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1 Projekt Darmstädter Straßennamen Biografien erarbeitet von Dr. Holger Köhn, Büro für Erinnerungskultur, Zuordnung gemäß der Empfehlungen des Fachbeirats Straßennamen Vom Fachbeirat zur Umbenennung vorgeschlagen (einstimmig) Au, Hans von der 5 Brandis, Gustav 17 Georgii, Walter 22 Grund, Peter 29 Kleukens, Christian Heinrich 41 Kuhn, Richard 48 Weiss, Alarich 58 Fachbeirat hinsichtlich Umbenennung geteilter Meinung Cauer, Robert 63 Hindenburg, Paul von 66 Hoetger, Bernhard 73 Krolow, Karl 86 Ratschow, Max 92 Fachbeirat für Beibehaltung unter Vorbehalten Hammer, Richard 99 Krieger, Arnold 103 Müller, Albin (Albinmüller) 108 Sabais, Heinz Winfried 113 Schmelzer, Carl Christoph 120 Fachbeirat für Beibehaltung Adelung, Bernhard 126 Andres, Wilhelm 129 Aßmuth, Heinrich 132

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1

Projekt Darmstädter Straßennamen

Biografien erarbeitet von Dr. Holger Köhn, Büro für Erinnerungskultur,

Zuordnung gemäß der Empfehlungen des Fachbeirats Straßennamen

Vom Fachbeirat zur Umbenennung vorgeschlagen (einstimmig)

Au, Hans von der 5

Brandis, Gustav 17

Georgii, Walter 22

Grund, Peter 29

Kleukens, Christian Heinrich 41

Kuhn, Richard 48

Weiss, Alarich 58

Fachbeirat hinsichtlich Umbenennung geteilter Meinung

Cauer, Robert 63

Hindenburg, Paul von 66

Hoetger, Bernhard 73

Krolow, Karl 86

Ratschow, Max 92

Fachbeirat für Beibehaltung unter Vorbehalten

Hammer, Richard 99

Krieger, Arnold 103

Müller, Albin (Albinmüller) 108

Sabais, Heinz Winfried 113

Schmelzer, Carl Christoph 120

Fachbeirat für Beibehaltung

Adelung, Bernhard 126

Andres, Wilhelm 129

Aßmuth, Heinrich 132

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2

Aßmuth, Peter 134

Bartning, Otto 135

Bäumer, Gertrud 139

Behnisch, Günter 143

Behrens, Peter 146

Benz, Georg 150

Berndt, Otto 152

Best, Franz 154

Bock, Ottilie 156

Böckler, Hans 157

Bontschits, Jovanka 160

Borngässer, Wilhelm 162

Borsdorff, Joachim 164

Bosch, Robert 167

Brambach, Otto 172

Braun, Franziska 176

Brix, Peter 178

Brücher, Wilhelm III 181

Christaller, Helene 183

Christiansen, Hans 187

Dächert, Fritz 190

Damaschke, Adolf 192

Degen, Valentin 196

Dernburg, Bernhard 199

Engel, Ludwig 202

Esselborn, Karl 206

Eysenbach, Philipp 209

Fuchs, Helmut 212

George, Stefan 214

Glenz, Fritz 218

Gruber, Karl 220

Habich, Ludwig 230

Hahn, Georg 234

Hattemer, Elisabeth 237

Hauptmann, Gerhart 240

Hensel, Georg 245

Heuss-Knapp, Elly 248

Hirsch, Heinrich 252

Hoelscher, Richard 253

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3

Irene Prinzessin von Hessen und bei Rhein 256

Jobst, Heinrich 257

Jung, Jakob 261

Junkers, Hugo 263

Kirnberger, Ferdinand 266

Kirschner, Thomas 271

Klein, Gretel 273

Köth, Erika 274

Korell, Adolf 276

Kröh, Heinrich Reinhard 278

Leydhecker, Otto 280

Lippmann, Johannes 282

Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein 285

Marwitz, Gebhard von der 288

Michel, Wilhelm 290

Mueller, Rudolf 297

Noack, Elisabeth 300

Orff, Carl 306

Pfeil, Hartmuth 312

Planck, Max 316

Poepperling, Hermann 322

Poepperling, Ludwig 324

Rady, Ottilie 326

Rees, Mina 329

Röhm, Otto 331

Roßmann, Peter 335

Rüthlein, Heinrich 336

Sauerwein, Ludwig 338

Scharoun, Hans Bernhardt 340

Schneider, Robert 345

Schwippert, Hans 349

Selbert, Elisabeth 356

Sennhenn, Henriette 361

Spengler, Georg 363

Staudt, Reinhold 365

Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 367

Sternberger, Dolf 372

Stolz, Robert 377

Straub, Hans 381

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4

Stühlinger, Wilhelm 383

Teusch, Christine 386

Thiess, Frank 390

Vahle, Inge 400

Viktoria von Hessen und bei Rhein 402

Voltz, Emil 403

Walbe, Heinrich 405

Walcher, Wilhelm 409

Wiesenthal, Georg 414

Windaus, Adolf 418

Würth, Joseph 422

Zernin, Heinrich 425

Abkürzungsverzeichnis 429

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5

Von-der-Au-Straße (P 6), benannt 1959 nach

Hans von der Au (1892-1955)

Volkskundler, Pfarrer und Studienrat

* 16. Februar 1892 in Eberstadt [Vater dort Pfarrverwalter]

1898-1901 Volksschule in Dalheim [Vater dort Pfarrer]

1901-1905 Progymnasium Alzey [Vater Pfarrer in Flomborn, heute Verbandsgemeinde Alzey-Land]

1905-1910 Neues Gymnasium Darmstadt [Vater Pfarrer in Arheilgen]

1910-1914 Studium der evangelischen Theologie in Tübingen und Gießen (I. Examen Februar 1914)

1914 Einjährig-Freiwilliger im 2. Großherzoglich Hessischen Infanterie-Regiment Nr. 116 in Gießen

1914 Kriegsfreiwilliger, eingesetzt an West- und Ostfront (zuletzt Unteroffizier)

1915-1919 Russische Kriegsgefangenschaft

1917 Lagergeistlicher in Tschita, Ostsibirien

1918 Vikar der evangelisch-russischen Gemeinde in Irkutsk

1918 Nach Fluchtversuch im Straflager Tomsk

1919 Bibliothekar an der Akademie des russischen Großen Generalstabs

1919/20 Flucht über Wladiwostok und Indien nach Europa und schließlich Rückkehr nach Darmstadt

1920 Wiederaufnahme des Studiums der evangelischen Theologie (II. Examen Mai 1921)

1921 Pfarrvikar in Erbach im Odenwald (Ordination am 05.06.1921), Assistent an der französisch-

reformierten Gemeinde in Neu-Isenburg, Verwalter der 2. Pfarrstelle in Reichelsheim im Odenwald

1921 Hochzeit mit Erna Backhaus in Oldenburg (ein Sohn * 1924)

1922 Pfarrer in Reichelsheim

1924 Promotion (Lic. Theol.) in Gießen, „Über das Amt der Ältesten in der Kirche Hessen-Darmstadts“

1925-1934 Landesjugendpfarrer der evangelischen Landeskirche Hessen-Darmstadt; zeitweise Vor-

sitzender des Landesausschusses der deutschen Jugendverbände

1933-1945 Mitglied der SA(-Reserve II); Eintritt in die SA: 03.11.1933; Rang 1939: Rottenführer

1933 Mitglied des Kulturausschusses der HJ-Bannführung (Darmstadt)

1933 Mitglied der „Deutschen Christen“

1933-1939 Förderndes Mitglied der SS

1933-1945 Mitglied der NSV

1934-1944 Lehrer an der Justus-Liebig-Schule Darmstadt (Oberrealschule)

Ab 1934 Mitglied des NS-Lehrerbunds

1936 Ernennung zum Studienrat

1937-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 5224003, Aufnahme beantragt: 06.06.1937)

1939 Promotion (Dr. phil.) in Gießen, „Das Volkstanzgut im Rheinfränkischen“ (summa cum laude),

bei Prof. Alfred Götze

1939 Teilnahme an der Dritten Internationalen Volkstanz-Tagung in Stockholm

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6

1940 Beginn der Arbeit im Auftrag des „Ahnenerbes“ (Amt A Hauptamt „Persönlicher Stab des

Reichsführers-SS“)

1941 volkskundliche Befragungen in „Umsiedlerlagern der Dobrudscha-Deutschen“

1943 Beförderung zum SA-Scharführer

1944 Einberufung zum Zollgrenzschutz nach Diedenhofen (Lothringen)

1945 amerikanische Kriegsgefangenschaft und Rückkehr nach Darmstadt

1945/46 Pfarrtätigkeit in Darmstadt-Eberstadt

1947 Mitarbeit im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt

1947/48 Krankenhausseelsorger

1948 Lehrer an der Viktoriaschule in Darmstadt

1951 (Mit-)Initiator des ersten deutschen Volkskundekongresses in Jugenheim (Bergstraße)

1952 Referat auf internationalem Volksmusik-Kongress auf Mallorca (Spanien)

† 21. Mai 1955 in Darmstadt

Nach dem Krieg Mitglied der Kommission der Gesellschaft für deutsche Musikforschung; Mitarbeiter

der Commission des Arts et Traditions Populaires (CIAP, Vorgängerorganisation der Internationalen

Gesellschaft für Ethnologie und Folklore)

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Landesjugendpfarrer, Lehrer und Pg.

Als studierter und promovierter evangelischer Theologe war Hans von der Au von 1925 bis

1934 als Landesjugendpfarrer der evangelischen Landeskirche Hessen-Darmstadt aktiv. Das

Amt war 1922 eingeführt worden, die Jugendpfarrer sowohl Vertreter der evangelischen

Jugendverbände als auch der gemeindlichen Jugendarbeit. Von der Au löste den ersten Lan-

desjugendpfarrer Rudolf Zentgraf ab, der 1925 zum Superintendenten und Oberkirchenrat

ernannt nach Mainz wechselte, dort unter anderem weiterhin für Jugendarbeit zuständig.

Im Verlauf des Jahres 1933 geriet die evangelische Jugendarbeit zunehmend unter politi-

schen Druck. In der ersten Jahreshälfte 1933 waren die evangelischen Jugendverbände von

ihrem missionarischen Auftrag im „Dritten Reich“ weitgehend überzeugt. Adolf Hitler gerier-

te sich als deutsch und christlich, die evangelische Jugend und ihre Vertreter zeigten sich –

wie viele Kirchenführer – begeistert. Die Landeskirche Hessen-Darmstadt verordnete etwa,

des neuen Reichskanzlers in den Fürbitten an Ostermontag zu gedenken. Allerdings änderten

sich die Rahmenbedingungen bis zur im Dezember 1933 beschlossenen Eingliederung der

evangelischen Jugend in die HJ maßgeblich. Hans von der Au war als Landesjugendpfarrer in

die Entwicklung involviert. Anfang Juni 1933 schrieb er in einem Brief an Pfarrer Georg

Probst („treibende Kraft bei den DC“, Dam, S. 211), es sei „gar ins Auge gefasst worden, die

evangelische Vereinsjugend organisch in die Hitlerjugend einzubauen“. Im gleichen Monat

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war von der Au Mitglied des Kulturausschusses bei der HJ-Bannführung. Seine persönliche

Auffassung formulierte er in einem Brief an Pfarrer Ernst zur Nieden (Jugendpfarrer in Of-

fenbach) wie folgt:

„Es scheint mir doch immer mehr fraglich, wie weit wir ein Recht dazu haben, unsere Jugend in das

Ghetto einsperren zu lassen, von dem aus ihr keine Teilnahme am neuen Staat mehr möglich sein

wird. […] Von dem totalen Anspruch des Staates kann nicht abgegangen werden durch die H.J. und

das ist ihr gutes Recht“ (28.07.1933, zitiert nach Neumeier, S. 158).

Hans von der Au unterstützte in seiner Funktion als Jugendpfarrer die Einführung von Ju-

gend- bzw. Jungmännerabenden, deren Stamm die evangelischen Jugendlichen der HJ bzw.

die Jungmänner der SA bildeten, die aber auch für andere evangelische Jugendliche und jun-

ge Männer offen waren. Auf einer feierlichen Einführung dieser Abende in Friedberg am

13.09.1933 berichtete von der Au von seiner mehrjährigen Kriegsgefangenschaft in Sibirien.

Laut Pressebericht war dessen zentrale Botschaft „das Bekenntnis: trotz unsäglichen Leiden

kann der Glaube und die Liebe zur Heimat nicht erstickt werden. ‚Die deutsche Treue lebt

noch‘“ (KKD, Bd. II, S. 32). Laut eigenen Aussagen (kirchlicher Fragebogen, 12.12.1945) ge-

hörte Hans von der Au im Sommer 1933 den „Deutschen Christen“ (DC) an.

Im November 1933 trat von der Au der SA bei. Dennoch wurde er bei „Neuordnung des EJW

und Eingliederung in die HJ“, verfügt am 16.01.1934, nicht berücksichtigt, worüber sich

Oberkirchenrat Zentgraf, noch immer Referent für Jugendarbeit beim Landeskirchenamt,

beim Reichsjugendpfarrer Zahn vehement beschwerte. Von der Au habe lediglich „der Bann-

führung in Darmstadt gegenüber die Belange der evang. Jugend pflichtgemäß energisch ge-

wahrt“. Als Bevollmächtigter für die Landeskirche käme aus Zentgrafs Sicht nur „unser Lan-

desjugendpfarrer“ in Frage, zumal „von der Au in seiner Einstellung zum NS in keiner Weise

beanstandet werden kann.“

Mit der Zusammenlegung der drei Landeskirchen (Hessen-Darmstadt, Nassau, Frankfurt) zur

Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen (EKNH) endete die Tätigkeit von Hans von der Au

als Landesjugendpfarrer. Als neuer Landesjugendpfarrer der EKNH wurde Hermann Haaß (bis

dahin Pfarrer in Wald-Michelbach) berufen.

Hans von der Au wechselte daraufhin (16.04.1934) in den Schuldienst. Er unterrichtete an

der Justus-Liebig-Schule in Darmstadt Religion und Latein. Offiziell ernannt wurde „der Lan-

desjugendpfarrer zu Darmstadt Lit. Hans von der Au zum Studienrat an der Liebig-

Oberrealschule zu Darmstadt“ am 05.02.1936 (Regierungsblatt 1936, Beilage 5, S. 24).

Laut einer Beurteilung durch das Sicherheitshauptamt (auf Anfrage des SS-Sturmbannführers

Sievers [Geschäftsführer des „Ahnenerbes“] beim SD-Unterabschnitt Hessen, Eingang

24.01.1939, BArch, BDC, NS 21/893) gelang es Hans von der Au in der SA „durch rege Vor-

tragstätigkeit bei Veranstaltungen festen Fuß zu fassen und, ähnlich wie vor 1933, nun auch

im neuen Staat seine Gönner zu finden“. Auf der SA-Stammliste wird sein Rang mit „Rotten-

führer“ angegeben, 1943 wurde er zum „Scharführer“ ernannt. Dass von der Au bis zu seiner

Einberufung im Mai 1944 in der SA aktiv blieb, legt eine Bemerkung auf einer Postkarte an

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seinen Freund Hans Severin vom 18.04.1944 (AdJB, N 32) nahe („Sonntag habe ich den gan-

zen Tag SA-Dienst“).

Nach der Aufnahmesperre war Hans von der Au, entsprechend datiert auf den 01.05.1937,

Mitglied der NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 5224003, laut Karteikarte Aufnahme beantragt

am 06.06.1937, BArch, BDC, NSDAP-Migliederdatei). Von 1933 bis 1939 unterstützte er als

förderndes Mitglied die SS. Er war zudem Mitglied der NSV, des NSLB, des RKB und des

NSKOV.

Zum 01.05.1944 bekam von der Au den „Gestellungsbefehl“ zum Zollgrenzschutz nach Die-

denhofen (Lothringen). Er geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er im Mai

1945 nach Darmstadt zurückkehrte.

Volkskundliche Forschung und „Ahnenerbe“

In der Zeit zwischen 1933 und 1945 betätigte sich Hans von der Au verstärkt im Bereich der

volkskundlichen Forschung. Er veröffentlichte Dutzende volkskundlicher Aufsätze und

Sammlungen zu Volkstänzen, Volksliedern und Brauchtum. Einige der Beiträge erschienen in

der Zeitschrift „Volk und Scholle. Monatshefte für Volkstum und Heimat der Landschaft

Rheinfranken-Nassau-Hessen“. Deren Herausgeber, Friedrich Ringshausen, auch Führer des

Landschaftsbunds für Volkstum und Heimat, war einer der oben angedeuteten „Gönner“ von

der Aus im „neuen Staat“. Ringshausen, Mitglied der NSDAP seit 1923/25 (Mitglieds-Nr.

8993), übertrug von der Au das Referat für Volkstanz. Von der Au bezeichnete sich fortan als

Gaureferent im Landschaftsbund Volkstum und Heimat und als Leiter der Volksliedstelle für

Hessen. Nach Ringshausens Tod 1941 war von der Au einer der drei Verfasser/Unterzeichner

eines Nachrufs auf den Verstorbenen in „Volk und Scholle“ (1941, Heft 3).

Die Basis seiner Veröffentlichungen bildeten umfangreiche Sammlungen, die Hans von der

Au persönlich und in Zusammenarbeit mit anderen Heimat- und Volkstumsforschern anleg-

te. Er galt als profunder Kenner des hessischen Brauchtums, insbesondere des Odenwalds.

Gemeinsam mit Dr. Heinrich Winter (Heppenheim) bereiste er wiederholt den Spessart

(1937/1939). Sein spezielles Augenmerk galt den Volkstänzen, auch Gegenstand seiner Dis-

sertation 1939 bei Prof. Alfred Götze in Gießen unter dem Titel „Das Volkstanzgut im Rhein-

fränkischen“ (bewertet mit „summa cum laude“).

Hans von der Au hielt zahlreiche Vorträge und veranstaltete Tagungen, Lehrgänge sowie

Seminare zu volkskundlichen Themen. Bereits zu seiner Zeit als Jugendpfarrer hatte er bei

Freizeiten sogenannte „Heimatabende“ eingeführt. Er stand in internationalem Austausch

mit Volkskundlern in Österreich, der Schweiz, Dänemark und dem Elsaß und referierte 1939

auf der Dritten Internationalen Volkstanz-Tagung in Stockholm. Besonders aktiv war er je-

doch innerhalb der heimatlichen Region. Wiederholt wurde er in „Volk und Scholle“ als Refe-

rent angekündigt („Pg. Dr. Hans von der Au“), etwa 1941 mit einem Vortrag zu „Volkstum

und Schule“ im Rahmen einer Veranstaltung des Heimatbunds als „Vertretung der Bundes-

leitung“. Im Odenwald hielt er – ebenfalls im Rahmen des Landschaftsbunds für Volkstum

und Heimat – Lehrgänge und Volkstanz-Seminare auf Schloss Lichtenberg und regelmäßig

auf der Burg Breuberg. „Die Teilnehmer gehören fast ausnahmslos der NSDAP, SA, SS, dem

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NSFK, NSLB, NSDStB und BDM an“, hieß es dazu in oben genannter Beurteilung von der Aus

durch den SD-UA Hessen von Januar 1939.

Einen weiteren „Gönner“ hatte Hans von der Au in Prof. Richard Wolfram, Leiter der „Lehr-

und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde des ‚Ahnenerbes‘, Salzburg –

Wien“. Auf Wolframs Antrag hin wurden Hans von der Au und sein Kollege Heinrich Winter

Mitarbeiter des „Ahnenerbes“. Wolfram, seinerseits besonders an der Erforschung der

Volkstänze interessiert – und ausgestattet mit persönlicher Unterstützung durch den Reichs-

führer-SS Heinrich Himmler –, lobte von der Au als einen der erfolgreichsten Volkstanz-

sammler und besten Volkstanzforscher Deutschlands (Brief an Reichgeschäftsführung des

„Ahnenerbes“, 30.06.1941, BArch, BDC, NS 21/893). Im März 1940 informierte Prof. Wolf-

ram Hans von der Au (im Auftrag der Reichsgeschäftsführung) darüber, dass dieser „zur Mit-

arbeit am ‚Ahnenerbe‘“ eingeladen sei und dass er sich „von einer Zusammenarbeit für bei-

de Teile besonders fruchtbare Ergebnisse“ erwarte. Tatsächlich arbeiteten Heinrich Winter

und Hans von der Au im Jahr 1941 im Auftrag des „Ahnenerbes“ an der „volkskundlichen

Erfassung der Dobrudscha-Deutschen“ in „Lagern am Main“. „Ihre Ergebnisse haben sie be-

reits in zwei umfangreichen Belegbänden an das ‚Ahnenerbe‘ abgeliefert. Die Ergebnisse

sind ausgezeichnet und Obersturmbannführer Sievers hat auch bereits seine Zufriedenheit

mit dieser Arbeit zum Ausdruck gebracht“ (Prof. Richard Wolfram, ebenda). SS-Obersturm-

bannführer Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer des „Ahnenerbes“, das seit 1940 als Amt

A dem Hauptamt „Persönlicher Stab des Reichsführers-SS“ angeschlossen war, bestätigte,

dass im Auftrag des „Ahnenerbes“ und

„im Einvernehmen mit dem Reichsführer-SS – Reichskommissar für die Festigung deutschen Volks-

tums – (SS-Obersturmführer Dr. Walter) die Volkstumsforscher Dr. Winter, Heppenheim, und Dr.

Hans von der Au, Darmstadt, volkskundliche Aufnahmen […] durchführen“ (Sievers an den Leiter des

Lagers Aschaffenburg-Leider, 15.03.1941, BArch Berlin, NS 21/893).

Ebenfalls 1941 erhielt von der Au von Prof. Wolfram den Auftrag, die Volkstänze im Elsass

und in Lothringen (besonders „getanzte Balladen“) vor Ort zu erforschen. Das Vorhaben

konnte allerdings – trotz mehrmaliger Eingaben – nicht durchgeführt werden, da das „Ah-

nenerbe“ eine derartige Forschungsreise zum damaligen Zeitpunkt (Sommer 1941) für nicht

angebracht erachtete. Es blieb bei einem vorbereitenden Aufenthalt von der Aus im Unter-

Elsass an Pfingsten 1941, wofür noch die schriftliche Beauftragung Prof. Wolframs zur Erlan-

gung der Einreise-Erlaubnis genügte. Eine letzte Chance sah von der Au 1944 in seiner Einbe-

rufung zum Zollgrenzschutz nach Lothringen: Er wandte sich an das „Ahnenerbe“ mit der

Bitte, ihm vor Ort volkskundliche Forschungen zu ermöglichen. „Meine dortigen Ergebnisse

stelle ich dem Ahnenerbe zur Verfügung“, ließ er wissen (Brief an das „Ahnenerbe“,

25.04.1944, BArch Berlin, NS 21/893). Im Antwortschreiben (12.05.1944, ebenda) wurde er

darauf hingewiesen, dass er als Soldat in Lothringen sei und das Amt „Ahnenerbe“ keine

Möglichkeit habe, seine angefragte Unterstützung zu gewährleisten. Auch der Einsatz von

Prof. Wolfram, der von der Au nun als „beste[n] und erfolgreichste[n] Volkstanzsammler des

Altreiches“ pries, konnte dieses Mal nicht helfen (04.04.1944, Richard Wolfram, an SS-

Standartenführer Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer des Ahnenerbes, BArch Berlin, NS

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21/237). Wolfram hätte von der Au gerne als seinen Mitarbeiter gesehen, wenn das „Ah-

nenerbe“ die Einberufung hätte verhindern können. Doch das war zu der Zeit nur für dieje-

nigen Wissenschaftler möglich, die „unmittelbar an der Durchführung kriegsentscheidender

Aufgaben beteiligt werden“ sollten (13.04.1944, Amt „Ahnenerbe“, an Prof. Richard Wolf-

ram, Wien, BArch Berlin, NS 21/237). Eine Beschäftigung im Dienste des „Ahnenerbe“ beste-

he durchaus, wie es an gleicher Stelle hieß – nicht aber eine Freistellung von der erfolgten

Einberufung.

Intensiven Kontakt beim „Ahnenerbe“ pflegte Hans von der Au des Weiteren zu Dr. Hans

Ernst Schneider, Abteilungsleiter im persönlichen Stab des Reichsführers-SS und Mitarbeiter

Prof. Wolframs, der 1945 seine Identität in „Hans Schwerte“ änderte. In persönlichen Brie-

fen, die auf eine gewisse Vertrautheit schließen lassen, tauschten Schneider und von der Au

Ergebnisse ihrer Forschung im Bereich „Tanzgut“ aus. – Wolfram hatte in seinem oben er-

wähnten Empfehlungsschreiben vom April 1944 darauf verwiesen, dass von der Au die durch

„Abkommandierung von Dr. Schneider“ frei gewordene Mitarbeiterstelle besetzen könnte.

In der mehrfach erwähnten Beurteilung durch den SD-UA Hessen, die sowohl Wolfram Sie-

vers als auch Hans Schneider vorlag, wird von der Aus politische Haltung „als konjunkturbe-

dingt und als nicht einwandfrei zuverlässig“ (Schneider bei der Weiterleitung an Sievers,

29.01.1939) geschildert. Wörtlich hieß es in der Beurteilung:

„Von der Au gilt als Mensch mit wenig Charakterstärke, der es vor allem versteht, die jeweils für ihn

günstige Konjunktur auszunützen. Für ein Amt in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen erscheint

er nicht geeignet. Besondere Vorsicht ist bei der Erteilung von Aufträgen durch Parteistellen an von

der Au notwendig, da er auf Grund seiner bisher gezeigten Haltung immer versuchen wird, einen ihm

einmal erteilten Auftrag später als Beweis seiner politischen Zuverlässigkeit und Fähigkeit heranzu-

ziehen.“

Dennoch unterstützte Reichsgeschäftsführer Wolfram Sievers die Mitarbeit von der Aus am

„Ahnenerbe“ und erteilte „selbstverständlich“ (Sievers an Prof. Wolfram, 14.01.1942) seine

Genehmigung für die Mitarbeit von der Aus an der Herausgabe seiner Aufzeichnungen in der

Sammlung „Deutsche Volkstänze“. Unter Verweis auf ein (vermutlich anderes) Gutachten

des SD fand sich folgende Beurteilung:

„Nach Ansichten von Parteikreisen handelt es sich bei von der Au um einen evangelischen Theologen,

der wohl aus dem Dienst der Kirche ausgeschieden sei und den besten Willen habe, im Sinne der

Bewegung tätig zu sein, dem es aber andererseits unmöglich sei, sich von seinen christlichen Auffas-

sungen frei zu machen“ (undatiert, BArch Berlin, NS 15/122).

Antisemitische Veröffentlichung

Unter den oben erwähnten Veröffentlichungen findet sich im Jahrgang 1938 von „Volk und

Scholle“ von der Aus Aufsatz „Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken“, auf den er

auch in seiner Dissertation „Das Volkstanzgut im Rheinfränkischen“ verweist (S. 44, FN 156).

Der Beitrag erschien in zwei Teilen: Im ersten Teil (Heft 2, S. 41-51) befasste sich von der Au

mit dem „Inhalt der Spottlieder auf die Juden“, im zweiten Teil (Heft 3, S. 83-86) stellte er die

dazugehörigen Tanzformen und deren Verbreitung vor. [In Heft 8, S. 222, des gleichen Jahr-

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gangs wurde zudem eine „Kindheitserinnerung“ einer „aufmerksame[n] Leserin“ zum Thema

veröffentlicht.]

Von der Au stellt seinen mit dem Untertitel „Auch ein Kapitel Volksseelenkunde“ versehenen

Ausführungen einen einleitenden, programmatischen Absatz voran:

„Der Einfluss des Juden auf die deutsche Kultur, bis zur Machtübernahme 1933 auf ein unerhörtes

Maß gestiegen, ist endlich im Dritten Reich abgestoppt. Eine Besinnung auf die Ausmerzung des jüdi-

schen Anteils auf sämtlichen Gebieten unseres völkischen, nicht zuletzt des Geisteslebens und der

Kunst, ist daher unaufgebbare, immer neu gestellte Pflicht jedes Deutschen.“ [Absatz in der Ausgabe

von „Volk und Scholle“ im HHStAD überklebt]

In der Folge beschreibt der Autor die Spottlieder und -tänze auf Juden als Ausdruck „von

dem Schicksal seines [des Bauerns] Daseinskampfes, das ihm der Jude dank fehlender staat-

licher Maßnahmen bestimmt hatte“. Da das Lied, so von der Au, allgemein als „der reinste

Niederschlag seelischen Erlebens“ anzusehen sei, seien die zusammengetragenen Spottlie-

der auf Juden als „ein unbestechliches Zeugnis für die wirkliche Stellung unseres Volkes zum

Juden“ zu betrachten. Bevor von der Au die von ihm zusammengetragenen Beispiele für

Spottlieder und -tänze auf Juden thematisch geordnet vorstellt, differenziert er ausdrücklich

zwischen „Hohn“ und „Spott“. Anders als „Hohn“ (oder „Haß“) deute „der Spott eine innere

Überlegenheit über seinen Gegenstand, zugleich auch einen gewissen Abstand von ihm an“.

Mit dem Spott auf Juden, der in der ländlichen Bevölkerung tief verwurzelt sei und auf „ural-

te Motive“ zurückgreife, sei es allerdings nicht getan gewesen:

„Freilich, der Spott bringt es nicht zu Taten. Erst der Zorn als männliche Tugend reißt über die innere

Ausgeglichenheit, die sich die ‚unbedingte Ruh‘ als Endzustand wünscht, hinaus zur befreienden

Handlung. Drum durfte die seelische Haltung unseres Volkes zum Juden, wie sie sich im (Spott-)Tanze

spiegelt, nicht das Letzte sein. Drum hat Deutschland zum Reiche des Führers erweckt werden müs-

sen aus der menschlich verständlichen Ergebenheit in ein nun einmal so gewordenes Schicksal zur

wach gerüttelten Unruhe völkischen Bewußtseins.“

Im zweiten Teil des Aufsatzes wird – nach Auflistung und Auswertung von Spott-Tänzen auf

Juden – noch die Bedeutung „des Juden“ im ländlichen Brauchtum thematisiert und ab-

schließend auf einen „eingegangenen“ Brauch verwiesen, wonach im Fastnachts- bzw. Os-

terfeuer „der Jud‘“ verbrannt wurde. Darauf bezieht sich Au in seinen abschließenden Deu-

tungen:

„Hier erst geht ganz klar hervor, was im Tiefsten der ‚Jud‘ ist: Das, was vernichtet werden soll, und

zwar vollständig, indem es das Feuer verzehrt, denn er ist der Inbegriff des Lebensfeindlichen,

Schmutzigen, Unheiligen. Drum muß er im Kampf mit dem Neuen, Aufstrebenden unterliegen. Die-

sen Kampf hat unser Volk begriffen und – oft mit mythischem Hintergrund – dargestellt im Sieg des

Lichtes über die Finsternis. Daß ein solcher Vorgang vom Tanz begleitet wird, ist, wie nicht anders zu

erwarten, für viele Orte belegt. Und hier enthüllt sich noch besser, noch mehr überzeugend das tiefs-

te Wissen unseres Volkes vom Wesen des Juden und seine Haltung ihm gegenüber im Grundsätzli-

chen hinaus über allen Kampf des Daseinskampfes. Die in Tanz und Brauchtum auf dem Umweg über

den Spott zum Ausdruck gestaltete Hoffnung und Sehnsucht aber hat ihre Erfüllung gefunden: durch

Adolf Hitler!“ [„durch Adolf Hitler!“ in der Ausgabe von „Volk und Scholle“ im HHStAD überklebt]

Der Beitrag endet mit dem Abdruck der Noten der „Antisemiten-Polka aus dem Odenwald“.

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Entnazifizierung

[Quelle: HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 500142]

Am 25. April 1946 füllte Hans von der Au seinen „Meldebogen auf Grund des Gesetzes zur

Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946“ aus. Er gab darin folgen-

de Mitgliedschaften in „Naziorganisationen“ an (in Klammern zusätzliche Angaben):

NSDAP (1937-1944), Allgemeine SS (Förderndes Mitglied 1933-1939), SA (Res. 2, Ende 1933-1944,

Amt Scharführer 1943), NSLB (1934-1941?), Reichskolonialbund (?), NSKOV (übernommen aus Ver.

ehem. Kriegsgef.), VDA (übernommen, 1928), NSV (1934-1944), Rotes Kreuz (?)

Die Angaben decken sich mit Informationen aus NSDAP-Parteikartei, SA-Stammrolle und

Parteistatistischer Erhebung 1939. Außerdem gab von der Au in gleicher Kategorie („Nazior-

ganisationen“) „Bekennende Kirche, 1934[überschrieben: 1933]-1938, z. Austr. gezwungen“

zu Protokoll. Auf Grund der gemachten Angaben wurde er zunächst in die Kategorie II (Akti-

visten) eingestuft; selbst stufte er sich als „Mitläufer“ ein. Unter „Bemerkungen“ gab er zu-

dem an:

„Durch Partei kirchl. Amt verloren, Gestapoverf., Parteigerichtsverf., Redeverbot durch Gauleiter,

wissenschaftl. Arbeit benachteiligt, als Theologe f. Wehrmacht freigegeben. Infolge Druckes zur

SA’Res 2 gekommen und automatisch z. Partei“

Zahlreiche Zeugen bescheinigten Hans von der Au, dass er kein überzeugter Nationalsozialist

gewesen sein könne. Er sei vielmehr „sachlich mit allem Abstand gegen die Übersteigerun-

gen und Ungerechtigkeiten des Systems“ eingestellt gewesen; ein anderer „lernte ihn schät-

zen als einen Menschen, der, ohne sich um parteipolitische Ziele zu kümmern, seinen Weg

ging“; ein weiterer wusste zu berichten, dass er „von gewissen Parteistellen scharf abge-

lehnt“ wurde. Auch die Aussagen vier weiterer Personen schildern Hans von der Au in ver-

gleichbarere Art und Weise:

- „Ein Nazi-Aktivist kann er meines Wissens und seinem ganzen Verhalten nach nicht gut gewesen

sein.“

- „Herr Dr. von der Au ist viel zu religiös veranlagt, als dass er ein Nazi und Förderer des Nationalsozi-

alismus hätte sein können.“

- „Er gehörte zu den Idealisten, die geglaubt haben, seinen Verband vor der Mitgliedschaft bei der HJ

dadurch bewahren zu können, dass er selbst in die Partei eintrat. Er hatte aber dort, wie fast alle,

nichts zu sagen […].“

- „Wenn er der Partei näher getreten ist, so hat dies meiner festen Überzeugung nach lediglich darin

seinen Grund, dass auf ihn als Beamten wie dies allgemein üblich war ein starker Druck ausgeübt

worden war. Die wahre Gesinnung des Herren von der Au war stets diejenige eines bewussten und

aufrechten christlichen Mannes, der in zahlreichen Gesprächen, die ich mit ihm in den letzten Jahren

vor dem Zusammenbruch führen konnte, mit mir in der eindeutigen Verurteilung des Nazismus und

seiner schlimmen Methoden durchaus übereinstimmte.“

Hans von der Au selbst gab eine dreiseitige Erklärung zu seinem Wirken im NS ab. Er habe

sich 1933 geweigert in die NSDAP einzutreten, sei aber gedrängt worden, „dann wenigstens

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förderndes Mitglied der Schutzstaffeln zu werden und kam so dazu, dem damaligen Sturm-

bannführer das 1. Kind zu taufen.“ Er habe im Frühsommer 1933 allen „Versuchungen und

Lockungen“ widerstanden, evangelische Jugendverbände in die HJ zu überführen. Ergebnis

seien öffentliche Diskriminierung seiner Person und Übergriffe der HJ auf evangelische Ju-

gendarbeit gewesen.

„Wohlmeinende Pgg rieten mir damals, die mir übertragene kirchliche Jugendarbeit dadurch zu

schützen und zu erhalten, daß ich mich einer NS Organisation anschlösse. So meldete ich mich Ende

1933 bei der SA-Reserve II an, also nicht aus eigener Initiative, sondern infolge des maßlosen Druckes

von Seiten der HJ, dem die gesamte kirchliche Jugendarbeit und ich selber als ihr Exponent ausge-

setzt waren.“ [Hervorhebung – auch im Folgenden – im Original]

Dennoch, so von der Au, verlor er sein kirchliches Amt als Jugendpfarrer. „Da ich aber nicht

mehr unter dem DC-Kirchenregiment tätig sein wollte, meldete ich mich auf die gerade frei

gewordene Religionslehrerstelle an der Liebig-Oberrealschule in Darmstadt.“ Da er nun in

ein staatliches Dienstverhältnis eingetreten war, sei ein Austritt aus der SA nicht mehr mög-

lich gewesen. Wegen seiner Mitgliedschaft in der BK sei er von der Gestapo überwacht wor-

den und wiederholt Vorwürfen ausgesetzt gewesen, Schülerinnen und Schüler negativ zu

beeinflussen.

„Als ich dann im Jahre 1938 automatisch nach 5jähriger Zugehörigkeit zu SA-Reserve II unter Zurück-

datierung auf den 1. Mai 1937 Parteigenosse geworden war, meldete ich, allem Vorhergegangenen

zum Trotz, meine Entlassung aus SA und Partei an, die mir jedoch abgeschlagen wurde.“

Weiterhin beschrieb Hans von der Au die Schwierigkeiten, die ihm seitens der NSDAP sowie

der Gestapo gemacht worden seien. Er habe unter anderem keinerlei Unterstützung für sei-

ne volkskundliche Arbeit erhalten; er sei gezwungen worden, aus der BK und dem Pfarrver-

ein auszutreten. „Als Theologe war ich Volks- und ebenso Parteigenosse 2. Klasse und wurde

daher von volkskundlichen Fachtagungen trotz meiner anderweitig, besonders von österrei-

chischer Seite anerkannten Forschungen mit Vorträgen stets abgelehnt.“ Wegen seines

kirchlichen Standpunkts sei er denunziert und schließlich wegen politischer Unzuverlässigkeit

angeklagt worden, „wegen Verächtlichmachung der NS Weltanschauung beim Gau- und spä-

ter beim Reichsparteigericht angezeigt mit dem Ziele meiner Entfernung aus Partei und Amt.

Das Verfahren wurde schließlich eingestellt und meine Entlassung aus der Partei auf die Zeit

nach Kriegsende festgesetzt.“ Auch sei gegen ihn – auf Eingabe des Gauwalters des NSLB –

ein Redeverbot ausgesprochen worden [ein Zeuge bestätigt das Redeverbot, das allerdings

erst im Herbst 1943 ausgesprochen wurde – was von der Au hier nicht erwähnt].

Er schloss seine Ausführungen mit dem Verweis darauf, dass er nie ein Amt in SA oder

NSDAP inne gehabt habe – seine Ernennung zum Scharführer sei lediglich „nominell“ und

automatisch erfolgt – und seine theologische Überzeugung ihn „in inneren Gegensatz zur

NSDAP“ gebracht habe: „Ich habe im Zusammenbruch des Naziregimes ein Gottesgericht

erwartet und – erlebt.“

Der öffentliche Kläger nahm von der Aus Erklärung sowie die „Persilscheine“ zur Kenntnis

und beantragte in seiner Klageschrift (14.09.1946) zunächst eine Einordnung in Gruppe III

(Minderbelastete):

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„Auf Grund seiner formalen Belastung wird der Betroffene im Anhang des Gesetzes in der Klasse II

genannt. Die Überprüfung seiner Entlastungen rechtfertigen jedoch die Einreihung des Betroffenen

in Klasse III der Minderbelasteten.“

In der Begründung der Klageschrift (unter gleichem Aktenzeichen und Datum) wurde jedoch

eine Einordnung in Kategorie IV (Mitläufer) beantragt sowie eine Sühneleistung von 2.000

RM. Die Spruchkammer Darmstadt-Stadt schloss sich in ihrem Urteil (17.09.1946) letzterem

an und übernahm in ihrer Begründung vollumfänglich die Entlastungen aus von der Aus Er-

klärung. Hans von der Au selbst erkannte den Spruch des Gerichts an – die amerikanische

Militärregierung hingegen erhob gegen Verfahren und Urteil Einspruch: Den nachweislichen

Mitgliedschaften (und deren Dauer) sei zu wenig Gewicht beigemessen worden, der Be-

troffene sei sehr wohl in der SA aktiv gewesen – habe sogar das Amt eines Pressereferenten

inne gehabt und als SA-Vertreter am Reichparteitag in Nürnberg teilgenommen –, das Ver-

hältnis zur BK habe er 1938 aufgelöst und durch seine Anstellung im Staatsdienst nicht ein-

mal finanzielle Einbußen ertragen müssen (sein Einkommen hatte er in der entsprechenden

Spalte des Meldebogens nicht angegeben, was ihm als bewusstes Verheimlichen angelastet

wurde). In der Eingabe wurde abschließend kritisiert:

„Die Geschichte über die Verfolgung des Betroffenen, wie sie im letzten Absatz der Begründung des

Klägers erzählt wird, ist auf keinerlei Beweise gestützt, sondern lediglich eine Zusammenfassung aus

den eignen Angaben des Betroffenen.“ [offizielle Übersetzung, undatiert]

Das Hessische Staatsministerium (Schreiben vom 08.01.1947, gez. Regierungsdirektor Dr.

Weißstein) schloss sich den Bedenken an, hob den Spruch vom 17.09.1946 auf und ordnete

eine erneute Durchführung des Verfahrens durch die Spruchkammer Groß-Gerau an. Eine

Eingruppierung in Klasse IV (Mitläufer) sei keineswegs vertretbar:

„Zu bewerten ist der frühere [sic!] Beitritt zur SA-Res. II & die bei einem Pfarrer besonders ins Ge-

wicht fallende Beförderung zum Scharführer, die Zugehörigkeit zur NSDAP, die fördernde Mitglied-

schaft zur SS, die Teilnahme am Reichsparteitag 1934, der Austritt aus der Bekenntniskirche und die

Tatsache, dass der Betroffene selbst hervorhebt, das 1. Kind eines Sturmbannführer[s] getauft zu

haben.“

Das Verfahren wurde daraufhin wieder aufgenommen. Hans von der Au ließ sich nun vom

Rechtsanwalt Dr. Walz (Darmstadt) vertreten, der die vorherige Erklärung des Betroffenen

juristisch präzisierte. Neue „Erklärungen“ von Zeugen gingen ein, die von der Au als Anti-

Nationalsozialisten deklarierten. Zur Gerichtsverhandlung am 19.05.1947 wurden aus-

schließlich Entlastungszeugen gehört (darunter etwa Dr. Heinrich Winter, Heppenheim).

Nach der Anhörung beantragte der öffentliche Kläger eine Einstufung in Kategorie IV (Mit-

läufer) sowie eine Sühneleistung in Höhe von 1.000 RM; der Betroffene bzw. dessen Rechts-

beistand eine Einordnung in Gruppe V der Entlasteten. Im folgenden Spruch wurde Hans von

der Au in die Gruppe IV (Mitläufer) eingereiht und zu einer Geldsühne von 500 RM verurteilt.

In der Begründung schloss sich das Gericht vollumfänglich der Argumentation des Betroffe-

nen an:

„Wiederum wurde die politisch so folgenschwere Tragik der deutschen Intellektuellen an der Persön-

lichkeit von der Au deutlich. Zu den Geistes- und Bildungsquellen Christus, Goethe, Plato und der

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Jugendbewegung hätte die politische Bestimmung treten müssen. Aber ohne diese hatte er später

bei keiner politischen Entscheidung die Kraft, sich vom Nationalsozialismus entgültig [sic!] zu tren-

nen. […] Jeder wusste, wo er stand. In Berlin war er bei der Gestapo aufgezeichnet in der Liste der zu

beobachtenden und zu verfolgenden Intellektuellen (Zeuge Dr. Winter). Seine Volkstumsarbeit wur-

de vernichtet, er selbst persönlich 2 ½ Jahre von Min.-Rat Ringshausen boykottiert. […] Er leistete

Widerstand in der B.K. und leitete verbotene Briefe und Schriften weiter. […] Die mehrstündige Be-

weisaufnahme zeigte den inneren Widerstand des Betroffenen ebenso klar und deutlich wie das

durch die Umstände (damalige Kirchenleitung, Überlieferung und Charakter) bestimmte politische

Mitläufertum.“

Gegen Verfahren und Urteil wurde keine Berufung eingelegt, es war somit rechtskräftig.

Quellen:

BArch, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch, BDC, NS 21/893 [Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“]

BArch, BDC, NS 21/237 [Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“]

BArch, BDC, NS 15/122

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 500142

HStAD, N 1 in Nr. 178 [SA-Stammliste]

HStAD, H 3 Nr. 220 [Kennkartenmeldebogen]

Regierungsblatt 1936, Beilage 5, S. 24 [Ernennung zum Studienrat]

AdJb, N 32 Nr. 116

AdJb, N 32 Nr. 141

AdJb, N 32 Nr. 187

StadtA DA, ST 61 von der Au, Dr. Dr. Hans Ludwig

Literatur:

Au, Hans von der: Der Jude im Tanz der Landschaft Rheinfranken. In: Volk und Scholle 16 (1938), Heft

2/3 + Heft 8.

Au, Hans von der: Das Volkstanzgut im Rheinfränkischen. Gießen 1939 [Dissertation].

Au, Hans von der: Deutsche Volkstänze aus der Dobrudscha. Regensburg 1955 (Quellen und For-

schungen zur musikalischen Folklore Bd. 3).

Bogs, Holger: Au, Hans von der. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 46 f.

Dam, Harmjan: Jugend und Nationalsozialismus in der Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen

1933-1945. In: Grunwald, Klaus-Dieter/Oelschläger, Ulrich (Hrsg.): Evangelische Landeskirche Nassau-

Hessen und Nationalsozialismus. Auswertungen der Kirchenkampfdokumentation der EKHN. Darm-

stadt 2014.

Clemm, Ludwig: Hans v. d. Au. In: JHKGV, Bd. 7 (1956), S. 159 f.

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16

EKHN (Hrsg.): Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau (=KKD). 9 Bde. Darmstadt

1974-1996.

Gunkel, Hermann: Kirchenkampf und Ev. Mädchenarbeit in Hessen-Darmstadt. In: JHKV 53 (2002), S.

269-298, hier 287.

Gunkel, Hermann: Haus Orbishöhe in Zwingenberg an der Bergstraße. Vom evangelischen Mädchen-

erholungsheim 1926 zur diakonischen Jugendhilfeeinrichtung 1998. Geschichtsblätter Kreis Bergstra-

ße Sonderband 19. Zwingenberg 1998.

Knöpp, Friedrich: Hans von der Au zum 100. Geburtstag. In: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße 25

(1992), S. 85-91.

Neumeier, Klaus: Frankfurter evangelische Jugendarbeit unter Paul Both im 3. Reich. Frankfurt am

Main 1988.

Reutter, Rolf: Bibliographie Hans von der Au. In: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße 25 (1992), S. 92-

106.

Ripper, Klaus (Hrsg.): Schaffe und ringe, aber singe! Gedenkschrift zum 100. Geburtstag von Dr. Dr.

Hans v. d. Au. Hessische Vereinigung für Tanz- und Trachtenpflege. Reichelsheim 1992.

Severin, Hans: Hans von der Au. Wiesbaden 1967 [Manuskript, zum 75. Geburtstag veröffentlicht in:

Volkstanz (1967), Nr. 1].

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Brandisstraße (K 7), benannt 1952 nach

Gustav Brandis (1876-1948)

Vorstandvorsitzender der HEAG

* 17. Mai 1876 in Tettens/Ostfriesland

Besuch der Volksschule im Heimatort

1891-1894 Lehre zum Maschinenschlosser und Dreher bei Firma Yess (Wilhelmshafen)

1894-1895 Arbeit als Geselle und auf Wanderschaft bei verschiedenen Firmen (Werft, Kammgarn-

spinnerei, Maschinenfabriken)

1895-1897 Elektrotechnische Ingenieursausbildung am Technikum Bremen (Abteilung Elektrotechnik

und Maschinenbau); im Anschluss an Ingenieursexamen zunächst Arbeit als Dreher

1898 Maschinentechniker bei Lüner Hütte (Lünen/Lippe)

1898-1905 Ingenieur in der Montageabteilung des Kabelwerks Felten und Guilleaume (Mühlheim am

Rhein), Montageeinsatz auch im Ausland (Belgien, Holland, Portugal)

1905-1912 Ingenieur und Oberingenieur beim Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk (RWE), Es-

sen

1908 Leitung des Ausbaus des elektrischen Leitungsnetzes im Kreis Düsseldorf

1912-1945 In Diensten der HEAG Darmstadt; zunächst – als Oberingenieur mit Plan und Bauleitung

für das Überlandnetz betraut – nur für zwei Jahre von RWE „ausgeliehen“, dann dauerhaft und in

leitender Funktion; unter seiner Leitung Ausbau des Strom- und Straßenbahn-Netzes

1918 Wahl in den Vorstand der HEAG

1919-1945 Vorstandsvorsitzender der HEAG (von 1933-1945 „Betriebsführer“)

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 2018711; Eintrittsdatum: 01.05.1933)

1933-ca. 1940 förderndes Mitglied des NSKK

1934 Hochzeit mit Alice Lingenfelder in deren Geburtsort Neustadt/Haardt

1935-1945 Mitglied der NSV

1935-1945 Mitglied der DAF

1935-1943 Leiter des Bezirks Groß-Hessen der Wirtschaftsgruppe Elektrizitätsversorgung

1937-1939 Mitglied des Vorstandsrats der Vereinigung von Freunden der Technischen Hochschule

Darmstadt

† 19. September 1948 in Darmstadt

Ehrungen:

1937 Feierlichkeit der HEAG zu Ehren von Direktor Brandis anlässlich seiner 25jährigen Betriebszuge-

hörigkeit

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Wirken in der NS-Zeit

Direktor Gustav Brandis, seit 1919 Vorstandsvorsitzender der HEAG, leitete von 1933 bis

1945 als „Betriebsführer“ das Darmstädter Elektrizitäts- und Verkehrsunternehmen. Bereits

1912, im Gründungsjahr der HEAG, war er als Oberingenieur nach Darmstadt geholt worden

und zunächst mit der Planung sowie der Bauleitung des Überlandnetzes betraut. Unter sei-

ner Verantwortung wurde das Strom- und Straßenbahnnetz der HEAG maßgeblich ausge-

baut. In der Wirtschaftsgruppe Elektrizitätsversorgung war er von 1935 bis 1943 Leiter des

Bezirks Groß-Hessen.

Gustav Brandis, seit 01.05.1933 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 2018711) und ebenfalls

seit Mai 1933 förderndes Mitglied des NSKK, war eigenen Angaben zu Folge von 1935 bis

1945 Mitglied der NSV sowie der DAF (Teilnahmen an Vertrauensrats-Schulungen der DAF

sind belegt). Er war ebenfalls Mitglied im NSBDT sowie im NSRL (jeweils ohne Zeitangabe)

sowie schon vor 1933 im DRK und im VDA.

Unter Verantwortung ihres „Betriebsführers“ Gustav Brandis stellte die HEAG im „Dritten

Reich“ ein nationalsozialistisch durchorganisiertes Unternehmen dar, das zwischen 1941 und

1945 auch zahlreiche Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene be-

schäftigte (ausführlich zur Geschichte der HEAG 1933-1945, auch zur Rolle von Gustav Bran-

dis, siehe die Ausführungen von Peter Engels in „100 Jahre HEAG“, S. 44-51, zur Zwangsar-

beit S. 47). Ende März 1933 wurde eine eigene Zelle „HEAG“ der NSBO gegründet, die später

in der NS-Einheitsgewerkschaft DAF aufging. Ein großer Teil der Belegschaft („Gefolgschaft“)

war Mitglied in NS-Organisationen; durch die Aufteilung in Zellen und Blocks wurde zudem

ein weitreichendes Überwachungssystem installiert. Der Betriebsrat wurde durch einen mit

NSDAP-Mitgliedern besetzten Vertrauensrat ersetzt. Seitens der HEAG-Leitung wurde der

Belegschaft ein Engagement im NS zumindest nahegelegt. Ein von Brandis unterzeichnetes

Schreiben ging im September 1933 an diejenigen Belegschaftsmitglieder, die sich bis dahin

nicht NS-Organisationen angeschlossen hatten bzw. intern als „Antifaschisten“ galten. Darin

wurden die Arbeitnehmer aufgefordert, sich zukünftig in den Dienst des NS und nicht weiter

gegen Staat und Führer zu stellen – anderenfalls hätten sie mit entsprechenden Konsequen-

zen zu rechnen („die Folgen zu tragen“).

Gemeinsam von Firmenleitung und „Gefolgschaft“ wurde ab 1937 die Mitarbeiterzeitung

„Der Heag-Kamerad“ herausgegeben, die vornehmlich der Verbreitung von NS-Ideologie

diente. Darin erschienen regelmäßig von Gustav Brandis (bzw. mit „Brandis, Betriebsführer“)

unterzeichnete Berichte und Aufrufe (Rubrik „Arbeitskameraden!“), die sich an die „Be-

triebsgemeinschaft“ richteten. In der November-Ausgabe 1939 endete ein solcher Appell mit

„Es lebe Deutschland! Es lebe der Führer! Heil Hitler!“. An anderer Stelle wurde die „Be-

triebsgemeinschaft“ von Brandis „als Hauptpfeiler der vom Führer gewollten Volksgemein-

schaft“ bezeichnet. Im März 1941 erschien ein von Brandis unterzeichneter Artikel, in dem er

die Kriegserfolge als „Ergebnisse einer genialen, überragenden Führung, die das Unvorstell-

bare erreichen konnte“ bezeichnete, „auf Grund des unerschütterlichen Vertrauens eines

geeinten Volkes“. Weiter hieß es im Text:

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„Wir haben die unbedingte Zuversicht, daß es gelingen wird, unseren Hauptwidersacher endgültig

niederzuwerfen, was erst die Krönung des Erreichten bedeutet. Wenn es der englischen Plutokratie

nicht mehr gelingt, sich in alle europäischen Verhältnisse einzumischen und jeglichen sozialen Fort-

schritt zu hintertreiben, dann erst wird Deutschland endlich frei sein. […] An dieser Aufgabe tätig

mitzuwirken, ist heilige Pflicht eines jeden Volksgenossen!“

In der Dezember-Ausgabe 1941 erschien die Rubrik „Arbeitskameraden!“ auf der Titelseite.

Brandis ließ wissen: „Wenn jeder in der Heimat opferbereit und selbstlos seine Pflicht erfüllt,

dann wird unsere Wehrmacht auch weiterhin jeden Gegner bezwingen; - der Endsieg.“

Mehrfach wurde im „Heag-Kamerad“ auch über Reden des „Betriebsführers“ berichtet (und

daraus zitiert), in denen dieser an das Durchhaltevermögen der „Gefolgschaft“ appellierte.

Vor der versammelten Belegschaft schwor Brandis „alle Gefolgschaftsglieder zur Einsatzbe-

reitschaft bis zum letzten [sic!] auf“ (Betriebsappell vom 04.01.1943): „Wenn wir uns selbst

treu bleiben und an uns und unseren Führer glauben, dann sind wir unüberwindlich und der

Sieg wird uns sicher sein.“ In ähnlichem Duktus gehalten ist der wiederum von Brandis un-

terzeichnete, umfangreiche Beitrag in der Rubrik „Arbeitskameraden!“ in der November-

Ausgabe 1943 (S. 2 f. hier S. 3):

„Sie [die Pessimisten und Angsthasen] geben sich, beeinflußt durch das verbotene Abhören der

Feindsender, der gleichen Täuschung hin wie die Italiener und bilden sich ein, die Plutokraten hätten

kein Interesse an der Bolschewisierung Deutschlands; sie vergessen dabei, daß Plutokraten und Bol-

schewisten einer einheitlichen Lenkung der Juden unterliegen.“

Umfangreiche Würdigung erfuhr – sowohl in der Mitarbeiterzeitschrift als auch in der loka-

len Presse – das 25-jährige Dienstjubiläum von Gustav Brandis. Am Morgen des 1. Oktobers

1937 fand in der (mit Hakenkreuz-Fahnen) geschmückten Maschinenhalle des Elektrizitäts-

werks am Dornheimer Weg eine große Feierlichkeit aus diesem Anlass statt [auch filmisch

dokumentiert, StadtA DA]. Die Festredner, darunter OB Otto Wamboldt, Betriebsobmann

Georg Maul und ein Funktionär der DAF, würdigten die Verdienste und Erfolge von Direktor

Gustav Brandis und dessen Einsatz zum Wohle der Stadt und der HEAG „im Geist der neuen

Zeit“. In der lokalen Presse hieß es am folgenden Tag zur Reaktion des Jubilars:

„Direktor Brandis schloß mit der Hoffnung, daß es ihm noch weiterhin vergönnt sein möge, seine

Pflicht als Führer der vom nationalsozialistischen Geiste getragenen Betriebsgemeinschaft zu tun,

und brachte ein dreifaches ‚Sieg-Heil‘ auf den Führer aus.“

Als im August 1943 sein Sohn Theodor als Soldat im Krieg „gefallen“ war, erhielt Brandis Be i-

leidsbekundungen unter anderem von OB Wamboldt, der NSKK Motorstandarte 50, dem NS

Reichsbund für Leibesübungen Sportgau Hessen-Nassau, der TH Darmstadt, dem Studenten-

führer der TH Darmstadt sowie dem Gauleiter und Reichsstatthalter Sprenger.

Nach Kriegsende blieb Gustav Brandis bis zu seiner Pensionierung im September 1945 – er

war unterdessen 69 Jahre alt geworden – in der Unternehmensleitung der HEAG

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Entnazifizierung

[Quelle: HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 513389]

Im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens wurde Brandis seitens einzelner Arbeitnehmer so-

wie der Arbeitnehmervertretung der HEAG belastet. Reden und Appelle habe er immer im

Sinne des NS gehalten sowie seine Freude zum Ausdruck gebracht darüber, dass die Be-

triebsgemeinschaft zu „90 % nationalsozialistisch wäre, die restlichen 10 % müssten auch

noch überzeugt werden“ (Arbeitnehmervertretung der HEAG, 19.09.1946). Zudem habe er

Arbeitnehmer unter Druck gesetzt, die sich keiner NS-Organisation anschließen wollten und

Betriebsangehörige zum Hitler-Gruß aufgefordert. „Der Hauptstolz des damaligen Generaldi-

rektors war, wenn er einem Jubilar das Hitler’sche Buch ‚Mein Kampf‘ aushändigen konnte“,

erklärte ein Betriebsangehöriger, der 1933 in einem von Brandis unterzeichneten Schreiben

als politisch unzuverlässig erklärt worden war. Von den Belastungszeugen wurde zudem der

Vorwurf erhoben, Brandis habe unliebsame (weil politisch anders Denkende) ins Abseits und

aus der Firma gedrängt. „Zusammenfassend kann gesagt werden, dass B[randis] sich in sei-

ner Eigenschaft als Betriebsleiter immer für die nationalsozialistische Idee eingesetzt hat“

(Arbeitnehmervertretung der HEAG, 19.09.1946).

Von den ebenfalls anklagend erwähnten „erhebliche[n] geldliche[n] Zuwendungen an die

Partei und ihre Organisationen“ ließen sich im Zuge des Verfahrens zwei Zahlungen durch

die Unternehmensleitung an die HJ ermitteln (jeweils 20.000 RM, 1941 und 1942; eine wei-

tere bereits zugesagte Zahlung sei hingegen nicht mehr erfolgt).

Den Anschuldigungen gegenüber stehen die Aussagen von Brandis selbst sowie zahlreiche

Schreiben von Zeugen, die Brandis bescheinigen, trotz seiner Parteizugehörigkeit und seiner

leitenden Funktion in einem NS-Wirtschaftsbetrieb „kein Nazi“ gewesen zu sein. Nur durch

den Eintritt in die NSDAP habe Direktor Brandis seinen (leitenden) Posten bei der HEAG be-

halten können, einer drohenden Entlassung entgehen – und so „Schlimmeres“ verhindern

können. Keineswegs habe er die Belegschaft zum „Hitler-Gruß“ angehalten, den er vielmehr

selbst häufig verweigert habe. Brandis sei es zu verdanken gewesen, dass Juden in Darm-

stadt länger als anderenorts öffentliche Verkehrsmittel nutzen konnten. Nie habe er aktiv

und eigenverantwortlich im Sinne des NS gehandelt. Für die politische Ausrichtung der HEAG

sei deren Aufsichtsrat verantwortlich gewesen, dem die leitenden Personen der NS-

Stadtverwaltung angehörten.

In der Klageschrift der Spruchkammer Darmstadt-Stadt vom 03.06.1948 wurde schließlich

der Antrag gestellt, Gustav Brandis in die Kategorie III (Minderbelastete) einzureihen. Als

entlastend wurde namentlich die Aussage des Personalchefs der HEAG Wedel gewertet,

Brandis habe sich für seine Entlassung aus dem KZ Dachau eingesetzt.

Da Gustav Brandis am 19.09.1948 verstarb, wurde das Verfahren ohne abschließenden

Spruch eingestellt.

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Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 513389

HStAD, H 3 Nr. 1119 [Kennkartenmeldebogen]

StadtA DA, ST 61 Brandis, Gustav

Literatur:

HEAG Holding AG: 100 Jahre HEAG. Chronik 1912-2012. Darmstadt 2012.

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Georgiiplatz (L 3), benannt 1996 nach

Walter Georgii (1888-1968)

Meteorologe, Leiter der Deutschen Forschungsanstalt für Segelflug

* 12. August 1888 in Meiningen

Studium der Physik, Mathematik und Geographie in Jena und Leipzig

1913 Promotion „Das Klima von Meiningen in den Jahren 1878-1911“

1914 Staatsexamen in Geografie, Physik und Mathematik

1915-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg als Meteorologe (Frankreich, Belgien, Palästina)

1919 Habilitation in Meteorologie an der Universität Frankfurt am Main

1919-1924 Leiter der Abteilung Wetterdienst des Instituts für Meteorologie und Geophysik der Uni-

versität Frankfurt am Main

1921 Lehrauftrag für aeronautische Meteorologie an der TH Darmstadt

1924/25 Leitende Tätigkeit an der Reichssee- und Wetterwarte in Hamburg

1926-1937 Professor für Flugmeteorologie an der TH Darmstadt (persönlicher Ordinarius 1934)

1926-1933 Leitung des Forschungsinstituts für Segelflug der „Rhön-Rossitten-Gesellschaft“ (RRG)

1930 Organisation der „1. Wissenschaftlichen Segelflugtagung“ in Darmstadt

1930-1939 Initiator und Vorsitzender der Internationalen Studienkommission für den Segelflug

(ISTUS)

1933-1945 Leiter des Deutschen Forschungsinstituts für Segelflug (Nachfolgeorganisation der RRG),

das 1937 in Deutsche Forschungsanstalt für Segelflug (DFS) umbenannt wurde

1934 Wissenschaftliche Expedition nach Südamerika

1936 Tod seiner Frau Hanny

1937-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 5348380)

1937 „Forschungsprofessur“: Versetzung als ordentlicher Professor in den Reichsdienst

1937-1945 Vorsitzender der Prüfungskommission der Ingenieurschule für Luftfahrttechnik an der DFS

1939 Ernennung zum Honorarprofessor an der TH Darmstadt (keine Lehrveranstaltungen)

1942-1945 Mitglied der „Forschungsführung des Reichsluftfahrtministers und Oberbefehlshabers der

Luftwaffe“, 1943-1945 Geschäftsführer dieses von Hermann Göring implementierten Gremiums

1943 Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer

1946-1948 Berater im französischen Luftfahrtministerium, Dienststelle „Arsenal de l’Aéronautique“

1948 Berater der argentinischen Regierung in Buenos Aires in Fragen der Meteorologie; Ordinarius

an der Universität Mendoza (1950-1955 Professor für Aerophysik)

1954 Veröffentlichung der Autobiografie „Forschen und Fliegen“

Ca. 1955-1960 Tätigkeit in führender Funktion bei der neu gegründeten DFS (Vorstand des Instituts

für Flugforschung)

† 24. Juli 1968 in München

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Ehrungen:

Eisernes Kreuz Erster und Zweiter Klasse sowie türkischer Eiserner Halbmond im Ersten Weltkrieg

1930 Otto-Lilienthal-Medaille der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Luftfahrt (für besondere Ver-

dienste auf dem Gebiet der motorlosen Luftfahrt)

1942 Ehrendoktor der TH Braunschweig

1948 Ehrenpräsident der Organisation Scientifique et Technique du Vol à Voile (OSTIV, Nachfolgeor-

ganisation der ISTUS)

1958 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

Wirken in der NS-Zeit

Walter Georgii, Meteorologe und bedeutender Akteur der Segelflugforschung, war in der

NS-Zeit in führender Funktion in der Luftfahrtforschung tätig.

Bereits seit 1926 war Georgii als Professor für Flugmeteorologie an der TH Darmstadt. Zur

gleichen Zeit übernahm er die Leitung des Forschungsinstituts für Segelflug der „Rhön-

Rossitten-Gesellschaft“ (RRG), das seit 1930 am „Griesheimer Sand“ angesiedelt war. Ab

1933 firmierte diese Einrichtung der Segelflugforschung unter der Bezeichnung „Deutsches

Forschungsinstitut für Segelflug“, 1937 schließlich umbenannt (und zugleich aufgewertet) in

„Deutsche Forschungsanstalt für Segelflug“ (DFS), weiterhin unter der Leitung von „Betriebs-

führer“ Georgii. Nach Kriegsbeginn wurde die DFS aufgrund der militärischen Nutzung des

Griesheimer Flugplatzes zunächst nach Braunschweig verlagert. Für die expandierende Insti-

tution stand dort jedoch zu wenig Raum zur Verfügung, weshalb die DFS 1940 auf ein Flug-

platzareal in Ainring bei Straubing auswich.

Walter Georgii forcierte seit Mitte der 1930er Jahre Entwicklungen, den Segelflug für militä-

rische Zwecke nutzbar zu machen. Ein Ergebnis jener Forschungsvorhaben war der (seit 1936

ausschließlich) von der DFS entwickelte Lastensegler DFS 230, der im Zweiten Weltkrieg für

Transportflüge eingesetzt wurde. Während des Krieges fanden weiterhin Forschungen zu

Segelprototypen statt, auch wurden existierende Lastensegler weiterentwickelt – eine reine

Forschungsanstalt für Segelflug erschien dennoch nicht mehr zeitgemäß. Das Aufgabenge-

biet der DFS, einer von vier zentralen Forschungsanstalten der Luftfahrtforschung in der NS-

Zeit, verschob sich in Ainring vornehmlich auf „Forschungsprojekte im Kontext der ‚Wun-

derwaffen‘“ (Lünen, S. 231); besonders intensiv wurde an modernsten, strahlengetriebenen

Flugzeugmodellen geforscht.

Georgii, NSDAP-Mitglied seit 1937 (Mitglieds-Nr. 5348380, BArch, BDC, NSDAP-Mitglieder-

kartei), gelang es, die DFS als „Nationalsozialistischen Musterbetrieb“ zu etablieren. Er hatte

1943 bei der DFS über 1.000 Beschäftigte unter seiner Verantwortung (Epple, S. 346; in einer

Statistik von Januar 1943 wurden unter „Gesamte Gefolgschaft“ der DFS 830 Personen ge-

nannt, Archiv der MPG, III/061, Nr. 2116). In einer Stellungnahme der DAF aus dem Jahr

1943 wurde seine Rolle wie folgt bewertet:

„Parteigenosse Georgii ist uns als vorbildlicher Betriebsführer bekannt, dem es aufgrund seiner per-

sönlichen Haltung und nationalsozialistischen Aktivität und Erziehungsarbeit an seiner Gefolgschaft

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gelang, eine Betriebsgemeinschaft zu schaffen, welcher der Führer demzufolge am 1. Mai 1941 die

höchste betriebliche Auszeichnung ‚Nationalsozialistischer Musterbetrieb‘ verlieh“ (DAF, Gauwaltung

München-Oberbayern, 11.01.1943, BArch, BDC, R 9361-II/287226).

Im November 1942 wurde die DFS zudem zum „Kriegs-Musterbetrieb“ ernannt (laut Frese,

S. 393, verfügten 88 Betriebe im Frühjahr 1943 über beide Auszeichnungen). Walter Georgii

sollte zum „Wehrwirtschaftsführer“ ernannt werden, wozu die Parteileitung Erkundigungen

hinsichtlich seiner „politischen Zuverlässigkeit“ einholte. Aus den Antwortschreiben wird

ersichtlich, dass sich Georgii vor Ort nicht maßgeblich in der NSDAP engagierte (was teils mit

der strengen Geheimhaltung seiner Forschung begründet wurde). Hinsichtlich seiner politi-

schen Haltung gab es keinerlei Bedenken, was auch Gauleiter Jakob Sprenger aus Darmstadt

bestätigte. Die NSDAP-Kreisleitung reagierte auf die entsprechende Anfrage mit folgender

Einschätzung:

„Am 7.11.1942 wurde der Betrieb zum Kriegsmusterbetrieb ernannt, was auf das Wirken des Profes-

sor Georgi[i] zurückzuführen ist. Politisch ist Professor Georgi[i] vollkommen einwandfrei“ (NSDAP

Kreisleitung Berchtesgaden-Laufen, an NSDAP Gauleitung München-Oberbayern, 11.01.1943, BArch,

BDC, R 9361-II/287226).

Georgii wurde daraufhin zum Wehrwirtschaftsführer ernannt (1943 eine Auszeichnung, die

nur noch Parteigetreuen angetragen wurde). Die DFS expandierte auch in den beiden letzten

Kriegsjahren, in denen ihr „Betriebsführer“ eine weitere führende Funktion in der Luftfahrt-

forschung zuteilwurde: Georgii war eines von vier Mitgliedern der im Frühjahr 1942 einge-

richteten „Forschungsführung des Reichsluftfahrtministers und Oberbefehlshabers der Luft-

waffe“. Oberstes Ziel des von Hermann Göring implementierten Gremiums war es, „die in

der Luftfahrtforschung vorhandenen Kräfte und Erkenntnisse in vollem Maße für die Luftrüs-

tung nutzbar zu machen“ (hierzu und zum Folgenden Archiv der MPG, III/061, Nr. 2109-

2123). Als Vorsitzender des Gremiums agierte Ludwig Prandtl (Direktor des KWI für Strö-

mungsforschung); weitere Mitglieder waren Adolf Baeumker (langjähriger Abteilungsleiter

im Reichsluftfahrtministerium, Vorsitzender der Luftfahrtforschungsanstalt München) und

als Geschäftsführer zunächst Friedrich Seewald (Leiter der Deutschen Versuchsanstalt für

Luftfahrt in Berlin-Adlershof). Aufgabe der Forschungsführung war eine Art „Selbststeue-

rung“ der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Luftwaffe. Dazu erhielt das Gremium

unabhängige Mittelbewirtschaftung sowie erheblichen Einfluss auf die Personalpolitik auf

Leitungsebene der daran beteiligten Institute. Im November 1943 löste Georgii Seewald als

Geschäftsführer der Forschungsführung ab und behielt das Amt bis 1945 inne; Prandtl, der

Georgii bereits seit 1920 kannte und schätzte, hatte sich für Georgii eingesetzt. In dem Vier-

männergremium wurden alle Aspekte im Bereich der Luftfahrtforschung diskutiert – darun-

ter auch jene heiklen Fragen zum Einsatz von Gefangenen in Bauvorhaben sowie die (nicht

umgesetzte) Einrichtung eines neuen Instituts für biologische Luftfahrtforschung. Welche

Positionen Georgii bei diesen Diskussionen im Einzelnen vertrat, ließ sich anhand des tradier-

ten Materials nicht abschließend beurteilen (die Mitglieder der Forschungsführung waren

angehalten, alle streng vertraulichen Dokumente, die nicht grundsätzlichen Charakter hat-

ten, in regelmäßigem Abstand – vorgeschlagen wurde vierteljährlich – zu vernichten). Moritz

Epple, der die umfangreiche Korrespondenz zwischen Prandtl und Georgii bis Kriegsende

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ausgewertet hat, vertrat die Auffassung, dass der überzeugte Patriot Georgii „noch bis un-

mittelbar vor Kriegsende ernsthaft glaubte, dass ein Durchbruch in der Luftfahrtforschung

das Kriegsgeschick noch einmal wenden könne“ (S. 346 f., Zitat FN 95, S. 347). In Rund-

schreiben 1944 verbreitete Georgii energische Appelle an Institutionen in seinem Einflussbe-

reich, alle Konzentration auf die Kriegsarbeiten zu verwenden:

„Denn eines muss in der heutigen, so ernsten Lage immer und immer wieder allen ihren Mitarbeitern

gegenwärtig sein: die Forschungsaufgaben sind nicht gestellt, um sich durch sie während des Krieges

zu beschäftigen, sondern um sie in der kürzestmöglichen Zeit zu lösen, also Ergebnisse zu erzielen.

[…] Daß die Forschung in dieser ernstesten Zeit des Krieges ihre Aufgabe erfüllt, ist wohl unser aller

Wunsch. Heil Hitler! Ihr [gez.] Georgii“ (Rundbrief vom 18.04.1944, Archiv der MPG-Archiv, III/061,

Nr. 2173, Hervorhebungen im Original).

Noch in einem Weihnachtsbrief 1944 mahnte Georgii an, dass die Forschung im Bereich

„Schnellstflug“ bis zum Hochsommer (!) Ergebnisse zeitigen müsste. Und Anfang März 1945,

im Zuge einer Ansprache anlässlich der Verleihung des Ritterkreuzes zum Kriegsverdienst-

kreuz an Prandtl, äußerte Georgii, der Forscher habe „trotz der Härte der äußeren Umstän-

de“ die Verpflichtung, „mit rücksichtslosem Einsatz der Person […] seine Waffen des Geistes

ganz besonders scharf zu halten und der Kriegsrüstung dienlich zu machen“ (Archiv der

MPG, III/061, Nr. 521).

Als Wissenschaftler war Walter Georgii außerordentlich gut vernetzt, auch international. Von

1930 bis zum Kriegsbeginn 1939 fungierte er als Präsident der Internationalen Studienkom-

mission für den Segelflug (ISTUS). Er leitete unter anderem 1934 eine vom Reichsluftfahrt-

ministerium geförderte Forschungsreise nach Südamerika (Brasilien, Argentinien), um die

thermischen Möglichkeiten in den Tropen zu erschließen (die Forschungsreise wurde auch

von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft unterstützt, Dokumente hierzu in

BArch Berlin, R 73/11202). In einem Brief aus Buenos Aires ließ Georgii den Rektor der TH

Darmstadt wissen: „Ich freue mich, daß unsere Expedition eine so erfolgreiche Mission für

das neue Deutschland durchführen darf“ (16.03.1934, UA TU Darmstadt, TH 25/01, Nr. 207-

2). Zudem nahm er noch Mitte der 1930er Jahre regelmäßig an internationalen Konferenzen

im Bereich der Segelflugforschung teil, etwa in Frankreich, Ungarn, Polen und Portugal, wie

Dokumente in seiner Personalakte sowie im Nachlass Ludwig Prandtls belegen. Noch im

Frühjahr 1942 besichtigte er Segelflugplätze im nicht besetzten Teil Frankreichs (Avignon,

Marseille, Toulouse, Archiv der MPG, III/061, Nr. 2109).

