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LEIPZIGER BALLETT MARIO SCHRÖDER Carm na Burana / A Dharma at B g Sur

Programmheft "Carmina Burana / A Dharma at Big Sur"

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Programmheft zur Produktion "Carmina Burana / A Dharma at Big Sur" Leipziger Ballett Spielzeit 2010 / 2011

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LEIPZIGER BALLETT MARIO SCHRÖDER

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Carmina Burana/A Dharma at Big Sur

Zweiteiliger Ballettabend von Mario Schröder

Teil 1 John Adams: „A Dharma at Big Sur“ für E-Geige und Orchester

Teil 2 Carl Orff: „Carmina Burana“. Lieder aus der Benediktbeurer

Handschrift für Soli, Chor und Orchester

Choreografie: Mario SchröderBühne, Kostüme, Video: Andreas Auerbach/Paul Zoller

Dramaturgie: Christian Geltinger

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Teil 1 John Adams (*1947)A Dharma at Big Sur1. A New Day2. Sri Moonshine

Teil 2Carl Orff (1895-1982)Carmina Burana

FORTUNA IMPERATRIX MUNDI / FORTUNA, HERRSCHERIN DER WELT1. O Fortuna! / O Fortuna! (Chor)

2. Fortune plango vulnera … / Die Wunden, die Fortuna schlug … (Chor)

I PRIMO VERE / IM FRÜHLING

3. Veris leta facies … / Frühlings heiteres Gesicht … (Kleiner Chor)

4. Omnia sol temperat … / Alles macht die Sonne mild … (Bariton-Solo)

5. Ecce gratum … / Sieh! der holde … (Chor)

UF DEM ANGER / AUF DEM ANGER6. Tanz (Orchester)

7. Floret silva nobilis ... / Es grünt der Wald ... (Chor)

8. Chramer, gip die varwe mir ... / Kramer! Gib die Farbe mir ... (Soli und Chor)

9. Reie / Reigen (Orchester)Swaz hie gat umbe ... / Was hier im Reigen geht ... (Chor)Chume, chum geselle min! / Komme, komme, Geselle mein! (Chor)Swaz hie gat umbe ... / Was hier im Reigen geht ... (Chor)

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10. Were diu werlt alle min ... / Wäre auch die Welt ganz mein ... (Chor)

II IN TABERNA / IN DER SCHENKE

11. Estuans interius ... / Glühend in mir ... (Bariton-Solo)

12. Olim lacus colueram ... / Einst schwamm ich auf den Seen umher ... (Tenor-Solo und Männerchor)

13. Ego sum abbas ... / Ich bin der Abt ... (Bariton-Solo und Männerchor)

14. In taberna quando sumus ... / Wenn wir sitzen in der Schenke ... (Männerchor)

IIICOUR D'AMOUR / LIEBESHOF

15. Amor volat undique ... / Amor fliegt allüberall ... (Sopran-Solo und Knabenchor)

16. Dies, nox et omnia ... / Tag, Nacht und alles ... (Bariton-Solo)

17. Stetit puella ... / Stand da ein Mägdlein ... (Sopran-Solo)

18. Circa mea pectora ... / In meinem Herzen ... (Bariton-Solo und kleiner Chor)

19. Si puer cum puellula ... / Wenn Knabe und Mägdelein ... (6 Soli: Tenor und Bass)

20. Veni, veni, venias! / Komm, komm, komme! (Doppelchor)

21. In trutina ... / Auf des Herzens ... (Sopran-Solo)

22. Tempus est iocundum ... / Lieblich ist die Zeit ... (Sopran- und Baritonsolo und Knabenchor)

23. Dulcissime! / Du Süßester! (Sopran-Solo)

BLANZIFLOR ET HELENA / BLANZIFLOR UND HELENA24. Ave formosissima... / Heil dir, schönste...

(Großer Chor)

FORTUNA IMPERATRIX MUNDI / FORTUNA, HERRSCHERIN DER WELT25. O Fortuna! / O Fortuna!

