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1/6 Text 27 Individualismus oder Kollektivismus? (1945) Das Problem des Individualismus und Kollektivismus ist mit dem Problem der Gleichheit und Ungleichheit nahe verwandt. Einige terminologische Bemerkungen scheinen vor der Diskussion notwendig zu sein. Der Ausdruck ›Individualismus‹ kann in zweifacher Weise verwendet werden: (a) im Gegensatz zum Kollektivismus, (b) im Gegensatz zum Altruismus. Es gibt kein anderes Wort zur Bezeichnung der ersten Bedeutung, es gibt jedoch verschiedene Synonyma für die zweite, wie zum Beispiel ›Egoismus‹ oder ›Selbstsucht‹. Ich werde daher im folgenden das Wort ›Individualismus‹ ausschließlich im Sinne (a) gebrauchen; Worte wie ›Egoismus‹ oder ›Selbstsucht‹ werden verwendet, wenn Bedeutung (b) gemeint ist. Eine kleine Tabelle mag von Nutzen sein: (a) Individualismus ist der Gegensatz von (a' ) Kollektivismus (b) Egoismus ist der Gegensatz von (b' ) Altruismus Diese vier Begriffe beschreiben nun gewisse Einstellungen, Forderungen oder Vorschläge für normative Gesetze. Obwohl notwendigerweise vage, lassen sie sich doch leicht durch Beispiele illustrieren und somit mit einer Präzision verwenden, die für unseren gegenwärtigen Zweck ausreicht. Beginnen wir mit dem Kollektivismus 1 . Die Forderung Platons, daß das Individuum den Interessen des Ganzen dienen solle, sei dieses nun das Universum, der Staat, der Stamm, die Rasse oder irgendein anderer Kollektivkörper, wird durch die folgende Stelle veranschaulicht 2 : »Der Teil existiert um des Ganzen willen, aber das Ganze existiert nicht um des Teiles willen ... Du bist um des Ganzen willen geschaffen, nicht aber das Ganze um deinetwillen.« Dieses Zitat illustriert nicht nur den Holismus und Kollektivismus, es gibt auch einen Begriff davon, wie sehr beide auf die Gefühle wirken. (Platon wußte dies, wie man aus der Einleitung zu der zitierten Stelle ersehen kann.) Verschiedene Gefühle sind einbezogen, zum Beispiel die Sehnsucht, einer Gruppe oder einem Stamm anzugehören; der moralische Widerhall des Altruismus und des Appells gegen die Selbstsucht ist ein anderer Faktor. Platon deutet an, daß man ein Egoist ist, wenn man seine eigenen Interessen nicht dem Gemeinwohl unter- ordnen kann. Ein Blick auf unsere kleine Tafel zeigt jedoch, daß das nicht der Fall ist. Weder steht der Kollektivismus im Gegensatz zum Egoismus, noch ist er mit dem Altruismus oder der Selbstlosigkeit identisch. Der kollektive oder Gruppenegoismus – zum Beispiel der Klassenegoismus – ist eine sehr ge- läufige Erscheinung (ein Umstand, den Platon wohl kannte) 3 , und das zeigt klar genug, daß der Kollektivismus als solcher nicht der Gegensatz der Selbstsucht sein kann. Andererseits kann ein Gegner des Kollekti- vismus, also ein Individualist, zur gleichen Zeit ein Altruist sein; er kann bereit sein, für andere Opfer zu bringen. Vielleicht eines der besten Beispiele für diese Haltung ist Charles Dickens. Es ist schwer zu sagen, was in ihm stärker ist – seine leidenschaftliche Abscheu vor der Selbst- sucht oder sein leidenschaftliches Interesse an den Individuen mit allen ihren menschlichen Schwächen; diese Haltung verbindet sich mit einem

[Popper Karl R] Individualismus Oder Kollektivismu(BookFi.org)

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    Text 27

    Individualismus oder Kollektivismus? (1945)