Parallel zu seiner Funktion als „Betriebsleiter“ der DFS entwickelte sich Georgiis wissen-

schaftliche Karriere im NS-Regime: Nachdem er 1934 an der TH Darmstadt mit einem per-

sönlichen Ordinariat versehen worden war, wurde er 1937 zum ordentlichen Professor im

Bereich der Luftfahrtforschungsanstalten des Reiches ernannt. Mit dieser Professur war er

folglich in den Reichsdienst berufen und dem Reichsluftfahrtministerium zugeordnet. Die

Bestätigung der Forschungsprofessur durch Adolf Hitler im Dezember 1937 band Georgii

„fortan in besonderem Maße an das Regime“ (Mares, S. 251). Er konnte seine Forschung

noch stärker auf die DFS konzentrieren, wo er von 1937 bis 1945 auch Vorsitzender der Prü-

fungskommission der angegliederten Ingenieurschule für Luftfahrttechnik (IfL) war. Der TH

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Darmstadt sollte er dennoch verbunden bleiben, durch die Berufung auf eine Honorarpro-

fessur 1939; bedingt durch Kriegsbeginn und darauf folgenden Umzug der DFS trat Georgii

zu keinen Vorlesungen mehr in Darmstadt an. Er bewahrte sich eine gewisse Unabhängigkeit

in der Forschung – der Preis dafür war aber eine enge „Anlehnung an bestimmte Instanzen

des Regimes – ein ‚unpolitisches‘ Agieren war unter diesen Umständen ausgeschlossen“

(Mares, S. 251).

Zugute kamen Georgii bei seinem geschickten Navigieren durch die polyzentrischen Macht-

strukturen des NS-Regimes seine guten Kontakte zu Personen, die er teils schon seit seinem

Wirken im Ersten Weltkrieg persönlich kannte und die nun Schlüsselpositionen in Militär,

Verwaltung und (Luftfahrt-)Forschung innehatten (ausführlicher dazu Mares, S. 248 f.). Einer

dieser langfristigen Kontakte, der Georgii für die Erreichung seiner Ziele zu Rückendeckung

verhalf, war Erhard Milch, einem der zentralen Akteure der Luftrüstung, seit 1933 für die

Umstrukturierung der Luftfahrtforschung (auch für die Einrichtung der „Forschungsführung“

1942) verantwortlich. Georgii kannte Milch eigenen Aussagen zufolge bereits seit Mitte der

1920er Jahre.

Als interessante – aber auch problematische – Quelle für das Leben und Wirken Walter Ge-

orgiis erwies sich seine Autobiografie aus dem Jahr 1954, veröffentlicht unter dem Titel

„Fliegen und Forschen“. Aus Georgiis ausführlichen Schilderungen zu seiner Tätigkeit im Ers-

ten Weltkrieg geht hervor, dass er – wie im Übrigen alle führenden deutschen Meteorologen

im „Dritten Reich“ – erste aufschlussreiche Erfahrungen im Bereich der Meteorologie wäh-

rend seines Kriegseinsatzes sammelte. Die Arbeit in militärischem Auftrag oder zu militäri-

schen Zwecken war den Meteorologen eine Selbstverständlichkeit, wie Carl Freytag konsta-

tierte (Freytag, S. 254). Dass auch im „Dritten Reich“ zu militärischen Zwecken geforscht

wurde, stand daher überhaupt nicht zur Diskussion. Ganz in diesem Sinne nutzt Georgii in

seiner Biografie das Narrativ des „unpolitischen Grundlagenforschers“, das in der Nach-

kriegszeit bekanntermaßen weit verbreitet und als Legitimationsmuster erfolgreich war. Wie

Detlev Mares in seinem insgesamt überzeugenden Aufsatz „Der Meteorologe als Romanti-

ker. Forschen und Fliegen mit Walter Georgii“ darlegt, blendet Georgii seine NSDAP-

Mitgliedschaft sowie seine Forschungsprofessur 1937 aus dem Erwähnenswerten aus, ob-

wohl er sich „für einen angeblich politikfernen ‚Romantiker‘ besonders stark auf die Struktu-

ren des NS-Regimes“ einließ (Mares, S. 255 f.). Mares urteilt entsprechend abschließend:

„‚Forschen und Fliegen‛, die scheinbar harmlose Anekdotensammlung aus der Glanzzeit der Segel-

fliegerei, entpuppt sich als äußerst problematische Lektüre – und dies nicht so sehr wegen der einen

oder anderen Auslassung, die sich die Erinnerung des Autors gönnte. Problematisch sind vielmehr die

grundlegenden Darstellungsmuster, die eine Auseinandersetzung mit dem wirklichen Charakter des

NS-Regimes unterlaufen und die zudem mit ihrer Behauptung, Forschung könne unpolitisch sein,

bereits ein politisches Legitimationsargument konstruieren, das den Blick auf die Mechanismen mo-

derner Spitzenforschung verstellt“ (Mares, S. 259).

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieb Georgii zunächst in Ainring; er wurde von amerika-

nischen Experten zu seinen Forschungen befragt und ihm wurde – ähnlich wie anderen Spit-

zenforschern – eine Karriere in den USA vorgeschlagen. Georgii entschied sich aber dafür,

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1946 in französische Dienste zu treten: Bis 1948 arbeitete er als Berater im französischen

Luftfahrtministerium, Dienststelle „Arsenal de l’Aéronautique“ in Chatillon sous Bagneux.

Anschließend zog es ihn auf Anfrage nach Argentinien, wohin er seit früheren Forschungs-

aufenthalten gute Kontakte pflegte. In Buenos Aires beriet er die argentinische Regierung in

Fragen der Meteorologie und in Mendoza erhielt er einen Lehrstuhl für Aerophysik (laut Klee

1950-1955). Nach seiner Rückkehr trat er wieder in leitender Funktion in der wiedergegrün-

deten DFS in Erscheinung.

Aufgrund seines mehrjährigen Auslandsaufenthalts ab 1946 entzog sich Georgii den Entnazi-

fizierungsverfahren in Deutschland, weshalb diesbezüglich keine Dokumente aufzufinden

waren. Allerdings fand sich im Nachlass von Otto Hahn ein – von Georgii gewünschtes –

Schreiben (unterzeichnet schließlich von Otto Hahn und Werner Heißenberg), wonach Geor-

gii dabei geholfen haben soll, der (jüdischen) Frau von Prof. Rausch von Traubenberg ihr

Überleben zu sichern (sie habe durch Georgiis Einwirken ein Einzelzimmer in Theresienstadt

erhalten und schließlich überlebt, „Bestätigung“ vom 11.12.1947, Archiv der MPG, III/014,

Nr. 1129). In einem tradierten Schreiben an den Rektor der TH Darmstadt vom 19.10.1945,

in dem Georgii anfragte, ob er seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen könne, erwähnte er im

Postskriptum: „Da die politische Stellung wichtig ist, gebe ich noch an, daß ich Parteimitglied

vom Sommer 1937 bin, Mitgliedsnr. 5348480. Kein Amt, kein Rang. Auch sonst nichts“. In

einem Antwortschreiben wurde er darauf hingewiesen, dass er vor Wiederaufnahme seiner

Tätigkeit ein Entnazifizierungsverfahren zu durchlaufen habe (UA TU Darmstadt, TH 25/01,

Nr. 207-2).

Walter Georgii hat durch seine Aussagen in den Befragungen der Amerikaner sowie durch

die Schilderungen in seinem Lebensbericht die Geschichtsschreibung über die deutsche Luft-

fahrtforschung im NS-Regime beeinflusst. Welche Auswirkungen sein Verhalten in der NS-

Zeit als Forscher, „Betriebsführer“ und Forschungsmanager hatte, lässt sich nicht abschlie-

ßend beurteilen. Helmut Maier, Experte im Bereich der Rüstungsgeschichte im Nationalsozi-

alismus, beurteilt die Rolle der NS-Luftfahrtforschung und ihrer Akteure wie folgt:

„Zukunftsweisende Entwicklungen wie Strahlflugzeuge und Lenkraketen nährten die Illusion, die ma-

terielle Überlegenheit der Alliierten mit überlegener Technik kompensieren zu können. Indem die

Luftfahrtforscher fast bis zur letzten Sekunde auf die Kriegswende hofften und ihr Engagement noch

intensivierten, trugen sie zur Verlängerung des Krieges maßgeblich bei“ (Maier, S. 104 f.).

Quellen:

BArch, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch, BDC, R 9361-II/287226

BArch Berlin, R 73/11202

Archiv der MPG, III/014 – Nachlass Otto Hahn, Nr. 1129

Archiv der MPG, III/061 – Nachlass Ludwig Prandtl, Nr. 521, 1356, 2109-2123, 2173

UA TU Darmstadt, TH 25/01, Nr. 207-2 [Personalakte Georgii]

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StadtA DA, ST 61 Georgii, Prof. Dr. Walter

Literatur:

Budrass, Lutz: Zwischen Unternehmen und Luftwaffe. Die Luftfahrtforschung im „Dritten Reich“. In:

Maier, Helmut (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und

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Epple, Moritz: Rechnen, Messen, Führen. Kriegsforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungs-

forschung 1937-1945. In: Maier, Helmut (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organi-

sation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften. Göttingen 2002, S. 305-356.

Frese, Matthias: Vom „NS-Musterbetrieb“ zum „Kriegs-Musterbetrieb“. Zum Verhältnis von Deut-

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krieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz. München 1989, S. 382-401.

Freytag, Carl: „Bürogenerale“ und „Frontsoldaten“ der Wissenschaft. In: Maier, Helmut (Hrsg.): Ge-

meinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-

Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus. Geschichte der Kaiser-

Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Band 17. Göttingen 2008, S. 251-267.

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Grüttner, Michael: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Heidel-

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Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. (4. Aufl.) Ham-

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Ludwig, Karl-Heinz: Technik und Ingenieure im Dritten Reich. Düsseldorf 1974.

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schung und Landschaftspflege. Der August-Euler-Flugplatz in Darmstadt-Griesheim. Darmstadt 2008,

S. 239-266.

Trischler, Helmuth: Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970. Politische Geschichte

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Trischler, Helmuth (Hrsg.): Dokumente zur Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900-1970.

Frankfurt am Main/New York 1992.

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Grundstraße (F-G 10), benannt 1967 nach

Peter Grund (1892-1966)

Architekt und Stadtplaner

* 15. November 1892 in Pfungstadt

Studium der Architektur/Bautechnik an der Landesbaugewerkschule in Darmstadt

1919-1922 Lehrer an der Landesbaugewerkschule in Darmstadt (Baukonstruktion und Baugestaltung)

1921 Hochzeit mit Margarete Preß in Pfungstadt (drei Kinder)

1923-1933 Architekturbüro in Dortmund zusammen mit Karl Pinno (Pinno & Grund)

Ab 1927 Wohnhäuser in „Gartenstadt“ Dortmund

1927/30 Nikolaikirche in Dortmund (erstes komplett in Stahlbeton und Glas errichtetes Gotteshaus)

1928/29 Neubau Industrie- und Handelskammer in Dortmund

1932 Wettbewerb Reichshauptbank Berlin (erste Preiskategorie, nicht umgesetzt)

1929-ca. 1938 (Förderndes) Mitglied der SS [Eigenangabe Entnazifizierung: 1934-1938]

1933-1937 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste

1933-1938 Professor und Direktor der Kunstakademie Düsseldorf (de facto bis 1937)

1933-1937 Leiter der Landesstelle Düsseldorf der Reichskammer der bildenden Künste

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr.: 3093511) [Eigenangabe Entnazifizierung: 1934-1942]

1934-1944 Ratsherr in Düsseldorf

Ca. 1935-1938 Referent der NSDAP für Städtebau bzw. Gauamtsleiter für Städtebau im NSDAP-Gau

Düsseldorf

1935-1937 Planung und Entwurf des Schlageterforums (Entwurf aus finanziellen Gründen nicht um-

gesetzt)

1935-1937 Künstlerische Oberleitung der Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ in Düsseldorf (inklu-

sive Mustersiedlung „Schlageterstadt“)

1936 Wettbewerb Rathaus sowie Industrie- und Handelskammer Königsberg (1. Preis)

1938 Wettbewerb Rathaus und Stadthalle Castrop-Rauxel (1. Preis)

1938 Versetzung in den Ruhestand (auf „eigenen Wunsch“; im November 1937 gegen Grund einge-

leitetes Vorermittlungsverfahren wird daraufhin eingestellt)

1938-1944 weiterhin wohnhaft in Düsseldorf; freischaffender Architekt (wenig Aufträge)

Ca. 1944-1946/47 Büro in Miltenberg, dann Umzug nach Darmstadt

1946 erste Arbeiten als Architekt in Darmstadt

1946-1948 Mitglied des Amts für Kirchbau und kirchliche Kunst Westfalen

1947 Entwurf Umgestaltung Bahnhofsvorplatz Dortmund (1. Preis, nicht umgesetzt)

1947-1959 Oberbaudirektor der Stadt Darmstadt, Leiter des Hochbauamts; in dieser Zeit zahlreiche

Bauwerke in Darmstadt (darunter Schulen, Stadion, Klinikbau, Kläranlage)

1949/1950 Wiederaufbauplan für Darmstadt

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1949 Berufung in den Städtebauausschuss des Deutschen Städtetags

1950 Eigenes Wohnhaus in der oberen Dieburger Straße in Darmstadt

1950 Kaufhaus „Kaufhof“ in Frankfurt am Main

1950 Entwurf Neubau Westfalenhalle in Dortmund (1. Preis, nicht umgesetzt)

1951 Umstrittener (Meisterbauten-)Entwurf Stadthaus Darmstadt; Überarbeitungen 1953-1959

(nicht umgesetzt; heute: Luisencenter)

1959-1966 Ruhestand; freischaffender Architekt mit Wohnsitz in Darmstadt

† 26. Januar 1966 in Darmstadt

Ehrungen:

1955 Ehrensenator der TH Darmstadt

1957 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt [Grund habe die Stadt „mit kritischer Beharr-

lichkeit, weitschauendem Sachverstand und feinfühligem Kunstsinn aus dem Chaos geführt und ihr

eine unverwechselbare Gestalt gegeben“]

1957 Vorschlag für Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD [Ehrung scheitert an Grunds

Vergangenheit]

1966 „Peter-Grund-Bau“, Städtische Kliniken Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Peter Grund, aus Pfungstadt stammender Architekt, hat in Darmstadt vor allem in seiner Zeit

als Oberbaudirektor der Stadt Darmstadt (1947-1959) Spuren hinterlassen. Er entwarf den

maßgeblichen Wiederaufbauplan der Stadt und zeichnete zudem für zahlreiche markante

Bauwerke verantwortlich, darunter das John-F.-Kennedy-Haus, die Jugendherberge am Gro-

ßen Woog, das Böllenfalltor-Stadion, der Neubau des Chirurgischen Instituts, die Commerz-

bank-Filiale in der Rheinstraße sowie zahlreiche Schulgebäude (etwa Wilhelm-Leuschner-

Schule, Friedrich-Ebert-Schule, Peter-Behrens-Schule).

Nach Ausbildung und Lehrauftrag an der Landesbaugewerkschule Darmstadt war Peter

Grund 1923 nach Dortmund gezogen, um dort gemeinsam mit Karl Pinno das Architektur-

Büro „Pinno & Grund“ zu betreiben. Das Büro beteiligte sich erfolgreich an zahlreichen

Wettbewerben, baute in Dortmund Wohnhäuser (allein über ein Dutzend in der sogenann-

ten „Gartenstadt“), Sakralbauten, Industrie- und Verwaltungsgebäude. Hervorzuheben wä-

ren die Nikolaikirche (prämierter Entwurf 1927, Fertigstellung 1930), die als erstes komplett

in Stahlbeton und Glas errichtetes Gotteshaus gilt, sowie der Neubau der Industrie- und

Handelskammer (1928/1929). Die letzte Teilnahme von „Pinno & Grund“ an einem großen

Wettbewerb fiel in das Jahr 1932: Ihr nicht umgesetzter Entwurf für den Neubau der Reichs-

bank in Berlin landete in der ersten Preiskategorie (und damit vor den Entwürfen etwa von

Emil Fahrenkamp und Hans Poelzig).

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(Kunst-)Politisch in leitender Funktion: Kunstakademie, Reichskulturkammer, NSDAP

Die Architektengemeinschaft „Pinno & Grund“ wurde 1933 aufgelöst, als Peter Grund an die

Staatliche Kunstakademie in Düsseldorf berufen wurde. Im Zuge einer „Säuberungsaktion“ in

der Düsseldorfer Kulturszene waren rund ein Dutzend Lehrende der Kunstakademie entlas-

sen (darunter die Professoren Paul Klee und Heinrich Campendonk) und durch parteinahe

Personen ersetzt worden. Peter Grund erhielt seine Professur am 15. Oktober 1933 und

wurde zugleich mit der „vertretungsweisen Wahrnehmung der Direktorengeschäfte“ be-

traut. Am 15. Juni 1934 erfolgte schließlich die Ernennung zum Direktor der Kunstakademie.

Als erster Architekt in dieser Funktion überhaupt löste Grund nun auch offiziell den partei-

fernen Kunsthistoriker Walter Kaesbach ab, der von 1925 bis 1933 der Kunstakademie vor-

gestanden hatte und aus politischen Gründen entlassen worden war. Grund war damit bis zu

seiner Absetzung 1937 „ranghöchster Vertreter der staatlichen Kunstpolitik in der Region“

(Van Dyke, S. 152). Unter seiner Leitung wurden an der Kunstakademie ein semesterbezoge-

ner Lehrplan eingeführt (1934) sowie Vorlesungen zu „Deutsche Kunst“ und „Rassenkunde“

etabliert. Er selbst leitete anfangs das 3. Semester: „Monumental- und Sakralbau“ (Heuter,

S. 112).

Gleichzeitig gelangte Grund auch in der Reichskulturkammer in führende Position: Bereits im

November 1933 wurde er zum Leiter der Landesstelle Düsseldorf der Reichskammer der bil-

denden Künste berufen (zunächst kommissarisch, von 1934 bis 1937 offiziell).

Peter Grund war Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 3093511; laut Personalakte der RKK seit

01.04.1933, Eintrittsdatum in der NSDAP-Mitgliederkartei: 01.05.1933). Schon zuvor unter-

stützte er die allgemeine SS: Laut Personalakte der RKK galt er seit 1932, laut einer „Nach-

weisung der Parteimitgliedschaften der Akademielehrer“ (1935) bereits seit 1929 als (för-

derndes) Mitglied der SS. Eigenen Angaben folgend war er Mitglied der NSV, des NS-

Altherrenbunds sowie des NS-Dozentenbunds (jeweils ohne präzise Zeitangaben, HHStAW).

Zudem war er von April 1934 bis Februar 1944 Ratsherr in Düsseldorf (StadtA Düsseldorf).

Als Experte für Städtebau war Grund bei der NSDAP im Gau Düsseldorf ein gefragter Mann:

Er selbst bezeichnete sich im Entnazifizierungsverfahren als „Referent der NSDAP für Städte-

bau“ (siehe unten); tatsächlich wirkte er nachweislich als Gauamtsleiter im Stab des Gaulei-

ters Düsseldorf. Jener Gauleiter, Friedrich Karl Florian, im Amt 1929-1945, überzeugter Nati-

onalsozialist und Antisemit, hatte großen Einfluss auf Grunds Karriere. Florian war wohl be-

reits maßgeblich an der Berufung Grunds als Direktor der Kunstakademie beteiligt, nach-

weislich stellte er sich vor seinen Schützling, als dieser ab 1936 in die Kritik geriet. Eine Un-

tersuchung der Stadtverwaltung Düsseldorf kam 1950 zu dem Ergebnis, „dass Grund nach

1933 aus rein politischen Gründen als Professor und Direktor eingestellt worden“ war. So-

wohl seine Einstellung als Professor als auch jene als Direktor der Staatlichen Kunstakademie

Düsseldorf seien lediglich „auf die engen Beziehungen zu massgeblichen Vertretern des nati-

onalsozialistischen Regimes zurückzuführen“ (StadtA DA, ST 22, Nr. 2737). Auch der ehema-

lige Kurator der Staatlichen Kunstakademie und Regierungspräsident, Carl Christian Schmid,

vertrat die Auffassung, dass es Gauleiter Florian war, der Grunds Berufung durchgesetzt ha-

be. Schmid bestätigte, dass Grund als „Gauamtsleiter für Städtebau in den engeren Gaustab“

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Florians eingetreten war. Mit der Akademieleitung oder dem Kollegium, so Schmid, habe es

keinerlei Rücksprache hinsichtlich der Berufung Grunds gegeben. Schmid beschrieb Grund

als Parteigenossen, der „nahe Beziehungen“ zum Gauleiter aufgenommen habe:

„Grund trat auch in der Akademie von Anfang an ganz betont als Vertrauensmann der Partei auf. So

erschien er beispielsweise bei seiner Amtseinführung durch mich in Parteiuniform, was damals bei

den Lehrkörpern und den Akademikern starkes Aufsehen erregte und brachte auch zum Ausdruck,

daß er seine Aufgabe im Sinne der Parteianschauungen erfüllen werde. […] Im Laufe der Zeit trat

eindeutig zutage, daß Grund, unbeschadet seiner bis zu einem gewissen Grade anerkannten Fähig-

keiten als Architekt, für das Amt des Akademiedirektors in jeder Beziehung absolut ungeeignet war

und daß seine Bemühungen mit parteimäßigen Mitteln sich künstlich Autorität zu verschaffen,

Schiffbruch erlitten hatten. Zunächst konnte er wegen seines Rückhalts bei der Gauleitung nicht ab-

gelöst werden“ (14.11.1950, Schmid, StadtA DA, ST 22, Nr. 2737).

Künstlerische Leitung: Schlageterforum, Schlageterstadt, Reichsausstellung „Schaffendes

Volk“

In seiner Zeit als Direktor der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf wurde Peter Grund

mit der Planung und Leitung prestigeträchtiger NS-Bauvorhaben im Düsseldorfer Norden

betraut. Dazu gehörte das sogenannte Schlageterforum sowie die Planungen zur Mustersied-

lung „Schlageterstadt“, die schließlich 1937 Teil der großen Reichsausstellung „Schaffendes

Volk“ werden sollte, deren künstlerische Oberleitung ebenfalls Grund oblag.

Im Norden von Düsseldorf existierte bereits seit 1931 ein Schlageter-Denkmal in Form eines

31 Meter hohen Holzkreuzes mit zwei konzentrischen Halbkreisen darum. Das Denkmal,

ganz in der Nähe der historischen Exekutionsstätte des zum Märtyrer und „Blutzeugen“ der

NS-Bewegung stilisierten Albert Leo Schlageter gelegen (und halboffizielle Pilgerstätte von

Nationalsozialisten), sollte 1933 nach dem Willen der politischen Führung Düsseldorfs zu

„einer monumentalen Weihestätte des deutschen Volkes“ (Schäfers, S. 120) ausgestaltet

werden. Als treibende Kraft hinter dem Vorhaben galt der Düsseldorfer Gauleiter Florian.

Wenngleich 1935 ein Wettbewerb ausgerufen worden war, wurde Peter Grund (eigentlich

Preisrichter) mit der Planung betraut, da kein „in städtebaulicher Hinsicht als gelöst zu be-

trachtende[r] Entwurf“ eingegangen sei. Mit dem Einverständnis von Gauleiter und Ober-

bürgermeister „wurde Pg. Prof. Grund der Auftrag zur städtebaulichen Klärung des Schlage-

ter-Forums und des Nordgebietes […] erteilt“ (Protokoll einer Sitzung vom 16.11.1935,

StadtA DA, ST 22, Nr. 2737). Winfried Wendland (u. a. Kunstreferent im Preußischen Kultur-

ministerium) bezeichnete 1936 den Auftrag als eine „der bedeutendsten künstlerischen Auf-

gaben, die aus der völkischen Neuordnung des deutschen Volkes erwachsen ist“ (Wendland,

S. 817). Bereits erste monumentale Entwürfe hatten „das Stückchen heiliger Erde und die

Landschaft, zu der es gehört, eingefangen in einem mächtigen Wall von 350 Meter Durch-

messer und etwa 7 Meter Höhe“, wie Grund selbst es im „Gaukampfblatt Rheinische Landes-

zeitung“ beschrieb (RLZ vom 08.12.1935). Obwohl die Pläne von Adolf Hitler genehmigt wor-

den seien (Zeitzeugen berichten von einem Treffen von Grund und anderen Entscheidungs-

trägern mit Hitler 1936), wurde der 1937 von Grund vorgelegte, nach zahlreichen Änderun-

gen abschließende Entwurf des Schlageterforums nie verwirklicht. Als wichtiges Argument

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für das Scheitern des Projekts können die immensen Kosten angesehen werden (über 8 Mil-

lionen RM waren dafür veranschlagt, Schäfers, S. 125).

Parallel zu den Arbeiten am Schlageterforum zeichnete Grund für die künstlerische Oberlei-

tung der großen Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ verantwortlich, „der Leistungsschau

aller schaffenden Stände Deutschlands“, die 1937 eröffnet wurde und insgesamt zwischen

Mai und Oktober etwa vier Millionen Besucher zählte (Schäfers, S. 308). Eigentlich 1934 mit

den Schwerpunkten Städtebau und Siedlung (sowie Gartengestaltung, Kunsthandwerk und

Gewerbe) konzipiert, bildeten wirtschaftliche und industrielle Aspekte 1937 den Fokus; in

Anlehnung an den 1936 verabschiedeten Vierjahresplan mit einem Schwerpunkt auf synthe-

tischen Rohstoffen. Eine besondere Herausforderung lag nach Grund darin, bei Erstellung

eines Generalbebauungsplans die räumliche Ordnung des Ausstellungsgeländes (heute Mes-

se/Nordpark/Siedlung Golzheim) in die städtebauliche Gliederung des Düsseldorfer Nordens

einzubeziehen „und den organischen Anschluß an das Schlageterforum herzustellen“ (Grund

III, S. 75). An der programmatischen Einbettung der Reichsausstellung, die seit November

1935 unter Schirmherrschaft von Hermann Göring stand, ließ Grund keine Zweifel aufkom-

men:

„Die größte Aufgabe, welche uns der Nationalsozialismus für die nächsten Jahre gestellt hat, ist

schlechterdings nichts anderes, als die schöpferische Gestaltung des Lebensraumes unseres deut-

schen Volkes. Jede große Idee im Leben der Völker sucht sich ihren Ausdruck in der Gestaltung unse-

res Daseins, und je größer der rassische Wille eines Volkes ist, desto größer ist auch die schöpferische

Kraft. Wie alles, was der Nationalsozialismus schafft, dem Leben des deutschen Volkes und seiner

ewigen Zukunft dient, so soll auch die Reichsausstellung ‚Schaffendes Volk‘ all die großen Aufgaben

aufzeigen, die das Leben und Gestalten unseres Volkes berühren“ (Grund V, S. 597; ganz ähnlich

Grund III, S. 75).

Unter Grunds künstlerischer Oberleitung, die unter dem Motto „Dienst an der Kunst ist

Dienst an Deutschland, Dienst am Führer“ (Düsseldorfer Tageblatt vom 18.05.1937) stand,

wirkten zum Schluss mehrere Hundert Arbeiter und zahlreiche Architekten, die für einzelne

Abschnitte verantwortlich waren. Grund selbst zeichnete unter anderem für die Mustersied-

lung „Schlageterstadt“ verantwortlich, die integraler Bestandteil der Ausstellung war. Seinen

eigenen Worten folgend sollte „nach dem Muster alter Städte und Dörfer eine einheitliche,

um einen Mittelpunkt organisch aufgebaute Gemeinschaftssiedlung“ (Grund V, S. 597) ent-

stehen. Dutzende Architekten waren mit Entwürfen von Siedlungshäusern daran beteiligt;

Grund entwarf und baute ebenfalls zwei Häuser – und zwar in bester Lage: Sein eigenes

Wohnhaus sowie direkt gegenüber jenes „luxuriöse Domizil“ (Schäfers, S. 268) des Gaulei-

ters Florian, jeweils mit unverstelltem Blick auf den Rhein (von Grund wiederholt als „deut-

scher Schicksalsstrom“ bezeichnet, etwa Grund IV, S. 341). Übereinstimmende Aussagen

legen nahe, dass Grund ein persönliches Verhältnis zu Gauleiter Florian unterhielt (oder, wie

Schmid es oben formulierte, „nahe Beziehungen“, StadtA DA, ST 22, Nr. 2737, sowie

HHStAW).

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Ende der politischen Karriere

Von 1936 an geriet Grund als oberster Repräsentant der Kunstpolitik im Rheinland zuneh-

mend unter Druck. Dafür lassen sich nach Sichtung der eingesehenen Quellen unterschiedli-

che Gründe (bzw. Begründungen) nachweisen.

Grund hatte sich in Düsseldorf durch sein Auftreten nicht nur Freunde gemacht. Im Kreise

der Professoren an der Staatlichen Kunstakademie hatte er von Beginn an einen schweren

Stand. Christoph Heuter sieht in Grund gar einen Akademieleiter, „der als parteipolitisch

extrem engagiert und seit seiner Berufung 1933 innerhalb der Professorenschaft als isoliert

galt“ (Heuter, S. 427). Einige Professorenkollegen zweifelten Grunds Eignung als Direktor der

Kunstakademie mehr oder weniger offen an, darunter mit dem Maler Werner Peiner ein

Protegé Hermann Görings. Auch von Teilen der Schülerschaft (auch vom Führer des NSDStB)

wurde Grunds Eignung in Frage gestellt. Als Anlass für ein Untersuchungsverfahren wurde

zudem Grunds Privatleben hinzugezogen: Seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen; ihm

wurde eine „Beziehung“ zu einer Professorenwitwe nachgesagt, was – so der Vorwurf – den

Ruf der gesamten Akademie in Frage stellte. Von Architekten-Kollegen wiederum wurde

Grund Vorteilnahme im Amt vorgeworfen: Unter anderem habe er nicht nur einen Angestell-

ten zu einem von ihm betreuten Wettbewerb zugelassen, sondern ihn auch noch mit dem

ersten Preis ausgestattet; für die Oberleitung der Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ habe

er – ohne eine entsprechende Gegenleistung – der Stadt große Summen in Rechnung ge-

stellt und zugesagte Absprachen mit Architekten nicht eingehalten; er sei dafür verantwort-

lich zu machen, dass die Skulpturen im von ihm verantworteten Haupteingangsbereich der

Ausstellung nicht rechtzeitig fertiggestellt wurden.

Als besonders einflussreich erwies sich mit Emil Fahrenkamp derjenige unter den Akademie-

professoren, der Grunds Nachfolge als Akademiedirektor antreten sollte – was, wie Fahren-

kamps Biograf Christoph Heuter überzeugend darlegt, kein Zufall war, auch wenn Fahren-

kamp selbst es anders darstellte (hierzu und zum Folgenden Heuter, S. 89-94). Fahrenkamp,

„Architekt von Görings Gnaden“ (Heuter, S. 90), zog im Hintergrund die Fäden hinsichtlich

der Demontage Grunds. Außerdem geriet Grund als Schützling von Gauleiter Florian in in-

nerparteiliche Machtkämpfe, die sich eigentlich gegen den Einfluss von Florian und möglich-

erweise weniger gegen seine Person richteten. Insbesondere die Rivalität zwischen dem

Oberpräsidenten der Rheinprovinz und Gauleiter von Essen, Josef Terboven, und Gauleiter

Florian spielte dabei eine Rolle. Auch Regierungspräsident Carl Christian Schmid war dem-

nach Teil der „Anti-Florian-Koalition“.

Ein offizieller Anlass für Grunds Absetzung als Leiter der Landesstelle Düsseldorf der Reichs-

kammer der bildenden Künste bestand in seinem Bestreben, nach der Auflösung des BDA

eine eher elitäre, auf das „Leistungsprinzip“ ausgerichtete Vereinigung von Architekten (ne-

ben der Reichskammer für bildende Künste) ins Leben zu rufen. Das wurde vom Präsidenten

der Reichskulturkammer der bildenden Künste, Eugen Hönig, als Affront gewertet und auf

das Schärfste verurteilt; Grund sollte umgehend seiner Ämter enthoben werden. Offiziell

bestritt Grund den Vorwurf und bezeichnete einen entsprechenden Aufruf als Fälschung. Er

hegte allerdings tatsächlich entsprechende Pläne: Aus einem Schreiben von Anfang Juni

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1936 ging hervor, dass er 30-40 Kollegen vom 20.-25.06.1936 nach Frankfurt einladen wollte,

Hotel Frankfurter Hof, zur Gründung einer „Gesellschaft zur Förderung der deutschen Bau-

kultur“. Allerdings hatte er diesbezüglich beim Geschäftsführer der Reichskammer der bil-

denden Künste, Walter Hofmann, vorgefühlt und als Antwort erhalten, dass

„von Seiten der Kammer nichts einzuwenden [ist]. Der alte Berufsverband BDA dürfe natürlich nicht

mehr aufgezogen werden. Aber wir wollen ja auch keine berufsständigen, sondern geistig-

künstlerische Ziele verfolgen, ähnlich wie es die anderen Künstlervereine der Maler, Bildhauer auch

tun“ (Grund an Carl Christoph Lörscher [im KDAI Verantwortlicher für den Bereich „Siedlung“] vom

08.06.1936, StadtA DA, ST 22, Nr. 2737).

(Unklar war nach Grund lediglich, ob auch „die Alten“, wie Bonatz, Schmidthenner, Schulze-

Naumburg, Tessenow, eingeladen werden sollten.)

Rückendeckung erhielt Grund seitens der NSDAP in Person von Gauleiter Florian, der die

vorgebrachten Argumente gegen Grund nicht teilte, zu entkräften versuchte und schließlich

eine Absetzung Grunds verweigerte:

„Ich kann mich daher mit der Abberufung von Professor Grund, der um die städtebauliche Entwick-

lung der Stadt Düsseldorf grosse Verdienste hat, und der sowohl seine Akademie als auch sein

Gauamt zu meiner vollsten Zufriedenheit führt, nicht einverstanden erklären“ (04.04.1936, Gauleiter

Florian an den Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, [Eugen] Hönig, StadtA DA,

ST 22, Nr. 2737).

Dennoch musste Grund dem Druck schließlich nachgeben. Bereits im Juli 1937 war Fahren-

kamp als kommissarischer Leiter der Staatlichen Kunstakademie eingesetzt worden; ihm

wurde auch die künstlerische Oberleitung über die Reichsausstellung „Schaffendes Volk“

übertragen. Gegen Grund wurde (aus den oben genannten Gründen) ein „Dienststrafverfah-

ren“ in Gang gesetzt, das zunächst in einem „Vorermittlungsverfahren“ bestand. Grund

reichte daraufhin ein Ruhestandsgesuch ein – im Alter von 45 Jahren; die Ermittlungen ge-

gen ihn wurden eingestellt. Regierungspräsident Schmid ließ ihn wissen, dass die „Einstel-

lung nur im Anschluß an die von Ihnen beantragte Versetzung in den Ruhestand erfolgt ist“

(Schreiben vom 07.07.1938, StadtA DA, ST 22, Nr. 2737). Zum 1. September 1938 wurde

Grund in den Ruhestand versetzt und mit einem „Ruhegehalt“ ausgestattet, das ihm unab-

hängig von weiteren Einkünften zustand. Fahrenkamp wurde am 16. Dezember 1938 zum

Akademiedirektor ernannt und auch Referent für Städtebauwesen im Stab von Gauleiter

Florian. Grund kämpfte um seinen Leumund und empfahl sich (ohne großen Erfolg) für wei-

tere Aufgaben, etwa bei Albert Speer (Brief vom 14.03.1940, BArch Berlin, BDC, R 9361-

V/100417). Bis 1944 behielt er das Amt des Ratsherrn in Düsseldorf.

Entnazifizierung und Ehrungen

Liest man nur die Entnazifizierungsakte von Peter Grund, ergibt sich ein etwas anderes Bild

des Architekten in der NS-Zeit. Die Strategie Grunds und seines Verteidigers, Rechtsanwalt

Ludwig Engel, war eindeutig: Grund sollte als eigentlich politisch desinteressierter Künstler

dargestellt werden, der nie ein Parteiamt innehatte, sondern vielmehr aufgrund seines Wi-

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derstands gegen den Nationalsozialismus von Hermann Göring persönlich aus der Akademie

gejagt wurde.

Ludwig Engel versuchte in seiner fünfseitigen Verteidigungsschrift Peter Grunds antinatio-

nalsozialistische Einstellung zu belegen; in 21 (!) Anhängen kamen zahlreiche Entlastungs-

zeugen zu Wort, darunter besonders umfangreich Pfarrer Paul Girkon, der mit seiner wohl-

wollenden Biografie zu Grund über Jahrzehnte dessen öffentliche Wahrnehmung beeinfluss-

te. Die Gründung der geplanten Architekten-Vereinigung – zu der sich Grund nun vorbehalt-

los bekannte (!) – wurde als Ursache für seine Entlassung präsentiert und mit entsprechen-

den Dokumenten untermauert. Zusätzlich wurden weitere Beispiele für Grunds subversiven

Widerstand gegen das NS-Regime ins Feld geführt.

Es lagen aber auch schon früh im Verlauf des Verfahrens Grund belastende Aussagen vor:

Angefragte Architekten äußerten sich sehr kritisch, erinnerten sich an Grunds Nähe zu

NSDAP-Größen und seine Tätigkeit als Gauamtsleiter in Düsseldorf. Ein Architekt sagte aus,

dass Grund „für die NSDAP in Erfassung seiner eigenen Vorteile 100%ig zuverlässig war, zum

Nachteil jedes anderen Collegen, der nicht Mitglied der Partei war“ (30.12.1946, Adolf Max-

einer). Seitens des Künstlervereins „Malkasten“ aus Düsseldorf konnte man sich die Beru-

fung Grunds zum Akademiedirektor einzig durch dessen Nähe zur NSDAP erklären

(12.02.1947) und die Rheinische Sezession Düsseldorf erklärte auf Anfrage:

„Professor Grund wurde unseres Wissens lediglich aufgrund guter Beziehungen zu einem der höhe-

ren Parteiführer zum Direktor der hiesigen Staatlichen Kunstakademie ernannt. Sein Können und

seine Tätigkeit fanden nicht einmal bei seinen Schülern das geringste Verständnis. […] Er war unseres

Wissens auch Gauamtsleiter der NSDAP. Er soll sogar etwa Mitte vorigen Jahres um eine Erhöhung

seiner Pension vorstellig geworden sein [was sich durch Quellen belegen lässt, HK]“ (31.01.1947).

Aufgrund von Grunds Angaben in seinem Meldebogen hielt der Öffentliche Kläger zunächst

eine Anklage in Kategorie II (Aktivisten) für gerechtfertigt (14.11.1946), wobei ausdrücklich

darauf verwiesen wurde, dass die begründete Vermutung bestünde, „daß der Architekt

Grund zu führenden Nationalsozialisten des 3. Reichs engere Beziehungen gehabt hat, die er

bisher nicht angegeben hat“. Grund hatte im Übrigen seine fördernde SS-Mitgliedschaft mit

„1934-1938“ angegeben, seine NSDAP-Mitgliedschaft mit „1934-1942“. Tatsächlich wurde

Grund (aufgrund der Ergebnisse der geführten Ermittlungen und Erhebungen) in der Klage-

schrift der Spruchkammer Darmstadt-Stadt vom 27.03.1947 in Kategorie III (Minderbelaste-

te) angeklagt.

Die Spruchkammer schloss sich der Anklage hingegen nicht an – und schenkte ausschließlich

den Entlastungszeugen Glauben: Per Spruchkammer-Entscheid vom 30.04.1947 (rechtskräf-

tig am 05.06.1947) wurde Peter Grund in Kategorie V (Entlastete) eingereiht. Seinem Enga-

gement als Oberbaudirektor in Darmstadt stand somit nichts mehr im Wege. In der fünfseiti-

gen Begründung wurden die Argumente der Verteidigung (teils im Wortlaut) übernommen.

Das Gericht kam folglich zu dem Schluss:

„Die gesetzliche Vermutung, dass der Betroffene durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP und durch

sein Amt als Landesleiter der Reichskammer der bildenden Künste den Nationalsozialismus wesent-

lich gefördert hat, ist zweifellos einwandfrei widerlegt. Der Betroffene ist also nur als nominelles

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Mitglied anzusehen. Darüber hinaus hat er wie in Abschnitt B geschildert ist, erheblichen aktiven

Widerstand geleistet und ist deshalb aus seiner Stellung entlassen worden.“

Grund habe rassisch Verfolgte unterstützt, sich mit Gleichgesinnten getroffen, um die „Mög-

lichkeit der Vernichtung Hitlers zu beraten“, Propaganda gegen das NS-System verbreitet

und sich für die Aufnahme von „Nichtariern“ in die RKK eingesetzt. Verifizieren ließen (und

lassen) sich diese Angaben nicht.

Vertreter der amerikanischen Militärregierung in Darmstadt reagierten bestürzt und legten

umgehend Widerspruch gegen das Urteil ein:

„Forwarded for disapproval of reinstatement. He is a high ranking State Architect. High Offices in

NSDAP and Reichskammer der bildenden Künste and derogatory information make him more than a

follower. Exoneration appears to be impossible. 9.7.47, Richard W. Smith, Capt. CAC“ (StadtA DA,

ST 22, Nr. 2737).

Aufgrund des schwebenden Berufungsverfahrens sei Grund sofort allen leitenden Ämtern zu

entheben (zu den Besprechungen zwischen Militäradministration und Stadtverwaltung aus-

führlich die Protokolle in StadtA DA, ST 61, Grund, Prof. Peter und Georg). Im Mai 1948 sah

die Militärregierung eine Wiederaufnahme des Verfahrens als unumgänglich an. Neue Er-

kenntnisse lägen vor, welche belegten, dass Grund in seinem Meldebogen gelogen habe.

Vertreter der Stadt Düsseldorf hatten Grund auf Anfrage als „exponierte[n] Vertreter der

Naziideologie“ (Georg Glock, Bürgermeister Düsseldorf, 27.03.1948) bezeichnet, seine Nähe

zu Gauleiter Florian sowie – was besonders schwer ins Gewicht fiel – seine Position als

„Gauamtsleiter“ bestätigt. Sollte sich Grunds Tätigkeit als „Gauamtsleiter“ bewahrheiten,

drohe ihm eine Anklage in Kategorie I (!), machte die Militärregierung deutlich. Als Belas-

tungszeuge trat besonders Regierungsbaumeister (und Stadtrat) Robert Meyer in Erschei-

nung. Vor der Berufungskammer nahm Grund zu dessen Anschuldigungen schriftlich Stel-

lung:

„Meine Berufung nach Düsseldorf erfolgte ohne Unterstützung der Parteistellen. […] Um eine besse-

re Zusammenarbeit [mit] der Gauleitung herzustellen, wurde ich von den Prof. wiederholt aufgefor-

dert, mit der Partei enger zusammen zu arbeiten. Ich wurde dann Referent für Städtebauer.“

Auf Veranlassung der Gauleitung habe er eine Gauamtsleiter-Uniform getragen – obwohl es

dieses Amt gar nicht gegeben habe; er sei Referent, aber nicht Amtsleiter für Städtebau ge-

wesen. [Zwischenzeitlich war offensichtlich eine Fotografie aufgetaucht, die Grund in Partei-

uniform zeigte, weshalb deren Tragen nicht mehr zu leugnen war, siehe „Männer vom Bau.

Professor Peter Grund.“ In: Deutsche Bauzeitung 70 (1936), S. 59; ein Brief vom 10.04.1937

unterschrieb Grund noch mit „Gauamtsleiter“, StadtA Remscheid, A II C/62.] Nach seiner

Entlassung habe er zudem „jede Verbindung mit der Partei aufgelöst“ (Meyer wollte Grund

noch nach seiner Entlassung als Gauamtsleiter gesehen haben, konnte dafür aber keine Be-

weise erbringen – was das Gericht dazu brachte, seine Glaubwürdigkeit infrage zu stellen).

Die Spruchkammer Darmstadt hielt die Belastungszeugen weiterhin für Neider bzw. für un-

glaubwürdig – und lehnte ein Wiederaufnahmeverfahren aufgrund Mangels an (neuen) Be-

weisen ab. Entsprechend äußerte sich auch Artur E. Bratu, der die Ermittlungen im Beru-

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fungsverfahren leitete: „Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Verfahren erwiesen hat,

dass der Betroffene niemals mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat“

(28.01.1949). Das Hessische Staatsministerium sah das anders („Die Ausführungen bezüglich

des Nichtbestehens oder Bestehens eines Gauamtes für Städtebau sind abwegig und werden

durch das Organisationsbuch der NSDAP S. 139/140 widerlegt“) und beantragte die Wieder-

aufnahme des Verfahrens (24.02.1949). In ihrem endgültigen Beschluss vom 24.06.1949

(rechtskräftig 13.08.1949) ließ die Spruchkammer Darmstadt wissen: „Der Antrag des öf-

fentl. Klägers vom 19. Mai 1949/Me/Ka, auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den

Betroffenen wird abgelehnt.“ Begründung: Es seien keine neuen wesentlichen Tatsachen

und Beweismittel vorgelegt worden, insbesondere „keine sicheren Beweise für eine Tätigkeit

als Gauamtsleiter oder die Bekleidung eines derartigen Ranges in der NSDAP“.

Als letzter Vermerk ist in der Entnazifizierungsakte von Peter Grund zu lesen:

„Kostenrechnung ist nicht zu erstellen, weil Genannter unter die Gruppe der Entlasteten fällt und die

Kosten von der Staatskasse getragen werden. Nichts mehr zu veranlassen. Zur Ablage an Archiv“

(20.06.1950).

Peter Grund wurde 1955 von der TH Darmstadt zum Ehrensenator ernannt, als sein Fürspre-

cher erwies sich einmal mehr Paul Girkon. Anlässlich seines 65. Geburtstags 1957 beschloss

die Stadt Darmstadt, Peter Grund die Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt zu ver-

leihen. Zugleich wurde vom Magistrat beschlossen, den Vorschlag von OB Ludwig Engel auf-

zugreifen und Peter Grund für das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD vor-

zuschlagen. Der Regierungspräsident in Darmstadt ließ OB Engel wissen, dass mit einer ent-

sprechenden Ehrung nicht zu rechnen sei. In der internen Kommunikation wurden Doku-

mente aus Düsseldorf genannt, nach deren Sichtung man möglicherweise von einer erneu-

ten Antragstellung absehen sollte. Engel berief sich darauf, dass Peter Grund für seine Ver-

dienste um den Wiederaufbau der Stadt Darmstadt nach 1945 geehrt werden sollte. Dem

zweiten Beschluss des Magistrats vom 7. August 1959 wurde dennoch folgende Passage bei-

gefügt:

„Im übrigen [sic!] müsse die weitere Behandlung der Angelegenheit der für die Weiterleitung zustän-

digen Behörde – unter Würdigung der nunmehr aus früherer Zeit bekannt gewordenen Tatsachen –

überlassen bleiben.“

Zu einer Verleihung des Bundesverdienstkreuzes kam es nicht.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/100417

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/729

HHStAW, Grund, Peter, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 516026

HStAD, H 3 Nr. 3568 [Kennkartenmeldebogen mit Bild]

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HStAD, R 12 P Nr. 1792

[Bebauungspläne aus Zeit nach 1945 in HStAD]

StadtA DA, ST 22, Nr. 2737 Personalakten, Prof. Grund, Peter; Beiakten I und II

StadtA DA, ST 22, Nr. 2738 Personalakten, Prof. Grund, Peter; Nebenakten

StadtA DA, ST 45 Grund

StadtA DA, ST 61, Grund, Prof. Peter und Georg

StadtA Düsseldorf, 0-1-4-52433 [Namensverzeichnis der Ratsherren]

StadtA Düsseldorf, 4-59-0-9.0000

StadtA Düsseldorf, 4-59-0-29.0000

StadtA Düsseldorf, 4-59-0-30.0000

StadtA Düsseldorf, 4-59-0-42.0000

StadtA Düsseldorf, 4-59-0-46.0000

StadtA Düsseldorf, 5-8-0-180210.0151 und 5-8-0-180210.015 [zwei Porträts von Peter Grund]

StadtA Remscheid, A II C/62 (alt: Abt. A 559)

Privatarchiv Peter Friedel

Baugilde

Rubrik ‚Wirtschaftsnachrichten – Kleine Mitteilungen‘. In: Baugilde 19 (1937), S. 795.

Professor Fahrenkamp zum Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie ernannt. In: Baugilde 21 (1939), S. 93.

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40

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Hake, Helga: Professor Peter Grund. Baukunst und Stadtplanung (Begleitheft zur Sonderausstellung

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Page 41: Projekt Darmstädter Straßennamen · 2 Aßmuth, Peter 134 Bartning, Otto 135 Bäumer, Gertrud 139 Behnisch, Günter 143

41

Kleukensweg (Q 8), benannt 1963 nach

Christian Heinrich Kleukens (1880-1954)

Buchkünstler und Schriftsteller

*7. März 1880 in Achim bei Bremen

Schulbesuch in Bremen

Um 1900 Mitglied des sozialdemokratischen Wahlvereins

Ca. 1900-1905 Ausbildung zum Setzer und Drucker in der „Steglitzer Werkstatt“ (Berlin) bei seinem

Bruder Friedrich Wilhelm Kleukens

1902 Militärdienst

1903 Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit (Fabeln)

Um 1904 Studium an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig;

wohnhaft in Groß-Deuben bei Leipzig (dort auch SPD-Mitglied)

1907-1914 Setzer/Drucker und künstlerischer Berater an der (von seinem Bruder Friedrich Wilhelm

geleiteten) „Ernst-Ludwig-Presse“ in Darmstadt

1911 Errichtung seines Wohnhauses in Trautheim (Mühltal)

1912 Heirat mit Luise Krüger, eine Tochter

1913 Ernennung zum Mitglied der Darmstädter Künstlerkolonie

1914-1917 Leiter der „Ernst-Ludwig-Presse“ in Darmstadt (während des Kriegs eingestellt)

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg (August 1914 – Ende 1918), Frontkämpfer (Westfront,

50. Infanterie-Division)

1919 Gründung der „Kleukens-Presse“ in Nieder-Ramstadt (gemeinsam mit Rudolf G. Binding und

weiteren Freunden)

1923-1944 erneut Leiter der „Ernst-Ludwig-Presse“ in Darmstadt/Mainz

1927-1945 Leiter der 1927 gegründeten „Mainzer Presse“ des Gutenberg-Museums in Mainz

1929-1948 Professur an der Mainzer Staatsschule für Kunst und Handwerk

1930 Veröffentlichung „Die Großtat der Letter“

1932 Radiobeitrag „Die Weltgeltung Deutschlands durch Gutenberg“

1932 Veröffentlichung „Der bankrotte Jona“ (Drama)

1932 Beginn der Herausgabe der „Welt-Goethe-Ausgabe“ (bis 1940 erschienen acht der auf 50 Bände

konzipierten Ausgabe); gesetzt in von Kleukens entwickelter Handsatzschrift

1932/33 Mitglied der DNVP

1933 Mitglied des Stahlhelms

1933 Veröffentlichung „Deutschlands Weltgeltung und Gutenbergs Großtat“

1934 Mitglied der SA (als Stahlhelm-Mitglied SA-Reserve ab 15.6.1934)

1934 Leiter der Fachgruppe Schrift und Buchkunst der Ortgruppe Mainz des „Kampfbundes für deut-

sche Kultur“

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1934 Veröffentlichung „Die deutsche Kunst der Letter“, verlegt von der „NS-Kulturgemeinde, Orts-

verband Mainz“

1935-1945 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste (RKdbK)

1936 Vortrag „Die Weltgeltung Deutschlands durch Gutenberg“

Ca. 1937-1939 Beiträge in der Zeitung „Der SA-Mann. Kampfblatt der Obersten SA-Führung der

NSDAP“(ca. 30) sowie in der Zeitschrift „Westmark. Monatsschrift für deutsche Kultur“ (ca. 20)

1937 Veröffentlichung „30 Jahre Ernst Ludwig Presse“

1937-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 5860129, Eintritt: 01.05.1937)

1937-1945 Mitglied der NSV

1938-1945 verschiedene Auflagen von „Ein Trostbüchlein für Vormänner“

1940 Veröffentlichung „Die Kunst der Letter“

1942 Ernennung zum SA-Sturmführer

1943 Ernennung zum SA-Obersturmführer

1943 Veröffentlichung „Die Kunst Gutenbergs“

1951 Übernahme der Leitung der „Mainzer Drucke“ (es erschienen bis 1954 acht Titel)

† 7. April 1954 in Trautheim (Mühltal)

Ehrungen:

1914 Medaille für Kunst und Wissenschaft (von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein)

1926 Georg-Büchner-Preis (als Buchkünstler)

1932 Silberne Medaille für Kunst und Wissenschaft (durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und

bei Rhein)

1937 Ehrungen auf der Weltausstellung in Paris (Ernst-Ludwig-Presse, Mainzer-Presse)

1940 Gutenberg-Preis (Kulturpreis) der Stadt Mainz

Wirken in der NS-Zeit

Christian Heinrich Kleukens, produktiver Vertreter der Buchkunstbewegung, hinterließ in

Darmstadt durch sein Wirken an der Ernst-Ludwig-Presse sowie als (spätes) Mitglied der

Künstlerkolonie im Bereich der Buchkunst Spuren [er ist jedoch nicht zu verwechseln mit

seinem älteren Bruder Friedrich Wilhelm Kleukens, der die Ernst-Ludwig-Presse von deren

Gründung 1907 bis Herbst 1914 leitete und bis heute sichtbare Einflüsse sowohl auf die Aus-

gestaltung der Mathildenhöhe als auch auf die Darmstädter Kunstausstellungen der Zeit hat-

te]. Insbesondere in den 1920er/1930er Jahren entwarf Kleukens eine Reihe von Handsatz-

schriften, die er eigenen Arbeiten vorbehielt. Er schuf zwischen 1933 und 1944 zahlreiche

Werke im Bereich der Schriftkunst, die in Zusammenhang mit dem NS-Regime standen.

Kleukens lebte seit 1911 in seinem Wohnhaus in Trautheim (Mühltal). Der Schwerpunkt sei-

ner Arbeit lag hingegen seit 1927 in Mainz: Dort leitete er die neu gegründete „Mainzer-

Presse“ im Gutenberg-Museum (1927-1945) und wirkte als Professor an der Mainzer Staats-

schule für Kunst und Handwerk (1929-1948). Aus diesem Grund hatte er während der NS-

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Zeit ein möbliertes Zimmer in Mainz gemietet, wo er die meisten Wochentage verbrachte.

Spätestens 1935 zog auch die Ernst-Ludwig-Presse (deren Leiter Kleukens seit 1923 wieder

war) nach Mainz (Kleukens-Archiv, ELP 141i).

Bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hatte sich Kleukens schriftstellerisch betä-

tigt; er verfasste Fabeln und Dramen (zuletzt 1932 „Der bankrotte Jona“). Seine eigentliche

Profession lag aber im Bereich der typografischen Buchkunst: Für sein „bahnbrechendes so-

wie weithin wertstiftendes Schaffen im Dienste des Schönen Buches“ bekam Kleukens 1926

den Georg-Büchner-Preis verliehen. Als größte Herausforderung verstand Kleukens die Her-

ausgabe der „Welt-Goethe-Ausgabe“, mit der er 1932 begann. Bis 1940 sollten acht der auf

50 Bände konzipierten Ausgabe erscheinen, gesetzt – wie alle Produktionen der Mainzer

Presse – in einer von Kleukens selbst entwickelten Handsatzschrift.

Kleukens war 1932/33 Mitglied der DNVP und ab 1933 Mitglied des „Stahlhelms“. Im Juni

1934 wurde er (als Mitglied des „Stahlhelms“) Mitglied der SA(-Reserve). In der SA wurde er

– eigenen Angaben zufolge – 1942 befördert zum SA-Sturmführer und 1943 zum SA-

Obersturmführer. 1934 war Kleukens „Leiter der Fachgruppe Schrift und Buchkunst“ des

„Kampfbundes für deutsche Kultur“, Ortgruppe Mainz (die sich noch im gleichen Jahr – unter

Zusammenschluss mit der Deutschen Bühne – in „NS-Kulturgemeinde, Ortsverband Mainz“

umbenannte). 1937 trat Kleukens in die NSDAP ein (Mitglieds-Nr. 5860129, Eintritt:

01.05.1937, BArch, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei) und ebenfalls 1937 in die NSV. Von 1935

bis 1945 war er Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste.

In seiner Tätigkeit als typografischer Buchkünstler, als Setzer und Drucker, produzierte Kleu-

kens zahlreiche Schriftstücke (häufig Auftragsarbeiten), die in unterschiedlicher Weise in

Bezug zum NS-Regime standen. Als Basis für die folgende Auflistung dienen vor allem Kleu-

kens Angaben bei der RKK (BArch, Berlin, BDC, R 9361-V/24708) sowie Dokumente aus dem

„Kleukens-Archiv“, das sich bis vor Kurzem in Privatbesitz befand (sich nun im Besitz der

Stadt Darmstadt befindet), aber in umfangreichen Auszügen (von Original-Dokumenten) on-

line einzusehen ist [als problematisch erweist sich hierbei, dass es sich um eine nicht näher

erläuterte Auswahl an veröffentlichten Dokumenten handelt, zusammengestellt von Harald

Ernstberger]. Kleukens hat wiederholt und über die gesamte NS-Zeit Reden von NS-Größen

in Form gebracht und publiziert. Ein Foto dokumentiert etwa, wie er persönlich den Druck

der „Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler vor dem Deutschen Reichstage am 17. Mai 1933“

begutachtete, Kleukens-Archiv, MP B35b (siehe auch „Adolf Hitler. Rede vor dem deutschen

Reichstag am 19. Juli 1940“, Kleukens-Archiv, MP C40, sowie im Dezember 1941 für den NS-

Lehrerbund „Adolf Rosenberg: Nordische Schicksalsgemeinschaft“, Kleukens-Archiv, MP

C51). Er setzte und druckte Programme und Ehrungen des NS-Kulturvereins bzw. des

„Kampfbundes für deutsche Kultur“, Ortsgruppe Mainz, in dem er wie erwähnt das Amt des

„Leiters der Fachgruppe Schrift und Buchkunst“ innehatte, sowie für die SA-Standarte 117

Mainz. Mit führenden Protagonisten des NS-Regimes in Mainz (besonders im kulturellen

Bereich) stand er in Kontakt, darunter das Brüderpaar Alexander und Camillo Sangiorgio (zu

diesen siehe Garke-Rothbart, besonders S. 111). Camillo Sangiorgio, in leitender Funktion in

der Ortsgruppe Mainz des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ bzw. der daraus gegründeten

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Mainzer NS-Kulturgemeinde tätig, bedankte sich bei Kleukens für dessen Arbeit für den

„Kampfbund“ und erkundigte sich nach Kleukens Einschätzung:

„Im Übrigen würde ich mich einmal recht gerne über die Verhältnisse an der Kunstgewerbeschule,

besonders die Personalverhältnisse und die Stellung der Fachgruppe des nationalsozialistischen Stu-

dentenbundes aussprechen (vertraulich) und bitte um Ihren telefonischen Bescheid, wenn es Ihnen

einmal passt“ (C[amillo] Sangiorgio an Prof. Ch. H. Kleukens vom 31.05.1933, Kleukens-Archiv, MP

B39).

Im Oktober 1940 verfasste und gestaltete Kleukens in bibliophiler Ausführung eine Gedächt-

nisschrift für die im Juni 1940 verstorbene Maya Sangiorgio (Kleukens-Archiv, MP C41). Ale-

xander Sangiorgio, der bereits 1931 als kommissarischer Propagandaleiter der NSDAP-

Ortsgruppe Mainz fungierte, bedankte sich persönlich bei Kleukens; etwas so „formvollendet

Schönes“ habe er noch nie in Händen gehalten (MP C41f).

Noch 1944 schuf Kleukens eine bibliophile Sonderausgabe von Kurt Eggers „Der Wettlauf mit

dem Tode“ (Kleukens-Archiv, MP C72). Das Impressum der Ausgabe, deren Frontseite einzig

SS-Runen zierten, lautete wie folgt:

„Druck der Mainzer Presse, Mainz, im März 1944. Im Auftrage der SS-Standarte „Kurt Eggers“ herge-

stellt für den Führer Adolf Hitler, den Reichsführer-SS Heinrich Himmler, den SS-Obergruppenführer

und General der Waffen-SS Jüttner, den SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Walter

Krüger, den SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Fegelein, den SS-Oberführer Lam-

merding, den SS-Obersturmbannführer Gunter d’Alquen, den SS-Oberscharführer Siegling“ (Kleu-

kens-Archiv, MP C72i).

Selbst verfasste (sowie gestaltete und gedruckte) Veröffentlichungen widmete Kleukens dem

„Führer“ oder er schuf Sondereditionen. Seine Veröffentlichung „Die deutsche Kunst der

Letter“ (1934) etwa, die auf einem Vortrag gleichen Titels basierte und als Erstveröffentli-

chung der NS-Kulturgemeinde Mainz herausgegeben wurde, widmete er „Dem Führer des

deutschen Volkes Reichskanzler Adolf Hitler“ (Kleukens-Archiv, MP B45, Widmungsblatt

B46a). Ein Sonderexemplar davon fertigte er für Alfred Rosenberg an. Im Rahmen der Gu-

tenberg-Festwoche 1936 hielt Kleukens den Vortrag „Die Weltgeltung Deutschlands durch

Gutenberg“ (16.06.1936, Kleukens-Archiv, MP B108). Gutenberg habe Deutschland vor „die

Front der Kulturnationen“ gestellt, wie es in der Veröffentlichung „1440 Fünfhundert Jahre

1940“ hieß (Impressum: „Hergestellt im Sommer 1936 durch Christian Heinrich Kleukens und

Georg Wittig für den Führer und seine engsten Mitarbeiter“, Kleukens-Archiv MP B75c; teils

versehen mit Widmungszettel: „Dem Führer des deutschen Volkes Reichskanzler Adolf Hitler

zum 30. Januar 1937. Christian Heinrich Kleukens[,] Professor an der Staatsschule für Kunst

und Handwerk Mainz[;] Georg Wittig[,] Studienrat am Adam-Karillon-Gymnasium Mainz“,

Kleukens-Archiv, MP B76).

Im Gutenberg-Jahr 1940 plante Kleukens eine Monumental-Ausgabe von Adolf Hitlers „Mein

Kampf“ (unterschiedliche Entwürfe hierzu im Kleukens-Archiv, MP B106). Im Rahmen des

geplanten Gutenberg-Monats (April 1940) wurde er als „wehrwichtiger Vortragsredner“ vom

Deutschen Volksbildungswerk reklamiert (07.03.1940, Amt Deutsches Volksbildungswerk, an

NSDAP-Reichsleitung, Hauptstelle Kulturpolitisches Archiv, BArch, Berlin, NS 15/30, vgl. auch

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NS 15/131). Bereits 1937 war er als Redner der NS-Kulturgemeinde des Gaues Saarpfalz vor-

gesehen (BArch Berlin, NS 15/27). Ein im Zuge dessen angefordertes Gutachten ließ keine

Zweifel an der politischen Eignung von Kleukens aufkommen:

„Wir teilen Ihnen mit, dass K[leukens] von der zuständigen Gauleitung für politisch zuverlässig erklärt

wird, dass auch im Kulturpolitischen Archiv Nachteiliges über ihn nicht bekannt ist und dass somit

gegen eine Zusammenarbeit mit ihm keine Bedenken bestehen“ (05.01.1938, Hauptstelle Kulturpoli-

tisches Archiv, an die DAF, NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude, Amt Kulturgemeinde – Amt Deut-

sches Volksbildungswesen, Abteilung II/Vortragswesen, Berlin, BArch Berlin, NS 15/27).

Eigene Angaben von Kleukens in den Meldebögen der RKK belegen, dass er in den Zeitungen

„Der SA-Mann. Kampfblatt der Obersten SA-Führung der NSDAP“ und „Westmark. Monats-

schrift für deutsche Literatur“ dutzende Beiträge veröffentlichte. Zum Jahrgang 1938 des

„SA-Manns“ (ein NS-Propagandablatt, das offen gegen Juden und andere Minderheiten hetz-

te) steuerte Kleukens etwa 15-20 Beiträge bei. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es

sich dabei nicht um (inhaltlich) selbst verfasste, sondern um (typografisch) in Form gebrach-

te Beiträge (im Sinne der Schriftkunst). Bei Durchsicht des gesamten Jahrgangs fanden sich

entsprechend viele Gedichte und vergleichbare Texte, die sich typografisch auffallend vom

übrigen Erscheinungsbild der Zeitung hervorhoben und Kleukens zugeschrieben werden

könnten (wenngleich der Name Kleukens an keiner Stelle genannt wurde; seine Selbstaussa-

ge belief sich auf „ein Dutzend“ Beiträge bis Ende 1937 und „30“ bis Ende 1938 im „SA-

Mann“, was 18 Beiträge für den Jahrgang 1938 entspräche). Da von der Zeitung unterschied-

liche regionale Ausgaben publiziert wurden, die nicht vollständig überliefert sind, lassen sich

keine präzisen Angaben machen.

Auf der Weltausstellung in Paris 1937 wurden Drucke der verschiedenen Pressen, für die

Christian Heinrich Kleukens verantwortlich zeichnete, mit hohen Auszeichnungen dekoriert.

Im Sommer des Gutenberg-Jahrs 1940 erhielt Kleukens den Gutenberg-Kulturpreis (Guten-

berg-Medaille) der Stadt Mainz verliehen.

Entnazifizierungsverfahren

„Im März 1933 brach eine schwere Zeit für mein Werk, dem ich mit ganzer Seele anhing, heran. Ich

wurde als ‚Edelkommunist‘ und Pazifist verschrieen [sic!]. […] Ab 1933 bin ich ein Märtyrer der Welt-

Goethe-Ausgabe und bin es geblieben bis auf den heutigen Tag“ (Christian Heinrich Kleukens,

15.08.1947, HHStAW).

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens nahm Kleukens relativ ausführlich zu seinem

Wirken in der NS-Zeit Stellung; den Tenor des fünfseitigen, maschinengeschriebenen Be-

richts fasst das vorangestellte Zitat gut zusammen. Die dem Schreiben beigefügten über 20

Entlastungs-Schreiben bestätigten dessen Kernaussage: Kleukens sei ein scharfer Gegner der

Nazis gewesen, der NS-Organisationen nur beigetreten sei, da er vom Mainzer OB Robert

Barth entsprechend unter Druck gesetzt wurde (anderenfalls hätte er an seinem Lebens-

werk, der Welt-Goethe-Ausgabe, nicht mehr weiterarbeiten dürfen; nur so sei er „in die Par-

tei hineingeraten“), er sei ein Idealist, der sich einzig der „Kraft und Schönheit der deutschen

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Sprache“ verpflichtet gesehen habe, sei sozial, demokratisch und der pazifistischen Idee ver-

bunden.

Keine der oben beschriebenen Veröffentlichungen, weder Widmungen noch seine Beiträge

in NS-Propagandaorganen oder seine typografische Gestaltung von NS-Gedankengut fanden

hingegen Erwähnung.

Kleukens selbst berichtete in seiner Erklärung von einer „mehr als vierstündigen Haussu-

chung“ in seinem Wohnhaus in Nieder-Ramstadt, wobei seine „Mitgliedskarten der Frie-

densgesellschaft und des Pan-Europa“ gefunden worden seien, was lange Verhöre zur Folge

gehabt habe:

„Grob und eindeutig wurde mir erklärt, ich sei für die Goethe-Ausgabe untragbar, wenn ich nicht

einem nationalen Verband beitrete. Daraufhin beantragte ich meine Aufnahme in den NS-Lehrer-

bund. Dieser lehnte mich ab. Um das große Kulturwerk, die Welt-Goethe-Ausgabe, dennoch zu ret-

ten, entschloss ich mich nach schweren inneren Kämpfen Mitte 1933 dem Stahlhelm beizutreten. Die

Mitgliedschaft war rein formell. Am Dienst habe ich mich nie beteiligt. Am 15.6.34 wurde der Stahl-

helm in die SA überführt. Ich wurde automatisch der SA-Reserve überwiesen. Kaum fünf oder sechs

mal habe ich mich an dem sogenannten Dienst beteiligt. Die Mitglieder der SA-Reserve waren fast

alle frühere Stahlhelmer und ältere Leute, die innerlich die Partei ablehnten.

Den Geist in meiner Familie zeigt vielleicht am klarsten, dass meine Tochter die einzige Schülerin

ihrer Klasse in der Viktoriaschule war, die nicht dem B.d.M. angehörte.

Im Mai 1937 ist die gesamte SA-Reserve in die NSDAP überführt worden. […]“

Ebenfalls 1937 sah er sich gezwungen, der NSV beizutreten („das wurde vom Kreisleiter

energisch verlangt“). Als ihm 1940 mitgeteilt wurde, er bekäme in Kürze den Gutenberg-

Kulturpreis überreicht (der Gauleiter hatte sich einverstanden erklärt), habe er mit Abscheu

reagiert:

„Spontan und mit entsprechender Handbewegung entgegnete ich: Der Ekel steht mir so hoch! – Die-

se ‚unvorsichtige‘ Äußerung kann Dr. [Wilhelm] Wehner [ehemals Kreisdirektor der Provinz Rhein-

hessen und zu der Zeit Vertreter des im Kriegsdienst absenten OB Robert Barth, HK] bezeugen.“

Während er seine Schriftkunst im Dienste des Nationalsozialismus nicht erwähnte, ging er

doch auf seine (schwer zu leugnende) Karriere in der SA ein:

„Kurze Zeit nach der öffentlichen Verleihung des Kulturpreises erklärte mir Standartenführer König,

er sei stolz auf mich, ich müsse mir rasch eine Uniform anschaffen, er wolle mich schnellstens beför-

dern. Erschrocken bat ich, es nicht zu tun, mir stünde ein Rang nicht an, er möge ‚alte Kämpfer‘ usw.

beglücken. Mir graue vor dem ‚Neide‘ dieser; er wisse doch, dass ich bei diesen verschrieen [sic!]

wäre und ein ‚Spätling‘. Trotzdem erfolgte nun rasch eine Beförderung nach der anderen. 1942 wur-

de ich gar Sturmführer und November 1943 Obersturmführer der SA-Reserve. Die Beförderung war

rein ehrenhalber. Niemals habe ich eine Einheit geführt, nicht einmal eine Schar. Meine innere Revol-

te gegen den Nationalsozialismus kann ich durch zahlreiche Zeugnisse belegen.“

Weiter berichtete er davon, wie er im Krieg pazifistische Fabeln illegal gedruckt und verbrei-

tet habe; oft habe er nicht schweigen können (zum Entsetzen seiner Umwelt). Tatsächlich

druckte Kleukens im Rahmen der Ernst-Ludwig-Presse zwischen 1937 und 1945 mehrere

kleine Auflagen von Sammlungen selbst verfasster Fabeln, ab 1938 unter dem Titel „Ein

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Trostbüchlein für Vormänner“ (Kleukens-Archiv, ELP 159-175; Exemplar 1940 in ULB; letztes

gedrucktes Buch vor Kriegsende vom 07.03.1945).

Nur zur „Tarnung“, so Kleukens, habe er „das große persönliche Opfer gebracht, mich in die

Partei hineinsaugen zu lassen. […] Aber ich musste mich tarnen, um das Werk wirklich schüt-

zen zu können“.

In einem Brief vom 09.10.1936 an seine Tochter schrieb Kleukens: „Am Sonntag muss ich in

Mainz sein. Die SA-Standarte hat Sporttag“ (Kleukens-Archiv, MP B77c).

Als Selbsteinschätzung gab Kleukens im Meldebogen des Entnazifizierungsverfahrens zu Pro-

tokoll: „Ich bitte Sie, mich als entlastet zu erklären“. [In vorliegenden Kopien nur Verweis auf

Sühnebescheid vom 05.03.1948, nicht der Bescheid selbst.]

Quellen:

BArch, Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch, Berlin, BDC, R 9361-V/24708

BArch, Berlin, NS 15/27 + NS 15/30 + NS 15/127 + NS 15/131

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Land, Nr. 8227

HStAD, G 35 E Nr. 9418

HStAD, R 12 P Nr. 2980

StadtA DA, ST 61, Kleukens, Prof. Christian Heinrich [et al.]

Kleukens-Archiv [http://kleukens-archiv.de]

Der SA-Mann. Kampfblatt der Obersten SA-Führung der NSDAP [Jahrgänge 1933-1938]

Literatur:

Ernstberger, Harald: Ernst-Ludwig-Presse. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 215.

Ernstberger, Harald: Kleukens, Christian Heinrich. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 498.

Garke-Rothbart, Thomas: „…für unseren Betrieb lebensnotwendig…“. Georg von Holtzbrinck als Ver-

lagsunternehmer im Dritten Reich. München 2008.

Kleukens, Christian Heinrich: Die Kunst der Letter. Leipzig 1940.

Kleukens, Christian Heinrich: Ein Trostbüchlein für Vormänner. Darmstadt 1940.

Kleukens, Christian Heinrich: Die Kunst Gutenbergs. Mainz 1943.

Sangiorgio, Camillo (Hrsg.): Deutsche Gemeinschaftsarbeit. Geschichte, Idee und Bau des Westwalls.

Mit einem Geleitwort von Robert Ley. Hrsg. durch die Deutsche Arbeitsfront, NSG. Kraft durch Freu-

de, Reichsamt Deutsches Volksbildungswerk. Wiesbadener Volksbücher Nr. 270. Wiesbaden 1940.

Sarkowski, Heinz: Kleukens, Christian Heinrich. In: NDB 12 (1979), S. 54 f.

Verein für Heimatgeschichte Ober-Ramstadt (Hrsg.): Christian Heinrich Kleukens 1880-1954. Geden-

ken 1980. Darmstadt 1980.

