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Hinweis: Diese Arbeit wurde den TeilnehmerInnen der LV „Techniken des politikwissenschaftlichen Arbeitens“ im Wintersemester 2006/07 als An- schauungsmaterial zur Verfügung gestellt. Ihr Inhalt ist Eigentum des LV- Leiters und darf ohne dessen Einwilligung nicht reproduziert oder zitiert wer- den! POLITIKVERDROSSENHEIT Eine Gefahr für die Demokratie? SE: Demokratieentwicklung und Demokratiereform Univ.-Prof. Dr. Karl Ucakar SoSe 2004 Florian Walter 9605284 A300

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Hinweis: Diese Arbeit wurde den TeilnehmerInnen der LV „Techniken des politikwissenschaftlichen Arbeitens“ im Wintersemester 2006/07 als An-schauungsmaterial zur Verfügung gestellt. Ihr Inhalt ist Eigentum des LV-Leiters und darf ohne dessen Einwilligung nicht reproduziert oder zitiert wer-den!

POLITIKVERDROSSENHEIT

Eine Gefahr für die Demokratie?

SE: Demokratieentwicklung und Demokratiereform Univ.-Prof. Dr. Karl Ucakar SoSe 2004 Florian Walter 9605284 A300

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Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG 3

1.1 Problemstellung 3

1.2 Aufbau der Arbeit 5

2 THEORETISCHE VERORTUNG 6

2.1 Eastons Theorie der Systemanalyse 7 2.1.1 Das politische System 7 2.1.2 Das Konzept der politischen Unterstützung 9

3 INDIKATOREN ZUR MESSUNG DER POLITIKVERDROSSENHEIT 11

3.1 Verdrossenheits- und Unterstützungsobjekte 12

3.2 Verdrossenheitsobjekte und Unterstützungsarten 14 3.2.1 Demokratie 14 3.2.2 Politische Parteien 16 3.2.3 Politische Institutionen 18 3.2.4 PolitikerInnen 21

3.3 Kritik 22

4 URSACHEN DER POLITIKVERDROSSENHEIT 26

4.1 Sozialer Wandel 26

4.2 Wandel der medialen Berichterstattung 28

4.3 Performanzdefizite 30

4.4 Fazit 31

5 KONSEQUENZEN DER POLITIKVERDROSSENHEIT 32

5.1 Wahlbeteiligung 32

5.2 Wahlverhalten 34

5.3 Aktive Partizipation 36

6 RESÜMEE UND AUSBLICK 37

7 LITERATURVERZEICHNIS 40

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1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Politikverdrossenheit ist ein im heutigen Sprachgebrauch allgegenwärtiger Begriff, den die

meisten Menschen im deutschsprachigen Raum zumindest schon einmal gehört haben. Be-

sonders von Beginn bis Mitte der 90er Jahre dominierte der Begriff den medialen und poli-

tischen Diskurs und erreichte damit eine breite Öffentlichkeit. Sucht man etwa im Archiv

der österreichischen Tageszeitung Kurier (http://kurier.at/archiv) nach Nennungen von Poli-

tikverdrossenheit in sämtlichen Ressorts der Printausgabe seit 1.1.1992, so lässt sich eine

signifikante Häufung in den Jahren 1992 - 1995 feststellen (158 Erwähnungen), die in den

beiden darauf folgenden Vierjahresschritten (96-99: 59, 00-03: 46) nicht mehr annähernd

erreicht wurden. Genannt wurde der Begriff oft im Zusammenhang mit einer in erster Linie

Jugendlichen und jungen Erwachsenen konstatierten Unzufriedenheit und ablehnenden Hal-

tung gegenüber den etablierten Parteien, meist wurde er jedoch ohne weiter gehende Ausei-

nandersetzung mit konkreten Indikatoren oder Auswirkungen unreflektiert als Schlagwort

gebraucht.

Auch in der politikwissenschaftlichen Forschung erfolgte zwangsweise eine Auseinander-

setzung mit Politikverdrossenheit, die sich jedoch in den meisten Fällen dem Niveau der

medialen Berichterstattung anpasste und über einige essayistisch-journalistische Schriften

konservativer Kulturpessimisten bzw. empirizistische Analysen zur vereinfachenden Erklä-

rung aktueller Formen politischen Verhaltens oft nicht hinauskam (vgl. Arzheimer 2002,

20). Kurz gesagt sind fundierte wissenschaftliche Publikationen auf einer breiten theoreti-

schen Basis aus jenem Zeitraum, in dem Politikverdrossenheit zum Modethema und Lieb-

kind der Medien avancierte, Mangelware. Die wenigen theoretisch fundierten Arbeiten zum

Thema sind jüngeren Datums und sollen die wesentliche Grundlage dieser Arbeit darstellen.

Es handelt sich hierbei um die Dissertationen von Kai Arzheimer (2002) und Jürgen Maier

(2000), die neben der präzisen theoretischen Verortung auch um eine Verbesserung der

empirischen Messbarkeit von Einstellungen politischer Verdrossenheit bemüht sind und

sich in diesem Rahmen mit einer Vielzahl von Publikationen zum Thema beschäftigen und

diese auf ihre Erklärungsleistung hin überprüfen. Dass es sich bei beiden Werken um Bei-

träge bundesdeutscher Autoren handelt ist im Bezug auf das Forschungsfeld gedacht kein

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Zufall: Österreichische Befunde zur Problematik politischer Verdrossenheitseinstellungen

existieren de facto nicht. Während sich vor allem Fritz Plasser und Peter A. Ulram in ver-

schiedenen Publikationen (1982, 1991) mit einem empirischen Zugang zur Messung von

Politikverdrossenheit beschäftigt haben, der weiter unten noch zu diskutieren sein wird,

fehlen normative und theoretisch fundierte Arbeiten aus Österreich zum Thema fast völlig1.

Das Problem, das Arzheimer und Maier in der Betrachtung älterer Literatur im Zusammen-

hang mit Politikverdrossenheit transparent machen, liegt vor allem in der analytischen Un-

schärfe des Begriffes und in dessen daraus resultierender Vielschichtigkeit. So ist unklar,

was mit dem Kompositum Politikverdrossenheit gemeint sein soll, da bereits der Terminus

Politik umfassende Diskussionen um den Inhalt des Politischen evoziert (vgl. Maier 2000,

17). Ähnlich verhält es sich mit dem Begriffsteil Verdrossenheit, der inhaltlich ebenso un-

scharf ist und zusätzlich die Existenz eines Zustands der Unverdrossenheit impliziert, die

als solche nachzuweisen wohl unmöglich ist (vgl. Arzheimer 2002,17).

Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Begriffen, die im Zusammenhang mit Politikverdros-

senheit meist synonym dazu verwendet werden, sich jedoch untereinander oftmals in inhalt-

licher Konkurrenz zueinander befinden2. Es handelt sich hierbei um die Termini Politike-

rInnen-, Partei(en)-, Demokratie-, Institutionen-, Staats-, Parlamentarismus- oder System-

verdrossenheit, von denen die drei erstgenannten am häufigsten vorkommen und wir uns

deshalb auf diese Begriffe konzentrieren werden.

Da es sich bei vorliegendem Text um eine Abschlussarbeit für ein Seminar zum Thema

„Demokratieentwicklung und Demokratiereform“ – Unterthema: Gefahren für die Demo-

kratie – handelt, ist die Forschungsfrage, die es im Verlauf dieser Arbeit zu beantworten

gilt, auf dieses Thema abzustimmen. Die Fragestellung, welche den weiteren Verlauf der

Auseinandersetzung demnach bestimmen soll, lautet also folgendermaßen:

„Stellt Politikverdrossenheit (PV) eine Gefahr für die Regierungsform Demokratie dar?“

Daraus ergeben sich weiters einige Unterfragestellungen:

• Wie lässt sich PV empirisch messen?

1 Christian Böhmer (2002) bemüht sich in seiner Diplomarbeit auch um eine theoretische Annäherung, führt diese jedoch nach Ansicht der Autoren nicht konsequent genug zu Ende und konzentriert sich zu sehr auf die Kritik einzelner Ansätze. 2 Auf die inhaltlichen Unterschiede wird in Kapitel 3 noch näher eingegangen werden.

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• Wie kommt es zu PV in der Bevölkerung?

• Welche Auswirkungen hat PV auf das Verhalten der Menschen?

1.2 Aufbau der Arbeit

Analog zu dieser forschungsleitenden Fragestellung und den konstitutiven und zielgerichte-

ten Unterfragen gelangt man zum Aufbau der Seminararbeit, der wie folgt aussehen soll:

Zunächst soll ein theoretisches Konzept vorgestellt werden, anhand dessen im Ver-

gleich zu anderen Erklärungsmustern am besten die Einstellungen politischer Verd-

rossenheit in einem Gesellschaftsmodell verortet und deren Bezugsobjekte und Äu-

ßerungsformen beschrieben werden können. Dieses Konzept der politischen Unter-

stützung von David Easton wird in seinem Kontext, der Analyse politischer Systeme

erklärt und die Gründe für dessen Auswahl verständlich gemacht werden.

In einem nächsten Schritt möchten wir geeignete Indikatoren zur Messbarkeit politi-

scher Verdrossenheitseinstellungen erarbeiten. Dazu ist es notwendig die unter-

schiedlichen Objekte, auf die sich Politikverdrossenheit erstrecken kann (z.B. Par-

teien, PolitikerInnen, politisches System,…) den im vorigen Kapitel vorgestellten

Unterstützungsobjekten und –arten zuzuordnen. Ein Teil dieses Abschnittes wird

sich schließlich auch mit der Kritik an der Messbarkeit von Politikverdrossenheit

anhand einzelner, in der Umfrageforschung gängiger Indikatoren beschäftigen.

Schließlich soll nach Ursachen für eventuell vorhandene Verdrossenheitseinstellun-

gen, wie sie in den verschiedenen Werken sozialwissenschaftlicher Literatur zu fin-

den sind, gesucht werden. Bekannte Ansätze beschäftigen sich mit dem Wertewan-

del, dem sozialen Wandel, Modernisierung und Globalisierung, der Veränderung der

Medienberichterstattung oder der schlechten Performanz politischer Eliten. Dieser

Abschnitt soll lediglich als Überblick verstanden und somit relativ knapp gehalten

werden.

Am Ende werden noch kurz die Auswirkungen politischer Verdrossenheit betrach-

tet, welche sich auf der Ebene aktiver Partizipation bzw. im Bereich des Wahlver-

haltens ergeben. Hier soll besonderes Augenmerk der steigenden Wahlenthaltung

zukommen, da diese als häufigstes Indiz wachsender Unzufriedenheit herangezogen

wird. Die Frage nach der Berechtigung derartiger Interpretationen wird gestellt.

In einem abschließenden Resümee ist schließlich noch einmal auf die Forschungs-

frage einzugehen und diese einer differenzierten Beantwortung zuzuführen.

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Abschließend sei in dieser Einleitung noch erwähnt, dass eine umfassende Darstellung des

Problems in einer Seminararbeit nicht möglich ist. Dieser Beitrag und vor allem dessen the-

oretischer Teil ist somit allenfalls als einführender Überblick in die Thematik zu lesen.

2 Theoretische Verortung

Auf die Probleme, welche sich aus der dem Begriff Politikverdrossenheit zugrunde liegen-

den inhaltlichen Unschärfe ergeben, wurde bereits in der Einleitung hingewiesen. Arzhei-

mer hat sich in seiner Untersuchung aus 2002 mit den einschlägigen Publikationen zum

Thema in einem Erscheinungszeitraum von 1977 bis 1999 eingehend beschäftigt (Kapitel 2)

und kommt schließlich zu dem Schluss, dass eine durchgängige Definition des Begriffes

über die Gesamtheit der Werke nicht feststellbar ist. Unter Berufung auf Karl-Dieter Opp

(1995) weist Arzheimer jedoch darauf hin, dass um von einer guten Begriffsdefinition spre-

chen zu können, diese Termini eindeutig, präzise und theoretisch fruchtbar zu sein haben

(vgl. Opp zit. n. Arzheimer 2002, 30f). Ohne an dieser Stelle näher auf dieses Konzept von

Opp eingehen zu wollen, sei festgehalten, dass Arzheimer in einem Zwischenfazit zu dem

Schluss kommt, dass diese Kriterien nicht erfüllt worden sind (Arzheimer 2002, 202). Wel-

che Konsequenzen sind aber nun aus dieser Erkenntnis zu ziehen?

Arzheimer zieht den logischen Schluss, dass alternative, etablierte Konzepte zur Beschrei-

bung von Verdrossenheitseinstellung wie politische Unzufriedenheit, internal/external Effi-

cacy, politische Entfremdung, politische Unterstützung für eine Analyse des Phänomens

möglicherweise besser geeignet sind, als der theoretisch unscharfe Begriff Politikverdros-

senheit. Gerade im letztgenannten Konzept der politischen Unterstützung, zurückgehend

auf die Theorie David Eastons findet er eine Modell, das nicht nur Opps Kriterien erfüllt,

sondern auch die wichtigsten Elemente der übrigen Ansätze in sich vereint.

