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01.05.14 17:39 Dekonstruktion als Gesellschaftskritik | Krisis Seite 1 von 22 http://www.krisis.org/1998/dekonstruktion-als-gesellschaftskritik Dekonstruktion als Gesellschaftskritik Derrida über Marx und die neue Weltordnung (1)  J. Derrida, Spectres de Marx; dt. Ausgabe: “Marx’ Gespenster – Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale”, Fischer TB, Frankfurt 1995 erschienen in: Krisis 21/22  Moishe Postone Mit seiner wichtigen theoretischen und politischen Intervention “Marx’ Gespenster”  versucht Derrida, eine der Welt nach 1989 angemessene Gesellschaftskritik zu formulieren(2). Geschrieben in dunklen Zeiten, in denen, wie Derrida sagt, weder Ethik noch Politik (sei sie nun revolutionär oder nicht) möglich und denkbar zu sein scheint (S. 22) (3) entwirft “Marx’ Gespenster” die Umrisse einer Kritik der gegenwärtigen Welt, welche nach einem fundamentalen Bruch mit dem Gegenwärtigen verlangt. Angesichts der Neuen Weltordnung, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und der europäischen Kommunismus folgte, und der weitverbreiteten Behauptungen, daß Marx und der Marxismus endgültig tot seien, stemmt sich Derrida dem Triumphalismus des ökonomischen und politischen Neoliberalismus entgegen. Er liefert eine ätzende Kritik des Kapitalismus, präsentiert herausfordernd Dekonstruktion als Erben eines bestimmten Geistes von Marx und fordert eine neue Internationale als Antwort auf die neue Heilige Allianz des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Derridas theoretische Strategie ist komplex: er behauptet, daß eine angemessene Kritik der heutigen  Welt Marx positiv aneignen und ihn dennoch grundsätzlich kritisieren muß. Derrida versucht, zu einer solchen Gesellschaftskritik beizutragen, indem er einen bestimmten “Geist von Marx” von dem abtrennt, was er für die ontologisierenden und dogmatischen Aspekte des Marxismus hält. Diese Strategie, Marx zugleich anzueignen und zu kritisieren, um die neue Weltordnung zu begreifen, impliziert, daß eine angemessene Gesellschaftskritik sich heute ernsthaft dem Problem des globalen Kapitalismus stellen muß, und daß die Tendenz, politökonomische Überlegungen auszuklammern, die eine Anzahl kritischer Ansätze in den letzten beiden Jahrzehnten charakterisierte, nicht mehr haltbar ist. Derridas Strategie verlangt also implizit die Entwicklung und Erläuterung der gesellschaftstheoretischen Implikationen der Dekonstruktion. Und obwohl dieser Ansatz einige  wichtige Themen auf fruchtbare Weise aufwirft und sie klären hilft, treten, wie ich zeigen möchte, seine Grenzen sehr deutlich hervor, sobald er an seinem Anspruch gemessen wird, die gegenwärtige Welt kritisch zu begreifen. Damit ist die allgemeinere Frage nach den Unterschieden zwischen einer

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Dekonstruktion als Gesellschaftskritik 

Derrida über Marx und die neue Weltordnung (1)

 J. Derrida, Spectres de Marx; dt. Ausgabe: “Marx’ Gespenster – Der verschuldete Staat, die

Trauerarbeit und die neue Internationale”, Fischer TB, Frankfurt 1995 

erschienen in: Krisis 21/22

 Moishe Postone

Mit seiner wichtigen theoretischen und politischen Intervention “Marx’ Gespenster”  versucht Derrida,

eine der Welt nach 1989 angemessene Gesellschaftskritik zu formulieren(2).

Geschrieben in dunklen Zeiten, in denen, wie Derrida sagt, weder Ethik noch Politik (sei sie nunrevolutionär oder nicht) möglich und denkbar zu sein scheint (S. 22) (3) entwirft “Marx’ Gespenster” 

die Umrisse einer Kritik der gegenwärtigen Welt, welche nach einem fundamentalen Bruch mit dem

Gegenwärtigen verlangt. Angesichts der Neuen Weltordnung, die auf den Zusammenbruch der

Sowjetunion und der europäischen Kommunismus folgte, und der weitverbreiteten Behauptungen, daß

Marx und der Marxismus endgültig tot seien, stemmt sich Derrida dem Triumphalismus des

ökonomischen und politischen Neoliberalismus entgegen. Er liefert eine ätzende Kritik des

Kapitalismus, präsentiert herausfordernd Dekonstruktion als Erben eines bestimmten Geistes von

Marx und fordert eine neue Internationale als Antwort auf die neue Heilige Allianz des ausgehenden

zwanzigsten Jahrhunderts.

Derridas theoretische Strategie ist komplex: er behauptet, daß eine angemessene Kritik der heutigen

 Welt Marx positiv aneignen und ihn dennoch grundsätzlich kritisieren muß. Derrida versucht, zu einer

solchen Gesellschaftskritik beizutragen, indem er einen bestimmten “Geist von Marx” von dem

abtrennt, was er für die ontologisierenden und dogmatischen Aspekte des Marxismus hält.

Diese Strategie, Marx zugleich anzueignen und zu kritisieren, um die neue Weltordnung zu begreifen,impliziert, daß eine angemessene Gesellschaftskritik sich heute ernsthaft dem Problem des globalen

Kapitalismus stellen muß, und daß die Tendenz, politökonomische Überlegungen auszuklammern, die

eine Anzahl kritischer Ansätze in den letzten beiden Jahrzehnten charakterisierte, nicht mehr haltbar

ist. Derridas Strategie verlangt also implizit die Entwicklung und Erläuterung der

gesellschaftstheoretischen Implikationen der Dekonstruktion. Und obwohl dieser Ansatz einige

 wichtige Themen auf fruchtbare Weise aufwirft und sie klären hilft, treten, wie ich zeigen möchte, seine

Grenzen sehr deutlich hervor, sobald er an seinem Anspruch gemessen wird, die gegenwärtige Weltkritisch zu begreifen. Damit ist die allgemeinere Frage nach den Unterschieden zwischen einer

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kritischen Theorie der Gesellschaft und einer kritischen philosophischen Position aufgeworfen, und es

fällt ein Licht auf die Beschränkungen der letzteren.

“Marx’ Gespenster” besteht aus fünf Kapiteln, die um den zentralen Begriff des “Spektralen” (4),

Gespenstigen – dessen, was nicht mit dem Gegenwärtigen identisch ist – gruppiert sind. Dieser Begriff,

der die Gegebenheit und Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung der Dinge in Frage stellt, steht imZentrum von Derridas Versuch, eine kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft zu umreißen, die

sich den emanzipatorischen Geist von Marxens Ansatz aneignet und eine grundsätzliche Kritik der

gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft wie auch der traditionell-marxistischen Theorie und Praxis

liefert.

Derrida beginnt sein Werk mit einer Erörterung von Gespenstern – dem von Marx, den man für tot

erklärt hat, und dem von Hamlets Vater (S. 17/18). Als einer, der das Marxsche Erbe reklamieren

möchte, thematisiert Derrida implizit das Verhältnis des Möchtegern-Erben zum Geist des Vaters. Er bedient sich dabei existentieller Begriffe und bezieht sich auf die Frage, wie man lernen könne zu leben

– was, wie er behauptet, erfordert, mit dem Tod sich arrangieren. Dies wiederum umfaßt das

Zurechtkommen mit dem Spektralen, mit Geistern. Der Geist ist zugleich und ist nicht. Lebenlernen

erfordert also, wie Derrida nahelegt, über Hamlets “existentielle” Gegenüberstellung von Sein und

Nichtsein, Leben und Tod hinauszugelangen (S. 10).

Diese Unbestimmtheit hat sowohl persönlich-ethische wie auch politisch-historische Implikationen.

 Als das, was zugleich ist und nicht ist, repräsentiert das Gespenst Zeitlichkeiten, die vomGegenwartsdenken nicht angemessen begriffen werden können. Sie umfassen eine Vergangenheit, die

nicht vergangen ist (die Geister von Marx und Hamlets Vater) ebenso wie eine Zukunft, die mit dem

Gegenwärtigen bricht (Marxens Bild des in Europa umgehenden Gespenstes im “Kommunistischen

 Manifest” (S.18). Diese zeitlichen Dimensionen, Vergangenheit und Zukunft, stehen für Derrida in

einer Wechselbeziehung: er stellt fest, daß es keine Zukunft geben wird ohne die Erinnerung an und

das Erbe von Marx – oder wenigstens von einem seiner Geister (deren es mehrere gibt) (S. 32).

Die Auffassung von Vergangenheit und Zukunft als Zeitlichkeiten, die nicht völlig in der Gegenwart

aufgehen, ist für Derridas Konzeption des Spektralen (als Ungleichzeitigkeit der lebendigen Gegenwart

mit sich selbst) zentral. Das Spektrale umfaßt die zeitliche Spaltung (désajoutement); es drückt aus,

 was nicht bloß in der “Kette von Gegenwarten” existiert. (S. 12, 21 f., 50 ff)

Diese Auffassung von nicht-identischen Zeitlichkeiten dient Derrida in diesem Werk als Mittel, seine

frühere Kritik der Phänomenologie und der Metaphysik der Gegenwart auszuweiten. Letztere, wie auch

die philosophischen Kategorien der Substanz, des Wesens, der Existenz, bringt er in Zusammenhang

mit der Vorherrschaft einer Gegenwart von homogenen Zeitbausteinen, mit der Zeit als Verknüpfung

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modalisierter Gegenwarten und mit jeglicher teleologischen Ordnung der Geschichte. Seine Kritik der

Gegenwart als Präsenz ist vom Standpunkt einer Politik aus formuliert, die auf der nicht-identischen,

nicht präsentistischen Zeitlichkeit des Spektralen beruht. Derrida charakterisiert diese Politik als eine

der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit, gegenüber den Toten – den Opfern von Krieg,

Gewalt und Unterdrückung – und gegenüber der Zukunft, den noch nicht Geborenen. (S. 11/12; 50 ff;

117 ff).