Page 48: Projekt Darmstädter Straßennamen · 2 Aßmuth, Peter 134 Bartning, Otto 135 Bäumer, Gertrud 139 Behnisch, Günter 143

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Kuhnweg (F 8), benannt 1976 nach

Richard Kuhn (1900-1967)

Chemiker

* 3. Dezember 1900 in Wien

1910-1918 Gymnasium in Wien (Matura am 18.01.1918)

1918 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg (Januar-Oktober 1918, K. u. K. Telegrafenregiment)

1918-1919 Studium an der Universität Wien

1919-1922 Studium an der Universität München

1919/20 Mitglied der Zeitfreiwilligenkompanie 20 in München

1922 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München bei Richard Willstätter

1922-1926 Assistent am Chemischen Institut der Universität München

1925 Habilitation für Chemie an der Universität München

1926-1929 ordentlicher Professor für Allgemeine und Analytische Chemie an der ETH Zürich

1928 Heirat mit Daisy Hartmann (sechs Kinder)

1929-1950 Honorarprofessor für Chemie an der Naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät der

Universität Heidelberg

Ab 1929 Leiter der Abteilung für Chemie am KWI für Medizinische Forschung, Heidelberg

1936 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle/Saale

1936 Mitglied des Vorstands der Deutschen Chemischen Gesellschaft (DChG)

Ca. 1936-1945 Mitglied der NSV

1936-1940 Vizepräsident der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC)/Union In-

ternationale de Chimie (UIC)

1937-1967 Direktor des KWI/MPI für Medizinische Forschung, Heidelberg (kommissarische Leitung

ab April 1936)

1938-1946 Mitglied der DAF

1938 Arbeitsgemeinschaft zur Vitaminforschung mit Karl Merck und Heinrich Hörlein

Ab 1938 Kooperation zwischen KWI und HWA-Gasschutzabteilung

1938 Leiter der deutschen Delegation auf dem Internationalen Kongress für Chemie, Rom

1938-1945 Präsident der DChG

1939-1945 Leiter der Fachsparte für organische Chemie im Reichsforschungsrat (RFR)

1940 Kandidat für das Amt des Präsidenten der KWG

1941 Einrichtung der Kampfstoff-Abteilung am KWI für medizinische Forschung

1942 1. Senator der Reichsfachgruppe Chemie des NSBDT

1943/44 Nervengasforschung (Tabun-Sarin-Soman) in Kooperation mit dem HWA

1944 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl

Brandt; vier Treffen Tabun-Sarinvergiftungen betreffend

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49

1948-1966 Senator der Max-Planck-Gesellschaft (MPG)

1950-1967 Ordinariat für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg

1955-1966 Vizepräsident der MPG

1964-1965 Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh)

† 31. Juli 1967 in Heidelberg

Ehrungen:

1934 Adolf-von-Baeyer-Denkmünze, Verein Deutscher Chemiker

1938 Ehrenmitglied der Chemical Society London

1938 Nobelpreis für Chemie [Ehrung 1939; Annahme 1948]

1942 Goethepreis der Stadt Frankfurt

1944 Emil-von-Behring-Preis der Universität Marburg

1958 Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste

1959 Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

1960 Ehrendoktor der Universität Wien sowie der TH München

1960 Ehrenmitglied der New York Academy of Sciences

1961 Ehrenprofessor der Universidade Federal de Santa Maria (Brasilien)

1961/62 Großes Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst

1964 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband

1966 Ehrensenator der Max-Planck-Gesellschaft

1966/67 Ehrendoktor der Universität Heidelberg

1968 Richard-Kuhn-Medaille (seit 2005 nicht mehr verliehen – aufgrund Kuhns Wirken im NS)

Mitglied zahlreicher weiterer Akademien der Wissenschaften (Berlin, Göttingen, Heidelberg, Mün-

chen, Neu Delhi, Wien) sowie anderer wissenschaftlicher Vereinigungen

Wirken in der NS-Zeit

„Kuhns Verhalten während der NS-Zeit zeichnete sich durch politische Kompromisse und vorausei-

lenden Gehorsam, (erfolgreiches) Streben nach beruflichem Aufstieg und wissenschaftspolitischer

Macht sowie (als Österreicher) großdeutsch ausgerichteten Nationalismus aus. Meiner Analyse zufol-

ge unterstützte er das NS-Regime aus allgemein nationalistischer Überzeugung und aus Opportuni-

tätsgründen, nicht aus Zustimmung zur NS-Rassenideologie. Die Existenz entsprechender Gesetze

oder politischen Drucks erklären Kuhns Verhalten nur zu einem kleinen Teil. Kuhn ging in entschei-

denden Punkten weiter als es selbst für jemanden in seiner Position nötig war [Deichmann nennt im

Folgenden Beispiele für Denunziation jüdischer Wissenschaftler, Ergebenheitserklärung für Hitler,

Giftgasforschung, HK].Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob Kuhn die nationalsozialistische Ideo-

logie von ihrer Überzeugung her teilte, unerheblich gegenüber der Tatsache, dass er das Regime mit

seinem Ansehen und wissenschaftlichen sowie organisatorischen Fähigkeiten unterstützte und bereit

war, Massenvernichtungsmittel für Hitler zu entwickeln. Damit wurde er nicht nur für das nationalso-

zialistische Unrecht mitverantwortlich, sondern schadete der Wissenschaft in Deutschland weit über

die Zeit des Nationalsozialismus hinaus. Meiner Einschätzung nach kann Richard Kuhn trotz seiner

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außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen nicht als Vorbild dienen“ (Gutachten Deichmann

2005, S. 8, vgl. Deichmann 2001, S. 427 sowie 2007, S. 497).

„Richard Kuhn gehörte zu den Uneinsichtigen. Noch am Ende seines Lebenswegs votierte er für eine

ethikfreie Wissenschaft. Er legitimierte sein Verhalten, durch das er im Dienst der NS-Diktatur die

Biowissenschaften zur Vernichtungsforschung pervertiert hatte“ (Ebbinghaus/Roth 2002, S. 50).

„Richard Kuhn wurde, ohne NSDAP-Mitglied zu sein, zu einem der bedeutendsten Wissenschaftsor-

ganisatoren im NS-Regime. Er vereinigte in seiner Person zahlreiche Schlüsselpositionen in wissen-

schaftlichen Institutionen, chemischen Verbänden und staatlichen Entscheidungsgremien. Als Fach-

spartenleiter des RFR [Reichsforschungsrats] hatte Kuhn einen umfassenden Überblick über die vom

RFR geförderten Projekte auf dem Gebiet der Gasschutz- und Kampfstoff-Forschung. Über die Mittel-

vergabe der Kampfstoff-Forschung in der Fachsparte organische Chemie besaß Kuhn alleinige Ent-

scheidungsbefugnis“ (Schmaltz 2005, S. 383 f.).

„Kuhn entsprach damit idealtypisch dem von Fritz Todt schon 1934 entwickelten Prinzip, die ‚richti-

gen Männer‘ für die Berufsverbände zu gewinnen, wobei die Parteizugehörigkeit nicht erforderlich

war: ‚Es wird aber verlangt, dass nur anerkannte Fachleute vorgeschlagen werden, die absolut positiv

zum Nationalsozialismus eingestellt sind‘“ (Maier 2015, S. 516, Hervorhebung durch Helmut Maier).

Das Wirken von Richard Kuhn – einem der erfolgreichsten Naturstoffchemiker seiner Zeit

und Nobelpreisträger für Chemie für das Jahr 1938 – in der NS-Zeit war in den vergangenen

15 Jahren Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Besonders die Ar-

beiten von Ute Deichmann und Florian Schmaltz haben zur Erforschung (und Bewertung) der

Rolle Kuhns im NS-System maßgeblich beigetragen. Ute Deichmann, heute Professorin für

Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der Ben-Gurion Universität (Israel), hat in

ihrer 2001 veröffentlichten Habilitation „Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und

Biochemiker in der NS-Zeit“ umfangreiches Quellenmaterial zur Verflechtung Richard Kuhns

mit dem NS-Regime ausgewertet. In einem Gutachten für die Gesellschaft Deutscher Chemi-

ker (GDCh) 2005 kam sie abschließend zu oben zitierten Schlussfolgerungen, woraufhin sich

die GDCh dazu entschied, die 1968 von der BASF gestiftete Richard-Kuhn-Medaille nicht

mehr zu verleihen. Florian Schmaltz, heute Forschungsdirektor am MPI für Wissenschaftsge-

schichte, untersuchte in seiner 2005 veröffentlichten Dissertation zur „Kampfstoff-Forschung

im Nationalsozialismus“ umfassend und ebenfalls auf breiter Quellenbasis Kuhns Rolle im

Zuge der Kampfstoffmittel-Forschung am KWI für medizinische Forschung in Heidelberg. Er

konnte die herausragende Stellung Kuhns als einem der bedeutendsten Wissenschaftsorga-

nisatoren im NS-Regime belegen. Helmut Maier, Professor für Technik- und Umweltge-

schichte an der Universität Bonn, bestätigte in seiner 2015 veröffentlichten Untersuchung

„Chemiker im ‚Dritten Reich‘. Die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deut-

scher Chemiker im NS-Herrschaftsapparat“ jüngst die Ergebnisse von Deichmann und

Schmaltz hinsichtlich der Rolle Richard Kuhns im NS-System. Maier vervollständigte zudem

das Bild Kuhns und seines Wirkens in der NS-Zeit um Details aus weiteren Beständen, die von

den Genannten noch nicht ausgewertet worden waren.

Von 2011 bis 2013 untersuchte ein unabhängiges Team von Forscherinnen und Forschern im

Auftrag der Stadt Wien unter Leitung von Oliver Rathkolb, Professor für Zeitgeschichte an

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der Universität Wien, den Straßennamen-Korpus der Stadt Wien seit 1860. Insgesamt wur-

den nach der Untersuchung 159 Straßennamen als diskussionswürdig eingestuft und in drei

Kategorien eingeteilt: „Fälle mit intensivem Diskussionsbedarf“ (Kategorie A), „Fälle mit Dis-

kussionsbedarf“ (Kategorie B) sowie „Fälle mit demokratiepolitisch relevanten biografischen

Lücken“ (Kategorie C). Von den 4.379 personenbezogenen Straßennamen der österreichi-

schen Hauptstadt wurden nach kritischer wissenschaftlicher Analyse 28 in die Kategorie A

eingestuft – darunter der Richard-Kuhn-Weg im Bezirk Penzing. Die biografische Skizze zu

Richard Kuhn verfasste Birgit Nemec, Expertin für Wissenschaftsgeschichte, veröffentlicht

2014 im Band „Umstrittene Wiener Straßennamen“. Nemec bezog sich in ihrer Darstellung

auch auf den Beitrag von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth, in dem das Autorenteam

Kuhn als Opportunisten, Karrieristen und Diener des NS-Regimes beschrieb, der auch (deut-

lich) nach 1945 an einer ethikfreien Wissenschaft festhielt. – Im Jahr 2014 wurde in Wien

beschlossen, den Richard-Kuhn-Weg umzubenennen, was bis 2017 nicht umgesetzt wurde.

Auf Nachfrage teilte Oliver Rathkolb im Dezember 2015 mit, die Stadt arbeite noch an einer

möglichen „Gesamtlösung“ hinsichtlich der Straßennamenproblematik in Wien.

Der umfangreiche Nachlass von Richard Kuhn, der sich im Archiv der Max-Planck-Gesell-

schaft in Berlin befindet und unter bestimmten Voraussetzungen sowie unter gewissen Ein-

schränkungen eingesehen werden kann, wurde bislang nicht hinsichtlich Kuhns Rolle in der

NS-Zeit extern ausgewertet; eine entsprechende Genehmigung liegt für das hier zu Grunde

liegende Forschungsvorhaben vor (erteilt am 17.07.2017 durch Hans-Jürg Kuhn, Sohn

Richard Kuhns).

Wissenschaftler ohne Parteibuch in führender Funktion

Bereits im Alter von 25 Jahren wurde Richard Kuhn Professor für Allgemeine und Analytische

Chemie an der ETH Zürich (1926); drei Jahre später, 1929, leitete er bereits die Abteilung für

Chemie am KWI für Medizinische Forschung in Heidelberg (seinem Wohnsitz über die ge-

samte NS-Zeit), und begleitete eine Professur an der Universität Heidelberg. Zu Beginn der

1930er Jahre gelang es dem Organiker Kuhn, der seinen Forschungsschwerpunkt zunehmend

auf Naturstoffe verlagerte, gemeinsam mit Otto Meyerhof (zu gleicher Zeit Leiter der Abtei-

lung für Physiologie) das KWI zu einem internationalen Zentrum der Biochemie zu entwi-

ckeln. Kuhns steile wissenschaftliche Karriere blieb 1933 ungebrochen: 1936 wurde er Mit-

glied des Vorstands der Deutschen Chemischen Gesellschaft (DChG) und im gleichen Jahr

Vizepräsident der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC)/Union Interna-

tionale de Chimie (UIC). 1937 wurde er zum Direktor des gesamten KWI für Medizinische

Forschung ernannt. Von 1938 bis 1945 war er Präsident der DChG, von 1940 bis 1945 Leiter

der Fachsparte organische Chemie des Reichsforschungsrats (RFR). In diesen Funktionen

gehörte er zudem hochrangigen wissenschaftspolitischen Entscheidungsgremien an.

Richard Kuhn war nie Mitglied der NSDAP – über die Gründe hierfür lässt sich nur spekulie-

ren. Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth gingen davon aus, dass Kuhns österreichische

Staatsbürgerschaft eine Mitgliedschaft in NSDAP oder anderen NS-Massenorganisationen

nicht notwendig erscheinen ließ. Ute Deichmann machte darauf aufmerksam, dass Kuhn die

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völkische Ideologie wohl fern lag und dass eine NSDAP-Mitgliedschaft möglicherweise nega-

tive Auswirkungen auf sein Ansehen innerhalb der internationalen wissenschaftlichen Com-

munity gehabt hätte haben können; „Kuhn war als geübter Taktiker bekannt“ (Deichmann

2005, S. 3). Verhielt sich Kuhn zu Beginn der NS-Zeit noch politisch „zurückhaltend“ (seine

Einstellung zum Nationalsozialismus wurde allerdings bereits als „eher positiv“ bewertet,

Einschätzung der NS-Dozentenschaft vom 31.01.1936, UA Heidelberg PA 4717), stellte er

spätestens 1938 sein wissenschaftliches Renommee in die Dienste des NS-Regimes, wie Ute

Deichmann resümierte und Helmut Maiers jüngst bestätigte.

Als ein Beleg hierfür wurde immer wieder Kuhns Ablehnung des Nobelpreises für Chemie

herangezogen (hierzu und zum Folgenden Deichmann 2007, S. 477). Für seine Forschung

über Carotinoide und Vitamine erhielt Kuhn 1939 den Nobelpreis für Chemie (für das Jahr

1938) zugesprochen. Da es deutschen Wissenschaftlern seit 1937 nicht mehr erlaubt war,

den Nobelpreis anzunehmen, sah er sich – wie sein Kollege Adolf Butenandt im gleichen Jahr

– dazu gezwungen, die hohe Ehrung abzulehnen. Unter politischem Druck schickte er einen

(vorformulierten) Brief an die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften, in dem

er nicht nur den Preis ablehnte, sondern die Verleihung zudem als Versuch brandmarkte, ihn

zu einem Verstoß gegen einen Erlass des „Führers“ zu animieren. Anders als Butenandt fügte

Kuhn jedoch handschriftlich hinzu: „Des Führers Wille ist unser Glaube“.

Ohne erkennbaren Druck wandte sich Kuhn 1942 an den Rektor der Heidelberger Universi-

tät, um diesen auf eine ausländische Pressemeldung aufmerksam zu machen: In der Zeit-

schrift „Nature“ war kritisch berichtet worden über die Änderung der Heidelberger Universi-

tätsinschrift von „Dem lebendigen Geist“ in „Dem deutschen Geist“. Kuhn ließ in dem

Schreiben seine Zustimmung hinsichtlich der Änderung erkennen (21.07.1942, UA Heidel-

berg PA 4717).

Als Vizepräsident der IUPAC/UIC von 1936 bis 1940 sowie als Präsident der DChG vertrat

Kuhn ab 1938 Deutschland auf dem Gebiet der Chemie im Ausland. Er stellte sein wissen-

schaftliches Renommee in den Dienst des NS-Regimes. Als Fachspartenleiter des Reichsfor-

schungsrats war Kuhn überdies „während des Krieges einer der mächtigsten Vertreter der

wissenschaftlichen Chemie in Deutschland“ (Deichmann 2005, S. 2). Er vereinte in seiner

Person besonders zwischen 1938 und 1945 Schlüsselpositionen in chemischen Institutionen,

Verbänden und nationalen Entscheidungsgremien. Dafür war eine NSDAP-Mitgliedschaft

nicht zwingend erforderlich – eine absolut positive Einstellung zum Nationalsozialismus hin-

gegen nötige Voraussetzung (siehe Zitat Maier 2015 oben). Kuhn ging in weiten Bereichen

mit dem NS-Regime konform und unterstützte die NS-Politik (Deichmann 2007, S. 476).

Als weiteren Beleg für seine Zustimmung gegenüber der NS-Politik gilt Kuhns viel zitierte

Rede anlässlich des 75-jährigen Bestehens der DChG im Dezember 1942; Birgit Nemec sieht

in der Festrede gar „den Gipfel seines wissenschaftlichen und machtpolitischen Bekenner-

tums“ (Nemec, S. 119). Kuhn bezeichnete in der dokumentierten Rede Hitler als den Archi-

tekten des – auch von der DChG betriebenen – „Zusammenschlusses aller Deutschen“, der

diese „allumfassend zum Siege geführt“ habe. Die DChG sei „wahrhaft deutsch“, so Kuhn,

weil „treu, beharrlich und gründlich“. Abschließend ließ Kuhn das Auditorium wissen:

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„Wir erkennen, wie im Laufe dieser Zeit die Chemie zu einem Machtfaktor auf unserer Erde empor-

gestiegen ist. Wir erkennen aber auch, welch überwältigender Anteil an den Grundlagen der heuti-

gen Chemie jenen Völkern des Abendlandes zukommt, die der Menschheit einen Scheele und Ber-

zelius, einen Lavoisier und Pasteur, einen Avogadro und Cannizzaro, einen Liebig und einen Wöhler

geschenkt haben. Um den Fortbestand dieses Blutes, um die Weiterentwicklung dieser ihrer Kultur

stehen die Völker Europas heute unter den Waffen, genau so wie die des alten ostasiatischen Kultur-

raumes für den ihrigen. Wir gedenken der Männer, in deren Hand das gemeinsame Schicksal liegt:

Dem Duce, dem Tenno und unserem Führer ein dreifaches Sieg Heil!“ (Berichte der Deutschen Che-

mischen Gesellschaft 75 [1942], S. 200).

Kuhns Rede musste unter den anwesenden Wissenschaftlern seitens der deutschen Kriegs-

gegner alle Zweifel daran beseitigen, dass sich die deutsche chemische Wissenschaft voll-

ständig den Zielen des NS-Regimes verschrieben hatte. Bereits 1938 hatte sich Kuhn auf ei-

ner Konferenz in Rom als „vorbildlicher Repräsentant nationalsozialistischer Kulturpolitik“

gezeigt (Maier, S. 257). Seine Rede aus dem Jahr 1942 belegte, so Helmut Maier, das er weit

über notwendige Floskeln hinaus sich in den Dienst des NS-Regimes stellte:

„Kuhn beließ es jedoch nicht bei Formulierungen, die als national-konservative oder patriotische

Bekundungen eines pflichtbewussten Gelehrten gewertet werden könnten. Als Wissenschaftler von

Weltrang schlüpfte er in die Rolle eines nationalsozialistischen Auslandsattachées [sic!] […]“ (Maier,

S. 515).

Verhalten und Verhältnis gegenüber (jüdischen) Kollegen und Mitarbeitern

Als ein Kritikpunkt an Kuhns Verhalten in der NS-Zeit wurde wiederholt dessen denunziatori-

sches Verhalten gegenüber jüdischen Mitarbeitern der KWG angeführt. 1933 entließ er

demnach seine jüdischen Mitarbeiter – ohne jeden Versuch zu unternehmen, sie länger zu

beschäftigen (hierzu und zum Folgenden Deichmann 2001, S. 75 f. und 427, sowie 2007,

S. 476). Für eine Reihe seiner Kollegen fänden sich ebensolche Versuche dokumentiert. Laut

der Recherchen von Hans-Jürg Kuhn habe Richard Kuhn hingegen keinem einzigen seiner

acht „nicht-arischen“ Mitarbeiter gekündigt oder sie gar „vertrieben“; vielmehr habe Kuhn

versucht, sich für die vom „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ be-

troffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzusetzen:

„Für die meisten ‚nicht-arischen‘ Angehörigen des Instituts für Chemie konnten dank der internatio-

nalen Kontakte von Richard Kuhn und des Ansehens, das das Institut zu jener Zeit genoss, einigerma-

ßen erträgliche Lösungen gefunden werden“ (Kuhn, Stellungnahme 2017).

Kuhn habe sich etwa (gemeinsam mit Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, erster Vizeprä-

sident der KWG) für die Technische Assistentin Ursula Ehrenberg eingesetzt, letztendlich

jedoch vergeblich. Die – gemeinsam mit Richard Willstätter – angedachte Unterbringung von

Albert Wassermann an der Universität Wien sei allein an einer unbedachten Äußerung des

Wiener Kollegen gescheitert (Kuhn, Stellungnahme 2017).

In einem Schreiben an die Generalverwaltung der KWG machte Kuhn 1936 darauf aufmerk-

sam, dass der Kollege Otto Meyerhof – entgegen der Vorschriften – zwei jüdische Mitarbei-

terinnen (eine davon namentlich genannt: „Frl. Hirsch“) und einen Mitarbeiter (ebenfalls

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namentlich genannt: „Herr Lehmann“) beschäftigte. „Selbstverständlich wurden diese drei

Personen sofort entlassen oder sie verloren ihre Arbeitsmöglichkeit“, konstatierte Ute

Deichmann (Deichmann 2001, S. 76; hier auch Auszug aus dem Schreiben vom 27.04.1936).

Deichmann wertete die „Denunziation Kuhns“ als dessen Versuch, seine politische Integrität

zu untermauern sowie jeden möglichen Schaden vom Institut abzuwenden; es gäbe hinge-

gen „keine Hinweise darauf, daß Kuhn Antisemit war“ (ebenda). Laut der Recherchen von

Hans-Jürg Kuhn (Kuhn, Stellungnahme 2017) erwies sich die Anschuldigung der „Denunziati-

on“ als unhaltbar: Hermann Lehmann habe sich zu besagter Zeit bereits in Cambridge be-

funden, seine Entscheidung zur Emigration sei wesentlich früher gefallen; Lore Hirsch hat

ihre Dissertation in Heidelberg abgeschlossen (Promotionsprüfung im Juli 1937) und an-

schließend als Ärztin im jüdischen Krankenhaus in Hamburg gearbeitet, bevor sie 1939 emi-

grierte; beide Fälle sowie das Gerücht einer dritten Person – die es nach H.-J. Kuhn nie gege-

ben habe – seien der Gestapo bekannt gewesen (Kuhn habe schließlich auf deren Anfrage

reagiert), weshalb von denunziatorischem Verhalten keine Rede sein könne, so H.-J. Kuhn.

Otto Meyerhof, der sich 1938 zur Emigration gezwungen sah, kritisierte in einem Brief an

Kuhn im November 1945 (als ihm noch weder Kuhns „Denunziation“ noch dessen Rolle in

der Giftgasforschung bekannt waren) Kuhns opportunistisches Verhalten. Er, Meyerhof, wer-

fe niemandem vor,

„dass er Kompromisse machte, um Amt und Arbeitsstätte zu erhalten.

Sie selbst aber sind darüber weit hinausgegangen. Ich kann die Kritik nicht verschweigen, die von den

Kollegen der alliierten Länder an Ihnen geübt wird, dass Sie Ihre bewunderungswürdige wissenschaft-

liche Leistung und chemische Meisterschaft freiwillig in den Dienst eines Regimes gestellt haben,

dessen unaussprechliche Abscheulichkeit und Verruchtheit Ihnen wohl bewusst war. Dies war mir

selbst besonders schmerzlich, weil ich wusste, in welchem liberalen Geist Sie aufgewachsen waren

und wie dieser Ihren Anlagen und Ihrer Natur entsprach“ (01.011.1945, Otto Meyerhof Papers, Uni-

versity of Pennsylvania Archives; der Brief auf offiziellem Briefpapier der University of Pennsylvania

wurde offensichtlich nie abgeschickt).

Wie Christoph Schmaltz am Beispiel der „Affäre Grundmann“ umfassend schilderte

(Schmaltz, S. 387-413), schreckte Kuhn im Zuge patent- und arbeitsrechtlicher Konflikte nicht

davor zurück, „einen langjährigen Mitarbeiter [Kuhns Assistenten Christoph Grundmann]

den Repressionsorganen des NS-Staates […] auszuliefern“ (Schmaltz, S. 413), wenn er seine

Machtposition gefährdet sah.

(Kampfstoff-)Forschung in der NS-Zeit

Kuhn war ein hervorragender Wissenschaftler, der nach 1933 – und vor allem während des

Zweiten Weltkriegs – seine wissenschaftliche Tätigkeit in vollem Umfang in den Dienst des

Nationalsozialismus stellte (Deichmann 2001, S. 426 f.). Seine Forschung wurde anhand der

tradierten Quellen in der genannten Literatur ausführlich diskutiert (Deichmann, Schmaltz,

Ebbinghaus/Roth). Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse zusammengefasst.

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Als der Zweite Weltkrieg begann, befanden sich Kuhn, wie erwähnt seit 1937 Direktor des

gesamten KWI für medizinische Forschung (kommissarische Leitung seit April 1936), und sein

Forscherteam auf dem Höhepunkt ihrer internationalen Anerkennung. Für die Ergebnisse

seiner Vitaminforschung hatte Kuhn den Nobelpreis für das Jahr 1938 erhalten. Er unter-

suchte während des Kriegs zunächst eine mögliche Schutzwirkung von Vitaminen gegen

chemische Kampfstoffe; eine Kooperation mit der Gasschutzabteilung des HWA bestand

bereits vor 1939. Eine weitere Stoßrichtung der Vitaminforschung bestand in dem Versuch,

eine biologische Synthese von Casein zu ermöglichen; ein Rohstoff, der zur Herstellung von

Gasmasken benötigt wurde.

Im Januar 1941 wurde von der Gasschutzabteilung des HWA eine Kampfstoffabteilung am

KWI für medizinische Forschung eingerichtet. Zentrale Aufgabe dieser Abteilung waren Un-

tersuchungen zu den neuen Nervengasen Sarin und Tabun: Forschungen zu Gegenmitteln,

Nachweismethoden und Wirkungsmechanismen der Nervengase wurden mit hohem Auf-

wand betrieben (rund ein Drittel der wissenschaftlichen Mitarbeiter des von Kuhn geleiteten

Instituts waren in die Kampfstoffabteilung involviert). Hinsichtlich der Nachweismethoden

und Wirkungsmechanismen konnte die Kampfstoffabteilung Erfolge verzeichnen. Dem Auf-

trag des HWA, Antagonisten gegen Sarin und Tabun zu entwickeln, konnten Kuhn und seine

Mitstreiter nicht nachkommen. Die Forschungen am KWI für medizinische Forschung legten

aber die Voraussetzung für ein noch giftigeres Nervengas, Soman, im Frühjahr 1944, dessen

Entdeckung Kuhn zugesprochen wird. Soman war nicht nur in geringsten Dosen tödlich, son-

dern erwies sich aufgrund seiner physikalischen und technischen Eigenschaften als hervorra-

gend für den Einsatz als Kampfstoff geeignet. Als Kuhn feststellte, dass die Forschung nicht

zur Entwicklung von Gegenmitteln, sondern zur Herstellung neuer Giftgase führte, stoppte er

sie nicht:

„Mit der Synthese des Somans entwickelte er gezielt eine neue Massenvernichtungswaffe, ein Tatbe-

stand, der sich angesichts der Natur des NS-Regimes anders darstellt als im Falle von Fritz Haber

[Giftgasforschung im Ersten Weltkrieg, HK]“ (Deichmann 2005, S. 5).

Im Zusammenhang mit experimenteller Forschung zur toxischen Wirkung der Nervengase

bemühte sich Kuhn im April 1943 „um die Lieferung von Gehirnen ‚jüngerer gesunder Men-

schen‘, bei denen es sich vermutlich um Hinrichtungsopfer der NS-Justiz handelte“

(Schmaltz, S. 585). Weder Kuhn noch andere Wissenschaftler des KWI für medizinische For-

schung waren – soweit aus den Quellen ersichtlich – direkt an Menschenversuchen in Kon-

zentrationslagen beteiligt (Schmaltz, S. 558). Kuhn selbst hatte allerdings Kontakt zur

Reichsuniversität Straßburg und förderte als Fachspartenleiter für organische Chemie im RFR

unter anderem Experimente des Mediziners Otto Bickenbach an Häftlingen des Konzentrati-

onslagers Natzweiler (ausführlich über die Phosgen-Versuche siehe Schmaltz, S. 534-562):

„Inwiefern Kuhn schon vor Kriegsende Kenntnis über Menschenversuche an Häftlingen und den ein-

kalkulierten tödlichen Verlauf der Experimente Bickenbachs in Natzweiler besaß, ist anhand der

überlieferten Quellen nicht eindeutig festzustellen. Als Fachspartenleiter für organische Chemie trug

Kuhn Mitverantwortung für die in Abstimmung mit dem Bevollmächtigten für das Gesundheitswe-

sen, Karl Brandt, im Januar 1944 genehmigten [sic!] Bereitstellung von Mitteln des RFR in Höhe von

25.000 Reichsmark für die Experimente von Bickenbach. […] Als Bickenbach 1946 vor einem französi-

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schen Militärgericht im Zusammenhang mit den von ihm durchgeführten Menschenversuchen des

vierfachen Mordes angeklagt wurde, äußerte Kuhn in der Korrespondenz mit dem Verteidiger Bi-

ckenbachs die Ansicht, daß die Menschenversuche wissenschaftlich ‚wertvoll‘ und zulässig gewesen

seien“ (Schmaltz, S. 586; in den Unterlagen zum Militärgerichtsverfahren fand sich allerdings laut

Aussage von Hans-Jürg Kuhn keinerlei Hinweis auf eine Stellungnahme Richard Kuhns, Telefonat vom

17.07.2017).

Deichmann, Schmaltz und Ebbinghaus/Roth halten es für sehr unwahrscheinlich bis nahezu

ausgeschlossen, dass Kuhn – in seiner exponierten Position, die ihm „Zugang zu streng ge-

heimen Informationen über die laufende Kampfstoff-Forschung im Deutschen Reich und in

den Forschungseinrichtungen in den besetzten Gebieten“ (Schmaltz, S. 558) verschaffte –

nichts von Menschenversuchen gewusst haben könnte. Allerdings ließen sich keine Belege

dafür finden, dass Kuhn vor Kriegsende etwa von den Menschenversuchen Bickenbachs

wusste. Laut Klee schrieb Kuhn am 10.12.1943 an die DFG über den Einsatz eines angebli-

chen Tbc-Mittels: „Es sind auch schon Versuche am Menschen in einer Lungenheilanstalt bei

Darmstadt in Angriff genommen worden“ (BArch, R 73/12507, zitiert nach Klee, S. 351).

Entnazifizierungsverfahren

Überraschenderweise musste sich Richard Kuhn – obwohl er die österreichische Staatsbür-

gerschaft besaß – in Deutschland einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen, worauf sich

in der eingesehenen Literatur bislang kein Hinweis fand. Auf den ersten Blick noch überra-

schender erscheint, dass er als „entlastet“ aus dem Verfahren hervorging (Generallandesar-

chiv Karlsruhe, Signatur 465 q Nr. 14224).

Kuhn gab zu Protokoll, dass er weder in der NSDAP noch in einer anderen Gliederung der

Partei Mitglied war. Als Mitgliedschaften gab er an: 1938-1945 DAF, ca. 1936-1945 NSV,

1939-1943 RDF, 1938-1945 NSBDT. Wie seine eigenen Angaben und Nachforschungen hierzu

ergaben, betrug sein jährliches Einkommen als Direktor des KWI für medizinische Forschung

Heidelberg zwischen 33.000 und 45.000 RM. Kuhn gab auch an, seit 1938 Präsident der

Deutschen Chemischen Gesellschaft gewesen zu sein.

Er selbst schätzte sich als „entlastet“ ein, mit folgender Begründung: „Weil ich weder Natio-

nalsozialist noch Militarist war“. In der Begründung für die Einstellung des Verfahrens hieß

es:

„Prof. Kuhn war weder Mitglied der Partei, noch Mitglied einer ihrer Gliederungen. Er hat weder in

der NSDAP, noch in einer Gliederung oder Organisation der Partei irgendein Amt bekleidet. Nach

Auskunft der Politischen Parteien vom 26.8.1946 ist Prof. Kuhn, der seit dem Jahre 1938 in Heidel-

berg wohnhaft ist, politisch in Heidelberg nicht in Erscheinung getreten. Da nach dem Ergebnis der

Ermittlungen auch sonst keinerlei Verdacht besteht, dass Prof. Kuhn als Aktivist, Militarist oder Nutz-

niesser anzusehen ist, war das Verfahren einzustellen“ (25.09.1946, Generallandesarchiv Karlsruhe,

Signatur 465 q Nr. 14224).

Kuhn kooperierte nach Kriegsende mit den Behörden der amerikanischen Militärregierung

sowie mit alliierten Kampfstoff-Experten, wobei er Informationen über die Nervengasfor-

schung teils zurückhielt. Trotz des Verbots jeglicher militärischer Forschung an deutschen

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Wissenschaftsinstitutionen durfte er Versuche mit dem Nervengas Lost zu therapeutischen

Zwecken fortsetzen. Auf die 1947 und 1949 angebotene Fortsetzung seiner Nervengasfor-

schung in den USA ging er nicht ein.

Quellen:

Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur 465 q Nr. 14224 [Spruchkammerakte]

University of Pennsylvania Archives, Philadelphia, PA, UPT 50 M613, Box 1, fol. 27.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin, Nachlass Richard Kuhn [Einsicht möglich]

UA Heidelberg PA 1040

UA Heidelberg PA 4717

UA Heidelberg Rep 27-752

Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 75 (1942)

Literatur:

Deichmann, Ute: Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. Wein-

heim 2001.

Deichmann, Ute (2005): Richard Kuhn (1900-1967). Stellungnahme zu seinem politischen Verhalten

während der NS-Zeit unter der Fragestellung: Kann Kuhn als Persönlichkeit Vorbildcharakter in der

Chemie zuerkannt werden. [https://www.gdch.de/fileadmin/downloads/Service_und_ Informatio-

nen/Presse_OEffentlichkeitsarbeit/PDF/deich_kuhn.pdf] Zugriff: 25.11.2016

Deichmann, Ute: 'Dem Duce, dem Tenno und unserem Führer ein dreifaches Sieg Heil!' Die Deutsche

Chemische Gesellschaft und der Verein deutscher Chemiker in der NS-Zeit. In: Hoffmann, Diet-

er/Walker, Mark (Hrsg.): Physiker zwischen Autonomie und Anpassung. Die Deutsche Physikalische

Gesellschaft im Dritten Reich. Weinheim 2007, S. 459-498.

Ebbinghaus, Angelika/Roth, Karl Heinz: Vernichtungsforschung. Der Nobelpreisträger Richard Kuhn,

die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Entwicklung von Nervenkampfstoffen während des Dritten

Reichs. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 17 (2002), S. 15-50.

Jaenicke, Lothar: Richard Kuhn. Ein Talent – doch kein Charakter. In: Nachrichten aus der Chemie 54

(2006), S. 510-515.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am

Main 42013, S. 350 f.

Nemec, Birgit: Richard Kuhn. In: Autengruber, Peter/Nemec, Birgit/Rathkolb, Oliver/Wenninger, Flo-

rian: Umstrittene Wiener Straßennamen. Ein kritisches Lesebuch. Wien et al. 2014, S. 116-121.

Maier, Helmut: Chemiker im „Dritten Reich“. Die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein

Deutscher Chemiker im NS-Herrschaftsapparat. Weinheim 2015.

Schmaltz, Florian: Richard Kuhn und die Kampfstoffabteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizi-

nische Forschung in Heidelberg. In: Ders.: Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Koope-

ration von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie. Göttingen 2005, S. 357-586.

Stoff, Heiko: Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920-

1970. Stuttgart 2012.

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Alarich-Weiss-Straße (K 9-10), benannt 2013 nach

Alarich Weiss (1925-1995)

Professor für Physikalische Chemie

* 21. Februar 1925 in Regenpeilstein (Oberpfalz)

1931-1935 Besuch der Volksschule in Stefling (heute Stadtteil von Nittenau, Oberpfalz)

1935-1942 Besuch des humanistischen Gymnasiums in Regensburg (Abitur Herbst 1942)

1935-1943 Mitglied der HJ

1935-1943 Mitglied des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland (VDA)

1942 Angehöriger der SS (SS-Bewerber, SS-Einheit: 10/68. SS-Standarte Regensburg)

1942-1945 Soldat im Kriegsdienst; Mitglied der Waffen-SS (Juni 1943: 11./SS-Panzerjäger-Abteilung

„Das Reich“; Einsatzraum: Charkow; Dienstgrad: SS-Oberschütze)

1946-1951 Studium der Physik in Erlangen (1946-1949), Mainz (1949) und Darmstadt (1949-1951)

1951 Diplomhauptprüfung an der TH Darmstadt (Diplomarbeit am Lehrstuhl für Physikalische Che-

mie)

1951-1955 Promotion in Physikalischer Chemie an der TH Darmstadt bei Helmut Witte, „Elektronen-

dichteverteilung in Calciumfluorid“

1955 Heirat mit Elisabeth Kräuter

1955-1962 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Physikalische Chemie der TH Darmstadt

1956-1958 Gastwissenschaftler in den USA, an der Staatsuniversität von Indiana (1956-1957, Wech-

selwirkung zwischen Metalloberflächen und Atomstrahlen) sowie an der TH Pittsburgh (1957-1958

Radiofrequenzspektroskopie)

1958-1967 Arbeit am Eduard-Zintl-Institut an der TH Darmstadt

1962 Habilitation in Physikalischer Chemie an der TH Darmstadt

1965 Abteilungsleiter und Professor am Eduard-Zintl-Institut der TH Darmstadt für Anorganische und

Physikalische Chemie

1967-1972 Lehrstuhl für Physikalische Chemie an der Universität Münster

1972-1993 Lehrstuhl für Physikalische Chemie III, Chemische Spektroskopie, an der TH Darmstadt

Vorsitzender der Deutschen Bunsen-Gesellschaft, Mitglied des Vorstands der Gesellschaft Deutscher

Chemiker, stellvertretender Vorsitzender der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Mitglied des Wis-

senschaftsrats

† 10. Oktober 1995 in Darmstadt

Ehrungen:

Ehrenmitglied der Deutschen Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie

1990 Erasmus-Kittler-Medaille der TH Darmstadt

1993 Forschungspreis der Japan Society for the Promotion of Science

Weitere wissenschaftliche Auszeichnungen

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1995/96 Alarich-Weiss-Preis (gestiftet von seinen Schülern für hervorragende Arbeiten in der Physi-

kalischen Chemie an der TU Darmstadt)

Wirken in der NS-Zeit

Alarich Weiss, Professor für Physikalische Chemie und „Gründungsvater des Fachbereichs

Materialwissenschaft“ an der TH Darmstadt sowie nach 1945 Verfasser von über 350 wis-

senschaftlichen Beiträgen, erlebte die Jahre 1933-1942 als Schüler. Er schloss sich 1942 der

SS an und war 1943-1945 als Mitglied der Waffen-SS im Kriegsdienst.

„Nach Besuch der Volksschule in den Jahren 1931-1935 war ich Schüler des humanistischen Gymna-

siums in Regensburg, das ich im Herbst 1942 mit dem Reifezeugnis verließ. Bis zum Mai 1945 leistete

ich dann Kriegsdienst als Soldat in einem Panzerregiment auf verschiedenen Kriegsschauplätzen im

Osten, Westen und Südosten Europas“ (Lebenslauf vom 12.02.1965, UA Darmstadt, 201 Nr. 123).

Bis 1935 besuchte Alarich Weiss die Volksschule in Stefling (heute Stadtteil von Nittenau, Ober-

pfalz; seine Eltern wirkten dort als Volksschullehrer) und wechselte anschließend an das huma-

nistische Gymnasium nach Regensburg, das er im Herbst 1942 im Alter von 17 Jahren mit der

Reifeprüfung abschloss. Wie sein älterer und sein jüngerer Bruder so lebte auch Alarich

Weiss seit seinem zehnten Lebensjahr im Internat, dem katholischen Studienseminar St.

Emmeram in der Marschallstraße 3 (staatlich, aber unter der Leitung eines katholischen Pris-

ters); nur in den Ferien hielt er sich in der Regel bei seinen Eltern im heimatlichen Dorf in der

Oberpfalz auf.

Noch zu Schulzeiten meldete sich Alarich Weiss zur SS (zum Folgenden BArch Berlin, BDC,

VBS 284/6220014022): Bereits seit 17. Februar 1942 galt er als SS-Bewerber; bei der An-

nahmeuntersuchung an jenem Tag (fünf Tage vor seinem 17. Geburtstag) war er für „SS-

tauglich“ befunden worden. Im Zuge der Erfassung zum SS-Dienst (SS-Sturm 10/68 Regens-

burg) sollte er sich am 10. April 1942 um 18.30 Uhr in der Hauptkantine der Messerschmitt

GmbH in Regensburg einfinden, wie ihm mit einem Schreiben vom 25. März 1942 mitgeteilt

wurde. Er sendete das Schreiben mit folgendem Vermerk versehen an den SS-Sturm 10/68

Regensburg zurück:

„Es ist mir leider nicht möglich am 10.4. zum Erfassungsappell zu erscheinen, da ich mich vom 1.4. bis

zum 14.4. bei meinen Eltern befinde (Ferien). Ich bin ja nur während meiner Schulzeit in Regensburg

im Schülerheim. Senden Sie mir bitte neuen Bescheid zu. Heil Hitler Alarich Weiß“ (25.03.1942, Erfas-

sung zum SS-Dienst, SS-Sturm 10/68, handschriftlicher Vermerk).

Laut Eintrag auf der SS-Stammkarte stand Alarich Weiss ab dem 15. September 1942 im

Dienst des Reichsheers bzw. der Wehrmacht. Unter „Waffengattung“ fand sich „SS-Panzer-

Jäger“ vermerkt. Letzteres bestätigten Informationen der Deutschen Dienststelle (WASt):

Meldungen vom 07.06.1943 und vom 01.07.1943 weisen Alarich Weiss, seit 11.01.1943 Mit-

glied der Waffen-SS, als Mitglied der 11./SS-Panzerjäger-Abteilung „Das Reich“ aus, unter-

stellt der SS-Division „Das Reich“ (damaliger Einsatzraum: Charkow; damaliger Dienstgrad:

SS-Oberschütze). In den Unterlagen des ehemaligen BDC (BArch Berlin, BDC, VBS

284/6220014022) fand sich eine Kennkarte [der Waffen-SS] gestempelt mit „16 März 1945“

(Besoldungsnummer 174148; Fp.[Feldpost-]Nr. 48 264). Die Aufschlüsselung der Feldpost-

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Nummer (siehe Kannapin, S. 101) sowie die Auskünfte der Deutschen Dienststelle (WASt)

legen nahe, dass Alarich Weiss Mitglied der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ war, die im

Oktober 1943 aus der SS-Panzergrenadier-Division „Das Reich“ hervorging. Diese Division

der Waffen-SS wurde im Februar 1944 nach Frankreich verlegt (Lieb 2007, S. 112 ff.), im

März 1945 schließlich im Zuge des Unternehmens „Frühlingserwachen“ nach Ungarn – was

auch zur oben genannten knappen Schilderung aus Weiss‘ Lebenslauf passte. Auch seine

Angaben auf dem Meldebogen der Militärregierung (22.01.1946) deckten sich in gewisser

Weise mit dieser Lesart: Weiss gab hier zu Protokoll, dass er 1943 in Russland, 1944 in Frank-

reich stationiert und von April 1943 bis Januar 1945 Mitglied der „6. [Kompanie] Panzer-

Reg[iment] II.“ gewesen sei (UA Erlangen, F1,2d Nr. 33 Weiss Alarich); seine Feldpost-

Nummer gehörte laut Kannapin von Januar bis September 1943 zur „6. Kp. SS-Pz. Rgt. 2 (Das

Reich)“, also zur 6. Kompanie des SS-Panzer-Regiments 2 („Das Reich“), später 2. SS-Division

„Das Reich“ (von September 1943 bis Februar 1944: 7. Kompanie). Weiss hatte demnach

seinen „Arbeitgeber“ (so die Rubrik) annähernd korrekt bezeichnet – lediglich nicht darauf

verwiesen, dass es sich um eine Einheit der [Waffen-]SS handelte. Unter der Rubrik „Stellung

oder Dienstgrad“ gab er „Komp[anie] Chef“ zu Protokoll (April 1943 bis Waffenstillstand;

möglicherweise bezog Weiss diese Angabe auf den zuvor abgefragten Vorgesetzten). Im glei-

chen Meldebogen gab er eine Mitgliedschaft im Volksbund für das Deutschtum im Ausland

(VDA) für den Zeitraum 1935 bis 1943 an. Sowohl in diesem Meldebogen als auch im „Perso-

nalblatt für Studierende“ der Universität Erlangen (November 1945, UA Erlangen, F1,2d Nr.

33 Weiss Alarich) verleugnete Weiss seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, nach der explizit

gefragt wurde; in beiden Dokumenten gab er als letzten Dienstgrad „Obergefreiter“ an.

Bestandteil des „Personalbogens für Hochschulstudenten“ (UA Erlangen, F1,2d Nr. 33 Weiss

Alarich), den Weiss im Dezember 1945 ausfüllte, war eine ausformulierte „Lebensbeschrei-

bung“ mit vorgegebener inhaltlicher Struktur. In jenem Lebenslauf äußerte er sich wie folgt:

„Infolge der schlechten finanziellen Lage meiner Eltern musste ich auch mit dem Schuleintritt [1935,

Studienseminar St. Emmeram in Regensburg, HK] in die HJ eintreten, da ich sonst keine Schulgelder-

mässigung erhalten hätte. Zu einer unter Schülern höherer Lehranstalten fast allgemein üblichen

führenden Stelle habe ich es nicht gebracht. Ich hatte eben keinerlei militärisches oder grossspreche-

risches Talent.

Im Frühjahr 1943 wurde ich zur Wehrmacht einberufen. Ich wurde auch als ROB [Reserve-Offizier-

Bewerber, HK] geführt, aber dann im Frühjahr 1944 in der Normandie von meinem Kompanieführer,

einem Abiturienten der Napola, gestrichen und als ‚unmilitärischer Mensch‘ bezeichnet. So kam es,

dass ich 1945 beim Zusammenbruch als Obergefreiter entlassen wurde.“

Einheiten der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ begingen nachweislich Kriegsverbrechen,

wobei diejenigen im „Partisanenkrieg“ in Frankreich bereits umfangreich erforscht sind (vgl.

Lieb 2007, S. 360-377, sowie Lieb 2014). In vielen Darstellungen wurde auf die brutale

Kampfführung der Division „Das Reich“ im Osten hingewiesen, es fehlt allerdings bis heute

an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung (Lieb 2007, S. 61, Aktualität bestätigt durch E-Mail

Lieb vom 14.06.2017). Die einzelnen Operationsräume sind dokumentiert (vgl. Weidinger).

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Auf Anfrage teilte Jens Westemeier, ausgewiesener Experte für biografische Forschung im

Bereich der Waffen-SS (siehe Literatur; Empfehlung von Peter Lieb), folgende Einschätzung –

nach Einsicht in obigen Sachstand zu Weiss (anonymisiert) – mit:

„Zunächst ist festzustellen, dass es sich mit dem Jahrgang 1925 um eine Generation handelt, die be-

reits im Kindesalter (1933 acht Jahre alt) im NS-Staat und damit auch in Schule und Freizeit (HJ) nati-

onalsozialistisch sozialisiert wurde. Aus dem Eintrittsdatum in die W[affen]-SS Januar 1943 lässt sich

feststellen, dass dieser Eintritt freiwillig erfolgte und der junge Mann sich im Alter von 17/18 Jahren

zur W[affen]-SS freiwillig meldete – und sich damit bewusst gegen den Dienst in der Wehrmacht und

für den Dienst in dieser Parteiorganisation entschied. Ich gehe davon aus, dass er überdies, das wäre

idealtypisch, seit 1933 der HJ angehörte.

Die Panzerjägerabteilung der SS-Division Das Reich nahm im Frühjahr 1943 an den Kämpfen um

Charkow teil, es könnte also sein, dass der SS-Mann bereits dort zum Einsatz kam. Dort kam es beim

Einsatz des II. SS-Panzer-Korps zu zahlreichen Kriegsverbrechen, insbesondere durch die Leibstandar-

te. In der Tat sind die Verbrechen der W[affen]-SS in der Sowjetunion noch nicht umfassend erforscht

[…], es lassen sich aber doch deutliche Muster erkennen, die auf einer Linie mit den bekannteren

Verbrechen in Frankreich/Italien/Belgien/Griechenland/Jugoslawien liegen.

Das Wort ‚involviert‘ ist mir wie das Wort ‚verstrickt‘ zu passiv [bezieht sich auf meine Anfrage, HK],

die Division Das Reich beging und führte NS-Gewaltverbrechen durch.

[…]

Persönlich halte ich wenig vom ‚Bildersturm‘, allerdings zeugt die freiwillige Mitgliedschaft in der

Waffen-SS vor Sommer 1943 von einer überzeugten NS-Haltung in dieser Zeit – das ist aufzuarbeiten,

die Person einzuordnen und Teil einer solchen, nicht untypischen ‚bundesdeutschen‘ Biografie – vom

Skandal zur Zeitgeschichte [vgl. Westemeier 2016].

Sie werden wohl kaum noch Beweise für eine persönliche Beteiligung und Verübung von Kriegsver-

brechen finden, das gibt es selbst in Ausnahmefällen wie der Aufarbeitung des sog. Malmedy-

Massakers selten. Allerdings sollte es möglich sein, über die Einheiten die mögliche Beteiligung an

Verbrechen herauszuarbeiten. Es steht jedoch außer Frage, dass [er] genaue Kenntnisse über die

Verbrechen der W[affen]-SS und seiner Division besaß“ (E-Mail vom 15.06.2017, Jens Westemeier,

derzeit Mitarbeiter des Projekts „Aufarbeitung der Rolle der Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus“

am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen).

Westemeier empfahl zudem eine Anfrage an das Bundesarchiv Ludwigsburg (auf Anfrage

kein Befund) sowie möglicherweise eine Recherche beim Bundesarchiv Militärarchiv Frei-

burg, Nachlass Vopersal (siehe unten). Den Ausführungen von Peter Lieb folgend, zeichneten

für die Massaker an der Zivilbevölkerung von Tulle und Oradour-sur-Glane im Juni 1944 an-

dere Kompanien verantwortlich als die 6./7. Kompanie (Lieb 2007, S. 364 ff.).

Wie in den oben genannten Meldebögen, verleugnete Weiss auch im Zuge seines Entnazifi-

zierungsverfahrens seine Mitgliedschaft zur Waffen-SS sowie seine Kriegsteilnahme in einer

SS-Division (StA Amberg, Spruchkammer Kemnath Meldebögen W 368). Er gab wiederum

lediglich seine Mitgliedschaft in der HJ (1935-1942) zu Protokoll; von der Spruchkammer

wurde er daher als „Nicht-betroffen“ eingestuft. Laut Auskunft des Staatsarchivs Nürnberg

hätte Weiss bei Erwähnung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS kaum einen Studienplatz

erhalten (E-Mail vom 13.06.2017 von Archivdirektor Dr. Herbert Schott).

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Quellen:

BArch Berlin, BDC, VBS 284/6220014022

BArch Militärarchiv Freiburg, N 756/111-115 [genannt „Nachlass Vopersal“, Bestände 111-115 zu (2.) SS-

Panzer(grenadier)-Division „(Das) Reich“]

BArch Ludwigsburg, Personenrecherche Alarich Weiss [kein Archivgut ermittelt]

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

StA Amberg, Spruchkammer Kemnath Meldebögen W 368 [Entnazifizierungsakte/Meldebogen]

UA Erlangen, F1,2d Nr. 33 Weiss Alarich [Studierendenakte]

UA Darmstadt, TH 26/01 Nr. 380-19 [Diplomakte]

UA Darmstadt, 113 Nr. 16889 [Nr. 154] [Promotionsakte]

UA Darmstadt, 201 Nr. 123 [Habilitationsunterlagen]

StadtA DA, ST 61 Weiss, Prof. Dr. Alarich

Literatur:

Kannapin, Norbert: Die deutsche Feldpostübersicht 1939-1945. Vollständiges Verzeichnis der Feld-

postnummern in numerischer Folge und deren Aufschlüsselung. Bearbeitet nach den im Bundesar-

chiv-Militärarchiv verwahrten Unterlagen des Heeresfeldpostmeisters, Band 3: Nrn. 41992 bis 87919.

Osnabrück 1982.

Lieb, Peter: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegsführung und Partisanenbe-

kämpfung in Frankreich 1943/44. München 2007.

Lieb, Peter: Militärische Elite? Die Panzerdivisionen von Waffen-SS und Wehrmacht in der Normandie

1944 im Vergleich. In: Ders./Schulte, Jan Erik/Wegner, Bernd (Hrsg.): Die Waffen-SS. Neue Forschun-

gen. Paderborn 2014, S. 336-353.

Mattson, Gregory Louis: SS – Das Reich. The history of the second SS division, 1939-45. St. Paul (MN)

2002.

Rupp, Claudius: Im Feuer gestählt. Panzerjäger der Waffen-SS Division „Das Reich“. Coburg ²1999.

Weidinger, Otto: Division Das Reich. Der Weg der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“. Die Geschichte

der Stammdivision der Waffen-SS, Bd. 4: 1943. Osnabrück 1979.

Westemeier, Jens: Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit.

Paderborn 2014 [Dissertation].

Westemeier, Jens: Die Junkerschulgeneration. In: Lieb, Peter/Schulte, Jan Erik/Wegner, Bernd (Hrsg.):

Die Waffen-SS. Neue Forschungen. Paderborn 2014, S. 269-285.

Westemeier, Jens: Hans Robert Jauß. Jugend, Krieg und Internierung. Konstanz 2016.

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Robert-Cauer-Straße (L 9), benannt 1964 nach

Robert Cauer (1863-1947)

Darmstädter Bildhauer

* 3. Januar 1863 in (Bad) Kreuznach

Bis 1878 Besuch des Gymnasiums in (Bad) Kreuznach, Abschluss der Obersekunda

Bildhauer-Schüler seines Vaters Carl Cauer

1880-1882 Aufenthalt in Rom

1883 Moltke-Standbild (Donnersberg)

1885 Militärdienst in Berlin

1887-1889 Zweiter Aufenthalt in Rom

1889-1892 Aufenthalt in den USA, zunächst in New York, dann hauptsächlich in St. Louis (Missouri),

diverse bildhauerische Arbeiten (Büsten, Statuen)

1893 Portraitbüste von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen

1902 Hochzeit mit Lotte Ewald; Michel-Mort-Denkmal (Bad Kreuznach)

1904 Erneuter Aufenthalt in St. Louis (Missouri): General-Franz-Sigel-Denkmal

1906 Umzug nach Darmstadt (Heimatstadt seiner Frau; Wohnort seiner Schwester Maria, der Frau

Arnold Mendelssohns)

1906-1907 Bildhauerische Tätigkeiten an der Pauluskirche (Darmstadt), u. a. Christusrelief im Giebel-

feld des Hauptportals sowie weitere Reliefs

1909 Plastik „Bockspringer“

1911 Dritter USA Aufenthalt, Jahn-Denkmal (St. Louis, Missouri); Reliefs an der Pestalozzi-Schule

(Darmstadt)

1915 Fries in der Empfangshalle der Firma Merck (Darmstadt)

1924 Denkmal für die „Kriegsgefallenen“ in der Johanneskirche (Darmstadt)

1925 Grabdenkmal (Relief) für Ludwig Wagner (Waldfriedhof Darmstadt)

1925 Denkmal für die „gefallenen“ Lehrer der Viktoriaschule in Darmstadt

1927 Artillerie-Denkmal (Darmstadt)

1930 Kandelaber-Gestaltung (Eisenguss), Geschenk der Firma Roeder an die Stadt Darmstadt

1931/1932 Grabmal des 1931 verstorbenen nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten und

Gauleiters Peter Gemeinder (Waldfriedhof Darmstadt)

1934-1945 Mitglied der NSV

Ab 1936 Mitglied der RKK

1936 Bronzestatue einer Soldatenfigur im Sturmangriff (Rinteln)

1937 Reliefbild Heinrich Reinhard Kröh (Maler); Büste des Darmstädter Stadtarchivars Adolf Müller

1938 Büste E.T.A. Hoffmanns

1938-1940 Ehrenmal in der Liebig-Oberschule (Darmstadt); Büste von Johann Heinrich Merck

† 28. Februar 1947 in Darmstadt

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Ehrungen:

1916 Verleihung des Professorentitels durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen

Wirken in der NS-Zeit

Der Bildhauer Robert Cauer, stammend aus einer in (Bad) Kreuznach beheimateten Künstler-

familie und seit 1906 in Darmstadt ansässig (der Heimatstadt seiner Frau), hat in seiner über

sechzigjährigen Schaffenszeit zahlreiche Kunstwerke gestaltet – auch in Darmstadt, auch

zwischen 1933 und 1945. Dazu zählen neben Portraitbüsten (darunter jene von Johann Hein-

rich Merck 1940) und Plastiken vor allem Reliefs an/in Kirchen und Schulen sowie in Form

von Grabgestaltungen.

Seit 1936 war Robert Cauer als Bildhauer Mitglied der RKK. 1934 trat er der NSV bei, bereits

vor 1933 dem VDA.

Der Darmstädter OB Otto Wamboldt befürwortete 1937 eine finanzielle Spende an Cauer

aus dem „Künstlerdank“ mit folgender Begründung:

„Seine künstlerische Leistungsfähigkeit wird von dem Landesleiter Hessen-Nassau der Reichskammer

der bildenden Künste gut beurteilt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Cauer sind äußerst ungüns-

tig. Trotzdem ist Prof. Cauer seit 1.8.1934 Mitglied der NSV. Zu seinen Familienverhältnissen sei ver-

merkt, dass ein Sohn an der Städtischen Akademie für Tonkunst tätig ist. Dieser Sohn ist Mitglied der

Partei seit 1. Oktober 1930 mit der Mitglieds-Nr. 317211. […] Prof. Cauer selbst hat in den letzten

Jahren nur wenige Aufträge erhalten und somit keinerlei nennenswerte Einkünfte gehabt. Die politi-

sche Zuverlässigkeit ist gegeben“ (BArch Berlin, BDC, R 55/30820).

Bereits 1931/1932 hatte Cauer das Grabmal des 1931 verstorbenen nationalsozialistischen

Reichstagsabgeordneten Peter Gemeinder gestaltet, dem Leiter des NSDAP-Gaus Hessen-

Darmstadt. Die Beerdigung Gemeinders auf dem Darmstädter Waldfriedhof wurde von pro-

minenten Parteimitgliedern besucht und durch SA- und SS-Formationen zu einer politischen

Kundgebung instrumentalisiert. OB Wamboldt wertete einige Jahre später Cauers Bereit-

schaft, das Grabmal Gemeinders zu gestalten, als Ausdruck dessen politischer Haltung. In der

Berichterstattung zu einer Jubiläums-Ausstellung anlässlich Cauers 75. Geburtstags wird

Wamboldt folgendermaßen zitiert:

„Cauers künstlerisches Schaffen zeuge für sich und ihn selbst, denn Cauer habe nie jenen destrukti-

ven Tendenzen gehuldigt, die wir heute als entartete Kunst ansprechen, vielmehr sei er Zeit seines

Lebens ein unbedingt deutschbewußter Künstler gewesen, und nichts spreche überzeugender für

ihn, als daß er auch schon inmitten der Kampfzeit zu uns gestanden sei, was ja deutlich aus der Schaf-

fung des Peter-Gemeinder-Grabmals hervorgehe“ (Hessische Landeszeitung 1938).

Weitere größere Berichte 1933 und 1937 in der Hessischen Landeszeitung über Cauers Le-

ben und Werk sind mit „Der Schöpfer des Peter-Gemeinder-Grabmals“ überschrieben.

Cauer hat eine Reihe von Krieger- und Gefallenen-Denkmalen geschaffen, darunter das 1936

eingeweihte Denkmal des Reserve-Jägerbataillons Nr. 20 in Rinteln. Karl Esselborn beschrieb

1938 das Standbild des „mit dem Bajonett vorwärtsstürmende[n] Jäger[s] als unübertreffli-

ches Sinnbild der den Feind abwehrenden Volkskraft“. In Darmstadt entstanden mehrere

Werke in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg: 1924 das Denkmal für die „Kriegsgefallenen“

in der Johanneskirche, 1925 das Denkmal für die „gefallenen“ Lehrer der Viktoriaschule und

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1927 das sogenannte „Artillerie-Denkmal“, das einen eine Handgranate werfenden Soldaten

darstellt (daher auch „Der Handgranatenwerfer“ genannt). In der NS-Zeit kam das Ehrenmal

für die „gefallenen“ Schüler der Liebig-Oberschule hinzu, das Siegeswillen und Opferbereit-

schaft thematisierte. Cauer entwarf das in der Turnhalle der Schule angebrachte Relief 1938

im Auftrag der Stadt Darmstadt; 1940 wurde es eingeweiht – nun auch den „gefallenen“

Schülern des Zweiten Weltkriegs gewidmet.

Cauers Persönlichkeit wird als „getragen von einer begeisterten Vaterlandsliebe und einer

tiefen Religiosität“ (Karl Esselborn 1938) beschrieben.

Im Meldebogen des Entnazifizierungsverfahrens gab Cauer 1946 als Selbsteinschätzung

„Gruppe V“ an. Für das Jahr 1943 notierte er als Einkommen aus seiner künstlerischen Tätig-

keit 4.911 RM (1934/1938 gut 2.000 RM). Er wurde als „Vom Gesetz nicht betroffen“ einge-

stuft.

Cauers Tochter Helene resümierte in ihren „Erinnerungen an meinen Vater“ (1963): „Bis

über sein 80. Lebensjahr hinaus war Vater unermüdlich tätig. Das Unglück des zweiten verlo-

renen Krieges hat er nicht mehr verkraften können; er ist ohne Krankheit Anfang 1947 im

85. Lebensjahr gestorben.“

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 55/30820 [Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda]

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 28693 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 1419 [Kennkartenmeldebogen]

Fotos von Cauer sowie seiner Werke in HStAD Bestand R 4

StadtA DA, ST 61 Cauer, Robert

StadtA DA, Benennung/Umbenennung von Straßen, Bd. 1 [Provenienz: Hochbauamt (1949-1964)]

Archiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg – Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Cauer

1901-1940, Familienkorrespondenz [nicht verzeichnet, NICHT eingesehen]

Literatur:

Das Ehrenmal von Professor Robert Cauer in der Liebig-Oberschule zu Darmstadt. [Als Manuskript

gedruckt] Darmstadt 1941.

Esselborn, Karl: Robert Cauer (1863-1947)/Bildhauer. In: Hessische Lebensläufe. Darmstadt 1979,

S. 61-66 [Erstveröffentlichung 1932].

Glüber, Wolfgang: Cauer d. J., Robert. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 125.

Haupt, Georg: Ein Denkmal. Mit 3 Abb. [Grabdenkmal von Prof. Robert Cauer für Ludwig Wagner,

1852-1925, auf dem Waldfriedhof Darmstadt]. In: Volk und Scholle 11 (1933), H. 3, S. 61-63.

Masa, Elke: Die Bildhauerfamilie Cauer im 19. und 20. Jahrhundert – 150 Jahre deutsche Skulpturge-

schichte. Berlin 1988 [darin: Robert Cauer d. J. (1863-1947), S. 65-75].

Rick, Kevin: Peter Gemeinder – NS-Gauleiter und vergessener Märtyrer? In: Hessisches Jahrbuch für

Landesgeschichte 61 (2011), S. 113-135.

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Hindenburgstraße (J-K 7), benannt 1915 nach

Paul von Hindenburg (1847-1934)

Militär und Politiker, Generalfeldmarschall und Reichspräsident

* 2. Oktober 1847 in Posen

Schulbesuch in Posen

1859-1866 Besuch der Kadettenanstalt in Wahlstatt (Kreis Liegnitz) sowie ab 1863 der Hauptkadet-

tenanstalt in Berlin

1866 Teilnahme an der Schlacht von Königgrätz

1870/71 Teilnahme an der Schlacht von Sedan im Deutsch-Französischen Krieg

1870-1911 Militärlaufbahn; 1903 Kommandierender General, 1905 General der Infanterie

1879 Heirat mit Gertrud von Sperling (drei Kinder)

1911 Abschied aus dem Militärdienst in den Ruhestand

1914 Reaktivierung kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, Übernahme der 8. Armee als Oberbe-

fehlshaber (mit Erich Ludendorff als Chef des Stabes), Beförderung zum Generaloberst

1914 Schlacht bei Tannenberg, in der die 2. Russische Armee vernichtend geschlagen wurde; Mythos

des „Siegers von Tannenberg“: ab November 1914 Oberkommando über alle deutschen Truppen der

Ostfront; Ernennung zum Generalfeldmarschall

1916-1919 nach der Entlassung Erich von Falkenhayns Übernahme der Obersten Heeresleitung (ge-

meinsam mit Erich Ludendorff), Chef des Generalstabes des Heeres

1919 Propagieren der sogenannten „Dolchstoßlegende“ vor dem parlamentarischen Untersuchungs-

ausschuss der Nationalversammlung zu den Ursachen der deutschen Niederlage

1919-1925 Rückzug nach Hannover in den Ruhestand

1921 Vorsitzender der Deutschenhilfe

1925-1934 Reichspräsident (bei Wahl 1925 Kandidatur im zweiten Wahlgang)

1930 Berufung von Heinrich Brüning zum Reichskanzler, ohne das Parlament einzuschalten; Beginn

der Zeit der Präsidialkabinette

1932 Ernennungen Franz von Papens (30. Mai) und Kurt von Schleichers (2. Dezember) zum Reichs-

kanzler

1932 Wiederwahl zum Reichspräsidenten (Sieg im zweiten Wahlgang über den Gegenkandidaten

Adolf Hitler)

1933 Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler (30. Januar); Verfügung der Auflösung des Reichs-

tags (1. Februar); „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“ (4. Febru-

ar), „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ (28. Februar)

† 2. August 1934 auf Gut Neudeck (Ostpreußen)

Ehrungen (Auswahl):

1911 Schwarzer Adlerorden

1915 Orden Pour le Mérite

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1916 Großkreuz des Eisernen Kreuzes

1918 Sonderstufe zum Großkreuz des Eisernen Kreuzes („Hindenburgstern“)

1921 Ehrenbursch des Corps Montania Freiberg

Paul von Hindenburg war Ehrendoktor zahlreicher Universitäten sowie Ehrenbürger in mehreren

hundert (!) deutschen Städten; zahlreiche Straßen und Plätze, Kasernen und Schulen trugen und tra-

gen seinen Namen.

Wirken in der NS-Zeit

Paul von Hindenburg war als Generalfeldmarschall und Chef des Generalsstabes des Heeres

einer der führenden deutschen Militärs im Verlauf des Ersten Weltkriegs. Als „Sieger/Held

von Tannenberg“ umgab ihn schon zu Lebzeiten ein (von ihm selbst beförderter) Mythos,

der bereits kurz nach der Schlacht bei Tannenberg entstand, die Niederlage 1918 überdauer-

te und wirkmächtig blieb (dazu ausführlich Jones, Goltz, Hoegen, Pyta). In der Heimat stand

er als nationaler Held symbolisch für Sieg und Einheit. Entgegen der lange vorherrschenden

Auffassung Hindenburgs als apolitischer Militär geht die jüngere Forschung davon aus, dass

er sich der Macht des Mythos sehr wohl bewusst war und ihn politisch geschickt einzusetzen

vermochte.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs verbreitete Hindenburg die sogenannte „Dolchstoßlegen-

de“, wonach das deutsche Heer „im Felde unbesiegt“ gewesen sei und erst aus der Heimat

den „Dolchstoß von hinten“ erhalten habe. Er propagierte diese Legende unter anderem vor

dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung zu den Ursa-

chen des deutschen „Zusammenbruchs“. Laut der „Dolchstoßlegende“ sei die Schuld an der

Niederlage vor allem bei Sozialdemokraten und anderen demokratischen Kräften zu suchen.

1919 ging Hindenburg in den Ruhestand, ließ sich 1925 (im Alter von 77 Jahren) aber zu ei-

ner Kandidatur für die Wahl des Reichspräsidenten drängen: Im zweiten Wahlgang trat er als

Kandidat an, gewann die Wahl und wurde zum ersten direkt gewählten Präsidenten der

Weimarer Republik. Während bei der Wahl 1925 rechte Parteien den parteilosen General-

feldmarschall zur Kandidatur aufforderten, erhielt Hindenburg bei seiner Wiederwahl 1932

die Unterstützung der demokratischen Parteien – gegen den (unterlegenen) Kandidaten

Adolf Hitler. Hitler ging dennoch gestärkt aus den Wahlen im Frühjahr 1932 hervor, die poli-

tischen Verhältnisse verschoben sich nachhaltig, Gespräche zwischen Reichspräsident Hin-

denburg und dem aufstrebenden Hitler im Sommer 1932 waren eine der Folgen (dazu jüngst

Jones, S. 348 ff.).

Als Reichspräsident nutzte Hindenburg seine verfassungsgemäß starke Position und überging

ab 1930 das Parlament, den Reichstag, über den Weg der Präsidialkabinette (unter den

Kanzlern Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt Schleicher). In der Literatur werden

Hindenburgs Grundauffassungen durchweg als antiparlamentarisch beschrieben.

Am 30. Januar 1933 ernannte Hindenburg seinen Konkurrenten in der Präsidentschaftswahl

von 1932, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Dem aktuellen Forschungsstand folgend, ent-

schied Hindenburg „aus eigener Machtvollkommenheit und aus eigenem Entschluss“ (Pyta,

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S. 792). Kursierende Behauptungen, Hindenburg sei zur Ernennung Hitlers als Reichskanzler

getrieben worden, ostelbische Großgrundbesitzer hätten vielmehr den Ausschlag für die

Entscheidung gegeben, erwiesen sich demnach als „pure Spekulation“. Im November 1932

hatte Hindenburg Hitler schon einmal einen Regierungsauftrag erteilt; Hitler wollte sich zu

diesem Zeitpunkt auf die vom Reichspräsidenten gestellten Bedingungen aber nicht einlas-

sen. Insbesondere verweigerte Hindenburg Hitler den Zugriff auf sämtliche präsidiale Voll-

machten.

Hindenburg hatte seit Herbst 1931 auf die Zusammenfassung aller „nationalen Kräfte“ in

einer Regierung hingearbeitet: Nationale Einheit als übergeordnetes Ziel. Die Auflösung des

Reichstags, die immer noch beim Reichspräsidenten lag und die Hindenburg am 1. Februar

1933 verfügte, und die daraus folgenden Neuwahlen schienen sowohl Hitler als auch Hin-

denburg als diesem Ziel dienlich, wie Wolfram Pyta in seiner umfassenden Hindenburg-

Biografie belegte. Mit der Einleitung von Neuwahlen entschied sich Hindenburg „bewusst

und gezielt für eine freiwillige Rücknahme der Präsidialgewalt“ (Pyta, S. 797). Ein Erstarken

der NSDAP unter ihrem „Führer“, dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler, nahm Hindenburg

demnach wissentlich und billigend in Kauf. Maßgebend für seine Entscheidung war laut Pyta

die „Einheit der Nation als oberstem Gut“ (Pyta, S. 798).

Entgegen älterer Deutungen, die den Reichspräsidenten als leicht manipulierbaren Greis

darstellten, geht die jüngere Forschung davon aus, dass Hindenburg bis kurz vor seinem Tod

bei klarem Verstand und selbstbestimmt agierte. Er trug alle Eingriffe des Jahres 1933 zur

Ausschaltung des Parlaments, zum Verbot der politischen Parteien sowie der Gewerkschaf-

ten, zur Errichtung einer Einparteien-Diktatur mit, darunter das „Ermächtigungsgesetz“, das

ein Abweichen von der Reichsverfassung legitimierte, und das Gesetz „zur Wiederherstel-

lung des Berufsbeamtentums“. Im Februar 1933 erließ Hindenburg die „Verordnung des

Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes“, die massive Eingriffe in die Presse-

und Versammlungsfreiheit ermöglichte. Innenpolitisch überließ er den Nationalsozialisten

bewusst das Feld:

„Wenn Hindenburg in der Folgezeit [nach dem 30. Januar 1933] noch Notverordnungen unterzeich-

nete, dann nur, um der Regierung neue Machtmittel an die Hand zu geben, die es ihr gestatteten,

eine von der Präsidialgewalt unabhängige Basis aufzubauen“ (Pyta, S. 810).

Hindenburg hinterließ nach seinem Tod am 2. August 1934 ein „politisches Testament“ (aus-

führlich dazu Mühleisen sowie Pyta, S. 855-871), das in Teilen einem Rechenschaftsbericht

über seine Amtszeit als Reichspräsident gleichkam, in dem er unter anderem auch seine Hal-

tung zu Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus bezeugte. Hindenburg stilisierte sich in

dem politischen Testament – dessen Vorlage von Franz von Papen stammte, von Hindenburg

überarbeitet und unterzeichnet – als politischer Akteur, der sich stets von seinem politischen

Grundsatz der nationalen Einheit habe leiten lassen. – Das Verhältnis zwischen Hindenburg

und der nationalsozialistischen Bewegung (und auch der Person Adolf Hitlers, den er als

„böhmischen Gefreiten“ bezeichnete) war bis 1933 von beiderseitigem Misstrauen und Ab-

neigung geprägt. – Tenor des politischen Testaments war nach Pytas Auffassung, dass „durch

die Politik Hitlers das politische Lebenswerk Hindenburgs gekrönt werde“ (Pyta, S. 863). Hin-

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denburg brachte darin sein Wohlgefallen über die seit dem 30. Januar 1933 eingeleitete

Entwicklung unmissverständlich zum Ausdruck. Im Wortlaut hieß es in dem tradierten Tes-

tament, das Hindenburg im April/Mai 1934 auf Basis des Entwurfs Franz von Papens verfass-

te:

„Mein Kanzler Adolf Hitler und seine Bewegung haben zu dem großen Ziele, das deutsche Volk über

alle Standes- und Klassenunterschiede zu innerer Einheit zusammenzuführen, einen entscheidenden

Schritt von historischer Tragweite getan. […] Ich scheide von meinem deutschen Volk in der festen

Hoffnung, dass das, was ich im Jahre 1919 ersehnte und was in langsamer Reife zu dem 30. Januar

1933 führte, zu voller Erfüllung und Vollendung der geschichtlichen Sendung unseres Volkes reifen

wird“ (zitiert nach Pyta, S. 863).