    Das Problem des Individualismus und Kollektivismus ist mit dem Problemder Gleichheit und Ungleichheit nahe verwandt. Einige terminologischeBemerkungen scheinen vor der Diskussion notwendig zu sein.Der Ausdruck Individualismus kann in zweifacher Weise verwendet

    werden: (a) im Gegensatz zum Kollektivismus, (b) im Gegensatz zumAltruismus. Es gibt kein anderes Wort zur Bezeichnung der erstenBedeutung, es gibt jedoch verschiedene Synonyma fr die zweite, wie zumBeispiel Egoismus oder Selbstsucht. Ich werde daher im folgenden dasWort Individualismus ausschlielich im Sinne (a) gebrauchen; Worte wieEgoismus oder Selbstsucht werden verwendet, wenn Bedeutung (b)gemeint ist. Eine kleine Tabelle mag von Nutzen sein:

    (a) Individualismus ist der Gegensatz von (a' ) Kollektivismus(b) Egoismus ist der Gegensatz von (b' ) Altruismus

    Diese vier Begriffe beschreiben nun gewisse Einstellungen, Forderungenoder Vorschlge fr normative Gesetze. Obwohl notwendigerweise vage,lassen sie sich doch leicht durch Beispiele illustrieren und somit mit einerPrzision verwenden, die fr unseren gegenwrtigen Zweck ausreicht.Beginnen wir mit dem Kollektivismus1. Die Forderung Platons, da dasIndividuum den Interessen des Ganzen dienen solle, sei dieses nun dasUniversum, der Staat, der Stamm, die Rasse oder irgendein andererKollektivkrper, wird durch die folgende Stelle veranschaulicht2: Der Teilexistiert um des Ganzen willen, aber das Ganze existiert nicht um desTeiles willen ... Du bist um des Ganzen willen geschaffen, nicht aber dasGanze um deinetwillen. Dieses Zitat illustriert nicht nur den Holismusund Kollektivismus, es gibt auch einen Begriff davon, wie sehr beide aufdie Gefhle wirken. (Platon wute dies, wie man aus der Einleitung zu derzitierten Stelle ersehen kann.) Verschiedene Gefhle sind einbezogen, zumBeispiel die Sehnsucht, einer Gruppe oder einem Stamm anzugehren;der moralische Widerhall des Altruismus und des Appells gegen dieSelbstsucht ist ein anderer Faktor. Platon deutet an, da man ein Egoistist, wenn man seine eigenen Interessen nicht dem Gemeinwohl unter-ordnen kann.Ein Blick auf unsere kleine Tafel zeigt jedoch, da das nicht der Fall ist.

    Weder steht der Kollektivismus im Gegensatz zum Egoismus, noch ist ermit dem Altruismus oder der Selbstlosigkeit identisch. Der kollektive oderGruppenegoismus zum Beispiel der Klassenegoismus ist eine sehr ge-lufige Erscheinung (ein Umstand, den Platon wohl kannte)3, und daszeigt klar genug, da der Kollektivismus als solcher nicht der Gegensatzder Selbstsucht sein kann. Andererseits kann ein Gegner des Kollekti-vismus, also ein Individualist, zur gleichen Zeit ein Altruist sein; er kannbereit sein, fr andere Opfer zu bringen. Vielleicht eines der bestenBeispiele fr diese Haltung ist Charles Dickens. Es ist schwer zu sagen,was in ihm strker ist seine leidenschaftliche Abscheu vor der Selbst-sucht oder sein leidenschaftliches Interesse an den Individuen mit allenihren menschlichen Schwchen; diese Haltung verbindet sich mit einem

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    Widerwillen nicht nur gegen jene Dinge, die wir nun Kollektivkrper oderKollektive nennen, sondern sogar gegen einen echten Altruismus, sobaldsich dieser auf anonyme Gruppen und nicht auf konkrete Individuenrichtet. (Ich erinnere den Leser an Mrs. Jellyby in Bleak House, eineDame, die sich ffentlichen Pflichten widmet.) Ich glaube, da dieseIllustrationen die Bedeutung unserer vier Begriffe hinreichend geklrthaben; sie zeigen, da sich jeder der Begriffe unserer Tafel mit jedem derBegriffe in der andern Zeile kombinieren lt (das gibt vier mglicheKombinationen).Es ist nun interessant, da fr Platon und die meisten Platoniker ein