Eine solche Politik der Erinnerung, des Erbes, der Generationen steht im Zusammenhang mit Derridas

Begriff der Gerechtigkeit. Er vermerkt, daß Hamlet, wenn er proklamiert, die Zeit sei aus den Fugen,

zugleich seine Mission, Gerechtigkeit zu üben (im Sinne der “Einrenkung” der Geschichte) verflucht.

Derrida merkt dazu an, daß das Recht oder das Gesetz von der Rache abstammen; als solche sind sie

der Ausdruck eines Systems von Äquivalenzen, welches nur das Gegenwärtige reproduzieren kann.

Daraus erwächst die Frage (die implizit durchdrungen ist von der Idee des Spektralen) nach der

Möglichkeit einer Gerechtigkeit jenseits des Rechts, einer Gerechtigkeit, die endlich die

Schicksalhaftigkeit der Rache hinter sich läßt. (S. 44)

 Auch Heidegger hat versucht, einen alternativen Begriff von Gerechtigkeit zu formulieren, einen

Begriff von Gerechtigkeit jenseits des Rechts (dike). Nach Derrida verknüpfte Heidegger jedoch diese

Gerechtigkeit mit dem Zusammenfügen (“jointure”) , und deshalb bleibt sein Begriff der Gerechtigkeit

an die Metaphysik der Gegenwart gebunden. Derridas Konzeption von Gerechtigkeit jenseits des

Rechts unterscheidet sich von der Heideggerschen insofern, als sie eine Beziehung zum anderen als

dem anderen einschließt – und dies erfordert, so Derrida, den Bruch (la disjointure), die Anachronie.

Derridas Begriff von Gerechtigkeit ist also auf das Spektrale bezogen. (S. 50 ff ).

 Allgemein kann mit Derrida gesagt werden, daß Dekonstruktion als kritische Verfahrensweise in der

“disjointure” und in der Anachronie wurzelt. Sie schwört dem geschlossenen, totalisierenden Horizont

 juristisch-moralischer Regeln, Normen oder Repräsentationen ab, welche die Chance einer Zukunft

 verhindert. Die Zukunft, auf die Derrida sich bezieht, steht in Zusammenhang mit seinem Begriff des

 Spektralen; es ist eine Zukunft, die mit der gegenwärtigen Zeit von Grund auf bräche und nicht mehrins Kontinuum der Geschichte gehörte (S. 44 ).

Im Zentrum von Derridas Überlegungen steht also eine fundamentale Kritik des “Präsentismus”, einer

 bestehenden Ordnung, die sich selber als unveränderlich darstellt. Er kritisiert im Namen einer

anderen Zukunft und einer Konzeption von Gerechtigkeit jenseits der Gegenwart, jenseits von Recht

und Berechnung. Derrida bezeichnet eine solche Kritik als eine Art “Messianismus der Wüste”, ohne

Inhalt und ohne identifizierbaren Messias und kontrastiert sie mit dem konkreten, personifizierten,

letztlich präsentistischen Charakter von eschatologischen, teleologischen und apokalyptischenPositionen (S. 54 f).

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Derridas Begriff des abstrakt Messianischen ist der erste Hinweis in diesem Werk auf einen

spezifischen Strang seiner Argumentation. Wie schon bei seiner Kritik des Logozentrismus vom

Standpunkt des Primats des Schreibens knüpft er auch hier an die Kritik grundlegender Aspekte des

 westlich-christlichen Denkens an, wie sie von der Position eines säkularisierten Judentums aus

formuliert wurde. Seine Aneignung eines bestimmten Aspekts der jüdischen Tradition – nämlich der

 Weigerung, sich mit dem Gegebenen abzufinden – erinnert an Walter Benjamins Thesen “Über den

Begriff der Geschichte” wie auch an Max Horkheimer, der 1938, in noch finstereren Zeiten, schrieb:

Nachdem Derrida den Begriff des Messianischen eingeführt hat, charakterisiert er das Marxsche

 Vermächtnis in diesen Begriffen als eine politische Verfügung, deren Gewalt die Zeit aufbricht und

zergliedert. (S. 57 f). Wie das Spektrale, so stellt auch der emanzipatorische Geist des Marxschen

Denkens die scharfe Trennungslinie zwischen der aktuell gegenwärtigen Realität und allem, das ihr

entgegengesetzt werden kann, in Frage – eine Trennungslinie, die von den bestehenden Mächten zu

ihrer eigenen Absicherung gezogen wird. Derrida besteht darauf, daß angesichts der neuen Weltordnung die Lehren der großen Werke von Marx heute besonders dringlich geworden sind.

Gleichzeitig ist die Aneignung eines bestimmten Geistes von Marx leichter geworden – nämlich durch

den Zusammenbruch des europäischen Kommunismus und die Auflösung der marxistischen

ideologischen Apparate. Unter diesen Umständen wird die Mißachtung von Marx zu einem

theoretischen, philosophischen und politischen Versagen. (S. 31 f; 34 f).

Derridas Begriffe des Spektralen und des Messianischen liefern also das Gerüst für seinen Versuch,

Marxens Erbe positiv anzueignen. Zugleich liefern diese Begriffe den Standpunkt für seine Kritik desneoliberalen Triumphalismus und der teleologischen Eschatologie – beide vereint in Francis

Fukuyamas “The End of History and the Last Man” (6).

Derrida behandelt dieses Buch als Musterbeispiel der neuen, vorherrschenden ideologischen Diskurse,

die den Sieg des Kapitalismus verkünden und Marx samt der Möglichkeit einer grundlegenden

Transformation der Gesellschaft verabschieden; das tun sie, behauptet er, um den bedrohlichen und

 bedrohten Charakter der neuen Weltordnung zu leugnen. (S. 85 ff; 97). Laut der von Kojèves Hegel-

Interpretation abgeleiteten Grundthese Fukuyamas zeigt der jüngste, weltweite Zusammenbruch vonDiktaturen an, daß der kohärente und zielgerichtete Prozeß der menschlichen Geschichte sein Ende

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erreicht hat – einen universellen und homogenen, auf dem freien Markt und der liberalen Demokratie

 basierenden Zustand. (S. 95 – 102).

Derrida charakterisiert Fukuyamas Umgang mit der Geschichte als eine Form christlicher Eschatologie

und somit als letztlich präsentistisch, und er kritisiert sie auf mehreren verschiedenen Ebenen. Auf der

theoretischen Ebene führt er ins Feld, daß dieser Umgang mit der Geschichte notwendigerweisezwischen zwei miteinander unverträglichen Diskursen oszilliert. Einerseits muß diese Position auf die

Empirie zurückgreifen – das, von dem sie behauptet, daß es wirklich geschah: das Ende des Marxismus

und die Verwirklichung der liberalen Demokratie. Andererseits muß sie die verschiedenen

Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts als bloß empirisch (und in Gegensatz stehend zur idealen

Orientierung des größten Teils der Menschheit auf die liberale Demokratie hin) außer Betracht lassen.

(S. 97;106 ff).

Derridas Kritik ist jedoch nicht nur textimmanent, sondern auch empirisch. Im dritten Kapitel beschreibt er die gegenwärtige Weltlage in Begriffen, die denen des triumphalischen Neoliberalismus

krass entgegengesetzt sind. Obwohl die Ankunft des Ideals liberaler Demokratie und kapitalistischer

Marktwirtschaft gefeiert wird, zeigt aller Augenschein, daß weder die Vereinigten Staaten noch die

Europäische Gemeinschaft sich dem Ideal der liberalen Demokratie genähert haben. Überdies wird die

gegenwärtige Weltlage von einer enormen Ungleichheit der technisch-wissenschaftlichen,

militärischen und ökonomischen Entwicklung gekennzeichnet mit dem Ergebnis, daß “noch nie in der

Geschichte der Erde und der Menschheit (…) Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit

 wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen haben (S. 139). Diese Situation

untergräbt jedes teleologische Verständnis von Geschichte. (S. 92 ff; 107 ff;132).

Dennoch geht Derrida nicht dazu über, diese historischen Entwicklungen zu analysieren. Stattdessen

gibt er uns eine “Taxonomie” der wesentlichen Besonderheiten der gegenwärtigen Weltlage – und

zwar, indem er zehn “Wunden” der neuen Weltordnung auflistet: neue Formen der Arbeitslosigkeit;

den Ausschluß der Obdachlosen, Armen, Exilierten, Einwanderer usw. von der Politik; globale

 Wirtschaftskriege; Widersprüche zwischen dem Begriff und der Realität des freien Marktes; dasProblem der Auslandsschulden und ihrer Konsequenzen (Hunger und Verzweiflung); die zentrale

Bedeutung der Rüstungsindustrie für Forschung, Wirtschaft und Kollektivierung der Arbeit; die

 Verbreitung von Atomwaffen; interethnische Kriege; die wachsende Bedeutung von Mafia und

Drogenkartellen; den gegenwärtigen Zustand des internationalen Rechts und seiner Institutionen (S.

132 – 137).

