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politik 20 DFZ 3 · 2014 FVDZ-Presseseminar: Wie sicher sind Patientendaten? Mehr Fluch als Segen Seitdem Facebook, Online-Buchungen und Shoppingtouren im Internet zum Alltag gehören, ist die Herausgabe privater Infos für manche völlig normal geworden. Doch wie gläsern der Kunde ist, ent- scheidet er am Ende selbst. Anders in der Arzt- oder Zahnarztpraxis, wo sensible Patientendaten automatisch digital gespeichert werden. Die Gefahr des Missbrauchs ist groß. Deshalb hat der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) das brisante Thema Datenschutz auf dem jüngsten Pressese- minar in Berlin zur Diskussion gestellt. Die hoch aktuelle Problematik lockte viele Teilnehmer aus ganz Deutschland zum traditionellen FVDZ-Pressetreff in die Haupt- stadt. Rund 30 Journalisten, PR-Leute und IT-Spezialisten aus Zahnmedizin und Gesundheitswesen verfolgten die Podiums- diskussion mit dem Titel: „Auf dem Weg zur digitalen Praxis: Wie sicher sind Patientendaten?“ Die Diskutanten waren sich im Kern einig, wenn auch unter- schiedliche Interessen zum Vorschein kamen. Die FVDZ-Bun- desvorsitzende Dr. medic/IfM Timisoara Kerstin Blaschke woll- te Datenspeicherung zwar nicht per se verurteilen. Die Entwick- lung moderner Techniken sei ein sich ständig verändernder Pro- zess, dem sich auch Zahnärzte nicht versperren sollten, erklär- te sie. „Aber der Schutz der Patientendaten steht für uns an ers- ter Stelle.“ Als großes Problem nannte Blaschke die Tatsache, dass heutzutage selbst die Daten von gesunden Menschen inte- ressant, weil wirtschaſtlich bedeutsam seien. „Im Gesundheits- wesen haben sich die Präferenzen verschoben“, monierte die Verbandschefin. „Es hat den Anschein, dass individuelle Daten gegenüber den Bedürfnissen der Datensammelstellen und den Begehrlichkeiten der Interessengruppen am Gesundheitsmarkt in den Hintergrund geraten.“ Neue Wertigkeit der Patientendaten Dass diese Vermutung nicht unbegründet ist, machte der Direk- tor des Horst-Görtz-Stiſtungsinstituts der Berliner Charité, Pro- fessor Dr. Paul Unschuld, bereits in seinem Eingangsstatement vor der Podiumsdiskussion deutlich. Der Mediziner und His- toriker sprach von einer „neuen Wertigkeit der Patientendaten“ und stellte die entscheidende Frage in den Raum: Wer will diese Daten alles haben? Unschuld erläuterte, dass die Ursachen für den Wandel des deutschen Gesundheitswesens keinesfalls dem Wirken einzelner Politiker zuzuschreiben sei. Egal, welcher Minister das Bundes- gesundheitsministerium führe, seit dem Aufstieg der Finanzin- dustrie und dem Ende der Souveränität der Nationalstaaten in Europa gebe es eine grundlegende Veränderung, so Unschulds Analyse. „Früher galt: Ein gesunder Staat ist ein starker Staat. Heute brauchen wir das nicht mehr.“ Das Individuum – ob nun krank oder gesund – werde in erster Linie als Kunde betrach- tet. Private Investoren hätten längst die Gesundheitswirtschaſt entdeckt, attestierte Unschuld. Beispiel elektronische Gesund- heitskarte (eGK): Die ist nach Ansicht des Experten ein „indus- triell gewünschter Nackt-Scanner“. Wir haben keine gesunde IT Äußerst kritisch gegenüber Datenspeicherung zeigte sich der Informatiker und Spezialist für elektronische Sicherheit o- mas Maus. „Wir haben keine gesunde IT“, betonte er. Es könne zwar nicht auf Digitalisierung verzichtet werden, aber Vorrats- datenspeicherungen müssten dringend verschlüsselt ablaufen. Mit Blick auf die jüngst bekannt gewordenen internationalen Geheim- diensttätigkeiten und die Aktivitäten von Edward Snowden warn- te Maus generell vor Daten-Missbrauch. „Wenn Geheimdienste Daten nicht vor Mitarbeitern schützen können, dann wird das mit Gesundheitsdaten genauso wenig funktionieren.“ Der IT-Fachmann widersprach auch der Aussage des AOK-Ver- treters Karsten Knöppler, der in Sachen eGK-Sicherheit „bislang keine Skandale wahrgenommen“ habe. Maus dagegen: „Es hat in der Vergangenheit einige Lecks bei den Krankenkassen gege- ben.“ Der Informatiker appellierte an die Bundesregierung, ver- © Thomas Vogt / fotolia.com