    altruistischer Individualismus (wie er zum Beispiel von Dickens verkrpertwird) nicht bestehen kann. Fr Platon ist der Egoismus die einzige Alter-native des Kollektivismus; den Altruismus identifiziert er einfach mit demKollektivismus, den Individualismus mit dem Egoismus. Das ist nicht nureine Frage der Terminologie oder bloer Wrter; denn statt der viermglichen Kombinationen gibt es fr Platon nur zwei. Dadurch hat er bisauf unsere Tage die grte Verwirrung in vielen ethischen Fragen und inihrer theoretischen Bearbeitung hervorgerufen.Platon identifiziert den Individualismus mit dem Egoismus; das ver-

    schafft ihm eine mchtige Waffe zur Verteidigung des Kollektivismus, wieauch zum Angriff auf den Individualismus; im ersten Fall kann er sich anunsere humanitren Gefhle der Selbstlosigkeit wenden; im zweiten Fallwird es ihm mglich, alle Individualisten als selbstschtige Menschen zubrandmarken, die unfhig sind, sich einer anderen Sache zu widmen alsihrer eigenen Person. Obgleich Platon seinen Angriff gegen den Indivi-dualismus in unserem Sinn, das heit gegen die Rechte menschlicherIndividuen richtet, trifft er natrlich ein ganz anderes Ziel, nmlich denEgoismus. Aber dieser Unterschied wird von Platon und den meistenPlatonikern beharrlich bersehen.Warum versucht Platon den Individualismus anzugreifen? Ich glaube,

    da er wohl wute, was er tat, als er diese Stellung unter Feuer nahm;denn der Individualismus war vielleicht in noch hherem Grade als dieLehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz ein Bollwerk inder Verteidigung des neuen humanitren Bekenntnisses. Die Emanzi-pation des Individuums war in der Tat die groe geistige Revolution, diezum Zusammenbruch der Stammesherrschaft und zum Aufstieg derDemokratie gefhrt hatte. Platons unheimliche soziologische Intuitionzeigt sich darin, da er den Feind stets erkannte, wo immer er auf ihntraf.Der Individualismus war ein Teil der alten intuitiven Idee der

    Gerechtigkeit. Wie man sich erinnern wird, hat Aristoteles daraufaufmerksam gemacht, da die Gerechtigkeit nicht, wie Platon es wollte,die Gesundheit oder Harmonie des Staates, sondern vielmehr einebestimmte Weise der Behandlung von Individuen ist; er nennt die Gerech-tigkeit etwas, das sich auf Personen erstreckt4. Dieses individualistischeElement war von der Generation des Perikles hervorgehoben worden.Perikles selbst erklrte, da die Gesetze allen in ihren privatenAuseinandersetzungen in gleicher Weise Gerechtigkeit gewhren mten;aber er ging noch weiter. Wir fhlen uns nicht berufen, so sagte er,unseren Nachbarn auszuschelten, wenn er es vorzieht, seine eigenen

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    Wege zu gehen. (Vergleiche damit die Bemerkung Platons, der Staatbringe nicht Menschen hervor, um jeden nach Belieben handeln undwandeln zu lassen ...5.) Perikles legt Gewicht auf die Verbindungzwischen dieser Art von Individualismus und dem Altruismus: Man hatuns gelehrt ... nie zu vergessen, da wir die Benachteiligten schtzenmssen. Und seine Rede gipfelt in einer Beschreibung des jungenAtheners, der zu einer glcklichen Vielseitigkeit und zu Selbstvertrauenheranwchst.Dieser mit dem Altruismus vereinigte Individualismus ist die Grundlage

    unserer abendlndischen Zivilisation geworden. Er ist die zentrale Lehredes Christentums. (Liebe deinen Nchsten, sagt die Heilige Schrift, undnicht Liebe deinen Stamm.) Und er ist der Kern aller ethischen Lehren,die aus unserer Zivilisation erwuchsen und sie anregten. Zum Beispiel ister auch Kants zentrale praktische Lehre. (Handle so, da du die Mensch-heit sowohl in deiner Person als auch in der Person jedes anderenjederzeit zugleich als Zweck, nie als bloes Mittel gebrauchst.) Keinanderer Gedanke hat in der moralischen Entwicklung des Menschen eineso mchtige Wirksamkeit entfaltet.Platon befand sich vollkommen im Recht, als er in dieser Lehre den

