränkt Erkennbares sind.

Um auf der Grundlage solcher Voraussetzungen gegenüber den de-struktiven Möglichkeiten jener „Widerlegungskunst" bestehen zu kön-nen, muß der konstruktive Dialektiker auf einen sachgerechten Ge-brauch der Sprache achten37 und methodisch vorgehen. Jedoch ist die-ses Wissensmodell, und das ist entscheidend, nicht als ein antiskepti-scher Beweisgang konstruiert. Dies kann es nicht sein, erstens weil dieNachordnungsverhältnisse in diesem Modell nicht solche strenger de-duktiver Folgebeziehungen sind, zweitens weil das oberste Prinzip (oderauch irgendeines der sekundären Prinzipien) nicht unabhängig vonallem anderen erkannt werden kann. Beide Punkte haben wir ja schonoben ausgeführt.

Daß Platon auf die Herausforderung des rein destruktiven Gebrauchs vor Argu-menten nicht mit einem antiskeptischen Beweisgang reagiert, ergibt sich im übrigenschon aus der Logik der argumentativen Situation, in der sich der Platonische Dia-lektiker gegenüber dem „ $" befindet. Skeptische Positionen lassen sich janicht durch Verweis auf irgendwelche vermeintlich evidente Fakten widerlegen, son-dern nur dadurch, daß Widersprüche in der skeptischen Position selbst aufgezeigtwerden. Der „ $", an dem sich Platon orientiert, ist aber in gewissem Sinneder bessere Skeptiker, weil er gar nicht den Ehrgeiz hat, irgendeine Lehre zu formu-lieren, und sei es (paradoxerweise) eine skeptische Lehre. Er ist vielmehr nur so etwaswie der reine Praktiker des Widerlegens, der mit der Maxime operiert, zu jeder Theseund Gegenthese gleich wirkungsvolle Argumentationen aufzusuchen, und der damitArgumentation als Schlüssel zur Wahrheit unbrauchbar zu machen droht. Eine Wi-derlegung, die ihm selbst widerfährt, könnte er schlicht als ein weiteres Beispiel für

37 Dies ist ein Aspekt, den wir hier nicht weiter vertiefen können (vgl. aber J. Szaif:„Sprache, Bedeutung, Wahrheit. Überlegungen zu Platon und seinem DialogKratylos", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, demnächst). Jedenfallsmacht sich der destruktive Argumentationskünstler, da er nicht um der Wahrheitwillen argumentiert, die er ohnehin nicht für erreichbar hält, und ein rein agona-les Verhältnis zu Argumentation hat, ohne Bedenken auch Äquivokationen undandere Unvollkommenheiten sprachlicher Benennung zunutze (vgl. Rep.4S4A1-9, Tht 164Cf.). Daher Platons Insistieren auf einem nicht nur an denWorten, sondern „an den Sachen" orientierten Gebrauch von Sprache.

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den erfolgreichen Gebrauch destruktiver Argumentationskunst betrachten38 und alsnächstes dann seinerseits nach einer Widerlegung dieser Widerlegung suchen, um amEnde die konfiigierenden Argumentationen nebeneinander stehen zu lassen.39 Fürden Platonischen Dialektiker, der Argument und Widerlegung als Medium einerletztlich konstruktiven Wahrheitserhellung ernst zu nehmen versucht, kann es folg-lich nicht darum gehen, den „ " durch dessen innere Widersprüche zuwiderlegen. Er kann ihn nur in der Weise entwaffnen, daß es ihm selbst gelingt, einePosition zu formulieren, die sich im Elenchos als in sich stimmig bewährt, also nichtdurch innere Widersprüche von einem Widerlegungskünstler zu Fall gebracht wer-den kann.

Jene Grundannahmen, mit denen der konstruktive Dialektiker ge-genüber einem Widerlegungskünstler operiert, sind für ihn nicht belie-big wählbar: Kennzeichnend für das dialektische Erkenntnisprojekt alssolches ist ja die Abwendung von dem (vermeintlich) direkten Zugangauf Wirklichkeit, so wie er durch die Sinne gegeben ist. An die Stelle desnaiven Versuchs, mit einem Instrumentarium noch ungeklärter BegriffeWirklichkeit zu deuten, tritt das Unternehmen, Erkenntnis durch dieargumentative Klärung jener begrifflich-eidetischen Strukturen zu ge-winnen. Und im Horizont seines strikt realistischen Vorbegriffes vonWahrheit (der unangetastet bleibt) bedeutet dies dann, daß der kon-struktive Dialektiker nicht umhin kann vorauszusetzen, erstens daß dieeidetischen Strukturen einen Bereich denkunabhängig bestehenderWahrheit bilden und zweitens daß sich eine solche Wahrheit im Prozeßder argumentativen Selbstklärung des Denkens erschließt. Anderenfallswürde dieses ganze Unternehmen seinen Sinn verlieren (ein Sinn, zudem für Platon die Perspektive auf eine höchste Daseinsmöglichkeitder Seele gehört). Die oben genannten Annahmen, insbesondere dieIdeen-Hypothesis und die -Vorstellung, gehören darum zumnicht-beliebigen Kern des dialektischen Wissens. Man kann sagen, daßder konstruktive Dialektiker in ihnen seine Variante eines realistischenGrundvertrauens artikuliert, an dem er, gerade auch im Bewußtseinder skeptisch-destruktiven Möglichkeiten seiner Argumentationspraxis,

38 Vgl. das Protagoreische Diktum, wonach es zu einem jeden (Diskussions-)Gegen-stand zwei entgegengesetzte Argumentationen gibt (DK 80. 6a), und das Zeugnisdes Seneca, Ep. 88, 43 (= DK 80. A20), wonach Protagoras das auch auf diesenSatz selbst bezogen hätte. Vgl. auch Soph. 232Df. Zu der in ProtagoreischerTradition stehenden agonalen Argumentationspraxis und ihrer Verbreitung s.auch P. Moraux: „La joute dialectique d'apres le huitieme livre des Topiques", in:G. E. L. Owen (Hg.): Aristotle on Dialectic. The Topics, Oxford 1986, 277-311.