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FVDZ-Presseseminar: Wie sicher sind Patientendaten?

Mehr Fluch als SegenSeitdem Facebook, Online-Buchungen und Shoppingtouren im Internet zum Alltag gehören, ist die Herausgabe privater Infos für manche völlig normal geworden. Doch wie gläsern der Kunde ist, ent-scheidet er am Ende selbst. Anders in der Arzt- oder Zahnarztpraxis, wo sensible Patientendaten automatisch digital gespeichert werden. Die Gefahr des Missbrauchs ist groß. Deshalb hat der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ) das brisante Thema Datenschutz auf dem jüngsten Pressese-minar in Berlin zur Diskussion gestellt.

Die hoch aktuelle Problematik lockte viele Teilnehmer aus ganz Deutschland zum traditionellen FVDZ-Pressetre� in die Haupt-stadt. Rund 30 Journalisten, PR-Leute und IT-Spezialisten aus Zahnmedizin und Gesundheitswesen verfolgten die Podiums-diskussion mit dem Titel: „Auf dem Weg zur digitalen Praxis: Wie sicher sind Patientendaten?“

Die Diskutanten waren sich im Kern einig, wenn auch unter-schiedliche Interessen zum Vorschein kamen. Die FVDZ-Bun-desvorsitzende Dr. medic/IfM Timisoara Kerstin Blaschke woll-te Datenspeicherung zwar nicht per se verurteilen. Die Entwick-lung moderner Techniken sei ein sich ständig verändernder Pro-zess, dem sich auch Zahnärzte nicht versperren sollten, erklär-te sie. „Aber der Schutz der Patientendaten steht für uns an ers-ter Stelle.“ Als großes Problem nannte Blaschke die Tatsache, dass heutzutage selbst die Daten von gesunden Menschen inte-ressant, weil wirtscha�lich bedeutsam seien. „Im Gesundheits-wesen haben sich die Präferenzen verschoben“, monierte die Verbandsche�n. „Es hat den Anschein, dass individuelle Daten gegenüber den Bedürfnissen der Datensammelstellen und den Begehrlichkeiten der Interessengruppen am Gesundheitsmarkt in den Hintergrund geraten.“

Neue Wertigkeit der PatientendatenDass diese Vermutung nicht unbegründet ist, machte der Direk-tor des Horst-Görtz-Sti�ungsinstituts der Berliner Charité, Pro-fessor Dr. Paul Unschuld, bereits in seinem Eingangsstatement vor der Podiumsdiskussion deutlich. Der Mediziner und His-toriker sprach von einer „neuen Wertigkeit der Patientendaten“ und stellte die entscheidende Frage in den Raum: Wer will diese Daten alles haben?