Nach Derrida könnte die Marxsche Analyse die Probleme der gegenwärtigen Welt wie auch den

Charakter dieses neuen, vorherrschenden Diskurses erhellen, falls man diese Analyse modifiziert (d.h.das Basis-Überbau-Modell vermeidet und soziale Herrschaft nicht allein mit dem Klassenproblem

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identifiziert). (S. 92 ff;107 ff). Derrida verweist zustimmend auf die selbstreflexive Historizität der

Marxschen Theorie, auf ihre Offenheit gegenüber ihrer eigenen Transformation und Neubewertung,

auf ihre luzide Analyse der Globalisierung des Politischen und auf die ungebrochene Bedeutung des

marxistischen “Code” für die Analyse der gegenwärtigen Welt. (S. 32; 93 f; 141f).

Nichtsdestoweniger wurde, so Derrida, der emanzipatorische Geist von Marx immer wiederkonterkariert von der marxistischen Praxis, die historisch oft einher ging mit verfestigten Formen wie

etwa Organisationen, Parteien und Staaten – also mit Formen von Gegenwärtigkeit. (S. 56). Das hat

dazu geführt, daß einige Aspekte des Marxismus bestimmte Eigenarten mit dem neoliberalen

Triumphalismus teilen. Derrida akzeptiert Fukuyamas (von Kojève übernommene) Behauptung, Marx

 würde genau wie Hegel ein Ende der Geschichte postulieren, und vertritt die Auffassung, daß sich

Marxens und Fukuyamas Geschichtsbegriffe in grundsätzlichen Zügen überschneiden. Und Derrida

 verwirft, was er für ihre gemeinsame Konzeption hält: die Idee eines Endes der Geschichte und eine

 Vorstellung von der historischen Zeit als sukzessive Verknüpfung von mit sich selbst identischen

Gegenwarten. Beides verbleibt innerhalb eines Rahmens von homogener Zeit, der die Möglichkeit

einer qualitativ anderen Zukunft sabotiert. (S. 117 f).

 An dieser Stelle wird ein wichtiger Aspekt von Derridas theoretischer Strategie deutlich. Er

charakterisiert sowohl den neoliberalen Triumphalismus als auch den dogmatischen Marxismus als

 Abwehr des Spektralen. Der Begriff des Spektralen soll also das Fundament liefern für eine

grundsätzlich Gesellschaftskritik, die sich gegen beide Pole des Kalten Krieges richtet.

Derrida versucht, über diesen Gegensatz hinauszugelangen, indem er diejenigen Elemente im

Marxschen Erbe, die positiv zum Spektralen stehen, vom Marxismus als Ontologie, als metaphysisches

System (“dialektischer Materialismus”) unterscheidet. Er möchte eine Gesellschaftskritik der

gegenwärtigen Welt reetablieren, indem er die “Geschichtlichkeit der Geschichte” gegen Positionen, die

diese Geschichtlichkeit eliminieren, wiederherstellt. Damit ist namentlich der “onto-theo-archeo-

teleologische” Begriff von Geschichte bei Hegel und Marx und das “epochale Denken” von Heidegger

gemeint. (S. 113 f; 124 ff). Er bedient sich dazu eines Begriffs von Ereignishaftigkeit außerhalb dergegenwärtigen Zeit ähnlich wie in Benjamins Bild vom Tigersprung der Revolution als dem

messianischen Heraussprengen einer bestimmten Epoche aus dem Kontinuum der Geschichte.(7) Mit

diesem Begriff versucht Derrida, die Möglichkeit zu eröffnen, das Messianische affirmativ zu denken

und somit Emanzipation als ein Versprechen anstatt als ein onto-theologisches oder teleo-

eschatologisches Programm bzw. einen Entwurf zu fassen. (S. 124 ff).).

Derrida bezieht den Begriff der Demokratie auf dieses Versprechen. Er spricht von einer kommenden

Demokratie als einem Versprechen, das nicht einfach eine zukünftige Modalität des Gegenwärtigen wäre. Das Versprechen einer solchen Demokratie umfaßt sowohl den Respekt vor der Singularität und

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der unendlichen Andersheit des Anderen wie auch den Respekt vor der kalkulierbaren Gleichheit

zwischen anonymen Singularitäten. (S. 108 f). Demokratie als Bruch mit dem Gegenwärtigen umfaßt

also die Überwindung des Gegensatzes von Partikularem und Universalem.- Dieser Versuch, den

Respekt vor der Andersheit mit dem vor der Gleichheit zu vereinigen, unterscheidet Derridas Ansatz

scharf von jeder neo-romantischen Kritik der Moderne und von all denen, die sich dergestalt nach

“Gemeinschaft” sehnen, daß sie alles rückgängig machen möchten, was Derrida hier implizit – ganz im

Sinne von Marx – als die positiven Aspekte der kapitalistischen Moderne schätzt.

Derrida registriert genau die Art von Politik, die auf das Versprechen einer solchen Demokratie in der

neuen Internationalen hinweist – einem weiten Feld von nicht-staatlichen, nicht parteiartigen

Bewegungen und Institutionen, die als politische Antwort auf die neue Ordnung entstanden sind. Was

diese neue Internationale nach Derrida kennzeichnet, ist, daß sie ohne verfestigte Formen wie

Organisation, Partei, Staat, Volksgemeinschaft oder Klassenzugehörigkeit auskommt. Sie ist also eine

Bewegung jenseits der Gegenwart. Sie bewirkt auf der praktischen Ebene diejenige Differenzierung des

Marxschen Erbes, die Derrida theoretisch bewerkstelligen möchte; sie ist inspiriert von einem der

Geister von Marx (dem “Messianismus der Wüste”), während sie dem institutionellen Rahmen und der

Dogmatik des klassischen Marxismus abschwört. (S. 56; 139).

Diese Differenzierung ist die Grundlage der Derridaschen Marx-Aneigung. Sie erlaubt es ihm, die

Dekonstruktion als Erbe eines bestimmten Geistes von Marx darzustellen. Dieser steht für ein

einzigartiges nicht-religiöses, nicht mythologisches, nicht-nationales Projekt, das grundsätzlich von der

totalitären “Perversion” des Marxismus und den techno-ökonomischen und ökologischen Desastern,

die diese angerichtet hat, getrennt werden kann. Nach Derrida resultierten diese letzteren Aspekte des

Marxismus aus einer Ontologisierung des Spektralen. (S. 144 ff).

Das Gespenst, das in der modernen Welt seit 1848 umgeht, ist die Möglichkeit einer grundlegend

anderen Zukunft. Der Kommunismus muß, wie auch die Demokratie (und wie der Messias) laut

Derrida immer noch erst kommen; er unterscheidet sich von jeder aktuellen Gegenwart. Die jüngsten

Erklärungen der neuen Heiligen Allianz, daß Marx unwiderruflich tot sei, müssen als Versuche verstanden werden, die beiden unzeitigen Gespenster der Demokratie und des Kommunismus zum

 Verschwinden zu bringen. (S. 156 f). Diese Angst vor der spektralen Zukunft hat nach Derrida extrem

negative Folgen gehabt: in ihr wurzelten viele der negativsten Entwicklungen des zwanzigsten

Jahrhunderts. Er vertritt die provozierende Auffassung, daß alle verschiedenen Formen des

Totalitarismus – der nationalsozialistische, der faschistische und der kommunistische – letztlich

Reaktionen auf die Angst vor dem Gespenst sind, die vom Kommunismus inspiriert war; sie alle

 wollten sich diesen Geist auf animistische Weise einverleiben. Es hat also nicht nur die Heilige Allianz,

 vom Gespenst des Kommunismus geschreckt, einen noch andauernden Krieg gegen es geführt,

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sondern dieser Krieg wurde gegen ein Lager geführt, das selbst von der Angst vor dem Gespenst

organisiert war. (S. 169).

Nachdem er die totalitäre Dimension des Kommunismus der Angst vor dem Spektralen zugeschrieben

hat, versucht Derrida, diese Angst in dem aufzuspüren, was er als eine ontologische Dimension im

Marxschen Denken bezeichnet. Er erklärt also die Praktiken des orthodoxen Marxismus aus den Marxzugeschriebenen Ideen, und damit innerhalb des ideengeschichtlichen Rahmens (was bei einem so tief 

 von Heidegger beeinflußten Denker nicht überrascht). Er behauptet, daß Marx – oder der “Marxist in

ihm” – trotz seiner emanzipatorischen Kritik weiterhin die Grenze zwischen der Realität des

Gegenwärtigen und dem Spektralen für eine wirkliche Trennungslinie hielt. (S. 56; 70 f) Folglich habe

er, sogar als er das Gespenst des Kommunismus beschwörte, nach einer Verkörperlichung des

Gespenstigen gesucht – als Manifest, als Partei, die auf die Zerstörung des Staates und das Ende des

Politischen weist. (S. 160). Dieser angebliche Wechsel vom messianisch Spektralen zum apokalyptisch-

 verkörperlichten bringt laut Derrida Marxens eigene Angst vor dem Spektralen zum Ausdruck; Derrida

 versucht diese Behauptung anhand der Marxschen Schriften “Der achtzehnte Brumaire des Louis

 Bonaparte“, “Die deutsche Ideologie”  und “Das Kapital”  zu beweisen.

Marx beginnt den “Achtzehnten Brumaire” mit einer Reflexion über die Bedeutung von Vergangenheit

und Zukunft für die revolutionären Akteure. Anknüpfend an seine berühmte Feststellung, daß die

Tradition aller toten Geschlechter wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden laste, legt er dar, daß in

den bürgerlichen Revolutionen die Akteure sich bezeichnenderweise mit dem Mantel der

 Vergangenheit drapiert haben, während sie eine neue Gegenwart schufen; die neue Revolution jedoch

kann ihre Poesie allein aus der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit ziehen. Derrida interpretiert diese

 Abschnitte dahingehend, Marx würde – in dem vergeblichen Versuch, Geist und Gespenst zu trennen –

die Ansicht vertreten, daß zukünftige Revolutionen jeden Rekurs auf die Vergangenheit zerstören und

auf jedes Erbe verzichten müßten. Solch eine Auffassung von Revolution sei jedoch letztlich

präsentistisch. (S. 180 ff).