Im Gegensatz zu Arzheimer, der analog zu Dieter Fuchs (2002a) vorschlägt, den Begriff

Politikverdrossenheit zugunsten jenes der Politischen Unterstützung vollständig fallen zu

lassen, soll hier jedoch der Leitbegriff mit dem „Entzug politischer Unterstützung“ gleich-

gesetzt, als Oberbegriff für eine Reihe von Ausprägungen von Verdrossenheitseinstellungen

verwendet und somit nicht a priori obsolet gemacht werden.

Im Folgenden gilt es also den Theorieansatz Eastons (1965) in seinen Grundelementen vor-

zustellen und schließlich näher auf das Konzept der politischen Unterstützung als tragendes

Element dieser Theorie inklusive aller seiner Facetten einzugehen.

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2.1 Eastons Theorie der Systemanalyse

David Eastons Theorie gilt zurecht als eine der nachhaltigsten und wichtigsten politischen

Theorien der Moderne. In den drei zusammengehörigen und aufeinander bezogenen Wer-

ken „The Political System“ (1953), „A Framework for Political Analysis“ und „A Systems

Analysis of Political Life“ (beide 1965) versucht Easton eine allgemeine Theorie der Politik

mit stark empirischem Bezug3 zu entwerfen, deren zentrale Punkte hier wiedergegeben

werden sollen.

2.1.1 Das politische System

Als grundsätzliche Analyseeinheit legt Easton das politische System fest und grenzt sich

hiermit in erster Linie von einer Forschungstradition ab, welche auf Max Weber begründet

ist und als primäre Betrachtungsebene die Handlung angesetzt hat. Soziale Systeme im All-

gemeinen werden nach Eastons Verständnis durch systematisch vernetzte Handlungen (In-

teraktionen) konstituiert, das umfassendste dieser sozialen Systeme ist die Gesellschaft (vgl.

Fuchs 2002b, 348f).

Was macht jetzt jedoch jene spezifisch politischen Interaktionen aus, die schließlich das

politische System bilden? – Easton antwortet darauf folgendermaßen: „A political system

(…) will be identified as a set of interactions, abstracted from the totality of social behavi-

our, through which values are authoratively allocated for a society“ (Easton 1965, zit. n.

Fuchs 2002b, 349). Die Funktion liegt also in der Allokation (Erzeugung und Durchset-

zung) von für eine Gesellschaft verbindlichen Entscheidungen.

Als Teil der Gesellschaft steht das politische System in einem Prozess des Austausches mit

seiner Umwelt und ist somit auch den Einflüssen dieser Umwelt ausgesetzt. Eine spezielle

Form dieser Einflüsse bezeichnet Easton als disturbances, es handelt sich dabei um Fakto-

ren, nach deren Einwirken das System sich in seiner Form von jenem vor dem Reiz unter-

scheidet, dieses also verändern. Von stress spricht Easton in weiterer Fortsetzung seines

Gedankens schließlich, wenn die „essential variables“ (charakteristischen Merkmale) eines

Systems einen kritischen Punkt überschreiten. Diese relativ schwammige Formulierung

bedeutet nichts anderes als dass, wenn ein System nicht mehr in der Lage ist verbindliche

3 Moderne politische Theorien werden meist je nach dem Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen (ursächliche Begründbarkeit versus tatsächliche Verfasstheit von Politik) in normative und empirische Theorien unterteilt (vgl. Brodocz/Schaal 2002, 10).

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Entscheidungen zu treffen, die auch akzeptiert werden, dies zu stress und in weiterer Folge

zum Kollaps des Systems führen kann.

Die zentrale Aufgabe eines politischen Systems muss also sein im Angesicht von Stressfak-

toren die Allokation von Werten aufrecht zu erhalten und somit seine eigene Persistenz zu

garantieren. Diese Persistenz wiederum, die in Bezug auf oben Genanntes also die Auf-

rechterhaltung von Interaktionsmustern bedeutet, kann für Easton nur durch Anpassung des

Systems an die Umwelt erreicht werden. „Stabilität durch Wandel“ kann als Paraphrasie-

rung seiner Vorstellungen gelten (vgl. Fuchs 2002b, 353).

Es gilt nun im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Theoriebildung die bereits beschriebe-

nen Einflüsse, also die Verbindungen zwischen Umwelt und politischem System zu spezifi-

zieren und rationalisieren. Grob können diese Einflüsse zunächst in Inputs und Outputs un-

tereilt werden.

Unter Output wird wie bereits erwähnt die Erzeugung und Durchsetzung verbindlicher Ent-

scheidungen, also die „verbindliche Allokation von Werten“ verstanden.

Als Input bezeichnet man die Gesamtheit aller Bedürfnisse (wants), Forderungen (demands)

und Unterstützungen (support) an bzw. für das politische System. Wants existieren dem-

nach in großer Zahl innerhalb der Umwelt eine politischen Systems, werden jedoch erst

durch deren Formulierung als Ansprüche zu demands. diese Forderungen stellen einen es-

sentiellen Bestandteil eines politischen Systems, aber bei Vorliegen von zu vielen oder ho-

hen Erwartungen auch eine Quelle von stress dar. Bei support handelt es sich schließlich

um jene Inputkategorie, die als tragendes Element der Theorie Eastons in Bezug auf die

Forschungsfragestellung ausgewiesen werden kann und der deshalb im folgenden Abschnitt

besonderes Augenmerk zuteil werden soll.

Zur optischen Veranschaulichung dieser schriftlichen Darstellung von Eastons Systemmo-

dell soll abschließend Abbildung 1 dienen.

Abbildung 1: Politisches System nach David Easton (1965)

U M W E L T

wants

demands

support

INP

UT

Politisches System

OU

TP

UT

authorative

allocation of

values

U M W E L T

FEEDBACK

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2.1.2 Das Konzept der politischen Unterstützung

Das Konzept politischer Unterstützung nach David Easton ist in zahlreichen einschlägigen

Arbeiten zum Thema Politikverdrossenheit (Arzheimer 2002, Maier 2000), Wahlenthaltung

(Völker/Völker 1998) oder Politische Legitimität (Westle 1989) ausführlich beschrieben

und in letzterem Fall auch weiterentwickelt worden. Die Ausführungen decken sich nicht

nur inhaltlich, sondern auch in der Auswahl der zitierten Passagen über weite Strecken,

weshalb hier zur Darstellung quasi repräsentativ für die vielen vortrefflichen Arbeiten zum

Thema nahezu ausschließlich auf die ebenfalls ähnliche und gut verständliche Zusammen-

fassung von Dieter Fuchs (2002b, 355-361) Bezug genommen wird.

David Easton beschreibt support also als „an attitude by which a person orients himself to

an object either favourably or unfavourably, positively or negatively” (Easton 1975, zit. n.

Fuchs 2002b, 355). Unterstützung stellt also ein konstitutives Element für die Persistenz

eines politischen Systems, dessen Fehlen also eine – wenn nicht sogar die entscheidende –

Quelle von Stress dar. Da allerdings nicht jede Form von support gleich entscheidend dar-

über ist, wie sich ein politisches System letztlich darstellt, unterscheidet Easton in seinem

Modell verschiedene Unterstützungsarten und auch Unterstützungsobjekte voneinander.

Als relevante Objekte führt Easton also die politische Gemeinschaft (community), das poli-

tische Regime (regime) und die politischen Entscheidungsträger (authorities) an.

Der Begriff der politischen Gemeinschaft bezieht sich laut Easton auf den Umstand,

dass sich die Mitglieder eines politischen Systems als Gruppe von Individuen fühlt,

welche durch politische Arbeitsteilung miteinander verbunden sind. Integrativ für

die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft wirkt also die Teilhabe an gemeinsamen Struk-

turen und Prozessen unabhängig von der institutionellen Form der Gemeinschaft

und auch von Veränderungen im Bereich der Führungseliten. Unterstützung bedeu-

tet in diesem Bereich also Engagement für die Erhaltung der bzw. positive Einstel-

lung gegenüber den politischen Strukturen. die political community stellt den abs-

traktesten Bereich unter den Unterstützungsobjekten dar.

Das politische Regime ist schließlich jener Rahmen, der politische Interaktionen

steuert und reguliert und somit berechenbar macht, was für ein dauerhaftes Zusam-

menleben von Menschen in einer Gemeinschaft als notwendig erachtet wird. Easton

unterteilt diesen rahmen in drei hierarchisch geordnete Komponenten: Werte, Nor-

men und Herrschaftsstrukturen.

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Die Werte bezeichnen bei Easton die Grundeinstellungen innerhalb eines politischen

Systems, über die prinzipielle Einigkeit besteht und die in der Tagspolitik außer

Streit stellen (z.B.: Freiheit und Gleichheit in Demokratien). Unter Normen sind je-

ne sich ergänzenden formalen (Gesetze und Verfassung) und informellen (Toleranz)

Regeln des Zusammenlebens zu verstehen, die für alle Mitglieder der Gemeinschaft

gleichsam Geltung haben (vgl. Westle 1989, 56). Die Herrschaftsstrukturen be-

zeichnen schließlich die institutionalisierten politischen Rollen (Regierung, Verfas-

sungsgerichtshof), die mit der Macht zum Treffen von Entscheidungen und deren

Durchsetzung ausgestattet sind. Unterstützung im Bereich des politischen Regimes

bedeutet die Akzeptanz der Werte und Normen, sowie der Rollenträger und der von

ihnen getroffenen Entscheidungen (vgl. Maier 2000, 26).

Politische Herrschaftsträger sind als drittes Unterstützungsobjekt jene Personen,

welche die entscheidenden politischen Rollen innehaben (BundeskanzlerIn, Ministe-

rInnen). Zu unterscheiden von den Rolleninhabern sind die politischen Rollen an

sich, die als Teil des politischen Regimes gelten. Unterstützung erfahren Herr-

schaftsträger durch ihre Akzeptanz als Person und jene ihrer politischen Entschei-

dungen.

Neben den unterschiedlichen Objekten, auf welche sich Unterstützung beziehen kann, iden-

tifiziert Easton auch noch zwei grundlegende Arten von Support, die es im Sinne einer Ana-

lyse, die dem Stellenwert des Konzeptes Rechnung tragen kann, zu unterscheiden gilt: spe-

zifische und diffuse Unterstützung.

Der spezifische Support speist sich direkt aus dem Output des politischen Systems,

genauer gesagt aus der Art und Weise, inwiefern durch getroffene Entscheidungen

auf artikulierte demands eingegangen wurde und konkrete Lösungsansätze auch ihr

Ziel erfüllt haben. Es ist somit klar, dass sich spezifische Unterstützung immer nur

direkt auf die politischen Herrschaftsträger (als Unterstützungsobjekte) bezogen sein

kann. Eine Erosion des specific support bedeutet Stress für das politische System.

Aufgrund der geringen strukturellen Ressourcen und hohen Anforderungen wäre ein

System, wenn bloß jene spezifische Form der Unterstützung existierte, jedoch per-

manent unter Stress.

Der diffuse Support schafft hier Abhilfe. Er ist gekennzeichnet durch seine relative

(kurz- und mittelfristige) Outputunabhängigkeit, die dem politischen System zu ei-

nem gewissen „Puffer“ verhilft, wenn (z.B. in Krisenzeiten) den Anforderungen

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durch den Output nicht entsprochen werden kann. Diffuse Unterstützung bezieht

sich also viel mehr darauf, was ein Objekt darstellt, als auf seine spezifische Per-

formanz (vgl. Maier 2000, 27). Bezugsobjekte diffuser Unterstützung sind folglich

nicht nur die politischen Herrschaftsträger, sondern vielmehr noch auf das politische

Regime und auch auf die politische Gemeinschaft als Ganzes.

Nach dieser als einführenden Überblick zu verstehenden knappen Darstellung des Theorie-

ansatzes von David Easton und dessen spezifischen Konzeptes der politischen Unterstüt-

zung ist zumindest eines deutlich geworden: Obwohl der Ansatz Eastons natürlich Angriffs-

fläche für Kritik bietet, was sich vor allem aus seiner Konzeption als allgemeine Theorie

über Politik begründet, bei der zwischen spezifischen Formen politischer Systeme (Demo-

kratie, Diktatur, Oligarchie,…) nicht unterschieden wird, stellt sein Konzept bereits seit

mehreren Jahrzehnten eine anerkannte Größe in der empirischen Demokratieforschung dar.