    Feind seines Kastenstaates sah; und er hate sie mehr als irgendeineandere umstrzlerische Lehre seiner Zeit. Um dies noch deutlicher zuzeigen, werde ich zwei Stellen aus den Gesetzen6 zitieren, deren wahrhafterstaunliche Feindseligkeit dem Individuum gegenber, meiner Meinungnach, viel zu wenig gewrdigt wird. Die erste ist als ein Hinweis auf denStaat bekannt, dessen Weiber-, Kinder- und Gtergemeinschaft sie dis-kutiert. Platon nennt hier die Verfassung des Staats die hchste Staats-form. In diesem hchsten Staat, so erzhlt er uns, sind Weiber, Kinderund alles Hab und Gut Gemeinbesitz. Und es ist nichts unversuchtgeblieben, um berall und auf jede Weise alles aus unserem Leben zutilgen, das privat und individuell ist. Soweit es mglich ist, hat man esdahin gebracht, da sogar diejenigen Gaben, die die Natur selbst denIndividuen als Eigentum zugeteilt hat, in gewissem Sinn das gemeinsameEigentum aller geworden sind. Selbst unsere Augen, Ohren und Hndescheinen zu sehen, zu hren und zu handeln, als wren sie nicht Teileeines Individuums, sondern der Gemeinschaft. Alle Menschen werden sogeformt, da sie Lob und Tadel mit grter Einmtigkeit verleihen; undsie freuen und grmen sich sogar zur gleichen Zeit ber die gleichenDinge. Und alle Gesetze werden vervollkommnet, um den Staat hchsteinheitlich zu machen. Platon setzt fort, indem er sagt, da kein Menschein besseres Kriterium der hchsten Vortrefflichkeit eines Staates findenkann als die Prinzipien, die wir eben dargestellt haben, und er nennteinen solchen Staat gttlich und das Vorbild oder Muster oder Urbilddes Staates, das heit seine Form oder Idee. Das ist Platons eigeneAnsicht vom Staat, ausgedrckt zu einer Zeit, in der er die Hoffnungbereits aufgegeben hatte, sein politisches Ideal in all seiner Herrlichkeit zuverwirklichen.Die zweite Stelle, ebenfalls aus den Gesetzen, ist, wenn mglich, noch

    deutlicher. Es mu betont werden, da diese Stelle hauptschlichmilitrische Unternehmungen und militrische Disziplin behandelt; Platonlt aber keinen Zweifel darber aufkommen, da die gleichen

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    militaristischen Prinzipien nicht nur im Krieg, sondern auch im Friedenund von der frhesten Kindheit an eingehalten werden sollten. Wieandere totalitre Militaristen und Bewunderer Spartas dringt er darauf,da die allerwichtigsten Erfordernisse der militrischen Disziplin auch imFrieden an oberster Stelle zu stehen htten und da sie das ganze Lebenaller Brger bestimmen mten. Denn nicht nur die Vollbrger (die alleSoldaten sind) und die Kinder, sondern selbst die Tiere mssen ihr ganzesLeben in einem Zustand dauernder und vollstndiger Kriegsbereitschaftverbringen7. Das erste Prinzip von allen, so schreibt er, ist dieses:Niemand, weder Mann noch Weib, soll jemals ohne Fhrer sein. Auch solldie Seele von keinem sich daran gewhnen, etwas im Ernst oder auch nurim Scherz auf eigene Hand allein zu tun. Vielmehr soll jeder, im Kriegeund auch mitten im Frieden, auf seinen Fhrer blicken und ihm glubigfolgen. Und auch in den geringsten Dingen soll er unter der Leitung desFhrers stehen. Zum Beispiel soll er aufstehen, sich bewegen, sichwaschen, seine Mahlzeiten einnehmen8 ... nur, wenn es ihm befohlenwurde ... Kurz, er wird seine Seele durch lange Gewhnung so in Zuchtnehmen, da sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhngig zuhandeln, und da sie dazu vllig unfhig wird. So werden alle ihr Leben intotaler Gemeinschaft verbringen. Es gibt kein Gesetz, noch wird es je einesgeben, das diesem berlegen wre oder das besser und wirksamer wre,um die Errettung und den Sieg im Kriege zu sichern. Das mu denn auchschon im Frieden und von frhester Kindheit auf Gegenstand eifriger bungsein, da man nicht minder lerne, andere zu beherrschen, als von ihnenbeherrscht zu werden. Und jede Spur von Anarchie mu nicht nur ausdem Leben aller Menschen, sondern auch aller dem Menschen dienendenTiere grndlich und bis auf die letzten Spuren ausgerottet werden.Das sind schwerwiegende Worte. Niemals war es einem Menschen