Dieser Präsentismus beschränkt sich laut Derrida nicht bloß auf Marxens politische Schriften, sondernkennzeichnet auch seine philosophischen Texte wie “Die deutsche Ideologie” und “Das Kapital” . Bei

der Erörterung der “Deutschen Ideologie” konzentriert sich Derrida auf Marxens ausführliche Kritik 

des Junghegelianers Max Stirner. Nach Marx stellt sich Stirner, der Hegel wegen seiner

“Vergeistigung” und Mystifizierung des Geistes kritisiert hat, dabei auf den Standpunkt des lebendigen

Leibes. Solch eine Kritik der spektralen Dimension von Hegels Denken sei jedoch selbst spektral , weil

der egologische Leib, der als Stirners kritischer Standpunkt dient, selbst abstrakt, ein künstlicher Leib

sei; er sei bloß der Raum, wo sich verselbständigte Entitäten versammeln – ein Leib der Gespenster,

ein Geist. (S. 199 – 204).

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Derrida formuliert nun Marxens Gedankengang in die Sprache der Phänomenologie um und

kommentiert, daß für Marx sowohl die philosophische Form der Welt wie auch das

phänomenologische Ich “spektral  sind; der Standpunkt seiner Kritik der christlich-hegelianischen

Dimension der Phänomenologie ist der “praktische Zusammenhang” der Welt: Arbeit, Produktion,

 Verwirklichung, Techniken. (S. 205).

Dieser Standpunkt sei jedoch selbst an eine Metaphysik der Gegenwart gebunden, sagt Derrida und

sieht eine morphologische Ähnlichkeit der Marxschen Kritik mit der Stirnerschen. (S. 207). Er macht

geltend, daß Marx sowohl wie Stirner – was immer sie auch unterscheiden mag – dem Spuk den

Garaus machen möchten; beide setzen einer spektralen “Onto-Theologie” das hyper-

phänomenologische Prinzip des lebendigen und leibhaftigen Individuums entgegen. (S. 208). Marxens

Kritik scheint sich also nur quantitativ von der Stirnerschen zu unterscheiden: sie möchte diese nur

 weiter treiben. Letztlich möchte Marx, laut Derrida, eine scharfe Trennlinie ziehen zwischen dem

(negativen) Gespenst und dem (positiven) Geist. Aber diese Unterscheidung kann nicht durchgehalten

 werden. Das Gespenst ist nicht nur die fleischliche Erscheinung des Geistes (d.h. ein Fetisch), sondern

es ist auch das ungeduldige und sehnsüchtige Warten auf Erlösung, auf einen Geist. Der Unterschied

(différence) zwischen Gespenst und Geist ist daher für Derrida eine “Differänz”(8) (differance) (S. 215).

Derrida dehnt seine Interpretation auf Marxens Analyse der Warenform im 1. Kapitel von Das Kapital 

(Bd.1) aus. Er bemerkt, daß Marx mit seinem Begriff des Warenfetischismus zeigen will, daß der

Kapitalismus durch genau das gekennzeichnet wird, was er glaubt hinter sich gelassen zu haben: durch

 Animismus und Spiritismus. Der Marxsche Ansatz gleiche hier seiner Kritik an Max Stirner; er

kritisiere eine Form von “Säkularisation”, welche den Animismus, den sie glaubt überwunden zu

haben, wieder herstellt. Die neue Form des dergestalt rekonstituierten Animismus erscheint nicht als

solche, sondern als Objekt des phänomenologischen Normalverstandes – das phänomenologische Ich

zum Beispiel, oder die Ware als Objekt.

Derrida nimmt an, daß der Standpunkt der Marxschen Kritik im “Kapital” die Kategorie des

Gebrauchswerts sei und daß seine Kritik deshalb ontologisch auf dem Standpunkt der Stofflichkeit, derGegenwart, stehe. Er akzeptiert die altehrwürdige, traditionell-marxistische Lesart, reduziert die

Gebrauchswertdimension auf Technik und identifiziert die Kategorie des Werts mit dem Markt. Auf 

dieser Grundlage behauptet er, daß die Marxsche Position keine Kritik der Technik zuläßt; stattdessen

fasse sie eine Gesellschaft ins Auge, die den Prozeß kapitalistischer Säkularisierung immer weiter

ausdehne. (S. 251 ff).

Derrida legt dann dar, daß der Gebrauchswert und somit auch Produktion und Technik nicht einfach

nur der Gegenwart zugehören; sie seien nicht wirklich so frei von Gespenstern, wie Marx angeblichannahm, sondern von Gesellschaftlichkeit durchdrungen. Folglich könnten sie nicht als Standpunkt für

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eine emanzipatorische Theorie dienen. Eine solche Theorie müsse sich vielmehr das  Spektrale zu eigen

machen.

Derrida beschließt sein Buch, indem er zum Thema der nackten messianischen Hoffnung, eines

 Wartens ohne den Horizont der Erwartung, zurückkehrt. Könnte man sich auf das Kommende

 verlassen, wäre die Hoffnung nichts anderes als die “Kalkulation” eines Programms. (S. 263 ff). D.h.,sie würde an den Präsentismus gebunden bleiben. Anstatt wie Marx die Geister zu verjagen, sollte man

ihnen das Recht auf Wiederkehr gewähren. Das sei eine Bedingung der Gerechtigkeit , d,h, einer Form

des Lebens, welche sich von der gegenwärtigen Existenz fundamental unterscheidet.

Derridas Intervention gegen die Ideologie der neuen Weltordnung und sein Versuch, Dekonstruktion

als Erben von Marx zu präsentieren – d.h. als Basis für eine Position, die sich weigert, das gegenwärtig

Gegebene als notwendig hinzunehmen -, sind wichtig und aktuell. Sie kündigen das Ende einer Periode

an, die in den späten 60er Jahren begann, als neuere kritische Ansätze – in scharfer Distanzierung voneinem orthodoxen Marxismus, der seinen vollständigen Bankrott in Paris und Prag unter Beweis

gestellt hatte – die für die zu Ende gehende keynesianistisch-fordistisch-etatistische Epoche

charakteristischen Herrschaftsformen ins Visier nahmen. Diese neuen Formen des kritischen Denkens

neigten dazu, die Bedeutung von Kontingenz, Widerstand, Kultur und der nicht-staatsbürokratischen

politischen Sphäre aufzuwerten und zu betonen. Fragen der fortdauernden Dynamik des Kapitalismus

und ihrer sozialen und politischen Konsequenzen wurden bestenfalls am Rande behandelt.

“Marx’ Gespenster” bringt das Bewußtsein zum Ausdruck, daß die gegenwärtigen historischenEntwicklungen eine andere und angemessenere theoretische Antwort verlangen – eine, die auch die

Problematik des globalen Kapitalismus direkt anspricht. Das Buch geht davon aus, daß sich die

Bedingungen des post-fordistischen kritischen Denkens seit 1989 dramatisch verändert haben, und

daß viele der Themen der 60er Jahre, die in der Folgezeit das kritische Denken einige Jahrzehnte lang

umgetrieben haben, anachronistisch geworden sind. Derrida möchte mit seinem Begriff des

 Spektralen, Gespenstigen die Grundlage für eine Antwort auf diese veränderten Bedingungen liefern.

Letztlich ist dieser Begriff jedoch gesellschaftlich und historisch zu unbestimmt, um als Basis einerangemessenen Kritik der Gegenwart zu dienen. Die Schwächen in Derridas kritischem Ansatz treten

aufs deutlichste hervor, wenn er die gegenwärtige Welt unmittelbar erörtert. Wie wir gesehen haben,

 behandelt er Grundprobleme der Gegenwart rein deskriptiv; d.h. er zählt zehn “Seuchen”der neuen

 Weltordnung auf. Seine Liste läßt jedoch im Unklaren, ob diese Probleme zusammenhängen; er erklärt

nicht, welche Kategorien seiner kritischen Beschreibung zugrunde liegen oder ob es Kategorien sind,

die seiner kritischen Philosophie immanent sind.

“Marx’ Gespenster” wirft selbst diese Fragen auf, und zwar eben deswegen, weil Derridas Kritik desNeoliberalismus über eine textimmanente Kritik hinausgeht und den Begriff der empirischen

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 Angemessenheit bemüht. Derrida kritisiert an Schriftstellern wie Fukuyama oder Allan Bloom, daß sie

eine Ideologie formulieren, die auf “manische Leugnung” der finsteren Bedingungen der heutigen Welt

hinausläuft. (S. 132). Er konterkariert Fukuyamas optimistisches Bild, indem er den Zustand der

gegenwärtigen Welt beschreibt als internationale Pauperisierung, als ökonomischen Konflikt, als

fundamentale Krise der modernen politischen Ordnung, die von den ökonomischen Veränderungen

und der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien ausgelöst wurde. (S. 92 ff; 107 ff; 124;

133 ff; 178 ff). Damit stellt Derrida das neoliberale Bild von der Welt ganz klar als von Grund auf 

 verzerrt dar, während seine eigene Position auf einer besseren, angemesseneren Analyse der heutigen

 Welt beruhe. Implizit geht diese Position einen Schritt über die Grenzen einer dekonstruktivistischen,

immanenten Kritik hinaus und wirft damit notwendigerweise die Frage nach der Angemessenheit der

Gesellschaftskritik an ihren Gegenstand auf. Diese Frage wird jedoch von Derrida nicht aufgegriffen.