Zahlreiche Überarbeitungen (Fuchs 1989, Westle 1989) und die Integration in das Paradig-

ma der Politischen Kultur von Gabriel Almond und Sidney Verba (1980) untermauern die

nachhaltige Aktualität des Theoriemodells (vgl. Fuchs 2002, 367).

Seine Anwendbarkeit auf die vorliegende Problematik der Politikverdrossenheit ergibt sich

in der Verbindung der oben genannten Verdrossenheitsobjekte mit den Unterstützungsarten

und –objekten nach Easton. Der Versuch zu einer solchen Verbindung soll im folgenden

Kapitel unternommen werden.

3 Indikatoren zur Messung der Politikverdrossenheit

Eine Zuordnung von Objekten politischer Verdrossenheit zu den Eastonschen Unterstüt-

zungsobjekten und –arten nahm etwa Jürgen Maier im Rahmen des dritten Kapitels seiner

Arbeit zur Politikverdrossenheit in Deutschland (2000, 30-56) in Rekurs auf einschlägige

Literatur aus der Verdrossenheitsforschung4 vor. Da wie bereits erwähnt der Begriff Poli-

tikverdrossenheit aufgrund seiner inhaltlichen Unschärfe in der wissenschaftlichen Ausei-

nandersetzung lediglich als Oberbegriff Verwendung finden kann, ist zunächst eine Selekti-

on von Objekten politischer Verdrossenheitseinstellungen vorzunehmen, bevor eine Zuord-

nung derselben zu den Unterstützungsobjekten erfolgen kann.

4 Ohne an dieser Stelle näher auf den jeweiligen Inhalt eingehen zu können seien etwa Arbeiten von Pi-ckel/Walz 1997, Rattinger 1993 oder Westle 1990 genannt (s. Literaturverzeichnis).

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Um eine Verbindung zu den Arten von Unterstützung herstellen zu können, ist schließlich

nach Maier auf die Operationalisierung von Verdrossenheit (vgl. Maier 2000, 56) und somit

auf die gängigen Indikatoren zu deren Messbarkeit in der Umfrageforschung einzugehen. In

diesem Sinne bietet dieses Kapitel auch Raum für eventuelle Kritik an den konkreten Ver-

fahren der Demoskopie5.

3.1 Verdrossenheits- und Unterstützungsobjekte

In der Literatur zum Thema herrscht weder über die Auswahl der Verdrossenheits- noch

über die Zuteilung zu den Unterstützungsobjekten Einigkeit. Während Politische Parteien,

PolitikerInnen und das politische System/die Demokratie konsensual zu ersteren gezählt

werden, finden die anderen politischen Institutionen6 nur in seltenen Fällen Erwähnung. Da

diese Institutionen jedoch einen integrativen Bestandteil der politischen Landschaft darstel-

len, wollen wir sie in dieser Arbeit unbedingt mitberücksichtigen.

Es bleiben also die vier Objekte politischer Verdrossenheitseinstellungen als Analyseeinhei-

ten bestehen:

- Politisches System/Demokratie

- Politische Parteien

- Politische Institutionen

- Politische Eliten/PolitikerInnen

Wie können nun diese vier Bereiche mit den Unterstützungsobjekten Eastons verbunden

werden? – Eindeutig scheint auch in der Literatur die Zuordnung des politischen System in

die Klasse des politischen Regimes und jene der PolitikerInnen zu den Herrschaftsträgern.

Hier ist aber auch schon die Grenze des allgemeinen Konsenses erreicht, da sowohl im Be-

reich der Parteien als auch der übrigen Institutionen Argumente existieren, sie entweder

dem System oder den Herrschaftsträgern zuzuordnen.

Für die Parteien ist also entscheidend, ob man diese nach ihrer Funktion im System als

„grundlegendes Strukturmerkmal“ (Maier 2000, 31) ansieht und deshalb dem politischen

5 Eine allgemeine Kritik an den quantifizierenden Methoden der Demoskopie wäre zwar interessant und nach Meinung der Autoren auch angebracht, kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht zufrieden stellend vorge-nommen werden und wäre auch in Bezug auf die Fragestellung nicht zielführend. 6 Unterschieden wird hier etwa zwischen „regierungspolitischen“ (Nationalrat, Bundesrat, Regierung / Oppo-sition) und „verwaltungspolitischen“ (VfGH, VwGH, Polizei und Gendarmerie, Bundesheer) Institutionen (vgl. Maier 2000, 32).

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System zuordnet, oder sie als Inhaberinnen politischer Rollen und somit als Herrschaftsträ-

ger identifiziert werden. Da beide Argumentationsweisen schlüssig sind, soll hier auf eine

weitere Differenzierung verzichtet und eine uneindeutige Zuordnung zugelassen werden.

Ob in der Praxis seitens der Bevölkerung eine Differenzierung zwischen Parteien und deren

ProtagonistInnen, also den PolitikerInnen, unterschieden wird ist allerdings fraglich.

Bei den politischen Institutionen ist ebenfalls eine differenzierte Betrachtungsweise ange-

bracht:

So sind etwa Regierung/Opposition getrennt von anderen Institutionen zu bewerten. Genau-

so wie die Parteien stellen sie nämlich ein Strukturelement eines politischen Systems und

somit einen Teil des politischen Regimes dar. Da jedoch in der demokratischen Praxis so-

wohl Regierung als auch Opposition durch Parteien konstituiert werden und auch durch

deren Mitglieder vertreten werden, ist analog zu den Parteien auch eine Zuordnung zu den

Herrschaftsträgern legitim.

Da andere Institutionen wie die Gerichtshöfe öffentlichen Rechts sowie Polizei und Militär

ihrerseits jedoch weitaus weniger (direkt) mit Parteipolitik in Verbindung stehen oder zu-

mindest damit in Verbindung gebracht werden, ist eine eindeutige Zuordnung zum politi-

schen Regime als konstitutives Element angebracht.

Es zeigt sich, dass für politische Verdrossenheitseinstellungen nur zwei der drei Unterstüt-

zungsobjekte, nämlich das Regime und die Herrschaftsträger eine Rolle spielen, während

die politische Gemeinschaft unberührt bleibt. Innerhalb der Objekte und der uneindeutigen

Zuordenbarkeit spiegelt sich abermals die Komplexität und Mehrdimensionalität des Unter-

suchungsbegriffes Politikverdrossenheit wider, die in unten stehender Tabelle 1 noch ein-

mal zusammengefasst und visualisiert werden.

Politische Gemeinschaft Politisches Regime

Politische Herrschaftsträger

Demokratie X

Politische Parteien X X

Politische Institutionen X

PolitikerInnen X

Tabelle 1: Zuordnung Verdrossenheits- und Unterstützungsobjekte (adaptiert nach Maier 2000, 33)

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3.2 Verdrossenheitsobjekte und Unterstützungsarten

Es ergeben sich also unterschiedliche Ausformungen von Politikverdrossenheit, wie Demo-

kratie-, Parteien- oder PolitikerInnenverdrossenheit, die sich mehr oder weniger eindeutig

den unterschiedlichen Unterstützungsobjekten zuordnen lassen. Zusätzlich unterscheiden

sich diese Formen politischer Verdrossenheitseinstellungen, oder präziser: die Objekte, auf

welche sich diese Einstellungen beziehen, aber auch durch die Art von Unterstützung, die

ihnen seitens der Gesellschaft zuteil wird. Für diesen nächsten analytischen Schritt bezeich-

net es Jürgen Maier als sinnvoll die Zuordnung der Verdrossenheitsobjekte zu den Unter-

stützungsarten im Rahmen der Auseinandersetzung über die Operationalisierung der unter-

schiedlichen oben angeführten Ausformungen in der Demoskopie zu beschreiben, da „die

genaue Spezifikation des Bezugs zwischen den jeweiligen Arten politischer Verdrossenheit

und dem Konzept politischer Unterstützung von der jeweils gewählten Operationalisierung

politischer Unzufriedenheit abhängt“ (Maier 2000, 34).

Für unsere Untersuchung ist diese Herangehensweise insofern zweckmäßig, da einerseits

(neben den in der Literatur angeführten bundesdeutschen) auf spezifische österreichische

Untersuchungen und die darin gewählten Indikatoren eingegangen, gleichzeitig jedoch auch

Kritik an konkreten Vorgehensweisen formuliert werden kann.

3.2.1 Demokratie

Die Ansicht, dass die Demokratie im Bereich der Unterstützungsobjekte nach David Easton

dem politischen Regime zuzuordnen ist, stößt in der einschlägigen Literatur auf keinerlei

Widerstand und wurde auch in Kapitel 3.1 bereits eingängig festgestellt. Die Zuordnung zu

den Unterstützungsarten ist auf den ersten Blick ähnlich eindeutig, wird jedoch mit Blick

auf ihre Operationalisierung undeutlicher.

So ist klar, dass wenn in Untersuchungen nach der Idee der Demokratie, also nach ihrem

Wesen gefragt und somit in der Fragestellung auf die zentralen Wertaspekte Bezug ge-

nommen wird, auf den diffusen, d.h. outputunabhängigen Aspekt von Demokratie abgezielt

wird. Gleiches gilt in der Erhebung der Akzeptanz von zentralen demokratischen (liberalen,

ökonomischen, sozialen) Grundrechten, von institutionalisierten Herrschaftsstrukturen, wie

der Existenz eines Mehrparteiensystems, oder auch der Ablehnung klar gegen die Idee der

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Demokratie gerichteter Herrschaftsformen, wie sie autoritäre und totalitäre Systeme7 dar-

stellen, seitens der Bevölkerung.

In österreichischen Untersuchungen wird die Frage nach der Idee der Demokratie mit jener

der Ablehnung anderer Herrschaftsformen verknüpft und als „die Demokratie ist auf jeden

Fall besser als eine Diktatur“ (Ulram 1997, 523) gestellt.

Die verbreitetste Art der Operationalisierung ist die Frage nach der Zufriedenheit mit der

Demokratie bzw. dem politischen System. Leider ist diese Fragestellung zur Erfassung der

diffusen Unterstützung, welche das Volk der Demokratie zukommen lässt, nicht unbedingt

geeignet, da die Zufriedenheit letztlich eher das Funktionieren, also die konkrete Perfor-

manz der politischen AkteurInnen und somit einen zumindest teilweise vom Output abhän-

gigen Wert misst, der im Sinne der Unterscheidung Easton am ehesten in der Mitte ange-

siedelt, also als diffus-spezifisch bezeichnet werden kann.

Für diese spezielle Einordnung des Indikators spricht auch die in Umfragen erzielte relativ

geringere Zustimmung zur Frage nach der Zufriedenheit gegenüber der „Idee-der-

Demokratie“-Frage im Allgemeinen und die höheren Zustimmungswerte bei der Zufrieden-

heit unter den AnhängerInnen von Regierungs-, gegenüber jenen von Oppositionsparteien

(vgl. Maier 2000, 37).

In österreichischen Umfragen wurde die Frage nach der Zufriedenheit meist in der Form

des Items “Ich bin im Allgemeinen mit der Demokratie in Österreich, unseren politischen

Parteien und unserem ganzen politischen System recht zufrieden“ gestellt und zur Bewer-

tung vorgelegt (vgl. Schedler 1993a, 7; ähnlich auch Ulram 1997, 520). Wie bereits in Ka-

pitel 3.1 deutlich gemacht wurde, ist diese Art der Fragestellung aufgrund der notwendigen

Unterscheidung zwischen Verdrossenheits- und in weiterer Folge Unterstützungsobjekten in

dieser Form nicht sinnvoll und kann somit an dieser Stelle als Indikator zur Messung von

Verdrossenheitseinstellungen nur abgelehnt werden.

Tabelle 2 bietet abschließend einen Überblick über die Indikatoren zu Messung von Verd-

rossenheitseinstellungen gegenüber dem politischen System/der Demokratie und deren Zu-

ordnung zu den verschiedenen Arten politischer Unterstützung.

7 Bezogen auf Österreich etwa konkret der Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß Anfang der 30er Jahre oder natürlich der Nationalsozialismus Adolf Hitlers.

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Tabelle 2: Indikatoren von Demokratiezufriedenheit und Unterstützungsarten (adaptiert nach Maier 2000, 38)

3.2.2 Politische Parteien

Die Zuordnung von politischen Parteien zu den Unterstützungsobjekten kann gegenüber

jener der Demokratie vergleichsweise weitaus weniger eindeutig vorgenommen werden.

Entsprechend der Perspektive, aus der Parteien eher als Element des politischen Regimes

oder als politische Herrschaftsträger angesehen werden, variieren auch die Indikatoren zur

Messung von Verdrossenheitseinstellungen und somit auch deren Zuordnung zu den Unter-

stützungsmodi.