    ernster mit seiner Feindschaft gegen das Individuum. Und dieser Ha isttief in dem fundamentalen Dualismus der platonischen Philosophie ver-wurzelt; Platon hate das Individuum und seine Freiheit ebensosehr wiedie wechselnden besonderen Erfahrungen und die Vielfalt der vernder-lichen Welt wahrnehmbarer Dinge. Auf dem Gebiet der Politik ist dasIndividuum fr Platon der Bse selbst.Diese antihumanitre und antichristliche Einstellung wurde stndig

    idealisiert. Sie wurde als menschlich, als selbstlos, als altruistisch und alschristlich hingestellt. Zum Beispiel nennt E. B. England9 die erste derbeiden zitierten Stellen aus den Gesetzen eine nachdrckliche Rge derSelbstsucht. hnliche Worte gebraucht Barker anllich der Diskussionvon Platons Theorie der Gerechtigkeit: Es sei Platons Ziel gewesen, dieSelbstsucht und die Uneinigkeit unter den Brgern durch Harmonie zuersetzen; Barker meint, da die alte Harmonie zwischen den Interessendes Staates und denen des Individuums ... in den Lehren Platons aufdiese Weise wiederhergestellt wird; wiederhergestellt aber auf einer neuenund hheren Ebene, da sie zu einem bewuten Sinn fr Harmonieerhoben wurde. Diese und hnliche Behauptungen lassen sich leichterklren, wenn wir uns daran erinnern, da Platon den Individualismusmit dem Egoismus identifiziert hat; denn alle diese Platoniker halten denAntiindividualismus und die Selbstlosigkeit fr eine und dieselbe Sache.Das illustriert meine These, da die von Platon vollzogene Gleichsetzung

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    beider als ein erfolgreicher antihumanitrer Propagandatrick wirkte, derethische berlegungen bis auf unsere Zeit verwirrte. Aber wir mssen unsauch darber klar werden, da alle Denker, die, durch diese Identifikationund durch die hochtrabenden Worte Platons getuscht, seinen Ruf alsSittenlehrer in den Himmel heben und seine Ethik als die nchste An-nherung an das Christentum anfhren, die vor Christus erreicht wordensei, da sie alle den totalitren Ideen und insbesondere einer totalitrenantichristlichen Interpretation des Christentums den Weg bereiten. Unddas ist gefhrlich, denn es gab Zeiten, in denen das Christentum vontotalitren Ideen beherrscht war. Es gab eine Inquisition; und sie kann ineiner anderen Form wiederkommen.Es ist daher der Mhe wert, einige weitere Grnde dafr anzugeben,

