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58 Sonntag, 25. August 1974 Nr. 392 (Fernausgabe Nr. 233) WOCHENENDE State <;3iinl|er cSritimg Der Schmeichler: Wenn er seinen Gönner begleitet, sagt er zu ihm: «Merkst du, wie die Leute dich bewundern? Solche Ehre hat sonst niemand in der ganzen Stadt!» De r Unzufriedene: Teilt ihm jemand freudig mit: «Du hast einen Sohn bekommen», so erwidert er: «Und die Hälfte von deinem Vermögen ist hin, mußt du hinzufügen; dann stimmt es.» Der Unerzogene: Beim Essen erzählt er, er habe Nieswurz eingenommen. Das habe ihn oben und unten erleichtert; übrigens sei die Galle beim Stuhl- gang schwärzer gewesen als die Suppe auf dem Tisch. Der Unverschämte: Im Bad bringt er es fertig, mit dem Krug warmes Wasser aus den Kesseln zu schöpfen und sich unter dem Protest des Bade- meisters eigenhändig zu übergießen. Dann ruft er diesem zu: «Schon er- ledigt!» Und beim Fortgehen verhöhnt er ihn: «Heute gibt's kein Trinkgeld.» Prägeört: Athen und London Ein illustrierter Theophrast «Charakter» ist ein griechisches Wort und war ursprünglich ein Terminus technicus der Münzprägung. Münzen wurden in der Antike mit dem Hammer geschlagen, zwischen zwei Prägestem- peln: Der rohe «Schrötling» wurde auf einen unteren, fest mit dem Amboß verbundenen Stempel gelegt, der obere Stempel daraufgesetzt; dieser bewegliche Stempel hieß «charakter», «Prägestempel». Vom prägenden Instrument auf die geprägte Form übertragen, bedeutet das Wort dann auch «Prägung, Ge- präge». Der Charakter eines Menschen ist also, bewahren wir die ursprüngliche Bildlichkeit des Wortes, seihe «geprägte Ver- haltensform», sein sittliches «Gepräge», das sich immer wieder in «charakteristischen», «typischen» Handlungen ausprägt. (Die Worte «Typ, typisch» haben gleichen Ursprung: der «typos» ist der prägende «Schlag».) Der feine Menschenkenner Theophrast ist wohl der erste ge- wesen, der den ursprünglich technischen Terminus auf mensch- Jiches Verhalten bezog, als er im Titel seiner köstlichen kleinen Schrift «Ethikoi charakteres» das sittliche «Gepräge» des Men- schen bezeichnete ? die moderne Wiedergabe «Charaktere» läßt die Bildhaftigkeit des theophrastischen Titels nicht mehr ahnen. Theophrast, geboren um 371 v.Chr. in Eresos auf Lesbos, studierte und lehrte in Athen an der Schule des Aristoteles, dem «Peripatos»; nach dem Tode des Lehrers im Jahre 322 wurde er der zweite Leiter der Schule. Unter den Schriften des großen Universalgelehrten und Naturforschers ? wir besitzen noch zwei grundlegende Werke zur Botanik ? waren die «Charakterskizzen- eher ein Parergon. Aber von ihnen ist zumindest in der Neuzeit die stärkste Wirkung ausgegangen: Elias Canettis «Fünfzig Charaktere», erschienen vor wenigen Wochen, sind dafür das jüngste Beispiel. Die theophrastischen «Charaktere» sind wohl bald nach 319 v.Chr. entstanden; sie stehen zeitlich zwischen der «Nikomachi- Der Verkommene: Bei Jahrmarktaiisstellungen geht er von einem Zuschauer zum anderen und kassiert die Eintrittsgelder. Dabei pöbelt er mit denen herum, die ihre Freikarte vorzeigen und umsonst zusehen dürfen. Der Erfinder von Gerüchten: Wenn er -einen Freund trifft, fragt er ihn mit bedeutsamem Lächeln: «Ist denn wieder etwas Neues bekanntgeworden? Ja ja, das sind erfreuliche Nachrichten!» Und ohne den anderen antworten zu lassen, fährt er fort: «Was? Du hast noch nichts gehört? Ich glaube, dann kann ich dir reichlich Neuigkeiten auftischen!» Der Grobian: Wenn ihm jemand eine Freude machen und zu einem Fest- tag ein Geschenk schicken will, so meint er, er habe keine milden Gaben nötig. Der Freund dunkler Existenzen: Ist von anständigen Menschen die Rede, so behauptet er: «Von Natur aus ist keiner ein anständiger Mensch»; einer sei so wie der andere. Dagegen nennt er einen Schurken einen Mann, der seine Unabhängigkeit zu wahren wisse, wenn man ihn nur einmal auf die Probe steilen wolle. Der Geltungssüchtige: Der Geltungssüchtige grüßt einen schon von weitem. redet ihn «Mein Verehrtester!» an una versichert ihn seiner gebührenden Wertschätzung. Mit beiden Händen hält er ihn fest, um ihn nicht fortzu- lassen, begleitet ihn noch ein Stück, erkundigt sich, wann er wieder das Vergnügen haben werde, und zieht sich mit höflichen Redensarten zurück. ?*v» Der Mißtrauische: Im Bett fragt er sogar seine Frau, ob sie die Gcldtruln verschlüssen und den Silberschrank versiegelt habe und ob der Riegel am Hoftor vorgeschoben sei. Wenn sie es bejaht, steht er trotzdem selber nackt aus dem Bett auf und läuft mit dem Licht in der Hand barfuß herum, kon- trolliert alles persönlich und kommt auf diese Weise kaum zum Schlafen. Neue Zürcher Zeitung vom 25.08.1974