Franz von Papen gab im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens von Oskar von Hindenburg

(Paul von Hindenburgs Sohn) 1949 zu Protokoll, dass auch die Passagen zu Hitler bereits

„gedanklich zweifellos“ (zitiert nach Mühleisen, S. 360) in von Papens (nicht tradierten) Ma-

nuskript enthalten waren, welches Hindenburg in Auftrag gegeben hatte und das dem

Reichspräsidenten als maßgebliche Grundlage für seine Version diente. Anders als die (für

von Papen zentrale) Passage, die Hindenburgs Nachfolge behandelte und die Wiedereinfüh-

rung der Monarchie forderte, nahm Hindenburg den oben zitierten Bogenschlag nicht her-

aus. Hindenburg trennte jenen Teil des Entwurfs ab, der seine Nachfolge regeln sollte, und

adressierte diesen an Hitler persönlich (er bestimmte darin offensichtlich Hitler nicht als sei-

nen Nachfolger; das Dokument wurde nie veröffentlicht und ist nicht überliefert; ausführlich

dazu Mühleisen). Das Testament – wie auch das Begräbnis Hindenburgs – wurde von den

Nationalsozialisten (und von Oskar von Hindenburg) instrumentalisiert zur Legitimation ihrer

Herrschaft.

Hindenburg in der Erinnerungskultur

Da Paul von Hindenburg als Namenspatron in den letzten Jahren wie kaum ein anderer in

deutschen Städten in die Kritik geraten ist, werden im Folgenden ein paar wenige Anmer-

kungen zum Umgang mit der Thematik (ausführlicher Pöppinghege, Thamer 2012 a) unter

Bezug auf Darmstadt gemacht sowie zwei ausgewählte Beispiele aus der jüngeren Vergan-

genheit skizziert.

Hindenburg – vor dem Ersten Weltkrieg kaum oder gar nicht in der Öffentlichkeit präsent –

erhielt ab 1914 zahlreiche Ehrungen, die ihm als Namenspatron für Straßen, Plätze und Schu-

len, Schiffe, Luftschiffe und Kasernen zuteilwurden. In Darmstadt wurde nach dem „Held von

Tannenberg“ 1915 die Hindenburgstraße benannt. Eine weitere Welle von Ehrungen dieser

Art erstreckte sich 1927 anlässlich des 80. Geburtstags des Heroen (und nun schon Reichs-

präsidenten) über die Weimarer Republik. In Folge der durch Hindenburg eingeleiteten

Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 standen schließlich geradezu flächendecken-

de doppelte Umbenennungen von Straßen und Plätzen in Adolf-Hitler-Plätze und Hinden-

burg-Straßen. Während alle Namensnennungen in Bezug auf Adolf Hitler aus den Straßen-

bildern verschwunden sind, gibt es (Stand 2007) noch über 400 Verkehrswege (Straßen, Plät-

ze, Brücken), die nach Paul von Hindenburg benannt sind. Auch sind längst nicht alle Ehren-

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bürgerschaften Paul von Hindenburgs rückgängig gemacht worden. Die Stadt Hamburg etwa

verfolgte eine zunächst diskutierte Aberkennung nach einer Expertise der Forschungsstelle

für Zeitgeschichte (2015) nicht weiter. Diskussionen um die Beteiligung Hindenburgs am NS-

Staat führten teils zu Umbenennungen, anderenorts blieben die Ehrungen im Stadtbild (auch

nach Diskussionen) erhalten, etwa 2015 in Ludwigsburg sowie in Oldenburg (hierzu ausführ-

lich Dietmar von Reeken 2018). In Oldenburg erfolgte die Nicht-Umbenennung explizit gegen

den Vorschlag der eigens zur Prüfung der Straßennamen eingesetzten Kommission – und zur

Verwunderung mancher Historiker, die in das Verfahren involviert waren:

„Was mich allerdings überrascht hat, war das Votum pro Hindenburg-Straße – da hätte ich deutlich

anders entschieden, denn das verhängnisvolle politische Verhalten Hindenburgs ist wissenschaftlich

eigentlich eindeutig nachgewiesen, Hindenburg als Namenspate daher kaum tragbar“ (Reeken 2018,

S. 294, FN 6).

In Darmstadt initiierte 2005 die Fraktion „Die Linke“ im Stadtparlament eine Umbenennung

der Hindenburgstraße (hierzu und zum Folgenden Stadtarchivar Dr. Peter Engels, E-Mail vom

04.12.2017). Auf einen entsprechenden Antrag hin empfahl der „Beirat für Straßenbenen-

nung“ im September 2005 dem Magistrat der Stadt Darmstadt die Umbenennung. Der Ma-

gistrat schloss sich im Juni 2006 dieser Empfehlung an – unter der Maßgabe, zuvor die An-

wohner/Anrainer der Hindenburgstraße zu befragen. Diese sprachen sich im Februar 2007

mit großer Mehrheit gegen eine Umbenennung aus, zugleich setzte sich die Bürgerinitiative

„Pro Hindenburgstraße“ für die Beibehaltung des Namens ein. Der Magistrat beschloss da-

raufhin im März 2007 die Beibehaltung des Straßennamens. Über den Umgang mit der Hin-

denburgstraße wurde weiter öffentlich diskutiert. Im Februar 2013 startete der DGB-

Stadtverband Darmstadt im Namen des „Bündnis gegen rechts Darmstadt und Umgebung“

einen erneuten Versuch der Umbenennung. Die Stadtverordnetenversammlung lehnte im

Oktober 2013 einen entsprechenden Antrag mehrheitlich ab – mit dem Verweis darauf, dass

zunächst die Ergebnisse des Fachbeirats „Darmstädter Straßennamen“ abgewartet werden

sollten, der in gleicher Sitzung einstimmig vom Stadtparlament beschlossen wurde. Öffentli-

che Diskussionen (so im Mai 2014) und Protestaktionen (zuletzt im Januar 2017) folgten. –

Erstmals war eine Umbenennung der Hindenburgstraße am 30. April 1945 in Darmstadt vor-

geschlagen worden (und zwar in „Carl Legin-Straße“). Anders als im Falle des Adolf-Hitler-

Platzes (Luisenplatz) behielt die Hindenburgstraße trotz wiederholter Eingabe jedoch ihren

Namen (StadtA DA, Straßenbenennungen 1).

Münster (Westfalen)

Einen öffentlichen Diskurs um den Namenspatron Hindenburg gab es in der jüngeren Ver-

gangenheit in Münster, an dessen vorläufigen Ende im März 2012 die Umbenennung des

Hindenburgplatzes in „Schlossplatz“ stand (nach Beschluss des Rats der Stadt). Im Zuge des

Verfahrens wurde parallel zur Ausstellung „Ehre, wem Ehre gebührt!?“ (Januar-März 2012)

auch eine Bürgerumfrage (Zufallsstichprobe auf Basis des Einwohnermelderegisters) durch-

geführt. In der Bürgerumfrage wurde darauf verwiesen, dass nach neueren Forschungser-

gebnissen „der damalige Reichspräsident Paul von Hindenburg als Stütze des NS-Regimes

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anzusehen“ sei. Auf die anschließende Frage „Besteht heute noch ein Anlass, Hindenburg

durch die Namensgebung für den größten Platz Münsters zu ehren?“ antworteten mit „Ja“

35 % der Befragten, mit „Nein“ 48 % (Rest: „ohne Angabe“, „weiß nicht/kann ich nicht beur-

teilen“, „ist mir egal“). Bei einer (nicht-repräsentativen) Umfrage 1997 hatten 55 % der Teil-

nehmenden für die Beibehaltung des Namens ausgesprochen (Frage 1997: „Soll der Hinden-

burgplatz umbenannt werden?“). Der Historiker Alfons Kenkmann brachte die unterschiedli-

chen Ergebnisse mit der Informationspolitik der Stadt Münster in Verbindung:

„Das Ergebnis [von 2012] indiziert eine in der Stadtöffentlichkeit wahrgenommene, historische Bera-

tungsleistung seitens der Stadtverwaltung. Diese hatte in einer ‚Informations- und Kommunikations-

phase‘ unterschiedliche Formate, wie Podiumsdiskussionen, Internetauftritte des Stadtarchivs, eine

Ausstellung ‚Ehre, wem Ehre gebührt‘ samt didaktischen Materialien und Bürgerversammlungen in

den Bezirken bedient“ (Kenkmann 2018, S. 286).

Professor Hans-Ulrich Thamer, der neben Professor Kenkmann als Experte in das Verfahren

2010-2012 involviert war, vertrat die Auffassung, dass es „längst keine ernsthafte ge-

schichtswissenschaftliche Kontroverse über seine [Hindenburgs] historische Rolle bei der

Auflösung der ersten deutschen Demokratie“ mehr gebe (Thamer 2012 b). Der Historiker

gelangte entsprechend zu folgendem Schluss:

„Spätestens mit der Hindenburg-Biographie von Wolfram Pyta ist die zentrale Rolle Hindenburgs bei

der Auflösung der Weimarer Republik und dem Brückenschlag zur Diktatur unübersehbar geworden.

Vor allem hat Pyta mit erdrückendem Quellenmaterial nachgewiesen, dass die Eingriffe Hindenburgs

als Reichspräsident in das politische Geschehen, das zur Diktatur führte, sehr bewusste Akte eines

zielgerichteten politischen Handelns waren. Hindenburg war nicht das alterssenile Opfer fremder

Einflüsterer, wie man das lange zu seiner Rechtfertigung angenommen hat. Er hatte vielmehr ein

politisches Ziel, das er schließlich im Bündnis mit Hitler zu verwirklichen erhoffte. Dieses Ziel war die

nicht verfassungskonforme Vorstellung einer autoritären, nationalen Einheit oder ‚Volksgemein-

schaft‘, die keinen politischen Pluralismus dulden und auch die politischen Gegner dieser Ordnung

ausschalten sollte“ (Thamer 2012 b).

Gegner der Umbenennung warfen dem Beirat eine einseitige Auslegung der wissenschaftli-

chen Literatur zu Hindenburgs Rolle in Bezug auf den Nationalsozialismus vor. Einige Emeriti

der lokalen Universität positionierten sich gegen eine Umbenennung. Ein Bürgerbegehren

über die Rückbenennung des Schlossplatzes in Hindenburgplatz, für das die Initiative „Pro

Hindenburg“ in kurzer Zeit 15.000 Unterschriften gesammelt hatte, scheiterte im September

2012: 59,4 % der Teilnehmenden am Bürgerentscheid sprachen sich gegen eine Rückbenen-

nung aus.

Hannover

Auch in Hannover geriet Paul von Hindenburg bei der systematischen wissenschaftlichen

Untersuchung von namensgebenden Persönlichkeiten in den Fokus (Verfahren ist noch nicht

vollständig abgeschlossen). Im Zuge einer Art Zwischenbilanz gab der beauftragte Beirat be-

reits im Oktober 2015 Empfehlungen zu Umbenennungen ab; unter den zehn betroffenen

Namensgebern befand sich auch Paul von Hindenburg. So empfahl der Beirat die Umbenen-

nung der Straßen „Hindenburgstraße“ (benannt 1916) und „Zur Hindenburgbrücke“ (be-

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nannt 1965). In der Begründung wies der Beirat (unter Bezug auf Pyta 2007) darauf hin, dass

Hindenburg die nationalsozialistische Diktatur mit der Ernennung des Reichskanzlers Adolf

Hitler ermöglichte und den Ausbau der Diktatur begrüßte. Der Beirat kam in Hannover zu

folgendem Fazit:

„Der Reichspräsident Hindenburg hatte bei der Zerstörung der Republik und beim Ausbau der Dikta-

tur unter einem antisemitischen Regierungsprogramm die zentrale Rolle. Er hat mit seiner verfas-

sungsmäßig starken Position ab 1930 den Reichstag über den Weg der Präsidialkabinette auch unter

Bruch der Verfassung übergangen und Hitler zum Kanzler gemacht. Auch danach trug er die Maß-

nahmen mit, die am Ende die nationalsozialistische Diktatur ermöglichten“ (Quelle: siehe unten).

Von einer symbolischen Streichung aus der Ehrenbürgerliste riet der Beirat hingegen ab.

Quellen:

StadtA DA, Straßenbenennungen 1.

Landeshauptstadt Hannover, Projekt: Wissenschaftliche Betrachtung von namensgebenden Persön-

lichkeiten, Empfehlungen des Beirats „Namensgebende Persönlichkeiten“, Tischvorlage zur GOK am

1. Oktober 2015.

Literatur:

Jones, Larry Eugene: Hitler versus Hindenburg. The 1932 Presidential Elections and the End of the

Weimar Republic. Cambridge 2016.

Goltz, Anna von der: Hindenburg. Power, Myth, and the Rise of the Nazis. Oxford 2009.

Hoegen, Jesko von: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos (1914-

1934). Köln/Weimar/Wien 2007.

Kenkmann, Alfons: „Anstößige Krieger“ unter dem „Diktat des Zeitgeistes“? Widmungsgetümmel in

Münster. In: Frese, Matthias/Weidner, Marcus (Hrsg.): Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit

Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945. Paderborn 2018, S. 279-290.

Mühleisen, Horst: Das Testament Hindenburgs vom 11. Mai 1934. In: Vierteljahreshefte für Zeitge-

schichte 44 (1996), S. 356-371.

Pöppinghege, Rainer: Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbe-

wusstsein aussagen. Münster 2007.

Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007.

Reeken, Dietmar von: Heyl, Hindenburg, Hinrichs. Oldenburger Konflikte um Straßennamen zwischen

Vergangenheitsbedeutung, Wissenschaft und Politik. In: Frese, Matthias/Weidner, Marcus (Hrsg.):

Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945.

Paderborn 2018, S. 291-317.

Thamer, Hans-Ulrich (2012 a): Straßennamen in der öffentlichen Diskussion: Der Fall Hindenburg. In:

Frese, Matthias (Hrsg.): Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik

und Erinnerungskultur. Münster 2012, S. 251-264.

Thamer, Hans-Ulrich (2012 b): Ehren und Erinnern. Straßennamen in der Geschichtskultur einer

Stadt. Münster 2012 [Manuskript; Rede gehalten im Zuge der Eröffnung der Ausstellung „Ehre, wem

Ehre gebührt!?“ am 25.01.2012].

Zaun, Harald: Paul von Hindenburg und die deutsche Außenpolitik 1925-1934. Köln/Weimar/Wien

1999.

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Hoetgerweg (J 9), benannt 1973 nach

Bernhard Hoetger (1874-1949)

Bildhauer

* 4. Mai 1874 in Hörde (heute Stadtteil von Dortmund)

1888-1892 Ausbildung zum Stein- und Holzbildhauer in Detmold

1892-1894 Gesellenwanderjahre in Sachsen, Berlin, Dortmund

1895-1897 Leiter einer Werkstatt für Kirchenmöbelschnitzerei in Wiedenbrück

Ca. 1898-1900 Meisterschüler bei Carl Janssen an der Kunstakademie in Düsseldorf

1900-1907 Übersiedlung nach Paris; hier Stil durch Rodin und Maillol beeinflusst (Statuetten, Plasti-

ken, Zeichnungen)

1905 Heirat mit Helene Natalie (genannt Lee) Haken

1906 Erste Begegnung mit Paula Modersohn-Becker und August Freiherr von der Heydt (Mäzen)

1907 Rückkehr nach Deutschland (Holthausen bei Büren)

1911-1914/15 Berufung an die Künstlerkolonie in Darmstadt durch Großherzog Ernst Ludwig von

Hessen und bei Rhein; Gesamtkunstwerk Platanenhain, allegorischer Figurenzyklus „Licht- und Schat-

tenseiten“

1913 Atelier in Fischerhude bei Bremen; Aufenthalt in Florenz

1914 Beteiligung an der dritten Ausstellung der Künstlerkolonie: Neben Ausgestaltung des Platanen-

hains unter anderem Löwen des Löwentors (Architekt: Albin Müller; seit 1917 Eingang Rosenhöhe)

1914 Übersiedlung in die Künstlerkolonie Worpswede; Bau und Einrichtung des „Brunnenhofs“; fort-

an Prägung der Künstlerkolonie Worpswede durch Plastiken, Kunstobjekte und Architektur

1915-1922 „Niedersachenstein“, umstrittenes monumentales Denkmal in Worpswede in Erinnerung

an den Ersten Weltkrieg (Bauzeit 1920-1922)

1916/17 Entwurf der TET-Stadt (nicht umgesetzt) im Auftrag von Hermann Bahlsen, Sonderausstel-

lung bei Paul Cassirer (Berlin)

1918 Einweihung des „Revolutionsdenkmals“ (Piéta) auf dem Friedhof Walle (Stadtteil von Bremen),

das an die Niederschlagung der Bremer Räterepublik erinnern sollte

1918 erstes Treffen mit Ludwig Roselius; in dessen Auftrag später Ausgestaltung der Böttcherstraße

in Bremen

1921/22 Bau eines zweiten Hauses in Worpswede, am Hang des Weyerbergs (Das Kreative Haus)

1921/22 Café Winuwuk („Wille ist neu und Weg unserer Kunst“) in (Bad) Harzburg

1924-1927 Gesamtkunstwerk „Hoetger-Ensemble“ in Worpswede: Kaffee Worpswede (1925), Ho-

tel (1926) und Ausstellungsraum „Große Kunstschau“ (1927)

1925-1936 Künstlerische Arbeiten an der Böttcherstraße in Bremen: Paula-Modersohn-Becker-Haus

und 7-Faulen-Brunnen (1925-1927), Haus Atlantis (1929-1931), „Der Lichtbringer“ (1936)

1927/28 „Zyklus des Lebens unter dem Stigma der Arbeit“, acht Bronzefiguren an der Backsteinfas-

sade des Gewerkschaftshauses in Walle (Stadtteil von Bremen)

1928 Hag-Turm auf der Pressa in Köln; Friedrich-Ebert-Denkmal in Dortmund-Hörde

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1931-1934 Aufenthalt in der Schweiz, in Portugal, Frankreich und Italien

1933 Zerstörung einzelner Werke Hoetgers

1934 Mitglied der NSDAP in Rom (Mitglieds-Nr. 2791181; Eintritt: 01.10.1934)

1934 Mitglied der RKdbK

1934-1936 Übersiedlung nach Berlin-Wilmersdorf; Tätigkeit als Bildhauer und Architekt; gemeinsam

mit dem Architekten Herbert Helfrich Arbeit am „Deutschen Forum“

1936 Ikonografisches Relief „Der Lichtbringer“ am Eingang zur Böttcherstraße in Bremen

1936 Hitler lehnt in seiner Rede auf dem Nürnberger Reichsparteitag „Böttcher-Straßen-Kultur

schärfstens ab“

1936-1938 erneuter Aufenthalt in der Schweiz sowie in Portugal

1938 Ausschluss aus der NSDAP und aus der RKdbK

1938-1943 Übersiedlung nach und Aufenthalt in Berlin; Entwurf und Bau seines Atelier-/Wohnhauses

in Berlin-Frohnau (1939/40, 1943 teilweise zerstört); Reliefs und Plastiken

1938/39 Reliefs für die Luftwaffenschule Greifswald

Um 1939 Adolf-Hitler-Büste

Um 1944 Aufenthalt in Hain (Riesengebirge/Schlesien)

Ca. 1944-1948 Aufenthalt in Eichendorf (Niederbayern) und Reit im Winkl (Oberbayern)

1949 Übersiedlung in die Schweiz; Aufenthalt in Beatenberg bei Interlaken

† 18. Juli 1949 in Interlaken (CH)

Ehrungen:

1911 Ernennung zum Professor durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1965 Hoetgerweg in Bremen

1967 Ehrengrab in Dortmund

1974 Bernhard-Hoetger-Preis (Träger: Stiftung, aus Hoetger-Nachlass gegründet)

[weitere Straßenbenennungen]

Wirken in der NS-Zeit

Bernhard Hoetger, gelernter Bildhauer, dazu Kunsthandwerker, Maler und Architekt, hat in

Darmstadt aus seiner Zeit als Mitglied der Künstlerkolonie (1911-1914) markante Spuren

hinterlassen (Gesamtkunstwerk Platanenhain, Löwen des Löwentors). Seitens des NS-

Regimes wurde seine Kunst nicht goutiert – obwohl Hoetger nachweislich ein Anhänger der

„Bewegung“ war.

„Wenn er [Hoetger] in seinen persönlichen Briefen ehrlich war – und es gibt keinen Grund daran zu

zweifeln –, dann ist das Bild von Bernhard Hoetger als einem Künstler, der die Zeitläufte mißverstand,

ebenso aufzugeben wie das Bild eines ‚entarteten‘ Künstlers im inneren Exil, auch wenn er und sein

während der Weimarer Republik entstandenes Œvre Angriffen durch Nationalsozialisten ausgesetzt

waren. Hoetger war nicht einmal nur Mitläufer, sondern er war Anhänger der Bewegung. Allerdings –

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und das ist wichtig zu betonen – war er nicht aktiv partei- und realpolitisch tätig. Wohl aber stützte er

durch seine Kunst die Idee des Nationalsozialismus und damit das System“ (Hirthe, S. 278).

Zu dieser Einschätzung hinsichtlich Hoetgers Verhältnisses zum Nationalsozialismus (und vice

versa) gelangte der Kunsthistoriker Thomas Hirthe in seinem Beitrag zum „Ausstellungskata-

log 1998“, nachdem er sich intensiv mit Person und Werk Bernhard Hoetgers in der NS-Zeit

auseinandergesetzt hatte. Hirthe standen für seine Forschung (auf die im Folgenden maß-

geblich rekurriert wird) gerade zugänglich gemachte private Korrespondenzen sowie weitere

Archivalien aus dem Bernhard Hoetger-Nachlass der Kunstsammlungen Böttcherstraße,

Bremen, zur Verfügung sowie Quellen aus privaten Sammlungen (teilweise veröffentlicht

unter Dokumentation im „Ausstellungskatalog 1998“, S. 420-501).

Tatsächlich sah sich Hoetger Anfeindungen von NS-Organen ausgesetzt, wurde seine Kunst-

auffassung von Adolf Hitler persönlich angegriffen, einzelne seiner Werke zerstört oder als

„entartete Kunst“ beschlagnahmt. Zugleich versuchte Hoetger von 1933 bis 1943 sich dem

NS-Regime mit seiner Kunst anzudienen – und bezeichnete sich als überzeugten Anhänger

der „Bewegung“.

Bernhard Hoetger als „Opfer“ des Nationalsozialismus

Bernhard Hoetgers Kunst erfuhr in der NS-Zeit nicht die Wertschätzung, die sich der Künstler

erhoffte (bzw. die er erwartete). 1933 wurden einzelne Hoetger-Kunstwerke zerstört: Bereits

im März wurden auf Beschluss des Bremer Senats die Hoetger-Figuren aus dem „Zyklus des

Lebens unter dem Stigma der Arbeit“ von der Fassade des Gewerkschaftshauses in Bremen

entfernt und eingeschmolzen; im Zuge von nationalsozialistisch motiviertem Vandalismus

ebenso zerstört wurden Hoetgers Pietà auf dem Friedhof Bremen-Walle (ein Denkmal zur

Erinnerung an die gefallenen Arbeiter und Revolutionäre der Räterepublik) sowie das von

ihm gestaltete Friedrich-Ebert-Denkmal in Dortmund-Hörde – alles Kunstwerke, die in der

Zeit der Weimarer Republik entstanden waren. Der nationalsozialistische Vandalismus wen-

dete sich gegen erklärte Feinde der „Bewegung“, gegen Gewerkschaften, Kommunisten und

Sozialdemokraten; jene Zerstörungen standen noch nicht im Bezugsrahmen der systemati-

schen „Säuberungsaktion Entartete Kunst“.

In den Jahren 1935 und 1936 geriet Hoetger als Person und Künstler verstärkt persönlich in

die Kritik. Besonders Artikel in der NS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps. Zeitung der Schutz-

staffeln der NSDAP – Organ der Reichsführung SS“ griffen Hoetger wiederholt an (BArch Ber-

lin, R 43-II/1320 sowie NS 5-VI/17612). Kritisiert wurden hier Werke Hoetgers aus der Zeit

vor 1933. Bezüglich der Figuren am Bremer Gewerkschaftshaus etwa hieß es:

„Sie dürfen nicht erwarten, Herr Hoetger, daß ihre rassisch-minderwertigen verkrüppelten Jammer-

gestalten deutscher Frauen und Arbeiter unsere Sehnsucht nach gesunden, geistig und körperlich

hochwertigen Menschen erfüllen können“ (Das Schwarze Korps vom 26.06.1935).

Gleichermaßen ablehnend äußerten sich Artikel im „Schwarzen Korps“ über Hoetgers „Revo-

lutionsdenkmal“ auf dem Waller Friedhof („in den Wirren der Revolte eine schaurige Ange-

legenheit“, 26.03.1936) und die Böttcherstraße in Bremen (21.08.1935 und 24.10.1935).

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Gerade Hoetgers Arbeiten in der Böttcherstraße wurden wiederholt als „undeutsch“ ge-

brandmarkt:

„Allein die völlig unverständliche Architektur eines Hoetger am Eingang der öffentlichen Straße for-

dert unsere schärfste Ablehnung heraus, besonders da auch hier wieder versucht wird, durch Jonglie-

ren mit den Worten ‚nordisch, bodenständig, niedersächsisch‘ die gesunde Urteilskraft des unverbil-

deten Beschauers unsicher zu machen. Die Böttcherstraße gehört in Deutschland zu den unmöglichs-

ten Machwerken auf architektonischem Gebiet, wenn wir jetzt einmal von zahlreichen kubistischen

Glas- und Betonkästen, morgenländischen Flachdächern und anderen Zweckmäßigkeitsbauten abse-

hen wollen. Sie steht mit ihren ‚bewußten Verrücktheiten‘, um ein Wort des Führers zu gebrauchen,

in schroffem Gegensatz zu dem schönen mittelalterlichen Marktplatz“ (Das Schwarzes Korps vom

21.08.1935).

Hoetger hatte zwischen 1925 und 1931 große Teile der Böttcherstraße gestaltet, darunter

besonders hervorzuheben das „Haus Atlantis“. Der Auftrag kam von Ludwig Roselius, ver-

mögender Kaffeekaufmann (Kaffee HAG) sowie Mäzen und Freund Hoetgers, der Häuser und

Parzellen der völlig heruntergekommenen Gasse in der Bremer Altstadt erworben bzw. ge-

pachtet hatte. Ideologisch beeinflusst unter anderem von Herman Wirth, Germanen-

schwärmer und Ur-Symbolforscher – der die These vertrat, alle Hochkulturen der Welt seien

im (in der Nordsee versunkenen) Reich Atlantis entstanden, und daraus eine Überlegenheit

der „nordischen Kultur“ sowie des deutschen Volkes ableitete – sollte die völlige Umgestal-

tung der Böttcherstraße den Versuch darstellen, „dem deutschen Volk wieder deutsches

Denken beizubringen“ (Roselius 1936, zitiert nach Hirthe, S. 286). Hoetger zeigte sich offen

für Wirths These sowie Roselius‘ Auftrag und arbeitete daran, den Mythos mit dem 1931

fertiggestellten Bau des „Hauses Atlantis“ mit Leben zu füllen – mit stark völkischem Bei-

klang (als „eine Manifestation deutsch-völkischen Denkens“, Strohmeyer 1998, S. 220). An

der Fassade befand sich etwa eine gewaltige Holzskulptur („Lebensbaum“), in deren Zent-

rum der germanische Gott Odin ans Kreuz genagelt hing (ausführlich zur Böttcherstraße,

ihrer Entstehungsgeschichte und angedachten Funktion, siehe Beiträge Strohmeyer und

Boulboullé).

Als besonders problematisch für Hoetger erwies sich, dass Adolf Hitler in einer Parteitagsre-

de die Böttcherstraße dezidiert als Beispiel für eine irregeleitete Kunstauffassung nannte:

„Wir haben nichts zu tun mit jenen Elementen, die den Nationalsozialismus nur vom Hören und Sa-

gen her kennen und ihn daher nur zu leicht verwechseln mit undefinierbaren nordischen Phrasen,

und die nun in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschungen beginnen.

Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von Böttcher-Straßen-Kultur schärfstens ab“ (Hitlers Rede auf

der Kulturtagung des Parteitags der NSDAP in Nürnberg, 09.09.1936, zitiert nach Eickmeyer, S. 114).

In Teilen der NS-Presse wurde der Abriss der Böttcherstraße gefordert; im „Völkischen Be-

obachter“ unter der Überschrift „Die Böttcherstraße †“ ein Nachruf veröffentlicht und darin

noch einmal gerade Hoetgers künstlerischer Beitrag dezidiert auf- und angegriffen:

„Die Böttcherstraße hat als ‚Hoetger-Straße‘[,] d. h. mit dem Teil, den der Bildhauer Bernhard Hoet-

ger als Architekten-Dilettant ohne jede architektonische Grundhaltung ‚entwarf‘ und mit seinen plas-

tischen intellektuellen Ausgeburten voll ‚nordischer Symbolik‘ verunzierte, ihre fatale Berühmtheit

erlangt“ (Völkischer Beobachter vom 25.09.1936, zitiert nach „Ausstellungskatalog 1998“, S. 490).

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Die offizielle Kritik des „Führers“ an Hoetgers Kunst war schließlich ausschlaggebend für des-

sen Ausschluss aus der NSDAP 1938 (ausführlich dazu siehe unten).

Hoetger musste wegen seines (freiwilligen) Aufenthalts im Ausland – er lebte von Herbst

1936 bis Sommer 1938 vorwiegend in der Schweiz – ein Verfahren wegen Hinterziehung der

„Reichsfluchtsteuer“ über sich ergehen lassen. Die Klage war durch „Das Schwarze Korps“

initiiert worden und endete mit dem Urteil des Reichsfinanzhofs vom 01.08.1938 zugunsten

des Angeklagten. Zwischenzeitlich war Hoetger über einen „Steuersteckbrief“ zur Festnahme

ausgeschrieben (die Steuerschuld betrug 7.150 RM, Das Schwarze Korps vom 07.10.1937).

Die Reichskammer der bildenden Künste (RKdbK) nahm das Verfahren dennoch zum Anlass,

Hoetger im März 1938 aus der RKdbK auszuschließen (Hirthe, S. 279).

Im Zuge der nationalsozialistischen „Säuberungsaktion Entartete Kunst“ wurden einzelne

Werke Hoetgers beschlagnahmt; die Anzahl differiert in der Forschung zwischen drei und 16

Werken. Ob bzw. welche Werke Hoetgers in der großen Ausstellung „Entartete Kunst“ in

München 1937 gezeigt wurden, ist unklar (Hirthe, S. 293, FN 3). In einem Schreiben des Lan-

desleiters der RKdbK in Berlin aus dem Jahr 1941 wird deutlich, dass Hoetgers maßgebliche

Werke vor 1933 aus Sicht des NS-Regimes „fast ausnahmslos Werke der entarteten Kunst“

darstellten (Brief vom 26.08.1941, zitiert nach Strohmeyer 2000, S. 85).

Der größte Teil von Hoetgers zwischen 1933 und 1943 entstandenem Werk – Plastiken, Ge-

mälde, Zeichnungen, architektonische Entwürfe – blieb einem kleinen Kreis von Freunden

bzw. Interessierten vorbehalten (Hirthe, S. 280). Nachdem sein Atelier- und Wohnhaus 1943

bei einem Luftangriff auf Berlin teilweise zerstört worden war, zog Hoetger mit seiner Frau

über Hain (Riesengebirge/Schlesien) nach Eichendorf (Niederbayern); im Sommer 1946 ver-

legte das Ehepaar (laut „Ausstellungskatalog 1998“, S. 501) seinen Wohnsitz nach Reit im

Winkl (Oberbayern). Nachdem sie im Juli 1948 eine Reisegenehmigung für die Schweiz erhal-

ten hatten, zogen die Hoetgers in die Schweiz, wo Bernhard Hoetger am 18. Juli 1949 ver-

starb. In seinen letzten Lebensjahren war er gesundheitlich und psychisch angeschlagen;

nach 1943 entstanden keine nennenswerten Werke mehr aus seiner Hand.

Bernhard Hoetger als Anhänger der „Bewegung“

In Briefen und Stellungnahmen hat sich Bernhard Hoetger wiederholt als überzeugter An-

hänger der nationalsozialistischen „Bewegung“ und als Verehrer des „Führers“ Adolf Hitler

bezeichnet. Seine bereits vor 1933 an völkisch-nordische Ideologien angelehnte (expressio-

nistische) Kunst erschien ihm zumindest anknüpfungsfähig an die NS-Ideologie.

Hoetger erfuhr im Ausland von ersten Zerstörungen seiner Werke. Er äußerte sich zunächst

verständnisvoll – machte zugleich aber auf die empfundene Ungerechtigkeit der Maßnah-

men aufmerksam:

„Man hat in Bremen begonnen meine Plastiken am Gewerkschaftshaus abzutragen, und eine größere

Plastik auf dem Friedhof soll noch abgetragen werden. Später wird wohl der Rest meiner Tätigkeit

vernichtet werden. – Mich regen diese Eingriffe nicht auf, denn ich weiß, daß bei so großen politi-

schen Umwälzungen immer Irrtümer vorkommen – und daß ich ihr Opfer bin, kann mich nicht ab-

schrecken an den guten Willen der Aufbauenden zu glauben. […] Ich trage gern die im Gesamtbild

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kleinen Opfer, wenn ich weiß, daß damit der Auftrag gefördert wird. […] Ich glaube an das zukünftige

Deutschland“ (Hoetger aus Nizza an Emil Szittya in Paris, 18.04.1933, zitiert nach Hirthe, S. 278).

Hoetger hielt sich von Sommer 1931 bis zum Herbst 1934 im Ausland auf; in Portugal, Frank-

reich, in der Schweiz und schließlich in Rom. Im Herbst 1934 trat er in Rom in die NSDAP ein

(„Auslands-NSDAP“, Mitglieds-Nr. 2791181; Eintritt: 01.10.1934, BArch Berlin, BDC, NSDAP-

Mitgliederkartei). Ob der Eintritt in die NSDAP mit dem kurz darauf folgenden Umzug nach

Deutschland in direktem Zusammenhang stand, lässt sich ebenso wenig nachweisen wie ein

möglicher Zusammenhang zu Hitlers Rede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am

05.09.1934: Der „Führer“ hatte hier „die vielleicht größte kulturelle und künstlerische Auf-

tragserteilung aller Zeiten“ in Aussicht gestellt – aber nur für Nationalsozialisten und nicht

für diejenigen, deren Kunstverständnis „auf altertümlichen Überlieferungen beruht“ (vgl.

Eikmeyer, Dokument 3, S. 63-79, Zitate S. 75).

„Europäisches Kraftfeld“ und „Deutsches Forum“ (1934-1936)

1934 wurde Hoetger auf eigenen Wunsch in die RKdbK aufgenommen, als Maler (M 9484)

und Bildhauer (B 1664). Er war somit offiziell als Künstler anerkannt und konnte entspre-

chend arbeiten. Noch während seines Aufenthalts in Rom lernte Hoetger den jungen Archi-

tekten Herbert Helfrich kennen, Geschäftsführer der römischen Ortsgruppe der NSDAP, der

später erfolgreich als Architekt für das Reichsluftfahrtministerium arbeiten sollte. Zu Helf-

rich, der zu der Zeit in Rom studierte, entwickelte Hoetger eine enge Freundschaft. Von Ende

1934 bis September 1936 lebte und arbeitete Hoetger in Helfrichs Haus in Berlin. Noch in

Rom (1934) begannen Hoetger und Helfrich mit der Planung eines „vom Geist des National-

sozialismus getragene[n]“ (Hirthe, S. 280) Großprojekts: Dem „Europäischen Kraftfeld“ bzw.

dem „Deutschen Forum“ (zum Folgenden ausführlich Hirthe, S. 280-285). Die konzeptionelle

sowie künstlerische Leitung oblag Hoetger, der Erfahrungen mit der Konzeption städtebauli-

cher Großprojekte mitbrachte (TET-Stadt Hannover); auch ein erstes, kleineres Modell ent-

stand wohl schon in Rom. In Berlin entwickelte Hoetger die monumentale Anlage in mehre-

ren dokumentierten Schritten weiter, erweiterte und präzisierte die Konzeption des ur-

sprünglich „Europäisches Kraftfeld“ betitelten Areals. Auf dem Weg zum „Deutschen Forum“

wurde der Entwurf „gleichsam ‚eingedeutscht‘ und ‚nazifiziert‘“ (Hirthe, S. 282). Die Aus-

gangsplanung umfasste fünf riesige Hallen, die durch breite Alleen und Brückenanlagen mit-

einander in Beziehung standen, die wiederum durch monumentale Toranlagen begrenzt wa-

ren. Das Projekt war offensichtlich nicht in eine bestimmte Umgebung hinein geplant. Die

„Nazifizierung“ der Konzeption im Verlauf des Jahres 1935 manifestierte sich eindrücklich in

einem von Hoetger völlig neu entworfenen Zentralbau: Anstelle der ursprünglich dezentral

angeordneten „Heldenhalle“ befand sich im abschließenden Entwurf des „Deutschen Fo-

rums“ im Zentrum der Anlage ein Kuppelbau „umgeben von winkelförmigen Trabanten mit

begehbaren Flachdächern, die hakenkreuzförmig um sie herum angeordnet“ waren. Die

Kuppel thronte somit auf einem Unterbau mit dem Grundriss eines Hakenkreuzes. Zugleich

waren die Alleen noch wesentlich größeren Aufmarschplätzen gewichen. Dem fünf Hallen

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umfassenden Erstentwurf standen (neben offenen Sport- und Aufführungsstätten) nur mehr

zwei monumentale Hallen entgegen:

„Während die ‚Kongreßhalle‘ wohl als polyfunktionaler Bau für Veranstaltungen zur Bildung des Par-

teivolkes konzipiert war, sollte das allseits von Freiflächen großzügig umgebene ‚Herz der Anlage‘,

der formal überarbeitete und durch den Reichsadler als Hoheitszeichen bekrönte ‚Kultbau‘ über ha-

kenkreuzförmigem Grundriß, Ort der nationalsozialistisch-pseudoreligiösen Glaubensbildung und -

festigung sein“ (Hirthe, S. 284).

Monumentale Skulpturen, die Hoetger zeitweise vorgesehen hatte, waren nun nicht mehr

Teil des Entwurfs der Gesamtanlage, was möglicherweise – ähnlich wie die Reduktion der

Anzahl der Kuppelbauten – mit deren immensen Kosten in Zusammenhang stand.

Ein großformatiges Modell des abschließenden Entwurfs wurde Ende 1935 in Bremen ausge-

stellt und Anfang 1936 in der Städtischen Kunsthalle Nürnberg (Roselius hatte sich direkt an

den fränkischen Gauleiter Julius Streicher gewandt, der wohl die Ausstellung ermöglichte).

Anlässlich der Ausstellung wurde eine Faltkarte mit erklärenden Texten produziert. Ein

Freund Hoetgers, der Kunsthistoriker Nikola Michailow, veröffentlichte im Februar 1936 ei-

nen Artikel über Hoetgers bildhauerisches und architektonisches Werk, in dem er auf das

„Deutsche Forum“ Bezug nahm:

„Seit drei Jahren arbeitet Hoetger gemeinsam mit dem jungen westfälischen Architekten Helfrich an

einem riesigen Projekt, in dem das ganze Leben der Nation sinnhafte architektonische Gestalt erhal-

ten soll. […] [I]n diesem Plan [scheint] die schöpferische Synthese aller fruchtbaren Lösungen und

Errungenschaften der neuen Baukunst enthalten“ (zitiert nach Hirthe, S. 285).

Die gigantische Anlage wurde nie umgesetzt; als Indiz dafür, wie sehr sich Hoetger mit dem

Projekt identifizierte (und dass er bis in die 1940er Jahre daran festhielt), deutete Hirthe

großformatige Entwürfe Hoetgers für skulpturalen Schmuck des Forums bzw. für vergleich-

bare nationalsozialistische Bauten aus den Jahren 1941 und 1943 (siehe dazu Abb. 7, Hirthe,

S. 285). Da es für das Projekt keinen Auftraggeber gab, handelte es sich um „eine freie und

das heißt auch: aus Überzeugung entstandene Planung“ (Hirthe, S. 284).

In der NS-Presse wurde das Projekt skeptisch betrachtet. Der gegen Hoetger erhobene Vor-

wurf, er sei einzig „aus Konjunkturrücksichten“ zum Nationalsozialisten geworden, spielte

auch für die Bewertung des „Deutschen Forums“ eine wesentliche Rolle:

„Wer garantiert dafür, daß Herr Hoetger uns nicht eines Tages durch seinen Testamentsvollstrecker

wissen läßt, daß dieses hakenkreuzlerische Forumsprojekt ja doch nichts anderes gewesen sei als

eine ganz üble Pflaume, ein humorvoller Protest gegen das herrschende Nazi-Regime? Ja, ja, Herr

Hoetger, bei Ihnen muß man auf der Hut sein, man schaut nie ganz durch. Irgendwo bricht der alte

nordische Schalk immer wieder hervor!“ (Notwendige Klarstellungen: Bernhard Hoetger. In: Das

Schwarze Korps vom 26.03.1936).

Relief „Der Lichtbringer“ (1936)

Das erste öffentliche plastische Werk Hoetgers in der NS-Zeit entstand im Zuge der Böttcher-

straßen-Kritik ab 1935 (zum Folgenden Hirthe, S. 285-288). Es zeigt eindeutig formale Über-

einstimmungen mit nationalsozialistischem „Kunstempfinden“: Das großformatige Relief

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„Der Lichtbringer“ wurde im April 1936 am stadtseitigen Eingang der Böttcherstraße ange-

bracht und ersetzte dort eine eher ornamental-expressionistische Gestaltung Hoetgers. Auf

dem Relief zu sehen ist ein schlanker Jüngling – in seiner rechten Hand ein Flammenschwert

haltend, den linken Arm ausgestreckt – der an den heiligen Michael erinnernd einen drei-

köpfigen Drachen bedroht. Im Hintergrund sind miniaturhafte Menschen in zeitgenössisch

einfachen Gewändern zu sehen, die sich dem Lichtbringer mit teils erhobenen Armen zu-

wenden. Hoetger erläuterte in einem Brief an Helfrich vom September 1936 (eine Woche

nach der erwähnten Rede Hitlers in Nürnberg – Hoetger lebte wieder in der Schweiz –) seine

Gedanken zu dem Bronzerelief als Ausdruck seiner Begeisterung für den Nationalsozialis-

mus:

„Damit glaubte ich nun endlich der Welt beweisen zu können, wie sehr ich unseren Führer und seine

Taten verehre. Alles habe ich in dieses Relief gelegt und war voller Hoffnung. […] Wie gerne hätten

wir [Hoetger und Roselius, HK] auf das Relief die Jahreszahl 1933 eingeschnitten, wenn wir nicht be-

fürchtet haben würden, man könne das als Konjekturabsicht uns unterschieben. Ich glaube auch, daß

ich machen könnte, was ich wollte, man würde nicht von der einmal gefaßten Meinung gegen mich

abgehen. […] Warum darf ich nicht mit meiner wahren Begeisterung an dem großen Aufbau Deutsch-

lands mitarbeiten und warum will man mich nicht verstehen? Ich weiß keinen Ausweg mehr, denn

ich habe alles, was ich konnte[,] getan und meine letzten Arbeiten beweisen meine eindeutige, be-

wundernde Einstellung für das neue Reich. Ich werde somit in aller Stille mich durch vertiefte Arbeit

vorbereiten und ich hoffe, daß man nach einigen Jahren begreift, daß man mir Unrecht getan hat. Ich

bin ganz fest durchdrungen, daß die Zeit hier klärend wirkt und daß meine Arbeiten jung, stark und

groß genug sein werden unser neues Reich zu verherrlichen“ (Hoetger an Herbert Helfrich, Beaten-

berg, 16.09.1936, veröffentlicht in „Ausstellungskatalog 1998“, S. 489 f.).

Neben dem „Lichtbringer“-Relief wurden weitere Veränderungen in der Böttcherstraße vor-

genommen: Im „Himmelssaal“ von „Haus Atlantis“ ließ Roselius die Namen „großer Deut-

scher“ an den Wänden auftragen; in der Mittelachse des Saals stand nun Hoetgers Skulptur

„Schreitender Knabe“ (1911) – auf einem Sockel mit SS-Runen (Abbildungen von „Der Licht-

bringer“ und der Skulptur „Schreitender Knabe“ auf SS-Runen-Sockel bei Groth/Herrmann,

S. 96). Es gelang Ludwig Roselius – der auch der Aufraggeber des „Lichtbringer“-Reliefs war –

schließlich, dass die Böttcherstraße nicht zerstört wurde; ganz im Gegenteil: sie gelangte im

Mai 1937 unter Denkmalschutz. – Wiederholt wurde und wird behauptet, dass die Böttcher-

straße als Beispiel für „entartete Kunst“ geschützt wurde, wofür es aber keine eindeutigen

Belege gibt. Der Senat der Stadt Bremen hatte diese Variante (die Erhaltung als Dokument

des „Kulturbolschewismus“ in Konkurrenz zur bevorzugt in Erwägung gezogenen Umgestal-

tung der Böttcherstraße) bereits 1935 ins Spiel gebracht (10.10.1935, Senator Erich Vagts,

Bremen, an Lammers, Staatssekretär in der Reichskanzlei, Berlin, BArch Berlin, R 43-II/1320).

In den tradierten Dokumenten ist wiederholt davon die Rede, dass Adolf Hitler sich gegen

bauliche Änderungen (im Sinne des Bremer Senats) ausgesprochen habe (BArch Berlin, R 43-

II/1320). – Das „Lichtbringer“-Relief ziert bis heute den Eingang zur Böttcherstraße und wird

als „das einzige öffentliche Hitler-Denkmal, das heute noch steht“ (Christoph Spehr: Der

Lichtbringer – ein Hitler-Denkmal, 12.11.2013) in Bremen öffentlich diskutiert.

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Thomas Hirthe bewertete das Relief (nach Auswertung von Hoetgers Briefwechseln) als Ver-

such, seine Loyalität zum NS-Regime zu unterstreichen:

„Die Darstellung des ‚Lichtbringers‘ entstand also aus tiefer nationalsozialistischer Überzeugung des

Künstlers und in einer Zeit, als Hoetger im Ausland propagandistisch für die ‚Bewegung‘ tätig war. Er

und sein Auftraggeber Roselius waren wohl der festen Ansicht, mit diesem Kunstwerk die umstritte-

ne, in ‚kulturbolschewistischer‘ Zeit entstandene Straße in die neue Zeit einbinden zu können“

(Hirthe, S. 287 f.).

Parteiausschlussverfahren (1936-1938)

Hoetger wertete die Kritik seitens des NS-Regimes insgesamt als großes Missverständnis. Auf

seine Verehrung des „Führers“ schien auch dessen offene Kritik an der „Böttcherstraßen-

Kultur“ Anfang September 1936 kaum Einfluss ausüben zu können:

„Die Rede des Führers finde ich in allen Schlußfolgerungen wundervoll. Die Bemerkungen und Hin-

weise auf die Architektur, die Hinweise auf die kulturschaffende Politik [,] die Begründung für die

gesunde, starke Form der Kunst, alles sind Auslassungen, die dem inneren Gesetz des Nationalsozia-

lismus folgen. Wir sind bestimmt alle bereit für diese schöne Idee zu schaffen.

Die Bemerkung über die Böttcherstraße ist nur deswegen gefallen, weil man einen Kreis in der Bött-

cherstraße vermutet, der sich gegen den Nationalsozialismus gewendet haben soll. […]

Ich wollte in meinen Formen klar, eindeutig und nordisch vertikal sein. Es war damals durch die Ein-

flüsse der jüdischen Presse sehr schwer eigene, unserem Volke verwandte Formen zu schaffen, noch

schwerer aber diese Einflüsse zu überwinden und abzustoßen. Wenn es heute einige Menschen gibt,

die die Böttcherstraße auffassen, als solle es ein Formenkanon für alle Zukunft darstellen, der irrt

sich. Auch die Böttcherstraße bleibt immer nur ein Versuch Fremdes abzustoßen“ (Hoetger an Wil-

helm Teichmann, Beatenberg, 16.09.1936, veröffentlicht in „Ausstellungskatalog 1998“, S. 490).

Um die Anschuldigungen, die in der NS-Presse gegen ihn vorgebracht wurden (durch seine

Werke in der Nachkriegszeit „zersetzend gewirkt zu haben“, „Nationalsozialist aus Konjunk-

turrücksichten“ gewesen zu sein, eine „politisch links gerichtete Haltung vertreten zu ha-

ben“) zu entkräften, entschloss sich Hoetger für einen eher ungewöhnlichen Schritt: Er stell-

te 1936 selbst einen Antrag auf Untersuchung vor dem Parteigericht der NSDAP-Auslands-

organisation. Das „Parteigerichtsverfahren gegen den Bildhauer Prof. Bernhard Hoetger“

endete mit dem Urteil vom 25.04.1938 (Dokumentation „Ausstellungskatalog 1998“, S. 498-

501) – mit dem Ergebnis, dass Hoetger aus der NSDAP ausgeschlossen wurde. Abgesehen

von der Tatsache, dass dieses Ergebnis das Gegenteil des von Hoetger erhofften darstellte,

liefert die umfangreiche Urteilsbegründung einige interessante Aspekte. Für den Ausschluss

aus „dem Führer-Orden des Dritten Reiches“ als wesentlich betrachtet wurden (laut Urteils-

begründung) Hoetgers künstlerische Werke vor 1933 sowie seine „zweifelhafte Rolle“ in po-

litischer Hinsicht. Das Gericht glaubte Hoetger nicht, dass seine Kunst in der Weimarer Re-

publik unpolitisch gewesen sein soll (wie von ihm behauptet), bescheinigte ihm vielmehr

eine „ungewöhnliche Wandlungsfähigkeit“, die es ihm zu Lasten auslegte. Besonders schwer

wog für die Urteilsfindung Hitlers persönliche Kritik: „Entscheidend ist aber, daß er [Hoetger]

bis kurz vor der Machtübernahme und wahrscheinlich auch heute noch Auffassungen ver-

tritt, die der Führer in der Kulturrede vom Jahr 1936 als eine Gefahr für die Bewegung gegei-

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ßelt hat.“ Der Ausschluss erschien dem Gaugericht daher alternativlos, wenngleich Hoetger

kein „schuldhafter Verstoß gegen die Satzungen“ nachgewiesen werden konnte. In der Lite-

ratur wird der Ausschluss aus der NSDAP wiederholt als Beleg dafür angeführt, dass der

Künstler als „Opfer“ des NS-Regimes anzusehen sei. In der Urteilsbegründung finden sich

jedoch Passagen, die selbst bezüglich des Ausschlusses aus der Partei ein differenzierteres

Bild nötig erscheinen lassen:

„Das Gaugericht ist vielmehr aufgrund der mündlichen Verhandlung der Überzeugung, daß der Ange-

schuldigte aus ehrlicher Begeisterung für die Ziele des Nationalsozialismus in die Partei eingetreten

ist. […] Auch die Tatsache, daß sich der Angeschuldigte in den Nachkriegsjahren um ‚nordische Kunst‘

bemüht hat, wenn auch diese ‚nordische Kunst‘ in keiner Weise etwas zu tun hat mit dem, was der

Nationalsozialismus unter nordischer Kunst versteht, läßt es wahrscheinlich erscheinen, daß sich der

Angeschuldigte aus innerster Überzeugung zur Partei anmeldete, so wie seine bitteren Erfahrungen

mit dem Judentum ihm den Eintritt in die Partei wünschenswert gemacht haben mögen. […] Der Be-

weis, daß er aus Konjunkturgründen in die Partei eingetreten ist, ist nicht erbracht worden“ (Doku-

mentation „Ausstellungskatalog 1998“, S. 500).

Wenngleich das Gaugericht die Entlassung aus der Partei als erforderlich ansah, vertrat es

dennoch die Auffassung, dass „Hoetger als Mensch“ nichts vorzuwerfen sei und verknüpfte

den Parteiausschluss mit der Hoffnung, Hoetger möge der „Bewegung“ nicht verloren ge-

hen:

„Das Gaugericht hebt aber gleichzeitig hervor, daß gegen Hoetger als Mensch, abgesehen von seiner

unklaren künstlerischen und politischen Linie, Vorwürfe nicht erhoben werden können, insbesondere

hat er gegenüber Versuchen, sich im Auslande von Emigrantenkreisen einspannen zu lassen und ge-

gen das Dritte Reich Stellung zu nehmen, eine eindeutige Haltung eingenommen, wie das Gaugericht

auch zu der Überzeugung gekommen ist, daß er ein ehrlicher Deutscher und begeistert von dem Auf-

bauwerk des Führers ist. […] Das Gaugericht gibt daher der Hoffnung Ausdruck, daß Hoetger, wenn er

auch nicht Parteigenosse sein kann, sich nicht zurückzieht aus der alle deutschen Menschen umfas-

senden von der Bewegung geführten Volksgemeinschaft und sich in der Zukunft als wertvolles auf-

bauendes Element in ihr erweist“ (ebenda).

Späte Arbeiten: Museum Kolberg, Luftwaffenschule Greifswald, Hitler-Büste

Ebenfalls 1936, noch im Atelier Helfrich in Berlin, entstanden die Büste „Paracelsus“ und die

Allegorie „Empor“, jeweils ohne Auftraggeber. Thematische Ausrichtung und Gestaltung der

Bronzen entsprachen der Kunstauffassung des Nationalsozialismus; Hoetger hatte sich von

seiner expressionistischen Gestaltung ab- und seinen impressionistischen Anfängen wieder

zugewandt. Seine Hoffnung auf Erfolg war nicht unbegründet: Spätestens im Oktober 1936

besaß Gauleiter Julius Streicher einen Guss der „Paracelsus“-Büste (Hirthe, S. 288).

Zudem erhielt Hoetger den Auftrag, für das Kulturgeschichtliche Museum in Kolberg zwei

Büsten anzufertigen (überlebensgroße Köpfe „Gneisenau“ und „Schill“), die im Mai 1937 in

der „Ehren- und Gedächtnishalle 1807“ auf- und ausgestellt wurden (Hirthe, S. 289 f.). Hoet-

gers Freund Nikolai Michailow war Direktor des Museums; stilistisch hielt sich Hoetger dabei

strikt an das im Nationalsozialismus vertretene Konzept der Allgemeinverständlichkeit von

Kunst.

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Nach seiner Rückkehr nach Berlin 1938 arbeitete Hoetger an Reliefs für das neue Gebäude

der Luftwaffenschule in Greifswald. Möglicherweise war die Arbeit auch der Grund für seine

Rückkehr nach Deutschland: sein Freund Helfrich hatte ihm den Auftrag vermittelt; Hoetger

arbeitete 1938/39 folglich (obwohl er aus der Partei ausgeschlossen worden war) für die

Luftwaffe im nationalsozialistischen Deutschland (Hirthe, S. 290 f.). Dafür muss er wieder

Mitglied der RKdbK geworden sein (was sich aus den eingesehenen Dokumenten nicht näher

belegen lässt). Um 1939 entstand auch eine Hoetger zugeschriebene Bronzebüste Adolf Hit-

lers (Hirthe, S. 291).

Mit Kriegsbeginn 1939 kam die Vergabe öffentlicher Kunstaufträge allgemein zum Erliegen;

auch für Hoetger, der bis 1943 weiterhin in Berlin lebte und in seinem Atelier in Frohnau

arbeitete, ergaben sich keine öffentlichen Aufträge mehr. Ende 1939 bemühte sich Hoetger

um die Aufnahme in die RKdbK als Architekt (Aufnahme 1940, rückdatiert auf 01.04.1937). In

einem Brief vom Dezember 1942 an Arno Breker, zu der Zeit einer der wichtigsten Vertreter

der NS-Kunst im Bereich der Bildhauerei (Gabler, S. 83 ff.), bat Hoetger Breker um Unterstüt-

zung für sein Anliegen, einige seiner Werke im Haus der deutschen Kunst in München aus-

stellen zu dürfen. Als Begründung führte er an:

„Ich habe in diesen Jahren unentwegt in der Stille meines Ateliers geschafft und ich glaube, nach

besten Kräften meinen Beitrag im großen Kampf der Nation geleistet zu haben und zu leisten. Sie

werden verstehen, sehr verehrter Herr Kollege, daß ich es gerade in diesem Zeitpunkt als eine Ver-

pflichtung empfinde, meine Arbeit in den Dienst der Nation zu stellen, eine Verpflichtung, deren bis-

herige Nichterfüllung mich innerlich keine Ruhe finden läßt […]“(Hoetger an Arno Breker, Berlin,

03.12.1942, Dokumentation „Ausstellungskatalog 1998“, S. 497).

Hoetgers Wirken vor 1933 blieb den Nationalsozialisten bis mindestens 1938 verdächtig;

seine unterschiedlichen expressiven Spielarten (die ihn aus heutiger Sicht als einen bedeu-

tenden Vertreter des Expressionismus erscheinen lassen) waren mit dem engen Kunstver-

ständnis des NS-Regimes nicht zu vereinbaren. Hoetger passte seine plastischen Werke in

der Zeit nach 1933 allerdings seinem nationalsozialistischen „Wollen“ entsprechend an. Al-

lein: Bis auf wenige Aufträge, die ihm befreundete Nationalsozialisten beschafften, blieb

seine Kunst die Anerkennung des NS-Regimes – um die er sich als von der „Bewegung“ über-

zeugter Künstler derart bemühte – versagt. Oder, wie Thomas Hirthe es formulierte: „Er war-

tete auf seine Stunde – die nicht kam“ (Hirthe, S. 280).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente recherchieren, obwohl Hoetger um 1946 –

anders als häufig zu lesen – noch in Deutschland (und noch nicht in der Schweiz) lebte.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch Berlin, R 43-II/1320

BArch Berlin, NS 5-VI/17612

STAM, Anfrage Entnazifizierungsakten [keine Dokumente überliefert]

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HStAD, R 4 [Bilder von Kunstwerken, auch von „Der Lichtbringer“]

HStAD, R 12 P Nr. 2365

Regierungsblatt 1911, Beilage 21, S. 199 [Ernennung zum Professor am 17.06.1911]

StadtA Da, ST 61, Hoetger, Bernhard

Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen, Nachlass Hoetger [zum Teil veröffentlicht in „Ausstel-

lungskatalog 1998“]

Literatur:

Anczykowski, Maria (Hrsg.) [Ausstellungskatalog 1998]: Bernhard Hoetger. Skulptur, Malerei, Design,

Architektur. Bremen 1998.

Beeh, Wolfgang: Hoetger, Bernhard. In: NDB 9 (1972), S. 370 f.

Beil, Ralf/Gutbrod, Philipp (Hrsg.): Bernhard Hoetger. Der Platanenhain. Ein Gesamtkunstwerk auf

der Mathildenhöhe Darmstadt. München 2013.

Boulboullé, Guido: Worpswede. Kulturgeschichte eines Künstlerdorfes. Köln ²1989.

Dotzert, Roland/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Kunst im öffentlichen Raum. In Darmstadt 1641-1994, bearb.

von Emmy Hoch und Erich Eck. Darmstadt 1994.

Drost, Suse: Das bildnerische und malerische Werk von Bernhard Hoetger. In: Roselius, Ludwig

[d. J.](Hrsg.): Bernhard Hoetger. 1874-1949. Sein Leben und Schaffen. Bremen 1974, S. 11-117.

Eikmeyer, Robert (Hrsg.): Adolf Hitler. Reden zur Kunst- und Kulturpolitik 1933-1939. Frankfurt am

Main 2004.

Gabler, Josephine: Arno Breker – Von Paris nach „Germania“. In: Benz, Wolfgang/Eckel, Pe-

ter/Nachama, Andreas (Hrsg.): Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten. Berlin 2015,

S. 73-88.

Groth, Katharina/Herrmann, Björn: Bernhard Hoetger. In: Groth, Katharina (Hrsg.): Mythos und Mo-

derne. 125 Jahre Künstlerkolonie Worpswede. Köln 2014, S. 89-96.

Hammer, Karen E.: Große Kunstschau Worpswede: Das Hoetger-Ensemble. In: Groth, Katharina

(Hrsg.): Mythos und Moderne. 125 Jahre Künstlerkolonie Worpswede. Köln 2014, S. 190-195.

Hirthe, Thomas: „Besondere Leistungen für die Bewegung hat er nicht aufzuweisen“ – Bernhard

Hoetger im Nationalsozialismus. In: Anczykowski, Maria (Hrsg.): Bernhard Hoetger. Skulptur, Malerei,

Design, Architektur. Bremen 1998, S. 278-299.

Pehnt, Wolfgang: Bernhard Hoetger. In: Ders.: Die Architektur des Expressionismus. Ostfildern 1998,

S. 193-202.

Saal, Wolfgang: Bernhard Hoetger. Ein Architekt des norddeutschen Expressionismus. Dissertation

Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 1989.

Schmidle, Elisabeth: Schandmal oder Mahnmal? Vom Umgang mit dem architektonischen Erbe der

NS-Diktatur. In: Der Bürger im Staat 56 (2006), S. 184-190.

Strohmeyer, Arn: Ein Haus soll zur Urgeschichte der Menschheit zurückführen – das „Haus Atlantis“

in der Bremer Böttcherstraße. In: Anczykowski, Maria (Hrsg.): Bernhard Hoetger. Skulptur, Malerei,

Design, Architektur. Bremen 1998, S. 216-221.

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Strohmeyer, Arn: Kunst im Zeichen der germanischen Vorfahren und der Wiedergeburt Deutsch-

lands: Ludwig Roselius und Bernhard Hoetger. In: Ders./Artinger, Kai/Krogmann, Ferdinand: Land-

schaft, Licht und niederdeutscher Mythos. Die Worpsweder Kunst und der Nationalsozialismus.

Weimar 2000, S. 43-110.

Theile, Albert: Bernhard Hoetger. Recklinghausen 1960.

Thiemann, Eugen: Bernhard Hoetger. Achim 1990.

Ulmer, Renate: Hoetger, Bernhard. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 399 f.

Wehner, Dieter Tino: Bernhard Hoetger. Das Bildwerk 1905 bis 1914 und das Gesamtkunstwerk Pla-

tanenhain. Alfter 1994.

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86

Krolowweg (J 10), benannt 1999 nach

Karl Krolow (1915-1999)

Lyriker

* 11. März 1915 in Hannover

1921-1925 Besuch der Volksschule in Hannover

1925-1935 Besuch des Realgymnasiums in Hannover

Ab 1934 Mitglied der HJ

1935 sogenannter „Ausgleichsdienst“

1935-1942 zunächst Studium der evangelischen Theologie in Göttingen, dann Germanistik, Philoso-

phie und Kunstgeschichte in Göttingen (bis 1939/40) und Breslau (1940-1942)

1937-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 4819613, Eintritt: 01.05.1937)

1938/39 Mitarbeiter der studentischen Fachzeitschrift „Junge Geisteswissenschaft“

1938/39 NSDAP-Blockleiter

Ab 1940 Veröffentlichung von Gedichten in großen deutschen Zeitungen, auch in NS-Presseorganen

1941 Heirat mit Luzie Gaida

1941/42 Referent (K) beim Reichsführer SS – Reichskommissar für die Festigung deutschen Volks-

tums

1942 Rückkehr nach Göttingen, Arbeit als „freier Schriftsteller“

1943 „Hochgelobtes gutes Leben“ (erster Gedichtband)

1944 Autor der NS-Wochenzeitung „Das Reich“

1948-1997 Veröffentlichung zahlreicher Gedichtbände, darunter „Heimsuchung“ (1948), „Die Zei-

chen der Welt“ (1952), „Wind und Zeit“ (1954)

1951 Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland

1952 Umzug nach Hannover

1953/54 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt

1956 Umzug nach Darmstadt

1960 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz

1960/61 Poetik-Vorlesung an der Universität Frankfurt am Main

1962 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste

1967 Umzug innerhalb Darmstadts in die Künstlerkolonie, Park Rosenhöhe

1972-1975 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt

1985 „Nacht-Leben oder Geschonte Kindheit“ (autobiografischer Roman)

1997 vierbändige Gesamtausgabe seiner Gedichte

† 21. Juni 1999 in Darmstadt

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Ehrungen:

1956 Georg-Büchner-Preis

1965 Großer Niedersächsischer Kunstpreis (Staatspreis des Landes Niedersachsen)

1975 Goethe-Plakette des Landes Hessen

1975 Großes Bundesverdienstkreuz

1975 Rainer-Maria-Rilke-Preis für Lyrik

1975 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1976 Ehrendoktor der TH Darmstadt

1983 Hessischer Kulturpreis

1985 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste

1988 Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg

2005 Totenmaske im Glückerthaus Darmstadt

2008 Denkmal auf der Rosenhöhe in Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Karl Krolow, „nach 1945 der in Präsenz und Qualität beständigste deutsche Lyriker“ (Fritz

Deppert, DE vom 09.03.2015), lebte und arbeitete seit 1956 in Darmstadt. Nach Abschluss

seines Studiums wirkte er von 1942 an als „freier Schriftsteller“ in Göttingen.

Von 1935 bis 1940 studierte Krolow, der 1935 sein Abitur am Realgymnasium in Hannover

abgelegt hatte, an der Universität Göttingen; anfangs Evangelische Theologie (ein Semester;

Berufsziel: Pfarrer), dann Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte (UA Göttingen). Von

1940 bis 1942 führte er das Studium (mit dem Ziel Lehramt für höhere Schulen) an der Uni-

versität Breslau fort. 1942 zog er nach Göttingen, wo er fortan tätig war als „freier Schrift-

steller“ (die Anführungszeichen beziehen sich zum einen auf die Selbstbeschreibung Kro-

lows, zum anderen auf die unter den politischen Umständen stark eingeschränkte Form von

Freiheit).

Karl Krolow war seit 1934 Mitglied der HJ („Mitglied des Bannstabs 82“), 1937-1945 Mitglied

der NSDAP (Mitglieds-Nr. 4819613, Eintritt: 01.05.1937) und NSDAP-Blockleiter (zumindest

1938/39). Von der (mehrfach beantragten) beitragspflichtigen Mitgliedschaft in der Reichs-

schrifttumskammer wurde er wiederholt freigestellt, da seine „schriftstellerische Tätigkeit

nur gelegentlicher Art oder geringfügigen Umfanges“ war (1942 und 1944, BArch Berlin,

BDC, R 9361-V/26074). Laut eigener Aussagen war er aus „gesundheitlichen Gründen“ vom

Kriegsdienst entbunden.

Seit Oktober 1940 hatte Krolow erste Gedichte in großen deutschen Tageszeitungen veröf-

fentlicht, etwa in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, der „Berliner Börsenzeitung“ und

den „Münchner Neuesten Nachrichten“ (vgl. Paulus, S. 301-303). Zwischen 1940 und 1945

veröffentlichte der junge Schriftsteller (zu der Zeit zwischen 25 und 30 Jahre alt) über 100

Beiträge in über einem Dutzend Zeitungen und Zeitschriften, darunter ab 1942 umfangrei-

chere poetische Diskussionen in „Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deut-

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sches Leben“ und 1944 Lyrik in „Das Reich“ (Donahue, S. 28, S. 34 f., vgl. zu „Das Reich“ Bio-

grafie Arnold Krieger). So erschien etwa in „Das Innere Reich“ 1943 eine Sammelbespre-

chung unter dem Titel „Betrachtungen von Gedichtband-Titeln“, die Krolows umfangreiches

Wissen zu zeitgenössischer Lyrik dokumentierte – in der sich aber auch Sätze fanden wie „Es

ist Ausdruck für die wissende Entschlossenheit, mit der unser Volk in diesem zweiten Welt-

krieg sein Leben dranzugeben gewillt ist“ (zitiert nach Donahue, S. 36). Laut Ernst Klee

schrieb Krolow auch für das „NS-Kampfblatt Krakauer Zeitung“ (Klee, S. 340, vgl. Paulus: Hier

keine Nennung der Zeitung). Von den in „Das Reich“ veröffentlichten Gedichten fand keines

Aufnahme in Krolows „Gesammelte Gedichte“ (1965, nach Sarkowicz/Mentzer, S. 252).

Krolows erster Gedichtband (dem ab 1948 zahlreiche folgen sollten) erschien 1943 unter

dem Titel „Hochgelobtes gutes Leben“. Der 14 Seiten umfassende Band erschien bei Heinrich

Ellermann und beinhaltete auch Gedichte von Hermann Gaupp (ausführlich zu möglichen

Deutungsebenen im Kontext der „Inneren Emigration“ Donahue, S. 39-52).

Nachdem Krolow bereits im Januar 1941 der Reichsschrifttumskammer seine schriftstelleri-

sche Tätigkeit ordnungsgemäß (wie er glaubte) angezeigt hatte, bat er im März 1942 noch-

mals um Aufnahme in die Kammer. Sein Gesuch vom 8. März 1942, in dem er eindringlich

darum warb, ihn als (aufstrebenden) Schriftsteller in die Kammer aufzunehmen, sandte er

aus Kattowitz/Oberschlesien – unterschrieben mit „Heil Hitler! Karl Krolow [Unterschrift

handschriftlich] Referent (K) beim Reichsführer SS Reichskommissar f.d.F.d.V. [für die Festi-

gung deutschen Volkstums]“ (BArch Berlin, BDC, R 9361-V/26074).

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens musste Krolow zu dieser Selbstbezeichnung Stel-

lung nehmen.

Entnazifizierungsverfahren

Im Niedersächsischen Landesarchiv Hannover befindet sich die umfangreiche Akte zu Kro-

lows Entnazifizierungsverfahren (Nds. 171 Hannover Nr. 19096), auf deren Inhalt sich die

folgenden Ausführungen stützen (wenn nicht anders angegeben).

Für Krolow stellte sich Ende 1946 das Problem, dass seine Beiträge (in der amerikanischen

Zone) ohne eine erfolgte politische Entlastung nicht mehr gedruckt werden durften. Darauf-

hin ergriff er die Initiative und wandte sich über seinen Göttinger Anwalt an den Entnazifizie-

rungs-Hauptausschuss Göttingen-Stadt mit der Bitte, ein Entnazifizierungsverfahren einzulei-

ten. Dem Schreiben anbei lagen – „[o]bwohl er nur Parteianwärter seit 1.5.1937 und sonst

nicht belastet ist“ – sechs Entlastungsschreiben sowie der Fragebogen der Military Govern-

ment of Germany, den Krolow am 27.11.1946 ausgefüllt hatte. Im Fragebogen gab er unter

dem Punkt „Mitgliedschaften“ bei „NSDAP“ an: „nein (seit 1. Mai 1937 Anwärter)“; bei „HJ

einschl. BdM“: „nein“. Auf der letzten Seite, unter „Haben Sie jemals, und falls ja, in welcher

Rolle in der Zivilverwaltung in einem der von Deutschland eingegliederten oder besetzten

Gebiete gedient oder gearbeitet?“ gab er zu Protokoll: „ja; Angestellter beim Oberpräsident

in Kattowitz, Archivarbeiten (Presse und Kultur) als Nebenverdienst während des Studiums.“

[Die Entlastungsschreiben entsprachen den üblichen „Persilscheinen“.]

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Aufgrund seiner Angaben wurde Krolow vom Kreisentnazifizierungsausschuss Göttingen zu-

nächst als „Nazianhänger nur dem Namen nach“ eingestuft (13.02.1947). Allerdings lagen im

April 1947 neue Erkenntnisse vor:

„Aus seinen Original-Angaben an die Reichsschrifttumskammer ergibt sich, dass er sich stets als Par-

teimitglied ausgegeben hat. In einem Antrag vom 8.3.42 unterschreibt er als „Referent (K) beim

Reichsführer SS Reichskommissar f.d.F.d.V. (für die Festigung deutschen Volkstums)“ (Intelligence

Section an Kulturausschuss Land Niedersachsen vom 25.04.1947).

Es würde daher beabsichtigt, so hieß es in dem Schreiben weiter, „ihn wegen Fragebogenfäl-

schung zu verfolgen“.

In einer schriftlichen eidesstattlichen Erklärung vom 27.08.1947 nahm Krolow zu den An-

schuldigungen Stellung: In die NSDAP sei er nur auf Drängen seines Vaters eingetreten, der

„glaubte dadurch seinen einzigen Sohn im späteren Beruf gesicherter zu sehen“. Von der

Partei habe er nur bei den „monatlichen Beitragszahlungen“ gehört. Da er nie das rote Par-

teibuch erhalten habe und auch nie vereidigt worden sei, sei er bei der Angabe davon ausge-

gangen, dass er offiziell als „Anwärter“ gelte; den „vorläufigen Mitgliedsausweis zerriss ich in

den Tagen des Zusammenbruchs“ [das Original der „Parteianwärterkarte“ – mit abgestem-

pelten Beitragszahlungen bis einschließlich Mai 1938 – befindet sich in den Unterlagen der

RKK… Außerdem hat Krolow 1939 und 1940 wiederholt seine NSDAP-Mitgliedsnummer – die

nicht der Anwärter-Nr. entsprach! – in Fragebögen angegeben, siehe BArch Berlin, BDC, VBS

1/1060062175]. Weiter erklärte Krolow:

„Während dieses Studiums [in Breslau] habe ich von Ende 1941-Sommer 1942, ein gutes halbes Jahr

also, den Nötigungen nachgebend, denen ich als Student, der nicht wehrdienstfähig war und bisher

nicht einen einzigen Einsatz abgeleistet hatte, mich für befristete Zeit als Reichsangestellter beim

Gauleiter und Oberpräsidenten von Oberschlesien, in seiner Eigenschaft als Kommissar für die Festi-

gung deutschen Volkstums verpflichtet. Ich betone, dass diese Dienststelle dem Gauleiter und Ober-

präsidenten unterstellt war, er war es, der inspizierte, ernannte usw. Ich führte die Bezeichnung Kul-

turreferent.“

Seine einzige Beschäftigung habe darin bestanden, die deutsche Presse auf Artikel zum „kul-

turellen Aufbau“ in Oberschlesien hin zu durchsuchen und entsprechende Beiträge auszu-

schneiden und zu archivieren. Mitglied der SS sei er in keiner Form gewesen.

Der Kreisausschuss folgte Krolow weitgehend (18.09.1947) und im Entnazifizierungs-Haupt-

ausschuss wurde er am 09.12.1948 schließlich als „Mitläufer“ eingestuft: „Krolow hat den

Nationalsozialismus unterstützt (Kategorie IV)“. Ihm wurde die Wählbarkeit auf fünf Jahre

abgesprochen und er hatte die Verfahrenskosten in Höhe von 50,- DM zu tragen. Als „we-

sentlicher Förderer oder Nutznießer“ des Nationalsozialismus sei Krolow hingegen nicht an-

zusehen, hieß es in der Begründung, wie auch die Zeugenaussagen bestätigten.