Unschuld erläuterte, dass die Ursachen für den Wandel des deutschen Gesundheitswesens keinesfalls dem Wirken einzelner Politiker zuzuschreiben sei. Egal, welcher Minister das Bundes-gesundheitsministerium führe, seit dem Aufstieg der Finanzin-dustrie und dem Ende der Souveränität der Nationalstaaten in Europa gebe es eine grundlegende Veränderung, so Unschulds Analyse. „Früher galt: Ein gesunder Staat ist ein starker Staat. Heute brauchen wir das nicht mehr.“ Das Individuum – ob nun krank oder gesund – werde in erster Linie als Kunde betrach-tet. Private Investoren hätten längst die Gesundheitswirtscha� entdeckt, attestierte Unschuld. Beispiel elektronische Gesund-heitskarte (eGK): Die ist nach Ansicht des Experten ein „indus-triell gewünschter Nackt-Scanner“.

Wir haben keine gesunde ITÄußerst kritisch gegenüber Datenspeicherung zeigte sich der Informatiker und Spezialist für elektronische Sicherheit �o-mas Maus. „Wir haben keine gesunde IT“, betonte er. Es könne zwar nicht auf Digitalisierung verzichtet werden, aber Vorrats-datenspeicherungen müssten dringend verschlüsselt ablaufen. Mit Blick auf die jüngst bekannt gewordenen internationalen Geheim-diensttätigkeiten und die Aktivitäten von Edward Snowden warn-te Maus generell vor Daten-Missbrauch. „Wenn Geheimdienste Daten nicht vor Mitarbeitern schützen können, dann wird das mit Gesundheitsdaten genauso wenig funktionieren.“

Der IT-Fachmann widersprach auch der Aussage des AOK-Ver-treters Karsten Knöppler, der in Sachen eGK-Sicherheit „bislang keine Skandale wahrgenommen“ habe. Maus dagegen: „Es hat in der Vergangenheit einige Lecks bei den Krankenkassen gege-ben.“ Der Informatiker appellierte an die Bundesregierung, ver-

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bindliche Spielregeln für den Umgang mit großen Datenmen-gen festzulegen.

Die Zahnärzte warnen seit JahrenDer stellvertretende Vorsitzende der Kassenzahnärztlichen Bun-desvereinigung (KZBV), Dr. Günther E. Buchholz positionierte sich mit einem eindeutigen „Ja“ zur Digitalisierung und zum Umgang mit moderner Medizin. Einer zentralen Datenspeiche-rung und der Sammlung von Patientendaten erteilte er jedoch – ebenso wie der FVDZ – eine klare Absage. „Die Zahnärzte war-nen davor seit Jahren“, erinnerte Buchholz. Seiner Ansicht nach habe die eGK durchaus positive E�ekte. „Wenn ich Informationen von Patienten haben will, kann sie ein Hilfsmittel sein,“, so die Einschätzung des KZBV-Vize. „Ich brauche allerdings gesicherte Endverbindungen.“

Was die zahnärztliche Selbstverwaltung angeht, so sieht Buch-holz auch hier eine „große Versuchung, auf Detail-Daten zuzu-greifen“. Aber nur, um auf den Wissensstand der Krankenkas-sen zu kommen.

Auch positive E�ekte, aber VorsichtDie provokantesten Fragen stellte die renommierte Wissen-scha�sjournalistin Dr. Ursula Weidenfeld während ihrer Modera-tion naturgemäß dem Vertreter des AOK-Bundesverbandes Kars-ten Knöppler. Wie nicht anders zu erwarten, pries er die sektor-übergreifende Qualitätssicherung als positiven E�ekt von Daten-speicherung im Gesundheitswesen an. Auch wies er darauf hin, dass sich die Krankenkassen an dem Wunsch der Menschen nach Digitalisierung orientieren müssten. Allerdings berichtete Knöp-pler ebenfalls von der negativen Entwicklung, dass die Privatwirt-scha� patientenbezogene Daten in Arztpraxen sammeln würde. Manche Institute verkau�en solche Daten sogar.

Und derartigen Fehlentwickungen müsse Einhalt geboten wer-den, darin waren sich die Diskussionsteilnehmer einig. Ihr Fazit: Digitalisierung ist okay, aber die Daten als höchstes Gut der Pra-xis müssen im Sinne des Patienten geschützt werden.