(Chor)

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Leipziger Ballett

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Notizen von Mario SchröderDer Augenblick, der alles verändert

Das übergreifende Thema des Abends ist Zeit, Zeit als erlebte Zeit, Zeit als ein in-dividuelles, inneres Zeitmaß. Die Zeit bestimmt unser Leben, gibt unserem Lebeneine Struktur, einen Rhythmus. Beide Stücke behandeln dieses Thema auf unter-schiedliche Art und Weise.

John Adams’ Komposition „A Dharma at Big Sur“ beleuchtet das Thema Zeit voneiner philosophischen Seite, weniger in der konkreten Begegnung von Menschenals in der Auseinandersetzung mit einer Seelenlandschaft. „Dharma“ kommt ausder buddhistisch-hinduistischen Religion und bedeutet Balance. Das Stück hatzwei Sätze, die in ihrer Struktur sehr unterschiedlich sind. „Big Sur“ ist der Nameeiner Straße in Kalifornien. Wenn man sie entlangfährt, hat man den Eindruck,man steht am Ende der Welt. Auf der linken Seite ist eine Steilklippe mit demWasser mit seinen unterschiedlichen Mentalitäten, von orkanartig bis ganz ruhig.Das hat etwas sehr Wildes, zugleich etwas sehr Erdendes. Man kommt sich sehrklein angesichts der Erhabenheit der Natur vor. Dennoch hat es was sehr Exis-tentielles und Meditatives, wenn man diese Region erlebt.

Die „Carmina Burana“ sind zunächst erst einmal ein ganz konkreter Stoff. Es gehtum den Kreislauf des Lebens, der ganz klar definiert ist und in seinen Abläufengezeigt werden soll: Geborenwerden, Aufwachsen, Lieben, Hassen, Auseinander-gehen, Loslassen, Altwerden, Sterben. Man darf aber nicht in die Gefahr geraten,das Wort eins zu eins in Bild zu übersetzen, sondern man muss über den Tanzund die Bewegung einen gewissen Abstraktionsgrad zulassen, um dem ZuschauerVarianten des Sehens anzubieten. Thema ist also die Zeit als ein übergeordnetesPhänomen, Thema ist aber auch die Zeit als ein individuelles Phänomen, die Zeitjedes Einzelnen: Jeder bringt seine eigene Zeit mit, jeder bringt seinen eigenenRhythmus mit, jeder bringt seine Geschichte und seine Emotionen mit. Das Ver-bindende ist der Raum, in dem wir uns bewegen und in dem sich diese unter-schiedlichen Wege kreuzen, wenn wir es zulassen, oder auseinandergehen, wennwir es nicht mehr wollen. Oft ist es nur ein Augenblick, der einen Moment vom an-deren unterscheidet. Der Augenblick des Seins, der Augenblick des Wahrneh-mens, der Augenblick des Zulassens, der Augenblick der Suche, der Augenblickder Emotion. Das Schicksal schlägt zu und kann das ganze Leben von Grund aufverändern.

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John Adams Der Komponist über sein Werk „A Dharma at Big Sur“

„A Dharma at Big Sur“ habe ich 2003 anlässlich der Eröffnung der Disney Hall inLos Angeles komponiert. Entworfen hatte dieses neue Gebäude der großartigeFrank Gehry, mit dem ich zwanzig Jahre vorher an dem Stück „Available Light“ fürdie Choreografin Lucinda Childs zusammengearbeitet hatte. Schon in den frühes -ten Planungsphasen versprach Disney Hall mehr zu werden als einfach nur einneuer Konzertsaal. Mit den weitläufigen, silberfarbenen Wolken und Segeln ander Außenseite und den warmen und einladenden Publikumsräumen im Innernkam die Eröffnung dieses Gebäudes einem Meilenstein in der Geschichte der Kulturder Westküste gleich.

Als Esa-Pekka Salonen, Musikdirektor des Los Angeles Philharmonic Orchestra,mich bat, ein besonderes Stück zur Einweihung zu komponieren, begann ich so-gleich damit, in meinem Kopf ein Bild zu suchen, das – entweder verbal oder visuell– die Gefühle eines Auswanderers hervorrufen kann, den es an die Pazifikküstezieht – so wie mich selbst, und so viele andere, die die Reise hierhin unternommenhaben, sowohl physisch als auch spirituell.