Um sie anzusprechen, müßte Derrida auch explizit die geschichtliche Dynamik der gegenwärtigen Weltthematisieren. Seine Intervention ist, wie wir gesehen haben, eine Antwort auf die seit 1989 dramatisch

 veränderte historische Situation. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Europäischen

Kommunismus sollten jedoch nicht als etwas in sich Abgeschlossenes, als lokale demokratische Siege

 von Gesellschaften über Staaten, angesehen werden. Vielmehr müssen sie im Zusammenhang mit

einer allgemeineren geschichtlichen Entwicklung der letzten 25 Jahre verstanden werden, die den

Niedergang des fordistischen Regimes von starken Zentralstaaten, nationalen Verbänden und

Industriegewerkschaften einschließt und durch zunehmende Globalisierung wie auch durch die

 wachsende Differenzierung von Reichtum und Macht gekennzeichnet ist.

Diese allgemeine Entwicklung, die zu der von Derrida angegriffenen neuen Weltordnung geführt hat,

läßt sich als eines von mehreren aus der Perspektive des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts

 beschreibbaren historischen Groß-Mustern fassen. Wenn die ersten zwei Drittel dieses Jahrhunderts

dadurch gekennzeichnet waren, daß Nationalstaaten in zunehmendem Maße in sozioökonomische

Prozesse intervenierten und sie kontrollierten, so hat die Periode seit Anfang der 70er Jahre die

Schwächung, Unterminierung und – in den vormals kommunistischen Ländern Europas – sogar denKollaps solcher etatistischen Regimes erlebt. Diese Muster waren allgemein und übergreifend; sie

hingen nicht grundsätzlich davon ab, welche Parteien oder Individuen an der Macht waren. Daher

können sie nicht angemessen nur aus lokalen Faktoren und Zufälligkeiten verstanden werden. Letztere

können zwar Varianten in diesen gemeinsamen Mustern erklären, nicht jedoch die Muster selbst.

In diesem Licht hat sich die Annahme, die politische Sphäre habe den Primat über die

sozioökonomische Dynamik des Kapitalismus errungen (eine Annahme, die sich in den 60er Jahre im

 Westen und vorher im Osten allgemein durchgesetzt hatte und vom größten Teil des Post-Marxismusübernommen worden war) als historisch unangemessen erwiesen. Die folgenden Jahrzehnte haben

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gezeigt, daß der Versuch, die den Kapitalismus kennzeichnende historische Dynamik mit staatlichen

Mitteln, wie der keynesianische Staatsapparat des Westens und der stalinistische Parteienstaat im

Osten sie verkörperten, offensichtlich fehlgeschlagen ist. Diese allgemeinen historischen

Entwicklungen verlangen nach einer Erklärung, die eine historische Dynamik, welche den Versuchen

politischer Kontrolle offenkundig widerstanden hat, angemessen begreift.

Derridas Kritik des Neoliberalismus in “Marx’ Gespenster” ist eng verknüpft mit seinem Verständnis

der jüngsten allgemeingeschichtlichen Entwicklungen. Aber er liefert keinen Rahmen zur Analyse

dieser Entwicklungen. Sein Begriff des Spektralen ist sehr nützlich als Kritik präsentistischer

Konzeptionen des Gegebenen und als Erinnerung, daß vieles am Marxismus dessen eigene Intentionen

untergrub, indem es sich aus der Gegenwart begründete und so eine Vision von der Zukunft

propagierte, die nicht grundsätzlich mit dem Gegenwärtigen brach. Damit liefert Derridas Begriff der

Ungleichzeitigkeit der lebendigen Gegenwart mit sich selbst einen Standpunkt, von dem aus

Neoliberalismus und traditioneller Marxismus ebenso wie Metaphysik und Phänomenologie kritisiert

 werden können.

Derridas Analyse gibt jedoch kein Mittel an die Hand, das Spektrale als kritische Kategorie zu

spezifizieren. Dazu müßte es mit einer sozialen und historischen Analyse derjenigen empirischen

Phänomene verknüpft werden, denen seine Kritik gilt. Zu diesem Zweck reicht es einfach nicht aus,

 wenn Derrida versichert, daß er im marxistischen Code spricht, oder daß die Problemstellungen aus

der marxistischen Tradition auf lange Zeit unverzichtbar sind für die Analyse sozialer Spannungen und

 Antagonismen. (S. 92 ff; 107 ff). Vielmehr wirft seine Kritik der neuen Weltordnung und ihrer

hegemonialen Ideologie, (nachdem er ja in einem Werk, das Marx anzueignen beansprucht, das

Problem historischer und empirischer Angemessenheit selbst angesprochen hat), die Frage nach dem

 Verhältnis dieser Kritik zu Marxens kategorialer Analyse des Kapitalismus wie auch zu Marxens

emanzipatorischem Geist auf. D.h. die besondere Eigenart von Derridas Kritik verlangt implizit genau

den Schritt, den er vermeidet. Er müßte nämlich das Verhältnis der Kategorien seiner kritischen

Philosophie zu denen der Marxschen kritischen Theorie der Gesellschaft problematisieren, und zwar

auf eine Weise, die sowohl mit seiner Kritik des Marxschen Präsentismus wie auch mit der desheutigen globalen Kapitalismus im Einklang ist.

Die Marxschen Kategorien, wie immer man sie auch interpretiert, können nicht einfach dazu benutzt

 werden, ein Bild von “Hintergrundbedingungen” zu pinseln, die dann einem völlig andersgearteten

theoretischen Gerüst eingefügt werden. Sie sind historisch bestimmte soziale und

erkenntnistheoretische Kategorien mit weitreichenden theoretischen Implikationen, die mit dem

 Versuch unverträglich sind, die Welt auf historisch unbestimmte Weise zu begreifen. Überdies

 beanspruchen diese Kategorien selbstreflexiv zu sein. Eine selbstreflexive Kritik versucht, ihre eigene

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Möglichkeit zu begründen – die Möglichkeit einer fundamentalen Kritik ihres sozialen Universums -,

und zwar vermittels derselben Kategorien, mit denen sie dieses Universum zu begreifen versucht.

Diese Art von selbstreflexiver kritischer Theorie ist also ihrem eigenen Gegenstand immanent. Sie muß

daher zeigen, daß die Möglichkeit einer grundsätzlichen Transformation des Gegenwärtigen als

 bestimmte Möglichkeit dem Gegenwärtigen selber innewohnt. Die Möglichkeit einer fundamentalen

immanenten Kritik der gegenwärtigen Ordnung und die einer fundamentalen Transformation dieser

Ordnung hängen im Innersten zusammen.

Derridas kritischer Beschreibung der neuen Weltordnung geht dieses selbstreflexive Moment ab.

Damit hängt zusammen, daß diese Beschreibung, obwohl Derrida am Geist von Marx dessen kritische

und infragestellende Haltung ebenso positiv hervorhebt wie seine Affirmation des Emanzipatorischen

und des Messianischen (S. 144 f), keinen inneren Zusammenhang aufweist mit seiner eigenen

(messianischen) Affirmation einer emanzipatorischen Möglichkeit. Sein Ansatz zielt zwar auf eine

starke Position, liefert aber keine Kategorien, die die eigene gesellschaftliche und historische Kritik 

angemessen stützen könnten. Weder begründet er die Kategorien, mit denen er die gegenwärtige Welt

 begreift, noch begründet er reflexiv die eigene Kritik und somit die Möglichkeit einer fundamental

anderen Zukunft.

Der Begriff einer fundamental anderen Zukunft als bestimmte, der Gegenwart immanente Möglichkeit 

sollte nicht durcheinander geworfen werden mit der Frage der Wahrscheinlichkeit einer

fundamentalen Transformation. Der Begriff der bestimmten Möglichkeit ist geeignet, den

problematischen Charakter einer jeden Vorstellung von der Zukunft als Bruch mit dem Gegenwärtigen,

die nicht im Gegenwärtigen wurzelt, auszuleuchten. Er instistiert darauf, daß jede zukünftige Ordnung,

sei sie auch fundamental anders als unsere Gegenwart, begründet werden kann allein in den

Spannungen, Möglichkeiten und Kämpfen der Gegenwart. In diesem Sinn wird jede Zukunft

notwendigerweise historisch immanent sein, unabhängig von dem Grad, in welchem die historischen

 Akteure glauben mögen, sie unternähmen einen radikalen Sprung aus der Geschichte hinaus.

Die Frage ist also, ob eine Gesellschaftskritik der Gegenwart möglich ist, die auf eine Zukunft, welchefundamental anders ist als die Gegenwart, verwiese und dennoch die Möglichkeit dieser Zukunft in der

Gegenwart verankerte. Eine solche Kritik müßte die Gegenwart begreifen, ohne sie einfach zu

reproduzieren und zu affirmieren. Mit anderen Worten: die kritische Prüfung von Derridas “Marx’ 

Gespenster” ,wie sie in diesem Aufsatz versucht wird, wirft die Frage auf, ob eine kritische Theorie

möglich ist, die im Einklang wäre mit einem bestimmten Geist der Dekonstruktion und seiner Kritik 

des Präsentismus, und zugleich ein solideres Fundament für eine kritischen Analyse der gegenwärtigen

 Welt liefert. Ich habe die Auffassung vertreten, daß eine solche Kritik eine grundsätzlichere soziale und

historische Wendung erfordern würde, als Derrida sie unternommen hat. Derrida hütet sich

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offensichtlich vor einer solchen Wendung, weil er Angst hat, sie müßte notwendigerweise auf eine

 Wendung zum Präsentismus hinauslaufen. Diese Annahme ist fragwürdig und schwächt seinen

 Versuch, eine angemessene Kritik der Gegenwart und ihrer historischen Dynamik zu formulieren.