Krolow legte gegen das Urteil Widerspruch ein. Im März 1949 wurde er zweimal zu Anhö-

rungen vorgeladen. In der ersten Anhörung am 04.03.1949 wiederholte er weitgehend seine

Angaben in der oben genannten eidesstattlichen Erklärung (er habe nie ein NSDAP-

Mitgliedsbuch erhalten; die Tätigkeit als „Referent (K) beim Reichsführer SS“ sei eine Art

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Ferienjob gewesen, der auch dazu gedient habe, „mir die finanziellen Mittel für die Beend i-

gung meines Studiums zu verschaffen“). Er bat darum, in Kategorie V (entlastet) eingruppiert

zu werden.

Die zweite Vernehmung am 16.03.1949 war notwendig geworden, da Krolow zwischenzeit-

lich mit der parteistatistischen Erhebung (von ihm unterzeichnet am 30.06.1939, entspre-

chender Auszug in BArch Berlin, BDC, VBS 1/1060062175) konfrontiert worden war – worin

er seine Dienststellung als „Blockleiter“ angab und eine Mitgliedschaft in der HJ zu Protokoll

gab (zudem „darin führend tätig“ angekreuzt hatte). Krolow gab zu Protokoll:

„Ich habe in den Jahren 1938/1939 den Blockleiter nur vorübergehend vertreten, m. E. etwa auf die

Dauer eines Monats. Irgendeine Funktion habe ich meines Erinnerns nicht ausgeübt. Ich habe auf

dem oben erwähnten Fragebogen angegeben, dass ich Blockleiter sei, und zwar deswegen, weil die

Stimmung unter meinen Kollegen, ich war damals Student an der Universität Göttingen, sehr gegen

mich gerichtet war, da ich nicht im geringsten das war, was man mit ‚einsatzfreudig‘ bezeichnen

konnte. Ich möchte aber nochmals bemerken, dass ich mich weder als Blockleiter gefühlt habe – ich

habe ja auch nie irgendeine Bestätigung erhalten oder die dafür erforderlichen Papiere wie Ahnen-

nachweis usw. eingereicht – noch dass ich die Tätigkeit eines solchen praktisch überhaupt ausgeführt

habe. Die ganze Angelegenheit war eine Abrede zwischen dem für mich zuständigen Blockleiter und

mir, da der zuerst Genannte in dieser Zeit anderweitige Verpflichtungen hatte.“

Zur angegebenen HJ-Mitgliedschaft gab er an, er sei als Angehöriger einer „Schüler-Spiel-

schar“ in die HJ überführt worden; die Überführung sei aber seiner Erinnerung nach nicht

abgeschlossen gewesen, bevor er die Schule verlassen habe. Als Grund für die Angabe in der

parteistatistischen Erhebung 1939 nannte er folgende Motivation:

„In dem oben erwähnten Fragebogen habe ich m. E. aus denselben Gründen, aus denen ich mich als

Blockleiter bezeichnet habe, eine Zugehörigkeit zur HJ und eine Führertätigkeit darin angegeben. Ich

war aber niemals Mitglied der HJ und bin selbstverständlich auch nie irgendwie führend tätig gewe-

sen.“

In überlieferten Formblättern der „Studentenführung“ gab Krolow wiederholt unter „Erster

Eintritt in eine Gliederung der NSDAP“ den 10.04.1934 in die HJ an; Dienstrang (Angabe vom

10.10.1939): „Jg. [Jungmann] (führ. Mitglied des Bannstabs 82)“ (BArch Berlin, BDC, VBS

1/1060062175). Auch in der Kartei der „Deutschen Studentenschaft“ an der Uni Göttingen

wurde Krolow als Mitglied der HJ seit 10.04.1934 geführt („Dienstrang: Bannstabsmitglied“);

und auch hier wurde er als „Blockleiter“ der NSDAP geführt (UA Göttingen).

Am 2. Mai 1949 kam es – auf Krolows Einspruch hin – in Hannover zur öffentlichen Verhand-

lung vor der Spruchkammer für Kulturschaffende. Nach dem Verlesen der Vernehmungspro-

tokolle vom März stellte der Vorsitzende fest,

„dass der Betroffene die bisherigen Angaben nicht wahrheitsgemäß gemacht hat und dass dadurch

seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird. Die Mitarbeit bei der Reichsführung SS – Reichskommis-

sar für die Festigung deutschen Volkstums – ist eine Belastung.“

Krolow wurde gefragt, ob er „irgendwelche Handlungen gegen den Nat. Soz. nachweisen

könne“ – und ob er seinen Einspruch zurückziehen wolle. Nachdem er dem Ausschuss noch

„verschiedenes Material zur Einsicht“ vorgelegt hatte, „erklärt der Betroffene, dass er seinen

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Einspruch zurückzieht. Die Verhandlung wird geschlossen“. Die Entscheidung des schriftli-

chen Verfahrens blieb unverändert bestehen. Wiederholt bat Krolow in der Folge um Gebüh-

renerlass; am 12.06.1950 wurden die Verfahrensgebühren auf 30,- DM reduziert; seiner

nochmaligen Bitte um „Überführung in Kategorie V“ (07.09.1950) wurde nicht stattgegeben.

Neil H. Donahue, der sich (als erster) intensiv mit Krolows Entnazifizierungsverfahren be-

schäftigte (vgl. Donahue, S. 53-71), kam zu dem Ergebnis, dass einige Aussagen Krolows we-

nig plausibel erscheinen bzw. (zumindest) Fragen aufwerfen würden bezüglich seiner Nähe

zum NS-Regime (Donahue, S. 70).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/26074

BArch Berlin, BDC, VBS 1/1060062175

Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 171 Hannover Nr. 19096 [Spruchkammerakte]

UA Göttingen, Immatrikulationskarten

HStAD, R 12 P Nr. 3323

StadtA DA, ST 61 Krolow, Karl

Literatur:

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Karl Krolow. München 1983 [Text + Kritik, Heft 77].

Deppert, Fritz: Krolow, Karl. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 525 f.

Donahue, Neil H.: Karl Krolow and the poetics of amnesia in postwar Germany. Rochester et al. 2002.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007, S. 340.

Paulus, Rolf: Lyrik und Poetik Karl Krolows 1940-1970. Bonn 1980.

Sarkowicz, Hans/Mentzer, Alf: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Ham-

burg/Wien 2000, zu Krolow S. 251-253.

Stahl, Katja: „Hier war die Luft einmal lateinisch“. Der Dichter Karl Krolow in Darmstadt. Marburg

2010.

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Max-Ratschow-Weg (Q-R 7), benannt 1991 nach

Max Ratschow (1904-1963)

Mediziner, Begründer der Fachdisziplin der Angiologie

* 7. August 1904 in Rostock

1913-1922 Besuch des Humanistischen Gymnasiums in Rostock

1920 Mitglied eines Freiwilligenverbands („Zeitfreiwilliger“, keine Teilnahme an Kampfhandlungen)

1921 Eintritt in den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund

1922/23 Abschluss des Humanistischen Gymnasiums in Rostock

1923-1924 Forstlehre in der Mecklenburgischen Staatsforstverwaltung (Abschluss: Revierjäger)

1923 Teilnahme (nach 4 wöchiger Kurzausbildung bei der Reichswehr) mit dem Reiter-Regiment

Ludwigslust/Mecklenburg an der Bekämpfung von Unruhen

1924-1929 zunächst Studium der Forstwissenschaften, dann der Medizin in Rostock, Freiburg, Wien,

München, Berlin und Breslau

1926 Forstverwaltungsprüfung in Schwerin

1929 Medizinisches Staatsexamen an der Universität Breslau

1930 Promotion zum Dr. med. an der Universität Breslau, „Experimentelle und klinische Untersu-

chungen über die künstliche Varizenverödung unter besonderer Berücksichtigung der Calorose“

1930 Hochzeit mit Adalberta Klara Elisabeth Schrameier (vier Kinder, 27.03.1941 geschieden)

1930-1932 Assistenzarzt an den Medizinischen Universitätskliniken in Frankfurt am Main

1932-1938 Assistenzarzt, ab 1934 Oberarzt am Stadtkrankenhaus Hamburg-Altona, 1. Oberarzt der

Inneren Abteilung (unter Prof. Kroetz)

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 2817843, Eintritt: 01.05.1933)

1933 „Spezialausbildung in erbbiologischer Forschung“ bei Prof. Otmar von Verschuer

1934 Mitglied des Erbgesundheitsgerichts beim 1. Zivilsenat Hamburg

1934 Studienaufenthalt an der Medical School, University of London, bei Sir Thomas Lewis

1935 Mitglied des Erbgesundheitsobergerichts beim Oberlandesgericht Hamburg

1936 Habilitation an der Universität Kiel (damals für Altona zuständig)

1936-1938 Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebunds

1937 Bewerbung um Dozentur an der Hansischen Universität Hamburg (abgelehnt)

1938-1952 Beschäftigung an der Medizinischen Universitäts(poli)klinik Halle/Saale (mit Unterbre-

chungen durch Kriegsdienst und kurzzeitiger Entlassung 1945)

1938 Dozent für das Fach Innere Medizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Halle-

Wittenberg [offizielle Ernennung zum Dozenten am 10.07.1939]

1938-1945 Mitglied der Reichsdozentenschaft

1939 Assistentenstelle an der Medizinischen Universitätsklinik Halle/Saale

1939 „Die peripheren Durchblutungsstörungen“

1939-1940 Kriegsdienst, Abteilungsleiter im Reservelazarett Halle/Saale

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1940 Amtswalter im NS Dozentenbund

1940-1943 (Vertretung der) Oberarztstelle an der Medizinischen Universitätsklinik Halle/Saale

1941 Leiter des Auslandsamts der Deutschen Dozentenschaft an der Universität Halle-Wittenberg

1941 Nach Scheidung Heirat seiner Doktorandin Marie Luise Steckner (drei Kinder)

1942 „Die Sexualhormone als Heilmittel innerer Krankheiten“

1943 außerplanmäßiger Professor an der Universitätsklinik Halle/Saale

1943-1945 erneuter Einzug zum Kriegsdienst: Sanitätssoldat in Eilenburg, Truppenarzt in Zittau und

Rouen; im April 1945 erkrankt entlassen

1945 Entlassung durch die Universität Halle im Oktober; Wiedereinstellung auf Anweisung der SMA

Nach 1945 Mitglied der CDU [ab wann unklar]

1946 Leitung der Medizinischen Universitätspoliklinik in Halle/Saale

1946 erneute Ernennung zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Halle-Wittenberg

1948 ordentlicher Professor für Pathologische Physiologie an der Universität Halle-Wittenberg

1952 Übersiedelung in die BRD mit dem Ziel, in Nordrhein-Westfalen eine Forschungsklinik für Ge-

fäßkrankheiten einzurichten

1952 Gastprofessor an der Universität Köln

1953-1963 (bis zu seinem Tod) Ordinarius für Innere Medizin und Direktor der Medizinischen Klinik

Darmstadt; Aufbau des ersten angiologischen Forschungszentrums (Eröffnung Mai 1963), aus dem

später die nach ihm benannte Max-Ratschow-Klinik für Angiologie am Klinikum Darmstadt hervorging

1955 Organisation eines Kongresses deutscher Kreislaufforscher in Darmstadt

1959 Herausgeber des Standardwerks „Angiologie – Pathologie, Klinik und Therapie der peripheren

Durchblutungsstörungen“

1961 Vizepräsident der „Union Internationale d’Angèilogie“ in Paris

1962 Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung“

1962 Organisation des „Internationalen Angiologenkongresses“ in Darmstadt

1963 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg

1963 1. Direktor des neu gegründeten angiologischen Forschungszentrums in Darmstadt-Eberstadt

† 8. November 1963 in Darmstadt

Ehrungen:

1963 Max-Ratschow-Klinik für Angiologie am Klinikum Darmstadt

1968 Max-Ratschow-Preis (Gesellschaft für Angiologie)

1969 Ratschow-Gedächtnismedaille (Curatorium Angiologiae Internationalis)

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Wirken in der NS-Zeit

Max Ratschow gilt als Begründer der Fachdisziplin der Angiologie, dem Teilgebiet der Inne-

ren Medizin, das sich mit Erkrankungen der Arterien, Venen und Lymphgefäße befasst. Wäh-

rend der NS-Zeit war er als Arzt in leitender Funktion an Kliniken in Hamburg und Halle/Saale

sowie am Erbgesundheitsobergericht in Hamburg tätig.

„Politisch: Seit 21. November 1921 Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes. Seit

1933 Mitglied der NSDAP (2877843). Ich war Mitglied des Hanseatischen Erbgerichtes.“ [Und unter

„Berufliche Tätigkeit“:] „Auf Grund meiner erbbiologischen Spezialausbildung wurde ich ständiger

Fachrichter in beiden Kammern des Hanseatischen Erbgerichts“ (Lebenslauf 1938, UA Halle, Hervor-

hebung im Original).

Nach der Promotion an der Universität Breslau 1930 und der Arbeit als Assistenzarzt an der

dortigen Universitäts-Hautklinik arbeitete Max Ratschow zunächst als Assistenzarzt an den

Medizinischen Universitätskliniken in Frankfurt am Main (1930-1932). 1932 wechselte er an

das Stadtkrankenhaus nach (Hamburg-)Altona, wo er unter Prof. Kroetz (dem er dorthin ge-

folgt war) vom Assistenzarzt zum Oberarzt avancierte und schließlich bis 1938 die Innere

Abteilung leitete. Ein Forschungsaufenthalt führte ihn 1934 nach London (Medical School,

University of London, bei Sir Thomas Lewis); seine Habilitation erfolgte 1936 an der Universi-

tät Kiel, die zu dieser Zeit für Altona zuständige Hochschule. Eigentlich war Ratschow vorge-

sehen als Leiter des Balneologischen Instituts der Universität Breslau in Bad Altheide, dessen

Gründung aber offensichtlich scheiterte (wohl aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen,

Staatsarchiv Hamburg, 361-6; an anderer Stelle gab Ratschow an, er habe das Angebot „aus

persönlichen Gründen“ abgelehnt, BArch Berlin, BDC, VBS 1/1140004927).

Ratschow bewarb sich daraufhin 1937 wiederholt auf eine Dozentur an der Hansischen Uni-

versität in Hamburg; in Kiel hatte man sein Begehren abgelehnt, unter anderem mit dem

Einwand, dass nun (1937) die Universität Hamburg für Altona zuständig sei. Auch seitens der

Hansischen Universität stieß Ratschow auf Ablehnung: Der Dekan der Medizinischen Fakultät

begründete diese mit „grundsätzlichen Erwägungen“ (kein Bedürfnis, zudem wolle man kei-

nen Präzedenzfall schaffen und hiesigen Universitätsassistenten nicht „das Vorwärtskom-

men“ versperren). Die Fakultät war nicht gewillt, sich für eine Dozentur des externen Arztes

einzusetzen, der sich mit Nachdruck für eine Lehrtätigkeit empfahl:

„Über die Persönlichkeit des Herrn Dr. Ratschow äusserte sich Prof. Berg dahin, dass er von Herrn Dr.

Ratschow den Eindruck eines sehr strebsamen jungen Mannes erhalten habe, dem alles daran liege,

Dozent zu werden und dass offenbar Herr Ratschow ein sehr fleissiger Mensch – wenn auch nicht

von überragender Originalität – sei“ (Dekan Prof. Keeser, Staatsarchiv Hamburg, 361-6).

Eine Lehrtätigkeit für Innere Medizin erhielt Ratschow erst 1938 an der Medizinischen Fakul-

tät der Universität Halle-Wittenberg zugesprochen (offizielle Ernennung zum Dozenten im

Juli 1939, UA Halle). Nach einigen erfolglosen Anläufen 1941/42 wurde er dort 1943 zum

außerplanmäßigen Professor ernannt. Von April 1938 bis 1952 war er an der Medizinischen

Universitäts(poli)klinik Halle/Saale beschäftigt, mit Unterbrechungen durch Kriegsdienst und

einer kurzzeitigen Entlassung 1945. Von 1940 bis 1943 arbeitete er dort als Oberarzt (in Ver-

tretung); da eine Planstelle fehlte, durfte er sich nur im „inneren Dienstbetrieb“ als Oberarzt

bezeichnen.

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Politische Tätigkeit und Kriegsdienst

Ratschow war seit 1921 Mitglied des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbunds und seit

1933 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 2817843, Eintritt: 01.05.1933, BArch Berlin, BDC,

NSDAP-Mitgliederkartei). Seit 1938 war er Mitglied der Reichsdozentenschaft, 1940 wurde

er als Amtswalter im NS Dozentenbund geführt und ab 1941 bezeichnete er sich als Leiter

des Auslandsamts der Deutschen Dozentenschaft an der Universität Halle-Wittenberg; ab

1936 war er Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebunds (BArch Berlin, BDC,

VBS 1/1140004927, UA Halle, UA Heidelberg).

Eigenen Angaben zufolge (BArch Berlin, BDC, VBS 1/1140004927, UA Halle, UA Heidelberg)

durchlief Ratschow 1933 eine „Spezialausbildung in erbbiologischer Forschung“ bei Prof.

Otmar von Verschuer, Berlin. Aufgrund der dabei erworbenen Sonderkenntnisse war er

(wiederum eigenen Angaben in unterschiedlichen Lebensläufen vor 1945 folgend) seit 1934

„Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes beim 1. Zivilsenat Hamburg, 1935 Mitglied des Erbge-

sundheitsobergerichtes beim Oberlandesgericht Hamburg“ (BArch Berlin, BDC, VBS

1/1140004927). Wie oben bereits dokumentiert, bezeichnete er sich als „ständiger Fachrich-

ter in beiden Kammern des Hanseatischen Erbgerichts“.

Aufgrund der eingesehenen Bestände des Erbgesundheitsgerichts Hamburg (Staatsarchiv

Hamburg, 224-2) und des Erbgesundheitsobergerichts Hamburg (Staatsarchiv Hamburg, 224-

1) ließen sich Ratschows Angaben nicht bestätigen; sein Name fand sich in keiner der tra-

dierten Listen zu Mitgliedern des Erbgesundheits- bzw. Erbgesundheitsobergerichts (Perso-

nalakten des Stadtkrankenhauses Altona konnten nicht ermittelt werden). Als problematisch

erwies sich, das relevante Bestände noch Sperrfristen unterliegen (darunter die Beschlüsse

der beiden Gerichte). Zudem befinden sich in den genannten Beständen keine Akten, son-

dern lediglich Register und Beschlüsse zu Einzelfällen. Die eigentlichen Akten wurden zur

Ablage an die zuständigen Gesundheitsämter verwiesen, deren Bestände (wenn überhaupt

vorhanden) unzureichend erschlossen und ebenfalls noch mit Sperrfristen belegt sind

(Staatsarchiv Hamburg, 352-11). Festhalten lässt sich jedoch, dass Max Ratschow offensicht-

lich nicht als offizielles Mitglied in die genannten Gerichte berufen wurde. Die beschlussfas-

senden Gerichte bestanden aus drei Personen, wovon zwei Ärzte waren (jeweils ein verbe-

amteter Arzt und ein freier Arzt). Die Bestellungen der Mitglieder des Erbgesundheitsge-

richts sowie des Erbgesundheitsobergerichts Hamburg liegen vor (Staatarchiv Hamburg, 224-

1_3 Band 1 + 2; 224-1_4); Max Ratschows Name fehlt darauf. Auf welcher Ebene und in wel-

cher Form Ratschow an den Gerichten tätig war, ließ sich nicht ermitteln.

Das Erbgesundheitsgericht Hamburg hatte die Aufgabe, über Anträge auf die „Unfruchtbar-

machung erbkranker Personen“ zu entscheiden. Allein 1934, im ersten Jahr seiner Tätigkeit,

fasste das Erbgesundheitsgericht Hamburg 2.270 Beschlüsse, die etwa jeweils zur Hälfte

männliche und weibliche Personen betrafen (Staatsarchiv Hamburg, 224-1_3 Band 1); in 76

Fällen wurde die Unfruchtbarmachung abgelehnt. In der Zeit vom 03.01.-03.04.1935 wurden

weitere 1.000 Fälle verhandelt, bei deutlich über 90 % eine „Unfruchtbarmachung“ be-

schlossen, die in der Regel auch umgesetzt wurde (eigene Auswertung, Staatsarchiv Ham-

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burg, 224-2_25; in den Registerbänden findet sich auch die Umsetzung der „Unfruchtbarma-

chung“ mit Datum dokumentiert).

Das Erbgesundheitsobergericht Hamburg entschied über Beschwerden zu Beschlüssen der

Erbgesundheitsgerichte Hamburg, Bremen und Lübeck. In der Regel wurden die Beschwer-

den abgelehnt: Von über 390 statistisch erfassten Eingaben im Jahr 1934 wurden lediglich 14

als begründet angesehen. Der Bestand zum Jahr 1935 umfasst über 1.000 Vorgänge (Staats-

archiv Hamburg, 224-1_11 Band 2 + 3).

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Ratschow wiederholt eingezogen (zum Folgenden

Deutsche Dienststelle, Personenrecherche; Informationen decken sich mit Angaben aus an-

deren Beständen). 1939-1940 diente er als Abteilungsleiter im Reservelazarett Halle/Saale.

In einem Lebenslauf aus dem Jahr 1944 vermerkte Ratschow diesgezüglich: „1939 auf frei-

willige Meldung Einsatz als Kriegsarzt und Abteilungsarzt eines ResLazarettes“ (04.01.1944,

BArch Berlin, BDC, VBS 1/1140004927). Nachdem er im April 1943 erneut eingezogen wor-

den war (beantragte Uk-Stellungen wurden nicht stattgegeben, UA Halle), leistete er seinen

Dienst als Sanitätssoldat in Eilenburg sowie als Truppenarzt in Zittau und Rouen; im April

1945 wurde er erkrankt entlassen.

NS-Vergangenheit in der Sicht nach 1945

Da Max Ratschow in der sowjetischen Besatzungszone lebte, musste er sich keinem Entnazi-

fizierungsverfahren gemäß der Standards der westlichen Besatzungszonen unterziehen. Er

sah sich aber ebenfalls dazu verpflichtet, wahrheitsgemäß Fragebögen der sowjetischen

Administration auszufüllen (UA Halle). Darin gab er auf die Frage „Waren Sie jemals Mitglied

der NSDAP?“ zunächst „nein“ zu Protokoll, überschrieb die Maschinenschrift handschriftlich

jedoch mit: „1933 corporativ zur Aufnahme gemeldet. 1936 wurde Aufnahme abgelehnt

(Dokument vorhanden)“ (15.03.1947, UA Halle).

Über die gesamte NS-Zeit hatte sich Ratschow stets als Mitglied der NSDAP (unter Nennung

seiner Mitgliedsnummer) bezeichnet. Nun gab er auf kritische Nachfragen zu Protokoll, dass

er sich nicht habe als NSDAP-Mitglied betrachten können und aus diesem Grund die Formu-

lierung im Fragebogen entsprechend gewählt habe. Er begründete seine Auffassung wie

folgt:

„Meine Anwartschaft ist niemals in tatsächliche Mitgliedschaft umgewandelt worden, da mir nur

eine Bescheinigung im Jahre 1936 und kein Mitgliedsbuch ausgehändigt worden ist. Ich habe daher

bei meinem Wohnungswechsel nach Halle/Saale im Jahre 1938 auch eine Anmeldung bei einer der

Ortgruppen der NSDAP nicht vollzogen“ (Aktenvermerk vom 14.04.1947, gezeichnet M. Ratschow,

UA Halle)

Ähnlich argumentierte Ratschow auch in einer Entgegnung zu Vorwürfen, die im „Telegraph

Politik“ vom 09.05.1947 unter der Überschrift „Nazis an der Universität Halle“ ihm gegen-

über erhoben wurden:

„Es stimmt, daß ich im Zuge der ‚Gleichschaltung der Hamburger Assistenten‘ 1933 korporativ zur

Aufnahme in die ehemalige NSDAP und den Ärztebund gemeldet wurde. Der Artikel verschweigt

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aber, daß meine Aufnahme im Jan[uar] 1936 vor zahlreichen Zeugen in einer öffentlichen Sitzung

abgelehnt wurde, worüber ich noch ein schriftliches Zeugnis besitze“(11.05.1947, Erklärung, UA Hal-

le).

In Ratschows Personalakte (UA Halle, PA 12801 Ratschow, Max Prof.) finden sich (beglaubig-

te) Schreiben, die belegen sollen, dass Max Ratschow kein Nazi und auch kein Mitglied der

NSDAP war, darunter auch die Abschrift eines Briefs von Dr. Herta Schmidt vom 03.02.1936.

In dem Schreiben legt Schmidt, NS-Frauenschaftsleiterin, dar, dass der Ortsgruppenleiter der

NSDAP Altona ihm (Ratschow) das Mitgliedsbuch nicht aushändigen würde. Er ließe sich

auch nicht umstimmen, da Ratschow unter anderem zu lange mit jüdischen Kollegen ver-

kehrt habe und wegen seiner Nähe zu Prof. Kroetz als „Sozi“ galt. Auf Ratschows Partei-

Karteikarte (BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei) findet sich wie erwähnt unter „Ein-

getreten“ das (Stempel-)Datum „1.5.33“. Es gibt aber auch einen Eintrag unter „Ausgetre-

ten“, der sich möglicherweise auf einen internen Vorgang bezieht (unleserliches Aktenzei-

chen, ohne Datum). Unter „Wiedereingetr[eten]“ ist als Datum der „30.6.36“ vermerkt.

Ratschow wird in der Kartei zunächst unter „Ortsgr[uppe] Rostock“ geführt, weiterhin unter

„Ortsgr[uppe] Altona“, „Ortsgr[uppe] Hamburg“ (unter gleicher Adresse – Altona gehörte

1937 nicht mehr zum Gau Schleswig-Holstein, sondern zum Gau Hamburg) und unter

„Ortsgr[uppe] Halle“. Ratschow hingegen beteuerte (wie oben zitiert), er habe sich bei sei-

nem Umzug nach Halle deshalb nie bei der dortigen Ortsgruppe gemeldet, weil er davon

ausgegangen sei, er sei gar kein Mitglied der NSDAP.

In der erwähnten Gegendarstellung äußerte sich Ratschow auch zu der Feststellung im „Te-

legraph“, er habe eine „Ausbildung in erbbiologischen Untersuchungsmethoden am Institut

für Erb- und Rassenlehre in Berlin-Dahlem“ erhalten:

„Es stimmt, daß ich im Feb[ruar] 1933 3 Wochen am KWI für Anthropologie und Erbforschung bei

Prof. Verschuer gearbeitet habe, um die Methode der Zwillingsforschung zu erlernen, welche ich für

eigene wissenschaftliche Arbeiten brauchte. Das seit 1926 bestehende Institut hat niemals einen

politischen Charakter gehabt, wohl aber internationale Anerkennung. Prof. Verschuer ist auch heute

noch Ordinarius für das gleiche Fach“ (11.05.1947, Erklärung, UA Halle).

Prof. Otmar Freiherr von Verschuer, Humangenetiker und Zwillingsforscher, gilt als einer der

führenden Rassenhygieniker der NS-Zeit (Klee, S. 639). Er war Direktor des Instituts für Erb-

biologie und Rassenhygiene in Frankfurt am Main und Richter am Erbgesundheitsobergericht

sowie (laut Klee) verantwortlich für die Versuche seines Assistenten und Doktoranden Josef

Mengele in Auschwitz. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre

und Eugenik, dessen Mitglied (und seit 1942 dessen Direktor) Verschuer war, lieferte die

„wissenschaftliche“ Legitimitätsgrundlage für die Erbgesundheits- und Rassenpolitik des NS-

Regimes (Schmuhl, S. 531).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch Berlin, BDC, VBS 1/1140004927

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Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

Staatsarchiv Hamburg, 361-6 Hochschulwesen-Dozenten- und Personalakten, Signatur: IV 0816

Staatsarchiv Hamburg, 113-5 Staatsverwaltung - Allgemeine Abteilung, Signatur: B V 92 b UA 12

Staatsarchiv Hamburg, 224-1 Erbgesundheitsobergericht

224-1_3 Band 1 + 2

224-1_4 Beisitzer des Erbgesundheitsobergerichts

224-1_6 Statistik über Einzelfälle 1935-1938

224-1_9 Terminlisten des Erbgesundheitsobergerichts

224-1_9 Band 1 (1935) und 224-1_9 Band 2 (1936-1939)

224-1_11 Sammlung der Beschlüsse in Beschwerdesache des Erbgesundheitsobergerichts [Sperrfrist]

Staatsarchiv Hamburg, 224-2 Erbgesundheitsgericht

224-2_1 Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichts 1934 [Sperrfrist]

224-2_2 Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichts 1935 [Sperrfrist]

224-2_22-42 [Registerbände]

UA Halle, PA 12801 Ratschow, Max Prof.

UA Heidelberg, PA 1120

UA Heidelberg, PA 5405

StadtA DA, ST 61 Ratschow, Prof. Dr., Max

Literatur:

Eberle, Henrik: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Halle 2002.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am

Main 42013.

Ratschow, Max: Die Sexualhormone als Heilmittel innerer Krankheiten. Stuttgart 1942.

Schmuhl, Hans-Walter: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,

menschliche Erblehre und Eugenik 1927-1945. Göttingen 2005.

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Hammerweg (L 8), benannt 1979 nach

Richard Hammer (1897-1969)

Darmstädter Arzt und Politiker

* 7. Februar 1897 in Darmstadt

Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt; Mitglied der Wandervogel-Bewegung

1914-1917 Soldat (Infanterist) im Ersten Weltkrieg (siebzehnjährig Kriegsfreiwilliger), 1917 schwer

verwundet entlassen (Oberkieferdurchschuss)

1919-1923 Studium der Medizin in Heidelberg und Innsbruck

1923 Promotion zum Dr. med. in Heidelberg „Formen der Sexualität in der Jugendbewegung“

Ab 1923 Arbeit als niedergelassener Arzt (Allgemeinmediziner) in Darmstadt-Bessungen

1924-1930 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (ab 1925 im Vorstand)

1927 Heirat mit Anna Becker (vier Kinder)

1930-1933 Mitglied der Radikaldemokratischen Partei (2. Vorsitzender Ortsgruppe Darmstadt)

Bis ca. 1945 Mitglied folgender Organisationen: SA (Reserve II), NS-Reichskriegerbund „Kyffhäuser“,

NSRL, NSV, RLB, RKB

1939-1945 Anwärter des NS-Ärztebunds (seit 16.01.1939)

1939-1945 Kriegsteilnehmer, Truppenarzt und Chefarzt verschiedener Sanitätseinheiten: bis 1942

Regimentsarzt eines Infanterie-Regiments, ab 1943 SOberstabsarzt

1945 Amerikanische Kriegsgefangenschaft

Ab 1946 Präsident der Ärztekammer Darmstadt

Ab 1946 Mitglied der FDP (bis 1948 unter dem Namen LDP)

1946-1949 Abgeordneter des Hessischen Landtags (LDP)

1948/49 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Darmstadt (LDP/FDP), Fraktionsvorsitzender,

Mandatsniederlegen wegen Wahl zum MdB

1948 Vorsitzender des FDP-Kreisverbands Darmstadt (anfangs noch LDP)

Präsident der Aktionsgemeinschaft deutscher Kassenärzte

1949-1957 Mitglied des Deutschen Bundestags (FDP); Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Aus-

schusses im I. und im II. Deutschen Bundestag, Mitglied des Sozialausschusses

1960 Gründungsmitglied der „Aktionsgemeinschaft der deutschen Ärzte“

1960 erneute Wahl zum Kreisvorsitzenden des FDP-Kreisverbands Darmstadt

† 3. Oktober 1969 in Darmstadt

Ehrungen:

Ca. 1917 Eisernes Kreuz I. Klasse sowie Hessisches Kriegsehrenzeichen in Eisen

1956 Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der BRD

1958 Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft

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1958 Ehrenvorsitzender des FDP-Kreisverbands Darmstadt [1960 nochmals zum Kreisvorsitzenden

gewählt; Rücktritt wohl aus gesundheitlichen Gründen (Herzinfarkt)]

1962 Ehrenmitglied der hessischen FDP

1962 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

Ehrenplakette der Landesärztekammer Hessen

Dr.-Richard-Hammer-Medaille der Hessischen Ärztekammer

Wirken in der NS-Zeit

Richard Hammer, Darmstädter Arzt und Politiker, lebte Zeit seines Lebens in Darmstadt (Bes-

sungen). Er war nach dem Zweiten Weltkrieg in der Lokal- und Landespolitik aktiv, MdB für

die FDP (1949-1957) und Vorsitzender der Darmstädter Ärztekammer.

Hammer arbeitete seit 1923 als Allgemeinmediziner in seiner Bessunger Praxis. Während des

Zweiten Weltkriegs diente er als Sanitäts-Offizier der Wehrmacht. Eingesetzt wurde er

hauptsächlich an der Ostfront, bis 1942 als Truppenarzt (Regimentsarzt eines Infanterie-

Regiments), ab März 1943 befördert zum Oberstabsarzt (1942-1944 am Heeres-

Genesungsheim 803 Gaspra-Koreis, Krim, dann am Armee-Feldlazarett 770, Deutsche

Dienststelle [WASt], Personenrecherche). 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangen-

schaft.

Vor 1933 war Hammer ehrenamtlich politisch aktiv. Er stand den Gedanken Friedrich

Naumanns nahe, war im Vorstand der Darmstädter DDP und später der Radikaldemokrati-

schen Partei. Noch 1932 trat er als Demokrat bei einer Kundgebung an der Seite von Julius

Reiber in Erscheinung (Hessischer Volksfreund vom 14.06.1932, für den Hinweis danke ich

Peter Friedl).

Über Hammers Wirken in der NS-Zeit gibt es relativ wenige Informationen. Er war offensicht-

lich kein Mitglied der NSDAP. Seit 16.01.1939 wurde er als Anwärter des NS-Ärztebunds ge-

führt. Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens gab er folgende Mitgliedschaften zu Proto-

koll: (NS-)Reichskriegerbund „Kyffhäuser“, NSRL, NSV, RKB, RLB. Er verneinte im entspre-

chenden Meldebogen eine Mitgliedschaft in der SA. Wie die Forschungen von Albrecht

Kirschner zur „NS-Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter“ (Kirschner,

S. 34) sowie ein Eintrag in Richard Hammers Karteikarte bei der Reichsärztekammer Berlin

belegen, wurde er allerdings als Mitglied der SA geführt (Reserve II, Zeitraum nicht zu bele-

gen).

Richard Hammer war als Jugendlicher in der Wandervogel-Bewegung aktiv. Hier kam er mit

Carlo Mierendorff in Kontakt, mit dem gemeinsam er das Gymnasium in Darmstadt besuchte

und Abitur machte. Auch Theodor Haubach war einer der Mitschüler; Hammer und Haubach

studierten schließlich beide in Heidelberg. Anders als für Mierendorff und Haubach gibt es

für Richard Hammer keine Hinweise auf Widerstand gegen das NS-Regime. Wahlkampfwer-

bung aus den Jahren 1949 und 1953 (StadtA DA, St 61 Hammer, Dr. Richard), die den FDP-

Bundestagskandidaten Richard Hammer persönlich vorstellte, lässt ihn als Liberalen mit

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deutlich nationalistischen Zügen erscheinen. Mit Blick auf Fahrten in der Schulzeit nach

Böhmen und in die Steiermark hieß es darin 1953:

„In früher Jugend lernte er so den schweren Existenzkampf seiner ostdeutschen Brüder kennen und

wurde zum leidenschaftlichen Verfechter des Großdeutschen Gedankens. Zeit seines Lebens wird er

ein Feind aller föderalistischen und partikularistischen Bestrebungen bleiben.“

Auf dem gleichen Wahlwerbezettel fand sich ein Foto von Richard Hammer in Wehrmachts-

uniform, das ihn – Zigarre rauchend – im Kreise von Kameraden an der Ostfront abbildet

(Bildunterschrift: „Ende Sept. 1941 zwischen Kiewer Kessel und Donez“). Im dazugehörigen

Text hieß es (ungekürzt):

„In beiden Weltkriegen war Richard Hammer Soldat. Richtiggehend dabei. In Frankreich, Rußland und

auf dem Balkan. Der Oberkieferdurchschuss hinderte ihn nicht, auch im zweiten Weltkrieg wieder

seine Pflicht zu tun. Nur nicht wieder als Infanterist, sondern als Arzt, der vielen tausenden seiner

Kameraden das Leben retten und die Schmerzen lindern konnte. Vom ersten Tage, bis zum bitteren

Ende an der Ostfront, dann in amerikanischer Gefangenschaft. Das EK I und das Hessische Kriegseh-

renzeichen in Eisen sind ihm bis heute die teuersten Auszeichnungen.“

Unter der Überschrift „Darmstadts Kandidat erklärt:“ finden sich unter seinen Forderungen

(an zweiter Stelle): „Der Entnazifizierungsrummel ist noch nicht ganz vorüber. Auch Spruch-

kammer-Akten gehören in den Ofen!“; unter Punkt sechs von sieben proklamierte Hammer

„Die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches mit der Reichshauptstadt Berlin“. Hammers

Ablehnung der Entnazifizierungsverfahren (auch für die Gruppen I und II), die er im Bundes-

tag 1950 offensiv vertrat, war „von abstrusen Ressentiments gegen die Alliierten begleitet“

(Frei, S. 63).

In seiner Funktion als Präsident der Darmstädter Ärztekammer sowie als politischer Man-

datsträger und Mitglied gesundheitspolitischer Ausschüsse hatte Hammer in der Nachkriegs-

zeit gewissen Einfluss auf Entscheidungen im Bereich des Gesundheitswesens. So setzte er

sich im Juni 1946 persönlich dagegen ein, politisch belasteten Ärzten die Zulassung zu ver-

weigern (Gerst, S. 48, FN 160). Zeitgleich soll er die Wiederzulassung von Walther Richtzen-

hain, zeitweise Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft in Darmstadt, als praktizie-

render Arzt in Darmstadt blockiert haben (siehe DFG-VK Darmstadt). In der jüngst veröffent-

lichten Publikation zur „Geschichte der hessischen Ärztekammern 1887-1956“ fanden sich

keine weiteren Informationen.

In einem Beitrag des Darmstädter Tagblatts vertrat der Autor die Auffassung, dass Richard

Hammer „versuchte im Strudel nach dem zweiten Weltkrieg verbliebene Anständigkeit, Stolz

auf Heimat und Vaterland herauszufischen[,] neue Dämme zu bauen“ (DT vom 01.03.1952).

Bereits in seinem ersten Diskussionsbeitrag im Deutschen Bundestag am 23.02.1950 hatte

Hammer kundgetan, was er unter „freiheitlicher Gesundheitspolitik“ verstand: „Der Wohl-

fahrtsstaat ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Polizeistaats“.

Auf dem Meldebogen zum Entnazifizierungsverfahren gab Hammer als Grund für die von

ihm geforderte Einordnung als „Nicht belastet“ an, dass er „Stadtbekannter Antifaschist“ sei.

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102

Am 11.04.1947 wurde er als „Nicht betroffen“ von der Spruchkammer Darmstadt-Stadt ein-

gestuft.

Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 518480

HStAD, H 3 Nr. 3815

HStAD, N 5 Nr. 111

HStAD, O 59 Koch Nr. 26

AdJb Bestand B Nr. B/205/031 [Dissertation 1923: Formen der Sexualität in der Jugendbewegung]

StadtA DA, ST 61, Hammer, Dr. Richard

[http://www.dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/HammerRichard.htm] Zugriff: 19.09.2016

Literatur:

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Darmstadt 2007.

Dotzert, Roland: Hammer, Richard. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 345 f.

Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit.

München 1996.

Gerst, Thomas: Ärztliche Standesorganisation und Standespolitik in Deutschland 1945-1955. Stuttgart

2004.

Hafeneger, Benno/Velke, Marcus/Frings, Lucas: Geschichte der hessischen Ärztekammern 1887-

1956. Autonomie – Verantwortung – Interessen. Schwalbach im Taunus 2016.

Kirschner, Albrecht: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie „NS-Vergangenheit ehemaliger

hessischer Landtagsabgeordneter“ der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvor-

haben „Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen“. Wiesbaden 2013.

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103

Kriegerweg (K 9-10), benannt 1979 nach

Arnold Krieger (1904-1965)

Schriftsteller

* 1. Dezember 1904 in Dirschau an der Weichsel

1912-1920 Besuch des Humanistischen Gymnasiums in Thorn

1920-1923 Besuch des Marienstiftsgymnasiums in Stettin (Abitur 1923)

1924-1927 Studium der Philologie an Universitäten in Greifswald, Göttingen und Berlin

1926 Heirat mit Charlotte Sonja Raykowski, ein Kind [Trennung ca. 1930]

1927 Uraufführung von „Opfernacht“ (erstes Drama) im Stadttheater Stettin

1930-1933 Mitglied der Gesellschaft der Friedensfreunde

1932 Umzug nach Rauchfangswerder in der Nähe von Berlin; ab 1933 verschiedene Adressen, darun-

ter in Stettin und Berlin

1933-1945 Mitglied der Reichsschrifttumskammer

1934 Romane „Mann ohne Volk“, „Spielraum für Monika“ und „Das Blut der Lysa Gora“ bei Rowohlt

1935 „Ein Menschenherz – was weiter?“

1936 „Christian de Wet“ (Drama)

1940/41 Propagandafilm „Ohm Krüger“ nach dem Roman „Mann ohne Volk“ von Arnold Krieger

1941 „Der dunkle Orden“

1941 „Das erlösende Wort“ (Lyrik)

1941-1945 Hauptwohnsitz in Misdroy (heute Insel Wollin, Polen)

1942 Heirat mit Blanka Maria „Tuja“ Koutny, drei Kinder

1942 „Empörung in Thorn“, „Das Urteil“

1944 „Das schlagende Herz“ (Lyrik)

1944/45 Veröffentlichungen in der Wochenzeitschrift „Das Reich“

1945-1947 Wohnsitz in Passau

1947/48 nach kurzem Aufenthalt in Bad Oberdorf (September 1947) Wohnsitz in Oberstdorf/Allgäu

1948-1953 Aufenthalt in der Schweiz

1953 „Zwei zogen aus“ (autobiografischer Bericht)

1953/54 Umzug nach Darmstadt (auf Einladung von OB Ludwig Engel)

1954 „Sehnsucht und Bindung“ (Lyrik)

1955 Roman „Geliebt, gejagt und unvergessen“ (Afrika-Epos; Kriegers größter literarischer Erfolg)

1957 Gründung des Verlags „Studio Schaffen und Forschen“ in Darmstadt

1958 „Reichtum der Armen“ (Lyrik)

1959 Gründung des „Weltbunds freier Menschen“

1963 „Der Kuckuck und die Zerreißprobe“

† 9. August 1965 in Frankfurt am Main

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Ehrungen:

1967 Gründung des „Freundeskreises Arnold Krieger e. V.“

1971 Eiche und Gedenktafel (Platte) für Arnold Krieger im Herrengarten Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Arnold Krieger lebte und arbeitete seit 1953/54 als Schriftsteller in Darmstadt. Aus der Zeit

zwischen 1933 und 1945 stammen mindestens ein Dutzend Veröffentlichungen, für die Krie-

ger verantwortlich zeichnete.

Krieger war weder Mitglied in der NSDAP noch in einer ihrer Unterorganisationen, von 1933

bis 1945 allerdings Mitglied der RKK (Reichsschrifttumskammer A 1214); im Zuge seines Ent-

nazifizierungsverfahrens konnten keine Mitgliedschaften in weiteren NS-Organisationen

festgestellt werden. Vom Militärdienst war er eigenen Angaben zufolge aus gesundheitlichen

Gründen ausgeschlossen („Nach sorgfältigen militärärztlichen Untersuchungen zum Militär-

dienst nicht herangezogen“, StAM).

Nach 1945 bestritt Krieger vehement Gerüchte, wonach er „sich mit den Nazis ganz gut

stünde“ (BArch Berlin, BDC, R 9361-V/146043). Seine Bücher seien frei von nationalsozialisti-

scher Ideologie; zwei geheim gehaltene Manuskripte stellten eine „vernichtende Kritik des

Nationalsozialismus“ dar; lediglich der Roman „Das Urteil“ enthalte eine „partielle Bejahung“

des Nationalsozialismus, „aber nur, damit die Anklage desto schärfer herauskommt, die ich

gegen die unmenschliche Zerstörung der gottgewollten Ehen durch den Nationalsozialismus

erhebe“ (Krieger, 10.06.1947, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/146043; auch StAM). Gegen sei-

nen Willen sei sein Roman „Mann ohne Volk“ als Vorlage für den NS-Propagandafilm „Ohm

Krüger“ verwendet worden; er sei dagegen sogar gerichtlich vorgegangen, jedoch erfolglos

[sein Name wurde im Vorspann genannt]. 1936 sei ihm der Pass entzogen worden, was seine

geplante Emigration (nach Dänemark) verhindert habe. Er zog daraufhin an die Ostsee, nach

Misdroy (Insel Wollin, heute Polen), wo er bis Januar 1945 in einem abgelegenen Anwesen

„unbehelligt arbeiten konnte“ (Dierks). Zwischen 1935 und 1939 konnte (seinen Ausführun-

gen zufolge) keines seiner Werke erscheinen. Er habe 1933-1945 keine einzige öffentliche

Rede gehalten, sah sich wiederholt Anfeindungen der NS-Presse ausgesetzt und sein schrift-

stellerisches Werk be- bzw. verhindert. 1942 heiratete er in zweiter Ehe Blanka Maria (ge-

nannt Tuja) Koutny, der er den Roman „So will es Petöfi“ (1942) widmete. Tuja Krieger berief

sich in ihrem Entnazifizierungsverfahren auf ihren Mann:

„Mein Verhältnis zur Partei ergibt sich aus der Tatsache, daß ich die Frau des Dichters Arnold Krieger

bin und an seiner tief begründeten Abwehrhaltung und seinem Ringen mit ganzer Kraft teilgenom-

men habe“ (04.05.1946, Staatsarchiv Landshut).

Demgegenüber stehen erklärungsbedürftige Einnahmen, die sich 1940 auf über 20.000 RM

beliefen, 1941 gar auf über 32.000 RM (1942: nochmals über 25.000 RM). Gegenüber der

Reichsschrifttumskammer erklärte Arnold Krieger:

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„Das Jahr 1940 brachte mir nach siebenjährigem Ringen endlich einen großen Aufschwung. Allerdings

sind die Betriebsausgaben, Kosten für Gehälter usw. riesig angewachsen. Nur mit größten finanziel-

len Anstrengungen (Reisen, viele Ferngespräche usw.) ist es mir gelungen, auch die Bühne bis zu ei-

nem gewissen Grade zu erobern“ (Anlage zur Erklärung für die Reichsschrifttumskammer [ohne Da-

tum], BArch Berlin, BDC, R 9361-V/25975).

In Frage-/Meldebögen 1946/47 gab Krieger für den Zeitraum 1933-1945 als „durchschnittli-

ches Jahreseinkommen drei-viertausend Mark“ zu Protokoll; im Meldebogen vom Mai 1946

nannte er für das Jahr 1938 ein zu versteuerndes Einkommen von 4.000, für 1943 von 6.000

RM (die Jahre 1939-1942 wurden nicht abgefragt, StAM). Der größte Teil seiner Einkünfte

resultierte (laut seiner eigenen Erklärungen an die Reichsschrifttumskammer) aus „Buchver-

öffentlichungen“. Tatsächlich erschienen während des Zweiten Weltkriegs (1939-1942) min-

destens sieben Titel Arnold Kriegers neu oder in Neuauflage, teils im nationalsozialistischen

Eher-Verlag, teils (in großer Auflage) bei Heyne und bei Kiepenheuer. Sechs davon standen

nach 1945 auf der „Liste der auszusondernden Literatur“ (Anfrage des Öffentlichen Klägers

der Spruchkammer Passau vom 31.05.1947, StAM; die in Leipzig veröffentlichte Liste galt

wohl nur in der SBZ). Des Weiteren erschienen die Gedichtbände „Das erlösende Wort“

(1941) und „Das schlagende Herz“ (1944). Beide Bände hatten – so wiederum Krieger – nur

gegen erheblichen Widerstand, nach jahrelangem Ringen, trotz „Schikanen“ erscheinen kön-

nen.

Bemerkenswert erscheint zudem, dass Krieger 1944/45 als Autor der NS-Wochenzeitung

„Das Reich“ in Erscheinung trat, zu dieser Zeit neben dem „Völkischen Beobachter“ das auf-

lagenstärkste NS-Presseorgan. Die seit 1940 erscheinende Zeitung sollte stärker als andere

NS-Blätter journalistisch hochwertige Artikel vereinen, mit einem starken Schwerpunkt auf

kulturellen Themen, verfasst von renommierten Journalisten und Schriftstellern. Ein Redak-

teur der Zeitung sprach rückblickend von „Nationalsozialismus im Frack“ (Reichel, S. 178);

unter den Autoren fanden sich auch Persönlichkeiten wie Max Planck und Theodor Heuss

(siehe auch Biografie Karl Krolow). Stilistisch wie inhaltlich sollte sich die Zeitung von der

gleichgeschalteten NS-Presse abheben, die sich zunehmend als Problem entwickelt hatte.

Dazu genoss das Blatt gewisse Freiheiten – die Leitartikel verfasste allerdings Joseph Goeb-

bels persönlich, der am 16. Januar 1940 in seinem Tagebuch notiert hatte: „Neuen Dichter

entdeckt. Arnold Krieger. Namen merken!“ (so Klee, S. 340). Arnold Krieger war 1944 mit

mindestens drei Beiträgen vertreten („Stell dich dem Schmerz“, „Das Zeichen“, „Das schla-

gende Herz“), noch im Januar 1945 erschien sein Gedicht „Die lesende Geliebte“ (DFG-VK

Darmstadt). Aus welchen Gründen auch immer Autoren in „Das Reich“ publizierten, lassen

sich die Beiträge doch mindestens als „Arrangieren“ mit dem NS-Regime deuten:

„Auch wenn Das Reich zahlreiche Nicht-Nazis beschäftigte, eine Insel des publizistischen Widerstands

war es deshalb nicht, konnte es nach Lage der Dinge auch nicht sein. […] Ob die Mitarbeiter dieses

Blattes für ‚Enthüllungsleser‘ schrieben oder fürs bloße Überleben, sie waren unweigerlich verstrickt

in das Dilemma von Anpassung und Kollaboration. Ihr Handlungsspielraum war denkbar gering. Vor

Verweisen und Entlassungen waren auch sie nicht sicher. Andererseits erfüllten sie als Angehörige

der Intelligenz mit ihrem Schreiben eine objektive gesellschaftliche Funktion, waren sie das publizisti-

sche Aushängeschild eines Regimes, das die Meinungsfreiheit verachtete und verfolgte. Von welcher

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subjektiv-oppositionellen Motivation sie auch immer geleitet waren, ihr Schreiben schönte das ver-

brecherische Gesicht des Dritten Reiches“ (Reichel, S. 178).

In der biografischen Literatur zu Arnold Krieger überwiegt die Darstellung des Gewalt ver-

achtenden, humanistischen Schriftstellers. Entsprechend hielt Roland Dotzert im Stadtlexi-

kon Darmstadt zu Kriegers Wirken fest:

„In seiner literarischen Arbeit setzte er sich ein für Humanität und vorbeugende Friedensforschung

mit dem Wunsch nach einem Ausgleich zwischen Rassen und Religionen. Diese Grundeinstellung

führte zu mehrfacher Heimatlosigkeit, Wanderschaft, Aufbau neuer Heimat und erneutem Zusam-

menbruch. Seine Abneigung gegen alle Gewalt führte zur Konfrontation mit den Nationalsozialisten.

Sein erster Gedichtband ‚Das erlösende Wort‘ wurde 1941 als ‚entartet‘ eingestuft. Krieger wollte

nach Dänemark emigrieren; die Gestapo vereitelte dies durch Passentzug. Nach dem Krieg emigrierte

er schließlich in die Schweiz, wo er in bürokratische Konflikte mit der Fremdenpolizei kam.“

Carl Steiner hatte in seinem Beitrag („Arnold Kriegers Lyrik. Gesänge eines gläubigen Huma-

nisten“) in der Jubiläumsschrift des Verlags „Studio Schaffen und Forschen“ 1994 bereits

konstatiert:

„Nachdem sein [Kriegers] erster Gedichtband ‚Das erlösende Wort‘ 1941 von den Nationalsozialisten

als ‚entartet‘ eingestuft wurde, war das politische Urteil der damaligen Zeit über ihn und sein Werk

gefällt. An wahre und zeitlos-menschliche Werte dachte man damals nicht“ (Studio Schaffen und

Forschen, S. 15).

Nach seiner Flucht von Hiddensee im Januar 1945 lebte Krieger bis 1947 in Passau (erst 1948

zog er in die Schweiz). Vor der Spruchkammer Passau-Stadt fand 1946/47 denn auch sein

Entnazifizierungsverfahren statt (zum Folgenden siehe StAM). Auf die Frage hin, welcher

„Naziorganisation“ er angehörte, gab er zu Protokoll: „keiner, nicht einmal der NSV, da mir

jede Nazi-Organisation verhasst war“ (Hervorhebung im Original). Er bezeichnete sich wei-

terhin als „Gegner des Nationalsozialismus und Militarismus“. Zu den Vorwürfen seiner

ehemaligen Vermieterin, es seien in der NS-Zeit zahlreiche Veröffentlichungen Kriegers er-

schienen und der Film „Ohm Krüger“ basiere auf einem seiner Romane, bezog er wie oben

geschildert Stellung. An der Einschätzung als „Vom Gesetz nicht betroffen“ [Stempel auf

Meldebogen ohne Datum] änderte auch der Vorwurf nichts, er habe in Misdroy unbehelligt

in einer Villa leben können, was für einen Verfolgten des NS-Regimes, als welchen er sich

geriere, doch sehr unwahrscheinlich wäre.

Aufgrund seiner autobiografischen Veröffentlichung „Zwei zogen aus“ (1953), in der sich

Krieger negativ mit seinem Aufenthalt in der Schweiz auseinandersetzte, geriet er in der

Schweiz heftig in die Kritik. Er wurde als „Hochstapler“ bezeichnet, der zeitweise eine teure

Villa gemietet, gleichzeitig aber die Kostgeldschulden für sein Kind nicht bezahlt habe. Zu-

dem wurde ihm zur Last gelegt, er habe sich als Flüchtling und Opfer des Nationalsozialismus

ausgegeben, „obschon er mindestens profitierender Mitläufer gewesen sei“ (NZZ vom

09.03.1957 unter Bezug auf Artikel in NZZ von Ende März 1954). Der Autor des NZZ-Artikels

aus dem Jahr 1954, Peter Zimmermann, bezog sich in seiner Argumentation auf ein Urteil

aus dem Jahr 1952, dass zur Ausweisung Kriegers aus der Schweiz geführt hatte. Er bezog

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sich in seiner Bewertung zudem auf Kriegers Veröffentlichungen im Eher-Verlag, dem Zent-

ralverlag der NSDAP. Eine von Krieger angestrengte Verleumdungsklage wurde schließlich

abgelehnt: Das Gericht hob als ein Kriterium hervor, Krieger habe sich „zum mindesten bis zu

einem gewissen Grade (dieses Ausmaß wird im Artikel nicht präzisiert) mit dem Ungeist der

Hitlerei identifiziert“ (aus dem Urteil zitiert nach NZZ vom 09.03.1957).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/146043

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/25975

Staatsarchiv Landshut, Spruchkammer Passau (Rep. 241/14) Nr. 7273 [Tuja Krieger]

StAM, Spruchkammerakten Karton 966, Krieger, Arnold

HStAD, H 14 Darmstadt Nr. R 1270

HStAD, R 12 P Nr. 3303

DFG-VK Darmstadt [www.dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/KriegerArnold.htm] (Zugriff: 21.11.2016)

StadtA DA, ST 61 Krieger, Arnold I+II

Literatur:

Dierks, Margarete: Krieger, Arnold. In: NDB 13 (1982), S. 43 f.

Dotzert, Roland: Krieger, Arnold. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 522.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007.

Reichel, Peter: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. Mün-

chen 1991.

Studio Schaffen und Forschen (Hrsg.): Arnold Krieger. 75. Geburtstag. Darmstadt 1979.

Studio Schaffen und Forschen (Hrsg.): Arnold Krieger (1904-1965). Zum 90. Geburtstag dem Lyriker

gewidmet. Darmstadt 1994.

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Albinmüllerweg (H 9), benannt 1987 nach

Albin Camillo Müller, genannt Albinmüller (1871-1941)

Architekt

* 13. Dezember 1871 in Dittersbach bei Frauenstein/Erzgebirge

1887-1892 Tischlerlehre in der Tischlerei des Vaters; Wander- und Gesellenjahre

1893-1897 Volontariat und Studium in Mainz; Innenarchitekt in Bromberg; Studienreise durch Nord-

deutschland

1897-1899 Innenarchitekt in Köln; Studium an der Kunstgewerbeschule in Dresden; erste Preise bei

Wettbewerben

1900 Heirat mit Anna Maria (Änne) Rauch (zwei Kinder)

1900-1906 Lehrer für Raumkunst und architektonische Formenlehre an der Kunstgewerbe- und

Handwerkerschule in Magdeburg; ab 1905 Leiter der Abteilung für Innenraum und Architektur

1905 Ausgestaltung des Trauzimmers im Standesamt Magdeburg

1906 Gartenpavillon auf der 3. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden

1906-1914 Mitglied der Künstlerkolonie in Darmstadt; Wohnhaus sowie weitere Häuser auf der Mat-

hildenhöhe (1911), Mietshäusergruppe (1911-1914), Schwanentempel, Brunnenanlage und Löwentor

(1914); führend bei Ausstellungen 1908 und 1914

1906/07-1911 Lehrer für Raumkunst am Großherzoglichen Lehratelier für angewandte Kunst

1910-1912 Villenarchitektur in Seeheim an der Bergstraße

1915-1918 (Armierungs-)Soldat im Ersten Weltkrieg

Ab 1917 Verwendung des Künstlernamens „Albinmüller“

1918-1925 Holzhausbauten und Denkmäler

1920/21 Boelcke-Denkmal in Dessau

1921 Veröffentlichung „Holzhäuser“

1925-1932 Tätigkeiten im Wohnhausbau; Einfamilienhäuser unter anderem in Magdeburg und im

Erzgebirge

1926/27 Architekt der Deutschen Theaterausstellung in Magdeburg: Bauten und Innenraumgestal-

tung, darunter Pferdetor und Aussichtsturm („Albinmüller-Turm“)

1928-1933 Entwürfe für Sakral- und Monumentalbauten

1933 Entwurf eines Richard-Wagner-Denkmals

1933 Veröffentlichung „Denkmäler, Kult- und Wohnbauten. Aus dem Kreis der Darmstädter Künstler-

kolonie“

1934-1941 Beschäftigung mit Philosophie, Landschaftsmalerei und schriftstellerische Tätigkeiten

1936/37 Entwurf für ein Museum (im Auftrag von Mathilde Merck, nicht umgesetzt)

1937 Entwurf für Grabmal Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (nicht umgesetzt)

1940 Veröffentlichung „Heimatland. Bilder und Verse“; „Aus meinem Leben“ (Manuskript)

† 2. Oktober 1941 in Darmstadt

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Ehrungen:

1899 Auszeichnung für Innenarchitektur auf der Ausstellung „Heim und Herd“ in Dresden

1904 „Grand Prix“ für Beitrag im Bereich Innenarchitektur auf Weltausstellung in St. Louis/USA

1906 Staatsmedaille und Goldmedaille auf der 3. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden

1907 Ernennung zum Professor durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1910 Goldmedaille auf der Weltausstellung in Brüssel

1943 Ausstellung „Aus dem Lebenswerk Prof. Albinmüllers“, Mathildenhöhe Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Albin Camillo Müller, der eigentlich Alwin hieß und sich selbst Albinmüller nannte, war einer

der führenden Architekten der Darmstädter Künstlerkolonie zwischen 1906 und 1914. Er

zeichnete in dieser Zeit für zentrale Bauten verantwortlich, die bis heute die Mathildenhöhe

und damit das Stadtbild Darmstadts prägen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts

schuf er ein umfangreiches Werk, als Architekt sowie als Gestalter im Bereich angewandter

Kunst. Seine letzte umfassende Aufgabe als Architekt übernahm er 1926/27 mit der Deut-

schen Theaterausstellung in Magdeburg.

In der Zeit des „Dritten Reichs“ erhielt Albinmüller kaum mehr Aufträge, die zur Ausführung

gelangten (Gräfe, S. 289-291). Belegt sind der Entwurf für ein Richard-Wagner-Denkmal

(1933, vermutlich anlässlich eines Wettbewerbs der Stadt Leipzig), ein ausgeführtes Mauso-

leum auf dem Wiesbadener Nordfriedhof (1933, im Auftrag von Robert Jurenka), ein Miets-

wohnhaus in Darmstadt (1935/36, als sein wohl letztes ausgeführtes architektonisches

Werk, heute Dolivostraße/Feldbergstraße) sowie die Entwürfe eines Museums (1936/37, im

Auftrag von Mathilde Merck) und eines Mausoleums für den Leichnam von Großherzog Ernst

Ludwig von Hessen und bei Rhein (1937).

Obgleich sein Wirken als Architekt in der NS-Zeit begrenzt war, schien er um Anerkennung

seitens der Nationalsozialisten bemüht, wie ihm seine Biografin Babette Gräfe attestierte:

„In der Phase um 1933-35/36 ist Albinmüller offensichtlich durchaus von nationalsozialistischen

Ideen und dem Dritten Reich angetan. Vermutlich zuversichtlich, dass nun nicht nur die Weimarer

Republik weichen muss, sondern auch der von ihm wenig geachtete ‚Internationale Stil‘ überwunden

ist und der ersehnte deutsche Architekturstil vollendet werden kann, versucht er von den neuen

Machthabern als Architekt anerkannt zu werden“ (Gräfe, S. 246).

Gräfe verwies als Beleg für ihre Einschätzung auf Albinmüllers Kunstauffassung, die allge-

mein „auf Idealismus und einem gewünschten aristokratischem Abstand zur Masse gepaart

mit romantisierender Religiosität, konservativ-monarchischer und deutsch-nationaler Über-

zeugung“ basierte (Gräfe, S. 245). In ihrer Beurteilung von Albinmüllers Wirken in der NS-Zeit

stützte sich Gräfe besonders auf dessen autobiografische Schrift „Aus meinem Leben“, ein

186 Seiten umfassendes Manuskript, das Albinmüller wohl um 1940 abschloss (es endet mit

der Bemerkung, sein Sohn stehe als Soldat „bei unserer Wehrmacht im Feindesland“; Xero-

kopie in ULB Darmstadt). Seit der Nichtberücksichtigung beim Bau des Theaters in Dessau

1935/36 habe Albinmüller sich „zunehmend missverstanden und abgeschrieben“ gefühlt, so

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Gräfe weiter (S. 245). Resigniert wandte er sich verstärkt philosophischen Überlegungen so-

wie der Malerei zu.

Da es als wichtiges Dokument hinsichtlich Albinmüllers Wirken in der NS-Zeit gewertet wer-

den kann, soll die zentrale Passage aus „Aus meinem Leben“ (bezüglich der NS-Zeit) hier un-

gekürzt wiedergegeben werden (Überschrift: „Nachtrag“):

„Nun lebe ich zwar seit einer Reihe von Jahren in dieser meiner Einsamkeit; doch zu der erhofften

rechten philosophischen Beschaulichkeit bin ich noch nicht durchgedrungen. Dazu ist ja auch die Zeit

mit ihrem gewaltigen politischen Geschehen nicht angetan. Das Sehnen des deutschen Volkes nach

Errettung aus Schmach und Knechtschaft des verlorenen Krieges ist durch Adolf Hitler zur Erfüllung

gekommen. Durch unerhörte Taten hat er – gestützt auf seine N.S.D.A.P. und auf die wiedererrichte-

te Wehrmacht – Deutschland wieder stark gemacht und das Großdeutsche Reich geschmiedet.

Ich habe immer wieder mancherlei Projekte bearbeitet, die wie viele andere aus früheren Jahren,

nicht zur Ausführung gekommen sind. Das gleiche Schicksal ward meinem Theaterprojekt für Dessau

zuteil. Es wurde übergangen! So sind mir nun jetzt, wo ich mein Schaffen für geklärt halten darf, die

Möglichkeiten zur rechten reifen und starken Auswirkung versagt. Ein Museumsbau, den ich für die

vom verstorbenen Dr. Willy Merck gesammelten exotischen Kunstwerke im Auftrag meiner verehr-

ten langjährigen Freundin Mathilde Merck projektiert habe, kann bei der Unmöglichkeit, Baumaterial

bewilligt zu bekommen, zur Zeit nicht zur Ausführung kommen. Der Bau könnte die Krönung meines

Schaffens als Architekt sein. – Es wird kaum etwas daraus werden, trotz des starken Willens der Frau

Mathilde Merck, die als einzige aus dem früheren Kreis des Großherzoglichen Hauses die Tradition

auf künstlerischem und geistigem Gebiete zu pflegen sucht. Sie ist eine wahrhaft tapfere, feinfühlige,

geistvolle, phantasiereiche Frau von tiefer Innerlichkeit.

Unter der Regierung Adolf Hitler erstehen indessen überall im Reich, zugleich mit dem Netz der Au-

tostraßen, große repräsentative Monumentalbauten für Partei und Staat, dazu Kasernen und sonsti-

ge Heeresbauten, gewaltige Fabriken, ausgedehnte Arbeiter- und Bauernsiedlungen. Die Privatbautä-

tigkeit indessen steht unter strengsten Einschränkungen. Für nicht unbedingt lebensnotwendige

Bauaufgaben versagen die Behörden die Genehmigung und die Zulassung des Baumaterials.

Bevor diese einschneidenden Maßnahmen eintraten, konnte ich – 1933 – noch ein außergewöhnli-

ches, wenn auch kleines Bauwerk errichten. [Es folgt die Beschreibung des Mausoleums in Wiesba-

den]“ (Albinmüller, Aus meinem Leben, S. 182).

Das von Albinmüller angesprochene Museum (zu dessen Entwurf siehe Gräfe, S. 247) sollte

ebenso unverwirklicht bleiben wie das von ihm entworfene Mausoleum für den Großherzog:

Gab im Falle des Museums der Mangel an Baumaterial den Ausschlag (so zumindest Albin-

müllers Begründung), waren es im Falle des Mausoleums die tragischen Umstände des Flug-

zeugabsturzes der Großherzoglichen Familie (bei dem auch seine Auftraggeberin ums Leben

kam).

Im Zusammenhang mit Albinmüllers Veröffentlichung „Denkmäler, Kult- und Wohnbauten.

Aus dem Kreis der Darmstädter Künstlerkolonie“ (1933) wurde in der Presse das „organische

Gewachsensein“ und die „Erdverbundenheit“ seiner Baukunst hervorgehoben, die „ehrlich“,

„deutsch“ und „von germanischer Kraft“ sei (1933, StadtA DA, ST 61). Allerdings klangen

schon Bedenken durch, dass sein Oeuvre bereits der Vergangenheit zuzurechnen und kaum

mit der aktuellen politischen Situation in Einklang zu bringen sei („Es müssen wehmütige

Erinnerungen für den Künstler sein. Denn seine Ideen bewegten sich in einer Welt, die ver-

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gangen ist […]“, Volk und Scholle 11 [1933], S. 342). Wie Babette Gräfe konstatierte, gab es

bereits vor 1933 im Werk Albinmüllers deutliche Anknüpfungspunkte an die NS-Ideologie.

Allerdings konnte der Architekt weder mit seiner Kunstauffassung punkten noch mit der Tra-

dition, in der sie gesehen wurde:

„Albinmüllers Werk ist zwar von völkischem Gedankengut durchzogen, man denke an die Ansätze,

germanenideologische Wertesysteme einzubeziehen, oder den Versuch, die Entstehung einer neuen

deutschen, germanisch-christlichen Religion in seinen späten Entwürfen für Kirchbauten zu unter-

stützen. Doch mit dem wachsenden Machtanspruch der Nationalsozialisten und dem wachsenden

internationalen Gewicht des Dritten Reiches treten an die Stelle rückwärts gewandter Sehnsüchte

innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung jene Vorstellungen, die zukunftsgerichtet an der

Massenkultur orientiert sind. […] Albinmüller ist den Machthabern insgesamt zu unentschlossen, zu

zerrissen und vor allem noch immer zu großbürgerlich in seiner Geste. Ganz entscheidend scheint

dabei zu sein, dass der elitäre Anspruch Albinmüllers nicht zu der Massenbewegung des Nationalso-

zialismus passt“ (Gräfe, S. 248).

Albinmüller widmete sich in seiner letzten Lebensdekade verstärkt der Malerei, wovon um

1940 seine Veröffentlichung „Heimatland. Bilder und Verse“ Zeugnis ablegte. Es handelte

sich dabei vornehmlich um Landschaftsmalerei aus seiner Erzgebirgsheimat und seiner

Wahlheimat Darmstadt, die dem vorherrschenden Kunstverständnis nicht entgegen stand

und von der Kritik durchaus freundlich aufgenommen wurde (StadtA DA, ST 61). Bereits 1936

war sein Märchenspiel „Das Christmondrosenreis“ erschienen; das Titelblatt zierte eine Blüte

mit einem stilisierten Hakenkreuz im Zentrum.

Im Jahr 1941 starb Albinmüller in Darmstadt, „als enttäuschter Reformer und als ins Abseits

geratener Idealist“ (Gräfe, S. 249). Aufgrund seines Todes 1941 ließen sich keine Entnazifizie-

rungsdokumente recherchieren. Im eingesehenen Material fanden sich keine Hinweise auf

Mitgliedschaften in NS-Organisationen.

Quellen:

HStAD, G 31 P in Nr. 4345

HStAD, R 12 P Nr. 4283

StadtA DA, ST 61 Müller, Albin (Albinmüller)

StadtA DA, Straßennamen und deren Bedeutung

ULB Darmstadt, (Teil-)Nachlass Albinmüller (1871-1943) [nur Material vor 1933]

Literatur:

Albinmüller: Denkmäler, Kult- und Wohnbauten. Aus dem Kreis der Darmstädter Künstlerkolonie.

Darmstadt 1933.

Albinmüller: Das Christmondrosenreis. Schwarzenberg 1936.

Albinmüller: Heimatland. Bilder und Verse. Darmstadt ca. 1940.

Albinmüller: Aus meinem Leben. Darmstadt ca. 1940.

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Gräfe, Babette: Romantik ist das Schwungrad meiner Seele. Der Traum einer ästhetischen Gegenwelt

in der Architektur von Albinmüller. Darmstadt 2010.

Ulmer, Renate: Müller, Albin Camillo. In: NDB 18 (1997), S. 346 f.

Ulmer, Renate: Müller, Albin Camillo (gen. Albinmüller). In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 648 f.

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Sabaisplatz (J 9), benannt 1989 nach

Heinz Winfried Sabais (1922-1981)

Schriftsteller und Politiker, Darmstädter Oberbürgermeister

* 1. April 1922 in Breslau

1928-1938 Schulbesuch in Breslau (Volks- und Aufbauschule; Mittlere Reife)

1934-1938 [1933-1941] Mitglied des DJ/der HJ (Jungzug- bzw. Scharführer)

1938-1940 Kaufmännische Ausbildung bei einer Großhandels-Firma in Breslau

1940-1941 nach erfolgreicher Handelsgehilfenprüfung Angestellter in der Lehrfirma

1941 nach Kriegsfreiwilligenmeldung Pflichtdienst beim RAD

1941-1945 Angehöriger der allgemeinen SS (SS-Einheit 4/16 Breslau)

1941-1945 Soldat bei der Luftwaffe; Ausbildung zum Flugzeugführer (letzter Rang: Feldwebel)

1942 Teilnahme an einem Ausleselager, nach erfolgter Auswahl Langemarck-Stipendium

1943 Heirat mit Ingeborg Wieczorek (drei Kinder)

1943-1945 nach Absturz frontuntauglich; Studium in Wien und Prag

1945 Umschulung zum Sprengstoffspezialisten (Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“)

1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft („Rheinwiesenlager“)

Ca. 1946 Arbeit als Redakteur in Rudolstadt

Ca. 1946 „Und über allem sei Liebe“ (erster Gedichtband)

1947 Lektor und Prokurist im Verlag Kiepenheuer in Weimar

1948 „Das Todesurteil“ (Erzählung); „Mein Acker ist die Zeit“

1948-1949 Chefsekretär des Deutschen Goetheausschusses Weimar/Berlin

1950 Flucht aus DDR in BRD mit Frau und zwei Kindern, über Berlin nach Darmstadt (Juli 1951)

1951-1953 Redakteur der Zeitschrift „Neue Literarische Welt“ (Organ der Deutschen Akademie für

Sprache und Dichtung) in Darmstadt

1954 Kulturreferent der Stadt Darmstadt

seit 1955 Mitglied und Generalsekretär (bis 1966) des PEN-Zentrums

1963 als (hauptamtlicher) Stadtrat Mitglied des Magistrats der Stadt Darmstadt; Wahl zum ersten

hauptamtlichen Kultur- und Schuldezernenten der Stadt Darmstadt

1964 „Kleine Darmstädter Literaturgeschichte“

1971-1981 Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt

1971-1981 Präsident des Deutschen Bühnenvereins

1975 „Sozialistische Elegie“

† 11. März 1981 in Darmstadt

Ehrungen:

1967 Otto-Burrmeister-Ring

1981 Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen

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Wirken in der NS-Zeit

Heinz Winfried (der zweite Vorname taucht erst nach 1945 auf) Sabais, Schriftsteller und

Kommunalpolitiker, war seit 1953/54 Kulturreferent der Stadt Darmstadt und wurde dort

1963 zum ersten hauptamtlichen Kultur- und Schuldezernenten ernannt. Von 1971 bis zu

seinem Tod 1981 war er dann Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt. In der NS-Zeit war er

als Schüler in der HJ organisiert, war Langemarck-Stipendiat und Flugzeugführer der Luftwaf-

fe. Im März 1941 begann seine Angehörigkeit zur allgemeinen SS.

„Ja, ich war Nazi. Und kein Aber. Ich war es vier Jahre lang mit Begeisterung, ungefähr zwischen mei-

nem zwölften und sechzehnten Lebensjahr, also zwischen 1934 und 1939. Danach war ich es mit

wachsender Verstörung, mit Zweifeln, mit Unbehagen – und zugleich wachsendem Opportunismus,

weil sonst eine soziale Karriere unmöglich schien. Erst der 20. Juli 1944 und die barbarische Liquida-

tion der Empörer zerstörten meinen schon erschütterten Glauben an das ‚Dritte Reich‘ der Deut-

schen und seine Mission zur ‚Neuordnung Europas‘ samt der skeptisch gewordenen Anhänglichkeit

an den charismatischen Führer. Aber nun war ich gebunden durch einen in der Verzweiflung immer

störrischer werdenden Patriotismus“ (Sabais, Menschenmaterial, S. 125).