Prägeört: Athen und London

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Page 1: Prägeört: Athen und London

58 Sonntag,25.

August1974 Nr. 392 (Fernausgabe Nr. 233) WOCHENENDE State

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Der Schmeichler: Wenn er seinen Gönner begleitet, sagt er zu ihm: «Merkstdu, wie die Leute dich bewundern? Solche Ehre hat sonst niemand in der

ganzen Stadt!»

D er Unzufriedene: Teilt ihm jemand freudig mit: «Du hast einen Sohnbekommen», so erwidert er: «Und die Hälfte von deinem Vermögen ist hin,

mußt du hinzufügen; dann stimmt es.»

Der Unerzogene: Beim Essen erzählt er, er habe Nieswurz eingenommen.

Das habe ihn oben und unten erleichtert; übrigens sei die Galle beim Stuhl-gang schwärzer gewesen als die Suppe auf dem Tisch.

Der Unverschämte: Im Bad bringt er esfertig, mit dem Krug warmes

Wasser aus den Kesseln zu schöpfen und sich unter dem Protest des Bade-meisters eigenhändig

zuübergießen. Dann ruft er diesem zu: «Schon er-

ledigt!» Und beim Fortgehen verhöhnt er ihn: «Heute gibt'skein Trinkgeld.»

Prägeört: Athen und LondonEin illustrierter Theophrast

«Charakter» ist ein griechisches Wort und war ursprünglich

ein Terminus technicus der Münzprägung. Münzen wurden in der

Antike mit dem Hammer geschlagen, zwischen zwei Prägestem-

peln: Der rohe «Schrötling» wurde auf einen unteren, fest mitdem Amboß verbundenen Stempel gelegt, der obere Stempel

daraufgesetzt; dieser bewegliche Stempel hieß «charakter»,«Prägestempel». Vom prägenden Instrument auf die geprägte

Form übertragen, bedeutet das Wort dann auch «Prägung, Ge-präge». Der Charakter eines Menschen ist also, bewahren wir dieursprüngliche Bildlichkeit des Wortes, seihe «geprägte Ver-haltensform», sein sittliches «Gepräge», das sich immer wieder in«charakteristischen», «typischen» Handlungen ausprägt. (Die Worte«Typ, typisch» haben gleichen Ursprung: der «typos» ist derprägende «Schlag».)

Der feine Menschenkenner Theophrast ist wohl der erste ge-

wesen, der den ursprünglich technischen Terminus auf mensch-

Jiches Verhalten bezog, als er im Titel seiner köstlichen kleinenSchrift «Ethikoi charakteres» das sittliche «Gepräge» des Men-

schen bezeichnete ? die moderne Wiedergabe «Charaktere» läßt

die Bildhaftigkeit des theophrastischen Titels nicht mehr ahnen.Theophrast, geboren um 371 v.Chr. in Eresos auf Lesbos,

studierte und lehrte in Athen an der Schule des Aristoteles, dem«Peripatos»; nach dem Tode des Lehrers im Jahre 322 wurde er

der zweite Leiter der Schule. Unter den Schriften des großen

Universalgelehrten und Naturforschers ? wir besitzen noch zweigrundlegende Werke zur Botanik ? waren die «Charakterskizzen-eher ein Parergon. Aber von ihnen ist zumindest in der Neuzeitdie stärkste Wirkung ausgegangen: Elias Canettis «Fünfzig

Charaktere», erschienen vor wenigen Wochen, sind dafür dasjüngste Beispiel.

Die theophrastischen «Charaktere» sind wohl bald nach 319

v.Chr. entstanden; sie stehen zeitlich zwischen der «Nikomachi-

Der Verkommene: Bei Jahrmarktaiisstellungen geht er von einem Zuschauerzum anderen und kassiert die Eintrittsgelder. Dabei pöbelt er mit denen

herum, die ihre Freikarte vorzeigen und umsonst zusehen dürfen.

Der Erfinder von Gerüchten: Wenn er -einen Freund trifft, fragt er ihn mitbedeutsamem Lächeln: «Ist denn wieder etwas Neues bekanntgeworden?

Ja ja, das sind erfreuliche Nachrichten!» Und ohne den anderen antwortenzu lassen, fährt er fort: «Was? Du hast noch nichts gehört? Ich glaube,

dann kann ich dir reichlich Neuigkeitenauftischen!»

Der Grobian: Wenn ihm jemand eine Freude machen und zu einem Fest-tag ein Geschenk schicken will, so meint er, er habe keine milden Gaben

nötig.

Der Freund dunkler Existenzen: Ist von anständigen Menschen die Rede,

sobehauptet er: «Von Natur aus ist keiner ein anständiger Mensch»; einer

sei so wie der andere. Dagegen nennt er einen Schurken einen Mann, derseine

Unabhängigkeitzu wahren wisse, wenn man ihn nur einmal auf die

Probe steilen wolle.

Der Geltungssüchtige: Der Geltungssüchtige grüßt einen schon von weitem.redet ihn «Mein Verehrtester!» an una versichert ihn seiner gebührendenWertschätzung. Mit beiden Händen hält er ihn fest, um ihn nicht fortzu-lassen, begleitet ihn noch ein Stück, erkundigt sich, wann er wieder dasVergnügen haben werde, und zieht sich mit höflichen Redensarten zurück.

?*v»

Der Mißtrauische: Im Bett fragt er sogar seine Frau, ob sie die Gcldtrulnverschlüssen und den Silberschrank versiegelt

habe und ob der Riegel amHoftor vorgeschoben

sei. Wenn sie esbejaht,

steht er trotzdem selber nacktaus dem Bett auf und läuft mit dem Licht in der Hand barfuß herum, kon-trolliert alles persönlich und kommt auf diese Weise kaum zum Schlafen.

Neue Zürcher Zeitung vom 25.08.1974

Page 2: Prägeört: Athen und London

Slfiie <;3itof)er<;3eitong WOCHENENDE Sonntag,25.

August1974 Nr. 392

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Der VerstelliragskUnstlertEr geht etwa auf seine Feinde zu und ist bereit,

sich mit ihnen zu unterhalten, ohne seineAbneigung

zuzeigen. Wenn er

gegen jemanden hinter dem Rücken intrigiert hat, so lobt er ihn in seinerGegenwartund zeigt ihm bei einer Niederlage

seinMitgefühl.

schen Ethik» des Aristoteles und der Neuen Komödie Menanders,

der sie nahe verwandt sind. In meisterlicher Knappheit, mitwenigen

treffenden Strichen skizziert, haben diese Menschenbilderihre lebendige

Frische über die Jahrtausende bewahrt. Wirblicken hinein in das öffentliche und gesellige Leben des viertenJahrhunderts, aber in den «Charakteren», die darin agieren, vom«Verstellungskünstler»

bis zum «Geizigen», meinen wir unsereeigenen Zeitgenossen wiederzuerkennen (und, soweit der Humordazu reicht, uns selbst unter ihnen).

Theophrastzu illustrieren, das Handeln und Sprechen seiner

dreißigCharaktere ins Physiognomische zu übersetzen, scheint

eine reizvolle Aufgabe; und so erwarten wir reiche Funde zumalaus der physiognomisch interessierten Lavater-Zeit. Aber dieErwartung wird enttäuscht; die Suche nach Theophrast-Illustra-

tionen förderte nur eine einzige ? allerdings vollständige ?Porträtgalerie theophrastischer Charakterköpfe zutage: Sie findetsich in der griechisch-englischen Ausgabe von Isaac Taylor, «The

Characters of Theophrastus, translated from the Greek and

illustrated by physiognomical sketches, London 1824». Diese seitlanger Zeit vergessenen Illustrationen werden jetzt ? zufälliggerade

150 Jahre nach der Erstausgabe von 1824 ? in der neuen

/.

Der Redselige: Er setzt sich etwa nahe zujemandem, den er gar nicht kennt,

und hält zuerst eine Lobrede auf seine eigene Frau. Dann erzählt er, wasihm letzte Nacht geträumt hat. Darauf

geht er Punkt für Punkt durch, wases zu

Mittag gegeben hat.

Heimeran-Reihe «Dialog mit der Antike» zusammen mit derUebersetzung von Horst Rüdiger wieder vorgelegt.

Isaac Taylor (1787?1865) entstammte einer Künstlerfamilie:Sein gleichnamiger Großvater (1730?1807) und sein ebenfallsgleichnamiger Vater (1759?1829), im Hauptberuf Pfarrer, hattensich als Kupferstecher und Buchillustratoren einen Namen ge-

macht. Der dritte Isaac Taylor, unser Theophrast-Illustrator, führtediese Familientradition fort und vervollkommnete die Technikdes Kupferstechens durch eine ingeniöse Erfindung; aber er ver-tauschte, wie gelegentlich schon sein Vater, immer häufiger dieNadel des Kupferstechers mit der Feder. In zahlreichen .Büchernund Aufsätzen behandelte er theologische und philosophischeFragen ? und bezeugte die Kunst seiner Väter durch eigene Illu-strationen oder doch wenigstens ein Frontispiz. So tritt uns dieserIsaac Taylor in dem zitierten Band in einer Person als Editor,Uebersetzer, Kommentator und Illustrator des Theophrast ent-gegen ? und als ein Künstler, der es an Menschenkenntnis undBeobachtungsgabe mit dem alten Griechen wohl aufnehmenkonnte.

uaimvt'X rrdrito&inri >;aJ rtoflgilüKye Klaus Bartels

Der Abergläubische: Hat eine Maus den Mehlsack angenagt, sogeht er zum

Zeichendeuter und fragt ihn, was in diesem Falle zu tun sei. Wenn der ihmantwortet, er solle den Sack dem Sattler zum Flicken bringen,

so richtet ersich nicht danach, sondern geht heim und bringt

ein Sühneopfer dar.

'^v-

Illustrationen und Zitate sind entnommen aus: Theophrast, Charakterskizzen,eingeleitet, verdeutscht und erläutert von Horst Rüdiger, Heimcran-Verlag,Dialog mit der Antike, Band 2, München 1974.

Der Verleumder: Ist er. in Gesellschaft,, so klatscht er über jemanden, dereben fortgegangen ist. So verbreitet er eine Unmenge böser Dinge überseine Freunde und Verwandten und sogar über Verstorbene. Denn Ver-leumden bedeutet für ihn Meinungsfreiheit, Demokratie und Unabliängig-

keil. Und er verleumdet für sein Leben gern.

Der Geizige:Wenn seine Sklaven auf der Straße ein paar Kupfermünzen

gefunden haben, ist er schamlos genug, seinen Anteil zuverlangen.

«Gefun-den Gut ? Gemeingut», lautet sein Grundsatz»

Der Zerstreute: Teilt ihm jemand mit, daß einer seiner Freunde gestorbensei, er solle doch zur Beerdigung kommen, so macht er ein trauriges

Gesicht, vergießt Tränen und sagt: «Herzliche Glückwünsche!»

Der Ekelhafte: Beim Essen schneuzt er sich; beim Opfer kratzt er sich;beim Reden sprudelt

es ihm aus dem Munde; beim Trinken rülpst er.

Der alte Narr: In der Badeanstalt macht er Ringkämpfe mit und drehtdabei den Steiß hin und her, um wie ein trainierter Kämpe auszusehen.

Wenn Frauen in der Nähe sind, übt er Tanzschritte, wobei er sich selbsteinen

Schlager vorträllert.

Der Flegel: Im Theater klatscht er weiter, wenn die anderen Zuschauerschon aufgehört haben, und pfeift die Schauspieler aus, die allgemein

be-liebt sind.. Wenn das Publikum gespannt zuschaut, richtet er sich auf und

rülpst, damit sich die vorderen Reihen nach ihm umdrehen.

Der Ucbercifrigc: Er biegt von der Straße ab und will einen Abkürzungs-weg führen, findet dann aber die Richtung nicht. ? Beim Befehlshabererkundigt er sich, wann er loszuschlagen beabsichtige

und welche Befehleer übermorgen ausgeben

werde.

Neue Zürcher Zeitung vom 25.08.1974