In “Marx’ Gespenster” erkennt Derrida die Bedeutung einer Kritik des heutigen Kapitalismus wie auch

die Kraft der Marxschen Analyse an. Weil er sich aber der verschiedenen Fallstricke, des traditionellenMarxismus nur zu bewußt ist, ging er offenbar davon aus, er habe keine andere Wahl, als Elemente der

marxistischen Analyse seinem eigenen spektralen Ansatz einfach anzuhängen. Um einen alternativen

theoretischen Ansatz vorzustellen, werde ich kurz einige Elemente einer Marx-Interpretation

darstellen, die sich von der dem Derridaschen Ansatz zugrundeliegenden traditionellen Interpretation

sehr unterscheidet.(9) Der Zweck einer solchen Interpretation ist nicht, Marx gegen Derridas Kritik 

irgendwie zu “verteidigen”, sondern das Fundament für eine kritische Theorie zu liefern, die die neue

 Weltlage angemessener gesellschaftlich und historisch zu begreifen vermag und dennoch im Einklang

sein kann mit der kritischen Intention von Derridas Begriff des Spektralen und seiner Kritik des

traditionellen Marxismus.

Im Rahmen dieser Interpretation beziehen sich die Marxschen Kategorien in seinem reifen Werk auf 

historisch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse und dürfen nicht auf überhistorische, “materielle”

 Weise verstanden werden. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse, die mit Kategorien wie “Ware” und

“Kapital” gefaßt werden, sind nicht in erster Linie Klassenverhältnisse – wie das traditionell

marxistische Verständnis annimmt -, sondern eigentümliche, quasi-objektive Formengesellschaftlicher Vermittlung. Sie werden von bestimmten Formen gesellschaftlicher Praxis

konstituiert und üben eine historisch neue, abstrakte, “strukturelle” Form des Zwangs auf die

Handelnden aus, die sie konstituieren. Nicht Markt und Privateigentum machen das Wesen des

Kapitalismus aus. Daher ist der Standpunkt einer Kritik des Kapitalismus nicht die (industrielle)

Produktion und das Proletariat; vielmehr sind diese selber als integraler Bestandteil der

kapitalistischen Basisverhältnisse anzusehen und von ihnen durchformt.

In diesem Rahmen würde eine mögliche nachkapitalistische Zukunft nicht die Verwirklichung desIndustrieproletariats und der von ihm geleisteten Arbeit – also die Verwirklichung der modernen

industriellen Welt in rationaler Form – bedeuten. Vielmehr würde sie die Überwindung einer

historisch spezifischen Struktur abstrakt rationaler Zwänge und der konkreten Formen von

Produktion, Arbeit und gesellschaftlichem Leben überhaupt, wie sie von diesen Zwängen historisch

geformt worden sind, nach sich ziehen. Die Marxsche kritische Theorie des Kapitalismus wird also

nicht verstanden als die kritische Analyse einer auf dem Klassengegensatz beruhenden Variante der

modernen Gesellschaft, sondern als Analyse der modernen Gesellschaft selbst.

Die Kategorien der Marxschen Analyse sind nach dieser Interpretation historisch spezifisch in dem

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Sinn, daß sie für die moderne, kapitalistische Gesellschaft allein gelten und diese Form

gesellschaftlichen Lebens analytisch von anderen unterscheiden. Auf einem hohen Abstraktionsniveau

 beanspruchen sie die zentralen Wesenszüge der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Dynamik zu

 begreifen – jene Züge, die den Kapitalismus unabhängig von seinen je besonderen historischen

Gestalten (wie dem “liberalen” Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, dem “etatistischen” oder

“fordistischen” Kapitalismus des zwanzigsten oder dem “postfordistischen” bzw. “postmodernen”

Kapitalismus des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts) charakterisieren. Obwohl diese Kategorien

nicht ausreichen würden, irgendeine dieser spezifischeren Ausprägungen zu analysieren, liefern sie

doch den notwendigen Ausgangspunkt für jede solche Analyse und für die Analyse der dynamischen

Prozesse, durch welche eine solche Gestalt in eine andere übergeht.

Indem Marx die Grundkatagorien seiner kritischen Theorie in seinem reifen Werk historisiert,

historisiert er nach dieser Interpretation auch den Begriff der historischen Dynamik. Er verwirft

implizit die überhistorische Auffassung, die menschliche Geschichte im allgemeinen habe eine eigene

Dynamik, um stattdessen die historisch spezifische, allein für den Kapitalismus charakteristische

Dynamik zu analysieren. Die Kategorien von Marxens reifer Kritik der politischen Ökonomie – die

häufig nur als Kategorien des Marktes und der Klassenausbeutung (Privateigentum) verstanden

 werden – geben auf einem hohen Abstraktionsniveau die Grundlage ab für die Analyse der zentralen

 Wesenszüge und der treibenden Kraft dieser historisch spezifischen Dynamik.

Überhistorische Auffassungen von Geschichte – seien sie nun hegelianisch oder traditionell

marxistisch – laufen letztlich auf eine Affirmation von Dynamik (und von Totalität) hinaus, gegen die

Denker wie Derrida reagiert haben. Das historisch spezifische Verständnis von geschichtlicher

Dynamik, das ich oben skizziert habe, nimmt diese Problematik aus dem Bereich metaphysischer

Behauptungen über die Natur der gesellschaftlichen Wirklichkeit (daß z.B. diese totalisierend sei, oder

aber heterogen) heraus und versucht stattdessen, einen historisch einzigartigen dynamischen Prozeß

zu begreifen. Einem solchen Verständnis gilt geschichtliche Dynamik keineswegs als etwas Positives,

als “Lokomotive” menschlicher Existenz; sie wird vielmehr kritisch begriffen, als Form von

Heteronomie, als Herrschaft der abstrakten Zeit.

 Andererseits wirft dieses Verständnis Licht auf eine wichtige Dimension der Demokratie – nämlich die

Selbstbestimmung. Nach dieser Interpretation besteht eine Spannung zwischen Kapitalismus und

Demokratie nicht nur wegen der strukturellen Ungleichheiten von Reichtum und Macht, die der

Kapitalismus erzeugt, sondern weil die Existenz einer geschichtlichen Dynamik den strukturellen

Möglichkeiten der Selbstbestimmung notwendigerweise wichtige Beschränkungen auferlegt. Weit

davon entfernt, die Abschaffung des Kapitalismus mit einem (apokalyptischen) Ende von Politik 

gleichzusetzen, verweist diese Analyse auf ein erweitertes Reich des Politischen als eine mögliche

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Konsequenz aus der Abschaffung der strukturellen Zwänge des Kapitalismus.

Dieses gewandelte Verständnis beinhaltet eine Rückkehr zum Begriff der Totalität – aber nicht als

affirmative Kategorie wie im orthodoxen Marxismus, wo das Problem des Kapitalismus in seinem

irrationalen und fragmentierten Charakter gesehen wird. Vielmehr ist Totalität hier Gegenstand der

Kritik. Dieser Ansatz steht, wie der Derridas, Homogenität und Totalisierung kritisch gegenüber.Jedoch begründet diese Kritik, statt einfach deren reale Existenz zu leugnen, Prozesse von

Homogenisierung und Totalisierung aus den historisch spezifischen Formen gesellschaftlicher

 Verhältnisse, und sie versucht zu zeigen, wie jenen Verhältnissen immanente strukturelle Spannungen

die Möglichkeit einer historischen Abschaffung jener Prozesse eröffnen.

Das Kernproblem vieler neuer kritischer Ansätze (einschließlich dessen von Derrida), die

Heterogenität affirmieren, besteht darin, daß sie diese quasi-metaphysisch der Realität einschreiben

 wollen und dabei die Existenz dessen leugnen, was nur historisch abgeschafft werden könnte. So laufenPositionen, die einmal beabsichtigten, die Menschen zu ermächtigen, schließlich auf eine gründliche

Entmächtigung hinaus, insofern nämlich, als sie zentrale Dimensionen von Herrschaft in der

modernen Welt ausklammern und unsichtbar machen.

Die Differenz zwischen Hegel und Marx ist die zwischen einer überhistorischen, affirmativen

Konzeption von geschichtlicher Dynamik und einer historisch spezifischen und kritischen. Dieser

entscheidende Unterschied wurde von Fukuyama, Kojève und großen Teilen des orthodoxen

Marxismus verwischt. Auch Derrida gleicht Marx an Hegel an und nimmt an, daß jeder Begriff einergerichteten historischen Dynamik linear, teleologisch und affirmativ – und damit letztlich

präsentistisch – sein muß. Folglich stellt Derrida der Geschichte als linearer Verknüpfung abstrakt-

homogener Zeiteinheiten die Ereignishaftigkeit gegenüber – ein Gegensatz, der die klassische

 Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit reproduziert. Innerhalb dieses dichotomischen Schemas

kann grundlegender Wandel sich nur als Ergebnis eines völlig unerwarteten Bruchs ereignen; er ist

keine der Gegenwart innewohnende Möglichkeit.

Diese Annahmen unterhöhlen Derridas Fähigkeit, die Dynamik des Kapitalismus und somit eine

zentrale Dimension der Herrschaft in der modernen Welt auf eine Weise kritisch zu begreifen, die auch

die immanente Möglichkeit eines grundlegenden qualitativen Wandels begründen könnte. Weil

Derrida jene Dynamik durch die Optik affirmativer Formen von orthodoxem Marxismus sieht und

 versteht – den er als präsentistisch verwirft -, wirft er zu viel von Marxens Analyse über Bord bei

seinem Versuch, den “Geist von Marx” anzueignen; er versteht eine historisch-spezifische kritische

 Analyse als überhistorisch und letztlich affirmativ.