Melanie Fügner

„Der Schutz der Patientendaten steht für uns an erster Stelle“, betonte die FVDZ-Bundesvorsitzende Kerstin Blaschke.

Das hoch aktuelle �ema Datenschutz lockte zahlreiche Journa-listen und Fachleute aus ganz Deutschland nach Berlin.

„Private Investoren haben längst die Gesundheitswirtscha� ent-deckt“, attestierte Professor Paul Unschuld.

Ursula Weidenfeld moderierte die Diskussion mit Karsten Knöp-pler, �omas Maus, Paul Unschuld und Günther E. Buchholz (v.li).

Veranstaltung mit Tradition: FVDZ-PresseseminarEnde Januar war es wieder soweit: Rund 30 Journalisten und PR-Vertreter aus dem gesamten Bundesgebiet waren der Einladung des Freien Verbandes Deutscher Zahn-ärzte (FVDZ) zum Presseseminar in die Bundeshaupt-stadt gefolgt. Die Veranstaltung, die der Verband bereits seit 38 Jahren ausrichtet, setzte sich zusammen aus einer Podiumsdiskussion am Vormittag und zwei Fachvorträgen am Nachmittag.

Das �ema der Podiumsdiskussion lautete in diesem Jahr: „Auf dem Weg zur digitalen Praxis: Wie sicher sind Patien-tendaten?“. Dazu hatte der FVDZ den Direktor des Horst-Görtz-Sti�ungsinstituts der Berliner Charité, Professor Paul U. Unschuld, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV), Dr. Günther E. Buchholz, Diplom-Informatiker und IT-Sicher-heitsexperte �omas Maus und den Geschä�sbereichsleiter DV Steuerung beim AOK-Bundesverband, Karsten Knöpp-ler, eingeladen. Moderiert wurde die Diskussion von der Wirtscha�sjournalistin Dr. Ursula Weidenfeld.

Bei den Fachvorträgen sprach zuerst Privatdozent Felix Koch, Oberarzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirur-gie und Plastische Operationen an der Universitätsmedi-zin Mainz, über „3D-Rekonstruktionen bei Gesichtsdefek-ten“. Anschließend berichtete Dr. Claus Grundmann vom Institut für Rechtsmedizin am Klinikum Duisburg über das �ema „Gewalt an Kindern“ und die Möglichkeiten der Zahnärzte, diese zu erkennen und entsprechende Maßnah-men einzuleiten.

Unter den Journalisten erfreut sich das Presseseminar großer Beliebtheit. So konnte der FVDZ in diesem Jahr neben den vielen Stammgästen auch zahlreiche neue Besu-cher bei der Veranstaltung begrüßen. Insgesamt hatte sich die Zahl der Gäste im Vergleich zum Vorjahr um 50 Pro-zent erhöht. as

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Fachvorträge beim FVDZ-Presseseseminar in Berlin

Zahnverlust durch Gewalt und KrankheitMit den Themen „3D-Rekonstruktionen bei Gesichtsdefekten“ und „Gewalt an Kindern – was kann der Zahnarzt erkennen und was kann er tun?“ hatte sich der Veranstalter des zahnärztlichen Presse-seminars, der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ), nicht gerade die leicht verdaulichen The-men ausgesucht, mit denen er an die Vertreter aus der deutschen Presselandschaft trat. Vielfältige Nachfragen und Interviews am Rande der Veranstaltung zeigten jedoch, dass die Themen nicht nur innerhalb der Disziplin, sondern auch darüber hinaus relevant sind.