Sabais reflektierte in dem 1968 veröffentlichten Aufsatz „Menschenmaterial“, dem das vo-

rangestellte Zitat entstammt, sein Wirken als Jugendlicher und junger Erwachsener während

der NS-Zeit. Seine lebhafte autobiografische Schilderung deckt sich in großen Teilen mit den

recherchierten Informationen aus den unten angeführten Quellen. In einzelnen Punkten

lassen sich aber zumindest Auslassungen im Vergleich zu dokumentierten Informationen und

Selbstberichten aus der Zeit vor Kriegsende nachweisen.

Bei Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 war Sabais zehn Jahre alt. Er be-

suchte die Schule in seiner Heimatstadt Breslau, die er 1938 mit der Mittleren Reife ab-

schloss. Er stammte aus einfachen Verhältnissen („Ich bin unter den Massen, im Proletariat,

im Slum geboren“, Menschenmaterial, S. 127), sein Vater – von Sozialdemokraten wie Kom-

munisten aus unterschiedlichen Gründen enttäuscht – habe politisch „in der Nähe der Sozia-

listischen Arbeiterpartei“ gestanden; sein Großvater war überzeugter „Sozi“.

Sabais beschrieb in seinen Erinnerungen anschaulich, wie die Nationalsozialisten in seinem

Wohnviertel, das eigentlich als „rote Hochburg“ galt, die Macht übernahmen – auch die auf

der Straße. Bei einer Propagandaveranstaltung in Breslau 1933 kam es zu einer persönlichen

Begegnung mit Adolf Hitler, der dem zehnjährigen Heinz die Hand auf den Kopf legte – wo-

raufhin Sabais‘ Großvater seinem Enkel umgehend beim Friseur die Haare scheren ließ, zu

dessen „grenzenlosen Zorn“ (S. 132). Heinz, der eigentlich der katholischen Jungschar ange-

hörte (seine Mutter habe gewollt, dass aus ihm kein Prolet würde), schloss sich der HJ an:

„Die Nazis fingen an, mir zu gefallen. Sie hatten sich als die Stärksten gezeigt. Unter uns Buben war es

ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Stärkste auch am meisten zu sagen habe“ (Menschenmaterial,

S. 131).

Sabais‘ Erinnerungen folgend war ein Schlüsselerlebnis für ihn eine Schlägerei im Sommer

1934 zwischen Jungscharlern und HJ-Jugendlichen: „Unser Führer befahl, sich nicht zu weh-

ren und ihm ruhig zu folgen“ (S. 133). Er widersetzte sich der Anordnung und stürzte sich auf

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die Kontrahenten – was ihm später zu Anerkennung beim Jungvolk verhalf. Vom „romanti-

sche[n] Knabenbund-Charakter“ (S. 136) des Jungvolks angezogen und begeistert, übernahm

er mit 13 Jahren Verantwortung als „Jungzugführer“:

„Wir waren obenauf: die Zukunft der Nation. Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie

Kruppstahl, so wollte uns ‚der Führer‘ haben. Und wir wollten das auch sein. Wir kriegten es fertig“

(Menschenmaterial, S. 135).

Innerhalb der Familie habe es harte Auseinandersetzungen mit dem Vater gegeben, der Sa-

bais‘ damaliger Auffassung nach „ein hoffnungsloser Fall“ war, während er, Heinz, auf der

Seite der Gewinner stand. Mit 14 Jahren wurde er zur Hitlerjugend überwiesen, wurde dort

Kameradschaftsführer, verlor aber – seinen reflektierenden Ausführungen nach – „jeden

Spaß“ (S. 136). Er wandte sich verstärkt der Literatur zu; wurde als „Klassenprimus, Sportler

und Jugendführer“ (S. 137) zur Prüfung für die Aufbauschule zugelassen, die er nach Ab-

schluss der Volksschule besuchen durfte (1935-1938). Ein in Aussicht gestellter Platz auf dem

Gymnasium kam aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Gemeinsam mit einem Freund un-

ternahm er in den Sommerferien lange Radtouren, die ihn unter anderem in die Hauptstadt

führten – und Ärger einbrachten:

„In Berlin ereilte uns das Verhängnis. Der HJ-Streifendienst stellte uns auf ‚wilder Fahrt‘. Wir waren

grimmige Burschen und wollten uns nichts schuldig bleiben. Kurz, wir flogen aus der HJ hinaus. Damit

war, wir sollten es bald spüren, unser Lebenskarren aus den vorschriftsmäßigen Geleisen gesprun-

gen“ (Menschenmaterial, S. 137).

Nach der Mittleren Reife absolvierte Sabais ohne große Begeisterung eine Kaufmannslehre

bei einer Breslauer Firma, die en gros mit Lebensmitteln handelte (1938-1940). Nach Kriegs-

beginn (Sabais war 17 Jahre alt) übernahm er dort verantwortungsvollere Aufgaben, da viele

Mitarbeiter eingezogen worden waren. Auf Anraten eines seiner Vorgesetzten legte er nach

der Handelsgesellenprüfung eine Begabtenprüfung ab (S. 140), die ihm ein Studium ermög-

lichte. Bis zu seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger im März 1941 arbeitete er weiter bei sei-

ner Lehrfirma als kaufmännischer Angestellter. In unterschiedlichen Lebensläufen nach 1945

gab Sabais zu Protokoll, an der Universität Königsberg immatrikuliert gewesen zu sein; der

Krieg habe die Aufnahme des Studiums (Philosophie, Literaturgeschichte, Zeitungs- und The-

aterwissenschaft – versehen mit einem „Reichsstipendium“ für Geisteswissenschaften) aber

vereitelt.

In seinen 1968 veröffentlichten Erinnerungen beschrieb Sabais die Umstände, die mit der

hier nicht näher bezeichneten „Begabtenprüfung“ einher gingen (S. 140-142): Neben der

„Bescheinigung über Dienst und Führung in der HJ“ musste er demnach einen sogenannten

„Ariernachweis“ liefern. Während ersteres – trotz seines geschilderten Ausschlusses aus der

HJ – mit „geringen Schwierigkeiten“ gelang („Es gab Freunde“), gestaltete sich die Ermittlung

der Vorfahren demnach als schwierig. Da sein Ahnenpass „eine dunkle Stelle“ aufwies (die

Eltern einer Urgroßmutter mit jüdisch klingendem Namen konnten nicht ermittelt werden,

so Sabais), wurde ihm „nahegelegt, mich freiwillig zu einer prominenten Einheit der Waffen-

SS zu melden“:

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„Ich zog meinen Großvater und, seit langem wieder, auch meinen Vater zu Rate, was nun werden

sollte. Die prominenten Einheiten der Waffen-SS genossen großes Ansehen, vielleicht sollte ich – es

war verführerischer Opportunismus – meinen gescheckten Ariernachweis durch Dienst unter der

nordischen Siegrune ein wenig hochzustilisieren versuchen“ (Menschenmaterial, S. 141).

Seine Familie sowie seine Freundin (und spätere Frau) waren dagegen – auch gegen seinen

Entschluss, sich freiwillig zur Luftwaffe zu melden, so Sabais:

„Trotzdem, ich hatte begeisterte Freiwilligkeit zu dokumentieren und so meldete ich mich, begleitet

vom stummen Kopfschütteln meines Vaters und den wütenden Tränen meiner Freundin, freiwillig

zur Luftwaffe. Der Weg zur Universität war allein durch den vorgeschriebenen Umweg über das Mas-

sengrab zu sichern, eine absurde Lage. Im Sommer 1941, als ich längst auf der Flugzeugführerschule

meine Platzrunden zog, schickte mir der Studentenbund die Formulare für eine Freiwilligenmeldung

zur Waffen-SS zu. Ich konnte höflich auf mein bereits bestehendes militärisches Dienstverhältnis

hinweisen und war damit einer großen Gefahr entgangen – kaum durch eigenes Verdienst“ (Men-

schenmaterial, S. 142).

Nach seiner Kriegsfreiwilligenmeldung wurde er am 10.03.1941 dem RAD (Abteilung K 4/110

Breslau-Oswitz, BArch, BDC, R 9361-III/170081) zugewiesen, wo er seinen Pflichtdienst leis-

tete (Angaben zu Dauer des Aufenthalts beim RAD divergieren zwischen sieben Wochen und

vier Monaten). Er durchlief bei der Luftwaffe eine Ausbildung zum Flugzeugführer, deren

Stationen er in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1943 folgendermaßen benannte:

„Am 1.5.1942 [sic! 1941] wurde ich zum 2./Fliegerausbildungs-Reg[iment] 32 eingezogen, wo ich

meine militärische Grundausbildung erhielt. Nach Versetzung zum Flug-Anw.-Bat. [Fluganwärterba-

taillon] und zur A/B-Schule 113 kam ich zur F.F.S [Flugzeugführerschule] C 14, der ich als Flugschüler

(C) angehöre. Beförderungen: 1.5.42 Gefreiter, 1.9.42 Kriegs-Offiziers-Anwärter, 1.3.43 Unteroffizier“

(BArch, BDC, R 9361-III/170081).

Die Angaben decken sich mit Informationen der Deutschen Dienststelle (WASt): Sabais ge-

langte im Oktober 1941 an die Flugzeugführerschule A/B 113 (Standort: Brünn) und war im

Mai 1943 in der Schülerkompagnie der Flugzeugführerschule C 14 in Prag-Gbell stationiert.

Sabais‘ Ausführungen nach 1945 folgend entsprach sein höchster Dienstrang dem eines

Feldwebels. Demnach nutzte er nach dem Absturz seiner Maschine die „Lazarett- und Gene-

sungszeit“ (Lebenslauf 1972, StadtA DA, ST 61) für ein Studium als Gasthörer. In einem Le-

benslauf aus dem Jahr 1947 fasste er den Kriegseinsatz wie folgt zusammen:

„Im Mai 1941 wurde ich Soldat und fand Verwendung als Flugzeugführer. Dieser Umstand verschaff-

te mir die Möglichkeit, fast ganz Europa kennenzulernen und nach durch Absturz erlittener Frontun-

tauglichkeit in meinen Garnisonen Wien und Prag insgesamt vier Semester als Gasthörer zu studie-

ren“ (StadtA Weimar, Kopie StadtA DA, ST 61).

In den Akten der Deutschen Dienststelle (WASt) dokumentiert fand sich nur ein Hinweis auf

einen Aufenthalt im Luftwaffenlazarett Wien von Oktober bis Dezember 1943 – wegen einer

chronischen Mandelentzündung.

Wie eine Akte aus dem Bestand „Personenbezogene Unterlagen der SS und SA“ aus der

Sammlung des BDC im Bundesarchiv Berlin (BArch, BDC, R 9361-III/170081) belegt, umfasste

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Sabais‘ zu dokumentierende „begeisterte Freiwilligkeit“ im Zuge seines „wachsenden Oppor-

tunismus‘“ einen Schritt, den er in keinem tradierten Statement oder Lebenslauf nach 1945

erwähnte – auch nicht in seinem Aufsatz „Menschenmaterial“: Seine Freiwilligenmeldung

zur allgemeinen SS. In einem Lebenslauf aus dem Jahr 1943 notierte Sabais Folgendes:

„Seit dem 2. Januar 1933 gehöre ich der HJ an und war als Jungzug- und Scharführer tätig. Am 1.3.41

wurde ich auf eigenen Wunsch zur SS überwiesen. Am 1.7.1942 wurde ich nach Teilnahme an einem

Ausleselager in das Langemarck-Studium aufgenommen. Ich beabsichtige nach Freistellung vom

Wehrdienst Geschichte, Deutsch + Zeitungswissenschaft zu studieren. Heinz Sabais“ (Lebenslauf

1943, BArch, BDC, R 9361-III/170081).

Der Lebenslauf vom April 1943 war Teil eines Antrags „an den Reichsführer SS, Rasse- und

Siedlungshauptamt“, in dem Sabais als SS-Anwärter um die Erlaubnis zur Hochzeit mit Inge-

borg Wieczorek ersuchte (seinen vollen Namen gab er mit Heinz Josef Georg Sabais an). Aus

dem dokumentierten, umfangreichen Vorgang gehen weitere Informationen hervor: Dem-

nach war Heinz Sabais der SS-Einheit „Sturm 4/16 Breslau“ zugehörig; im Frühjahr 1943 gab

er als Dienstrang „SS-Anwärter“ an, im Frühjahr 1942 war er als „SS-Bewerber“ geführt wor-

den; seine SS-Sippen-Nummer lautete 134681; im vorliegenden sogenannten „kleinen Arier-

nachweis“ vom Februar 1942 wurde ihm eine „arische Abstammung“ bescheinigt („Bis zu

den Großeltern einwandfrei“); das für die Vollmitgliedschaft notwendige Reichsportabzei-

chen lag vor (seine zukünftige Frau musste dies bzw. das BDM-Leistungsabzeichen bis

30.06.1945 nachreichen), so auch das Flugzeugführerabzeichen. Eine ärztliche Untersu-

chung, durchgeführt durch den Standortarzt der Waffen-SS Prag (Sabais war zu der Zeit auf

dem Fliegerhorst in Prag stationiert), bescheinigte Sabais‘ „Kriegsfliegertauglichkeit“, bewer-

tete seine Psyche als „unauffällig“ und seine Begabung als „überdurchschnittlich“. Sabais‘

Gesuch sei bevorzugt zu bearbeiten, da sein Fronteinsatz bevor stand. Die Heiratserlaubnis

wurde vom „Chef des Heiratsamtes im Rasse- und Siedlungs-Hauptamt-SS“ am 30.06.1943

erteilt, wobei es Schwierigkeiten mit dem „Ariernachweis“ von Ingeborg Wieczorek gab,

weshalb die Heiratsgenehmigung nur „auf Verantwortung Ihrer zukünftigen Frau vorläufig

freigegeben“ wurde (Hochzeit schließlich am 24.07.1943). Selbstgewählte Zeugen beschei-

nigten ihr allerdings, als „Frau eines SS-Angehörigen geeignet“ zu sein.

Die Zugehörigkeit zur HJ wurde in den vorliegenden Fragebögen von Sabais datiert auf

02.01.1933-05.03.1941. Das erwähnte „Langemarck-Studium“, in das er nach dem erfolg-

reich absolvierten Ausleselager aufgenommen wurde, fand in Ausführungen nach 1945 keine

Erwähnung; dort war wiederholt von einem „Reichsstipendium“ die Rede (siehe Lebensläufe

StadtA DA, ST 61). Um in das Langemarck-Studium aufgenommen werden zu können – es

war als Begabtenförderungsprogramm für Volks- und Mittelschüler implementiert worden –,

mussten die dafür vorgeschlagenen jungen Männer ihre politische Zuverlässigkeit unter Be-

weis stellen, was im Zuge der Ausleselager groteske Züge annehmen konnte (hierzu Grütt-

ner, S. 149-154, besonders S. 150).

Wie Sabais in seinem Aufsatz „Menschenmaterial“ beschrieb, war er vor Kriegsende „in ei-

nem Schnellkurs vom Flugzeugführer zum Sprengspezialisten umgeschult worden“ (S. 126).

Er sollte als „Selbstmordspezialist“ (Fallschirm-Panzer-Division „Hermann Göring“) hinter der

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Front abspringen, um den gegnerischen Nachschub zu stören. Dazu kam es nicht mehr; seine

Einheit wurde aufgerieben, er geriet bis Juni 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft in

sogenannten Rheinwiesenlagern (Büdrich, Rheinfelden und Sinzig; aus letzterem entlassen).

Im mehrfach zitierten Aufsatz „Menschenmaterial“ versuchte Sabais, seine Begeisterung für

den Nationalsozialismus („Ja, ich war mit Begeisterung Nazi gewesen, wenigstens als Kind“,

S. 127) zu erklären. Er verwies darin auch wiederholt auf seinen Opportunismus, ohne den

ein Studium für ihn nicht möglich gewesen wäre. Zugleich beschrieb er die wachsende Dis-

tanz zum nationalsozialistischen System; bereits beim Offiziersanwärter-Lehrgang 1941

konnte er rückblickend erste Anzeichen für das ausmachen (S. 143), was sich später als inne-

re Abkehr manifestieren sollte:

„Ich war kein Nazi mehr, ich war ein Gefangener des Hitlerstaates, der bewaffnet herumlaufen durf-

te, um, wie einer meiner Kommandeure sich ausdrückte, ‚verheizt‘ zu werden“ (S. 144).

Deutlich unterschied Sabais dabei (an mehreren Stellen) zwischen sich und den Leidensge-

nossen seiner Generation auf der einen Seite sowie den „listigen Verbrechern“, den „gewis-

senlosen Hasardeuren“, den „Massenmördern und Judenschlächtern“ auf der anderen Seite.

Welche Schlüsse Sabais aus seinen Erlebnissen zwischen 1933 und 1945 zog, soll im Folgen-

den an einigen zentralen Passagen des Textes exemplarisch verdeutlicht werden.

Die Situation nach dem Ende der Kampfhandlungen umriss Sabais mit folgenden Worten:

„Ich war 23 Jahre alt, verheiratet, ein Kind [*06.03.1944, HK], Beruf Student, wohnhaft in Breslau, das

es nicht mehr gab. Ich haßte mit dem einzigen Haß, den ich jemals empfand, die pathetischen, listi-

gen Verbrecher, die Deutschland in Ruin und Schande geführt hatten. […] So kam ich in ein Gefange-

nenlager am Rhein, fraß Gras und Dreck, lag verhungert in einem Erdloch und studierte den Men-

schen. Ich fand, er war weder gut noch böse, wohl eher zur Eigen- als zur Nächstenliebe geneigt, aber

auch eher zur Menschlichkeit als zur Unmenschlichkeit angelegt. Seine größte Gefahr waren Macht

und Fanatismus und Dummheit. Ihnen wollte ich entgegentreten, wo immer es notwendig werden

sollte“ (S. 126 f.).

Auch auf das Thema „Schuldfrage“ ging er ein:

„War ich in meiner Jugendtorheit schuldig geworden? Nein, ich empfand keinerlei Schuld. Ich war

beschämt und erbittert. Ich empfand ein unbändiges Grauen. Dieses Grauen schüttelt mich noch

heute, so oft ich an meine sinnlos hingeopferten Generationskameraden denke […]. Ich verabscheue

jede Gewalt. […] Ich trage den gewissenlosen Hasardeuren, die den deutschen Namen durch ihre

unvorstellbaren Verbrechen in Schande gebracht haben, meinen Haß und meine Verachtung nach,

solange Erinnerung in mir ist. Mit Massenmördern und Judenschlächtern gibt es keine Versöhnung.

Ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind auch Verbrechen gegen die Ehre des Vaterlands und

beleidigten meine persönliche Ehre als Staatsbürger“ (S. 145).

Und der Aufsatz endete mit den Worten:

„Ich war in jungen Jahren Nazi. Ich lebe und arbeite dafür, daß meine Kinder, ganz gleich unter wel-

cher Flagge, nicht zu Untertanen und staatlichen Leibeigenen gepreßt werden können. So sehr ich

Gewalt und jene Schwächlinge verabscheue, die, statt Verstand zu zeigen, mit ihr Furore machen

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wollen, ich würde den Sicherungsflügel herumlegen, wenn irgendwer mich und meine Nachbarn um

die gesetzlich verbrieften Menschenrechte betrügen wollte“ (S. 146).

In Veröffentlichungen nach 1945 erwies sich Sabais wiederholt als Gegner der „mörderi-

schen Kollektivismen Faschismus, Kommunismus“ („Sozialistische Elegie“, erschienen 1975,

abgedruckt unter Magistrat der Stadt Darmstadt, S. 65-71, Zitat S. 65; vgl. auch Sabais 1977

sowie Engels 1999, S. 15). In seiner Antrittsrede 1971 unterstrich er als neu gewählter Ober-

bürgermeister:

„Ich habe zwei Diktaturen in unserem Lande am eigenen Leibe erfahren und dafür – wie viele – bitter

bezahlen müssen. Vom humanen Wert des Fortschritts aus geurteilt, sind Faschismus und Kommu-

nismus die geschichtlichen Versager des 20. Jahrhunderts mit den sinnlosesten Spesen an Blut und

Gut der Völker. Zu leben und zu arbeiten lohnt sich nach meiner Überzeugung und Erfahrung am

ehesten für die soziale Demokratie und in einer sozialen Demokratie. Wo die Menschenrechte die

Politik regieren, da ist das Vaterland“ (Magistrat der Stadt Darmstadt, S. 29).

Zu Heinz Sabais, der bis 1950 in der SBZ bzw. der DDR lebte, konnten keine Entnazifizie-

rungsdokumente ermittelt werden.

Quellen:

BArch, BDC, R 9361-III/170081

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HStAD, R 12 P Nr. 5348

StadtA DA, ST 61 Sabais [zwei Kartons]

Literatur:

Böttiger, Helmut: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Aus-

stellung. Göttingen 2009.

Engels, Peter: Sabais, Heinz Winfried. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 768.

Engels, Peter: Heinz Winfried Sabais – Zwischen Ost und West. In: Ders./Wahl, Volker (Hrsg.): Thomas

Mann und Heinz Winfried Sabais. Begegnungen und Korrespondenzen. Darmstadt 1999, S. 9-16.

Grüttner, Michael: Studenten im Dritten Reich. Paderborn 1995.

Hessische Staatskanzlei (Hrsg.): Im Dienste der Demokratie. Die Trägerinnen und Träger der Wilhelm-

Leuschner-Medaille. Wiesbaden 2004.

Heukenkamp, Ursula (Hrsg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949. Berlin 1996

[Kurzbiografie S. 553].

Magistrat der Stadt Darmstadt (Hrsg.): Heinz Winfried Sabais zum Gedächtnis. 1922-1981. Oberbür-

germeister der Stadt Darmstadt. Darmstadt 1981.

Sabais, Heinz Winfried: Menschenmaterial. In: War ich ein Nazi? Politik – Anfechtung des Gewissens.

München et al. 1968, S. 124-146.

Sabais, Heinz Winfried: Machtergreifung 1933. Zur Kritik der Schrift von Henner Pingel „Darmstadt

1933, NSDAP-Machtergreifung im Volksstaat Hessen“. Darmstadt 1977.

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120

Schmelzerweg (D 7), benannt 2002 nach

Carl Christoph Schmelzer (1908-2001)

Physiker

* 17. November 1908 in Lichtentanne (Sachsen)

1916-1919 Besuch der Höheren Bürgerschule in Zwickau

1919-1928 Besuch des Reform-Realgymnasiums in Zwickau (1928 Abitur)

1926-1933 Mitglied des „Stahlhelms“ (bis zur Überführung in die SA)

1927 Sendelizenz für selbstgebaute Amateurfunk-Station in seiner Heimatstadt Lichtentanne

1928-1930 Studium der Chemie an der TH München

1930-1935 Studium der Physik an der Universität Jena (bestandene Vorprüfung in Physik 1932)

1932-1935 Promotion in Physik an der Universität Jena, Dissertation „Absolutmessung dielektrischer

Verluste bei hohen Frequenzen mit dem Kondensator-Thermometer“

1933-1936 und 1939-1945 Mitglied der SA (ab 1939 im Rang des Obertruppführers)

1935-1936 Privatassistent bei seinem Doktorvater Max Wien in Jena

1936-1939 Research Associate bei Charles A. Kraus an der Brown University (Providence, USA)

1939-1945 Assistent am Institut für Technische Physik der Universität Jena

1939-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 7326821, Aufnahme: 01.12.1939)

1939-1945 Mitglied der DAF

1939-1945 Mitglied der NSV

1940 von Februar bis April als Pionier beim Baulehr-Bataillon Brandenburg Havel

1942 Heirat mit Erica Margarete Horn (drei Kinder; eines im Kleinkindalter verstorben)

1945-1948 Internierung durch US-Armee in Heidenheim an der Brenz; dort Mitarbeit an Field Infor-

mation Agency Technical (FIAT)-Berichten

1948-1952 Wissenschaftlicher Assistent bei Walter Bothe am 1. Physikalischen Institut der Universi-

tät Heidelberg

1949 Habilitation an der Universität Heidelberg, „Beiträge zur Methodik dielektrischer Messungen“

1952-1960 Tätigkeit bei CERN, Senior-Physicist (ab April 1954 in Genf): Errichtung des Proton-

Synchrotrons (Betriebsbeginn November 1959)

1954 Ernennung zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Heidelberg

1956 Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Heidelberg

1958/1966 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (ab 1966 ordentliches Mitglied

der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse)

1959-1970 Mitglied (1960-1965 Vorsitzender) des Wissenschaftlichen Rats bei DESY (Deutsches

Elektronen-Synchrotron), Hamburg

1960 Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Kernphysik, Heidelberg

1960-1977 Professor und Direktor des Instituts für Angewandte Physik an der Universität Heidelberg

(ab 1971 beurlaubt, 1977 emeritiert); 1963-1964 Dekan

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1971-1978 Wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Schwerionenforschung

(GSI) in Darmstadt (Einweihung der Forschungsanlage 1977)

† 10. Juni 2001 in Heidelberg

Ehrungen:

1978 Bundesverdienstkreuz

1982 Ehrendoktor der Universitäten in Frankfurt am Main und Gießen

2001 Christoph-Schmelzer-Preis

Wirken in der NS-Zeit

Christoph Schmelzer, Kernphysiker, Pionier auf dem Gebiet der Schwerionenbeschleunigung

und wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer der GSI, war in der NS-Zeit als Physiker in

Jena und in den USA tätig. Er war unter anderem Mitglied der NSDAP und der SA.

„Die politische Biographie Christoph Schmelzers (Jg. 1908), der 1935 von Max Wien als Privatassis-

tent eingestellt wurde, weist sogar eine bemerkenswerte Kontinuität auf. Im Alter von 18 Jahren war

er bereits 1926 dem Stahlhelm beigetreten und später der SA, 1939 der NSDAP. Unterbrochen wurde

diese soldatenbündische Sozialisation nur zwischen 1936 und 1939, da Schmelzer ‚befehlsgemäß‘ aus

der SA ausscheiden mußte, um einen Forschungsaufenthalt an der Brown University in den USA

wahrnehmen zu können. Kurz vor Kriegsbeginn, im Juni 1939, kehrte Schmelzer als Assistent an das

Technisch-Physikalische Institut der Universität Jena zurück. Er wurde nach seinem Wiedereintritt in

die SA zum Obergruppenführer [sic!] befördert“ (Lemuth/Stutz, S. 620).

Seit dem Wintersemester 1930/31 studierte Christoph Schmelzer an der Universität Jena

Physik (mit den Nebenfächern Mathematik und Astronomie, hierzu und zum Folgenden UA

Jena, N Nr. 21). Im Dezember 1935 reichte er seine Dissertation zum Thema „Absolutmes-

sung dielektrischer Verluste bei hohen Frequenzen mit dem Kondensator-Thermometer“ ein,

an der er drei Jahre lang gearbeitet hatte, und legte erfolgreich die Promotionsprüfungen ab.

Im Anschluss arbeitete er als Privatassistent bei seinem Doktorvater Max Wien, einem re-

nommierten Experimentalphysiker (* 1866), der 1935 emeritiert worden war. Max Wien galt

als Beispiel eines „patriotic scientist“, der seine Kollegen gegen die fachlichen Außenseiter

der „Arischen Physik“ zu mobilisieren, zugleich aber für „vaterländische“ Ziele zu sammeln

suchte (Lemuth/Stutz, S. 602).

Im Frühjahr 1933 waren mehrere Jenaer Hochschullehrer dem „Stahlhelm“ beigetreten.

Namentlich Vertreter des akademischen Nachwuchses waren von Rektor Abraham Esau in-

formell dazu aufgerufen worden, sich einer Organisation der „nationalen Erhebung“ anzu-

schließen (Lemuth/Stutz, S. 618). Der Physiker Wilhelm Hanle berichtete in seinen Lebenser-

innerungen, dass er sehr erfreut gewesen war, dort auf den bereits etablierten jungen Kolle-

gen Schmelzer zu treffen, den er als herausragendes Talent unter den Jenaer Nachwuchswis-

senschaftlern bezeichnete (Hanle, S. 61). Seit Oktober 1933 war Schmelzer schließlich Mit-

glied der SA und avancierte dort zum Scharführer. Der damalige Leiter der SA-Ortsgruppe

Lichtentanne, in der Schmelzer organisiert war, lobte Schmelzer in einer Beurteilung für sei-

nen Einsatz:

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„Hiermit bescheinige ich dem Scharführer Christoph Schmelzer, geb. am 17. XI. 08, Lichtentanne, daß

er vom 20. 8. 1926 bis zu seinem Übertritt in die S.A. am 4. X. 1933 Mitglied des Stahlhelms, Orts-

gruppe Lichtentanne, war. Er war Kamerad des Jungsta [Jungstahlhelms, HK] u[nd] später Gruppen-

führer in einer Wehrsport-Komp[anie]. Immer hat er aktiv im Wehrsport seine Pflicht getan, sowohl

im Stahlhelm, als auch in der S.A.“ (01.12.1935, Bescheinigung des SA-Sturmbannführers Schaar-

schmidt, UA Jena, N Nr. 21).

Für alle Studenten der Jenaer Universität (die in der Deutschen Studentenschaft gezwun-

genermaßen organisiert waren bzw. ab 1934 im NSDStB) waren Mitgliedschaft und Dienst in

der SA verpflichtend – wobei die Mitgliedschaft in der SA tatsächlich keineswegs nur auf

dem Papier stand, sondern mit einem verhältnismäßig hohen Zeitaufwand verbunden war

(so Bruhn, S. 247).

Im September 1936 wechselte Schmelzer auf Einladung des Department of Chemistry der

Brown University (Providence, Rhode Island) zu einem längeren Forschungsaufenthalt in die

USA: Bis zum Frühjahr 1939 führte er dort seine Forschungen (besonders zum dielektrischen

Verhalten von Elektrolyten) als Research Associate bei Charles A. Kraus am Metcalf Research

Laboratory fort. Schmelzer finanzierte seinem Aufenthalt in den USA durch Stipendien (Met-

calf- bzw. Anthony-Fellowships, UA Jena, D Nr. 2548). Aus der SA musste er – seinen eigenen

Angaben aus der Zeit zufolge – für diesen Zeitraum Ausscheiden (UA Heidelberg, PA 8678).

Im Juni/Juli 1939 kehrte Schmelzer an das Physikalische Institut der Universität Jena zurück.

In einem 1966 verfassten Lebenslauf notierte Schmelzer zu seiner Forschungsarbeit an der

Universität Jena Folgendes:

„1939 Rückkehr nach Deutschland. Zunächst Zeiss-Stipendiat am Physikalischen Institut der Universi-

tät Jena bei H[elmuth] Kulenkampff, sodann Assistent am Institut für Technische Physik bei G[eorg]

Goubau. Während des Krieges Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Dezimeterwellengebiet, vor

allem über Antennenfragen, Schwingungserzeugung, präzise Frequenzmessungen und Messung von

Materialkonstanten“ (UA Heidelberg, HAW 419 [Akten S.]).

Helmuth Kulenkampff hatte 1935 in Nachfolge von Max Wien den Lehrstuhl für experimen-

telle Physik sowie die Leitung der Physikalischen Anstalt übernommen und war so de facto

zum leitenden Kopf der Jenaer Physik aufgestiegen. Er war kein Mitglied der NSDAP und

wurde vom NSDDB misstrauisch bis ablehnend beurteilt (Lemuth/Stutz, S. 615-619). Den

verwaisten Lehrstuhl für technische Physik vertrat ab 1939 Georg Goubau, ein ausgewiese-

ner Experte für Ionosphärenforschung und Funktechnik (Lemuth/Stutz, S. 635 f.) – obwohl

ihm seitens des Sicherheitsdiensts der SS ein abwertendes Urteil ausgestellt worden war. Ab

September/Oktober 1939 war Schmelzer als wissenschaftlicher Assistent Goubaus an der

Technisch-Physikalischen Anstalt tätig (auf der Stelle eines Dr. Ahrens). Goubau (der noch im

März 1944 zum ordentlichen Professor für technische Physik berufen wurde) und sein Wis-

senschaftlerteam bearbeiteten „ausschließlich Wehrmachtsaufträge“ (nach Einschätzung

von Kulenkampff aus dem Jahr 1942, Lemuth/Stutz, S. 636); wobei die Initiative dazu offen-

sichtlich von Goubau selbst ausging, der Forschungsvorhaben etwa auf dem Gebiet der

Richtstrahlenantennen und der Entwicklung von Spezialröhren verfolgte. Forschungsaufträge

erhielt Goubau auch seitens der Luftwaffe (vgl. Lemuth/Stutz, S. 644).

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Schmelzer selbst wurde 1940 nur kurzzeitig in die Wehrmacht eingezogen: Von Februar bis

April 1940 diente er als Pionier beim Baulehr-Bataillon Brandenburg/Havel (nach eigenen

Angaben, bestätigt durch Erkennungsmarkenausgabeliste vom 23.01.1940, Deutsche Dienst-

stelle [WASt], Personenrecherche). Im August/September nahm er an einer Arbeitstagung

der Deutschen Akademie für Luftfahrtforschung teil, besuchte die Versuchsstation der Deut-

schen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Kochel sowie die Kriegstagung der Deutschen Physika-

lischen Gesellschaft in Berlin. Offensichtlich gelang es dem Technisch-Physikalischen Institut,

Schmelzer von da an vom Kriegsdienst befreien zu können, wie eine Bescheinigung nahelegt,

in der es heißt, Schmelzer sei an „kriegswichtigen Forschungsaufgaben […] wesentlich betei-

ligt“ gewesen (28.08.1942, Thüringischer Minister für Volksbildung, UA Jena, D Nr. 2548). Für

die Universität Jena – und selbst für das Technisch-Physikalische Institut – gestaltete es sich

zunehmend schwierig, Wissenschaftler als unabkömmlich deklarieren zu lassen (vgl. Hendel

et al., S. 295). An welchen konkreten Forschungsprojekten Schmelzer arbeitete, ließ sich an-

hand der eingesehenen Quellen nicht ermitteln. Eine dokumentierte Leistungszulage vom

November 1943 über 100,- RM monatlich legt wiederum nahe, dass Schmelzer an For-

schungsaufträgen hoher Priorität beteiligt war: Das Geld sollte aus dem Budget eines Pro-

jekts entnommen werden, das mit der zweithöchsten Dringlichkeitsstufe („SS“; dies war bis

Juli 1942 noch die höchste Dringlichkeitsstufe) versehen war (09.11.1943, Thüringischer Mi-

nister für Volksbildung, an Universitätsrentamt-Kasse, UA Jena, D Nr. 2548). Schmelzers re-

guläres monatliches Einkommen von rund 400,- RM wurde aus Mitteln der Carl-Zeiss-

Stiftung bestritten. Für das Jahr 1943 gab Schmelzer im Zuge seines Entnazifizierungsverfah-

rens rund 10.000,- RM steuerpflichtiges Jahreseinkommen zu Protokoll (UA Jena, D Nr. 2548;

UA Heidelberg, PA 8678; zur Rolle der Carl-Zeiß-Stiftung vgl. Matthes, S. 191-280).

Nach seiner Rückkehr aus den USA im Sommer 1939 war Schmelzer wieder in die SA einge-

treten und hatte eine Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt, die schließlich im Dezember

1939 offiziell erfolgte (Mitglieds-Nr. 7326821, Aufnahme: 01.12.1939, beantragt: 19.10.1939,

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei). In einem Schreiben an die Universität Jena teilte

Schmelzer in Ergänzung seiner Personalbogen diesbezüglich mit:

„(1) Meinem Gesuch um Wiederaufnahme in die SA., aus der ich befehlsgemäss wegen meiner Reise

nach den Vereinigten Staaten austreten musste, ist unter gleichzeitiger Beförderung zum Obertrupp-

führer stattgegeben worden.

(2) Ich habe um meine Aufnahme in die NSDAP nachgesucht.

Heil Hitler! [Unterschrift]“ (18.09.1939, UA Jena, D Nr. 2548).

Schmelzer war Mitglied der NSDAP-Ortsgruppe in Lichtentanne (Sachsen), seiner Heimat-

stadt, in der er nach seiner Rückkehr aus den USA wohnte, bis er schließlich 1942 nach Jena

zog. Im gleichen Jahr – er wohnte bereits in Jena – heiratete er in Lichtentanne Erica Marga-

rete Horn (drei Kinder, wovon eines bereits im Kleinkindalter verstarb, UA Heidelberg, PA

2972; UA Jena, D Nr. 2548). Für die in der Literatur aufgestellte Behauptung, Schmelzer sei

zum „SA-Obergruppenführer“ ernannt worden – wie etwa im eingangs erwähnten Zitat aus

Lemuth/Stutz erwähnt –, ließen sich keine Belege finden (auch nicht in den angegebenen

Quellen). Es erscheint auch eher unwahrscheinlich, dass Schmelzer eine solche „Ehre“ zuteil

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124

wurde: „Obergruppenführer“ war der höchste Rang, der innerhalb der SA vergeben wurde;

nach aktuellem Forschungsstand erhielten nur rund siebzig Personen diese höchste „Aus-

zeichnung“. Es handelt sich daher aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Fehler in der Tran-

skription, der sich (unhinterfragt) tradiert hat – „Obertruppführer“ (neunter Dienstrang) und

„Obergruppenführer“ trennten immerhin zehn Dienstränge.

Kurz vor dem Besatzungswechsel am 22./23. Juni 1945 wurde Schmelzer mit über 80 weite-

ren Angehörigen der Universität Jena (Professoren, Assistenten und Hilfskräfte) in die ameri-

kanische Zone nach Heidenheim an der Brenz evakuiert, wo er bis 1948 interniert war bzw.

lebte. Hier arbeitete er an den Field Information Agency Technical (FIAT)-Berichten der Alli-

ierten mit, die zum Teil von Georg Goubau mitherausgegeben wurden.

Entnazifizierungsverfahren

Bereits im Sommer 1947 hatte Walter Bothe, Direktor des Physikalischen Instituts der Uni-

versität Heidelberg und ausgewiesener Experte im Bereich der Kernphysik (1954 Nobelpreis

für Physik), Kontakt zu Christoph Schmelzer in Heidenheim aufgenommen und versucht, ihn

für die Universität Heidelberg bzw. für das von ihm geleitete Institut zu gewinnen. Wissen-

schaftler von der Qualität eines Christoph Schmelzers waren begehrt; doch musste Schmel-

zer – neben bestimmten Ausnahmegenehmigungen, die seine Anstellung erst ermöglichten

– vor seiner Anstellung in Heidelberg 1948 das Entnazifizierungsverfahren in Heidenheim

durchlaufen (hierzu und zum Folgenden UA Heidelberg, PA 8678).

In seinem Meldebogen hatte Schmelzer seine Mitgliedschaften in DAF und NSV (1939-1945)

zu Protokoll gegeben, auch seine Mitgliedschaften in NSDAP und SA (1939 befördert zum

„Obertruppführer“). In besagtem Meldebogen verwies er zudem auf die beigefügte Anlage,

in der er die Umstände hinsichtlich der letztgenannten Mitgliedschaften wie folgt ausführte:

„Meine Anmeldung und Aufnahme in die NSDAP wurde während meiner Abwesenheit von Deutsch-

land ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung gegen meinen Willen vorgenommen. […] Im

Jahre 1933 wurde ich befehlsgemäss und ohne gefragt zu werden aus dem Stahlhelm in die SA über-

führt. 1936 musste ich wegen meiner Auslandsreise aus der SA austreten. Ich hatte bei meiner Rück-

kehr nach Deutschland 1939 nicht die Absicht wieder der SA beizutreten, wurde aber vom Führer der

SA-Standarte Zwickau-Sa[chsen] ohne mein Zutun wieder aufgenommen und zum Obertruppführer

befördert. Während der gesamten Zeit meiner Zugehörigkeit zur SA habe ich mich nie am Dienst

beteiligt“ (26.04.1946, UA Heidelberg, PA 8678).

Die Angaben stehen offensichtlich im Widerspruch zu den oben genannten Aussagen aus

den Jahren 1935 und 1939. Zu seinem steuerpflichtigen Vermögen, dass Schmelzer für das

Jahr 1943 mit rund 190.000,- RM bezifferte (1934 und 1938 waren es noch rund 30.000,-

RM), gab er an, dass dieses bei „Banken in der russischen Zone“ liege und ihm daher nicht

zur Verfügung stünde.

Schmelzer wurde am 13.01.1948 von der Spruchkammer Heidenheim als „Mitläufer“ einge-

stuft (was seiner Selbsteinstufung entsprach). Als Sühnemaßnahme hatte er 500,- RM zu

entrichten, deren Eingang sich in den Unterlagen dokumentiert findet. Er hatte zudem die

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Kosten für das Verfahren zu tragen – die sich zunächst auf einen Streitwert von 214.000,- RM

(gemäß seiner Angaben zu Einkommen und Vermögen) bezogen. Allerdings wurden die Ver-

fahrenskosten schließlich auf 20,- [!] RM festgesetzt, mit folgender Begründung:

„Der Betroffene hat sein gesamtes Vermögen in der Ostzone durch Beschlagnahme verloren und ist

völlig mittellos. Sein jetziges Einkommen, das er als Flüchtling für den Wiederaufbau seiner Existenz

unbedingt braucht, rechtfertigt ebenfalls keine höheren Gebühren. Es handelt sich um einen erwie-

senen Härtefall“ (19.04.1948, Spruchkammer Heidenheim, UA Heidelberg, PA 8678).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

UA Heidelberg, PA 2972

UA Heidelberg, PA 8678

UA Heidelberg, HAW 419 (Akten S.)

UA Jena, D Nr. 2548

UA Jena, N Nr. 21

StadtA DA, ST 61 Schmelzer, Prof. Dr. Carl Christoph

Literatur:

Angert, Norbert: Schmelzer, Carl Christoph. In: NDB 23 (2007), S. 129 f.

Bruhn, Mike: Die Jenaer Studentenschaft 1933-1939. In: Hoßfeld, Uwe et al. (Hrsg.): „Kämpferische

Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 235-

261.

Buchhaupt, Siegfried: Die Gesellschaft für Schwerionenforschung. Geschichte einer Großforschungs-

einrichtung für Grundlagenforschung. Frankfurt am Main/New York 1995.

Drüll, Dagmar: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986. Berlin et al. 2009, S. 541 f.

Hanle, Wilhelm: Memoiren. Gießen 1989.

Hendel, Joachim et al. (Bearbeiter): Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Dokumente zur

Universität Jena 1933-1945. Stuttgart 2007.

Hoßfeld, Uwe et al. (Hrsg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im National-

sozialismus. Köln/Weimar/Wien 2003.

Lemuth, Oliver/Stutz, Rüdiger: „Patriotic scientists“: Jenaer Physiker und Chemiker zwischen berufs-

ständigen Eigeninteressen und „vaterländischer Pflichterfüllung“. In: Hoßfeld, Uwe et al. (Hrsg.):

„Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Köln/Weimar/

Wien 2003, S. 596-678.

Matthes, Christoph: Finanzier – Förderer – Vertragspartner. Die Universität Jena und die optische

Industrie 1886-1971. Köln/Weimar/Wien 2014.

Prüß, Karsten: Kernforschungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Projekt Wissenschaftspla-

nung. Frankfurt am Main 1974 [hier S. 149-154].

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126

Adelungstraße (J 7), benannt 1945 nach

Bernhard Adelung (1876-1943)

Buchdrucker und SPD-Politiker, Hessischer Staatspräsident 1928-1933

* 30. November 1876 in Bremen

1882-1890 Volksschulzeit in Bremen; in letzten Schuljahren Laufbursche für ein Herrengeschäft

1891-1895 Ausbildung zum Schriftsetzer in Bremen

1896/97 Wanderjahr durch Deutschland, die Schweiz, Norditalien und Österreich

Ab 1897 Buchdrucker bei unterschiedlichen Arbeitgebern in Mainz

1897 Mitglied der SPD

1902-1918 Redakteur/Schriftleiter der „Mainzer Volkszeitung“

1903-1908, 1911-1918, 1919-1933 Mitglied des Landtags des Großherzogtums Hessen-Darmstadt

bzw. (ab 1919) des Volksstaats Hessen (SPD)

1903 Hochzeit mit Johanna Groß aus Mainz

1904-1918 Stadtverordneter in Mainz

1905 „Landtags-Handbuch der sozialdemokratischen Partei des Großherzogtums Hessen“ (mit Nach-

trägen 1908 und 1911)

1910 „Die Sozialdemokratie in der Gemeinde. Ein kommunalpolitischer Leitfaden für das Großher-

zogtum Hessen“

1910-1918 Mitglied des Kreistags in Mainz

1915 Kriegsfreiwilliger an der Westfront; rückbeordert nach Mainz, dort bis Kriegsende leitend in der

Kriegs- und Ernährungswirtschaft von Mainz und Hessen tätig

1918-1928 Beigeordneter und Bürgermeister in Mainz

1919-1928 Präsident der Volkskammer des Volksstaats Hessen (Landtagspräsident)

1928-1933 Hessischer Staatspräsident und Minister für Kultus und Bildungswesen mit Sitz in Darm-

stadt

1933 Ruhestand in Traisa, später (ab 1939/1940) wieder in Darmstadt (Wittmannstraße 29)

1935-ca. 1940 Arbeit an seinen Lebenserinnerungen (veröffentlicht 1952)

† 24. Februar 1943 in Darmstadt

Ehrungen:

1923 Ehrensenator der Universität Gießen (mit „Rücksicht auf seine deutschbewusste Haltung in

Zeiten schwerster Not“ [bezog sich auf seinen Widerstand in Mainz gegen die französische Besatzung

und deren Befürworter – Adelung wurde von den Franzosen zweimal in den unbesetzten Teil des

Landes ausgewiesen, 1919 und 1923/25, und war daher zeitweise in Darmstadt gemeldet])

1928 Ehrendoktor der TH Darmstadt („im Hinblick auf seine außerordentlichen Verdienste um die

Förderung der kulturellen und wirtschaftlichen Interessen des Hessenlandes“)

1963 Bernhard-Adelung-Schule in Darmstadt

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Wirken in der NS-Zeit

Bernhard Adelung, seit 1897 Mitglied der SPD, begann seine politische Karriere in Mainz, wo

der gelernte Buchdrucker als Stadtverordneter, später als Bürgermeister wirkte. Von 1903

bis 1933 war er (mit kurzer Unterbrechung) hessischer Landtagsabgeordneter, von 1919 bis

1928 Landtagspräsident. Im Februar 1928 wurde er als letzter frei gewählter Staatspräsident

zum Nachfolger von Carl Ulrich in das höchste politische Amt des Volksstaats Hessen beför-

dert. Zugleich leitete er fortan das Ministerium für Kultus und Bildungswesen.

Nach dem (erneuten) Wahlerfolg der NSDAP am 6. März 1933 drängten führende Mitglieder

der NSDAP darauf, dass Adelung ihnen (in Person von Heinrich Müller) die Staatsgewalt in

Hessen übertragen solle. Adelung weigerte sich zunächst, sah sich aber infolge einer Anwei-

sung von Reichsinnenminister Wilhelm Frick dazu gezwungen, unter Protest die Polizeige-

schäfte noch am gleichen Tag an „Reichskommissar Dr. Müller“ zu übertragen. Am 13. März

1933 wurde schließlich Ferdinand Werner (NSDAP) zum Staatspräsidenten gewählt; auf den

Gegenkandidat Adelung entfielen lediglich die Stimmen der SPD (die kommunistischen Ab-

geordneten waren bereits verhaftet worden). Adelungs politische Karriere war damit been-

det; der Landtag wurde aufgelöst. Von den Beamten und Angestellten seines Ministeriums

verabschiedete sich der scheidende Staatspräsident mit der Bitte, unabhängig von der politi-

schen Lage stets „die menschlichen Beziehungen in den Vordergrund aller Arbeit“ zu rücken.

Adelung räumte seine Dienstwohnung in Darmstadt und bezog ein Einfamilienhaus im nahen

Traisa. Er erhielt zunächst keine Bezüge, da Reichsstatthalter Jakob Sprenger „jegliche An-

weisung und Auszahlung von Versorgungsgebühren“ untersagte. Auch Adelungs Sohn Hans

sowie sein Schwiegersohn Wolfgang Volbach wurden aus staatlichem (Vorbereitungs-)Dienst

entlassen, worauf die Familie in eine finanziell schwierige Situation geriet.

In der NS-Zeit hat sich Adelung offenbar nicht mehr politisch betätigt. In einem geheimen

Dokument des Reichssicherheitshauptamts vom Juni 1939 wird Adelung in einer Aufstellung

zur „Erfassung führender Männer der Systemzeit“ unter „Marxisten-Kommunisten“ gelistet.

Seinen eigenen Lebenserinnerungen zufolge, die er zwischen 1935 und 1940 verfasste, ka-

men gelegentlich alte Weggefährten in Traisa zu Besuch. Adelung reiste wiederholt nach

Berlin, wo er – anders als in Darmstadt – unerkannt am kulturellen Leben teilhaben konnte.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er aus dem politischen Leben zurückgezogen wieder in

Darmstadt (Wittmannstraße 29).

Nach schwerer Krankheit starb Bernhard Adelung am 24. Februar 1943 in Darmstadt. Die

Trauerfeier anlässlich seiner Beisetzung wurde von der Gestapo überwacht. Die Todesanzei-

ge durfte in der Presse erst nach der Trauerfeier erscheinen. Nur ein kleiner Kreis von Ver-

trauten fand sich auf dem Waldfriedhof ein. Die Formulierung „Hessischer Staatspräsident a.

D.“ fehlt in der veröffentlichten Todesanzeige.

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Quellen:

HStAD, G 35 E Nr. 2/15

HStAD, R 12 P Nr. 20

StadtA DA, ST 61 Adelung, Dr. Bernhard

Literatur:

Adelung, Bernhard: Sein und Werden. Vom Buchdrucker in Bremen zum Staatspräsidenten in Hessen

(bearb. von Karl Friedrich). Offenbach 1952.

Franz, Eckhart G.: Adelung, Bernhard. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 13 f.

Friedrich, Karl: Adelung, Bernhard. In: NDB 1, Berlin 1953, S. 65.

Rack, Klaus-Dieter/Vielsmeier, Bernd (Hrsg.): Hessische Abgeordnete 1820-1933. Biografische Nach-

weise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820-1918 und

den Landtag des Volksstaats Hessen 1919-1933. Darmstadt 2008.

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129

Andresweg (E 8-9), benannt 2004 nach

Wilhelm Andres (1908-2004)

Arheilger Heimatforscher, Kenner der Darmstädter Wald- und Jagdgeschichte

* 15. April 1908 in Arheilgen

1929 Wissenschaftliche Prüfung an der TH und am Pädagogischen Institut Darmstadt; Unterricht an der Volksschule Arheilgen; Schulverwalterstelle in Offenbach

1930 Schulverwalter an der Volksschule Atzenhain

1930-1933 Lehrkraft an der Privatschule Lucius (Echzell/Wetterau)

1933-1935 Schulverwaltung Gießen (genaue Tätigkeit unklar)

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 1800332)

1933-1936 Scharführer NSKK

1935-1942 Schuldienst und wohnhaft in Ober-Hörgern (Kreis Gießen)

1936 Hochzeit (zwei Kinder 1937 und 1941 geboren)

1937-1940 Zellenleiter NSV (Zeitraum für Mitgliedschaft in der NSV ist unklar)

1939 Ernennung zum Lehrer [19.07.1939, Quelle: Regierungsblatt 1939, Beilage 15, S. 130]

1940 NS-Lehrerbund (Zeitraum der Mitgliedschaft ist unklar)

1942-1945 Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Mitglied einer Nachrichtenabteilung (seit Sommer 1944 im Rang eines Feldwebels)

1945-1949 Russische Kriegsgefangenschaft (Entlassungsschein vom 06.05.1949)

1949 Wohnhaft in Darmstadt-Arheilgen

Englischunterricht in E-Klassen der Volksschulen (Carl-Ulrich-Schule), dann in Diesterwegschule

1958-1965 Rektor der Mornewegschule

1965-1970 Studienrat am Pädagogischen Fachinstitut Jugenheim

1978 „Alt-Arheilgen. Geschichte eines Dorfes“

1981 „Wildpark Kranichstein: Zur Geschichte des Darmstädter Waldes“

1986 „Das Dorf am Ruthsenbach“ anlässlich der 1150-Jahr-Feier Arheilgens

1988 „Aus Darmstadts Waldvergangenheit“

1993 „Kranichstein: Geschichte eines Stadtteils“

† 11. März 2004 in Darmstadt-Arheilgen

Mitglied und Vorsitzender des Kirchenvorstands der evangelisch-lutherischen Auferstehungsgemein-de Arheilgen sowie Mitglied zahlreicher weiterer Arheilger Vereine und der Kommission für die Stra-ßennamen in Darmstadt

Ehrungen:

1985 Auszeichnung durch die Fritz-Wernath-Stiftung für seine Verdienste um die Arheilger Ortsge-schichte

1989 Verdienstmedaille des Verdienstordens der BRD

1995 Ernst-Hofmann-Medaille

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130

Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Andres, der sich insbesondere nach seiner beruflichen Laufbahn im Schuldienst als

Arheilger Heimatforscher einen Namen machte, war in der NS-Zeit an verschiedenen Schu-

len im Kreis Gießen tätig. Noch bis 1933 war er an der Privatschule Lucius in Echzell (heute

Wetteraukreis) angestellt. Im April 1933 zog er von Echzell nach Gießen; auf seinen Besol-

dungsblättern ist unter Dienststelle fortan „Schulverw. Gießen“ gestempelt. Im Mai 1935 zog

er nach Ober-Hörgern im Kreis Gießen (heute Wetteraukreis), wo er bis 1942 im Schulbe-

trieb tätig war („Schulverw. Ober Hörgern Obh.“), ab Juli 1939 offiziell als (verbeamteter)

Lehrer.

Ab 1942 nahm Wilhelm Andres als Soldat der Wehrmacht am Zweiten Weltkrieg teil. Er war

Mitglied der Infanterie-Divisions-Nachrichten-Abteilung 389 der im Jahr 1942 neu formierten

Infanterie-Division 389, die an der Schlacht um Stalingrad beteiligt war. Im weiteren Kriegs-

verlauf wurde Andres Teil der 252. Infanterie-Division, von der ein Großteil bei Danzig in

sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Seit Sommer 1944 diente er eigenen Angaben fol-

gend im Rang eines Feldwebels. Im Mai 1949 kehrte er aus sowjetischer Kriegsgefangen-

schaft nach Darmstadt-Arheilgen zurück.

Wilhelm Andres war datiert auf April 1933 der NSDAP (Ortsgruppe Arheilgen) beigetreten

(Mitglieds-Nr. 1800332). Er wechselte wegen Umzugs zur NSDAP-Ortsgruppe Gießen; als

weitere NSDAP-Ortsgruppen werden in der Mitgliederkartei Lang-Göns, Gambach und Ober-

Hörgern genannt. Von 1933 bis 1936 war er Scharführer des NSKK, von 1937 bis 1940 Zellen-

leiter bei der NSV. Des Weiteren war er Mitglied des NS-Lehrerbunds. Zu welchen Zeiten er

den genannten NS-Organisationen insgesamt angehörte, ließ sich nicht ermitteln.

Die Meldebogen für die Kennkarte sowie für das Entnazifizierungsverfahren füllte Wilhelm

Andres am 11. Mai 1949 aus, direkt nachdem er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in

seine Heimatgemeinde Darmstadt-Arheilgen zurückgekehrt war. Am nächsten Tag (12. Mai

1949) stellte er einen Antrag auf Heimkehrer-Amnestie, der rasch positiv beschieden wurde

(Stempel auf Meldebogen „Heimkehrer-Amnestie, eingestellt durch Kläger am 23. Mai

1949“). Im Zuge des Verfahrens wurde aus Ober-Hörgern rückgemeldet, dass Andres dort

während der NS-Zeit nicht weiter aufgefallen sei und man ihn gerne wieder als Lehrer ein-

stellen würde.

Quellen:

BArch, NSDAP-Mitgliederkartei

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Stadt (Neuablage), Nr. 76

HStAD, G 15 Buedingen Nr. M 432

HStAD, G 35 E Nr. 5/59

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131

HStAD, H 3 Nr. 65370 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, R 12 P, 51

StadtA DA, ST 61 Andres, Wilhelm

Literatur:

Castritius, Helmut: Andres, Wilhelm. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 32.

Castritius, Helmut: Weltbürger vom Ruthsenbach. Zum Tod von Wilhelm Andres. In: DE, 18.03.2014

(Kopie in StadtA DA, ST 61) und in Schützt Darmstadt 2004/2, S. 6 f.

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Heiner-Aßmuth-Platz (L 7), benannt 1996 nach

Heinrich Aßmuth (1907-1995)

Bessunger Original

* 30. August 1907 in Frankfurt am Main, wohnhaft in Darmstadt

Besuch der Bessunger Knabenschule

Lehre als Autoschlosser

1927 Führerschein

Arbeitete zeitweise als Tankwart sowie als Arztfahrer (bei Dr. Kurt Bernet, Vater des späteren Darmstädter Polizeipräsidenten)

1932 Schlosser bei der Fima Behrmann

1934 Schlosser bei der Adam Opel AG in Rüsselsheim

1934 Hochzeit mit Anna Klein in Groß-Gerau

1934-1937 Mitglied der DAF

1936-1941 Mitglied der NSV

1937 Selbständiger Fuhrbetrieb „Heinrich Assmuth“

Um 1938 Pacht der Firma Stoltenkamp (Martinsviertel), Verkauf von Mineralwasser und Likör

1941-1945 Soldat in einer Transportabteilung (Rang: Obergefreiter)

1945 Kriegsgefangenschaft [???]

Wieder in Darmstadt: Anfertigen von/Handel mit Haushaltsgegenständen aus amerikanischen Kon-servenbüchsen; Fuhrgeschäft

1948 Gemüsestand auf dem Forstmeisterplatz

1949 „Bessunger Markthalle“ in einem Garten in der Sandbergstraße

1954/55-1968 „Kerwevadder“ der Bessunger Lappingskerb

1961 Kauf eines alten Hauses [Sandbergstraße 42], Ausbau zu Laden und Wohnsitz

1976 erster Pächter der Ludwigsklause auf der Ludwigshöhe

† 14. April 1995 in Darmstadt

Ehrungen:

1968 Ehrung für verdiente Bürger durch Stadt Darmstadt

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133

Wirken in der NS-Zeit

Zu Beginn der 1930er Jahre arbeitete Heinrich Aßmuth in seinem erlernten Beruf als Schlos-

ser, zunächst bei der Firma Behrmann in Darmstadt, dann bei der Adam Opel AG in Rüssels-

heim. Einem Zeitungsbericht nach habe er „bei den Opel-Werken gearbeitet, bis man ihn

rausgeschmissen hat, weil er nicht in die NSDAP eingetreten war“ (DE, 31.05.1977). Als si-

cher kann gelten, dass Aßmuth spätestens 1937 selbständig einen Fuhrbetrieb unterhielt.

Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hatte er die Firma Stoltenkamp im Darmstädter Martins-

viertel gepachtet und vornehmlich mit dem Verkauf von Mineralwasser und Likör seinen

Lebensunterhalt bestritten.

Heinrich Aßmuth war, eigenen Angaben in seinem Meldebogen folgend, von 1934 bis 1937

Mitglied der DAF sowie von 1936 bis 1941 Mitglied der NSV. Weitere Mitgliedschaften in NS-

Organisationen sind nicht bekannt.

Von 1941 an nahm er als Soldat am Krieg teil. Er diente als Obergefreiter in einer Kraftwa-

gen-Transport-Abteilung (993 und 988).

Bei seiner Rückkehr nach Darmstadt fand er den Betrieb zerstört vor. Aus amerikanischen

Konservenbüchsen soll er in der Nachkriegszeit Haushaltsgegenstände hergestellt und damit

Handel getrieben haben. Gemeldet war ein „Fuhrgeschäft“ in der Heidelbergerstr. 89. Zu-

dem organisierte er Lebensmittel bei den Amerikanern, die er in Bessungen an Rentner ver-

teilte.

In seinem Meldebogen schätzte Heinrich Aßmuth sich selbst als „entlastet“ ein, mit der Be-

gründung, er sei „politisch nicht belastet“. Er wurde von der Spruchkammer als „Vom Gesetz

nicht betroffen“ eingestuft [Stempel auf Meldebogen ohne Datum].

„Gesetze und Umgangsformen regelte er menschlich und unkonventionell“, heißt es in einer

Pressenotiz der Stadt Darmstadt, „in seinem Bessungen, wo man ihn geliebt und geachtet

habe, auch als Kerwevadder“ (DE, 17.10.1996).

Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 31846

HStAD, H 3 Nr. 12792 [Kennkartenmeldebogen]

StadtA DA, ST 61 Aßmuth, Heiner

Literatur:

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Aßmuthweg (M 8), benannt 1981 nach

Peter Aßmuth (1856-1939)

Darmstädter Kommunalpolitiker

* 24. Juli 1856 in Bessungen

Krankenkassenbeamter/Bürobeamter (seit 1896 in Ruhe), Buchdrucker, Bürogehilfe

1879 Hochzeit mit Elisabeth Behrmann

1880 Geburt des Sohns Heinrich

1892 Geburt der Tochter Anna (gest. 1893)

1907 Mitbegründer des „Hessischen Volksfreunds“, Mitarbeiter der Zeitung

1910-1933 Darmstädter Kommunalpolitiker für die SPD

† 8. Dezember 1939 in Darmstadt

Ehrungen:

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Wirken in der NS-Zeit

Die tradierten Informationen über Leben und Wirken von Peter Aßmuth, der 1933 bereits

sein 77. Lebensjahr vollendete, in der NS-Zeit sind wenig aussagekräftig. Er war Mitbegrün-

der sowie Mitarbeiter der 1933 auf Anordnung der nationalsozialistischen Regierung einge-

stellten SPD-Zeitung „Hessischer Volksfreund“.

Da Peter Aßmuth 1939 (im Alter von 86 Jahren) starb, existieren keine Entnazifizierungsak-

ten. Es ließen sich keine Hinweise auf eine Unterstützung des NS-Regimes ermitteln.

Quellen:

StadtA DA, ST12/18 Meldeblatt (für Melderegistratur vor 1945)

Jubiläumsausgabe des „Hessischen Volksfreunds“ vom 01.10.1932

Literatur:

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Bartningstraße (F-G 10), benannt 1967 nach

Otto Bartning (1883-1959)

Architekt und Kirchenbaumeister

* 12. April 1883 in Karlsruhe

1902 Abitur am humanistischen Gymnasium Karlsruhe

1902-1903 Studium der Architektur an der TH Berlin

1904-1905 Weltreise (Italien, England, Holland, Dänemark, Süd- und Nordamerika, Japan, China und Indien), teils als Schiffsjunge auf einem Segelschiff

1905 Fortsetzung des Studiums (Abbruch 1907 oder 1908 ohne Abschluss); zugleich freischaffender Architekt in Berlin

1906 erstes selbständiges Bauwerk: Friedenskirche in Peggau (Steiermark); weitere 17 evangelische Kirchbauten auf dem damaligen Gebiet Österreichs folgten

1909-1910 Erster Kirchenbau in Deutschland (Essen)

1912 Mitglied des Deutschen Werkbunds

1918 Mitglied der „Novembergruppe“ und Gründungs-Mitglied des Berliner „Arbeitsrats für Kunst“

1919 Veröffentlichung „Vom neuen Kirchenbau“

1919-1923 Vorstand des Deutschen Werkbunds

1922 Entwurf der Sternkirche (aufsehenerregend, aber nicht umgesetzt; Modell OB-Archiv TUD)

1924 Teilnahme am Wettbewerb Gustav-Adolf-Kirche (Berlin)

1926 Mitbegründer Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen

1926 Mitglied der Architektenvereinigung „Der Ring“

1926-1930 Direktor der Staatlichen Bauhochschule in Weimar

1928 Stahlkirche auf dem Ausstellungsgelände der PRESSA in Köln

1929-1930 Rundkirche in Essen

1932-1934 Bau der Gustav-Adolf-Kirche (Berlin)

1932-1941 Bautätigkeit für die Evangelische Kirche in Deutschland (Markuskirche/Karlsruhe, Neue Kreuzkirche/Chemnitz) sowie für das Kirchliche Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche

1941-1948 Leiter der Bauhütte der Heiliggeist- und der Peterskirche in Heidelberg

1943 Umzug von Berlin nach Neckarsteinach bei Heidelberg

1945 Von Militärregierung als Berater der Bürgermeister in Neckarsteinach eingesetzt

1945/46 Kolloquien an der Universität Heidelberg

1946-1951 Sogenannte „Bartning-Notkirchen“ (insgesamt 43 gebaut), unterstützt durch Programm des Hilfswerks der EKD, darunter Matthäuskirche (Heimstättensiedlung, 1950)

1950 Präsident des Bundes Deutscher Architekten (BDA)

1951 Umzug nach Darmstadt

1951 Mitinitiator des „Darmstädter Gesprächs“ (ferner Leiter des Gesprächs „Mensch und Raum“)

1952 Leiter einer Technischen Kommission für den Wiederaufbau der Insel Helgoland

1952-1954 Bau der Frauenklinik in Darmstadt

1953 Gründung der Otto-Bartning-Stiftung für Baukunst und bildende Künste mit Sitz in Darmstadt

1955 ständiger Berater des Berliner Senats für städtebauliche Neugestaltung (West-)Berlins

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† 20. Februar 1959 in Darmstadt

Ehrungen:

Ehrenbürger von Helgoland

1924 Ehrendoktor der Theologie der Albertus-Universität Königsberg

1952 Ehrendoktor der Technischen Hochschule Aachen

1953 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland

1958 Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main

1958 Ernst-Reuter-Medaille in Silber der Stadt Berlin

1958 Silberne Verdienstmedaille der Stadt Darmstadt

1958 Großes Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland

Wirken in der NS-Zeit

Otto Bartning, Vertreter des Neuen Bauens, leitete von 1926 bis 1930 die Staatliche Bau-

hochschule in Weimar, die unmittelbare Nachfolgeeinrichtung des nach Dessau verbannten

Bauhauses. Unter Bartnings Leitung war die Ausrichtung der Hochschule weniger experimen-

tell, Konzept und Personal wiesen aber starke Kontinuitäten auf. Im Bereich der Architektur

machte Bartning vor allem durch moderne Kirchenbauten auf sich aufmerksam (PRESSA-

Stahlkirche Köln 1928, Rundkirche Essen 1930). Bereits 1919 hatte er sein Werk „Vom neuen

Kirchenbau“ veröffentlicht, das grundlegende Gedanken zu einem reformierten Sakralbau

als Alternative zum „konservativen Bauprogramm der protestantischen Kirche“ vereint. Nach

dem Wahlsieg der NSDAP in Thüringen 1930 schied Bartning als Leiter der Bauhochschule

aus dem Amt (sein Vertrag lief aus) und wurde durch Paul Schultze-Naumburg (NSDAP-

Mitglied seit 1930) ersetzt. Bartning hatte jedoch – anders als in der Literatur zum Teil zu

lesen – selbst bereits im April 1929 sein Ausscheiden nach Vertragsende angekündigt. Der

von ihm vorgeschlagene Nachfolger fand bei der rechtsbürgerlich-nationalsozialistischen

Koalitionsregierung keine Berücksichtigung. Bartning kehrte zurück nach Berlin (seinen

Wohnsitz hatte er nie nach Weimar verlegt – einer der Streitpunkte bezüglich seines Ver-

trags), wo er an der Errichtung der Siemensstadt (sog. Ringsiedlung 1929-1931) und maßgeb-

lich am Bau der Gustav-Adolf-Kirche (1932-1934) beteiligt war.

Ab 1933 erhielt Bartning als Architekt keine staatlichen Aufträge mehr. Von den zuständigen

NS-Behörden wurde er als Mitglied des „Ring“ zu den modernen Architekten gezählt. Er war

fortan hauptsächlich für die Evangelische Kirche tätig und errichtete mehrere Kirchenbauten

im Deutschen Reich, darunter die Markuskirche in Karlsruhe sowie die Neue Kreuzkirche in

Chemnitz. Zudem arbeitete er für das Kirchliche Außenamt der Deutschen Evangelischen

Kirche unter Auslandsbischof Theodor Heckel. Bartning entwarf Kirchenbauten für deutsche

Gemeinden im Ausland (z. B. in Heerlen, Barcelona, Lissabon, Sofia, Beirut und Belgrad) und

reiste in diesem Zusammenhang – noch im Verlauf des Zweiten Weltkriegs – durch Europa.

Wie Dokumente aus dem Archiv der Badischen Landeskirche in Karlsruhe [im Otto-Bartning-

Archiv der TU Darmstadt] belegen, zeichnete Bartning ab 1941 im Auftrag der Badischen

Landeskirche für die Restaurierung der Heiliggeistkirche in Heidelberg und für die Konzepti-

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137

on ihres Innenraums verantwortlich. Hierfür rief er eine Bauhütte ins Leben, die er auch lei-

tete. Trotz Beschwerden darüber, dass er nicht häufiger vor Ort anwesend war, pendelte er

anfangs zwischen Berlin und der Baustelle. Erst 1943, als sein Wohnhaus bei einem Bomben-

angriff beschädigt worden war, verlegte er seinen Wohnsitz nach Neckarsteinach bei Heidel-

berg, wo er im Alter von 62 Jahren das Kriegsende 1945 erlebte.

Bartning gehörte in den 1940er Jahren in Heidelberg zum intellektuellen Gesprächskreis um

Marianne Weber, der Witwe Max Webers [Quelle: Brief an Gustav Hartlaub, 1951 (Hinweis:

Sandra Wagner-Conzelmann)]. Eine Mitgliedschaft in der „Bekennenden Kirche“ lässt sich

nicht nachweisen, wenngleich Bartnings Familie hierzu engen Kontakt pflegte. Äußerungen

aus Briefen und anderen privaten Schriftstücken legen jedoch nahe, dass Bartning den

„Deutschen Christen“ kritisch gegenüberstand. Bartnings Biografin Sandra Wagner-

Conzelmann vertritt nach Durchsicht dessen überlieferten Nachlasses die Auffassung, Bart-

ning habe „ganz eindeutig“ sehr unter dem NS-Regime und dem Krieg gelitten. Insbesondere

der Tod seines Sohnes im Krieg habe seine regimekritische Haltung befördert. In Bartnings

Nachlass finden sich zudem von ihm unterzeichnete Friedensaufrufe. Es ließen sich anderer-

seits keine Hinweise dafür ermitteln, dass er dem NS-Regime nahe stand. Weder im Gene-

rallandesarchiv Karlsruhe (zuständig für die Spruchkammer Heidelberg) noch im HHStAW

(für Bartnings Wohnort Neckarsteinach zuständig) ließen sich Entnazifizierungsdokumente

recherchieren.

Nach 1945 war Bartning maßgeblich am Notkirchen-Programm des Hilfswerks der EKD betei-

ligt („Bartning-Notkirchen“). Ab 1951 lebte er in Darmstadt, in einem Teil des Ernst-Ludwig-

Hauses auf der Mathildenhöhe. Wiederholt geriet er in Konflikt mit Peter Grund, zu dieser

Zeit Stadtbaudirektor in Darmstadt. Von 1955 an diente Bartning dem Berliner Senat als Be-

rater für die städtebauliche Neugestaltung der Stadt.

Quellen:

HStAD, H 3 Nr. 76968

HStAD, R 12 P Nr. 136

Otto-Bartning-Archiv der TU Darmstadt [Fachgebiet Kunstgeschichte]

StadtA DA, ST 61 Bartning, Prof. Dr. Otto und Cläry Bartning

StadtA Eberbach, A 424 (1939-1952)

UA Heidelberg, Rep 27-50

Kommunikation mit Dr. Sandra Wagner-Conzelmann, 22./24.09.2015

[Keine Entnazifizierungsakten im HHStAW oder Generallandesarchiv Karlsruhe]

Literatur:

Schneider, Christoph: Das Notkirchenprogramm von Otto Bartning. Marburg 1995.

Bredow, Jürgen: Materialien zum Werk des Architekten Otto Bartning. Darmstadt 1983.

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138

Nierste, Ulrike: Die Gustav-Adolf-Kirche von Otto Bartning und der Kirchenbau in der Weimarer Re-

publik. Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Berlin [Dissertation] 2010.

Posener, Julius: Otto Bartning. Zum 100. Geburtstag des Baumeisters am 12. April 1983. Berlin 1983.

Nicolaisen, Dörte: Otto Bartning und die Staatliche Bauhochschule in Weimar 1926-1930. In: Dies.

(Hrsg.): Das andere Bauhaus. Otto Bartning und die Staatliche Bauhochschule in Weimar 1926-1930.

Berlin 1996, S. 11-44.

Ulbricht, Justus H.: „Ewige Gotik“ statt „Zahnarztstil mit Siedlungswürfeln“. Der Nationalsozialismus

im Kampf gegen das Bauhaus. In: Modell Bauhaus [Ausstellungskatalog]. Ostfildern 2009, S. 355-361.

Wagner-Conzelmann, Sandra: Bartning, Otto. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 60 f.

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Bäumerweg (O 8), benannt 1978 nach

Gertrud Bäumer (1873-1954)

Frauenrechtlerin, Politikerin und Schriftstellerin

* 12. September 1873 in Hohenlimburg (heute Stadtteil von Hagen)

Besuch der Volksschule in Kamin (Pommern), der höheren Mädchenschulen in Mühlheim (Ruhr),

Halle (Saale) und Magdeburg

1888-1894 Besuch des Lehrerinnenseminars in Magdeburg

1894-1898 Lehrerin in Halberstadt, Kamen und Magdeburg

1896 Mitbegründerin der Magdeburger Lehrerinnenvereinigung

1898-1900 Oberlehrerinnenstudium in Berlin

1900-1904 Studium der Germanistik, Theologie, Philosophie und Staatswissenschaften in Berlin

Ab 1901 Herausgeberin (zusammen mit Helene Lange) des „Handbuchs der Frauenbewegung“

1904 Promotion über „Satyros“ von Johann Wolfgang von Goethe

1910-1919 Vorsitzende des Bunds Deutscher Frauenvereine (BDF)

1912-1940 Redaktion und zeitweise (ab 1919) Herausgeberin der Zeitschrift „Die Hilfe“

1914 Gründerin des „Nationalen Frauendienstes“ im Ersten Weltkrieg

1916-1936 Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frau“

1916-1920 Begründung und Leitung des Sozialpädagogischen Instituts in Hamburg

1919-1920 Mitglied der Verfassungsgebenden Nationalversammlung (für DDP)

1920-1930 Mitglied des Reichstags und stellvertretende Vorsitzende der DDP

1922 Berufung ins Reichsinnenministerium: Leiterin Referate für Schulwesen und Jugendwohlfahrt

1926 Delegierte beim Völkerbund in der Kommission für soziale und humanitäre Fragen

1930-1932 Reichstagsabgeordnete der Deutschen Staatspartei (DStP)

1933 Entlassung aufgrund § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mit

Volksschullehrerpension; Umzug von Berlin nach Gießmannsdorf (Schlesien)

1933 „Lebensweg durch eine Zeitenwende“ (Autobiografie)

1936 „Adelheid – Mutter der Königreiche“

1936 Absetzung als Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frau“, bis 1944 weiterhin Mitarbeiterin (mög-

licherweise auch wieder Herausgeberin)

1941 „Die Macht der Liebe – Der Weg des Dante Alighieri“

1945 Gründungsmitglied der CSU

1946 „Der neue Weg der deutschen Frau“

1948 Umzug nach Bad Godesberg, Unterstützung der CDU

† 25. März 1954 in Bethel

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Ehrungen:

Benennung zahlreicher Schulen (vor allem in NRW, auch in Karlsruhe, München) und Straßen (u. a. in

Goslar, Mannheim, Hannover, Regensburg, Rostock, Tübingen, Wiesbaden)

Wirken in der NS-Zeit

[Gutachten von Dr. Peter Rassek in „Wissenschaftliche Untersuchung der Straßennamen der Stadt

Oldenburg“, Oldenburg 2013, S. 14-16]

Als Politikerin legte Gertrud Bäumer (1873-1954) bereits im Mai 1932 ihr Mandat als Abge-

ordnete der Deutschen Staatspartei nieder und war dadurch an der Zustimmung ihrer Par-

teikollegen für das Ermächtigungsgesetz 1933 nicht beteiligt. Im Februar 1933 wurde sie

wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ ihrer Ämter enthoben und aus der Reichsschrifttums-

kammer ausgeschlossen. Ihr Name taucht auch in der von der SD erstellten Übersicht „Erfas-

sung führender Männer der Systemzeit (Liberalisten und Pazifisten)“ von 1939 auf. Das be-

deutete für sie ständige Überwachung, was sie allerdings bis 1946 nicht geahnt zu haben

schien. Ihre Schriften „Die Frau in der Krisis der Natur“ und „Grundlagen demokratischer

Politik“ wurden auf den Index gesetzt.