Dieses Verständnis tritt an Derridas verschiedenen Kritiken Marxscher Texte deutlich hervor. Derridas

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Überlegungen zur Marxschen Geldanalyse in “Zur Kritik der politischen Ökonomie” , zur kritische

Untersuchung zu Max Stirner in der “ Deutschen Ideologie” und auch zur Analyse des Warenfetischs im

“Kapital” beschränken sich auf die Behauptung, die Marxsche Kritik von Geistern, Gespenstern und

Mystifikationen beruhe auf dem Standpunkt der lebendigen Gegenwart. Indem er Marx durch die

Optik von Henry Blanchots Interpretation (und, allgemeiner gesprochen, der Sorte von

phänomenologischen Interpretationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für mehrere Jahrzehnte in

Frankreich weit verbreitet waren) liest, gleicht er Marx den von ihm in seinen früheren Werken

kritisierten phänomenologischen Positionen an.

In jedem der von Derrida zitierten Texte ist jedoch das, was er für die “lebendige Gegenwart” hält, im

Kontext Marxscher Analyse eine eigentümliche, historisch spezifische, abstrakte Form

gesellschaftlicher Verhältnisse, die (notwendigerweise) in verdinglichter Form existiert. Derrida nimmt

zum Beispiel an, daß Marxens Kritik des Geldes dieses der lebendigen Wirklichkeit entgegensetzt. (S.

79 ff). Damit verwechselt er jedoch Marx mit Proudhon. Dieser hielt das Geld für den eigentlichen

Ursprung der abstrakten, homogenisierenden Tendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaft

und verband den Gegensatz von Geld und lebendigen Arbeit mit der Forderung nach der Abschaffung

des Geldes. Marx hingegen legt in seiner Kritik an Proudhon dar, daß es sich beim Geld als einem

allgemeinen (homogenisierenden) Äquivalent um den Ausdruck einer eigentümlichen, historisch

spezifischen Form gesellschaftlicher Beziehungen handelt, die beide Pole von Proudhons

Gegenüberstellung formt. Von daher ist es unmöglich, die Erscheinungsform der abstrakten

gesellschaftlichen Vermittlung abzuschaffen ohne die Abschaffung des zugrundeliegenden Verhältnisses, das sie ausdrückt.

 Ähnlich kritisiert Derrida die Marxsche Stirnerkritik: Sie soll ihrer Form nach Stirners Hegelkritik 

ähnlich sein. Marx ist jedoch weit davon entfernt, Stirner vom Standpunkt eines

“hyperphänomenologischen Prinzips der Gegenwart des lebendigen und leibhaftigen Individuums” zu

kritisieren, wie Derrida es gerne hätte. Vielmehr behauptet er, daß das moderne Individuum

gesellschaftlich und historisch durch soziale Verhältnisse konstituiert ist, die es wiederum konstituiert.

 Auf dieser Grundlage kritisiert Marx Stirner, weil er das Individuum als gegeben, als ontologischirreduziblen Ausgangspunkt voraussetzt anstatt als geschichtliches Resultat.

Mit anderen Worten: Derrida nimmt beharrlich das als den “materiellen”, ontologischen Standpunkt

 von Marxens Kritik, was Marx selbst als verdinglichten Ausdruck einer historisch spezifischen Form

 von gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert. Folglich untergräbt Derridas “materialistische” Marx-

Interpretation seine Fähigkeit, die Dynamik des Kapitals als “realer” Verdinglichung auf eine Weise zu

 begreifen, die den klassischen Gegensatz von Notwendigkeit und Zufall überwinden würde. Dies tritt

 besonders deutlich an Derridas Erörterung des “Kapitals” zutage.

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Derrida unterstellt, im “Kapital” würdeder Gebrauchswert den onotologischen Standpunkt von

Marxens Kritik der Warenform und ihrer Mystifikation abgeben. Indem er den Gebrauchswert auf 

Technik reduziert, identifiziert Derrida die Marxsche Kapitalismuskritik mit der orthodox

marxistischen Aufwertung der industriellen Produktion. Auf dieser Grundlage behauptet er, daß die

Marxsche Kritik der Unmittelbarkeit der Gegenwart verhaftet bleibt; ihre Zukunftsvision kann nicht

 wirklich den Weg aus der Herrschaft des Gegenwärtigen hinaus aufzeigen. Derrida versucht darum,

Marxens Kritik zu dekonstruieren, indem er (auf übergeschichtliche Weise) betont, daß der

Gebrauchswert (und somit auch die Produktion) nicht einfach da ist, sondern selbst eine “spektrale” 

Dimension hat. Indem er diese Dimension eliminierte, habe Marx sich selbst an die Gegenwart

gebunden – nur um von dem Gespenst, das er auszutreiben versucht hatte, selber heimgesucht zu

 werden.

Derridas Verständnis der Marxschen Kapitalismuskritik und seines Geschichtsbegriffs ist von Grund

auf orthodox. Er hält den Althusserianismus für die raffinierteste Gestalt des Marxismus und ignoriert

in einem Buch, das sich mit der Warenform herumschlägt, das Werk von Lukács und Adorno. Weil er

 voraussetzt, daß Marx einen teleologischen Geschichtsbegriff hatte, der die geschichtliche Zeit als

sukzessive Verknüpfung von mit sich selbst identischen Gegenwarten begreift, setzt Derrida seine

Lektüre des “Kapitals” nicht über das erste Kapitel hinaus fort.

 Aber es ist höchst problematisch, nach dem ersten Kapitel aufzuhören, das auf den ersten Blick 

tatsächlich als eine simple, statische Gegenüberstellung des abstrakt-sozialen und des physisch-

naturalen verstanden werden könnte. Marxens Untersuchung der Warenform ist nur der

 Ausgangspunkt für seine Analyse des Kapitals. Und diese Analyse versucht, wie oben festgestellt, die

historisch spezifische Dynamik der modernen Gesellschaft zu umreißen und zu begründen. Die

Dynamik, die sie zeichnet, unterscheidet sich jedoch beträchtlich vom traditionell marxistischen

Szenario und ist in Wirklichkeit weitgehend im Einklang mit Derridas Haltung.

Ich habe dargelegt, daß die Marxsche Analyse der Warenform und des Kapitals nicht eine Kritik vom

Standpunkt der Arbeit, der Objekte, der materiellen Produktion (in übergeschichtlichem Sinn verstanden) ist. Sie ist vielmehr die Theorie einer historisch spezifischen abstrakten Form

gesellschaftlicher Vermittlung – einer Form gesellschaftlicher Verhältnisse, die insofern einzigartig ist,

als sie durch Arbeit vermittelt ist. Laut Marx kennzeichnet die moderne kapitalistische Welt, daß

 Arbeit nicht nur die Subjekt-Objekt- Beziehung von Menschen und Natur, sondern auch die

Beziehungen unter den Menschen vermittelt. Dies verleiht den modernen gesellschaftlichen

 Verhältnissen und den Herrschaftsformen, die das moderne gesellschaftliche Leben letztlich formen

und einengen, eine eigentümlich abstrakte Qualität.

Die Ware als die basale gesellschaftliche Form der kapitalistischen Moderne ist deshalb aber kein

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einheitliches, homogenes Ganzes. Vielmehr verkörpert sie als eigentümliche, durch Arbeit konstituierte

gesellschaftliche Vermittlung sowohl eine stoffliche als auch eine gesellschaftliche Dimension. Dieser

historisch spezifische, gesellschaftlich vermittelte Dualismus ist nicht einfach eine statische

Gegenüberstellung. Vielmehr stehen nach Marxens Analyse Gebrauchswert und Wert in einer

 Wechselwirkung. Sie ist im dualen Charakter der Warenform verankert und erzeugt eine komplexe

innere Dynamik. In ihr geht, wie Derrida sagen würde, das Gespenst des Wertes um, das als

automatisches Subjekt agiert und einmal in der Form unterschiedlicher Waren, einmal in der

Geldform erscheint. Im Gegensatz zu Derridas Lesart steht der Gebrauchswert nicht außerhalb dieser

Dynamik, sondern ist ganz entschieden ein Teil von ihr; damit hängt zusammen, daß die Technik vom

 Wert geformt ist (und nicht, wie der traditionelle Marxismus glaubt, außerhalb der gesellschaftlichen

 Verhältnisse des Kapitalismus steht).

Diese Dynamik ist eine zentrales Charakteristikum der abstrakten Herrschaft des Kapitals. Es handelt

sich nicht einfach um eine lineare Abfolge von Gegenwarten, sondern um eine komplexe Dialektik von

zwei Formen konstituierter Zeit. Dazu gehört die Akkumulation von Vergangenheit in einer Form, die

die ständige Rekonstitution der grundlegenden Züge des Kapitalismus als offensichtlich notwendiger

Gegenwart umfaßt, die von der Herrschaft abstrakter, homogener, konstanter Zeit (von Zeit als

Gegenwart) gezeichnet ist, auch wenn sie vorangewirbelt wird von einer anderen Form von Zeit, die

konkret, heterogen und gerichtet ist. Diese letztere Bewegung der Zeit ist die “historische Zeit”. Als

solche ist sie jedoch kein Gegenprinzip zur kapitalistischen Zeit (wie Lukács es gerne hätte), sondern

eine andere Form konstituierter Zeit, ebenfalls Teil des Kapitalverhältnisses, welche im Wechselspielmit der abstrakten Zeit die übergreifende, nicht-lineare Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft

konstituiert. Sowohl historische als auch abstrakte Zeit sind Formen von Herrschaft.