39 Das Modell konfligierender Argumentationen, die schlicht einander gegenüber-gestellt werden, veranschaulicht die vermutlich in Protagoreischer Tradition ste-hende Schrift Dissoi logoi (DK 90).

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festhält. Mit Blick auf das Sonnengleichnis und die dort angedeuteteRolle des Guten kann man auch von einem Grundvertrauen in dieWirksamkeit des Guten sprechen.

Mag letztlich keine Form eines dezidierten Realismus im Angesichtskeptischer Argumentationsmöglichkeiten auf ein Moment des Grund-vertrauens verzichten können (und mag letztlich auch unsere Lebens-praxis nicht ohne die eine oder andere Form realistischen Grundver-trauens möglich sein), so ist ein solcher Realismus philosophisch dochimmer in einer gefährdeten Position. Bei Platon jedenfalls sind (unterder Voraussetzung eines unverändert fortbestehenden realistischen Vor-verständnisses von Wahrheit) systematisch zwei entgegengesetzte Ent-wicklungsmöglichkeiten angelegt, die dann in der weiteren Traditiondes antiken Platonismus auch tatsächlich manifest geworden sind: Dieelenktische Dialektik kann in einen Skeptizismus führen, der sich ausder Erfahrung speist, daß zu jeder These eine Gegenthese plausibilisier-bar ist. Dieser Skeptizismus wird im Phaidon in der Form eines gemä-ßigten Fallibilismus ernsthaft als Möglichkeit ins Auge gefaßt (Phd.85Cf.), wenn auch am Ende des Gesprächs die Sokrates-Figur dieHoffnung artikuliert, daß fortgesetzte Untersuchung schließlich zueinem Punkt wirklicher Klarheit führe (107B).40 Und er entfaltet sichdann in der mittleren und neuen Akademie, die sich ja in ihrer Haltungauf den Platonischen Sokrates beruft. Auf der anderen Seite stehtein Traditionsstrang gleichsam der Dogmatisierung, für den sich dieerkenntnistheoretische These eines gesonderten Erkenntnisvermögensnicht-diskursiver Intellektion als bedeutsam erweist. Denn die Thesedieses direkten, nicht argumentativ-dialektisch vermittelten Zugangeszu den höchsten Wirklichkeiten kann eine Antwort geben auf dieFrage, was gegenüber dem sozusagen nie endenden Für und Wider desargumentativen Diskurses einen unverstellten Wahrheitszugang schafft.Der Preis, der dafür zu zahlen ist, liegt darin, daß sich die Erfahrung,

40 Daß Platon in der Politeia, die hier unser Hauptbezug ist, keine fallibilistischeKonzeption von Wissen entfaltet (vgl. Rep. 477E), ergibt sich u. a. schon daraus,daß sich die Rechtfertigung des uneingeschränkten Herrschaftsprivilegs der Phi-losophen nicht mit der Konzeption eines bloß vorläufigen Wissens vom Gutenverträgt. Wie immer es in Platons Sicht um die Möglichkeit der Realisierungeines solchen Wissens (und einer solchen Herrschaft) steht, entscheidend ist, daßeine nur erst vorläufige Kognition noch nicht seinen emphatischen Begriff vonWissen erfüllt und daß das Streben des Philosophen auf Wissen und nichts weni-ger als das ausgerichtet ist. Inwieweit Platon für sich und andere Menschen an-nahm, daß sie dieses Streben auch „hier und jetzt" voll erfüllen können, ist eineandere Frage, die letztlich vielleicht offen bleiben muß.

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die dieser Betrachtung der Wirklichkeit zugrunde liegt, in ihrer Wurzelnicht mehr argumentativ ausweisen läßt und letztlich den Charaktereiner mystischen Erfahrung annimmt. An die Stelle des Aufstiegs imeidetischen Beziehungsgeflecht durch eine kritisch-konstruktive Elenk-tik tritt der Aufstieg in höhere Bewußtseinsformen und in eine Unmit-telbarkeit, die von sich aus keiner argumentativen Vermittlung mehrbedarf. Gemäß der These, die ich hier zu entwickeln versucht habe, hältdie Position des historischen Platon gleichsam die Schwebe zwischendiesen beiden entgegengesetzten Optionen. Sie hält die Schwebe, indemsie einerseits das kontemplative Wissensideal an die Diskursivität derdialektischen Untersuchungsformen bindet, andererseits, wenigstens imGrundsatz, oder als leitendes Ideal, die Perspektive vertritt, daß die zueiner konstruktiven Methode fortentwickelte Elenktik zu einer voll-ständigen begrifflichen Transparenz und Stimmigkeit zu führen vermagund daß ein solcher kognitiver Zustand, aufgrund der „Verwandt-schaft" zwischen unserer rationalen Seelenschicht und der eidetischenGrundstruktur der Wirklichkeit, die Wahrheit nicht verfehlen kann.41

41 Dieser Aufsatz wurde in verschiedenen Vorstufen, zu unterschiedlichen Anlässen,in Konstanz, Erlangen und Bonn vorgetragen. Den Teilnehmern, sowie auchHerrn Myles Burnyeat, möchte ich für ihre Bemerkungen und kritischen Rück-fragen danken.

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