Bäumers Position gegenüber dem Aufstieg des Nationalsozialismus‘ war von Misstrauen ge-

prägt, besonders in der Frage der politischen Partizipation von Frauen im aufziehenden

„Dritten Reich“. Ihre Position versuchte sie 1933 in einem Brief darzustellen:

„Was positiv im Gehalt des Nationalsozialismus ist, nämlich die Idee, die ihm den Namen gibt – dazu

brauchen wir, die wir Nationalsoziale waren, uns nicht durchzuringen. […] Das deutsche Volk hat auf

das Recht, die Freiheit und den Geist verzichtet – ich kann noch hinzufügen: auf seine seelische Kul-

tur. […] Ich schäme mich der bornierten Brutalität – dieser mesquinen Rohheit in der Behandlung der

Gegner, der breitspurigen, triumphierenden Subalternität.“ [Zitiert nach Bach, Marie Luise: Gertrud

Bäumer, S. 98 f.]

Wie die Soziologin Ulrike Prokop feststellte, stand aber die bürgerliche Frauenbewegung, der

Bäumer angehörte, der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 größtenteils „in wohl-

wollender Neutralität“ gegenüber. Für die Beiträge in der von Bäumer herausgegebenen

Zeitschrift „Die Frau“ stellte Prokop eine Unfähigkeit der Autorinnen (unter ihnen auch Bäu-

mer) fest, „sich auf die aktuelle politische Situation zu beziehen“, und konstatiert darin ledig-

lich einen graduellen Unterschied „zu nationalsozialistischen Phantasien.“

In der publizistischen Tätigkeit Bäumers nach 1933 kann von einer regimekritischen Haltung

nicht die Rede sein. Im Gegenteil, vor allem nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

reihte sie sich mit einigen ihrer Beiträge in die Kriegspropaganda ein. Im September 1939

unterstrich sie die Bedeutung vom Fraueneinsatz im Krieg, und 1940 prangerte sie England

als eine Gefahr für Europa an. Zur Rolle Deutschlands schrieb sie im selben Jahr:

„Wir, die wir mit unserem Herzblut Compiègne und Versailles erlebt haben, fühlen in dem Gesche-

henen von heute … die Schauer unentrinnbarer geschichtlicher Gesetze, erleben … das Wunder, daß

innerhalb von zwei Jahrzehnten die deutsche Kraft die entscheidende Großmacht in der Gestaltung

Europas geworden ist.“ [Bach: Gertrud Bäumer, S. 176]

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Den Bolschewismus bezeichnete sie nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 im Sinne

der nationalsozialistischen Propaganda als „Alb auf der Brust Europas“ und „ansteckende

Krankheit“, und machte deutlich, dass sie den Krieg gegen die Sowjetunion als eine Befrei-

ung von diesem System verstehe.

Reflexionen über die Grausamkeit des Krieges stellten sich bei Bäumer verstärkt ab 1943 ein,

bedingt durch die Nachrichten von Gefallenen aus ihrem Bekanntenkreis und aufgrund eige-

ner Erfahrungen, da sie während ihrer zahlreichen Vortragsreisen – trotz des offiziellen Re-

deverbots – in Deutschland mehrfach die Bombardements der Alliierten erlebt hatte. Den

Sinn des Krieges stellte sie aber nicht in Frage und äußerte Anfang 1944 offen ihren Stolz

über das Durchhaltevermögen des deutschen Volkes angesichts des Luftkrieges:

„Das Ausland ist voller Staunen über die Haltung der deutschen Bevölkerung in den zerstörten Städ-

ten. Die Erwartungen der Feinde scheinen enttäuscht. Immer mehr Stimmen erheben sich warnend:

es werde immer klarer, daß das deutsche Volk sich auf diesem Wege nicht zur Kapitulation zwingen

lasse.“ [Zitiert nach Bach, Marie Luise: Gertrud Bäumer, S. 250]

In ihren Beiträgen in „Die Frau“ hat sich Bäumer einige Male hinter Hitlers Politik gestellt,

vertrat ansonsten aber ein eher konservatives, christlich geprägtes Weltbild, das weitgehend

frei von nationalsozialistischer Ideologie war. In den privaten Äußerungen konnten nur we-

nige Spuren kritischer Haltung am Nationalsozialismus entdeckt werden (Behandlung der

Verschwörer des 20. Juli), und diese machten sich bemerkbar erst in der Endphase des Krie-

ges und nachdem das Erscheinen der Zeitschrift „Die Frau“ aufgrund des Papiermangels im

September 1944 eingestellt worden war.

Gertrud Bäumer wohnte bis 1945 in Schlesien. Vor der anrückenden Roten Armee flüchtete

sie nach Bamberg.

Weiterführende und zitierte (Auswahl-)Literatur

Bach, Marie Luise: Gertrud Bäumer. Biographische Daten und Texte zu einem Persönlichkeitsbild.

Weinheim 1989.

Prokop, Ulrike: Elemente des weiblichen Autoritarismus. In: Eckart, Christel/Henze, Dagmar/Jansen,

Mechthild M./Stolt, Susanne (Hrsg.): Sackgassen der Selbstbehauptung. Kassel 1995, S. 57-73.

Schumacher, Martin (Hrsg.): MdR. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit

des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1942. Düsseldorf

1991, S. 102 f.

Strotdrees, Gisbert: Anwältin aller Frauenfragen. Gertrud Bäumer. In: Ders.: Es gab nicht nur die

Droste. Sechzig Lebensbilder westfälischer Frauen. Münster 1997, S. 114 f.

Ergänzungen HK

Quelle: BArch, BDC, R 9361-V/138927 + R 9361-V/13036

Unter den „Personenbezogenen Unterlagen der Reichskulturkammer (RKK)“ befinden sich

zwei Bestände zu Dr. Gertrud Bäumer. Während eine Akte sich weitgehend auf Freigaben für

Publikationen beschränkt (R 9361-V/13036), finden sich in der anderen politische Beurtei-

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lungen zu Gertrud Bäumer. Aus Dokumenten der Geheimen Staatspolizei geht hervor, dass

Bäumer mit Entscheid vom 25.01.1937 aus der Mitgliederliste der Reichsschriftumskammer

gestrichen wurde. Begründet wurde der Schritt zunächst mit unzureichenden Personalpapie-

ren. Es wurden im weiteren Verlauf Ermittlungen aufgenommen, die unvollständig überlie-

fert sind. Aus Aktenvermerken und Stellungnahmen geht jedoch hervor, dass Bäumers politi-

sche Vergangenheit vor 1933 Anlass zu großen Bedenken gab und ein Ausschluss aus der

Reichsschriftumskammer sowie eine Streichung von der „Schriftleiterliste“ angestrebt wur-

de. In einem Aktenvermerk vom 26.10.1937, gez. [Rudolf] Metzner [Kreisleiter der NSDAP in

Niederschlesien 1937-1941], heißt es unter Bezug auf andere Dokumente, besonders auf

einen Vermerk von Dr. [Hans] Schmidt-Leonhardt vom 11.03.1936 [Geschäftsführer der

RKK]: „Nach ihrer politischen und geistigen Einstellung scheint es aber völlig ausgeschlossen,

dass sie als Schriftleiterin zugelassen wird. Sie war Vertreterin einer ausgesprochen pazifisti-

schen und feministischen Welt- und Staatsanschauung. […] Ihre Jugendpolitik war so, dass

man sich einen schärferen Gegensatz gegenüber nationalsozialistischer Anschauung schwer-

lich vorstellen kann.“ Und weiter heißt es: „Auf Grund dieses Berichtes ist unter dem 27.

März [1936] verfügt worden, dass gegen die Eintragung der Bäumer als Schriftleiterin seitens

des Ministeriums [für Volksaufklärung und Propaganda] Einspruch erhoben wird.“

Nach Eingang angefragter Stellungnahmen heißt es in einem [im Durchschlag nicht ersicht-

lich unterzeichneten] am 20.07.1937 abgelegten Vermerk: „Gertrud Bäumer war vor der

Machtübernahme eine der wildesten Demokratinnen und, glaube ich, hinreichend bekannt.

Sonst geben die Berichte der Geheimen Staatspolizei und der NSDAP nähere Auskunft über

sie. Ich bin unter allen Umständen für Ausschluss der Bäumer.“

Der neue Geschäftsführer der Reichsschrifttumskammer, Wilhelm Ihde, ließ in einem Schrei-

ben an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (Abt. IV) vom 21.08.1937

wissen, dass er „beabsichtige, die Vorgenannte [Gertrud Bäumer], die Mitglied meiner

Kammer ist, wegen ihrer früheren politischen Tätigkeit auszuschließen“.

Ein Schreiben des Reichsverbands der deutschen Presse an die Reichsschrifttumskammer

vom 26.04.1939 enthält die (angefragte) Information, dass Gertrud Bäumer „in der Berufslis-

te der Schriftleiter geführt wird“.

Entnazifizierung

In den Beständen der Spruchkammern Bamberg-Stadt und -Land (Staatsarchiv Coburg) konn-

ten auf Anfrage keine Entnazifizierungsdokumente ermittelt werden (Staatsarchiv Coburg,

Schreiben vom 11.03.2016). Auch im Staatsarchiv München liegen keine Dokumente zu Ger-

trud Bäumer vor, was als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass aufgrund ihrer Angaben

kein Verfahren gegen sie eingeleitet wurde, ihr lediglich eine gesiegelte Postkarte mit die-

sem Bescheid zugesandt wurde und keine Aktenbildung stattfand.

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Günter-Behnisch-Straße (K 9-10), benannt 2013 nach

Günter Behnisch (1922-2010)

Architekt

* 12. Juni 1922 in Lockwitz bei Dresden

1928-1934 Volksschule in Lockwitz

1933-1939 Oberschulen in Dresden und Chemnitz

1934-1939 Mitglied der HJ

1934 [oder 1935] Umzug nach Chemnitz

1939 Kriegsfreiwilliger im Alter von 17 Jahren (Marine)

1940-1945 (U-Boot-)Ausbildung und Kriegsdienst bei der Marine, höchster Dienstgrad: Oberleutnant

zur See (1943)

1944-1945 U-Boot-Kommandant

Mai/Juni 1945-Februar 1947 Kriegsgefangenenlager Northumberland (GB)

1947 ca. acht Monate in Osnabrück; SBZ-Behörden untersagten ihm die Rückkehr zur Familie in

Chemnitz („Geheimnisträger“ als Marineoffizier)

1947-1951 Studium der Architektur in Stuttgart

1951-1955 Hilfskraft bzw. Stundenassistent am Institut von Günter Wilhelm (Universität Stuttgart)

1952 Gründung eines eigenen Architektur-Büros (mit Bruno Lambart), das sich seit 1966 „Behnisch &

Partner“ nannte

1967-1987 Professor für Entwerfen, Baugestaltung und Industriebaukunde an der TH Darmstadt so-

wie Direktor des Instituts für Normgebung der TH Darmstadt

1967-1972 Olympiagelände München (mit Frei Otto)

1982 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin

1984 Erweiterungsbau des Postmuseums Frankfurt am Main

1987 Zentralbibliothek der Katholischen Universität Eichstätt (mit Karljosef Schattner)

1991 Professor der International Academy of Architecture in Sofia

1992 Fertigstellung des Plenarsaals des Bundestags in Bonn (Gewinn des Wettbewerbs: 1973)

1996 Gründungsmitglied der Sächsischen Akademie der Künste; Bau St. Benno Gymnasium Dresden

1999-2005 Neubau der Akademie der Künste in Berlin (mit Werner Durth)

† 12. Juli 2010 in Stuttgart

Ehrungen:

1944 Eisernes Kreuz II. Klasse

1972 Großer Architekturpreis des BDA

1984 Ehrendoktor der Universität Stuttgart

1992 Ehrenmitglied des BDA

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1992 Ehrenmitglied der Royal Incorporation of Architects in Scotland (Edinburgh)

1995 Ehrenmitglied des Royal Institute of British Architects (London)

1997 Bundesverdienstkreuz I. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

1998 Fritz-Schumacher-Preis

2006 Ehrenmitglied der Architektenkammer Keyseri (Türkei)

2008 Deutscher Kritikerpreis (Ehrenpreis)

Wirken in der NS-Zeit

Günter Behnisch, nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigen Vertreter der modernen

Architektur in Deutschland und nach seinem Tod als „Baumeister der deutschen Demokra-

tie“, als „Heinrich Böll der deutschen Architektur“ (FAZ, 14.07.2010) gefeiert, meldete sich

im Alter von 17 Jahren freiwillig als Offiziersanwärter zur Kriegsmarine (01.12.1939, Crew

XII/39).

Nach dem Eintritt in die Kriegsmarine durchlief Behnisch die Grund- und Bordausbildung

sowie die U-Boot-Ausbildung. Er nahm an Lehrgängen und diversen Kommandos teil; vom

Seekadett und Fähnrich zur See (1940) über die Dienstgrade Oberfähnrich zur See (1941)

und Leutnant zur See (1942) bis zum Oberleutnant zur See (01.12.1943). Von April bis Juli

1944 diente er als 1. Wachoffizier auf dem U-Boot U 952, das zu der Zeit im westlichen Mit-

telmeer operierte, wohl keine Schiffe versenkte oder beschädigte und bei einem amerikani-

schen Luftangriff auf Toulon im Juli 1944 zerstört wurde.

Im August/September 1944 nahm Behnisch teil am Kommandanten-Lehrgang sowie an der

Baubelehrung für U 2337 bei der 8. Kriegsschiffbaulehrabteilung in Hamburg. Am 4. Oktober

1944 wurde er schließlich Kommandant des neu in Dienst gestellten U-Boots U 2337. Nach

Ausbildungs- und Erprobungsfahrten bei verschiedenen Kommandos und Ausbildungsflottil-

len (ein verzeichneter Minentreffer auf der Ostsee am 12.01.1945 blieb ohne größere Schä-

den) war die einzige verzeichnete „Unternehmung“ die „Verlegungsfahrt“ von Kiel über Lar-

vik nach Kristiansand (19.-24.04.1945), wo die Besatzung am 09.05.1945 kapitulierte. Es gibt

keine Hinweise auf „Feindberührung“. Auch Behnisch selbst konstatierte später, die einzige

Unternehmung unter seinem Kommando sei die Verlegungsfahrt ohne Feindberührung ge-

wesen. Er geriet in britische Kriegsgefangenschaft und war von Mai/Juni 1945 bis Februar

1947 im Kriegsgefangenenlager Northumberland (GB).

Am 22. Juni 1944 war Günter Behnisch mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet wor-

den.

In seinem Meldebogen vom 11.09.1947 zum Entnazifizierungsverfahren gab Behnisch ledig-

lich seine Mitgliedschaft in der HJ (1934-1939) an. Sein Verfahren wurde durch Einstellungs-

beschluss vom 20.02.1948 gemäß Ziffer 1 der Amnestieverordnung vom 06.08.1946 [Ju-

gendamnestie] eingestellt.

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Behnisch griff seine Tätigkeit als U-Boot-Kommandant in seiner Lehrtätigkeit nach 1945 auf.

Einer seiner Schüler, Gerhard Matzig, berichtete in einem Nachruf auf Behnisch (SZ,

14.07.2010), dieser habe seine Studenten U-Boote entwerfen lassen, die in Dresden als Ver-

gnügungsdampfer, Hotel oder Restaurant dienen sollten: „Schwerter zu Pflugscharen – und

U-Boote zu Lächerlichkeiten. […] Nie wieder Krieg.“ Das sei „Behnischs Rache am Krieg“ ge-

wesen. „Sein Pazifismus war nicht unbewehrt. Aber doch auch viel mehr als die übliche Be-

hauptung“, so Matzig weiter. Und: „Behnisch, der U-Boot-Kommandant, war nun [1992]

endgültig der Architekt der Freiheit, der Gestalter eines neuen Deutschlands.“

Quellen:

Staatsarchiv Ludwigsburg, Bestand Spruchkammer Stuttgart EL 902/20 Bü 87521

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

UA Stuttgart, 120 Nr. 1426

StadtA DA, ST 61 Behnisch, Günter

Literatur:

Blundell-Jones, Peter: Günter Behnisch. Basel et al. 2000.

Busch, Rainer/Röll, Hans Joachim: Der U-Boot-Krieg 1939-1945, Bd. 1: Die deutschen U-Boot-

Kommandanten. Hamburg/Berlin/Bonn 1996, S. 26.

Lohmann, Walter/Hildebrand, Hans H.: Die Kriegsmarine 1939-1945. Gliederung, Einsatz, Stellenbe-

setzung, Bd. 3. Bad Nauheim 1956-1964 [Blattsammlung], S. 15.

Spieker, Elisabeth: Günter Behnisch. Die Entwicklung des architektonischen Werkes. Gebäude, Ge-

danken und Interpretationen. Stuttgart 2005.

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146

Peter-Behrens-Straße (H 9), benannt 1965 nach

Peter Behrens (1868-1940)

Maler, Designer, Typograf, Architekt und Künstler

* 14. April 1868 in Hamburg

1877-1882 Besuch des Christianeums in Altona

1886-1891 Studium an Kunstakademien in Karlsruhe, Düsseldorf und München

1890 wohnhaft in München

1892 Mitbegründer der Sezession in München

1897 Gründungsmitglied der Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk

1899-1902 (Gründungs-)Mitglied der Künstlerkolonie in Darmstadt

1900 Beteiligung an Weltausstellung in Paris

1901 Bezug des eigenen Wohnhauses auf Mathildenhöhe Darmstadt – erstes architektonisches Werk

1902-1903 Meisterkurse am Bayerischen Gewerbemuseum in Nürnberg

1903-1907 Direktor der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule

1907-1914 Künstlerischer Beirat der AEG in Berlin; Architekturbüro in Neubabelsberg

1908 Tischventilator der AEG

1908-1909 Turbinenhalle der AEG in Berlin

1911-1912 Entwurf/Bau der Deutschen Botschaft in St. Petersburg

1914 Mitglied des Vorstands der Kölner Werkbundausstellung

1920/21-1924 Technisches Verwaltungsgebäude der Hoechst AG

1921 Berufung an die Kunstakademie in Düsseldorf

1922-1936 Professor und Leiter der Meisterschule für Architektur an der Akademie in Wien

1925 Gestaltung des Grabmals von Friedrich Ebert in Heidelberg

1927 einer der Architekten der Stuttgarter Weißenhofsiedlung

1930-1932 Geschäftsgebäude am Alexanderplatz in Berlin

1936 Meisteratelier für Baukunst an der Akademie der Künste in Berlin

1937 Aberkennung der aktiven Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Künste

1938 Auftrag zur Neugestaltung der AEG-Zentrale in Berlin

† 27. Februar 1940 in Berlin

Ehrungen:

Ehrendoktor der Technischen Hochschule Prag

1960er Jahre Peter-Behrens-Werkkunstschule Düsseldorf

1965 Peter-Behrens-Schule Darmstadt

2015 Peter Behrens School of Arts (Fachbereiche Architektur und Design der Hochschule Düsseldorf)

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147

Wirken in der NS-Zeit

[Gutachten von Dr. Peter Rassek in „Wissenschaftliche Untersuchung der Straßennamen der Stadt

Oldenburg“, Oldenburg 2013, S. 17-21]

Der Architekt Peter Behrens (1868-1940) wurde aufgrund seiner Mitwirkung an den Plänen

zur Neu-gestaltung der Reichshauptstadt Berlin in der Literatur häufig als der „prominente

Baumeister des III. Reiches“ bezeichnet. Sein Lob der italienischen Architektur unter Musso-

lini wurde als Affirmation des Faschismus und als ein Versuch interpretiert, sich den Natio-

nalsozialisten zu empfehlen und ihre Vorbehalte gegen die eigene Person auszuräumen:

„Die Ausstellung [5. Triennale in Mailand 1933, PR] ist in der Tat ein Dokument für den erwachten

völkischen Geist. Man wird versucht, ethischen Geist zu sagen, wenn man den Begriff des Ethischen

im Sinne des Totalitätsgedankens auffassen will als etwas Formbildendes und aus innerem Trieb Ge-

staltendes, im Gegensatz etwa zur spielerisch dekorierenden französischen Kunstauffassung.“ [Beh-

rens: Die Baugesinnung des Faschismus. In: Die neue Linie, Nr. 11, 1933, S. 11, zitiert nach: Krawietz:

Peter Behrens, S. 37.]

Es gibt zwar keine Überlieferungen darüber, dass Behrens den Nationalsozialismus in

Deutschland begrüßte oder sich positiv darüber äußerte, doch er erhob auch nicht seine

Stimme gegen die Ausgrenzung und Repressalien, von denen viele seiner Kollegen betroffen

waren. Er selbst wurde 1934 im Zuge der Auseinandersetzung um die kunstpolitische Aus-

richtung innerhalb der NSDAP angegriffen und neben anderen Mitglieder des „Ring“ als so-

genannter „Baubolschewist“ diffamiert, das von ihm entworfene Landhaus in Neustrelitz als

„undeutsch“ bezeichnet. Gegen diese Angriffe wehrte sich Behrens in einem Antwortschrei-

ben, dem er ein Goebbels-Zitat voranstellte und in dem er direkt an Rudolf Hess appellierte,

diese „gewissenslose, berufsmässige Denunziation“ zu unterbinden.

Aufgrund seiner Reputation konnte er weiterhin an Wettbewerben teilnehmen und bei sol-

chen als Juror auftreten. Behrens gewann 1934 den Wettbewerb zur Gestaltung einer neuen

Kongresshalle in seiner Geburtsstadt Hamburg mit einem Projekt ohne „schmückendes nati-

onalsozialistisches Beiwerk“, die Baupläne wurden jedoch verworfen, da es durchgesickert

war, dass Hitler den Bau einer Elbbrücke favorisierte, und Hamburg nur die Finanzierung

eines Bauprojektes tragen konnte. Behrens‘ ungebrochene Aktivität wertet Georg Krawietz

als einen „Versuch, in politisch unsicherer Zeit Überzeugungsarbeit für eine positiv empfun-

dene architektonische Richtung zu leisten“, geleitet von der Überzeugung, „eine moderne

Baukultur mit ihren unabweisbaren Qualitätsmerkmalen stehe außerhalb politischer Frage-

stellung und habe davon unabhängig ihre Daseinsberechtigung – auch in Deutschland“ [Kra-

wietz: Peter Behrens, S. 39].

Bis 1937 blieb Behrens aktives Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, im Züge [sic!]

der „Gleichschaltung“ dieser Institution im Jahre 1933 wurde aber seine „Rassenabstam-

mung“ untersucht, die ihm und seiner Ehefrau „arische“ Abstammung bezeugte. 1936 wurde

er zum Leiter eines Meisterateliers für Baukunst an der Akademie ernannt, die zwar – so die

Vermutung von Georg Krawietz – aufgrund der Fürsprache Hitlers erfolgte, im Grunde ge-

nommen aber Behrens wohl eher von der Gestaltung der nationalsozialistischen Architektur

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fernhalten sollte. Er behielt diese Stellung auch, nachdem ihm 1937 der Status eines aktiven

Mitglieds der Akademie entzogen wurde. Behrens verstand diesen Schritt nicht und bemüh-

te sich um die erneute Aufnahme als aktives Mitglied, u.a. mit der Behauptung, er sei bereits

1934 in Österreich der NSDAP beigetreten. Obwohl, wie Krawietz es überzeugend darlegte,

die österreichische NSDAP-Mitgliedschaft Behrens‘ aller Wahrscheinlichkeit nach eine Fäl-

schung war, hinterlässt alleine der Versuch gewisse Zweifel über die Integrität des Künstlers

und lässt die Vermutung zu, dass er „Versuche unternommen hat, sich mit den neuen

Machthabern zu versöhnen“ [Windsor: Peter Behrens, S. 171].

Im Jahre 1938 bekam Behrens den Zuschlag für die Neugestaltung der AEG-Hauptverwaltung

in Berlin, die er im Auftrag des Generalbauinspektors Albert Speer ausführen sollte. Die Ent-

scheidung über die Vergabe des Auftrags an Behrens soll Speer im Einvernehmen mit Hitler

getroffen haben. Peter Bode äußerte die Vermutung, dass der von Behrens entworfene mo-

numentale Bau der deutschen Botschaft in St. Petersburg der Grund dafür war, dass der Ar-

chitekt „bei Adolf Hitler und dessen Baumeister Albert Speer nicht völlig in Ungnade fiel“

[Bode: Vom Turm, S. 100].

Die Arbeiten an dem Projekt der AEG-Zentrale waren von ständigen Versuchen des Architek-

ten geprägt, seine Vision des Gebäudes gegen die Änderungswünsche der Generalbauin-

spektion zu verteidigen. Darin zeigt sich zum einen die sehr bedingte Vereinbarkeit von Beh-

rens‘ Baustil mit den Vorstellungen der Nationalsozialisten, die letztlich eine Vereinnahmung

erschwerte, zum anderen aber auch die mangelnde Bereitschaft Behrens‘, seinen Stil den

Erfordernissen seiner Auftraggeber anzupassen. Dass Behrens an diesem Projekt bis zu sei-

nem Tod im Jahre 1940 gearbeitet hatte, zeugt zum einen von seinem „ununterbrochene[n]

Interesse an der städtebaulichen Gestaltung Berlins“ und von der Gewissheit, dass dies für

ihn „die letzte Möglichkeit einer künstlerischen Betätigung“ darstellte [Krawietz: Peter Beh-

rens, S. 145, 113]. Alan Windsor fasste Behrens‘ widersprüchliche Einstellung im Dritten

Reich folgendermaßen zusammen:

„Vielleicht sollte man so nachsichtig sein anzunehmen, daß er gehofft hatte – wie viele andere deut-

sche Konservative, die den Versuch unternahmen, ihre Position innerhalb ihrer Verbände angesichts

der nationalsozialistischen Machtübernahme zu halten – einen mäßigenderen Einfluß auf die Ereig-

nisse ausüben zu können, bis die Dinge sich wieder normalisiert hätten“ [Windsor: Peter Behrens, S.

171].

Weiterführende und zitierte (Auswahl-)Literatur

Bode, Peter M.: Vom Turm das Parsifalmotiv. In: Art, Nr. 6/1990, S. 90-100.

Ehmcke, Fritz Helmuth: Behrens, Peter, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 13 f. [Onlinefas-

sung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118508466.html

Germer, Stefan: Kunst der Nation. Zu einem Versuch, die Avantgarde zu nationalisieren. In: Brock,

Bazon/Preiß, Achim: Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig. München 1990, S. 21-40.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007, S. 38.

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149

Krawietz, Georg: Peter Behrens im Dritten Reich. Weimar 1995.

Schulze, Franz: Mies van der Rohe. Leben und Werk. Berlin 1986.

Windsor, Alan: Peter Behrens. Architekt und Designer. Stuttgart 1985.

Ergänzungen HK

Quellen:

StadtA DA, ST 61 Behrens, Peter

Handschriftliche Briefe/Karten aus den Jahren 1935/36 ohne nennenswerte politische Äußerung

Literatur:

Ulmer, Renate: Behrens, Peter. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 68.

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Liesjeweg (D 8), benannt 2007 nach

Georg Benz (1901-1989)

Arheilger Mundartdichter, bekannt als „Oarhelljer Liesje“

* 15. November 1901 in Arheilgen

Besuch der Volksschule in Arheilgen

Soldat am Ende des Ersten Weltkriegs [???]

Berufsausbildung zum (Elektro-)Mechaniker

1922 Erste Veröffentlichungen; Gedichte unter dem Pseudonym „Oarhelljer Liesje“ im Arheilger An-

zeiger; später regelmäßige Glosse „Rund um den Ruthsenbach“ zum Arheilger Ortsgeschehen

1924-1966 Elektromonteur, später kaufmännischer Angestellter in der Lagerverwaltung bei der HEAG

in Darmstadt

1926 Schwerer Betriebsunfall bei Prüfungsarbeiten am Trafohaus Bessungen, schwere Brandverlet-

zungen an Gliedmaßen; darauf innerbetriebliche Umschulung (Lagerverwaltung)

1934-1945 Mitglied der NSV

1934-1945 Mitglied der DAF (stellvertretender Blockwart)

1941-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 8399696, Aufnahme: 01.04.1941)

1941-1945 Mitglied des RLB

1945 Leiter des Magazins für Werkzeuge und Maschinen der HEAG in Darmstadt

1964 „Oarhelljer Lexigon“

1966 „Einunddreißig Aspirin“ [„Herrn, Frau Jedermann 31 Aspirin“]

1968 „Es hot geklingelt…“

1974 „1140 Jahre Arheilgen“

1975 „Ruthsebachgepläddscher. 100 Gedichte in Darmstädter Mundart“

1981 „Lach und sei froh“

† 31. August 1989 in Darmstadt

Vorsitzender des Gesangsvereins Liederzweig; 15 Jahre Vorstand der SG Arheilgen; Auftritte auf zahl-

reichen Feiern in Arheilgen mit Gedichten in Mundart

Ehrungen:

1964 Eintrag in das goldene Buch der Stadt Darmstadt

1965 Bürgerehrung der Stadt Darmstadt

1971 Auszeichnung der Fritz-Wernath-Stiftung

1982 Verdienstmedaille des Verdienstordens der BRD

1986 Bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

Zudem Ehrungen und Auszeichnungen Arheilger Vereine, u. a. Ehrenmitglied des Gewerbevereins

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Wirken in der NS-Zeit

Der Arheilger Mundartdichter Georg Benz, bekannt unter seinem Pseudonym „Oarhelljer

Liesje“ (das auch für die Namensgebung des „Liesjewegs“ im Jahr 2007 Pate stand), arbeitete

die meiste Zeit seines Berufslebens bei der Firma HEAG in Darmstadt, so auch in der NS-Zeit.

Als Folge eines schweren Betriebsunfalls 1926, bei dem er sich schwere Brandverletzungen

an Armen und Beinen zugezogen hatte, konnte er seinen erlernten Beruf als Elektromonteur

nicht weiter ausüben. Er wurde innerhalb der Firma umgeschult, arbeitete in der Lagerver-

waltung und leitete (als kaufmännischer Angestellter) nach dem Zweiten Weltkrieg das Ma-

gazin für Werkzeuge und Maschinen.

Benz wurde nicht als Soldat in den Zweiten Weltkrieg eingezogen (möglicherweise aufgrund

seiner Verletzungen infolge des Betriebsunfalls). Er lebte die gesamte NS-Zeit über in Arheil-

gen. Von 1934 bis 1945 war er Mitglied der NSV, im gleichen Zeitraum Mitglied der DAF, ei-

genen Angaben folgend mit der Funktion „stellvertr. Blockmann [wohl Blockwart]“. Von

1941 an war Benz Mitglied des RLB, im gleichen Jahr trat er der NSDAP bei (Mitglieds-Nr.

8399696, Aufnahme beantragt: 10.01.1941, Aufnahme: 01.04.1941). Im Zuge seines Entnazi-

fizierungsverfahrens 1946 begründete er seine NSDAP-Mitgliedschaft wie folgt: „Ich wurde

1941 PG aufgrund einer Verordnung des Sängerbundes als Vereinsvorsitzender.“ Von Seiten

der HEAG, seines Arbeitgebers, wurde der Spruchkammer auf Anfrage mitgeteilt, dass Georg

Benz „politisch nie hervorgetreten“ und über ihn nichts Nachteiliges bekannt sei, er bei se i-

nen Arbeitskollegen „einen sehr guten Ruf“ genieße. [Mehr geht aus der Akte nicht hervor.]

Neben den genannten Informationen aus der Entnazifizierungsakte sowie der NSDAP-

Mitgliederkartei konnten keine weiteren Belege ermittelt werden, die das Wirken von Georg

Benz in der NS-Zeit zum Gegenstand hatten.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Stadt (WA), Nr. 4921/48

HStAD, H 3 Nr. 14214 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, R 12 P Nr. 173

StadtA DA, ST 61 Benz, Georg (Mundartdichter) – Zeitungsausschnitte (1961-1989/2003)

Literatur:

Engels, Peter: Benz, Georg. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 70.

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Otto-Berndt-Straße (K 10), benannt 2013 nach

Otto Berndt (1857-1940)

Professor für Maschinenbau an TH Darmstadt

* 29. Januar 1857 in Neuruppin

1875-1880 Studium im Bereich des Maschinenbaus an der Gewerbeakademie in Berlin (ab 1879 TH

Charlottenburg)

1880-1892 Tätigkeiten in preußischem Staatsdienst, vor allem in der preußischen Eisenbahnverwal-

tung in Berlin

1885 Hochzeit mit Margaret[h]e Klövekorn

1892 Ordentlicher Professor an der TH Darmstadt, Lehrstuhl für Maschinenkunde (Fächer: Mechani-

sche Technologie, Gaskraftmaschinen, Werkzeugmaschinen sowie Eisenbahnmaschinenwesen)

1896 Gründung eines Labors für praktische Übungen zur Materialprüfung

1896 Mitglied der Prüfungskommission für das Finanz- und Technische Fach

1896-1898 und 1915-1916 Rektor der TH Darmstadt

1905-1912 Dekan des Fachbereichs Maschinenbau an der TH Darmstadt

1905-1906 Bau des Wasserwerks Bingen

1907 Gründer und Leiter (bis 1926) der Staatlichen Materialprüfungsanstalt MPA

1909-1913 Bau des Wasserwerks Inheiden (heute Stadtteil von Hungen)

1918 Initiator und Vorsitzender (bis 1927) der „Vereinigung von Freunden der TH Darmstadt“

1927 Versetzung in den Ruhestand (auf Nachsuchen)

1928 Wahl in den Darmstädter Stadtrat

1933 Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat der HEAG

† 9. Februar 1940 in Darmstadt

Ehrungen:

1897 Ernennung zum Geheimen Rat

1897 Verleihung des Ritterkreuzes I. Klasse des Verdienstordens Philipps des Großmütigen

1900 Verleihung des Rothen Adlerordens II. Klasse

1902 Goldene Verdienstmedaille für Wissenschaft des Verdienstordens Philipps des Großmütigen

1906 Verleihung des Kronenordens II. Klasse

1926 Ehrensenator der TH Darmstadt; Benennung der Otto-Berndt-Halle (heute Mensa der TU)

1926 Ehrenmitglied der „Vereinigung von Freunden der TH Darmstadt“

1927 Ehrendoktor der TH Karlsruhe

1930 Ehrendoktor der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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153

Wirken in der NS-Zeit

Prof. Otto Berndt, seit seiner Berufung 1892 maßgeblich am Ausbau des Fachs Maschinen-

bau an der TH Darmstadt beteiligt sowie an der Institution in leitender Funktion tätig, war

1927, im Alter von 70 Jahren, emeritiert worden. Er zog sich weitgehend in den Ruhestand

zurück. Zu Beginn der NS-Zeit 1933 war Berndt bereits 76 Jahre alt.

Anhand der konsultierten Quellen ließen sich keine Hinweise auf eine Beteiligung am NS-

System rekonstruieren. In den Beständen des BDC hat Otto Berndt keine auffindbaren Spu-

ren hinterlassen; bedingt durch seinen Tod 1940 existieren keine Entnazifizierungsakten.

Zeitungsberichte aus den 1930er Jahren, die sich seiner Person widmeten, liefern keine Hin-

weise auf seine politische Gesinnung. Lediglich der Verweis darauf, dass er den Tod seines

jüngsten Sohnes im Ersten Weltkrieg als „guter Patriot” (DT, 21.06.1935) hingenommen ha-

be, findet sich hier dokumentiert. 1933 wurde er gemeinsam mit den darin vertretenen SPD-

Stadtverordneten aus dem Aufsichtsrat der HEAG ausgeschlossen und durch NSDAP-

Stadtverordnete ersetzt.

Quellen:

HStAD, G 35 E Nr. 24/19

HStAD, R 4 Nr. 21020

StadtA DA, ST 61 Berndt, Prof. Dr. Otto

Literatur:

Hampe, Manfred/Pahl, Gerhard (Hrsg.): Zur Geschichte des Maschinenbaus an der Technischen Uni-

versität Darmstadt. Düsseldorf 2008.

HEAG Holding AG: 100 Jahre HEAG. Chronik 1912-2012. Darmstadt 2012.

Hoffmann, Albrecht: Hessische Lebensbilder zur Kulturgeschichte des Wassers. Ein biografisches

Handbuch 1350-1950. Kassel 2005, S. 47.

Viefhaus, Marianne: Berndt, Otto. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 74 f.

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154

Franz-Best-Weg (Q 8), benannt 1970 nach

Franz Best (1887-1970)

Eberstädter Heimatforscher und Heimatmaler

* 21. Dezember 1887 in Darmstadt

1890 Früher Tod des Vaters

1894-1902 Schulbesuch in Darmstadt, Grundschule und Mittelschule für Knaben (heute Ohlyschule)

1902-1907 Glaserlehre im Betrieb des Stiefvaters Gustav Guntrum, Weiterbildung an Darmstädter

Gewerbeschule

1904 Schwerer Arbeitsunfall; aufgrund der Verletzungen 1911 vom Wehrdienst mit der Waffe zu-

rückgestellt

1906 Stiefvater Guntrum erwirbt Villa Pauline in der Eberstädter Villenkolonie, Umzug aus Pallaswie-

senstraße 23, Darmstadt, nach Eberstadt

1907 Mitglied des Eberstädter Vergnügungsklubs „Felicitas“

1908 Telegraphist in Diensten der Preußisch-Hessischen Staatseisenbahn; Dienststellen in Darmstadt,

Bensheim, Urberach und Sprendlingen

1911 Hochzeit mit Mathilde Sehl

1915-1918 Freiwillige Meldung zur Telegraphen-Betriebskolonne der Preußisch-Hessischen Eisen-

bahnen, stationiert in Mecheln und Brügge (Belgien)

1923 Umzug innerhalb Eberstadts in Villa Mathilde (nach Tod der Schwiegermutter)

1934-1945 Mitglied des RLB

1935-1945 Mitglied der NSV

1936/37 Beginn der Freundschaft mit dem Kunstmaler Heinrich Zernin, der ihn Malen und Zeichnen

lehrt

1937 Beförderung zum Eisenbahnassistenten, Versetzung ins Telegraphenbüro Darmstadt Haupt-

bahnhof

1937-1945 Mitglied im Reichsbund der Deutschen Beamten

1943 Beförderung zum Reichsbahnsekretär, Bahnhof Darmstadt-Eberstadt

1943 Beginn der Arbeit an umfangreicher Ortschronik Eberstadts (während seiner Nachtschichten)

1949 Ruhestand nach über 40 Dienstjahren

1955/1959 Beteiligung an Ausstellungen Eberstädter Laienmaler im Rathaus Eberstadt

1962 Erste Einzel-Ausstellung im Rathaus Eberstadt (Maler, Zeichner, Holzschnitzer)

† 22. Mai 1970 in Darmstadt

Ehrungen:

2012 Ausstellung im Rathaus Darmstadt-Eberstadt anlässlich seines 125. Geburtstags

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155

Wirken in der NS-Zeit

Franz Best, Heimatmaler und Chronist von (Darmstadt-)Eberstadt, war die meiste Zeit seines

Berufslebens bei der Eisenbahn beschäftigt. Mit der Beförderung zum Eisenbahnassistenten

einher ging seine Mitgliedschaft im Reichsbund der Deutschen Beamten (1937-1945; im

Meldebogen 1946 macht Best die Angabe „Deutscher Beamtenbund“, der aber 1933 aufge-

löst worden war). Im Jahr 1943 wurde Best nochmals befördert, zum Reichsbahnsekretär,

und vom Darmstädter Hauptbahnhof in seinen Wohnort Darmstadt-Eberstadt versetzt.

Franz Best war Mitglied der NSV (1935-1945) sowie des RLB (1934-1945). Weitere Mitglied-

schaften in NS-Organisationen ließen sich nicht nachweisen. In seinem Meldebogen aus dem

Jahr 1946 gibt Best als Selbsteinschätzung (und als Begründung dafür) „unbelastet“ an, am

18.04.1947 wurde er von der Spruchkammer als vom Gesetz „nicht betroffen“ eingestuft.

In die Zeit des NS fiel die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem Maler Heinrich Zernin,

der Best Malen und Zeichnen lehrte. Ab 1943/45 begann Best mit dem Verfassen einer

handgeschriebenen Ortschronik von Eberstadt („Mein liebes Eberstadt, mein lieber Franken-

stein“), die im Stadtarchiv Darmstadt überliefert ist – und in 17 Bänden über 3.000 Seiten

umfasst. Laut Friedrich Wilhelm Knieß (Stadtarchiv Darmstadt), der den Bestand 2012 für

eine Ausstellung zu Leben und Werk Franz Bests auswertete, ist anhand der Chronik keine

politische Haltung Bests (weder für noch gegen das NS-Regime) herauszulesen.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 42477 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 14630 [Kennkartenmeldebogen]

StadtA DA, ST 61 Best, Franz

StadtA DA, Chronik Eberstadts

Literatur:

Knieß, Friedrich Wilhelm: Best, Franz. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 84.

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Ottilie-Bock-Straße (K 10), benannt 2013 nach

Ottilie Bock (1896-1969)

Erste dauerhaft an der TH Darmstadt beschäftigte Assistentin (Chemikerin)

* 28. November 1896 in Gambach (Oberhessen)

Besuch der Stadt- und der Schillerschule in Friedberg (Hessen)

1916 Reifeprüfung an der Studienanstalt (Viktoriaschule) in Darmstadt

1916-1921 Studium der Chemie an der TH Darmstadt

1918 Vordiplomprüfung im Fach Chemie (mit Auszeichnung)

1921 Diplomprüfung im Fach Chemie (mit Auszeichnung)

1921-1924 erste dauerhaft an der TH Darmstadt beschäftigte Assistentin (Chemikerin)

1924 „Das Silicium Analogon des Kalkstickstoffs“ (Dissertation)

† 1969

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Zu Ottilie Bock, erste dauerhaft angestellte Assistentin (Chemikerin) an der TH Darmstadt

1921-1924, ließen sich keine biografischen Daten zu ihrem Leben 1933-1945 erheben. Da

unklar blieb, wo sie sich nach 1945 aufhielt (und ob sich ihr Name möglicherweise durch Hei-

rat geändert hatte), ließen sich keine Entnazifizierungsakten recherchieren.

Quellen:

UA Darmstadt, 102 Nr. 857

Literatur:

Viefhaus, Marianne: Frauenstudium. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 265.

[von Verena Kümmel aktualisierter Online-Beitrag „Studium von Frauen“, http://www.darmstadt-

stadtlexikon.de/s/studium-von-frauen; Zugriff: 19.09.2016]

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157

Böcklerstraße (D-E 7), benannt 1953 nach

Hans Böckler (1875-1951)

Sozialpolitiker und 1. Vorsitzender des DGB

* 26. Februar 1875 in Trautskirchen/Mittelfranken

1876 Umzug nach Fürth, wo der Vater als Kutscher Anstellung findet; Jugendjahre in Fürth

ca. 1889 dreijährige Lehrzeit im Silber- und Goldschlägerhandwerk; anschließend Wanderjahre

1894 Eintritt in die SPD und in den Deutschen Metallarbeiterverband (DMV)

1897-1899 Wehrdienst im Kaiserreich

1899 Vorsitzender des Fürther Gewerkschaftskartells

1902 Vorstandsmitglied der AOK Fürth sowie Wahl in den Stadtrat von Fürth; Verlust des Arbeitsplat-

zes wegen Teilnahme an gewerkschaftlichen Maifeiern, die er mitorganisierte

1903 Hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär an der Saar

1908 Mitarbeiter des Metallarbeiterverbands im Bezirk Frankfurt am Main

1910 Leitung des Metallarbeiterverbands Schlesien mit Sitz in Breslau

1912 Mitarbeit in der Berliner Zentrale des Metallarbeiterverbands sowie in der Berlin Redaktion der

Metallarbeiterzeitung

1914-1915 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg

1916 Als Unteroffizier an der Ostfront verwundet (Ende 1915) und als dienstuntauglich aus dem

Kriegsdienst entlassen; fortan verschiedene Tätigkeiten im Gewerkschaftsbereich

1918 Ernennung zum Sekretär der neugegründeten „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen

und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands“; er trat von diesem Posten zurück,

als er seine sozialpolitischen Vorstellungen nicht verwirklichen konnte

1920 Bevollmächtigter des Deutschen Metallarbeiterverbands in Köln

1924-1928 Stadtverordneter der SPD in Köln

1927 Wahl zum Bezirksleiter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) Rheinland und

Westfalen-Lippe mit Sitz in Düsseldorf

1928-1933 Mitglied der SPD-Reichstagsfraktion

1933 Zweimalige Verhaftung durch Nationalsozialisten

1934-1945 Zurückgezogen in Köln und später untergetaucht in Ottoherscheidt (Bergisches Land)

1944 Nach dem Attentat vom 20. Juli offenbar wegen illegaler Gewerkschaftsarbeit gesucht

1945 Unmittelbar nach Kriegsende Organisation der Neugründung des Gewerkschaftsbunds im

Rheinland und in Westfalen

1947 Wahl zum 1. Vorsitzenden auf Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB)

der britischen Besatzungszone sowie Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags

1949 Wahl zum 1. Vorsitzenden des DGB der Bundesrepublik Deutschland sowie Wahl zu einem der

sechs Vizepräsidenten des „Internationalen Bunds Freier Gewerkschaften“ in London

† 25. Januar 1951 in Köln

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Ehrungen:

1948 Ehrendoktor der Universität Köln

1949 Senator der Max-Planck-Gesellschaft

1951 Gemeinsam mit Konrad Adenauer zum Ehrenbürger der Stadt Köln ernannt

1977 Gründung der Hans-Böckler-Stiftung (gemeinnützige Stiftung des DGB); Hans-Böckler-Preis als

höchste Auszeichnung der Stiftung und des DGB (vergeben 1980-2001, seit 2003 von Stadt Köln)

Zahlreiche Straßen in Deutschland tragen Böcklers Namen

Wirken in der NS-Zeit

Der Sozialdemokrat und Gewerkschaftsfunktionär Hans Böckler, heute vor allem bekannt

durch die nach ihm benannte Hans-Böckler-Stiftung des DGB, war seit 1927 als Bezirksleiter

des ADGB in führender gewerkschaftlicher Funktion tätig (wenngleich er kein Spitzenfunkti-

onär war). Von 1928 bis zur Auflösung 1933 war er Mitglied des Reichstags für die SPD.

Böckler, der sich noch 1933 für die Verteidigung der freien Gewerkschaften stark gemacht

hatte, wurde am 3. Mai 1933 beim Betreten seines Büros in Düsseldorf verhaftet. Er wurde

gezwungen, sich neben Schnapsflaschen ablichten zu lassen, um seine Person öffentlich zu

diskreditieren. In der lokalen Presse hieß es am darauffolgenden Tag, Böckler und ein gleich-

ermaßen verhafteter Mitarbeiter hätten nun Gelegenheit, „in Ruhe und ungestörter Abge-

schlossenheit über eine beendigte Epoche ihres Lebens nachzudenken“.

Eine Woche nach der Verhaftung wurde Böckler wegen mangelnder Fluchtgefahr aus der

Haft entlassen. Von der Kreis-Betriebsstellenleitung der NSDAP Düsseldorf erging jedoch ein

Strafantrag wegen Unterschlagung von Geldern und der Beseitigung von Akten. Böckler kam

wiederholt Vorladungen nicht nach. Im September 1933 wurde er in der Wohnung seines

Sohnes in Berlin von der Gestapo verhaftet und am 20. September 1933 im berüchtigten

Gestapo-Amt in der Prinz-Albrecht-Straße verhört. Er bestritt alle Vorwürfe gegen ihn; blieb

bis 13. Dezember 1933 in „Schutzhaft“. Wahrscheinlich kehrte er anschließend nach Köln

zurück. Dort fand am 5. Februar 1934 die Hauptverhandlung statt, wo er von einem Schöf-

fengericht frei gesprochen wurde.

Böckler zog sich in der Folge weitgehend in den privaten Bereich zurück. Sein Haus in Köln-

Bickendorf wurde mehrfach durchsucht, die wirtschaftliche Situation der Familie gestaltete

sich schwierig. Über seine politischen Kontakte sind kaum sichere Quellen tradiert. „Wir ha-

ben wohl in Böcklers Leben zwischen 1933 und 1945 ein Schicksal vor uns, das typisch war

für die Überwinterungs-Strategie eines Teils der sozialdemokratischen Führungsschicht: Zu-

rückgezogenheit, wenige, sehr unauffällige Kontakte, keine Berührung mit offenem Wider-

stand oder mit Kommunisten, kontinuierlich integriert in die Gemeinschaft alter Freunde“,

konstatiert Böcklers Biograf Ulrich Bosdorf (S. 298).

Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser Kontakt zu Böckler

aufgenommen hatten und ihm möglicherweise eine leitende Funktion in deren Planungen zu

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159

einer Gewerkschaftsorganisation nach dem NS zudachten (Buschak, S. 254 ff.). Auch Bosdorf

vertritt die Auffassung, dass in der Summe „ausreichend Anhaltspunkte [vorlägen], um Böck-

ler im Kreis des Widerstands zu verorten“ (Bosdorf, S. 301). Welche Rolle Böckler im Zusam-

menhang mit dem geplanten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 zukam, lässt sich nicht klä-

ren. In Düsseldorf wurde irrtümlich ein Namensvetter Böcklers, ein Geschäftsmann, verhaf-

tet (Klein-Viehöver, S. 58), was Böckler die Gelegenheit gegeben haben soll, im Bergischen

Land unterzutauchen (in Ottoherscheid hatte er sich schon zuvor mehrfach mit seiner Frau

aufgehalten).

Hans Böckler erhielt auf der ersten, von der britischen Militärregierung eingesetzten Kölner

Stadtverordnetenversammlung am 1. Oktober 1945 als Ältester das Wort. Wie im entspre-

chenden Protokoll nachzulesen ist, bat er die Bevölkerung, gegenüber den neuen Gemein-

devertretern nur „einen Bruchteil der Geduld und der Nachsicht“ aufzubringen, welche die

„übergroße Mehrheit dem vergangenen Schandregime“ entgegenbrachte. In einem Frage-

bogen 1946 gab er zu Protokoll: „In der Nazizeit habe ich einfach meine Pflicht getan, war

wiederholt in Schutzhaft und wurde, wie so viele andere, wirtschaftlich vernichtet. Meine

jetzige Tätigkeit ist nach Wiederaufnahme Fortsetzung der früheren.“

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, Bestand NW 1048-42 (Hauptausschuss Stadtkreis

Köln) Nr. 725 [NICHT eingesehen]

Blume, Dorlis/Zündorf, Irmgard: Biografie Hans Böckler. In: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum

Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; URL:

http://www.hdg.de/lemo/biografie/hans-boeckler.html [Zugriff 30.10.2015]

Literatur:

Borsdorf, Ulrich: Hans Böckler. Bd. 1: Erfahrungen eines Gewerkschafters 1875-1945. Essen 2005.

Buschak, Willy: Arbeit im kleinsten Zirkel. Gewerkschaften im Widerstand gegen die nationalsozialis-

tische Diktatur. Essen 2015.

Klein-Viehöver, Else/Viehöver, Joseph: Hans Böckler. Ein Bild seiner Persönlichkeit. Köln 1952.

Milatz, Alfred: Böckler, Hans. In: NDB, Bd. 2. Berlin 1955, S. 371 f.

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Jovanka-Bontschits-Straße (K 10), benannt 2013 nach

Jovanka Bontschits (1887-1966)

Erste Frau mit dem Abschluss Diplom-Ingenieur (in Architektur) der TH Darmstadt

* 22. Juni 1887 in Nisch (Serbien)

Besuch des Knabengymnasiums in Belgrad

1905-1909 Studium der Architektur an der Universität Belgrad

1909 Praktikum bei der Direktion der serbischen Staatsbahn, Bauabteilung

1909-1913 Studium der Architektur an der TH Darmstadt

1911 Vordiplom

1913 als erste Frau Abschluss als Diplom-Ingenieur[in] in Architektur an TH Darmstadt; eine der ers-

ten Frauen mit regulär abgeschlossener Diplomprüfung in Deutschland überhaupt

Heirat mit Andreas Katerinitsch (Kommilitone aus der Architektur, aus Ukraine stammend), drei Söh-

ne, Nachname fortan Bončić Katerinić

1914 Umzug nach St. Petersburg (Russland)

Ca. 1917 Umzug nach Kiew (Ukraine/USSR)

1922 Umzug der Familie nach Belgrad (Serbien), Tätigkeit als Architektin für das serbische Bauminis-

terium

1929-1933 Kursalon und Badehaus in Banja Koviljača

1930-1938 Gebäude der Stadtverwaltung in Banja Luka

1933 Gebäude für Lehrerinnenausbildung, Universität Belgrad

Ab 1939 Gebäude für Veterinärmedizin, Universität Belgrad

1945 Eintritt in den Ruhestand

† 1966 in Belgrad (bei einem Wohnungsbrand)

Ehrungen:

Jovanka-Bontschits-Preis (Förderpreis) des Fachbereichs Material- und Geowissenschaften

Wirken in der NS-Zeit

Jovanka Bontschits (Bončić Katerinić), erste Frau mit dem Abschluss als Diplom-Ingenieur(in)

(Architektur) an TH Darmstadt, lebte zwischen 1933 und 1945 in Belgrad (Serbien). Sie arbei-

tete dort seit Beginn der 1920er Jahre für das serbische Bauministerium als Architektin. Zu

den von ihr betreuten Projekten zählten in der fraglichen Zeit Gebäude der Stadtverwaltung

in Banja Luka (1930-1938) sowie Bauten an der Universität in Belgrad (1933 Gebäude für

Lehrerinnenausbildung, ab 1939 Gebäude für Veterinärmedizin).

1945 trat Jovanka Bončić Katerinić in den Ruhestand. Es ergaben sich keine Hinweise auf

eine Verstrickung mit dem NS-System.

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Quellen:

UA Darmstadt, 102 Nr. 975

UA Darmstadt, Bontschits, Jovanka (Studentin) [Pressemappe]

Literatur:

Viefhaus, Marianne: Frauenstudium. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 265.

[von Verena Kümmel aktualisierter Online-Beitrag „Studium von Frauen“, http://www.darmstadt-

stadtlexikon.de/s/studium-von-frauen; Zugriff: 19.09.2016]

Viefhaus, Marianne: Frauen an der Technischen Hochschule Darmstadt. In: Emig, Brigitte (Hrsg.):

Frauen in der Wissenschaft. Dokumentation der Ringvorlesung vom Wintersemester 1985/86 an der

Technischen Hochschule Darmstadt. Darmstadt 1988, S. 35-61, hier 45.

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Borngässerplatz (H 9), benannt 2004 nach

Wilhelm Borngässer (1879-1963)

Musikpädagoge, Kirchenmusiker und Komponist

* 14. August 1879 in Schwabsburg/Rheinhessen

1895-1898 Lehrerseminar in Alzey

1898-1901 Erste Tätigkeiten als Lehrer in Griesheim, Bürgel und Trais an der Lumda

1901 Lehrer in Darmstadt (Ballonschule, definitive Anstellung ab 1907)

Abschluss seiner musikalischen Studien in Darmstadt bei Hochschullehrer Willibald Nagel und Chris-

tian Heim; gefördert von Hofkapellmeister Willem de Haan und Kirchenmusikmeister Arnold Men-

delssohn

1905-1955 Organist an der Stadtkirche Darmstadt; musikalisches Wirken mit dem Musikverein (als

deren Organist bis 1929)

1906 Heirat mit Elisabeth (geb. Stöppler), drei Kinder

1907-1923 Leitung des Lehrergesangvereins [Sängerchors des Lehrervereins Darmstadt]

1908-1958 Leitung des Stadtkirchenchors bis zu seinem Ausscheiden [1958: 50-jähriges Jubiläum]

1911-1950 Arbeit in der musikpädagogischen Ausbildung von Kirchenmusikern und Musikerziehern

in Darmstadt, Mainz, Friedberg, später [12/1945] in Jugenheim

1919-1933 Mitglied der Demokratischen Partei

1924 Hauptamtlich als Dozent (Studienrat) am Lehrerinnenseminar, ab 1930 am neugegründeten

Pädagogischen Institut

1933-1945 Mitglied der NSV

1935 Professor an der Hochschule für Lehrerbildung

1935-1945 Mitglied der Reichsdozentenschaft

1937-1957 Vorsitzender der Leitung des Amts für Kirchenmusik der EKNH (nach 1945: EKHN)

1942 Aufführung seines Streichquartetts g-moll im Saalbau Darmstadt

1942 Lehrauftrag für Musikwissenschaften an der TH Darmstadt

1944 Einquartierung in Darmstadt-Arheilgen infolge der „Brandnacht“

1945 Umzug nach Alsbach

Nach 1945 maßgeblich am Aufbau des Pädagogischen Instituts Jugenheim beteiligt

Ehrungen:

1935 Professor ehrenhalber

1949 Verleihung des Titels eines Kirchenmusikmeisters der EKHN [vor ihm nur Arnold Mendelssohn]

1952 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes

1959 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt [bleibende und große Verdienste um das kir-

chenmusikalische Leben des evangelischen Darmstadts und um das kulturelle, künstlerische und

geistige Leben der Stadt]

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163

Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Borngässer, Musikpädagoge und Kirchenmusikmeister, war auch zwischen 1933

und 1945 in die musikpädagogische Ausbildung von Kirchenmusikern und Musikerziehern in

Darmstadt eingebunden. Er war Studentenrat am Pädagogischen Institut und wurde 1935

zum Professor ernannt. Von 1942 an vertrat er an der TH Darmstadt im Zuge eines bezahlten

Lehrauftrags für Musikwissenschaften den 1940 entlassenen außerplanmäßigen Professor

Friedrich Noack. Seit 1935 war er Mitglied der Reichsdozentenschaft.

Von 1933 bis 1945 war Borngässer eigenen Angaben folgend Mitglied der NSV. Im selben

Meldebogen 1946 gab er auch eine (nicht näher datierte) Mitgliedschaft in der „Reichsmu-

sikkammer“ an. In den Beständen des ehemaligen BDC konnten keine persönlichen Akten zu

Borngässer ermittelt werden. Von der amerikanischen Militärregierung wurde seine „Be-

schäftigung“ im Oktober 1945 genehmigt.

Als Selbsteinschätzung gab Borngässer im Meldebogen „unbelastet“ an. Er begründete dies

wie folgt: „Nachdem ich von der Militärregierung bestätigt bin und mein Amt mit d. Errich-

tung des Päd. Instituts in Jugenheim a.d.B. angetreten, kommt das Gesetz, so glaube ich, für

mich nicht in Frage.“ Zudem verwies er auf seine Mitgliedschaft in der Demokratischen Par-

tei, der er von 1919 bis zur Auflösung angehörte. Im April 1947 erreichte ihn die Nachricht,

dass er als „vom Gesetz nicht betroffen“ eingestuft worden war.

Von 1945 an war Borngässer maßgeblich am Aufbau des Pädagogischen Instituts in Jugen-

heim beteiligt. Den Lehrauftrag an der TH Darmstadt musste er 1946 aufgeben, da Friedrich

Noack wieder zum Unterricht zugelassen war.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Land (NB Alsbach), Nr. 1451

HStAD, R 12 P Nr. 421

Zentralarchiv der EKHN, Best. 104, Nr. 55

StadtA DA, St 61 Borngässer, Wilhelm

UA Darmstadt, TH 25/01 Nr. 72/3

Literatur:

Balz, Hans Martin: Borngässer, Wilhelm. In: Darmstädter Stadtlexikon (2006), S. 94.

Borngässer, Wilhelm: 50 Jahre an der Orgel der Stadtkirche. In: Knodt, Manfred (Hrsg.): Festschrift

zur Orgelweihe in der Stadtkirche zu Darmstadt an Ostern, dem 2. und 3. April 1961. Mit Rückblick

auf 361-jährigen Orgeldienst in der Stadtkirchengemeinde. Langen 1961, S. 43-48.

Knodt, Manfred: Rundblick vom Stadtkirchturm. Darmstadt 1993.

Müller, Erich: Deutsches Musiker Lexikon. Dresden 1929, S. 137.

Schmidt, Isabel: Nach dem Nationalsozialismus. Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheit und Zu-

kunftsmanagement (1945-1960). Darmstadt 2015.

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164

Borsdorffstraße (G 9), benannt 1992 [1989] nach

Joachim Borsdorff (1919-1985)

Bürgermeister und Stadtkämmerer in Darmstadt, Vorstandsvorsitzender der HEAG

* 30. Juli 1919 in Schnellroda (Provinz Sachsen)

1929-1938 Humanistisches Domgymnasium in Merseburg/Saale

1934-1939 Mitglied des NS Reichbunds für Leibesübungen

1936 Mannschaftsführer deutsche Jugendhockey-Mannschaft

1936-1943 Mitglied der HJ (ab 1942 Amt: Gefolgschaftsführer der HJ „als verwundeter Soldat“;

Dienstgrad: Oberscharführer)

1938 RAD

1938-1939 Studium an der Universität Leipzig/HfL Cottbus (Sport, Geschichte, Deutsch)

1939-1942 Kriegsdienst (Infanterie-Regiment 446); nach mehrmaliger Verwundung dienstuntauglich

entlassen

1942-1945 Mitglied der Deutschen Studentenschaft

1942-1945 Studium der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der Universität Halle/Saale

1943-1945 Mitglied der NKOV

1944 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 9662913; Aufnahme beantragt: 11.08.1943)

1944 Staatsexamen als Diplom-Volkswirt (01.11.1944)

1944-1945 Wissenschaftlicher Assistent an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät (Prof.

Muhs) der Universität Halle/Saale (01.05.1944-31.12.1945, unterbrochen nach Kriegsende durch

dreimonatige Tätigkeit zur Beseitigung von Kriegsschäden)

1945 Promotion zum Dr. rer. pol. (17.02.1945), „Volkswirtschaftliche Auswirkungen der Konzerne“

1945 Hochzeit mit Ruth Schlatow in Merseburg (04.09.1945)

1946-1950 Referent und Abteilungsleiter beim Statistischen Landesamt Sachsen

1950 Flucht in die Bundesrepublik Deutschland

1950 Aushilfsangestellter in der Arbeitsverwaltung der Stadt Hamburg (zur Überbrückung)

1950-1951 Referent und stellvertretender Abteilungsleiter im Statistischen Landesamt Bremen

1951-1954 Referent für Wohnungswesen am Statistischen Bundesamt Wiesbaden

1954 Beginn der Tätigkeit bei der Stadtverwaltung Darmstadt; Leitung des Statistischen Amts und des

Wahlamts sowie Leitung des Presse-, Werbe- und Verkehrsamts

1955 Ernennung zum Magistratsrat und Übernahme in Beamtenverhältnis

1956 Wahl zum hauptamtlichen Beigeordneten der Stadt Darmstadt (SPD) mit der Amtsbezeichnung

Stadtkämmerer

1964 Sportdezernent der Stadt Darmstadt (zusätzlich zum Stadtkämmerer)

1967 Wahl zum ersten hauptamtlichen Beigeordneten der Stadt Darmstadt mit der Amtsbezeichnung

Bürgermeister (in Nachfolge von Ernst Holtzmann, CDU) und Stadtkämmerer

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1970 Ausscheiden aus Diensten der Stadt Darmstadt

1970-1985 Vorsitzender des Vorstands der HEAG, Darmstadt

1971 Vorsitzender der Kaupiana (Förderverein des Vivariums Darmstadt)

Bis 1985 Erster Vorsitzender der Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde

† 20. März 1985 in Darmstadt

Ehrungen:

1968 Goldene Verdienstnadel der TSG 1846 Darmstadt [er unterstützte als Stadtkämmerer wohlwol-

lend den Bau der Felsinghalle]

1970 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1980 Ehrenplakette [höchste Auszeichnung] des Hessischen Landessportbunds

1983 Silberne Verdienstspange der Arbeiterwohlfahrt

Wirken in der NS-Zeit

Dr. Joachim Borsdorff, der 1954 nach Darmstadt gelangte und dort als Stadtkämmerer,

Sportdezernent, Bürgermeister sowie als Vorstandsvorsitzender der HEAG tätig war, besuch-

te bis 1938 das Humanistische Domgymnasium in Merseburg, das er mit dem Abitur verließ.

Während der Schulzeit war er als herausragender Sportler in Erscheinung getreten, führte

etwa die deutsche Jugendhockey-Mannschaft 1936 in England als Spielführer auf das Feld

und spielte mit dem HC Merseburg in der höchsten deutschen Spielklasse. Als Leichtathlet

trat er erfolgreich in den Laufdisziplinen bei Regionalmeisterschaften sowie bei den „mittel-

deutschen Schülerkampfspielen“ an. Von 1934 bis 1938 war er Mitglied des NS Reichbunds

für Leibesübungen. Nach dem obligatorischen Dienst beim RAD (05.04.-25.10.1938) studier-

te Borsdorff in Leipzig bzw. an der Hochschule für Leibesübungen (HfL) in Cottbus Sport so-

wie Deutsch und Geschichte.

Borsdorff war von 1936 bis 1943 Mitglied der HJ. Im Oktober 1939 trat er in den Kriegsdienst

ein (Infanterie-Regiment 446), wurde mehrfach verwundet und „verlor“ ein Bein, woraufhin

er im September 1942 aus dem Militärdienst entlassen wurde. Als „verwundeter Soldat“

bekleidete er in der HJ das Amt eines Gefolgschaftsführers mit dem Dienstgrad Oberschar-

führer (was seinem militärischen Dienstgrad Feldwebel entsprach). Aus gesundheitlichen

Gründen war die Wiederaufnahme des Sportstudiums unmöglich. Borsdorff entschied sich

zum Studium der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der Universität Halle/Saale, das

er im November 1944 mit dem Staatsexamen zum Diplom-Volkswirt abschloss. Bereits seit

Mai 1944 arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft, ab 1945 dann als Wissenschaftlicher

Assistent am Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität Halle bei Prof. Muhs. Im Feb-

ruar 1945 folgte die Promotion zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit zu „Volkswirtschaftlichen

Auswirkungen der Konzerne“. Bis Ende 1945 blieb er als Wissenschaftler an der Universität

Halle tätig, unterbrochen durch eine dreimonatige Tätigkeit zur Beseitigung von Kriegsschä-

den in der direkten Nachkriegszeit. Zum 31.12.1945 kündigte er auf eigenen Wunsch, „um

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eine andere Beschäftigung in der Provinzialverwaltung anzunehmen“ (UA Halle, PA 4793

Borsdorff, Joachim), und wechselte an das Statistische Landesamt Sachsen.

Im August 1943 beantragte Joachim Borsdorff die Aufnahme in die NSDAP. Mit Datum

01.01.1944 wurde er als Mitglied der NSDAP-Ortsgruppe Merseburg, Gau Halle-Merseburg,

geführt. Von 1943 bis 1945 war er Mitglied der NKOV. Da Borsdorff zwischen 1945 und 1950

in der SBZ bzw. in der DDR lebte, musste er sich keinem Entnazifizierungsverfahren unterzie-

hen. Überliefert ist allerdings ein vierseitiger Fragebogen vom 10.07.1945, der seine Mit-

gliedschaften in den genannten NS Organisationen dokumentiert (UA Halle, PA 4793 Bors-

dorff, Joachim).

Quellen:

BArch, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

StadtA DA, ST 61 Borsdorff, Dr. Joachim

UA Halle, PA 4793 Borsdorff, Joachim

Literatur:

Knieß, Friedrich Wilhelm: Borsdorff, Joachim. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 94 f.

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Robert-Bosch-Straße (J-K 5-6), benannt 1999 nach

Robert Bosch (1861-1942)

Gründer der Robert Bosch GmbH, Erfinder der Magnetzündung

* 23. September 1861 in Albeck bei Ulm

1869-1876 Besuch der Realschule in Ulm

1876-1879 Lehre als Feinmechaniker in Ulm

1879-1885 Wanderjahre; Tätigkeiten bei wichtigen Unternehmen der Zeit im Bereich der sich entwi-

ckelnden Elektrotechnik im In- und Ausland

1886 Gründung der „Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik“ in Stuttgart (später Robert

Bosch GmbH)

1887 Hochzeit mit Anna Kayser (vier Kinder)

1887 Entwicklung und Bau eines innovativen Magnetzünders für Gasmotoren

1901 Bezug der ersten eigenen Fabrik in Stuttgart (45 Mitarbeiter)

1902 Entwicklung eines Hochspannungs-Magnetzünders für Benzinmotoren; dieser wird zum Aus-

gangspunkt für die internationale Expansion des Betriebs

1906 Einführung des Achtstundentags (daher Beiname „Der rote Bosch“); gleichzeitig Auseinander-

setzungen mit Gewerkschaften wegen Rationalisierungsmaßnahmen

1916 Vorsitzender des Verbands Württembergischer Industrieller

1917 Umwandlung des auf 7.000 Beschäftigte angewachsenen Betriebs in eine Aktiengesellschaft

und Entwicklung der ersten Beton-Schlagbohrmaschine

1918 Mitglied der „Kommission zur Vorbereitung der Sozialisierung der Industrie“; Bosch befürwor-

tet Mitspracherecht der Betriebsräte, lehnt aber Gewinnbeteiligung ab

1919 Präsidiumsmitglied des Reichsverbands der deutschen Industrie

ab 1920 Gründung zahlreicher Wohltätigkeitseinrichtungen

1922-1933 Mitglied im Senat der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

1926 Gründungsmitglied des Stuttgarter Vereins zur Abwehr des Antisemitismus

1926/27 Scheidung; Hochzeit mit Margarete Wörz (zwei Kinder)

1927 Bosch AG produziert zunehmend elektrotechnische Geräte aus dem Konsumbereich, etwa

Kühlschränke, Radioapparate und Elektrowerkzeuge

1932 Übernahme der Junkers & Co. GmbH; Veröffentlichung „Die Verhütung künftiger Krisen in der

Weltwirtschaft“

1933 Erwerb der „Ideal-Werke für drahtlose Telephonie AG“ (seit 1938: Blaupunkt-Werke GmbH)

1937 Umwandlung des Konzerns in eine GmbH

1937 Einstellung von Carl Goerdeler als Berater

1939 Zwangsarbeiter in Firmen der Bosch-Gruppe

1940 Einweihung des „Robert-Bosch-Krankenhauses“ in Stuttgart (gestiftet von Robert Bosch)

† 12. März 1942 in Stuttgart

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Ehrungen:

1910 Ehrendoktor der Technischen Hochschule Stuttgart (wohl gegen seinen Willen)

Ca. 1941 Kriegsverdienstkreuz I. Klasse

1941 Ernennung zum „Pionier der Arbeit“

1941 Ehrendoktor der Universität Tübingen

Zahlreiche Straßen sind nach Robert Bosch benannt

Wirken in der NS-Zeit

Robert Bosch – Techniker, Industriepionier und Großunternehmer (Robert Bosch AG, ab

1937 Robert Bosch GmbH) – war von 1933 bis zu seinem Tod 1942 gezwungenermaßen in

das NS-Wirtschaftssystem involviert. Gleichzeitig halfen er und führende Angestellte des

Unternehmens mehreren Juden zu überleben. Bosch und seine Vertrauten (Bosch-Kreis)

engagierten sich ab 1937 zudem nachweislich im politischen Widerstand gegen Hitler.

Für Robert Bosch waren die ersten Jahre nach der „Machtergreifung“ 1933 geprägt von Kon-

flikten (aber auch von Arrangements) mit dem NS-Regime – und von der verfehlten Über-

zeugung, dass es sich beim Nationalsozialismus um ein „Übergangsphänomen“ (Scholtyseck,

S. 146) handele. Das Unternehmen und Bosch persönlich wurden vom württembergischen

NSDAP-Gauleiter Wilhelm Murr mehrfach attackiert. Gerüchte kursierten, wonach Bosch

wegen seiner liberalen Einstellung inhaftiert werden sollte; er zog sich auf den bayerischen

Boschhof zurück. Dennoch hoffte er (wohl noch bis 1935) darauf, den neuen „Führer“ Adolf

Hitler von der aus seiner Sicht notwendigen Verständigung mit Frankreich überzeugen zu

können. Bosch traf Hitler im September 1933 in dieser Angelegenheit, konnte aber nichts

bewirken – zu einem wirklichen Meinungsaustausch kam es nicht. Für ein Lieblingsprojekt

Hitlers (den Bau des „Hauses der Kunst“ in München) spendete Bosch 1939 nach Aufforde-

rung 100.000 RM. Insgesamt entrichtete Bosch bis ins Jahr 1944 rund 1,75 Millionen RM als

„Adolf-Hitler-Spende“ (Scholtyseck, S. 147).

Schätzungen basierend auf neueren Forschungen gehen davon aus, dass während des Zwei-

ten Weltkriegs mindestens 20.000 Zwangsarbeiter bei Unternehmen der Bosch-Gruppe be-

schäftigt waren, darunter auch 800 Polinnen aus dem KZ Ravensbrück, die im September

1944 (somit nach Robert Boschs Tod) bei der Dreilinden Maschinenbau GmbH in Kleinmach-

now Zwangsarbeit leisten mussten. Für letztere wurde eigens ein KZ-Außenlager unter Auf-

sicht der SS errichtet. Auch in den zum Konzern gehörenden Siling-Werken in Langenbielau,

wo für die Zwangsarbeiter menschenunwürdige Bedingungen herrschten, wurden gegen

Ende des Kriegs KZ-Häftlinge eingesetzt.