Im Kontext dieser Analyse von Zeitlichkeit und Kapitalismus ist also die je aktuelle Gegenwart nie

einfach nur gegenwärtig. Vielmehr wird sie als fortlaufende “Kette von Gegenwarten” selbst

konstituiert von einer komplexen Wechselwirkung zwischen dem, was Derrida Spektralität  nennt, und

dem Gegenwärtigen. Einerseits umfaßt diese Dynamik die Akkumulation von Vergangenheit, die die

Lebenden durch die ständige Rekonstitution von Gegenwart beherrscht. In diesem Sinn sollte Marxens wohlbekannte Feststellung aus dem “Achtzehnten Brumaire” – daß die Tradition aller toten

Geschlechter wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden lastet – verstanden werden. Marx verwirft

nicht einfach die Vergangenheit. Stattdessen analysiert er das, was Derrida als die Herrschaft der

Gegenwart kritisiert, als Beherrschung der Lebenden durch die Vergangenheit in einer Form, die

Gegenwart in Gestalt der Notwendigkeit rekonstituiert. Andererseits unterhöhlt nach dieser Lesart

genau die gleiche Akkumulation von Vergangenheit die Notwendigkeit des Gegenwärtigen und macht

eine andere Zukunft möglich. Die Aneignung von Vergangenheit erschließt hier den Zugang zurZukunft.

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Diese Kritik begründet sich nicht aus der Kluft zwischen Idealen und der Realität, sondern aus einer

anwachsenden zeitlichen Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, die durch die

 Akkumulation vergegenständlichter Vergangenheit erzeugt wird. Ihr Standpunkt ist nicht, wie Derrida

meint, der lebendige Leib, Gegenwart, Arbeit, Produktion, sondern die zum Vorschein kommende

Möglichkeit einer ganz anderen Zukunft. Diese Zukunft würde nicht auf der Verwirklichung des

Gegenwärtigen – der Geschichte und der proletarischen Arbeit – fußen, sondern darauf, daß diese als

 Ausdruck abstrakter Herrschaft abgeschafft würden.

Dieser Ansatz historisiert also die Geschichte – und dies obendrein auf eine Art, die den unglücklichen

Dualismus von Geschichte (Notwendigkeit) und Ereignis (Kontingenz) vermeidet, den Derrida wieder

eingeführt hat. Nach dieser Interpretation ist Derridas Begriff der Spektralität auch nicht differenziert

genug: sowohl die Rekonstituierung der Gegenwart als auch ihre Unterminierung fallen nämlich beide

unter diesen Begriff. Zudem wird das nicht-lineare dynamische Grundmuster durch eine weitere

Dimension dessen, was man das Spektrale nennen könnte, verdunkelt, nämlich die verschiedenen

Formen von Fetischismus: die stoffliche Dimension der gesellschaftlichen Vermittlung verhüllt ihre

historisch spezifische gesellschaftliche Dimension. Diese wichtigen Unterscheidungen können jedoch

 von der Kategorie der Spektralität bzw. von einem Ansatz wie dem Derridas, der die Spektralität 

schlicht der lebendigen Gegenwart gegenüberstellt, nicht erfaßt werden.

Die Schwächen des Begriffs der Spektralität hängen mit der Art von Marxismus zusammen, auf die

Derrida reagiert. Wenn er sich auf die spektralen Effekte der Ware bezieht, unterstellt er, konkrete

 Arbeit und Gebrauchswerte wären für Marx irgendwie unabhängig von Wert und Warenform und

ihnen äußerlich und könnten angemessen vom phänomenologischen Alltagsverstand begriffen werden.

(S. 235 ff). Dieses Verständnis, das auf eine radikale Trennung zwischen der stofflichen Dimension

(Produktion, Arbeit) und der gesellschaftlichen Dimension (Markt, Privateigentum) hinausläuft, steht

im Zentrum des traditionellen Marxismus und wurde auch von Althusser nicht infragegestellt. Es kann

nicht als Grundlage für die Kritik der modernen Produktion dienen und neigt dazu, den Begriff 

historischer Dynamik eher affirmativ als kritisch (als Form abstrakter Herrschaft) aufzufassen.

Indem Derrida seinen Ansatz gegen diese Art von Marxismus, auf die sich seine an der

Phänomenologie entwickelte Kritik übertragen läßt, ausspielt, kommt er zu einer Auffassung von

 Spektralität, die der von ihm behandelten Problematik nicht völlig gerecht wird. Er formuliert eine

Theorie der Hantologie (10), um das zu unterminieren, was er für die “Ontologie” von Sein und Zeit

hält. Vom Standpunkt der hier skizzierten Lesart lassen sich einerseits durchaus Parallelen zwischen

Derridas Versuch und dem Marxschen ziehen, er hat aber andererseits ironischerweise viel weniger

historische Erklärungskraft. Der von mir nur skizzierte Ansatz in der Kritik der politischen Ökonomie

ist in vieler Hinsicht im Einklang mit Derridas Haltung. Er unterscheidet sich aber insofern, als er

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gesellschaftlich und historisch bestimmt ist. Er geht über die Entgegensetzungen hinaus, die Derridas

 Ansatz zugrunde liegen, auch wenn dieser versucht, sie zu dekonstruieren. Er liefert die Grundlage für

die Analyse der kapitalistischen Dynamik und damit auch für die Analyse der anhaltenden historischen

Umformungen der gegenwärtigen Welt, der Entstehung einer neuen Gestalt des Kapitalismus in den

 vergangenen Jahrzehnten. Zugleich ermöglicht er die Konzeption einer ganz anderen Zukunft – einer

Zukunft, die mit der abstrakten, homogenen Zeit grundsätzlich bricht, wie es auch Derridas Ansatz

anvisiert. Im Unterschied zu diesem Ansatz ermöglicht die hier skizzierte Theorie jedoch eine exakte

gesellschaftliche und historische Analyse der gegenwärtigen Welt, die den Begriff einer ganz anderen

Zukunft als einer historisch bestimmten Möglichkeit zuläßt.

 Aus dem Blickwinkel einer solchen kritischen Theorie sind die Stärken von Derridas Intervention

zugleich ihre Schwächen. Heidegger hat, wie Habermas behauptet, die Philosophie wieder in ihre

herrschende Position eingesetzt, aus der sie von der (gesellschaftlich und historischen) Kritik der

Junghegelianer vertrieben worden war (11). Die Grenzen von Derridas nach-heideggerischem Versuch,

die Philosophie wieder abzusetzen, werden von seinen (mißlungenen) Bemühungen aufgedeckt, sich

der neuen Weltordnung kritisch zu stellen und das Erbe von Marxens kritischem Geist für sich in

 Anspruch zu nehmen, d. h. gesellschaftliche und historische Fragen konkret aufzugreifen.

Unabsichtlich enthüllt sein Versuch, daß das Unternehmen, durch immanente Dekonstruktion der

philosophischen Erzählungen bestimmte verdinglichte kulturelle Selbstverständnisse zu

unterminieren, letztlich in den Grenzen des philosophischen Diskurses bleibt. Obwohl sein Begriff der Spektralität eine bedeutende kritische Spitze hat, die sich gegen jede gegebene Ordnung und gegen

 jede Auffassung von einem Endstadium der Geschichte richtet, ist er gesellschaftlich und historisch zu

unbestimmt, um als Grundlage für eine kritische Analyse der gegenwärtigen geschichtlichen

Entwicklungen dienen zu können. Der Begriff des Spektralen zeigt eine wichtige Dimension von

Gesellschaftskritik heute auf, ist aber als zentraler Begriff einer solchen Kritik nicht geeignet. Damit

macht er zugleich den Bedarf an einer zeitgemäßen kritischen Gesellschaftstheorie sichtbar.

 Aus dem Amerikanischen von Hanns-Friedrich v. Bosse und Ernst Lohoff 

1) Erstveröffentlichung in der US-amerikanischen Zeitschrift “History and Theory” (3/98).

2) Ich möchte Nicole Jamagin Deqtvaal, Martin Jay, Tom McCarthy und Neil Brenner für ihre

hilfreiche und einsichtige Kritik danken.

3) Die Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Ausgabe im Fischer TBV. (A.d.Ü.)

4) Die französischen Begriffe “spectral”, “Spectralité” (von spectre=Gespenst) sind im Deutschen mit“gespenstisch” nur ungenau wiederzugeben; deshalb werden im Folgenden die Termini ” spektral” bzw.

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“Spektraität” beibehalten. (A.d.Ü.)

5) Max Horkheimer, “Die Juden und Europa”, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 8 (1939/40), S.135

f.

6) deutsch: “Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?” München 1992

7) Walter Benjamin, “Über den Begriff der Geschichte”, in: Gesammelte Schriften Bd I, Frankfurt 1974,

S. 701 ff.

8) Die Übersetzung von differance mit “Differänz” folgt hier der deutschen Ausgabe von “Marx’

Gespenster”. Zum Verständnis der Derridaschen Terminologie muß auf die Originaltexte verwiesen

 werden. (A.d.Ü.)

9) In ausgearbeiteter Form findet sich diese Interpretation in: Moishe Postone, “Time, Labour andSocial Domination. A Reinterpretation of Marx’ Critical Theory”, Cambridge & New York 1993.

10) von franz. hanter = heimsuchen (A.d.Ü.)

11) Jürgen Habermas, “Der philosophische Diskurs der Moderne”, Frankfurt 1985, S. 158.