„Kindesmisshandlungen kommen in allen Ländern die-ser Erde vor“, so das ernüchternde Fazit von Referent Dr. Dr. Claus Grundmann, der seit 1992 im zahnärztlichen Dienst des Gesundheitsamts der Stadt Duisburg und im Institut für Rechts-medizin tätig ist. Grundmann fertigt unter anderem forensische

Altersgutachten an und begutachtet Verletzungen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich, einschließlich Bissspurenanalyse. Entsprechend erschütternd sind die Bilder, die der Experte dem Publikum zur besseren Veranschaulichung des �emas mitge-bracht hat: Der Abdruck eines Siegelrings ist deutlich im Gesicht

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Der Privatdozent Dr. Dr. Felix P. Koch aus Mainz hat ein 3D-Ver-fahren für schwere Kieferoperationen entwickelt - in Berlin beim FVDZ-Presseseminar stellte er es vor.

eines kleinen Patienten sichtbar; ein blauer Fleck am Hals? „Das kann kaum von einem Sturz kommen“, sagt Grundmann.

Sensibler und bedachter Umgang„Kindesmisshandlungen gehören zum zerstörerischsten Prob-lem unserer Tage“, sagt Grundmann; Schätzungen gehen – die Dunkelzi� er mit eingerechnet – von bis zu einem Todesfall pro

Dr. Dr. Claus Grundmann aus Duisburg hält das aktuell für Dis-kussionen sorgende Buch "Deutschland misshandelt seine Kinder" in die Lu� .

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Tag in Deutschland durch Kindesmisshandlungen aus. Medizi-ner und Zahnmediziner werden, wenn sie ihren Beruf ausüben, gelegentlich mit den Folgen gewaltbedingter Verletzungen kon-frontiert: „Auch in eigener Praxis niedergelassene Zahnmedizi-ner können manchmal Fälle von Gewaltein� uss durch fremde Hand bei ihren kleinen und großen Patienten feststellen“, sagt Grundmann. Prinzipiell gehen Eltern, die ihr Kind misshandelt ▶

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haben, eher selten zum Arzt oder Zahnarzt – aus Angst, entdeckt zu werden. Entsprechend sensibel und bedacht sollte der Zahn-arzt mit Verdachtsfällen in der eigenen Praxis umgehen. „Es gibt aber kein Patentrezept“, sagt Grundmann und meint damit, dass unter Umständen ein Kon�ikt zwischen dem § 1666 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) „Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ und dem § 294a des Fünf-

ten Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) au�reten könnte – nach letzterem Paragraphen besteht „keine Meldep�icht“ bei „Hin-weisen auf drittverursachende Gesundheitsschäden, die Folge einer Misshandlung, eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen“ sein könnten.

Dementsprechend ist der Zahnarzt nicht vor den Folgen einer falschen Beschuldigung geschützt. In den meisten Fällen, so Grundmann, sei es jedoch ratsam, Verdachtsmomente via Foto-apparat zu dokumentieren – auch tut es das Smartphone mit einer Übersichts- und Detailaufnahme: „Das ist wichtig, weil man sonst schnell vergisst, was rechts und links ist“, emp�ehlt Grundmann – und warnt gleichzeitig: „Jede Kollegin und jeder Kollege sollte sich bewusst sein, dass fehlerha�e Einschätzun-gen beziehungsweise Interpretationen verheerende Wirkungen nach nicht ziehen können!“

Um die Problematik in den Praxen in den Gri� zu bekommen und die Zahnmediziner zu unterstützen, haben die Zahnärzte-kammern und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen Lippe den Befundbogen „Forensische Zahnme-dizin“ erstellt (mehr dazu unter: http://www.zahnaerztekam-mernordrhein.de/fuer-zahnaerzte/haeuslichegewalt.html). „Es bleibt zu ho�en, dass die Zahl der gewaltbedingten Körperver-letzungen in den kommenden Jahren rückläu�g sein wird“, so Grundmann.