Ein weit verbreiteter Indikator zur Messung der Unterstützung von politischen Parteien als

Elemente des politischen Regimes ist die Frage nach dem Vertrauen in die Parteien und

wird üblicherweise im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage in andere (politische) Insti-

tutionen abgefragt (s. nächstes Kapitel). Über die Zuordnung zur diffusen bzw. spezifischen

Supportkategorie herrscht weitestgehend Uneinigkeit, was daraus resultiert, dass durch die

Vertrauensfrage nicht geklärt werden kann, ob sich dieses Vertrauen aus konkreten Ent-

scheidungen seitens der Herrschenden oder aber eventuell aus der individuellen Sozialisati-

on und Erfahrung (und somit relativ outputunabhängig) speist.

Auch die Frage nach der Existenz von Unterschieden zwischen den einzelnen Parteien ist

ein gängiger Indikator im Bereich des Regimes, der jedoch relativ eindeutig der diffusen

Unterstützung zuzuordnen ist, da Unterschiede zwischen Parteien ein Strukturmerkmal ei-

nes pluralistischen Parteiensystems darstellen (vgl. Maier 2000, 40).

spezifisch

- Idee/Wesen der Demokratie - demokratische Grundwerte - Mehrparteiensystem - autoritäre/totalitäre Systeme

diffus/ spezifisch

- Zufriedenheit mit der Demokratie/ dem politischen System

_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

diffus

ART DER UNTERSTÜTZUNG

VERBREITETE INDIKATOREN

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In Umfragen in Österreich wird hierzu die Vertrauensfrage gestellt und traditionell von ei-

ner sehr geringen Zahl an Befragten positiv8 beantwortet (1994: 16 %; vgl. Ulram 1997,

521). Außerdem existiert ein Fragenkatalog zur Einstellung zu politischen Parteien, in wel-

chem mit Items wie „Die politischen Parteien sichern den Fortbestand der Demokratie oder

„Ohne die politischen Parteien könnte der Wille des Volkes nicht vertreten werden“ eben-

falls Support von Parteien als Teil des politischen Regimes abgefragt wird (vgl. Ulram

1997, 522).

Als ein Indikator zur Messung der Unterstützung politischer Parteien als politische Herr-

schaftsträger werden immer wieder so genannte Sympathieskalometer verwendet, in denen

Sympathiewerte für einzelne Parteien eingetragen werden. auch hier herrscht Uneinigkeit

bezüglich der Zuordnung zur Unterstützungskategorie, jedoch scheint die Argumentation

schlüssig, dass sich Sympathiewerte eher langfristig und durch Sozialisation bilden und

kurzfristig eher nicht ändern, was für eine Zuordnung zum diffusen Unterstützungsmodus

spricht. In diesem Bereich ergibt sich allerdings das Problem, dass empirisch betrachtet jene

Partei, für die eine Wahlpräferenz vorliegt, auch in den Sympathiewerten gut bewertet wird,

während andere Parteien demgegenüber negativ abschneiden. Über den empirischen Sinn

derartiger Fragen lässt sich also auch streiten (vgl. Maier 2000, 41).

Ebenfalls diffuse Unterstützung wird versucht mit der Frage nach der Parteiidentifikation zu

erörtern, da diese eine langfristige Bindung unabhängig von der spezifischen Performanz

der einzelnen Parteien darstellt. Eine hohe Identifikation wird als wichtig erachtet, da sie

jene „Pufferfunktion“, auf die weiter oben bereits Bezug genommen wurde, ausüben und

kurzfristige Outputmankos ausgleichen oder überdecken könne.

In einen Graubereich zwischen diffuser und spezifischer Unterstützung ordnet Maier (2000,

43) Operationalisierungen im Bereich der „external“ bzw. „internal efficacy“, also der

Responsivität der Herrschaftsträger bzw. des Kompetenzgefühls der Individuen ein. Eine

typische Frage zum externen Effektivitätsbewusstsein9 ist etwa „Den Parteien geht es ei-

gentlich nur um die Wählerstimmen, aber nicht darum, was die Leute denken“, zum inter-

nen Effektivitätsbewusstsein zum Beispiel „Leute wie ich haben ohnehin keinen Einfluss

darauf, was in der Politik geschieht“.

8 Gemessen wurde auf einer Skala von 1 (kein Vertrauen) bis 7 (hohes Vertrauen), die Werte 5, 6, 7 bilden die Prozentzahl, die hier als positive Bewertung angeführt wird. 9 Ein einheitliches deutsches Äquivalent zum englischen efficacy existiert nicht. Die hier gewählte Überset-zung entstammt dem Beitrag von Ulram1997, 518.

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Ein gängiges Maß zu Erfassung spezifischer Unterstützung von Parteien stellt die Bewer-

tung ihrer Leistungen – einzeln oder in ihrer Gesamtheit – dar. In anderen Studien werden

derartige Leistungsbewertungen auch in Verbindung mit dem Vertrauensaspekt in der Form

„Die Parteien haben es noch immer geschafft/werden es auch in Zukunft schaffen, das

Richtige in der Politik zu tun“ abgefragt.

Österreichische Studien zum Thema Unterstützung von Parteien als Herrschaftsträger arbei-

ten hauptsächlich mit den Indikatoren Parteiidentifikation und –mitgliedschaft, sie kennen

aber auch einen Katalog von Items zum efficacy-Thema. Die bereits erwähnte Vertrauens-

frage in die Leistungen der Parteien in retrospektiver und prospektiver Betrachtungsweise

findet in österreichischen Studien ebenfalls Anwendung (vgl. exemplarisch Ulram 1997,

517f; Schedler 1993a, 7; Maier 2000, 45).

Zur Zusammenfassung der Indikatoren zur Messung von Parteienverdrossenheit und Veran-

schaulichung ihrer Zugehörigkeit zu den Unterstützungsmodi soll abschließend nachstehen-

de Tabelle 3 dienen. Die Mehrdimensionalität des Problems kommt in dieser Aufstellung

deutlich zutage.

Tabelle 3: Indikatoren von Parteienzufriedenheit und Unterstützungsarten (adaptiert nach Maier 2000, 44)

3.2.3 Politische Institutionen

Wie in Abschnitt 3.1 bereits ausgeführt wurde, ist im Bereich der politischen Institutionen

und deren Zuordnung zu den Unterstützungsobjekten zwischen Regierung/Opposition und

anderen Einrichtungen zu unterscheiden.

ART DER UNTERSTÜTZUNG

INDIKATOREN POLITISCHES REGIME

INDIKATOREN HERRSCHAFTSTRÄGER

diffus

spezifisch

diffus/ spezifisch

- Sympathiebewertung einzelner/aller Parteien - Parteiidentifikation

- Unterschiede zwischen Parteien

- Vertrauen - External Efficacy - Internal Efficacy

- Leistungen einzelner/aller Parteien - Vertrauen in Leistungen der Parteien, retrospektiv und prospektiv

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Sowohl Regierung als auch Opposition werden demnach sowohl als Strukturelemente des

politischen Systems angesehen und somit dem politischen Regime untergeordnet, als auch

analog zu den Parteien zu den Herrschaftsträgern gezählt.

Bezüglich diesem letztgenannten Zusammenhang kann festgestellt werden, dass sich dieser

auch in der Auswahl der Indikatoren zur Messung der Zufriedenheit mit Regierung und

Opposition widerspiegelt. So werden zur Messung diffuser Unterstützung oftmals Sympa-

thiebewertungen erfragt, welche sich einerseits separat erfragt, andererseits jedoch auch

einfach aus der Summe der einzelnen Parteisympathiewerte errechnet werden. Hier wird

ganz klar die analytische Nähe zur Unterstützung im Sinne des vorhergegangenen Ab-

schnittes deutlich.

Auch spezifische Unterstützung für Regierung und Opposition als Herrschaftsträger wird in

Meinungsumfragen gemessen. Hierbei finden in erster Linie Indikatoren Verwendung, wel-

che auf eine Bewertung der Leistung von Regierung/Opposition abzielen. Wie auch bei der

Parteiensympathiebewertung wird jedoch aus den Antworten deutlich, dass die Unterstüt-

zung für die Regierung auf Seiten der WählerInnen der die Regierung konstituierenden Par-

teien ungleich höher ist als auf der Seite der OppositionswählerInnen, was abermals Zweifel

an der Sinnhaftigkeit derartiger Umfragewerte aufkommen lässt.

In österreichischen Umfragen sind Sympathiebewertungen (sowohl für Parteien als auch für

Institutionen) insgesamt weniger üblich oder konnten zumindest im Rahmen der Recherche

für diese Arbeit nicht gefunden werden, allerdings wird im Rahmen der Vertrauensfrage10

auch nach dem Vertrauen in die Regierung gefragt (vgl. Ulram 1997, 521). Dieser Indikator

ist analog zur im Kapitel 3.2.2 gewählten Einteilung geeignet, um diffus/spezifische Unter-

stützung im Bereich des politischen Regimes zu messen.

Tabelle 4 fasst nicht nur noch einmal jene Indikatoren zusammen, die zur Messung von

Verdrossenheitseinstellungen gegenüber der Regierung bzw. Opposition als Teil des politi-

schen Regimes bzw. Herrschaftsträger verwendet werden, sondern macht auch deutlich, wie

eng verwandt die beiden Institutionen mit den politischen Parteien zu betrachten sind und

deshalb auch entsprechend erhoben werden (vgl. Maier 2000, 52).

10auf einer Skala von 1 bis 7, siehe auch Fußnote 8.

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Tabelle 3: Indikatoren von Regierungs-/Oppositionszufriedenheit und Unterstützungsarten (adaptiert nach Maier 2000, 52)

Die weiteren politischen Institutionen sind im Allgemeinen dem Bereich des politischen

Regimes zuzuordnen, da sie als konstitutiv für das politische System gelten, jedoch prinzi-

piell keine direkte Verbindung zu Parteien und PolitikerInnen aufweisen.

Die Unterstützung für die politischen Institutionen wird traditionellerweise mit der Vertrau-

ensfrage gemessen, wie sie auch im Bereich der Parteien und Regierung/Opposition bereits

erwähnt wurde. Anders als Maier (2000, 53) soll hier jedoch das Vertrauen in Institutionen

nicht eindeutig unter den spezifischen Supportmodus subsumiert werden, da dadurch nicht

nur Performanzbewertungen abgegeben werden, sondern darin auch outputunabhängige

Faktoren zum Tragen kommen können. Es ist also abermals eine Grauzone, nämlich der

diffus/spezifische Unterstützungsmodus relevant.

Umfragen aus Österreich arbeiten ebenfalls mit der Vertrauensfrage, welche neben Parteien

und Regierung auch nach einer Bewertung für (Bundes-)Präsident, Parlament, Gewerk-

schaften, Parteien, Polizei/Gendarmerie, Gerichte, Ämter und Behörden sowie das Bundes-

heer fragt. Traditionell werden dabei für Einrichtungen von Exekutive und Judikative, so-

wie den Präsidenten sehr hohe Werte verzeichnet, gefolgt von Ämtern, Armee und Regie-

rung, Parlament und Gewerkschaften mit bereits einigem Rückstand. Die mit Abstand nied-

rigsten Umfragewerte erzielen bei solchen Umfragen11 die Parteien. Interessanterweise wird

in diesen Studien zwar nach den Gewerkschaften, jedoch nicht nach den in der österreichi-

11 Diese Tatsache gilt nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland (vgl. Maier 2000, 54f).

ART DER UNTERSTÜTZUNG

INDIKATOREN POLITISCHES REGIME

INDIKATOREN HERRSCHAFTSTRÄGER

diffus

spezifisch

diffus/ spezifisch

- Sympathiebewertung von Regierung/Opposition - Sympathiebewertung als Summe der Parteiensympathiewerte

- Leistungen der Regierung - Leistungen der Opposition

- Vertrauen

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schen Politik lange Zeit zentral mitbestimmenden Sozialpartnern allgemein gefragt (vgl.

Ulram 1997, 521).

3.2.4 PolitikerInnen

Als schließlich letzte zu behandelnde Gruppe von Objekten, auf die sich politische Verdros-

senheitseinstellungen beziehen können, sind an dieser Stelle die PolitikerInnen als Mitglie-

der einer politischen Elite zu nennen. Diese sind wie besprochen klar der Objektklasse der

politischen Herrschaftsträger zuzuordnen, die Indikatoren zur Bestimmung der Art und des

Ausmaßes von Support gleichen über weite Strecken den bereits bekannten Maßen, wie sie

in Bezug auf die Einstellungen gegenüber politischen Parteien beschrieben wurden.

Zur Messung von diffuser Unterstützung politischer Eliten sind demnach Sympathieskalo-

meter geeignet, welche das Maß an Zufriedenheit mit der Gesamtheit der PolitikerInnen

erfragen. Die mit Hilfe solcher Items erzielten Werte waren früher relativ hoch im Ver-

gleich zu den Sympathiewerten der Parteien, denen die jeweiligen PolitikerInnen angehör-

ten, außerdem wurden Bewertungen meist unabhängig von der Parteibindung der Befragten

abgegeben. Mittlerweile scheint sich aber in diesem Bereich eine Trendumkehr abzuzeich-

nen, sodass PolitikerInnen mit immer weniger Unterstützung rechnen können und diese in

erster Linie aus den Reihen der eigenen WählerInnen erhalten (vgl. Maier 2000, 46). Somit

stellt sich auch hier die Frage nach der Brauchbarkeit des Indikators.

Trotzdem wird bekanntermaßen auch in österreichischen Umfragen, speziell in Tageszei-

tungen und im Zeitraum rund um Wahltermine, immer wieder nach Sympathiebewertungen

für PolitikerInnen gefragt.

Ein Instrument zur Messung dessen, was hier als diffus/spezifische Unterstützung bezeich-

net wurde ist ebenfalls bereits bekannt und bezieht sich auf den Aspekt der „internal“ bzw.

„external efficacy“, also der Responsivität der PolitikerInnen. Als klassische Beispiele seien

hier Items wie „Die Politiker kümmern sich nicht um das, was Leute wie ich denken“ oder

„Die Politiker kümmern sich zu viel darum, ihre Macht zu erhalten anstatt sich über die

wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung Gedanken zu machen“ (Ulram 1997, 518) genannt.

Auch die Frage nach dem Vertrauen sei in Bezug auf politische Eliten wiederum hier ein-

geordnet.

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Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass auch österreichische Umfragen mit den Fra-

gen zum externen und internen Effektivitätsbewusstsein arbeiten. Die Vertrauensfrage wird

interessanterweise zwar für den Präsidenten, nicht aber für PolitikerInnen im Allgemeinen

gestellt.

Zur Messung spezifischer Unterstützung dienen auch hier Indikatoren, die auf eine Leis-

tungsbewertung abzielen. Dazu zählen Aussagen wie „Unsere Politiker machen ihre Sache

im Großen und Ganzen recht gut“ (Schedler 1993a, 7), oder die Feststellung, dass ohne

Berufspolitiker in den Parteien das Land schlechter regiert würde. Auch eine hypothetische

Gegenüberstellung der Problemlösungskompetenz von PolitikerInnen und ExpertInnen,

sowie die Aussage, es seien die richtigen Leute in den führenden Positionen, ist üblich (vgl.

Maier 2000, 47f).

Wieder soll zur abschließenden Veranschaulichung der oben dargestellten Ergebnisse eine

Tabelle dienen, welche die Indikatoren für PolitikerInnenverdrossenheit den Unterstüt-

zungsarten zuordnet.

Tabelle 5: Indikatoren von PolitikerInnenzufriedenheit und Unterstützungsarten (adaptiert nach Maier 2000, 48)

3.3 Kritik

Aus den bisherigen Ausführungen im Rahmen dieses Kapitels wird vor allem ein Umstand

mehr als deutlich: Das Phänomen der Politikverdrossenheit stellt einen hochkomplexen,

mehrdimensionalen Untersuchungsgegenstand dar, zu dessen empirischer Erfassung wis-

spezifisch

- Sympathiebewertungen der Gesamtheit der Parteien

diffus/ spezifisch

- Internal Efficacy - External Efficacy - Vertrauen

- Leistungsbewertungen

diffus

VERBREITETE INDIKATOREN ART DER

UNTERSTÜTZUNG

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senschaftliche Instrumente notwendig sind, die dieser Voraussetzung gerecht werden kön-

nen. Geht man von einer prinzipiellen Erfassbarkeit des Phänomens mit quantitativen Me-

thoden und somit von der Operationalisierbarkeit aus, ist es sinnvoll sich, wie im obigen

Abschnitt erfolgt, die gängigen Indikatoren zur Messung von Verdrossenheitseinstellungen

anzusehen. Diese Betrachtung eröffnet aber nicht nur Erkenntnisse, sondern auch mit zu-

nehmender Verdichtung des Themenbereichs immer mehr Ansatzpunkte für Kritik, wie sie

im Folgenden vorgenommen werden soll.

Eine derartige Kritik muss sich auf zwei Aspekte der Operationalisierungsversuche bezie-

hen:

1. auf deren Einheitlichkeit im internationalen genauso wie langfristigen nationalen

Vergleich der Umfragen zum Thema und

2. auf deren inhaltliche Präzision und Eignung zur Erfassung des Themas.

ad 1)

Jürgen Maier weist in seinem Werk zur Politikverdrossenheit in der Bundesrepublik aus

dem Jahr 2000 nachdrücklich auf die Problematik hin, dass der diskontinuierliche Gebrauch

von Indikatoren zur Messung von Verdrossenheitseinstellungen in Umfragen, sowohl im

internationalen Vergleich, als auch bei Umfragen in ein und demselben Land bzw. von den-

selben ForscherInnen, das wohl größte Problem der Verdrossenheitsforschung darstellt (vgl.

Maier 2000, 56). Das führt dazu, dass einheitliche Daten, wie sie zu einem internationalen

Vergleich der Zufriedenheit mit der Politik notwendig wären, weitestgehend fehlen12.

Außerdem stehen für fundierte diachrone Analysen, in etwa für den Beispielfall Österreich,

durch die Umformulierung und die damit einhergehende Sinnveränderung13 von Fragestel-

lungen oft nur unzureichendes Datenmaterial zur Verfügung.

ad 2)

Weitaus ausführlicher wird von verschiedenen Stellen Kritik an der inhaltlichen Eignung

von gängigen Indikatoren zur vermeintlichen Messung von Verdrossenheitseinstellungen

geübt. Der Hauptansatzpunkt muss hier sein, dass auf die begriffsimmanente Mehrdimensi-

onalität des Begriffes Politikverdrossenheit keine Rücksicht genommen und in Befragungen

12 Dass derartige Vergleiche oft trotzdem durchgeführt werden, stellt ein anderes Problem dar, auf das hier nicht gesondert eingegangen werden kann. 13 So macht es etwa einen Unterschied, ob in der Frage nach einem angenommenen Politikversagen „die Poli-tik“, „die Parteien“ oder „die Politiker“ es nicht schaffen die wichtigen Probleme zu lösen.

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nicht oder nur unzureichend versucht wird Demokratie-, Parteien-, Institutionen- und Politi-

kerInnenverdrossenheit als voneinander in Form und Auswirkungen für das politische Sys-

tem unterschiedliche Phänomene zu erheben. Es existieren jedoch auch Arbeiten, die ihre

Kritik auf konkrete Untersuchungen und die darin vorgenommenen Operationalisierungs-

versuche beziehen. Als Beispiel sei hier eine Untersuchung von Andreas Schedler angeführt

und detaillierter dargestellt:

In der Arbeit von Andreas Schedler, die im Rahmen der „Reihe Politikwissenschaft“ des

Instituts für höhere Studien erschienen ist, setzt sich der Autor eingehend mit zwölf Items

aus der Studie Austrian Life Style 1992, die vom Institut für Marktforschung Fessel+GfK

durchgeführt wurde, auseinander. Diese Items sollen zur Evaluation von Politik und deren

Performanz dienen.

Schedler (1993a) unterscheidet in seiner Analyse zwischen direkten Bewertungen, die im

Stil von Benotungen abgefragt werden, und indirekten Bewertungen, die durch das Fragen

nach dem Vorliegen von empirischen Sachverhalten normative Implikationen ergeben sol-

len und in diesem Zusammenhang die interessanteren sind. Damit die Ergebnisse der indi-

rekten Fragen Rückschlüsse auf Werturteile der Bevölkerung zulassen, müssen die gewähl-

ten Indikatoren empirisch sinnvoll und normativ eindeutig (positiv, negativ oder neutral)

sein.

Schedler jedoch ortet empirische Pauschalisierungen, wenn in Items verallgemeinernd von

„den Parteien“ oder „den Politikern“ die Rede ist und somit die Objekte, die bewertet wer-

den, nicht ausreichend spezifiziert sind.

Außerdem bezeichnet er Fragen nach der internal efficacy in Bezugnahme auf Almond und

Verbas „Civic Culture“ als Trivialität, weil es sich hierbei bloß um eine „massengesell-

schaftsadäquate Skepsis“ (Schedler 1993a, 6) der Bevölkerung handle. Ebenso trivial er-

scheint ihm die Feststellung „Ich habe den Eindruck, dass die Politik oft in entscheidenden

Fragen versagt“, die er im Kontext einer langjährigen (neoliberal inspirierten) Diskussion

um Staatsversagen und Steuerungsprobleme als nicht weiter diskussionswürdig betrachtet.

Auch die Feststellung, dass Personen in Machtpositionen nur ihre eigenen Interessen be-

friedigen wollen, lässt Schedler als Messinstrument nicht gelten, da diese Eigennutzenorien-

tierung den theoretische Grundstock des gesamten Rational-Choice-Ansatzes sei, und somit

nicht auf der einen Seite wissenschaftliche Wertfreiheit und auf der anderen Seite staatsbür-

gerliche Unzufriedenheit ausdrücken könne.

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Die Aussage, alle Politiker seien korrupt ist für Schedler übergeneralisierend, empirisch

völlig falsch und deshalb abzulehnen, während die Annahme „Die Parteien wollen nur die

Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht“ als irrige Vorstellung des

Funktionierens von Demokratie angesehen und als „reale Inkonsistenz“ (Schedler 1993a, 8)

bezeichnet wird.

Aus diesen empirischen Interpretationen ergeben sich für Schedler normative Implikatio-

nen, nämlich dass sich aus diesen Items aufgrund ihrer inhaltlich fragwürdigen Formulie-

rung keine Schlüsse über negative Einstellungen gegenüber (ohnehin nicht ausreichend dif-

ferenzierten) politischen Objekten ziehen lassen. Zwar können diese Fragen formell auch

„positiv“ beantwortet werden, materiell ist eine solche Wertung aber ausgeschlossen.

In seinem Resümee kommt Schedler konsequenterweise zu dem Schluss, dass die Existenz

von Politikverdrossenheit mit den gewählten Mitteln nicht bewiesen werden kann.

Abschließend für diesen Abschnitt der Kritik an den Methoden zur Operationalisierung von

Verdrossenheitseinstellungen sei hier noch auf eine Extremposition in diesem Bereich ver-

wiesen: Christian Böhmer geht in seiner Diplomarbeit zu Thema „Politikverdrossenheit in

Österreich“ aus 2002 davon aus, dass empirische Politikforschung prinzipiell nicht dazu

geeignet sei, ein derartiges Phänomen zu erheben. Er beruft sich bei seiner Aussage unter

anderem ebenfalls auf Schedler, der in einem weiteren Beitrag aus 1993 sogar soweit geht,

die Politikverdrossenheit als „demoskopisches Artefakt“ zu bezeichnen (vgl. Schedler

1993b, zit. n. Böhmer 2002, 50). In dasselbe Horn wie Schedler stößt auch Volker Rein-

hardt, der seine Arbeit zur Politikverdrossenheit (Reinhardt 2001) zu einer Kritik an der

Demoskopie und deren Methoden nutzt.

Wie bereits deutlich gemacht wurde sollen in dieser Arbeit die quantitativen Methoden

nicht grundsätzlich einer Kritik unterzogen werden. Ebenso wenig wird die Einschätzung

der Politikverdrossenheit als demoskopisches Konstrukt geteilt und von der prinzipiellen

Existenz einer Abnahme der Zufriedenheit mit politischen Objekten gleichbedeutend mit

einem Entzug der Unterstützung politischer Systeme ausgegangen, jedoch muss im selben

Atemzug darauf bestanden werden, dass zwischen unterschiedlichen Objekten, auf welche

sich Verdrossenheit beziehen kann, zu unterscheiden ist. Nur unter diesem Gesichtspunkt

kann eine Operationalisierung erfolgen und können geeignete Indikatoren zur Messung ge-

funden werden.

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4 Ursachen der Politikverdrossenheit

Die oben getroffene Feststellung über die Existenz politischer Verdrossenheit ist zentrale

Voraussetzung für die in den beiden folgenden Kapiteln behandelten Ursachen und Konse-

quenzen von PV. Würde ein solches Phänomen nämlich nicht existieren, wäre eine Diskus-

sion über Ursachen und Konsequenzen obsolet.

Die folgende Aufstellung von Faktoren, welche die Problematik der Politikverdrossenheit

in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu determinieren versuchen, geht also von der

prinzipiellen Existenz derartiger Einstellungen gegenüber den verschiedenen Elementen des

politischen Systems aus. Gleichzeitig ist jedoch zu erwähnen, dass keines der angeführten

Erklärungsmodelle geeignet sein kann, eine monokausale Erklärung für ein derart viel-

schichtiges Problem zu geben, vielmehr soll ein knapper Überblick über die am weitesten

verbreiteten Erklärungsmuster gegeben werden, die nur in ihrer Kombination miteinander

mehr oder weniger zufrieden stellende ursächliche Beschreibungen liefern können.