    warum sich arglose Leute eingeredet haben, da Platon humanitreAbsichten hatte. Einer dieser Grnde ist der folgende: Platon bereitetseine kollektivistischen Lehren gewhnlich so vor, da er eine Maximeoder ein Sprichwort (anscheinend pythagoreischen Ursprungs) zitiert:Freunde haben alle Dinge, die sie besitzen, miteinander gemeinsam10.Das ist zweifellos ein selbstloser, hochgesinnter und ausgezeichneterGedanke. Wer wird wohl vermuten, da ein Argument, das von einer solobenswerten Annahme ausgeht, mit einem vllig antihumanitren Schluendet? Ein anderer wichtiger Punkt ist, da in Platons Dialogen viele echthumanitre Gedanken enthalten sind (das gilt insbesondere von denDialogen, die vor dem Staat geschrieben wurden, zu einer Zeit also, in dersich Platon noch unter dem Einflu des Sokrates befand). Ich erwhneinsbesondere die Lehre des Sokrates im Gorgias, es sei schlimmer, Un-recht zu tun, als es zu erleiden. Diese Lehre ist klarerweise nicht nuraltruistisch, sondern auch individualistisch; denn in einer kollekti-vistischen Theorie der Gerechtigkeit, wie sie etwa im Staat vorgetragenwird, ist die Ungerechtigkeit eine Handlung gegen den Staat, nicht gegeneinen einzelnen; und obgleich ein einzelner eine ungerechte Handlungbegehen kann, kann doch nur das Kollektiv unter ihr leiden. Aber imGorgias finden wir nichts von dieser Art. Die Theorie der Gerechtigkeit istvllig normal, und Sokrates (der hier hchstwahrscheinlich viele Zge deswirklichen Sokrates besitzt) gibt fr Ungerechtigkeit Beispiele wie diese:Einen Menschen ohrfeigen, ihn verletzen oder ihn tten. Die Lehre desSokrates, da es besser sei, solche Handlungen zu erleiden, als sieauszuben, ist in der Tat mit der christlichen Lehre sehr verwandt, undseine Lehre von der Gerechtigkeit ist vllig im Geiste des Perikles.Der Staat entwickelt nun eine neue Auffassung der Gerechtigkeit, die mit

    einem solchen Individualismus nicht nur unvereinbar ist, sondern die ihmauerdem hchst feindlich gegenbersteht. Es ist aber leicht mglich, daein Leser glaubt, Platon halte sich noch immer an die Lehre des Gorgias.Denn im Staat spielt er hufig auf die Lehre an, da es besser sei, Unrechtzu erleiden, als Unrecht zu tun, obgleich dies vom Standpunkt derkollektivistischen Theorie der Gerechtigkeit aus, die in diesem Werkevorgetragen wird, einfach Unsinn ist. Auerdem hren wir im Staat, dadie Widersacher des Sokrates die entgegengesetzte Meinung vertreten; sienennen es gut und angenehm, Unrecht zuzufgen und schlecht, es zuerleiden. Natrlich wird jeder humanitr gesinnte Mensch von einemsolchen Zynismus abgestoen; wenn daher Platon seinen Sokrates sagen

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    lt: Denn ich frchte eine Snde zu begehen, wenn ich derart bleReden ber die Gerechtigkeit in meiner Gegenwart zulasse und nicht meinuerstes zu ihrer Verteidigung unternehme11 dann ist der gutglubigeLeser von den guten Absichten Platons berzeugt und bereit, ihm zufolgen, wohin er auch immer gehen mag.Diese Versicherung Platons folgt unmittelbar auf die zynischen und

    selbstschtigen Reden des Thrasymachos und wird mit ihnen kontra-stiert12. Ihre Wirkung wird dadurch auerordentlich vergrert. DennThrasymachos wird als ein politischer Desperado der schlimmsten Sortegeschildert. Gleichzeitig wird der Leser veranlat, den Individualismus mitden Ansichten des Thrasymachos zu identifizieren und zu denken, daPlaton bei seinem Kampf gegen ihn alle umstrzlerischen undnihilistischen Tendenzen seiner Zeit aufs Korn nimmt. Wir sollten unsaber nicht von einem individualistischen Schreckgespenst wieThrasymachos ins Bockshorn jagen lassen und einer anderen, wirk-sameren und gefhrlicheren, weil weniger offenkundigen Barbarei ver-fallen. (Es besteht eine groe hnlichkeit zwischen dem Portrt desThrasymachos und dem modernen kollektivistischen Popanz Bolsche-wismus). Denn Platon ersetzt die Lehre des Thrasymachos (Recht ist dieMacht des Individuums) durch die gleich barbarische Lehre, da Rechtist, was die Stabilitt und die Macht des Staates frdert.Wir fassen zusammen. Wegen seines radikalen Kollektivismus ist Platon