Bildgebung hilft bei schweren Eingri�enEine weitere seltene, aber nichtsdestotrotz gravierende und – wenn zu spät erkannt – folgenschwere Diagnose in der Zahn-arztpraxis beleuchtete Privatdozent Dr. Dr. Felix P. Koch: bös-artige Tumore im Mund- und Gesichtsbereich. Im Rahmen der Berufslau�ahn eines Zahnarztes hat dieser im Durchschnitt zwei Patienten mit Mundhöhlenkrebs „auf dem Stuhl“. Wuche-rungen können das Gesicht eines Patienten auf gravierende Art und Weise entstellen, aber auch schwere Unfälle oder Infektio-nen können operative Eingri�e notwendig machen: „Dabei müs-sen nicht selten auch die Kieferknochen mitsamt den Zähnen entfernt werden“, führt Koch aus, der am Universitätsklinikum Mainz Oberarzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sowie Plastische Operationen ist. An seinem Haus arbeiten die Ärzte mit einer neuartigen 3D-Rekonstruktionstechnik, die Koch ent-wickelt hat –sie ermöglicht die Wiederherstellung von Knochen, Haut, Zahn�eisch und Zähnen in einer Operation. Die Chirur-gen bedienen sich hierbei mikrochirurgischer Techniken, wei-ter nutzen sie Nahtmaterial – dünner als Haar: „Eine moderne Bildgebung ermöglicht heute die dreidimensionale Planung und Umsetzung während der Operation“, so Koch.

Das Verfahren, das von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet wird, wird auch im indischen Bangalore eingesetzt, wo es ein großes Problem mit Mundkrebs gibt: „Wegen des Kauta-baks“, sagt Koch. Große Fallzahlen in Indien bestätigen indes die geringe Komplikationsrate der Methode.

Eva Britsch

BuchhinweisDeutschland misshandelt seine Kinder, Michael Tsokos, Sas-kia Guddat, 2014, 256 Seiten, Maße: 12,5×20,5 cm, gebunden, Deutsch, ISBN: 978-3-426-27616-7, Hardcover, Droemer HC

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Aktuelle Debatte zur Gewalt an KindernMit einem mehr als erschütternden Buchtitel machen Michael Tsokos und Saskia Guddat momentan auf das �e-ma Gewalt aufmerksam: Deutschland misshandelt seine Kin-der heißt das in diesem Jahr erscheinende Buch, in dem die beiden Autoren – Tsokos leitet das Institut für Rechtsme-dizin der Charité und gilt als einer der bekanntesten deut-schen Rechtsmediziner; Guddat ist Fachärztin am Institut für Rechtsmedizin der Charité – mit drastischen Worten und Vergleichen auf die Brisanz des �emas hinweisen: „An jedem einzelnen Tag eines Jahres werden in Deutschland rund 550 Kinder von Erwachsenen aus ihrem familiären Umfeld massiv misshandelt – das ist eine ganze Schule mit rund 27 Schulklassen. Und jedes Jahr werden 16 Schulklas-sen – 320 Kinder – durch körperliche Gewalt getötet.“ Beim Presseseminar des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) wollte sich der geladene Experte Grundmann auf die Fragen von Journalisten, ob er Zahlen, die in diesem Buch angeführt werden, für realistisch hält, nicht festlegen.

Das Buch wurde von verschiedenen Seiten als „popu-listisch“ bezeichnet; indes hat es jedoch eine Debatte zum gesellscha�lichen Umgang mit Misshandlungen an Kindern und zur „Kultur des Wegschauens“ ausgelöst. Beispielsweise forderte der Generalsekretär der Berliner CDU, Kai Wegner, einen „Elternführerschein“, da Misshandlungen in der Regel „Folge einer Überforderung der Eltern“ seien. Dagegen sag-te der familienpolitische Sprecher der Berliner SPD, Björn Eggert, gegenüber der Berliner Zeitung B.Z.: „Ein Eltern-führerschein würde die Akzeptanz der Vorsorgeuntersu-chungen verringern.“

Die Bundesvorsitzende des FVDZ, Dr. medic/IfM Timi-soara Kerstin Blaschke, plädierte beim Presseseminar für mehr kollegialen Austausch innerhalb der Zahnärztescha� und über die Grenzen der Disziplin hinweg: „Einmal Weg-schauen ist schon zu viel!“

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