4.1 Sozialer Wandel

Der soziale Wandel14 gilt in der politikwissenschaftlichen Forschung als einer der zentralen

Erklärungsgründe für das Entstehen von politischer Unzufriedenheit. Definiert wird er nach

Dieter Nohlen als „die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen als Fol-

ge endogener Wandlungskräfte oder exogener Einwirkungen“ (Nohlen 2003, 594), von

welchen erstere – also die endogenen Faktoren – die für das Entstehen von Verdrossen-

heitseinstellungen relevanten darstellen. Wolfgang Zapf macht die Veränderung der Sozial-

strukturen anhand von sechs Teilbereichen fest, die einander gegenseitig beeinflussen: einer

politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, psychischen und internationalen Dimen-

sion. Die drei erstgenannten Aspekte bilden jene endogenen Faktoren, die für diese Unter-

suchung von Interesse sind (vgl. Zapf 1970, zit. n. Maier 2000, 63).

Wie in allen westlichen Gesellschaften sind auch in Österreich in der zweiten Republik tief

greifende Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialstruktur zu beobachten. So ist seit Mit-

te der vierziger Jahre ein besonders rasanter Rückgang der Beschäftigten im primären und

14 Da der soziale Wandel in dieser Arbeit als Erklärungsmodell dient, scheint es nicht sinnvoll sich ausführli-cher mit den unterschiedlichen Theorien zu dessen Entstehung und Begründung auseinander zu setzen. Viel-mehr soll hier auf die Formen und konkreten Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen eingegangen werden.

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sekundären Beschäftigungssektor bei gleichzeitigem rapidem Anstieg der Beschäftigten im

Dienstleistungsbereich zu verzeichnen (vgl. Tabelle 6). Ebenfalls im Bereich der Verände-

rungen der sozialen Strukturen ist die deutliche Abschwächung der Bindung an die Institu-

tion Kirche und somit ein Rückgang von deren politischer Stellung – ein Prozess, der ge-

meinhin als Säkularisierung bezeichnet wird (vgl. Pelinka/Rosenberger 2000, 209) - und

eine klare Erhöhung des Bildungsniveaus zu nennen (vgl. Faßmann 1997, 50).

Jahr Land- und

Forstwirtschaft Bergbau, Industrie,

Gewerbe Dienstleistungen

1951 1961 1971 1981 1991 1999a

32,6 23,0 13,9 8,5 7,2 6,2

37,6 41,4 43,2 41,0 37,0 29,8

29,8 35,6 42,9 50,5 54,7 64,0

Veränderung 1951 - 1999 - 26,4 - 7,8 + 34,2

Tabelle 6: Berufstätige nach Wirtschaftssektoren 1951 – 1999 in Prozent (nach Faßmann 1997, 43) a vgl. http://www.salzburg.gv.at/prn/pdf-sbgeu_kap06.pdf

Durch diese Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ergeben sich schließ-

lich auch Implikationen auf der politischen Dimension. Durch das stetige Anwachsen einer

neuen gesellschaftlichen Schicht, der so genannten „politischen Mitte“, ergibt sich für die

politischen Parteien ein neues WählerInnenpotential, dem es politisch-programmatische

Angebote zu offerieren gilt. Durch diese programmatische Öffnung kommt es aber

zwangsweise zur Vernachlässigung von ehemaligen KernwählerInnenschichten, als Konse-

quenz müssen Parteien einen Spagat zwischen traditioneller und neuer WählerInnenschaft

unternehmen und es kommt zu einer programmatischen Unschärfe. Die großen Volkspar-

teien nähern einander an, da sich ihre Programme oft nur noch marginal unterscheiden, Par-

teibindungen lockern sich und die politische Mobilität im Sinne der Bereitschaft zur Wech-

selwahl steigt (vgl. Maier 2000, 65f; Pelinka/Rosenberger 2000, 36f).

Diese Prozesse der sozialen Veränderung15 finden ihren Niederschlag auch auf der indivi-

duellen Ebene. Ulrich Beck (1986) beschreibt den Prozess der Herauslösung aus traditionel-

len Gesellschaftsstrukturen wie Familie und sozialer Schicht (Klasse) als Individualisie-

rung, der neben neuen Chancen auch zusätzliche Risiken birgt.

15 Oftmals werden auch Begriffe wie Evolution, Fortschritt oder Modernisierung verwendet, die jedoch hier bewusst ausgeklammert werden, da sie eine natürliche, stringente und unumkehrbare Entwicklung und gleich-zeitig eine Verbesserung gegenüber früheren Verhältnissen suggerieren.

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So sind manche Menschen nicht in der Lage den neuen Zwängen zu mehr Flexibilität und

Anpassungsfähigkeit in der sich zusehends schneller verändernden Welt zu genügen, was

ihnen strukturelle Nachteile und Statusverluste durch Arbeitsplatzprekarität und damit ein-

hergehend Probleme beim Bestreiten des Lebensunterhalts einbringt. Durch die bereits er-

wähnte Erosion traditioneller gesellschaftlicher Rückhalte wie der Familie wird nach einer

neuen Orientierungshilfe gesucht. Solche Auffangbecken können aber die traditionellen

Parteien aufgrund ihrer inhaltlichen Verbreiterung nicht (mehr) bieten, es erfolgt eine Ab-

kehr von den Parteien.

Eine weitere Konsequenz dieser sozialen Deprivation ist die individuelle Suche von verein-

fachenden Begründungen für die persönliche Mangelsituation (Sündenbocktheorien) und

die Veränderung von Werthaltungen und Ordnungsvorstellungen (vgl. Maier 2000, 67).

Es lässt sich also in Bezugnahme auf Überlegungen zum sozialen Wandel zwar mit Sicher-

heit eine Veränderung der Parteienlandschaft und auch eventuell eine Abkehr von etablier-

ten Parteien und Partizipationsformen und eventuell sogar eine Parteienverdrossenheit er-

klären, auf einen generellen Entzug der Unterstützung für ein politisches System kann aus

dem sozialen Wandel allein jedoch nicht geschlossen werden.

4.2 Wandel der medialen Berichterstattung

Der Wandel der medialen Berichterstattung als Ursache von Einstellungen politischer Verd-

rossenheit ist deshalb relevant, weil das Fernsehen, die Tageszeitungen und auch das Radio

die wichtigste Quelle politischer Informationen für die Bevölkerung darstellen.

Die Kritik an den Massenmedien orientiert sich vor allem an der Tatsache, dass anstatt einer

ausgewogenen und objektiven Information den Rezipienten zusehends eine Konfrontation

mit hauptsächlich negativen Ereignissen im Vordergrund steht. Die Logik, die hinter einem

derartigen Vorgehen steht ist, dass von den allgemeinen Erwartungen abweichende Nach-

richten einen höheren Informationsgehalt aufweisen als andere, was zu einem erhöhten Ab-

satz und somit dem herrschenden Marktparadigma entspricht. Es stellt sich jedoch die Fra-

ge, ob es nur die veränderte Auswahl von Nachrichten ist, die zu dieser Negativisierung

führte, oder ob sich auch die Ereignislage dem entsprechend gewandelt hat – sprich, ob

heutzutage einfach mehr Skandale geschehen und mehr Korruption existiert als noch vor 20

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oder 30 Jahren. Jürgen Maier glaubt an eine Wahrheit, die irgendwo zwischen diesen bei-

den Extremfällen liegt.

Besonders im Zusammenhang mit dem Fernsehen wird immer wieder von einer verstärkten

Berichterstattung über negative Ereignisse, in der Literatur „Videomalaise“ genannt, ge-

sprochen. Positive oder neutrale Ereignisse haben demnach gegenüber Skandalnachrichten

in der Konkurrenz um den Sendeplatz keine Chance16. Dies ist deshalb von besonderer Be-

deutung, da das Fernsehen unter den Medien den ersten Rang der politischen Informations-

quellen einnimmt (vgl. Plasser 1997, 469).

Ein weiterer Trend in der Veränderung der medialen Berichterstattung geht in Richtung

einer Vereinfachung und Personalisierung von Sachverhalten in der Vermittlung, also zu

einer Boulevardisierung von Information im Allgemeinen. Diese Information wird hierbei

in stark emotionalisierter Form vermittelt, was auf Kosten ihrer Objektivität und inhaltli-

chen Differenziertheit geschieht. Dieser Trend ist in der Politikvermittlung auch unter dem

Begriff Politainment (aus politics und entertainment) bekannt geworden.

Es ist klar, dass durch die verstärkte Konzentration auf negative Meldungen aus der Politik

und deren Verbreitung auch Ressentiments gegenüber der Politik, den PolitikerInnen und

Parteien geschürt werden. Verstärkt werden diese auf Eindrücken einer zunehmenden Ver-

schlechterung beruhenden Gefühle schließlich mittels einer, durch die vereinfachte Darstel-

lung von Informationen suggerierten, Kompetenzvorstellung des/der Einzelnen. Man fühlt

sich von der Politik durch den Kakao gezogen und durch die Berichterstattung auch zu ei-

nem derartigen ExpertInnenrteil befähigt. PolitikerInnen und Parteien reagieren in ihren

Strategien auf die Veränderungen in der medialen Vermittlung, indem sie stark personali-

sierte Wahlkämpfe mit Negativkampagnen gegenüber Gegnern und ohne Themen bestrei-

ten. Dass diese Art des Handelns falsch ist, da sie nur dem Ansehen aller politischen Eliten

und somit den PolitikerInnen selbst schadet, scheinen sie bisher noch nicht verstanden zu

haben (vgl. u. a. Maier 2000, 79-81; Böhmer 2002, 83-87).

Das Erklärungsmuster „Wandel der Berichterstattung in den Medien“ kann natürlich auch

nicht als allein stehendes Erklärungsmodell angesehen und somit die Medien zu den Schul-

digen an der Existenz von Politikverdrossenheit gemacht werden. Dennoch bietet das Un- 16 Ein aktuelles Beispiel bietet die Berichterstattung im ORF über den „Broukal-Sager“ (vgl. z.B. http://derstandard.at/standard.asp?id=1685915), der im Rahmen einer parlamentarischen Debatte zur Europa-wahl fiel und in der Berichterstattung die restlichen fünfeinhalb Stunden Sachdiskussion völlig in ein Rand-thema zu verwandeln vermochte. Diese Beobachtung gilt nebenher auch für alle(!) österreichischen Tageszei-tungen.

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tersuchungsfeld zahlreiche verfolgenswerte Ansätze, die es auf der Suche nach Begründun-

gen für politische Unzufriedenheit weiterzuverfolgen und in Analysen zum Thema zu be-

rücksichtigen gilt.

4.3 Performanzdefizite

Eine der am häufigsten angeführten Ursachen für das Entstehen von Politikverdrossenheit

ist die Unzufriedenheit mit den Leistungen des politischen Systems bzw. seiner AkteurIn-

nen. Zu unterscheiden sind hier grundlegend zwischen der Performanz in konkreten Politik-

bereichen, d. h. der Kompetenz der Herrschaftsträger konkrete Probleme einer Lösung im

Sinne des Gemeinwohles zuzuführen, und dem Auftreten und Erscheinungsbild derselben

im Umfeld ihres politischen Handelns.

Was die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung betrifft, ist als zentrales Feld in der

heutigen Gesellschaft die Problemlösungskompetenz im Bereich der Wirtschafts- und Sozi-

alpolitik, aber auch der Umweltpolitik, anzuführen. Das Anbieten von Strategien im Be-

reich der Beschäftigungspolitik, von Gesundheits- und Pensionssystem und auch der (A-

tom-)Energie- und Transitproblematik stellt zur Zeit eine der wichtigsten Eigenschaften für

das Funktionieren westlicher Demokratien und die Performanz ihrer Regierungen dar. Ver-

sagen die Herrschaftsträger in ihrer Aufgabe ist zunächst eine Abwendung von den Regie-

rungsparteien und ein erhöhter Zuspruch für die oppositionellen Strömungen wahrschein-

lich17, während bei einer Fortsetzung der Misere und einem Ausbleiben von Verbesserun-

gen langfristig durchaus mit einer allgemeinen Unzufriedenheit mit parlamentarischer Ver-

tretung durch Parteien (i.e. Parteienverdrossenheit) gerechnet werden kann.

Unzufriedenheit mit dem Erscheinungsbild der Parteien abseits der Politikfelder zielt vor

allem auf die perzipierte überhöhte Machtausdehnung der Regierenden ab. So war (und ist)

es besonders in Österreich lange üblich, dass nicht nur das politische Personal, sondern

auch Amtsträger in Behörden, Ämtern und der verstaatlichten und sogar privaten Wirtschaft

von Parteien rekrutiert werden. In Österreich wurde dieser Umstand immer wieder unter

dem Schlagwort „Proporz“ thematisiert und kritisiert.

17 So geschehen im Österreich der späteren 80er und schließlich 90er Jahre, als die regierende große Koalition massive Stimmenverluste zugunsten der Grünen und vor allem der FPÖ hinnehmen musste.

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Ebenfalls negativ auf das Erscheinungsbild und somit auf die Zufriedenheit der Bevölke-

rung wirken sich Skandale und Affären von Mitgliedern der politischen Elite aus. Fraglich

ist in diesem Zusammenhang, ob die Anfälligkeit von PolitikerInnen für derartige „Ausrut-

scher“ tatsächlich gestiegen ist, oder ob die Wahrnehmung einer Zunahme solcher Skandale

vielmehr mit dem im vorigen Abschnitt behandelten Wandel der medialen Berichterstattung

zusammenhängt. In der Politikwissenschaft existiert dazu keine einheitliche Meinung (vgl.

zusammenfassend Maier 2000, 84-89).

Dass sich die Defizite im Bereich der Performanz eines politischen Systems nahezu aus-

schließlich auf die politischen Parteien und deren VertreterInnen beschränken, ist wohl klar

und bedarf keiner zusätzlichen Ausführungen. Ihr Erklärungswert für Politikverdrossenheit

ist vor allem in Kombination mit anderen möglichen Ursachen als durchaus hoch einzustu-

fen.

4.4 Fazit

Es wurde bereits am Ende jedes Abschnittes darauf hingewiesen, dass einzelne Ansätze auf

der Suche nach Ursachen für das Entstehen von politischen Verdrossenheitseinstellungen

keine zufrieden stellenden Erklärungsmuster bieten können. Dennoch ist durch eine Be-

rücksichtigung der verschiedenen Überlegungen aus den hier vorgestellten Bereichen Sozia-

ler Wandel, Veränderung der Medienberichterstattung und Performanzdefizite gemeinsam

mit einigen unberücksichtigt gebliebenen Aspekten18 ein recht fundiertes Erklärungsnetz-

werk für die Unzufriedenheit mit dem politischen System zu erreichen, das auch der skiz-

zierten Mehrdimensionalität und Vielschichtigkeit des Problembereiches (vgl. Abschnitt 3)

Rechnung zu tragen imstande ist.

In sehr engem Zusammenhang stehen die hier beschriebenen Ursachen natürlich mit den

daraus (sowohl normativ als auch empirisch) abgeleiteten Konsequenzen von Politikverd-

rossenheit, die nun als Abschluss zu dieser Arbeit im folgenden Kapitel diskutiert werden

sollen.

18 z.B. historisch-kulturelle Determinanten, Wertewandeltheorie (Ronald Inglehart, vgl. Böhmer 2002, 77-79) und Globalisierungstheorien

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5 Konsequenzen der Politikverdrossenheit

Wird in der politikwissenschaftlichen Literatur von Konsequenzen der politischen Unzu-

friedenheit gesprochen, so beziehen sich diese auf Formen des individuellen Handels der

Bürgerinnen und Bürger. Dieses politische Handeln, das auch als politische Partizipation,

also als aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch die Mitglieder einer Gemein-

schaft verstanden werden kann, äußert sich auf unterschiedliche Weise, etwa passiv durch

die Teilnahme an Wahlen und somit die Delegation der Verantwortung zum Treffen ver-

bindlicher Entscheidungen an RepräsentantInnen oder aktiv durch persönliches Engagement

für individuelle oder kollektive Interessen. Partizipation in ihrer aktiven Form kann weiters

sowohl in institutionalisierten Einrichtungen wie Parteien oder NGOs, genauso aber auch in

Form von Streiks, Demonstrationen, Unterschriftenaktionen oder Hausbesetzungen stattfin-

den.

Im folgenden Abschnitt soll nun untersucht werden, welche konkreten Auswirkungen jenes

Phänomen, das gemeinhin als Politikverdrossenheit bezeichnet wird, auf das politische

Verhalten der Menschen hat und wie dies zu bewerten ist. Da in all den vorgestellten Berei-

chen eine Unzahl an Untersuchungen mit ebenso vielen unterschiedlichen Ergebnissen und

Erklärungsmustern existiert kann hier allerdings nur eine Vorstellung der interessantesten

Überlegungen samt Kommentaren, nicht jedoch eine Gesamtdarstellung geschweige denn

eine Klärung der Sachlage vorgenommen werden.

5.1 Wahlbeteiligung

Einer der am weitesten verbreiteten Indikatoren19 zur Messung von Politikverdrossenheit

und somit als deren Konsequenz anerkannte Größe ist die Wahlenthaltung. Die Nichtteil-

nahme an Wahlen wird oftmals je nach dem Mut des Forschers/ der Forscherin als Unzu-

friedenheit mit den politischen Herrschaftsträgern, den politischen Parteien oder dem politi-

schen System interpretiert. In der Tat sind in den meisten Demokratien Westeuropas20 in

den letzten 30 Jahren die relativen Zahlen der WahlgängerInnen rückläufig, so auch in Ös-

terreich, wie unten stehende Tabelle 7 veranschaulichen soll.

19 In 70 Prozent der von Kai Arzheimer durchsuchten Arbeiten wird Nichtwahl als Konsequenz von Politik-verdrossenheit angeführt (vgl. Arzheimer 2002, 142). 20 Im Gegensatz zu den traditionell sehr hohen WählerInnenzahlen in Österreich und Deutschland ist die Wahlbeteiligung etwa in der Schweiz und den USA schon seit langem äußerst gering.

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Jahr 1975 1979 1983 1986 1990 1994 1994 1999 2002

Wahlbeteiligung % 92,9 92,2 91,3 90,5 86,1 81,9 86,0 80,4 84,4 Tabelle 7: Wahlbeteiligung bei Nationalratswahlen 1975 – 2002

Es existieren jedoch auch in der politikwissenschaftlichen Forschung Ansätze, die nicht

direkt von der Nichtwahl auf politische Unzufriedenheit schließen wollen, sondern zwi-

schen verschiedenen Motiven, die zur Entscheidung nicht wählen zu gehen beitragen, zu

differenzieren versuchen (vgl. z.B. Eilfort 1994; zusammenfassend Völker/Völker 1998,

71-80). Es wird also nicht zwangsweise davon ausgegangen, dass es sich bei dem Fernblei-

ben von der Wahl um eine Protesthaltung halten muss, sondern dass im Gegenteil eine sin-

kende Wahlbeteiligung auch Ausdruck politischer Zufriedenheit sein kann, also keine Ver-

änderung angestrebt und somit auf einen Gang zur Urne verzichtet wird. Vor dem Hinter-

grund der Veränderung der sozialen Umwelt und der daraus resultierenden Erosion von

festen Bindungen wird die Nichtwahl als ein Aspekt des Wechselwählens begriffen und der

Rückgang der Wahlbeteiligung als „Normalisierung“ (vgl. Böhmer 2002, 56; Maier 2000,

95) bezeichnet. Auch Christian Haerpfer spricht sich dagegen aus, sinkende Wahlbeteili-

gung nur im Zusammenhang mit wachsender politischer Unzufriedenheit zu sehen. Er be-

gründet dies für Österreich außerdem auch mit einem Säkularisierungsprozess des Parteien-

systems, durch den „das Wählen seinen etatistischen und teilweise obrigkeitsstaatlichen,

festlich-rituellen Charakter verloren hat und nüchterner bewertet wird“ (Haerpfer 1997,

529).

Gleichzeitig darf jedoch auch nicht außer acht gelassen werden, dass sich in der empiri-

schen Forschung durchaus Korrelationen zwischen Wahlenthaltung und vermehrtem Auf-

treten von negativen Einstellungen zu politischen Parteien, einer geringeren Demokratiezu-

friedenheit oder einfach niedrigem Interesse an Politik existieren (vgl. Maier 2000, 95).

Ob letztendlich aufgrund einer geringen oder sinkenden Wahlbeteiligung von einer Krise

oder lediglich von Normalisierung gesprochen werden muss, bleibt in der Forschungslitera-

tur umstritten und diese Frage deshalb hier unbeantwortet. Schwankungen bei den National-

ratswahlen der letzten Jahre und die unterschiedlichen Beteiligungsraten bei Parlaments-,

Präsidentschafts- und Europawahlen sprechen jedoch eher für bewusste Handlungen seitens

der WählerInnen und eher gegen eine allgemeine Entfremdung und Systemabkehr.

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5.2 Wahlverhalten

Neben der Wahlenthaltung gelten Veränderungen im Wahlverhalten in der politikwissen-

schaftlichen Literatur zum Thema als die häufigste Konsequenz, die sich aus politischen

Verdrossenheitseinstellungen ergibt (vgl. Tabelle 2.31 in Arzheimer 2002, 142). Im Spe-

ziellen wird in diesem Zusammenhang vor allem die sinkende Bindekraft von etablierten

Parteien, so genannten „Altparteien“, in Verbindung damit ein steigender Anteil von Wech-

selwählerInnen und eine verstärkte Hinwendung der „freien“ WählerInnenschaft zu nicht

etablierten Parteien (vgl. Maier 2000, 97). Beide Aspekte sollen hier diskutiert und in Zu-

sammenhang mit Politikverdrossenheit gestellt werden.

Die besprochene Bindekraft der Altparteien wird nicht nur in Umfragen mit Indikatoren wie

Parteiidentifikation oder der berühmten Sonntagsfrage erhoben, sondern lässt sich auch

direkt aus den Wahlergebnissen ablesen. Wie unten stehende Abbildung 2 zeigt, lässt sich

für Österreich bis zum Jahr 1983 abgesehen von periodischen Schwankungen kein signifi-

kanter Trend ablesen, der auf eine Abkehr der Bevölkerung von den beiden großen Parteien

schließen ließe. Im Zeitraum von 1983 bis 1999 ist jedoch ein frappanter Absturz der (ab

1986) gemeinsam regierenden Großparteien zu verzeichnen, der über 30 Prozent beträgt

und sich erst im Jahr 2002 wieder umkehren ließ. Ob es sich bei diesem Aufschwung um

eine dauerhafte Trendumkehr oder eine kurze Erholungsphase handelt, kann jedoch zu die-

sem Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit gesagt werden.

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Summe Stimmenanteil SPÖ + ÖVP 97,5 87,2 89 94,4 95 95 96,3 96,2 94,5 94,5 93,9 93,3 85,7 76,4 63,9 67,7 60,1 78,8

1945 1949 1953 1956 1959 1962 1966 1970 1971 1975 1979 1983 1986 1990 1994 1995 1999 2002

Abbildung 2: Summe der Stimmenanteile von ÖVP und SPÖ bei Nationalratswahlen 1945 – 2002 Quelle: Haerpfer 1997, 535f bzw. http://www.bmi.gv.at

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Bekannter Weise ging der Stimmenverlust von SPÖ und ÖVP seit Mitte der 80er Jahre ein-

her mit massiven Stimmengewinnen der FPÖ, sowie mit einem konsequenten, wenn auch

langsameren Aufstieg der Grünen (vgl. hierzu Luther 1997 bzw. Dachs 1997). An diesem

Punkt kommt also die zweite Hypothese ins Spiel, wonach die Politikverdrossenheit zu ei-

ner Stärkung nicht etablierter Parteien zuungunsten etablierter politischer Kräfte beiträgt.

Diese Hypothese bringt also die Annahme zum Ausdruck, dass mit der Wahl dieser Parteien

ein Protest und eine Unzufriedenheit mit den PolitikerInnen, den Parteien oder dem politi-

schen System zum Ausdruck gebracht werden soll. In der Tat existieren jedoch in der empi-

rischen Forschung nicht genügend Hinweise drauf, dass eine Gleichsetzung von WählerIn-

nen nicht etablierter Parteien mit ProtestwählerInnen tragbar wäre (vgl. Maier 2000, 106).

Dies hat einerseits mit der wenig umfangreichen Forschung in diesem konkreten Bereich zu

tun, andererseits zeigt es auch die bereits angesprochenen Schwächen der verbreiteten Indi-

katoren in deren Eignung zur Messung von Politikverdrossenheit und die strukturellen De-

fizite der quantifizierenden Forschungsmethoden in der Motivanalyse auf.