    an denjenigen Fragen, die die Menschen gewhnlich die Probleme derGerechtigkeit nennen, das heit am unparteiischen Abwgen der einanderwiderstreitenden Forderungen der Individuen, nicht einmal interessiert.Noch ist es ihm daran gelegen, die Forderungen des Individuums denendes Staates anzupassen. Denn das Individuum ist ein vllig minder-wertiges Ding. Ich gebe meine Gesetze im Hinblick auf das, was fr dengesamten Staat das heilsamste ist, sagt Platon, ... denn ich stelle dieWnsche des Individuums mit Recht auf eine niedrigere Wertstufe13. Nurdas kollektive Ganze als solches ist von Interesse, und die Gerechtigkeitbesteht fr ihn in nichts anderem als in der Gesundheit, Einheit undStabilitt des Kollektivkrpers.

  • Anmerkungen zu Text 27: Individualismus oder Kollektivismus

    1. Eine terminologische Bemerkung zum Ausdruck Kollektivismus ist hier am Platze.Was H. G. WELLS Kollektivismus nennt, hat nichts mit der Sache zu tun, die ich sonenne. Wells ist ein Individualist (in meinem Sinn des Wortes); das zeigt sich insbesonderein seinen Rights of Men und The Common Sense of War and Peace; beide Werke enthaltensehr annehmbare Formulierungen der Forderungen, die ein die Gleichheit der Menschenvor dem Gesetz anerkennender Individualismus zu stellen htte; aber er glaubt auch vlligrichtig an das rationale Planen politischer Institutionen mit dem Ziel, die Freiheit und dieWohlfahrt menschlicher Individuen zu frdern. Das nennt er Kollektivismus; zur Be-zeichnung dessen, was ihm meiner Ansicht nach vorschwebt, wrde ich einen Ausdruckverwenden, wie rationales institutionelles Planen fr die Freiheit. Dieser Ausdruck istvielleicht lang und schwerfllig, aber er vermeidet eine Gefahr; denn das WortKollektivismus knnte in dem antiindividualistischen Sinne interpretiert werden, in demes oft und nicht nur in diesem Buche verwendet wird.

    2. Gesetze 903c.

    3. Im Staat und in den Gesetzen gibt es zahllose Stellen, an denen PLATON vor einem un-gezgelten Gruppenegoismus warnt; vgl. z. B. Staat 519 e, 466b/c sowie Gesetze 715b/c.

    Bezglich der so oft behaupteten Identitt zwischen Kollektivismus und Altruismus sei indiesem Zusammenhang auf die sehr treffende Frage SHERRINGTONS verwiesen (Man onHis Nature (1951), S. 388): Besitzt der Schwarm oder die Herde Altruismus? Ist derSchwarm oder die Herde selbstlos?

    4. ARISTOTELES, Politik, III, 12,1 (1282 b). Vgl. auch Aristoteles' Bemerkung in Pol.,III, 9, 3, 1280a, aus der folgt, da sich die Gerechtigkeit auf Personen wie auch auf Dingebezieht.

    5. Diese Bemerkung ist aus dem Staat 519ef.

    6. Die erste Stelle ist aus den Gesetzen 730cff. PLATON nimmt hier auf den Staat Bezugund anscheinend insbesondere auf Staat 462aff., 424a und 449e. (Eine Liste von Stellenzum Kollektivismus und Holismus findet sich in Anm. 35 zu Kapitel 5 meiner Offenen Ge-sellschaft.) Die hier zitierte Stelle beginnt charakteristischerweise mit der PythagoreischenMaxime Freunde haben alles gemeinsam, was sie besitzen'. Vgl. Anm. 10 und Text, sowiedie gemeinsamen Mahlzeiten, die in Anm. 8 erwhnt werden.