Ich wollte den Moment ausdrücken, gewissermaßen den „Schock des Erkennens“,den man erlebt, wenn man das Ende der kontinentalen Landmasse erreicht. An derAtlantikküste scheint es die Luft mit ihrem Solegeschmack und dem salzigen Duftschon anzukündigen. An die kalifornische Küste zu gelangen ist ein unvergleich-liches Erlebnis. Anstatt langsam ins Wasser überzugehen, fällt der westlicheFestlandsockel hier jäh ab, oft aus schwindelerregender Höhe, wie an der Steil-küste Big Sur, dem Abschnitt zwischen Santa Cruz und Santa Barbara. Hier zer-schellen und brechen sich die Strömungen an der Küste in einem langsamen,trägen Rhythmus von furchteinflößender Kraft. Beim Neuankömmling ruft dieseerste Begegnung einen zutiefst körperlichen, auf sehr komplexe Weise emotio-nalen Effekt hervor. Viele Schriftsteller haben versucht, diesen Effekt unmittelbarzu beschreiben; am besten gelungen ist dies Jack Kerouac. Sowohl in seinen Ge-dichten als auch in seinen Romanen kommt die Erfahrung, die er heraufbe-schwört, sehr nah an mein eigenes Gefühl der Befreiung und Erregung heran; eineEkstase, gleichwohl mit einem Hauch von jener Melancholie, die in der ersten vonBuddhas „Vier Edlen Weisheiten“ ausgedrückt ist: „Alles Leben ist leidvoll.“ […]

In fast allen Kulturen außer der europäischen Klassik liegt die wahre Bedeutungder Musik zwischen den Noten. Das Gleiten zwischen den Tönen, das Portamento,die „Blue Note“ – all diese sind wesentlicher Bestandteil des musikalischen Aus-drucks, ob bei der Improvisation über einen Raga eines großen indischen Meisters

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oder bei Jimi Hendrix oder Johnny Hodges, die eine Blue Note fast bis zum Bodendehnen. Die klassische Musik des Abendlands, von Bach bis zur Gegenwart, wirdvon den zwölf voneinander getrennten Tönen der gleichschwebenden Tonskalabeherrscht, diesen sieben weißen und fünf schwarzen Tasten, die sich auf fastiko nische Weise unserem Bewusstsein eingeprägt haben. Von Bachs Zeit an wardas Klavier der Hauptträger musikalischer Ideenentwicklung, und seit jener Zeithat sich die abendländische Kunstmusik auf diese voneinander abgetrennten Ton-stufen beschränkt. Das Gleiten zwischen den Tönen, oder Portamento, das so ver-breitet ist im Jazz, Rock, Blues und in der Musik außer europäischer Kulturen, istin der westlichen Kunstmusik auf den Status einer exzentrischen Ausdrucksweisedegradiert worden, etwas, das man vielleicht noch in den Geigenklängen einesMischa Elman oder in alten Aufnahmen von Wilhelm Mengelberg oder Stokowskihören kann, aber nicht in „normalem“ klassischen Spiel. Ob in Bachs „Wohltem-perierten Klavier“, einem Nocturne von Chopin oder Strawinskys „Psalmensym-phonie“ – die Kraft der Gefühlserregung in der klassischen europäischenMusik tradition war immer nur das Produkt dieser zwölf einzelnen Töne. Versuchtman sich einen expressiven „Slide“ mitten in einer Bach-Motette vorzustellen,kann es einem nur wie eine Unziemlichkeit vorkommen, während die Klagelauteoder die Ululation in afrikanischer oder mitteleuropäischer Musik Ausdruck tiefsterAndacht sind.

Mein Ziel bei der Komposition war, Musik für den Solisten zu schreiben, die sorhapsodisch und spontan wie möglich klingen sollte, als ob die Melodien beimSpielen erfunden würden. Das war keine geringe Herausforderung, da ich in je demDetail der Phrasierung und dem Zusammenspiel von Solist und orchestraler Klang-umgebung die genaueste Aufmerksamkeit schenken wollte. Ich hörte mir Musikaus vielen Quellen an, vokalen wie instrumentalen. Der persische Kamancheh-Virtuose Kayan Kalhor lehrte mich, wie wichtig „Schmutz“ bei einem körnigenAuftrag des Bogens auf einer Seite sein kann.