Es muss außerdem auf eine Trennung zwischen den unterschiedlichen nicht etablierten Par-

teien geachtet werden, da sich diese in ihrer Programmatik und ihrem politischen Stil doch

oft deutlich unterscheiden. So sind Wahlerfolge von Parteien, wie der FPÖ in den späten

80er und 90er Jahren oder der Liste Martin bei den diesjährigen Wahlen zum Europaparla-

ment, die programmatisch stark mit Anti-Parteien-Ressentiments spielten und diese auch in

Wahlkämpfen als Angebot an die WählerInnen formulierten21, eher als Protest und somit

als Konsequenz von allgemeiner Unzufriedenheit mit Politik zu verstehen als jene der Grü-

nen, die sich inhaltlich stark pro-demokratisch und auch in Sachbereichen (Umweltschutz,

Frauenfragen, Minderheitenpolitik) sehr konstruktiv profilieren und somit weitaus weniger

Protestpotential besitzen.

Fraglich bleibt bei allen diesen Überlegungen, besonders jedoch jenen zur Bindekraft der

Altparteien, inwiefern aus einer Änderung der Wahlpräferenzen und einem Anstieg des

WechselwählerInnenanteils direkt auf eine höhere Verdrossenheit geschlossen werden

kann. Berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang auch besonders die Richtung,

in welche das WählerInnenpotential abwandert (Nichtwahl, nicht etablierte Parteien) und ob

diese Abwanderung als Unzufriedenheit mit der Politik verstanden werden kann. Empirisch

21 Zum aktuelleren der Beispiele ist die Betrachtung der Homepage des Europaparlamentariers Hans Peter Martin, http://www.hpmartin.net zu empfehlen. Als adäquates Beispiel aus Deutschland sei hier die Liste Pro DM von Ronald Schill in Hamburg angeführt, die stark mit Anti-Parteien-Einstellungen spielt (http://www.schill-partei.de).

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ist dieser Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und politischer Verdrossenheit jeden-

falls durch bisherige Studien nur schwach abgesichert.

5.3 Aktive Partizipation

Neben den bisher beschriebenen Formen der politischen Teilhabe durch die Abgabe oder

Nichtabgabe der eigenen Stimme bei Wahlen existiert natürlich für die BürgerInnen einer

Gemeinschaft auch die Möglichkeit sich aktiv an der Gestaltung gesellschaftlicher Bereiche

zu beteiligen. Diese kann einerseits in verfasster Ausprägung wie durch die Mitgliedschaft

in Parteien, aber auch durch Streiks und Demonstrationen erfolgen, andererseits existieren

auch so genannte nicht verfasste Partizipationsformen wie Unterschriftenaktionen, Bürge-

rInneninitiativen oder Hausbesetzungen (vgl. Schultze 2003, 470f). Im Allgemeinen gelten

vor allem eine Verringerung der Mitgliederzahlen in Parteien und eine verstärkte „unkon-

ventionelle“ Partizipation als Konsequenzen von Politikverdrossenheit (vgl. Arzheimer

2002, 98).

Mitgliederzahlen von Parteien sind aufgrund der häufigen Mehrfachmitgliedschaft in unter-

schiedlichen Sektionen oder Bünden einzelner Parteien schwer zu messen. Es existieren

deshalb auch keine gesicherten Zahlen über den Mitgliederstand der österreichischen Par-

teien. Dennoch kann auf der Basis von Umfragedaten zur Deklaration als Parteimitglied in

Kombination mit kolportierten Mitgliederzahlen der beiden großen member parties ÖVP

und SPÖ geschlossen werden, dass seitens der Bevölkerung ein allgemeiner Rückgang der

Bereitschaft sich in Parteien aktiv zu engagieren zu verzeichnen ist (vgl. zur SPÖ: Ucakar

1997, 259; zur ÖVP: Müller 1997, 271; zu Umfragewerten: Ulram 1997, 517).

Alternative Partizipationsformen in verfasster wie auch nicht verfasster Form sind im Ge-

gensatz dazu auf einem aufsteigenden Ast und kommen immer öfter zur Anwendung. Ab-

lesbar ist diese Entwicklung unter anderem an der erhöhten Demonstrationshäufigkeit seit

der Angelobung des Kabinetts Schüssel I im Jahr 2000, seitdem waren neben den anfangs

stark frequentierten „Donnerstagsdemonstrationen“ auch mehrere große Gewerkschafts-

streiks (Pensionsreform, Eisenbahnreform) zu verzeichnen. Parallel zu Absinken der Mit-

gliederzahlen in den Parteien ist seit den späten siebziger bzw. frühen achtziger Jahren auch

eine zunehmende Zahl an Initiativen feststellbar, die ihre Wurzeln nicht in den politischen

Institutionen, sondern in der Bevölkerung haben, und die sich ab circa 1990 auch von losen

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Bewegungen22 zu professionellen, institutionell organisierten und global vernetzten Verei-

nigungen konsolidierten, die heute als NGOs bezeichnet werden.

Besonders auf regionaler Ebene sind aber nach wie vor Unterschriftenaktionen und lose

Bewegungen (vor allem im Umweltbereich) adäquate, als zielführend betrachtete und des-

halb auch zusehends beliebtere Mittel zur Durchsetzung von Interessen, also eine Form

politischer Partizipation.

Insgesamt bleibt zur aktiven Partizipation festzuhalten, dass ein Rückgang der Mitglieder-

zahlen in Parteien allein, vor allem in Kombination mit der immer weiteren Verbreitung

von alternativen Beteiligungsformen nicht als Indiz für bzw. Folge von Politikverdrossen-

heit gewertet werden kann. Im Gegenteil scheint die Konsolidierung von neuen, sich als

politisch verstehenden Gruppierungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten (Attac, Green-

peace,…) wenn überhaupt eher als Indiz für eine politische Aktivierung oder auch ein Mehr

im Glauben der Bevölkerung an die Möglichkeit zur Veränderung auf individueller Ebene

zu deuten. Auch von einer differenzierteren Deutung als Parteienverdrossenheit möchten

wir zurückschrecken, da eine latente Unzufriedenheit mit dem Output in einzelnen Politik-

bereichen wie Umwelt- und Tierschutz nicht zwangsweise auf das gesamte Parteiensystem

bezogen sein muss. Die Arbeit von globalisierungskritischen Organisationen ist wohl eher

als Handlungsappell an Politik und Parteien, denn als fundamentale Kritik und Entzug von

Unterstützung im Eastonschen Sinne zu verstehen.

6 Resümee und Ausblick

Es ist nun gelungen im Verlauf dieser Arbeit den recht unscharfen Begriff Politikverdros-

senheit durch eine theoretische Verortung zunächst in Rekurs auf das Konzept von David

Easton näher als Entzug politischer Unterstützung zu umschreiben.

Anhand der weiteren Ausdifferenzierung verschiedener Unterstützungsobjekte und Unter-

stützungsarten sowie unterschiedlicher Bezugsobjekte politischer Verdrossenheit war es

möglich, noch genauer zwischen unterschiedlichen Ausprägungen politischer Verdrossen-

heitseinstellungen zu unterscheiden. Die wichtigsten dieser Ausprägungen beziehen sich auf

die politischen Eliten, die Parteien, andere politische Institutionen und das politische Sys-

tem an sich und lassen sich durch Begriffe wie PolitikerInnen-, Parteien- oder auch Demo- 22 Zur Geschichte der so genannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ vgl. Gottweis 1997.

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kratieverdrossenheit darstellen. Der Terminus Politikverdrossenheit soll auf der analyti-

schen Ebene quasi aufgegeben und nur noch als Sammelbegriff für die unterschiedlichen

Ausprägungen von Unzufriedenheit und deren Sanktionierung, nämlich den Entzug von

Unterstützung für das politische System Verwendung finden.

Es wurden außerdem gängige Indikatoren zur Messung von Verdrossenheitseinstellungen

unter den oben genannten Gesichtspunkten analysiert und einer sehr grundlegenden Kritik

unterzogen, welche hier folgendermaßen zusammengefasst werden kann:

Geht man, wie es in dieser Arbeit der Fall ist, von einer prinzipiellen Messbarkeit von poli-

tischen Verdrossenheitseinstellungen mit quantitativen Messmethoden aus, so ist in künfti-

gen Untersuchungen vor allem darauf zu achten, dass zwischen den verschiedenen Dimen-

sionen von Politikverdrossenheit differenziert und diese Trennung in der Demoskopie auch

berücksichtigt wird. Zur konzisen Auslotung der Dimensionen von Politikverdrossenheit

soll an dieser Stelle außerdem an die Möglichkeiten der qualitativen Forschung erinnert

werden, die gerade in der Suche nach Handlungsmotiven auf der Individualebene hervorra-

gende Dienste zu leisten imstande ist und bisher in der Verdrossenheitsforschung völlig zu

Unrecht nicht einmal eine Randerscheinung darstellt.

Im Abschnitt Ursachen der Politikverdrossenheit wurde schließlich eine Auswahl an gän-

gigen Erklärungsmustern für die Entstehung von politischer Unzufriedenheit und Verdros-

senheit vorgestellt. Die zentrale Erkenntnis aus diesen Betrachtungen ist mit Sicherheit,

dass von monokausalen Erklärungen – im konkreten Fall wie in der politikwissenschaftli-

chen Forschung allgemein – abzusehen ist und die verschiedenen Ansätze nur in ihrer

Kombination miteinander zufrieden stellende Beschreibungen abgeben können.

Ein enger Zusammenhang dieser Ursachen besteht wie erwähnt auch mit den Konsequenzen

der Politikverdrossenheit, die natürlich beide nur im Kontext mit Operationalisie-

rungsproblemen in der Umfrageforschung zu verstehen sind. Als Konsequenz zu einfach

argumentiert wird sowohl die Wahlenthaltung als auch das „abweichende“ Wahlverhalten

im Sinne der Abkehr von großen etablierten Parteien. Auch die Wahlmotive für Parteien an

den äußeren Enden des Links-Rechts-Spektrums sowie anderen z.B. Anti-Parteien-Parteien

(Liste Martin) sind oft zu wenig erforscht und somit simplifizierend und verkürzt darge-

stellt. Wie auch in den anderen Bereichen gilt hier ganz besonders der goldene Satz sozial-

wissenschaftlicher Forschung: Further Research is needed.

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Was ist nun schließlich in Bezug auf die in der Einleitung formulierte Forschungsfrage nach

der Gefährdung der Demokratie durch Politikverdrossenheit festzuhalten?

Neben der zentralen Feststellung, dass aufgrund mangelnder Forschung in diese Richtung

eine letztgültige Beantwortung nicht zu geben ist lassen sich aus einigen Tendenzen doch

Teilantworten formulieren. So ist eine existierende und auch wachsende ablehnende Hal-

tung gegenüber PolitikerInnen und etablierten Parteien in nahezu allen westlichen Demo-

kratien evident und auch eine Korrelation zwischen hoher Antipathie zu Parteien und Poli-

tikerInnen und der Unzufriedenheit mit der Leistung der Demokratie nachzuweisen, die sich

nach Einschätzung mancher AutorInnen auch negativ auf die Systemstabilität auswirken

kann (vgl. Pickel/Walz 1997, zit. n. Maier 2000, 51f). Auch die sinkende Wahlbeteiligung

kann mit einiger Berechtigung in diese Richtung interpretiert werden. Zu beachten sind in

diesem Zusammenhang jedoch nicht nur Indikatoren, wie die Demokratiezufriedenheit im

Vergleich mit anderen Herrschaftsformen, die Werte jenseits der 95-Prozent-Marke hervor-

bringt, sondern auch die relativ enge Definition der Demokratie in der deutschsprachigen

Literatur als rein repräsentative Parteiendemokratie, die historisch bestimmt wird als von

großen Mitteparteien regiert. Außerdem lässt sich am österreichischen Beispiel ablesen,

dass der Protest an den sich in streng demokratischer Tradition stehenden Parteien im Sinn

einer Denkzettelwahl extremer Parteien (der FPÖ), nicht als dauerhafter Entzug der Unter-

stützung, sondern als Einmahnen der Rückbesinnung auf das Volk interpretiert werden

können. Wenn die Parteien diesen Wink verstanden und aufgegriffen haben, sind die Wäh-

lerInnen durchaus wieder zur Unterstützung etablierter Kräfte bereit.

Und selbst weniger etablierte Parteien oder andere politische Gemeinschaften, die sich nicht

einer Reduktion sondern eines Anwachsens von Unterstützung gegenüber sehen, lassen

keinesfalls auf allgemeine Verdrossenheit und politisches Desinteresse schließen.

Am Ende kann festgestellt werden: Es ist klar geworden, dass in dieser Arbeit der Komple-

xität des Themas mit Sicherheit nicht gerecht werden kann. Was sie aber sehr wohl für sich

reklamiert, ist darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass dieses Problem nicht verallge-

meinernd als Politikverdrossenheit bearbeitet und verstanden werden kann, sondern die

analytische Genauigkeit eine getrennte Betrachtung der einzelnen Aspekte erfordert. Dies

wird bei der Beschäftigung mit jedem Aspekt deutlich. Politikverdrossenheit selbst bleibt

bestenfalls als Sammelbegriff bestehen.

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