    7. Das im vorliegenden Absatz folgende Zitat ist Gesetze 942 af. entnommen. Diese Stelleund die vorhergehende werden von GOMPERZ (Griechische Denker, II, 406) als anti-individualistisch beschrieben; vgl. auch Gesetze 807 d/e.

    Wir drfen nicht vergessen, da die militrische Erziehung in den Gesetzen wie auch imStaat Pflicht ist fr alle, denen das Tragen von Waffen erlaubt ist, das heit fr alle Brger fr alle Menschen, die so etwas wie brgerliche Rechte besitzen (vgl. Gesetze 753 b).Die brigen Mitglieder des Staates sind banausisch oder Sklaven (vgl. Gesetze 741 eund 743 d).

    Interessanterweise hlt BARKEA, der den Militarismus verabscheut, Platon fr einenVertreter hnlicher antimilitaristischer Ansichten (Greek Political Theory, 298-301). Es istwahr, da Platon den Krieg nicht verherrlicht hat und da er sich sogar gegen ihn wandte.Aber viele Militaristen haben Frieden gepredigt und Krieg gefhrt; und der Staat Platons

  • wird von der militrischen Kaste, also von weisen Ex-Soldaten, regiert. Das gilt frGesetze ebenso wie fr Staat. (Vgl. Gesetze 753 b.)

    8. Strengste Gesetzgebung ber Mahlzeiten insbesondere gemeinsame Mahlzeiten und auch fr das Verhalten beim Trinken spielt bei Platon eine bedeutende Rolle; vgl. z. B.Staat 416e, 458c, 547d/e; Gesetze 625e, 633a (wo bemerkt wird, da die obligatorischengemeinsamen Mahlzeiten im Hinblick auf Kriege eingerichtet wurden), 762b, 780-783,806c, f., 839c, 842b. Platon hebt stets die Bedeutung gemeinsamer Mahlzeiten hervor,ganz in bereinstimmung mit kretischen und spartanischen Gebruchen. Es ist auchinteressant, da sich Platons Onkel Kritias mit diesen Dingen besonders ausfhrlichbeschftigt hat. (Vgl. D-K II, S. 391, Kritias Fragm. 3.)

    Zur Anspielung auf die Anarchie der Tiere am Ende des vorliegenden Zitats vgl. auchStaat 563 c.

    9. Vgl. ENGLANDS Ausgabe der Gesetze, Bd. I, S.514, Anm. zu 739b 8ff. Die Zitate ausBARKEA sind: op. cit., S. 149 und 148. In den Schriften der meisten Platoniker findensich zahllose hnliche Stellen. Siehe jedoch SHERRINGTONS Bemerkung (vgl. Anm. 3),da man kaum einem Schwarm oder einer Herde altruistische Gesinnung zuschreibenkann. Herdeninstinkte, Stammesegoismus sowie der Appell an diese Instinkte sollten nichtmit Selbstlosigkeit verwechselt werden.

    10. Vgl. PLATONS Staat 424a, 449c; Phaidros 279c; Gesetze 739c; vgl. auch Lysis 207c,und Euripides, Orest. 725.

    Zur individualistischen Theorie der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit des Gorgiasvgl. z. B. die in Gorgias 468bff., 508d/e gegebenen Beispiele. Diese Stellen zeigen allerWahrscheinlichkeit nach noch immer sokratischen Einflu. Der Individualismus desSokrates ist beraus klar in seiner berhmten Lehre von der Selbstgengsamkeit des gutenMenschen ausgedrckt; diese Lehre wird von Platon im Staat (387d/e) erwhnt, obgleichsie einer der Hauptthesen des Staates glatt widerspricht der Annahme nmlich, da derStaat allein selbstgengsam sein kann. Vgl. auch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde,Anm. 5 ff., zu Kapitel 5 und Anm. 56 zu Kapitel 10.

    11. Staat 368b/c.

    12. Vgl. insbesondere Staat 344aff.

    13. Vgl. Gesetze 923b.

  • Textnachweis

    27. Individualismus oder Kollektivismus? Es handelt sich um Abschnitt V von Kapitel 6von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde.