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REZENSIONEN Z Erziehungswiss (2014) 17:167–170 DOI 10.1007/s11618-014-0478-5 Online publiziert: 01.02.2014 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Dr. I. Biederbeck () Erziehungswissenschaft – Psychologie, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Straße 2, 57068 Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] Professionelle Kompetenz von Lehrkräften Ina Biederbeck Rezension zu Mareike Kunter/Jürgen Baumert/Werner Blum/Uta Klusmann/Stefan Krauss/Michael Neubrand (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des For- schungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann 2011. 369 S. ISBN 978-3-8309-2433- 3. Preis: 34,90 €. In dem Buch werden Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV (Cognitive Activation in the Classroom) vorgestellt, welches seit 2002 unter der Federführung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin (in Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen) schrittweise entwickelt wurde. Ziel des Programms ist die Entwicklung eines umfassenden empirischen Zugangs zur Erfassung professioneller Kompetenz von Lehrkräften, exemplarisch verdeutlicht für den Bereich der Mathematik. Im Fokus stehen dabei „nicht nur die Struktur professionellen Wissens, sondern auch die Bedingungen sei- ner Genese“ (S. 11). Das Programm umfasst bisher drei Hauptstudien sowie eine Serie von Ergänzungs- und Validierungsstudien. In dem Buch werden jedoch schwerpunktmäßig die Ergebnisse der ersten Hauptstudie vorgestellt. Es richtet sich an wissenschaftliches Fach- publikum, aber auch an Personen aus der Praxis (beispielsweise aus der Lehrerbildung). Das Buch umfasst insgesamt 369 Seiten und gliedert sich dabei inhaltlich in vier Abschnitte (A–D). Im einleitenden ersten Kapitel bestimmen die Herausgeber das Unterrichten als Kernaufgabe des Lehrerberufs. Erziehung wird dabei als immanenter Bestandteil von Unterrichten verstanden. Dem COACTIV-Kompetenzmodell liegt die Annahme zugrunde, dass professionelles Wissen grundsätzlich erwerbbar und veränder- bar und zudem abhängig von der jeweiligen Ausbildung ist. COACTIV knüpft an die For- schungstradition eines kognitiv aktivierenden Unterrichts an, der auf verständnisvolles Lernen zielt. Der Untersuchungsschwerpunkt liegt auf dem Aspekt des professionellen Wissens, welches sich auf drei Ebenen manifestiert: der Ebene des fachdidaktischen Wis-

Professionelle Kompetenz von Lehrkräften

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Rezensionen

Z Erziehungswiss (2014) 17:167–170DOI 10.1007/s11618-014-0478-5

Online publiziert: 01.02.2014© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

Dr. I. Biederbeck ()Erziehungswissenschaft – Psychologie, Universität Siegen,Adolf-Reichwein-Straße 2, 57068 Siegen, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Professionelle Kompetenz von Lehrkräften

Ina Biederbeck

Rezension zu

Mareike Kunter/Jürgen Baumert/Werner Blum/Uta Klusmann/Stefan Krauss/Michael Neubrand (Hrsg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des For-schungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann 2011. 369 S. ISBN 978-3-8309-2433-3. Preis: 34,90 €.

In dem Buch werden Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV (Cognitive Activation in the Classroom) vorgestellt, welches seit 2002 unter der Federführung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin (in Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen) schrittweise entwickelt wurde. Ziel des Programms ist die Entwicklung eines umfassenden empirischen Zugangs zur Erfassung professioneller Kompetenz von Lehrkräften, exemplarisch verdeutlicht für den Bereich der Mathematik. Im Fokus stehen dabei „nicht nur die Struktur professionellen Wissens, sondern auch die Bedingungen sei-ner Genese“ (S. 11). Das Programm umfasst bisher drei Hauptstudien sowie eine Serie von Ergänzungs- und Validierungsstudien. In dem Buch werden jedoch schwerpunktmäßig die Ergebnisse der ersten Hauptstudie vorgestellt. Es richtet sich an wissenschaftliches Fach-publikum, aber auch an Personen aus der Praxis (beispielsweise aus der Lehrerbildung).

Das Buch umfasst insgesamt 369 Seiten und gliedert sich dabei inhaltlich in vier Abschnitte (A–D). Im einleitenden ersten Kapitel bestimmen die Herausgeber das Unterrichten als Kernaufgabe des Lehrerberufs. Erziehung wird dabei als immanenter Bestandteil von Unterrichten verstanden. Dem COACTIV-Kompetenzmodell liegt die Annahme zugrunde, dass professionelles Wissen grundsätzlich erwerbbar und veränder-bar und zudem abhängig von der jeweiligen Ausbildung ist. COACTIV knüpft an die For-schungstradition eines kognitiv aktivierenden Unterrichts an, der auf verständnisvolles Lernen zielt. Der Untersuchungsschwerpunkt liegt auf dem Aspekt des professionellen Wissens, welches sich auf drei Ebenen manifestiert: der Ebene des fachdidaktischen Wis-

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sens, der Ebene des Fachwissens sowie der Ebene des generisch pädagogisch-psycholo-gischen Wissens. Professionelle Kompetenz zeichnet sich darüber hinaus aber auch noch durch Merkmale wie Überzeugungen, motivationale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten aus.

Abschnitt A gibt in insgesamt fünf Kapiteln eine Einführung in die theoretischen und methodischen Grundlagen des Forschungsprogramms: In Kap. 2 beschreiben Jürgen Baumert und Mareike Kunter das dem Programm zugrundeliegende generische mehrdi-mensionale Modell professioneller Kompetenz von Lehrkräften. Professionelle Kompe-tenz manifestiert sich demnach in den Aspekten Überzeugungen/Werthaltungen/Zielen, motivationale Orientierungen, Selbstregulationsfähigkeiten sowie Professionswissen. Letzteres wird unter Rückgriff auf bestehende Konzepte (z. B. Shulman 1986) noch weiter in verschiedene Kompetenzbereiche und Kompetenzfacetten ausdifferenziert. In Kap. 3 stellen Mareike Kunter, Thilo Kleickmann, Uta Klusmann und Dirk Richter ein weite-res leitendes Modell des COACTIV-Programms vor. Dieses bezieht sich auf die Genese professioneller Kompetenz von Lehrkräften und vereint dabei einerseits bestehende Eig-nungs- und Qualifikationsansätze, erweitert diese Perspektiven jedoch noch um motiva-tional-selbstregulatorische Merkmale.

COACTIV verfolgt einen komplexen, mehrmethodischen und multikriterialen Zugang zum Forschungsfeld. In Kap. 4 geben Katrin Löwen, Jürgen Baumert, Mareike Kunter, Stefan Krauss und Martin Brunner einen Überblick über die technischen Grundlagen der ersten Hauptstudie (Grundgesamtheit, Stichprobenziehung, Stichprobenausschöpfung und Instrumentierung) sowie eine knappe Zusammenfassung zu den Ergänzungs- und Erweiterungsstudien. In Kap. 5 führen Mareike Kunter und Thamar Voss in ein Konzept von Unterricht als „einer Gelegenheit für verständnisvolle Lernprozesse“ (S. 85) ein und skizzieren empirische Ergebnisse, die im Rahmen von COACTIV dazu ermittelt wur-den. Das Kapitel liefert einen beschreibenden Einblick in den Mathematikunterricht der untersuchten Schulen (Sichtstrukturen): Individualisierende Unterrichtsmethoden sowie kooperative Lernformen kommen demnach nach wie vor relativ selten zum Einsatz. In Bezug auf die Wirkungen des Unterrichts konnte im Rahmen von COACTIV festgestellt werden, dass „die mathematische Leistung der Schüler dann besonders gefördert wird, wenn Unterricht effektiv geführt wird (also ein gutes classroom management vorliegt) und wenn ein hohes Potential zur kognitiven Aktivierung (…) besteht. Die emotional-motivationale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler wurde dagegen vor allem durch konstruktive Unterstützung der Lehrkraft und zum Teil durch gutes classroom manage-ment gefördert“ (S. 107). Daran anknüpfend vertiefen Michael Neubrand, Alexander Jor-dan, Stefan Krauss, Werner Blum und Katrin Löwen in Kap. 6 den Aspekt der kognitiven Aktivierung und erörtern Zuschnitt und Ergebnisse in Hinblick auf ein Klassifikations-system für mathematische Aufgaben. Es zeigte sich, dass eine Forderung nach einem bewussteren Umgang von Lehrerinnen und Lehrern mit (Facetten von) Aufgaben empi-risch begründbar ist: Der untersuchte Mathematikunterricht zeigte sich tendenziell eher anregungsarm – und das, obwohl kognitiv aktivierende Aufgabenformate einen nach-weislich positiven Einfluss auf die Leistungsentwicklung der Lernenden hat.

Teil B stellt die Instrumente, Verfahren und Ergebnisse der Analysen zu den einzelnen Aspekten professioneller Kompetenz von Lehrkräften dar. Im Fokus des Kap. 7 steht der Aspekt des professionellen Wissens. Stefan Krauss, Werner Blum, Martin Brunner,

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Michael Neubrand, Jürgen Baumert, Mareike Kunter, Michael Besser und Jürgen Els-ner bestätigen mithilfe eines konfirmatorischen Faktorenmodells, dass Fachwissen und fachdidaktisches Wissen zwei zwar zu unterscheidende, aber deutlich miteinander in Verbindung stehende Konstrukte darstellen. COACTIV leistet hiermit einen wichtigen Beitrag zur Frage der Ausschärfung des mathematikdidaktischen Kompetenzbegriffs. In Kap. 8 knüpfen Jürgen Baumert und Mareike Kunter mit der Frage an, inwieweit sich diese beiden Wissenskomponenten auf die Qualität des Unterrichts und den Lern-fortschritt der Schülerinnen und Schüler auswirken. Dabei zeigte sich eine erkenn-bare Bedeutsamkeit von „Fachwissen und fachdidaktischem Wissen insbesondere für das Potenzial zur kognitiven Aktivierung und die Unterstützung der Lernenden (…)“ (S. 193). Allerdings verdeutlicht sich hier auch eine deutlich ausgeprägte, schulform-spezifische Ausbildungsabhängigkeit. Im Fokus des Kap. 9 steht die Erfassbarkeit pä-dagogisch-psychologischen Wissens von Lehrkräften. Thamar Voss und Mareike Kunter interpretieren die Ergebnislage so, dass sich einige Facetten dieses Wissenstypus zumin-dest proximal erfassen lassen. In Kap. 10 skizzieren Martin Brunner, Yvonne Anders, Axinja Hachfeld und Stefan Krauss die Ergebnisse zu den diagnostischen Fähigkeiten der untersuchten Mathematiklehrkräfte. Die COACTIV-Untersuchungen zeigten, dass diagnostische Fähigkeiten als mehrdimensionales Konstrukt zwar einen positiven Ein-fluss auf die Leistung von Lernenden haben, dass die diesbezügliche Akkuratheit der beforschten Lehrkräfte allerdings sehr gering ausfällt. In Kap. 11 stellen Thamar Voss, Thilo Kleickmann, Mareike Kunter und Axinja Hachfeld die Ergebnisse zu den lern-theoretischen Überzeugungen von Mathematiklehrkräften vor. Diese wirken sich den Ergebnissen zufolge zwar auf den mathematischen Lernerfolg aus, allerdings zeigte sich auch, dass konstruktivistische und transmissive Orientierungen sich nicht zwangsläufig ausschließen müssen. In Kap. 12 beschreibt Mareike Kunter die Ergebnisse in Hinblick auf Fach- und Unterrichtsenthusiasmus als einen Teilbereich professioneller Kompetenz von Lehrkräften. Die Freude an der Arbeit mit den Lernenden stellt dabei den entschei-denden Faktor dar. Weiterhin wird aufgezeigt, dass motivationale Orientierungen kein unveränderliches Personenmerkmal darstellen, sondern variieren können. In Kap. 13 stellt Uta Klusmann Befunde zur Selbstregulation als einen Aspekt professioneller Kompetenz dar. Diese lässt sich empirisch nachweisbar in vier verschiedene Typen ein-teilen, trägt zum beruflichen Wohlbefinden bei und wirkt sich auf die Art und Weise der Unterrichtsgestaltung aus. Eine adaptive Selbstregulation zeigte sich dabei als anderen Formen der Selbstregulation überlegen.

Teil C beschreibt erste Ergebnisse im Zusammenhang mit der Untersuchung der Ent-wicklung professioneller Kompetenz von Mathematiklehrkräften. In Kap. 14 berichtet Uta Klusmann, dass „bei den angehenden Lehramtskandidaten gute kognitive und wün-schenswerte psychosoziale Voraussetzungen vorhanden sind“ (S. 303), wobei hier im kognitiven Bereich schulformspezifische Unterschiede auffallen. Sich auf professionelles Wissen beziehend, beleuchten Thilo Kleickmann und Yvonne Anders in Kap. 15, inwie-fern sich universitäre Lerngelegenheiten auf die Kompetenzen von Referendaren nie-derschlagen. Die Ergebnisse stützen die Annahme, dass hier Zusammenhänge bestehen. Kapitel 16 wirft eine ähnliche Fragestellung auf, bezieht sich dabei aber auf Lernge-legenheiten nach einer abgeschlossenen Ausbildung (Fortbildungen). Dirk Richter ver-

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deutlicht, dass die Nutzung beruflicher Lernangebote „nicht nur zwischen Lehrkräften, sondern ebenfalls systematisch zwischen [Schulformen; I. B.] variiert“ (S. 323).

Teil D beschließt das Buch im Sinne einer zusammenfassenden Diskussion. In Kap. 17 verorten Werner Blum, Stefan Krauss und Michael Neubrand das COACTIV Projekt innerhalb einer mathematikdidaktischen Diskussion zum Thema Lehrerprofessionalität, betonen aber auch ausdrücklich die darüber hinausgehenden Komponenten. In Kap. 18 fassen Mareike Kunter und Jürgen Baumert abschließend noch einmal zentrale Ergeb-nisse des Projekts zusammen und formulieren Forschungsdesiderata.

Den Autorinnen und Autoren von „Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergeb-nisse des Forschungsprogramms COACTIV“ gelingt es insgesamt sehr gut, dem Leser in zwar übersichtlicher, aber dennoch sorgfältig aufbereiteter, gut strukturierter und über-zeugend-selbstkritischer Weise einen Einblick in das Verfahren und die Ergebnisse des komplex und aufwändig angelegten COACTIV Forschungsprogramms zu geben. Die Ergebnisse liefern neue Impulse zur aktuellen Debatte um Professionalität und Profes-sionalisierung im Lehrerberuf. Und auch wenn im Rahmen der Analysen sicherlich an manchen Stellen noch immer Fragen zur Validierung der eingesetzten Instrumente sowie zur Replikation der erhaltenen Ergebnisse offen bleiben mögen, ermöglicht COACTIV nicht nur einen spannenden und detailreichen Blick in den Mathematikunterricht, sondern erweitert als ein über eine rein kognitive Ausrichtung hinausgehendes Modell – welches Kompetenz als ein mehrdimensionales, veränderbares Konstrukt versteht – bestehende Sichtweisen und Perspektiven bzw. schärft diese aus. Auch wenn sich die Untersuchun-gen nur auf den Mathematik-Bereich beziehen, liefern sie doch wichtige Interpretationen und Impulse für Diskussionen auch in davon losgelösten Bereichen und offenbaren eine Vielzahl an Implikationen für die Lehreraus- und -weiterbildung.

Literatur

Shulman, L. S. (1986). Those who understand: Knowledge growth in teaching. Educational Resear-cher, 15(2), 4–14.