„A Dharma at Big Sur“ hat zwei Teile, von denen jeder einem Komponisten derWestküste gewidmet ist. Beide waren sowohl Freund als auch Inspirationsquellefür mich: Lou Harrison und Terry Riley. Der erste Teil, „A New Day“, ist eine langerhapsodische Träumerei für Violine solo, eine „unendliche Melodie”, die über derStille eines orchestralen Summens mit leise pulsierenden Gongs und Harfen undfernen Blechbläserakkorden schwebt.

In der ersten Fassung dieses „Konzertes nach Kerouac“ sollten sowohl das Solo-instrument wie auch das Orchester in „reiner“ Intonation spielen, d.h. mit andersals gewöhnlich gestimmten Intervallen zwischen den Tönen der Skala. Ich ver-brachte über einen Monat in meinem Studio zu Hause damit, meine Synthesizerund Sampler genauestens zu stimmen, so dass genau die Stimmung entstand,

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die ich haben wollte. „A New Day“ ist eine Hommage an Lou Harrison, der nichtweit von Big Sur entfernt wohnte und der erste Amerikaner war, der in anderenStimmungssystemen komponierte. Bei der ersten Probe in Los Angeles begriffich jedoch beinahe sofort, und zu meinem großen Leidwesen, dass die siebzig Or-chestermitglieder sich unmöglich auf die minutiösen Unterschiede zwischen denFrequenzen einigen konnten, die für ihre Stimmen vorgesehen waren. Darüberhinaus waren die Blechbläser mit ihren verschlungenen Rohren unberechenbarund launisch in ihren Resonanzeigenschaften. In späteren Aufführungen kehrteich notgedrungen zu einer mehr konventionellen Stimmung für die meisten Teiledes Orchesters zurück, konnte aber immer noch die fremden, „natürlichen“ Ober-ton-Intervalle bei den Blechbläsern und die unwirklichen Resonanzen der Harfen,Samplers und des Klaviers beibehalten, die alle auf einer besonderen, „reinen“Skala auf H-Dur basieren.

Der lange, schwermütige, zutiefst lyrische erste Teil, „A New Day“, erreicht einenHöhepunkt, wenn das Orchester, das so lange im Hintergrund geblieben war, nachvorne drängt und die Melodie vom Solo-Instrument übernimmt. Nachdem Harfen,Klavier, Sampler und gestimmte Kuhglocken in einem leicht kakophonischen Glo-ckengeläut hervorbrechen, nimmt das Tempo einen bestimmten Puls an, nicht un-ähnlich dem Jod, also dem Teil eines Raga, der im mittleren Tempo gespielt wird.Die Solovioline spielt mit einer jazzartig gefärbten Melodie, die sich nach und nachin Umfang und Tessitura erweitert. Dieser Teil ist „Sri Moonshine“, eine Reverenzan Terry Riley, und zwar nicht nur den Komponisten von „In C“ und „A Rainbow inCurved Air“, sondern auch einen Meister des indischen Raga-Gesangs.

Der leicht daherlaufende Rhythmus weicht einem stärker insistierenden Pochenund bringt dabei einen tänzerischen Effekt hervor, wie ein gigantisch pulsierendesGamelan-Orchester. Die Solovioline rauscht in die Höhe und stürzt in die Tiefe wieeine Möwe im Sturmwind. Die Blechbläser, die zu Beginn noch so ruhig und zurück -haltend waren, füllen den Klangraum nun mit groß aufwallenden Mauern desWider halls. Tief gestimmte Gongs machen die innere Struktur der Musik hörbar,die nun durch und durch in einem ungeheuren, ekstatischen Ausdruck des „reinenH“ vibriert.

Übersetzung: Andreas Goebel

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Riesige Ellbogen aus Fels erheben sich überall. Sie sind vonHöhlen durchzogen. Das Meer poltert in ihnen herum undklatscht Schaum heraus. Das Dröhnen und das Klatschen aufdem Sand. Der Sand fällt steil ab, nix Malibou Beach. Dochman dreht sich um und sieht die freundlichen Wälder, die sicham Fluss entlang winden wie ein Bild in Vermont. Man schautzum Himmel auf, weit zurückgebeugt. Mein Gott, und mansteht wirklich unter dieser schemenhaften Brücke, demschmalen weißen Strich, der von Felsen zu Felsen verläuft,und gedankenlose Wagen rasen darüber wie Träume! VonFelsen zu Felsen! Die ganze tosende Küste hinunter! Wennich später hörte, dass Leute sagten: „Oh, Big Sur, da muss es schön sein!“, habe ich immer nur geschluckt und mich ge-fragt, wie Big Sur zu dem Ruf kommt, über das Beängstigende hinaus schön zu sein. Eine Schönheit, die stärker sein mussals die Blakelsche stöhnende Schöpfung in ihren Geburts -wehen. Jene Ausblicke, wenn man an einem sonnigen Tag aufder Küstenstraße fährt. Vor den Augen tun sich meilenweitentsetzliche Brecher auf, die das Land überspülen.Jack Kerouac

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Tenald Zace, Maiko Oishi

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Leipziger Ballett

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Christian GeltingerGedanken zu „Carmina Burana“ und „A Dharma at Big Sur“

Zwei Stücke, die auf den ersten Blick scheinbar relativ wenig miteinander zu tunhaben. Das eine ein monumentales Chorwerk mit einem Eingangschor, dessenSuggestionskraft man sich trotz seiner zunehmenden Kommerzialisierung inWerbung und Fernsehen nur schwer entziehen kann, das andere ein Stück für E-Geige und Orchester, das alles andere als dem musikalischen Mainstream ange-hört. Trotzdem tun sich in der allmählichen Auseinandersetzung mit den beidenStücken erstaunliche Parallelen auf. Da ist einerseits das Rad der Fortuna, dasSchicksalsrad als alles bestimmendes Symbol der „Carmina Burana“. Diesesuralte Symbol, von den Römern als Bild für die Schicksalsgöttin verwendet undseit dem Mittelalter als Symbol für die Vergänglichkeit theologisch umgedeutet,beschreibt den Kreislauf des Lebens mit seinem Auf und Ab, seinem Werden undVergehen. Es ist das Rad des Lebens. Interessanterweise findet sich andererseitsdas Symbol des Rades auch in der hinduistisch-buddhistischen Weltanschauung.Es beschreibt die innere Ordnung des Lebens in Korrespondenz zur äußeren Ord-nung des Staates und der Gesellschaft. Beide Stücke bewegen sich damit aufeiner spirituellen Ebene, nicht nur im abstrakt-philosophischen Sinne, auch ganzkonkret. Die „Carmina Burana“ sind im Mittelalter im Kloster Benediktbeuernentstanden und gelten mit ihrer derben Verbalerotik, aber auch ihrer Sehnsuchtnach Liebe und Lebensfreude als ein Ventil für die inneren Nöte der Mönche. Dieeinsame Zelle, in der die Gedichte entstanden sind, steht dem großen Ganzen ge-genüber, das Individuum der Gemeinschaft. Ähnlich verhält es sich mit „A Dharmaat Big Sur“. Der einzelne Mensch, der angesichts der Begegnung mit der erha-benen Landschaft von Big Sur dem „Schock des Erkennens“ ausgesetzt ist undder buchstäblich mit seiner eigenen Begrenztheit konfrontiert wird. Unser Daseinwird maßgeblich mitbestimmt von unserer Umgebung. Zugleich kann ich selbstbestimmen, wie viel ich in meine „Zelle“ hineinlasse. In beiden Fällen sind es we-niger die naturalistisch-plakativen Bilder, die uns heute etwas erzählen können,als vielmehr die existentiellen Fragen des Lebens, vor die uns dieses Stück stellt:die Vergänglichkeit, der Wunsch nach Dauer im ewigen Lauf der Zeit, das Be-wusstsein für Beschleunigung und Entschleunigung, für Leerlauf und Erfüllung,für Weite und Begrenzung, für Ruhe und Aktion, für Individuum und Gemeinschaftzu sensibilisieren.

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Carl OrffDie Entstehung der „Carmina Burana“

Fortuna hatte es mit mir gut gemeint, als sie mir einen Würzburger Antiquariats-katalog in die Hände spielte, in dem ich einen Titel fand, der mich mit magischerGewalt anzog: „Carmina Burana“, lateinische und deutsche Lieder und Gedichte,einer Handschrift des XIII. Jahrhunderts aus Benediktbeuern, herausgegeben vonJ.A.Schmeller. Diese Handschrift hatte sich im Kloster Benediktbeuern befunden.Ihren Namen „Carmina Burana“ – Lieder aus Benediktbeuern – erhielt sie vonihrem Herausgeber, dem hochverdienten Bibliothekar Johann Andreas Schmeller,der sie im Jahre 1847 erstmals veröffentlichte.

An dem für mich denkwürdigen Gründonnerstag 1934 erhielt ich das Buch. BeimAufschlagen fand ich gleich auf der ersten Seite die längst berühmt gewordeneAbbildung „Fortuna mit dem Rad“. Darunter die Zeilen: „O Fortuna / velut luna /statu variabilis“. Bild und Worte überfielen mich. Obwohl ich mich fürs erste nurin großen Zügen mit dem Inhalt der Gedichtsammlung vertraut machen konnte,stand sofort ein neues Werk, ein Bühnenwerk mit Sing- und Tanzchören, nur denBildern und Texten folgend, in Gedanken vor mir. Noch am selben Tag hatte icheine Particell-Skizze vom ersten Chor „O Fortuna“ entworfen. Nach einer schlaf-losen Nacht, in der ich mich in der umfangreichen Gedichtsammlung fast verlorenhätte, war auch ein zweiter Chor „Fortune plango vulnera“ entstanden, und amOstermorgen war ein dritter, „Ecce gratum“, zu Papier gebracht.

Es war nicht leicht, sich in dem Codex mit über 250 Liedern und Gedichten zu-rechtzufinden. Es begann ein Suchen und Sichten, ein Finden und Verwerfen, bissich einzelne Teile aus der Fülle immer mehr abzeichneten. Bei wiederholtemLesen lösten sich aus den vielstrophigen Gedichten auch einzelne Strophen, diedann in neue Zusammenhänge gerieten. So war der textliche Aufbau der „Szeni-schen Kantate“ bald festgelegt.

Was mich bewegte, war ausschließlich der mitreißende Rhythmus wie die Bild-haftigkeit dieser Dichtungen und nicht zuletzt die vokalreiche Musikalität und ein-zigartige Knappheit der lateinischen Sprache. Zusammen mit dem Text wuchs dieMusik schnell heran. In wenigen Wochen war das ganze Werk „vorspielbar“, sodass ich schon Anfang Juni eine Reise zu meinem Verlag nach Mainz unterneh-men konnte. Als Unterlage für mein Vorspiel hatte ich lediglich einen maschinengeschriebenen Text. Die Musik war in mir so fertig und lebendig, dass ich keinerNotenstütze bedurfte.

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Oliver Preiß

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Kiyonobu Negishi

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Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondernauch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weilsich beide wechselseitig bestimmen.Aristoteles

Die Menschen leiden an der Zukunft, stürzen sich ins Leben,flüchten die Zeit, suchen. Und nichts schmerzt mich mehrdenn ihre suchenden, vergeb lichen, doch der Vergeblichkeitbaren Augen.Emile Michel Cioran

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Mario Schröder geboren in Finsterwalde, erhielt seine Tanzausbildung an der Paluc -ca Schule Dresden. Er war von 1983 bis 1999 erster Solist beim Leipziger Ballett – ab1991 unter der Leitung von Uwe Scholz. Darüber hinaus studierte er Choreografie ander Berliner Hochschule für Schauspielkunst und Regie „Ernst Busch“. 1999 wurdeer als Ballettdirektor und Chefchoreograf an das Mainfranken Theater Würzburg be-rufen, bevor er im Jahr 2001 in gleicher Funktion an das Theater Kiel wechselte.Mario Schröder schuf bisher weit über 70 Choreografien und arbeitete als Tänzerund Choreograf u.a. in Japan, den USA, Russland, der Mongolei, in Frankreich undweiteren europäischen Ländern. In Deutschland wurden seine Arbeiten u.a. an derDeutschen Oper und der Komischen Oper Berlin, dem Aalto Ballett Theater Essenund der Oper Leipzig gezeigt. Choreografisch arbeitete er u.a. mit Ruth Berghaus,Maxim Dessau, Nikolaus Lehnhoff, Dietmar Seyffert, Thilo Reinhardt und Uwe Scholz.Mario Schröder ist Präsidiumsmitglied der „Bundesdeutschen Ballett- und Tanz-theater Direktoren Konferenz“ (BBTK). Seit der Spielzeit 2010/11 ist er Ballettdirektorund Chefchoreograf des Leipziger Balletts.

Mathias Foremnywurde in Münster geboren. Er gewann 1995 während seiner Studienin Detmold und Wien den Internationalen Dirigentenwettbewerb „Prager Frühling“.1997 Berlin-Debüt mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin. Erster Kapellmei-ster am Landestheater Detmold, ab 2000 als erster Kapellmeister an der KomischenOper Berlin, dort u.a. Brittens „Turn of the Screw“ (Bayerischer Theaterpreis) undLigetis „Le grand macabre“. 2002 Auszeichnung vom Deutschen Musikrat als Preis-träger des Dirigen tenforums. Seit 2003 GMD und Operndirektor am Mecklenburgi-schen Staats theater Schwerin. Konzerte u.a. mit der Staatskapelle Dresden, demDeutschen Sinfonie orchester Berlin, der Dresdener Philharmonie, dem WDR Rund-funksinfonieorchester, den Stuttgarter Philharmonikern und dem Stuttgarter Kam-merorchester, der Staatskapelle Weimar, dem Musikkollegium Winterthur und denNürnberger Philharmonikern sowie Orchestern in Deutschland, Norwegen, Italienund Tschechien. Mit dem Rund funk sinfo nieorchester Berlin, dem SWR-Sinfonieor-chester, dem MDR Sinfonieorchester und dem Finnish Radio Symphony OrchestraHelsinki auch Rundfunkproduktionen. Seit 2004 regelmäßige Gasttätigkeit an derDeutschen Oper Berlin (2009 „Die Zauberflöte“, 2010 „Tosca“ und „Don Giovanni“).Im Juli 2008 übernahm er die Leitung des Bundesjugendorchesters für die Sommer-arbeitsphase mit anschließender Tournee nach Österreich und Italien. An der OperLeipzig dirigierte er bereits 2010 zwei Vorstellungen von Wagners „Rienzi“ und stu-dierte 2011 „Carmina Burana/A Dharma at Big Sur“ ein.

Andreas Auerbach geboren in Gera. Studium des Bühnen- und Kostümbilds an derKunsthochschule Berlin-Weißensee. Von 1992 bis 1998 war er als Bühnenbild- undKostümassistent u.a. am Hebbel-Theater Berlin, am Schauspiel Graz, am Maxim-Gorki-Theater Berlin sowie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz tätig. Seit

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1994 arbeitet er als freier Bühnen- und Kostümbildner für Schauspiel, Musiktheaterund Ballett an den Theatern von Altenburg, Berlin, Dessau, Gera, Göttingen, Jena,Kassel, Kiel, Leipzig, Neustrelitz und Würzburg. Mit Mario Schröder verbindet AndreasAuerbach eine langjährige Zusammenarbeit. In Kiel entstand zuletzt das Bühnenbildzu den „Mörderballaden“ von Nick Cave und zu Schröders letzter Cho reografie fürKiel, dem „Nibelungenlied“ (beide zusammen mit Paul Zoller). Für die Kieler Oper tratAuerbach bereits als Bühnenbildner für die Neuinszenierung von Smetanas „Dieverkaufte Braut“ hervor. Nach den beiden gefeierten Produktionen von Händels „Alcina“ und „Julius Cäsar“ arbeiten Andreas Auerbach und Silvana Schröder auchin dieser Spielzeit wieder für die Oper Kiel – an Richard Strauss’ „Salome“. An derOper Leipzig 2010/11: Ausstattung „Carmina Burana/A Dharma at Big Sur“.

Paul Zoller absolvierte ein Architekturstudium an der Hochschule der BildendenKünste in Wien, der University of Michigan und der Hochschule der Künste in Berlinund nahm als Architekt an zahlreichen Wettbewerben und Ausstellungen teil. Nachseinem Bühnenbildstudium an der Akademie der Bildenden Künste etablierte ersich als freischaffender Bühnen- und Kostümbildner sowie als bildender Künstler.Seine Theaterlaufbahn führte ihn u.a. an das Mainfranken theater in Würzburg, an dasAalto Theater Essen sowie an das Theater Dortmund. Häufiger Regiepartner im Bereich des Musiktheaters ist für ihn Thilo Reinhardt, mit dem er unlängst eine Neu-produktion von Beethovens „Leonore“ am Deutschen Nationaltheater Weimar heraus-gebracht hat. Für Mario Schröder entwarf er zahlreiche Bühnen bilder, u.a. zu„Fight!“ und „Versunken in BLUE“. An der Oper Leipzig zeichnet er 2010/11 außer-dem verantwortlich für Bühne, Kostüme, Video zu „Chaplin“ und „Jim Morrison“, ander Musikalischen Komödie für die Bühne zum „Waffen schmied“.

Volkmar Olbrich geboren in Dresden. Besuch der Kreuzschule. Studium an der Hoch -schule für Musik in Berlin-Charlottenburg in den Fächern Dirigieren, Klavier, Tonsatzund Schlagzeug. 1964-67 Solopauker am Berliner Symphonischen Orchester. Ab 1968Tätigkeit als Solorepetitor, Kapellmeister und Chordirektor in Regensburg, Gelsen-kirchen. 1981-83 Studienleiter und Kapellmeister an der Oper Frankfurt/Main, bis1991 dort Chordirektor. In dieser Zeit Dirigent von Opern-, Operetten, Musicalauf-führungen, Konzerte mit dem Museumsorchester und dem Opernchor. 1991-93Chordirektor und Kapellmeister an der Oper Leipzig, eigene Premieren als Dirigentwaren die Ballettabende „Die Schöpfung“ und „Wagner./Pax questuosa“ (Choreo-grafie Uwe Scholz). 1994/95 Musikalische Leitung „Montezuma“ (Graun) an derKam meroper Schloss Rheinsberg. 1995/96 Gasttätigkeit am Teatro Nacional Lissa-bon („Schöpfung“), der Opera Dublin („Cenerentola“, „Faust“). Ab 1996 Chordirektorund Kapellmeister der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf. Zusammenarbeit mitMichael Gielen, Nikolaus Harnoncourt, Garry Bertini und Lothar Zagrosek. 2010/11 istVolkmar Olbrich wieder Chordirektor der Oper Leipzig.

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ImpressumOper Leipzig. Kommissarischer Intendant und Geschäftsführender Direktor Alexander von Maravic Ballettdirektor: Mario Schröder | Spielzeit 2010/2011 | Heft 9 Redaktion: Uwe Möller | Texte: Christian Geltinger Gestaltung, Titelmotiv: Heinrich Kreyenberg/heutemorgen | Satz: Evelyn Richter Fotos: Andreas Birkigt (Hauptprobe vom 17. Januar 2011)Druck: Werbe- und Sofortdruck | Gedruckt auf exklusiv von IGEPA

TextnachweiseDie Texte von Mario Schröder und Christian Geltinger sind Originalbeiträge für dieses Heft. Nachdruck nurmit Genehmigung der Redaktion. Abdruck des Textes von John Adams mit freundlicher Genehmigung von www.earbox.com Jack Kerouac: „Big Sur“. Deutsche Erstveröffentlichung von Uschi Gnade. München 1962.Jack Kerouac: „Verstreute Gedichte“. Aus dem Amerikanischen, mit Anmerkungen und einem Nachwortvon Horst Spandler. Augsburg 2004.Franz Willnauer: „Carmina Burana von Carl Orff. Entstehung – Wirkung – Text“. Mainz 2007

Danke:

Verein der Freunde und Fördererdes Leipziger Balletts e.V.

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Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bißchen darüber.Dieses Geheimnis ist die Zeit ... Michael Ende

Man verliert die meiste Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will.John Steinbeck

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Nur dem Anschein nach ist die Zeit ein Fluss. Sie ist eher eine grenzenlose Landschaft, und was sich bewegt, ist das Auge des Betrachters.Thornton Wilder