Robert Bosch war nie Mitglied der NSDAP – ein Eintritt in die Partei wurde selbst seitens der

NSDAP als aussichtslos eingeschätzt, weshalb dies nie zur Debatte stand. Bosch strebte viel-

mehr aus sozial-liberaler Denktradition innenpolitisch einen Ausgleich mit der Sozialdemo-

kratie an und außenpolitisch eine Verständigung mit Frankreich. Aus der Firmenleitung zog

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er sich zunehmend zurück. Wichtige Entscheidungen wurden nicht mehr von ihm allein, son-

dern von einem Direktorium getroffen. Bosch wusste, dass führende Vorstandsmitglieder

der NSDAP beigetreten waren – wohl auch, um den Einfluss der NSDAP auf das Unterneh-

men möglichst gering halten zu können. Sein persönlicher Vertrauter, Hans Walz, wurde

Mitglied der SS und war Mitglied des „Freundeskreises Himmler“ (wurde aber 1969 wegen

seines Einsatzes für Juden mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ geehrt). Als von

besonderer Bedeutung für die „Sicherheitsdeckung“ des Unternehmens erwies sich Gottlob

Berger, ein Gegner des Gauleiters Murr und späterer SS-Obergruppenführer sowie enger

Mitarbeiter Heinrich Himmlers. Berger, für den Robert Bosch eine Art Vaterfigur darstellte

und der sich daher immer loyal verhielt, setzte sich für Bosch und (auch nach dessen Tod) für

das Unternehmen sowie seine leitenden Angestellten persönlich ein. Von einem geheimen

Konto erhielt Berger für seine Dienste von Bosch monatlich 700 RM sowie mehrere Sonder-

zahlungen in bis zu fünfstelliger Höhe.

Das Unternehmen Bosch musste ab 1933 Zugeständnisse an das NS-Regime machen, auch

die Betriebsstruktur betreffende. Aufträge im Bereich der Rüstungsindustrie machten einen

Großteil des Umsatzes aus, neue Firmen wurden als Teil der Bosch-Gruppe nach NS-

Vorgaben gegründet; insbesondere in diesen Neugründungen wurden Tausende von

Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern beschäftigt.

In der wissenschaftlichen Forschung gilt Robert Bosch dennoch als Beleg dafür, dass ein

Großunternehmer – unter den schwierigen Bedingungen des „Dritten Reichs“ – Widerstand

gegen das totalitaristische NS-System leisten konnte. „Für Robert Bosch verkörperte der Na-

tionalsozialismus ziemlich genau das Gegenteil von allem, wofür er eintrat“, konstatiert etwa

Johannes Bähr in seiner Studie zu Bosch im „Dritten Reich“ (S. 169). Die zur Verfügung ste-

henden Handlungsspielräume hinsichtlich des Widerstands gegen das NS-Regime habe

Bosch weitgehend ausgenutzt. Mit dem Rüstungs- und Zwangsarbeitersystem habe er sich

arrangieren müssen und etwa auf Vorgaben des NS-Regimes zur Behandlung von ausländi-

schen Zwangsarbeitern kaum Einfluss gehabt: „Selbst eine ‚Wirtschaftsmacht‘ wie Bosch

musste sich unter dem Druck der Verhältnisse den politischen Gesetzen des Nationalsozia-

lismus unterwerfen“ (Scholtyseck, S. 552).

Als entlastend angeführt wird besonders Robert Boschs aktiver Widerstand gegen den von

den Nationalsozialisten betriebenen Antisemitismus, den er Zeit seines Lebens ablehnte.

Bosch war 1926 (gemeinsam mit Hans Walz) Gründungsmitglied des Stuttgarter Vereins zur

Abwehr des Antisemitismus und setzte auch in seinem Unternehmen einen Geist um, der

(selbst im Umfeld nach 1933) für antisemitische Hetze wenig Raum bot. Bosch und der Kreis

seiner Vertrauten (Bosch-Kreis) leisteten verfolgten Juden in mehreren Fällen nachweislich

Hilfestellung (Verbindungen zur Gestapo erwiesen sich dabei als hilfreich). Durch die Einrich-

tung spezieller Abteilungen innerhalb des Unternehmens konnten einige Jüdinnen und Juden

vor der (teils bereits anberaumten) Deportation gerettet werden. Auch erfolgten (geheime)

finanzielle Zuwendungen an Juden und jüdische Vermittlungsstellen. Allein zwischen 1938

und 1940 unterstützte Bosch die Emigration verhafteter und verfolgter Juden mit einem Be-

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trag von 1,2 Millionen RM (nach Bähr, S. 188; wohl nur in einem Fall hatte die Robert Bosch

GmbH gegen den Willen bzw. die Interessen der Verkäufer jüdisches Eigentum erworben,

ebenda, S. 192). Auch der Historiker Arno Lustiger zählt Bosch zu den wenigen Industriellen,

„die alles taten, um jüdische Angestellte und deren Familien zu retten“ (SZ, 20.11.2010).

Einen Meilenstein bezüglich des politischen Widerstands nimmt die Einstellung von Carl Go-

erdeler als Berater des Unternehmens 1937 ein. Der ehemalige Leipziger Bürgermeister –

dessen politische Ansichten sich keineswegs mit denen Boschs deckten – war als eine Art

Sonderbotschafter bei Bosch beschäftigt. Auf zahlreichen Auslandsreisen, die als Dienstrei-

sen im Auftrag des Unternehmens deklariert waren, versuchte er in vertraulichen Gesprä-

chen vor den Absichten Hitlers zu warnen (mit sehr begrenztem Erfolg). Goerdeler vermittel-

te zudem den Kontakt zum militärischen Widerstand gegen Hitler, über den Robert Bosch

vermutlich 1939 informiert wurde. Für den Widerstand des Bosch-Kreises stellte Goerdeler

(darin ist sich die Forschung einig) den Dreh- und Angelpunkt. Robert Bosch selbst sollte die

späteren Attentatspläne nicht mehr erleben.

1936 beging Robert Bosch seinen 75. Geburtstag; zugleich wurde das 50-jährige Unterneh-

mensjubiläum gefeiert. Da in der zu diesem Anlass verfassten Festschrift die üblichen Huldi-

gungen an das NS-Regime fehlten, sagten die zur Jubiläumsfeier in Stuttgart geladenen Ver-

treter der Partei ihre Teilnahme ab. Es kam zum Eklat, der in Ermittlungen gegen das Unter-

nehmen und einer scharfen Verwarnung mündete. Die Unternehmensleitung bemühte sich

in der Folge noch stärker um eine Art „Burgfrieden“ (Bähr, S. 178) mit der Gauleitung und

der DAF. Anlässlich seines 80. Geburtstags 1941 wurden Robert Bosch hohe persönliche Aus-

zeichnungen zuteil: Er wurde von DAF-Chef Robert Ley als „Pionier der Arbeit“ ausgezeich-

net; von Gauleiter Wilhelm Murr erhielt er das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse. Der Robert

Bosch GmbH wurde die Auszeichnung „Kriegs-Musterbetrieb“ verliehen.

Nach dem Tod Robert Boschs wurde sein Begräbnis seitens des NS-Regimes instrumentali-

siert: Adolf Hitler ordnete ein Staatsbegräbnis an; NS-Reichswirtschaftsminister Walther

Funk würdigte Robert Bosch – der im privaten Kreis (laut seiner Tochter Eva Madelung) über

Hitler „Warum bringt denn diesen Kerl niemand um?“ gesagt haben soll (Madelung, S. 7) –

als Nationalhelden und legte einen Kranz im Namen des „Führers“ nieder.

Quellen:

BArch, BDC, R 1507/2011 [Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung]

BArch, BDC, R 1507/2014 [Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung]

Literatur:

Bähr, Johannes: Bosch im Dritten Reich (1933-1945). In: Bähr, Johannes/Erker, Paul: Bosch. Geschich-

te eines Weltunternehmens. München 2013, S. 155-251.

Heuss, Theodor: Robert Bosch. Leben und Leistung. Stuttgart/Tübingen 1946.

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171

Heuss, Theodor: Bosch, Robert. In: NDB, Bd. 2. Berlin 1955, S. 479-481.

Madelung, Eva: Einleitung. In: Dies./Scholtyseck, Joachim: Heldenkinder – Verräterkinder. München

2007, S. 7-20.

Scholtyseck, Joachim: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945. Mün-

chen 1999.

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Brambachweg (Q 7-8), benannt 1958/59 nach

Otto Brambach (1885-1949)

Führende Person im Aufbau des Hessischen Jugendherbergswerks

* 2. August 1885 in Bochum

Kindheit und Jugend in Bochum, Essen, Neuhaus-Paderborn und Wesel

Mitglied beim Wandervogel

Erlernter Beruf: Schmied [laut Kennkartenmeldebogen 1946]

Nach 1910 beteiligt am Aufbau des Deutschen Jugendherbergswerks

1911 Hochzeit mit Natalie Herrmann (zwei Kinder)

1914 Umzug nach Darmstadt und Tätigkeit bei der Stadt Darmstadt (Stadtinspektor)

1914-1918 vermutlich Teilnahme am Ersten Weltkrieg

1919-1922 Mitglied der Demokratischen Partei

1922 Mitbegründer des Bundes deutscher Kriegsdienstverweigerer

1922-1933 Mitglied der SPD

1923 Gründung der Ortsgruppe Darmstadt des Hessischen Jugendherbergswerks

1924-1933 (Mitbegründer und) Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold

1925-1933 ehrenamtlicher Geschäftsführer des DJH-Gaus Südhessen (Darmstadt)

1929/1931 Publikation „Das Hessische Jugendherbergswerk“

1933 Zurückstufung vom Stadtinspektor zum Obersekretär aufgrund §4 des Gesetzes zur Wiederher-

stellung des Berufsbeamtentums

1933-1945 Mitglied des Reichsbunds der Deutschen Beamten

1934-1945 Mitglied der NSV

1935-1939 Förderndes Mitglied der SS

1935-1945 Mitglied des RKB

1935-1945 Mitglied des RLB

1945 Stadt-Oberinspektor in Darmstadt

1946 Leiter des Städtischen Jugendausschusses in Darmstadt

† 6. April 1949 in Heidelberg

Ehrungen:

---

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Wirken in der NS-Zeit

Otto Brambach, der 1914 nach Darmstadt gekommen und spätestens ab 1918 in der Stadt-

verwaltung tätig war, gilt als wichtige Person im Aufbau des Jugendherbergswerks, insbe-

sondere in Südhessen. Bis zur Auflösung 1933 war er Mitglied der SPD sowie ehrenamtlicher

Geschäftsführer des DJH-Gaus Südhessen in Darmstadt. Ebenfalls bis zur Auflösung 1933 war

er zudem – eigenen Angaben folgend – Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und

des Bundes französischer Intellektueller sowie Vorstandsmitglied der deutschen Friedensge-

sellschaft und des Bundes religiöser Sozialisten.

1933 war Brambach, unter Berufung auf §4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufs-

beamtentums, innerhalb der Darmstädter Stadtverwaltung vom Stadtinspektor zum Ober-

sekretär zurückgestuft worden. Er blieb zwischen 1933 und 1945 in Diensten der Stadt

Darmstadt. Laut eigener Angaben im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens habe er sich „Ge-

halt + Nachzahlungen“ für den Zeitraum 1934-1937 in einem Prozess gegen den Darmstädter

OB Otto Wamboldt erstreiten müssen.

Brambach war Förderndes Mitglied der SS (1935-1939), Mitglied des Reichsbunds der Deut-

schen Beamten (1933-1945), der NSV (1934-1945) sowie des RKB und des RLB (1935-1945).

In einem handschriftlichen Ergänzungsblatt zum Meldebogen des Entnazifizierungsverfah-

rens gab Brambach an, er sei bis Ende 1934 „politische[n] Verleumdungen usw.“ ausgesetzt

gewesen. Er berichtete des Weiteren von Schikanen durch die Gestapo und seiner Mithilfe

bei der Flucht des Kreisdirektors [Heinrich] Ritzel ins Ausland. Als Brambach 1935 seinen

Schwiegersohn (Studienrat Stein, 1933 wegen Hochverrats verhaftet und daraufhin mit

Brambachs Tochter 1934 nach Spanien geflohen) und seine Tochter aus Spanien zurückholen

wollte, sei er gemeinsam mit seinem Schwiegersohn „wegen angeblich marxistischer Um-

triebe in Granada verhaftet und aus Spanien für 20 Jahre ausgewiesen“ worden. 1937 sei

Brambach strafversetzt worden, da er „anstelle des sogen. Führer-Bildes einen großen Uhu

aufgehängt hatte und mit Juden weiter Freundschaft hielt“; 1938 sei gegen ihn ein „politi-

sches Disziplinarverfahren“ eingeleitet worden, da er unter anderem die Teilnahme an Be-

triebsausflügen und Sammlungen verweigert habe. Seine Mutter und sein Pflegesohn waren

bereits 1936 nach Amerika ausgewandert. Schließlich sei Brambach selbst 1944/45 „stiller

Helfer“ einer „Illegalen Gruppe“ [Name möglicherweise „Avemaria“] gewesen. [Alle Angaben

ließen sich nicht durch andere Quellen verifizieren.]

Bei Georg Schäfer („Darmstadts Straßennamen“) gibt es den Hinweis, Otto Brambach sei

Mitglied der illegalen Widerstandsbewegung „Gruppe der jungen Christen“ gewesen. Laut

Dokumenten des Vermessungsamts im Zuge der Benennung des Brambachwegs 1959 war

Brambach „Angehöriger der illegalen Widerstandsbewegung (Gruppe 'Der junge Chris-

toph')“. „Der junge Christoph“ könnte auf eine Romanfigur Dietrich Bonhoeffers verweisen;

weder in den Aussagen von Brambach selbst noch anhand anderer Quellen ließen sich nähe-

re Informationen über die Existenz einer solchen Gruppe ermitteln.

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Seitens der Darmstädter Stadtverwaltung hieß es 1946 (mit Verweis auf Brambachs SPD-

Mitgliedschaft und dessen Zurückstufung 1933): „Brambach ist als überzeugter Demokrat

hier bekannt.“

Im Auftrag des „Reichsverbands für Deutsche Jugendherbergen, Gau Südhessen“ erarbeitete

Brambach eine umfangreiche Publikation über Geschichte und Entwicklung des „Hessischen

Jugendherbergswerks“, erschienen im Selbstverlag 1931. Er vertrat darin die Auffassung,

„wer so wie das deutsche Jugendherbergswerk Millionen von jungen Menschen aller Klassen und

Schichten Heimat und Vaterland, Volk und Natur, bauliche und landschaftliche Schönheit erschließt,

wer so von der Wurzel der Gesundheit, Einordnung, Selbständigkeit, Disziplin und Freude bei der

Jugend seines Volkes anregt und zur Entfaltung bringt, der darf wohl mit Recht von seiner kulturellen

Sendung sprechen, und dessen Wert sollte gerade in Notzeiten deutscher Kultur das Werk des gan-

zen Volkes sein“ (S. 273 f.).

Das Gefühl von „Heimat“ der deutschen Jugend (wieder) zu vermitteln, sei – neben der op-

timalen Förderung des Jugendwanderns – erklärtes Ziel der Arbeit des Jugendherbergs-

werks. In seinen programmatischen Ausführungen machte Brambach, in der Wandervogel-

Bewegung sozialisiert, klar, welche Bedeutung er – dem das „Vaterland“ und „die deutsche

Jugend“ am Herzen liege – der „Idee der Menschlichkeit“ beimaß:

„Ich denke, gerade in Zeiten des Sturmes und Dranges, der Bedrohung des Friedens, der Beschnei-

dung der Rechte muß man diesen Glauben und diese Idee der Menschlichkeit hochhalten. Es ist ja

leicht, in friedlichen Zeiten dem Frieden zu dienen, aber in jenen Zeiten, wo es gärt und bohrt, wo

eine unbelehrbare Masse immer wieder nach Gewalt schreit, wo so viele nichts von Überlegung und

ruhiger Betrachtung wissen wollen, gerade in solchen Zeiten ist der Glaube an den endgültigen Sieg

des Rechtes unsere stärkste Stütze, gerade in solchen Zeiten braucht man Kämpfer für die Sache der

Gerechtigkeit und der Menschlichkeit. Und auf der Seite dieser Kämpfer möchte ich unsere Jugend

sehen“ (S. 278 f.).

Daher stünde die Idee der Jugendherbergen auch im Zeichen der Versöhnung, des Zusam-

menbringens von jungen Deutschen aller Schichten und Anschauungen: „Nicht auf den

Kampf wollen wir verzichten, aber auf den Haß!“ (S. 283).

1933 wurden im Zuge der faktischen Gleichschaltung des DJH alle Sozialdemokraten (nach

Baldur von Schirach alle „Marxisten“, Kössener Abkommen vom April 1933) aus den Gaulei-

tungen entfernt, so auch Otto Brambach.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 1959

HStAD, H 3 Nr. 1111 [Kennkartenmeldebogen]

AdJb, P 1 Nr. 406

AdJb, A 201 Nr. 336

AdJb, A 211 Nr. 98

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175

Literatur:

Brambach, Otto: Das Hessische Jugendherbergswerk. Herausgegeben vom Reichsverband für Deut-

sche Jugendherbergen, Gau Südhessen. Darmstadt 1931.

Kraus, Eva: Das Deutsche Jugendherbergswerk 1909-1939. Programm – Personen – Gleichschaltung.

Berlin 2013.

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176

Franziska-Braun-Straße (K 10), benannt 2013 nach

Franziska Braun (1885-1955)

Erste immatrikulierte Studentin an der TH Darmstadt

* 28. Dezember 1885 in Weilburg

1888 Übersiedlung nach Hanau (Vater dort Direktor des Königlichen Gymnasiums)

1892-1901 Besuch der Höheren Töchterschule in Hanau

1893 Umzug in eigenes neuerbautes Haus (Diakonissenstraße 8)

1901-1906 Besuch des Mädchengymnasiums in Frankfurt am Main (das sich zu der Zeit in Gründung

befand)

1906 als Externe Reifeprüfung an der Musterschule in Frankfurt am Main

1906 Studium an der Hanauer Zeichenakademie (ein Semester)

1907-1908 Studium der Germanistik (zwei Semester) an der Höheren Handelsschule in Frankfurt am

Main

Um 1908 erste Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in der Heimatzeitung

1908 Immatrikulation als erste (und zunächst einzige) Studentin (für Architektur) an der TH Darm-

stadt (vor 1908/09 nur „Hospitantinnen“, Gasthörerinnen, zugelassen)

1908-1912 Studium an der TH Darmstadt; Beteiligung am Neubau des Hanauer Landgerichts

1911 Diplom-Vorprüfung

1912 Verlassen der TH Darmstadt ohne Abschluss, Grund: Verlobung im August 1912

1913 Heirat mit Heinrich Emil Fliedner, drei Kinder und fortan Führen des Doppelnamens Fliedner-

Braun, Umzug nach Berlin

1929 nach dem Tod ihres Ehemanns Rückkehr mit den drei Kindern nach Hanau

1934 „Rhön-Gesänge nach Sage, Geschichte und Wanderungen“ (Gedichtband mit eigenen Zeich-

nungen)

1945-1949 nach der Zerstörung des Elternhauses und dem Tod ihrer zwei Söhne im Zweiten Welt-

krieg Umzug mit der Tochter nach Gersfeld in der Rhön, danach Rückkehr nach Hanau

1949 „Um den Krähenbaum. Erlebtes, Erdachtes und Erschautes“ (Gedicht- und Balladensammlung)

1954 Herzleiden

† 29. Juli 1955 in Hanau

Ehrungen:

2011 Franziska-Braun-Preis der Carlo und Karin Giersch-Stiftung (Gleichstellungspreis der

TU Darmstadt)

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177

Wirken in der NS-Zeit

Franziska, genannt Franzi (Fliedner-)Braun, 1908 erste an der TH Darmstadt immatrikulierte

Studentin, lebte zwischen 1933 und 1945 verwitwet in ihrem Elternhaus in Hanau. 1933 er-

schien ihr Gedichtband „Rhön-Gesänge nach Sage, Geschichte und Wanderungen“, den sie

mit eigenen Zeichnungen illustrierte.

Während des Zweiten Weltkriegs starben ihre beiden Söhne im Kriegseinsatz. Ihr Elternhaus

in Hanau wurde bis auf das Souterrain zerstört. Mit ihrer Tochter zog sie 1945 nach Gersfeld

(Rhön).

Über das Leben von Franziska (Fliedner-)Braun in der NS-Zeit fanden sich über die im

TU Archiv Darmstadt tradierten Quellen und Berichte hinaus kaum Hinweise. Entnazifizie-

rungsakten ließen sich bislang nicht recherchieren; es ergaben sich keine Hinweise auf eine

Verstrickung mit dem NS-Regime.

Quellen:

UA Darmstadt, 102 Nr. 1086

UA Darmstadt, Braun, Franziska, 1. Studentin der THD [Pressemappe]

Literatur:

Kehr, Nicole/Maier, Tini: Franziska Braun: Die erste Studentin Darmstadts – eine Heldin? Darmstadt

2009 [Schülerinnenarbeit].

Viefhaus, Marianne: Frauenstudium. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 265.

[von Verena Kümmel aktualisierter Online-Beitrag „Studium von Frauen“, http://www.darmstadt-

stadtlexikon.de/s/studium-von-frauen; Zugriff: 19.09.2016]

Viefhaus, Marianne: Frauen an der Technischen Hochschule Darmstadt. In: Emig, Brigitte (Hrsg.):

Frauen in der Wissenschaft. Dokumentation der Ringvorlesung vom Wintersemester 1985/86 an der

Technischen Hochschule Darmstadt. Darmstadt 1988, S. 35-61, hier 44 f.

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Peter-Brix-Weg (B 8), benannt 2008 nach

Peter Brix (1918-2007)

Kernphysiker

* 20. Oktober 1918 in Grauhöft (Ortsteil von Kappeln/Schlei, Schleswig-Holstein)

1925-1928 Besuch der Grundschule in Kappeln

1928-1932 Besuch der Mittelschule in Kappeln

1932-1936 Besuch der Aufbauschule in Kappeln (1936: Abitur)

1933-1935 Mitglied der HJ („Geldverwalter“ 1934-1935)

1936 RAD

1936-1940 Studium der Physik an den Universitäten Kiel und Rochester sowie an der TH Berlin

1936-1940 Mitglied der Deutschen Studentenschaft

1937-1940 Mitglied des NSDStB

1940 Staatsexamen für Lehramt an höheren Schulen in Kiel

1940-1944 Kriegsdienst (Sturmgeschütz-Abteilung 190)

1944-1952 Wissenschaftlicher Assistent am 2. Physikalischen Institut der Universität Göttingen unter

Hans Kopfermann

1945 Heirat mit Ilse Brink, keine Kinder

1946 Dissertation „Über die photographische Wirkung mittelschneller Protonen“

1952 Habilitation (Physik)

1952-1953 Postdoctorate Fellow am National Research Council of Canada, Ottawa, bei Georg Herz-

berg

1953-1957 Wissenschaftlicher Assistent (wiederum von Hans Kopfermann) am 1. Physikalischen Insti-

tut der Universität Heidelberg

1957-1972 Professor für Physik und Direktor des neu aufgebauten Instituts für Technische Kernphysik

(seit 1972 Honorarprofessor) der TH Darmstadt

1960-1968/1975-1977 Mitglied des Wissenschaftlichen Rats des Deutschen Elektronen-Synchrotrons

(DESY) in Hamburg

1961/62 Mitglied der ersten deutschen Besuchergruppe am CERN in Genf

1970/71 Mitglied des Gründungsdirektoriums der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in

Darmstadt

1972-1986 Direktor des Max-Planck-Instituts für Kernphysik; Professor an der Universität Heidelberg

(seit 1976 bis zur Emeritierung 1986 mit persönlichem Ordinariat)

1973 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften

1973-1979 Mitglied des Wissenschaftlichen Rats der GSI

1975 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle/Saale

1980-1983 Vizepräsident der DFG in Bonn

† 21. Januar 2007 in Heidelberg

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Ehrungen:

1942 Eisernes Kreuz II. Klasse

1988 Ehrendoktor der FU Berlin

1996 Ehrendoktor der Universität Kassel

1996 Goldene Promotion der Universität Göttingen

1997 Ehrenmitglied des Wissenschaftlichen Rats DESY in Hamburg

Wirken in der NS Zeit

Peter Brix, renommierter Kernphysiker, Professor und langjähriger Direktor des Instituts für

Technische Kernphysik an der TH Darmstadt sowie 1970/71 Mitglied des Gründungsdirekto-

riums der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadt, war in der NS-Zeit

Schüler, Student, Soldat und Wissenschaftlicher Assistent.

Zu Beginn der NS-Zeit war Brix 14 Jahre alt und Schüler an der Aufbauschule in Kappeln

(Schleswig-Holstein). Von 1933 bis 1935 war er Mitglied der HJ, 1934/35 darin „Geldverwal-

ter“ (wie er 1945 zu Protokoll gab).

Nach dem Abitur 1936 wurde Brix eingezogen zum RAD (von April bis September 1936). Im

Anschluss studierte er ab dem Wintersemester 1936 Physik an der Universität Kiel und

wechselte 1938 an die TH Berlin. Von September 1938 bis August 1939 hielt er sich als Sti-

pendiat des Institute of International Education an der University of Rochester (USA) auf. Er

kehrte kurz an die TH Berlin zurück, beendete sein Studium aber 1940 an der Universität Kiel

(Staatsexamen: 03.03.1940). Während seines Studiums war er Mitglied der Deutschen Stu-

dentenschaft (automatisch) sowie von 1937 bis 1940 des NSDStB.

Von April 1940 bis März 1944 leistete Brix Kriegsdienst als Soldat der Wehrmacht (bei der

Artillerie; zu detaillierter Aufstellung der jeweiligen militärischen Abteilungen inklusive Zeit-

angaben etc. siehe eigene Angaben im Entnazifizierungsverfahren, Niedersächsisches Lan-

desarchiv; Informationen decken sich mit DD, Personenrecherche). Er war 1940/41 an der

Westfront, dann beteiligt am „Griechenlandfeldzug“ (1941) sowie am „Russlandfeldzug“

(1941/42). Im September 1942 wurde er mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet

(„Anlass und Grund: Tapferkeit“).

Zum 1. April 1944 wurde Brix als Leutnant der Reserve aus der Wehrmacht entlassen

(„Grund: UK-Stellung“) und dem 2. Physikalischen Institut der Universität Göttingen unter

Professor Hans Kopfermann zugeteilt (der ihn angefordert hatte), wo er eine wissenschaftli-

che Assistentenstelle verwaltete und für das Praktikum zuständig war. Eigenen Angaben zu-

folge, wurde er von Oktober 1944 bis März 1945 nochmals zum „Volkssturm“ eingezogen.

Da Peter Brix kein „politischer Aktivismus“ nachgewiesen werden konnte, er lediglich Mit-

glied der HJ und des NSDStB war, wurde er vom Entnazifizierungs-Hauptausschuss der Stadt

Göttingen 1949 als „entlastet“ (Kategorie V) eingestuft.

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Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 18131 [Entnazifizierungsakte]

UA Göttingen, Kur 10096

UA Heidelberg, PA 2609, PA 3405

UA Darmstadt, TH 25/01 Nr. 84/6

StadtA DA, ST 61 Brix, Prof. Dr.

Literatur:

Buchhaupt, Siegfried: Die Gesellschaft der Schwerionenforschung. Geschichte einer Großforschungs-

einrichtung für Grundlagenforschung. Frankfurt am Main/New York 1995.

Schmidt, Isabel: Nach dem Nationalsozialismus. Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheitspolitik

und Zukunftsmanagement (1945-1960). Darmstadt 2015.

Drüll, Dagmar: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986. Berlin/Heidelberg 2009 [zu Brix S. 136].

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Brücherweg (E-F 9), benannt 2000 nach

Wilhelm Brücher III (1886-1952)

Erster Arheilger Bademeister

* 27. April 1886 in Arheilgen

Von Beruf Bäcker

Mitglied der SPD

1914-1918 Kriegsteilnehmer am Ersten Weltkrieg (Sergeant), schwere Verwundung durch Giftgas

1918 Mitglied des fünfköpfigen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrats in Arheilgen

1924 seit Gründung führendes Mitglied der Ortsgruppe des „Reichsbunds republikanischer Kriegs-

teilnehmer e. V. Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ Arheilgen

1924 Erster Bademeister des neu eröffneten Gemeindeschwimmbads in Arheilgen („Arheilger Mühl-

chen“)

1933 Mit Verweis auf §4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem

Dienst der Gemeinde Arheilgen entlassen

1933-1934 Mitglied des Reichskriegerbunds

1940-1942 Mitglied der DAF

1943/1945 Bademeister der Stadt Darmstadt (seit wann wieder in Diensten ist unklar)

† 6. Dezember 1952 in Darmstadt-Arheilgen

Ehrungen:

Eisernes Kreuz I. Klasse (Erster Weltkrieg)

Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Brücher III. war seit der Eröffnung des Gemeindeschwimmbads in Arheilgen („Ar-

heilger Mühlchen“) Bademeister in seiner Heimatgemeinde. Aufgrund seiner politischen

Aktivitäten (führendes Mitglied der Ortsgruppe Arheilgen des „Reichsbunds republikanischer

Kriegsteilnehmer e. V. Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“) wurde ihm 1933 mit Bezug auf §4

des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums gekündigt. Er nahm jedoch

später seinen Dienst als Bademeister wieder auf. Zeitzeugen und Zeitzeuginnen erinnern sich

daran, dass Wilhelm Brücher während des Zweiten Weltkriegs die Badegäste des Arheilger

Mühlchens bei Fliegeralarm lautstark aus dem Wasser und in die Hecken trieb. In seinem

Meldebogen 1946 gab Brücher unter 1943 und 1945 „Bademeister Stadt Darmstadt“ an.

Brücher war im Ersten Weltkrieg verwundet worden und zudem 1939 bereits 53 Jahre alt. Er

wurde nicht zum Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg eingezogen.

1940-1942 war Brücher Mitglied der DAF; 1933-1934 war er – eigenen Angaben in seinem

Meldebogen folgend – Mitglied des Reichskriegerbunds.

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In den Entnazifizierungsakten findet sich eine Auseinandersetzung zwischen Brücher und

Peter Nicolaus, Vorsitzender der Spruchkammer Lager in Darmstadt, im Sommer 1947 do-

kumentiert. Brücher hatte Nicolaus beleidigt und bedroht, vermutlich da dieser als Belas-

tungszeuge gegen einen Verwandten Brüchers (Fritz Eckhardt) ausgesagt hatte, welcher in

die Gruppe II (Aktivisten) eingestuft wurde. Brücher hatte zudem Nicolaus sowie dessen

Sohn den Zugang zum Arheilger Schwimmbad verwehren lassen. Während Nicolaus eine

politische Motivation für das Verhalten Brüchers zu Protokoll gab, wertete Brücher bei sei-

ner Vernehmung den Sachverhalt als „Private Angelegenheit“. Nach „eingehenden Ermitt-

lungen […] konnte dem Betroffenen nichts nachteiliges [sic!] in politischer Hinsicht bewiesen

werden“.

Wilhelm Brücher, der sich selbst als „unbelastet“ bezeichnete, wurde am 15.04.1947 von der

Spruchkammer Darmstadt-Stadt als vom Gesetz „nicht betroffen“ eingestuft.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 37040

HStAD, H 3 Nr. 16042 [Kennkartenmeldebogen]

StadtA DA, Bildarchiv [Arheilger Mühlchen]

Dokumentation 90 Jahre Arheilger Mühlchen [http://arheilger-mühlchen.de/index.php/historie]

Literatur:

Mampel, Georg: 1878-1978. 100 Jahre Sozialdemokratie in Arheilgen. Darmstadt 1986.

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Helene-Christaller-Weg (G 9), benannt 2001 nach

Helene Christaller (1872-1953)

Schriftstellerin

* 31. Januar 1872 in Darmstadt (geb. Heyer)

Aufgewachsen in Darmstadt; bis 1887 Schülerin am Hofmann‘schen Institut

1890 Heirat mit dem Pfarrer und Schriftsteller Erdmann Gottreich Christaller (vier Kinder); Umzug ins

Pfarrhaus nach Berneck im Schwarzwald

1894 Nach Versetzung des Mannes Pfarrfrau in Ottenhausen (Schwarzwald); Kindergottesdienst und

erste eigene Geschichten; später Veröffentlichung von Erzählungen in „Die Hilfe“ (hrsg. von Friedrich

Naumann), „Die Frau“ (hrsg. von Helene Lange) und anderen Zeitschriften

1902/1904 Erste eigenständige Veröffentlichungen

1903 Umzug nach Jugenheim (in das spätere „Blaue Haus“), nachdem ihr Ehemann wegen satirischer

Veröffentlichungen (und beginnender Schwerhörigkeit) das Pfarramt aufgeben musste; Helene

Christaller bestreitet fortan mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit das Familieneinkommen

1907 „Gottfried Ehrmann und seine Frau“ (erster großer schriftstellerischer Erfolg)

1910 Friedrich Reinhardt Verlag Basel übernimmt ihr Gesamtwerk (schließlich ca. 40 Bücher)

1910 Reise nach Italien (Studium der Geschichte Franz von Assisis)

1914 Scheidung von Erdmann Christaller (rechtskräftig 1917)

1915-1922 Aufenthalte in Darmstadt (1915 und 1918-1922): Gründung eines Heims für Kinder von

Munitionsarbeiterinnen; nach dem Tod ihres Ex-Mannes (1922) wieder in Jugenheim („Blaues Haus“)

1920 Aufenthalt (vier Monate) in Schweden (auf Einladung von Lesern)

1927 „Als Mutter ein Kind war“

1927-1938 Aufenthalte in den Wintermonaten in Villa Laura in Cannero am Lago Maggiore

1932 Biografie „Albert Schweitzer. Ein Leben für andere“

1933-1945 Mitglied der Reichsschrifttumskammer

1935-1943 Mitglied der NSV

1935 „Aus meinem Leben“ (autobiografische Aufzeichnungen), „Das blaue Haus“

1936 „Adam geht auf Wanderschaft. Lebenslauf eines Pfarrersohnes“

1936 „Gottes Hammer“ (Erzählung)

† 24. Mai 1953 in Jugenheim

Ehrungen:

1917 Rheinischer Dichterpreis

Verleihung des Mutterkreuzes

Helene-Christaller-Weg in Jugenheim („Blaues Haus“ heute Nr. 13)

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Wirken in der NS-Zeit

Helene Christaller, in Darmstadt geboren und – nach mehrjährigem Aufenthalt als Pfarrfrau

im Schwarzwald – 1903 an die Bergstraße gelangt, lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Ju-

genheim; so auch zwischen 1933 und 1945 (gemeinsam mit ihrer Mutter bis zu deren Tod

1935). Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Christaller – gemessen an der Auflage –

eine sehr erfolgreiche Schriftstellerin. Karl Esselborn wies ihr 1922 „ohne Zweifel“ die erste

Stelle unter den hessischen Schriftstellerinnen zu. Auch in den 1930er Jahren blieben ihre

meist autobiografisch geprägten Erzählungen und Romane beliebt. 1935 erschien „Das Blaue

Haus“, 1936 „Adam geht auf Wanderschaft“. Bereits 1932 war die Biografie zum Leben Al-

bert Schweitzers (den sie persönlich kannte) erschienen. Ihr Werk wurde vom Schweizer

Friedrich Reinhardt Verlag (Basel) veröffentlicht. Nach 1933 schrieb Christaller zudem ver-

einzelt Beiträge (pro Jahr „1-2 Skizzen“) für verschiedene Zeitungen, darunter Darmstädter

Tagblatt, Wiesbadener Zeitung, Fränkischer Kurier(BArch, BDC, R 9361-V/4601).

Als Schriftstellerin war Helene Christaller von 1933 bis 1945 Mitglied der Reichsschrifttums-

kammer. Von 1935 bis 1943 war sie Mitglied der NSV und spendete in diesem Zeitraum ei-

genen Angaben in ihrem Meldebogen (HHStAW) zu Folge jährlich ca. 30,- bis 50,- RM für die

„Winterhilfe“. In der überlieferten Akte der Reichsschrifttumskammer vermerkte sie in ei-

nem Fragebogen 1937 unter „Frühere politische Zugehörigkeit?“ ausschließlich „nationalso-

zial Naumann bis ca. 1906“. Mit Beginn des Krieges ergaben sich Probleme hinsichtlich der

Auslieferung ihrer in der Schweiz erscheinenden Bücher nach Deutschland. Ein Bittschreiben

in diesem Zusammenhang unterschrieb Helene Christaller 1940 mit „Heil Hitler!“.

Wie bei vielen anderen ihrer Romane diente das Milieu des protestantischen Pfarrhauses

auch bei „Adam geht auf Wanderschaft. Lebenslauf eines Pfarrersohnes“ als Hintergrund für

das Geschehen. Der Protagonist, traumatisiert durch den Einsatz im Ersten Weltkrieg („Hei-

mat! Und was nun? Armes Deutschland, dessen Söhne heimkommen wie er“), äußerte sich

in dem Werk wiederholt kritisch gegenüber dem Krieg. Der Titel wurde seitens der National-

sozialisten als „wehrkraftzersetzend“ beurteilt und durfte in Deutschland nicht verbreitet

werden (Chwalek, S. 270 f.).

Helene Christaller hat zahlreiche Briefe sowie ein „Kriegstagebuch“ (1942-1947) hinterlas-

sen. Beides wurde in Auszügen veröffentlicht, zusammengestellt von ihrer Urenkelin Ulrike

Thomas (siehe Literatur; das „Kriegstagebuch“ hatte Helene Christaller für ihre Kinder be-

gonnen, wohl aber schon während des Schreibens an dessen Veröffentlichung gedacht). Vor

1933 äußerte sich Christaller wiederholt kritisch zur Person Adolf Hitlers. In einem Brief vom

20.03.1932, verfasst in Cannero, Lago Maggiore, heißt es etwa:

„Dass Hindenburg gewählt wurde, hat mich sehr gefreut; ich bin bereit, mich mit Jugenheimer

Freunden zu zanken, die Hitler wählten und von denen Reinhard Roehle das schöne Wort ihnen ins

Gesicht sagte: ‚Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber‘“ (Thomas, S. 146).

Am 25.10.1932 schrieb Christaller, „dass wir Bürgerlichen alle für diesmal deutschnational

wählen, auch die Juden. Aber ohne Begeisterung, als das kleinere Übel“ (ebenda). Die Auto-

rin erscheint in den (veröffentlichten) Aufzeichnungen stark von christlicher Nächstenliebe

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geprägt. Am Tag nach dem verheerenden nächtlichen Bombenangriff auf Darmstadt

(12.09.1944) schrieb sie in ihr Tagebuch: „Das Schuldkonto der Menschheit wächst mit ra-

sender Schnelligkeit hier wie dort, bei uns wie bei unsern Feinden. Und die unschuldigen

Kindlein?“ Und vier Tage später (16.09.1944) war zu lesen:

„Wann wird dieser Wahnsinn enden? Sieht Hitler nicht, dass er gegen die Übermacht der Feinde er-

liegen muss, oder will er nicht sehen? Ist er von einem Teufel besessen, der die Vernichtung unseres

Volkes will und zu dessen Werkzeug er sich hergibt? […] Wenig Menschen können es ertragen, Macht

zu haben, dazu gehören eine geistige Größe und ein demütiges Herz“ (Thomas, S. 158).

Die (ausgewählten) Auszüge aus Briefen und dem Tagebuch Helene Christallers legen nahe,

dass diese ab 1933 stark zurückgezogen lebte und – bei nationalsozialer Gesinnung – dem

Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand. Spätestens ab 1944 mehren sich Anmerkun-

gen, die die Unsinnigkeit des Krieges kennzeichnen. In einem Eintrag unter „Oktober 1944“

heißt es entsprechend:

„[Konrad, einer ihrer Enkel, *1915] hat den Glauben an den Endsieg noch nicht verloren, der einzige

in unsrer großen Familie, der ihn noch hat. Die meisten von uns, auch ich, haben ihn nie besessen.

Aber Jugend hungert nach einem Glauben und ist der Propaganda viel mehr geöffnet als das Alter“

(Thomas, S. 159 f.).

Unter dem Eindruck der (nun erst bekannt gewordenen) Gräueltaten der Nationalsozialisten

trägt sie am 19.04.1945 in das Tagebuch ein: „Nun verstehe ich, dass Gott es zugelassen hat,

dass man unsre Städte vernichtete und Unschuldige, die sich nicht wehren konnten, leben-

dig verbrennen ließ“ (Thomas, S. 169).

Im Meldebogen des Entnazifizierungsverfahrens gab Helene Christaller als Selbsteinschät-

zung an, „in keine“ der Gruppen des Gesetzes sich einzugliedern. Sie begründete ihre Ein-

schätzung mit „ich war nie Nazi + die Partei wusste von meiner Gegnerschaft durch meine

Bücher“. Ob es zu einer Verhandlung kam, lässt sich anhand der überlieferten Akte nicht

erkennen; auf dem einzig vorhandenen Meldebogen findet sich darauf kein Hinweis.

Quellen:

BArch, BDC, R 9361-V/4601

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Land (NB Jugenheim), Nr. 31966 (nur Meldebogen)

StadtA DA, ST 61 Christaller, Erdmann Gottreich / Familie

Literatur:

Chwalek, Johannes: „Adam geht auf Wanderschaft“. Ein im NS-Staat verbotenes Buch Helene

Christallers. In: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße 47 (2014), S. 270-273.

Esselborn, Karl: Helene Christaller (1872-1953) / Schriftstellerin. In: Hessische Lebensläufe. Darm-

stadt 1979, S. 67-75 [Erstveröffentlichung 1922].

Esselborn, Karl: Helene Christaller. Mit einem Bildnis. In: Volk und Scholle 10 (1932), S. 52-54.

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186

Schmidt, Agnes: Christaller, Helene (geb. Heyer). In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 128.

Schwerte, Hans: Christaller, Helene, geborene Heyer. In: NDB 3 (1957), S. 218.

Thomas, Ulrike: Helene Christaller – Auszüge aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1913-1947.

In: Evangelische Kirchengemeinde Jugenheim a. d. B. (Hrsg.): 750 Jahre „Kirche auf dem Heiligen

Berg“. Beiträge zur Geschichte Jugenheims. Jugenheim a. d. B. 2013, S. 134-193.

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Christiansenweg (J 9), benannt 1993 [Magistratsbeschluss aus dem Jahr 1973 (!)] nach

Hans Christiansen (1866-1945)

Maler und Kunsthandwerker, Mitglied der Künstlerkolonie

* 6. März 1866 in Flensburg

1881-1885 Ausbildung beim Dekorationsmaler Jacobsen in Flensburg (Gesellenprüfung 1885)

Ab 1885 Wanderschaft als Dekorationsmaler der Firma Gustav Dorén (Hamburg)

1887-1889 Studium an der Kunstgewerbeschule in München

1889 Italienreise

1889-1895 Rückkehr nach Hamburg; Fachschullehrer sowie selbständig tätig als Dekorationsmaler

1892 „Neue Flachornamente“ (erste eigene Veröffentlichung)

1893 USA-Reise; Besuch der Weltausstellung in Chicago

1895 Reisen nach Florenz, Rom und Antwerpen

1895-1899 Pariser Jahre (Wohnsitz in Paris): Studium an der Académie Julian; selbständig tätig als

Maler sowie als Designer für Kunsthandwerk

1896 Erste Entwürfe für die Zeitschrift „Jugend“; künstlerischer Mitarbeiter der Zeitschrift

1897 Hochzeit mit Claire Guggenheim in Paris (drei Kinder)

1899 Gründungsmitglied der Künstlerkolonie Darmstadt

1900 Beteiligung an der Weltausstellung in Paris

1900-1901 Errichtung der Villa „In Rosen“, Mathildenhöhe Darmstadt, nach Plänen von Joseph Maria

Olbrich; gesamte Inneneinrichtung, Fassaden- und Gartengestaltung durch Christiansen

1901 Erste Ausstellung der Künstlerkolonie Darmstadt

1902 Austritt aus der Künstlerkolonie Darmstadt; Wohnsitz weiterhin auf der Mathildenhöhe (Villa

„In Rosen“); fortan längere Aufenthalte in Paris sowie Reisen nach Italien und in die Bretagne; haupt-

sächlich Entwürfe für das Kunsthandwerk

1904 Beteiligung an der Weltausstellung in St. Louis (USA)

1911 Umzug nach Wiesbaden; von da an hauptsächlich als Maler tätig (kaum mehr Design für Kunst-

handwerk) sowie als Verfasser philosophischer Schriften

Ab 1917 Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Wiesbaden

1929 Reise in die Bretagne

1933 Verbot von Ausstellungen/Veröffentlichungen wegen jüdischer Herkunft seiner Frau Claire

Guggenheim; Ausschluss aus der Reichskunst- und der Reichsschrifttumskammer

† 5. Januar 1945 in Wiesbaden

Ehrungen:

1899 Ernennung zum Professor durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1999 Anerkennung der Grabstätte von Hans Christiansen (Nordfriedhof Wiesbaden) als Ehrengrab

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188

Wirken in der NS-Zeit

Hans Christiansen, Gründungsmitglied der Künstlerkolonie in Darmstadt, (Kunst-)Maler und

Designer von Kunsthandwerk, lebte seit 1911 in Wiesbaden. Er war dort seit 1917 Lehrer an

der Kunstgewerbeschule und als Kunstschaffender tätig, insbesondere als Maler (Portraits),

auch als Gestalter von hochwertigem Schmuck (im Art Déco). Dazu verfasste er philosophi-

sche Schriften.

Bis 1933 verkehrte die Familie Christiansen in Wiesbaden in besten Kreisen; die Kinder wa-

ren befreundet mit den Söhnen und Töchtern der angesehensten Familien der Stadt. Hans

Christiansen erhielt als Maler und Schmuck-Designer lukrative Aufträge von Privatpersonen

und Firmen, darunter die Firma Henkel sowie der Juwelier Carl Ernst.

1932/1933 verließen die drei Kinder der Familie Deutschland. „Dann kam das schreckliche

Ende. Die Nazi-Regierung“, wie Christiansens Frau Claire es in einem Brief aus dem Jahr 1947

formulierte (Zimmermann-Degen II, S. 172). Hans Christiansen erhielt wegen der jüdischen

Herkunft seiner Frau, einer geborenen Guggenheim, Ausstellungs- und Publikationsverbot.

Da er den erforderlichen Nachweis der arischen Herkunft seiner Gattin nicht liefern konnte,

wurde er aus der Reichskunst- und der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Laut der

Erinnerung einer Zeitzeugin soll Christiansen hinsichtlich der Aufforderung seitens der

Reichskulturkammer, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, 1933 erwidert haben: „Ich las-

se mich nicht scheiden! Heil Hitler“ (zitiert nach Zimmermann-Degen II, S. 173). Er versuchte

erfolglos, wieder in der Reichskulturkammer Aufnahme zu finden, um seinem Beruf nachge-

hen zu können. Aus einem tradierten „Fragebogen zur Bearbeitung des Aufnahmeantrages

für die Reichsschrifttumskammer“ von Dezember 1939 geht hervor, dass Christiansen in kei-

ner NS-Organisation Mitglied war. Unter Bemerkungen trug er ein: „Nachweis der Abstam-

mung folgt nach Eingang der Urkunden“ (BArch, BDC, R 9361-V/15814; im Bestand findet

sich ausschließlich der ausgefüllte Fragebogen). Tatsächlich, so Christiansens Biografin Marg-

ret Zimmermann-Degen, habe sich der Künstler darum bemüht sicherzustellen, dass seine

Frau keine „Volljüdin“ sei und so eine deutsche Kennkarte zu erhalten habe. Ende 1942 be-

kam Claire tatsächlich eine derartige Kennkarte, wenngleich diese mit zahlreichen Ein-

schränkungen versehen war.

Die Informationen zu Christiansens Wirken in der NS-Zeit basieren zu einem Großteil auf

einem tradierten Briefwechsel des Malers mit Gustav Dorén (1932-1941) sowie auf (Tage-

buch-)Aufzeichnungen seiner Frau Claire. Daraus geht hervor, dass das Ehepaar Christiansen

bis 1938 noch einigermaßen unbehelligt in der geräumigen Wohnung in der Wiesbadener

Wilhelmstraße leben konnte, wenngleich die Verordnungen „betreffs der Juden und Versipp-

ten, zu letzteren wir ja gehörten“ (Claire Christiansen 1947, zitiert nach Zimmermann-Degen

II, S. 173), ihre Freiheit beständig einschränkten. Besuche bei den Kindern in Paris waren bis

1938 möglich. Im gleichen Jahr entschied sich das Ehepaar Christiansen, die große Wohnung

möbliert unterzuvermieten und selbst in die Mansarde des gleichen Hauses zu ziehen.

Als höchst wertvoller Kontakt sollte sich die Freundschaft von Hans Christiansen mit Karl

Glässing, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Wiesbaden, erweisen. Insbesondere nach

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189

1933 setzte sich dieser für das Ehepaar Christiansen erfolgreich ein und konnte erreichen –

so zumindest die Einschätzung von Margret Zimmermann-Degen –, dass Claire Christiansen

auf keiner der Deportationslisten auftauchte (obwohl sich ihr Name auf einer Gestapo-Liste

aus dem Jahr 1939 befand). Hans Christiansen traf sich regelmäßig mit Glässing, hielt den

Inhalt der vertraulichen Gespräche aber selbst vor seiner Frau geheim, um diese nicht unnö-

tig zu beunruhigen. Nach einem Sturz Ende 1942 musste Claire Christiansen fünf Monate

stationär im Krankenhaus behandelt werden und war auch in der Folge auf die Unterstüt-

zung ihres Mannes angewiesen, der fortan nur noch wenige Portraits von Freunden anfertig-

te, ältere Bilder überarbeitete und an seinen philosophischen Ausführungen schrieb.

Am 5. Januar 1945 starb Hans Christiansen im Alter von 78 Jahren. Entsprechend liegen kei-

ne Entnazifizierungsunterlagen vor.

Quellen:

BArch, BDC, R 9361-V/15814

StadtA DA, ST 61 Christiansen, Hans und Claire

Literatur:

Ulmer, Renate: Christansen, Hans. In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 128 f.

Zimmermann-Degen, Margret (I): Hans Christiansen. Leben und Werk eines Jugendstilkünstlers. Kö-

nigstein im Taunus 1981/1985.

Zimmermann-Degen, Margret (II): Leben und Wirken in Wiesbaden. „Dann kam das schreckliche En-

de. Die Nazi-Regierung.“ In: Beil, Hans et al. (Hrsg.): Hans Christiansen. Die Retrospektive. Institut

Mathildenhöhe Darmstadt 2014.

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190

Fritz-Dächert-Weg (Q-R 6), benannt 1964 nach

Fritz Dächert (1902-1963)

Eberstädter Kommunalpolitiker (SPD)

* 19. Januar 1902 in Eberstadt

1908-1916 Volksschule in Eberstadt

1916-1919 Schlosserlehre beim Eisenwerk Eberstadt, Adolf Riesterer; schon zur Lehrzeit Mitglied des

Deutschen Metallarbeiterverbands

1919 Nach erfolgreicher Gesellenprüfung Werkzeugmacher bei Motorenfabrik Darmstadt

1919/1920 Mitglied der USPD (seit 1922 SPD); führende Rolle in der Arbeiterjugend

Besuch der VHS zur Weiterbildung (Kurse in Kunst, Literatur, Philosophie, Politik, VWL, Arbeitsrecht,

Sozialpolitik)

1927 Hochzeit mit Katharina Wälke (fünf Kinder)

1929-1933 Vorsitzender der SPD in Eberstadt

1929 Angestellter beim Arbeitsamt Darmstadt

1930-1933 Leiter der Arbeitsamtsnebenstelle Bensheim

1931 Vorsitzender der im November 1930 gegründeten Ortsgruppe Eberstadt des „Reichsbanners

Schwarz-Rot-Gold“

1932 Aufbau der „Eisernen Front“ in Eberstadt

1933 Entlassung aus dem öffentlichen Dienst aus politischen Gründen

1933 Niederlegen des Postens als SPD-Bezirksvorsitzender Eberstadt (im Mai)

1937-1944 Werkzeugmacher bei Opel in Rüsselsheim

1945-1963 Leiter der Bezirksverwaltung Darmstadt-Eberstadt (gleichzeitig Standesbeamter und Orts-

gerichtsvorsteher)

1946 Ernennung zum Stadtamtmann

1946-1963 Mitglied der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung Darmstadt (SPD)

1946 Mitglied im Vorstand des Kreisverbands Darmstadt-Stadt des Roten Kreuzes

1961 Beförderung zum Magistratsrat (zuvor Stadtoberamtmann)

† 8. November 1963 in Darmstadt-Eberstadt

Ehrungen:

1958 Ehrenmitglied der Freiwilligen Feuerwehr Darmstadt-Eberstadt

1959 Ehrennadel der SPD für 40 Jahre Parteizugehörigkeit

Ehrenmitglied in zahlreichen Eberstädter Vereinen

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191

Wirken in der NS-Zeit

Der Sozialdemokrat Fritz Dächert, in (Darmstadt-)Eberstadt vor 1933 und nach 1945 in lei-

tender Funktion politisch tätig, wurde im April 1933 aus politischen Gründen aus seiner Stel-

lung beim Arbeitsamt Darmstadt (Leiter der Arbeitsamtsnebenstelle Bensheim) auf Grundla-

ge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, §4 Staatsfeindliche Gesin-

nung“ ohne Pension entlassen. Er sah sich gezwungen, sein Amt als SPD-Bezirksvorsitzender

in Eberstadt niederzulegen; das „Parteivermögen“ in Höhe von 40,05 RM wurde bei ihm be-

schlagnahmt. Als Vorsitzender der SPD sowie als Führer des Reichsbanners Schwarz-Rot-

Gold und der Eisernen Font in Eberstadt geriet Dächert in das Visier der Nationalsozialisten.

Eigenen Aussagen folgend waren die Jahre zwischen 1933 und 1945 geprägt von „wirtschaft-

liche[n] Entbehrungen und persönlichen Verfolgungen“. Es war ihm zunächst nicht möglich,

eine Arbeitsstelle zu finden; von April 1933 bis Juli 1937 war er ohne Anstellung. Gelegent-

lich übernahm er kleinere Jobs, wie etwa 1934 den Vertrieb von Schokoladenhasen für die

Firma von Paul Wolf. Von April 1937 bis August 1944 arbeitete er als Werkzeugmacher bei

der Adam Opel AG in Rüsselsheim (später nannte er seine „defaitistische Einstellung“ als

Grund für das selbst beendete Arbeitsverhältnis).

In Meldebogen aus dem Jahr 1946 gab Dächert seine Mitgliedschaft in DAF (1939-1944) und

NSV (1938-1945) zu Protokoll. Er war demnach in keiner anderen NS-Organisation Mitglied

und leistete weder Militär- noch Kriegsdienst (ab 01.05.1941 „reklamiert“). Das „Gesetz zur

Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ finde bei ihm keine Anwendung, so

Dächert, da er „Anti-Nationalsozialist“ sei. Von der Spruchkammer wurde er am 17.04.1947

als „nicht betroffen“ eingestuft.

Friedrich Wilhelm Knieß kommt zu dem Ergebnis, das Fritz Dächert „[t]rotz wiederholter Re-

pressionen […] während der Gesamtdauer des Dritten Reichs ein unbeugsamer Gegner des

Nationalsozialismus“ blieb.

Fritz Dächert war von 1946 bis zu seinem Tod 1963 Mitglied der Darmstädter Stadtverordne-

tenversammlung für die SPD. Bereits im April 1945 wurde er von Ludwig Metzger unter Zu-

stimmung der amerikanischen Militärverwaltung Darmstadt als Leiter der Ortsverwaltung in

Darmstadt-Eberstadt eingesetzt.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 40993 (nur Meldebogen)

HStAD, G 12 A in Nr. 19/7

StadtA DA, ST 61 Dächert, Fritz

Literatur:

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Namen, Daten, Fakten. Darmstadt

2007.

Knieß, Friedrich Wilhelm: Dächert, Fritz. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 133.

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192

Damaschkestraße (P 6), benannt 1951 nach

Adolf Damaschke (1865-1935)

Sozialreformer und Volkspädagoge

* 24. November 1865 in Berlin

Aufwachsen und Schulbesuch in Berlin

1880-1883 Besuch der Präparandenanstalt (für Volksschullehrer)

1883-1886 Ausbildung zum Volksschullehrer am „Berliner Seminar für Stadtschullehrer“

1888 Zweites Staatsexamen; Volksschullehrer und Vortragstätigkeit

1891 Vorstandsmitglied (Schriftführer) des „Bundes für Bodenbesitzreform“

1893-1896 Schriftführer der Zeitschrift „Der Naturarzt“, Organ des „Bundes der Vereine für volksver-

ständliche Gesundheitspflege“, in dessen Vorstand Damaschke war

1895/96 Entlassung aus dem Schuldienst auf eigenen Wunsch; fortan freier Publizist

1896 Chefredakteur der „Kieler Neuesten Nachrichten“ (nur wenige Monate)

1896 Mitbegründer des „Nationalsozialen Vereins“ (gemeinsam mit Friedrich Naumann; aufgelöst

1903), für den er 1898 und 1903 zu den Reichstagswahlen antrat (respektables Ergebnis, aber jeweils

ohne Mandat)

1898 Mitgründer des sozialreformerischen Vereins „Deutscher Bund für Bodenreform“ (im gleichen

Jahr umbenannt in „Bund Deutscher Bodenreformer“)

1898-1935 Vorsitzender des „Bunds Deutscher Bodenreformer“ (bis zu seinem Tod), auch Herausge-

ber der „Blätter für Bodenreform“

1900 „Vom Gemeinde-Sozialismus“

1902 „Die Bodenreform“ (Hauptwerk, in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erschienen)

1904 Hochzeit mit Julie Gelzer in Jena (drei Töchter)

1905 „Geschichte der Nationalökonomie. Eine erste Einführung“ (in zahlreichen Auflagen erschienen)

Ab 1905 Herausgabe des „Jahrbuchs der Bodenreform“

1907 Umzug nach Werder an der Havel

1914 Herausgeber der Tageszeitung „Deutsche Warte“

1915 „Die staatsbürgerliche Aufgabe nach dem Siege“

1917 „Friedrich List, ein Prophet und Märtyrer deutscher Weltwirtschaft“

1920 Vorsitzender des „Ständigen Beirats für Heimstättenwesen beim Reichsarbeitsministerium“;

Verabschiedung des Reichsheimstättengesetzes auf Damaschkes Betreiben

1922 „Marxismus und Bodenreform“

1924 „Bibel und Bodenreform“

1924/25 Zweiteilige Autobiografie: „Aus meinem Leben“ (1924), „Zeitenwende“ (1925)

1935 „Ein Kampf um Sozialismus und Nation. Vom Ringen um Boden für jeden Volksgenossen“

† 30. Juli 1935 in Berlin

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193

Ehrungen:

1919 Ehrendoktor der Rechtswissenschaften der Universität Münster

1925 Ehrendoktor der Theologie der Universität Gießen

1925 Ehrendoktor der Medizin der Universität Berlin

1925 Damaschke-Linde (Siedlung „Eigenheim“) und Adolf-Damaschke-Bank in Potsdam

Ca. 1930 Silberne Staatsmedaille (durch Beschluss des preußischen Staatsministeriums)

1931 Vorgeschlagen für den Friedensnobelpreis

Zahlreiche Straßen und Plätze in Deutschland nach Damaschke benannt

Wirken in der NS-Zeit

Adolf Damaschke, Sozialreformer und Volkspädagoge, machte sich besonders als Führer der

Bodenreformbewegung einen Namen. Seine Werke in den Bereichen Nationalökonomie und

Bodenreformen erschienen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Auflagen

und Übersetzungen. Einer der Erfolge im Zuge seines Kampfs um eine soziale Bodenreform

(bei der – grob vereinfacht – die Wertsteigerung von Boden der Gesellschaft zu gute kom-

men sollte) war die Verabschiedung des Reichsheimstättengesetzes 1920. Die aus Damasch-

kes Sicht notwendige Reform des Enteignungsgesetzes kam allerdings aufgrund der parla-

mentarischen Mehrheitsverhältnisse nicht zustande.

Damaschke war Initiator des „Bunds Deutscher Bodenreformer“, dessen Vorsitzender er von

dessen Gründung 1898 bis zu seinem Tod 1935 war. Auch gab er zahlreiche Zeitschriften und

Periodika heraus, davon wichtige im Bereich der Bodenreform („Blätter für Bodenreform“,

„Jahrbuch der Bodenreform“ etc.), manche bis in die 1930er Jahre hinein.

Damaschke polarisierte, wurde von Zeitgenossen verehrt oder abgelehnt – und war um 1920

derart populär, dass er als Kandidat für eine etwaige Volkswahl zum Reichspräsidenten no-

miniert wurde (zu der es bekanntlich nicht kam; das Parlament einigte sich auf Friedrich

Ebert). Er stand politisch für „Vaterland, Freiheit, Sozialreform“, wie schon zu Zeiten seines

politischen Engagements beim Nationalsozialen Vereins.

Welche Position Damaschke zum Nationalsozialismus einnahm, ist nicht eindeutig zu beur-

teilen. Mitte der 1920er Jahre setzte er wohl noch große Hoffnungen in die „Hitlerbewe-

gung“, wie in seinen Lebenserinnerungen durchklingt. Zudem befanden sich unter den An-

hängern seiner Bodenreform-Ideen auch Unterstützer der Nationalsozialisten, darunter Mit-

glieder der NSDAP. Die Leitung der NSDAP stand Damaschke hingegen kritisch bis ablehnend

gegenüber. 1931 hieß es in einer Erklärung, dass die Partei „kein Interesse hat die Bestre-

bungen von Adolf Damaschke zu unterstützen“ (zitiert nach Hugler, S. 24). Zu Beginn der

1930er Jahre erschien im „Völkischen Beobachter“ eine Reihe von Aufsätzen mit Titeln wie

„Eine gefährliche Halbheit“, „Verkappter Marxismus“ oder „Bewusste Verstellung“, in denen

Damaschkes Veröffentlichungen – und Damaschke persönlich – scharf kritisiert wurden. Der

Tenor der formulierten Vorwürfe lautete, Damaschkes Bodenreform würde auf marxisti-

schem Gedankengut basieren (er selbst das aber verschleiern oder leugnen) und seine Heim-

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194

stätten-Idee sei offen für alle gedacht (auch für „die vielen Bastarde aus der Rheinlandbeset-

zung, aus Mischehen mit Juden und anderen Fremdrassigen“). Weiter wurde Damaschke

vorgeworfen, dass er im Vorstand seiner Bewegung Juden belasse. Als einer seiner schärfs-

ten Kritiker erwies sich Walter Darré (1931 Leiter des Rassen- und Siedlungsamts der SS und

1933 Reichsbauernführer). In einer Reaktion auf die Veröffentlichungen im „Völkischen Be-

obachter“ erwiderte Damaschke im Jahrbuch der Bodenreform: „Wenn Adolf Hitler den Na-

tionalsozialisten, die sich wahre Sozialisten nennen dürfen, einen Dienst tun will, dann be-

freie er sie von Herrn Darré“. Von seinen Kritikern wurde Damaschke als „ein innenpoliti-

sches Phänomen bezeichnet, denn kaum ein anderer Mensch könnte es sich im heutigen

Deutschland so ungestört wagen, marxistische Ziele zu verfolgen und noch dabei der Gefolg-

schaft weiter völkischer Kreise gewiss zu sein wie Adolf Damaschke“ (Pesl, S. 25). Damaschke

hatte sich wiederholt von Marxismus und Kommunismus distanziert. Zu etwa gleicher Zeit

initiierte der Rechtsprofessor Heinrich Ermann, Adolf Damaschke für den Friedensnobelpreis

1931 vorzuschlagen (ein Vorhaben, was von Dutzenden Intellektuellen und Verbänden na-

mentlich unterstützt und im Januar 1931 eingereicht wurde).

In biografischen Veröffentlichungen zu Adolf Damaschke wird mehrfach geurteilt, Damasch-

ke habe 1933 resigniert feststellen müssen, dass im NS-Regime eine Zeitenwende ohne ihn

und die von ihm konzipierte Form der sozialen Bodenreform stattfand. Er habe sich, so die

Biografen, vom Nationalsozialismus und dem „Führer“ abgewendet und sich entsprechend

kritisch geäußert. Als Beleg werden Aussagen von Nachfahren Damaschkes angeführt (die

sich nicht verifizieren lassen). Nach der „Machtergreifung“ 1933 sei gegen Damaschke ein

Redeverbot ausgesprochen worden (Hugler, S. 66). Im Vorwort seiner letzten Veröffentli-

chung („Ein Kampf um Sozialismus und Nation. Vom Ringen um Boden für jeden Volksgenos-

sen“, Dresden 1935) bezieht Damaschke nicht klar Stellung.

Immer wieder wird zudem auf die christlich geprägte Motivation Damaschkes verwiesen

(siehe etwa das Kapitel „Das Fundament: sein Christsein“, Hugler, S. 58 ff.). Theodor Heuss

bezeichnete Adolf Damaschke als „in seinen Grundantrieben ethisch-humanitär bestimmt“.

Die letzten Lebensjahre von Adolf Damaschke waren geprägt von einem schweren Krebslei-

den. Auch deshalb trat er nach 1933 nur noch selten in der Öffentlichkeit in Erscheinung.

Aufgrund seines Todes im Jahr 1935 existieren keine Entnazifizierungsunterlagen.

Quellen:

---

Literatur:

Damaschke, Adolf: Aus meinem Leben. 2 Bde., Leipzig/Zürich 1924/1925.

Damaschke, Adolf: Ein Kampf um Sozialismus und Nation. Vom Ringen um Boden für jeden Volksge-

nossen. Dresden 1935.

Heuss, Theodor: Damaschke, Adolf Wilhelm Ferdinand. In: NDB, Bd. 3. Berlin 1957, S. 497 f.

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195

Hugler, Klaus: Adolf Damaschke. Gesinnung und Tat. Versuche zum Verständnis und zur Deutung des

Lebenswerkes eines deutschen Bodenreformers. Cottbus 2015.

Kassner, Paul: Adolf Damaschke, ein Führer zu Freiheit und Freude. In: Wegweiser für das werktätige

Volk 7 (1920), S. 33-48.

Pesel, Ludwig D[aniel]: Nationalsozialismus und Bodenreform. Berlin 1932.

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196

Dr. Valentin-Degen-Weg (K 8), benannt 1994 nach

Valentin Degen (1902-1961)

Katholischer Geistlicher

* 3. Januar 1902 in Lorsch

1921 Abitur (Matura) in Bensheim

1921-1930 Studium in Innsbruck; Promotion zum Dr. phil. („Der Unterschied von organischer und

anorganischer Natur nach der Philosophie von H. Driesch“) und Dr. theol. („Georg Hermes und seine

Stellung in der Philosophie des 19. Jahrhunderts“)

seit 1922 Mitglied der katholischen Studentenverbindung „Austria“

1927 Priesterweihe in Mainz

1930 Kaplan in Friedberg

1930-1935 Kaplan in Worms

1935 Umzug nach Darmstadt, Kaplan (1936/37 Pfarrverwalter) in St. Elisabeth

1936 Verantwortlicher Redakteur des katholischen Wochenblatts „Darmstädter Nachrichten“ (An-

fang 1937 zwangsweise umbenannt in „Katholisches Kirchenblatt für Darmstadt und Bergstraße“)

1937-1955/57 Katholischer Studentenseelsorger an der TH Darmstadt

Ab 1937 Caritas-Sekretär (Direktor der Caritas) in Darmstadt (nach 1945 Bezirksverband Darmstadt

und Südhessen)

1937 Sieben Wochen „Schutzhaft“ im Gestapo-Gefängnis Darmstadt

1939-1945 Mitglied der NSV

Während des Zweiten Weltkriegs Seelsorger im „Standort-Lazarett“ Darmstadt

1944 „Ausgebombt“, Aufenthalt im Bensheimer Katharinenstift

1945 Pfarrverwalter (und später Pfarrer) in St. Ludwig, Darmstadt; maßgeblich involviert in den Wie-

deraufbau der St. Ludwigskirche sowie in den Bau des Mädchenwohnheims in der Feldbergstraße

1952-1961 Dekan des Katholischen Dekanats Darmstadt

1954 Gründung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Darmstadt

1956 Ernennung zum Geistlichen Rat

† 16. Oktober 1961 in Darmstadt

Ehrungen

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Wirken in der NS-Zeit

Dr. Valentin Degen, katholischer Geistlicher und nach dem Krieg Dekan des Katholischen

Dekanats Darmstadt, gelangte 1935 nach Darmstadt, als Kaplan der katholischen Gemeinde

St. Elisabeth, deren Pfarrverwalter er 1936/37 wurde. Schon in seiner Zeit als Kaplan in

Worms (1930-1935) soll er der aufgeschlossenen Jugend „das Rüstzeug gegeben [haben] zu

aufrechtem Bekenntnis des Glaubens in den Jahren des beginnenden Nationalsozialismus“,

wie es in einem Nachruf heißt. In Darmstadt übernahm Degen 1937 die Studentenseelsorge

sowie die Leitung der Caritas. Sein Festhalten an „wahrem Glauben“ habe ihn in Konflikt mit

dem Nationalsozialismus gebracht, ihm „Bespitzelung, sieben Wochen Gestapohaft und

strenge Überwachung seiner Arbeit als Studentenseelsorger in seinen Zirkeln und auf der

Kanzel eingetragen“ (In Memoriam, S. 17 f.).

Tatsächlich wurde Degen im Sommer 1937 von der Gestapo verhaftet und vom 28.06. bis

12.08.1937 im Darmstädter Gestapo-Gefängnis in sogenannte „Schutzhaft“ genommen. Hin-

tergrund der Inhaftierung war die kritische Berichterstattung des „Katholischen Kirchenblatts

für Darmstadt und Bergstraße“, dessen verantwortlicher Redakteur Degen war. In einem

Beitrag unter dem Titel „So sieht das katholische Volk seine Priester“ (veröffentlicht in

Nr. 24/37 vom 13.06.1937) setzte sich Degen kritisch mit der Berichterstattung im Kontext

der sogenannten „Sittlichkeitsprozesse“ auseinander. Er erhielt daraufhin eine Verwarnung

seitens des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda. Zudem sollte eine aufge-

zwungene Erklärung zu Degens kritischer Kommentierung in der kommenden Ausgabe veröf-

fentlicht werden. Die Gestapo zwang die Bensheimer Druckerei des „Katholischen Kirchen-

blatts“ eine solche (mit Degens Namen versehene) Erklärung in die Auflage aufzunehmen.

Degen wurde vom Drucker informiert und beschwerte sich offiziell. Die Erklärung musste

dennoch unverändert gedruckt werden, woraufhin Degen und sein Pfarrer-Kollege Danz

(St. Fidelis) die gesamte Auflage im Griesheimer Pfarrhaus verbrannten (25.06.1937). Drei

Tage später wurde Degen verhaftet. Als Haftgrund wurde ihm (so Degen in einem Bericht

vom 15.03.1947, gedruckt bei Hellriegel, S. 145-147, hier 147) bei seiner Entlassung „un-

glaubliche Frechheit“ genannt.

Degen war von 1938 bis 1945 Mitglied der NSV und während des Zweiten Weltkriegs Seel-

sorger im Standort-Lazarett Darmstadt. In seinem Fragebogen im Zuge des Entnazifizie-

rungsverfahrens merkte er an, dass er „nichts mit der NSDAP zu tun hatte, sondern prinzipi-

eller u. aktiver Gegner von Anfang an war“ (24.04.1946). In Befragungen seitens der Ameri-

kaner machte er deutlich, dass er allein das Ausfüllen eines Fragebogens als Zumutung emp-

fand. Den NS bezeichnete er als „inevitable outgrowth of the antihumanism propounded by

Martin Luther” (zitiert nach Kahn, S. 101).

In der „Brandnacht“ zum 12. September 1944 war Degen „ausgebombt“ worden. Er fand bis

Ende Mai 1945 Zuflucht im Katharinenstift in Bensheim. In der Nachkriegszeit wirkte er als

Studentenseelsorger, Caritas-Direktor und Pfarrer der St. Ludwigsgemeinde Darmstadt. Er

machte sich unter anderem um den Wiederaufbau der Gemeinde und ihrer Liegenschaften

(insbesondere der Ludwigskirche) verdient.

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198

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 891 (nur Meldebogen)

HStAD, G 35 E Nr. 51/3

HStAD, H 3 Nr. 1644 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, R 12 P Nr. 731

StadtA DA, ST 61 Degen, Valentin

Literatur:

Hellriegel, Ludwig (Hrsg.): Widerstehen und Verfolgung in den Pfarreien des Bistums Mainz 1933-

1945. Bd. 2: Starkenburg, T. 1. Dekanate Mainz-Land rechtsrheinisch, Bensheim, Darmstadt, Dieburg.

Mainz 1990, zu Degen S. 143-147.

In Memoriam. Dr. Dr. Valentin Degen. Darmstadt 1961 [Kopie in StadtA DA, ST 61 Degen, Valentin].

Kahn, Arthur D.: Experiment in Occupation. Witness to the turnabout. Anti-Nazi War to Cold War,

1944-1946. Pennsylvania State University 2004, zu Degen S. 101-105.

Lehwark, Godehard: Darmstädter Nachrichten. In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 151.

Lehwark, Godehard: Degen, Valentin. In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 159.

Pfarrgemeinderat der katholischen Pfarrgemeinde St. Elisabeth Darmstadt (Hrsg.): 100 Jahre

St. Elisabeth Darmstadt 1905-2005. Darmstadt 2005.

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Dernburgweg (F 10), benannt 1982 nach

Bernhard Dernburg (1865-1937)

Bankier und Politiker

* 17. Juli 1865 in Darmstadt

Schulbesuche in Darmstadt und (nach Umzug 1875) in Berlin

1882 Kaufmännische Ausbildung bei der Berliner Handelsgesellschaft

1885-1886 Einjähriger Militärdienst

1887 Ausreise in die USA und Fortführung der Ausbildung bei der American Metal Company

1888 Wechsel zur Bank Ladenburg, Thalmann & Co (USA); Spezialisierung auf Sanierung wirtschaftli-

cher Unternehmen (ebenfalls in den USA)

1889 Rückkehr nach Deutschland

1889-1901 Tätigkeit bei der Deutschen Bank (in leitender Funktion)

1890 Mitglied des Vorstands der Deutschen Treuhandgesellschaft

1891 Hochzeit mit Emma Seliger (sechs Kinder)

1896 Sanierungsprogramm für Northern Pacific Railroad Co. (USA)

1901 Direktor der „Bank für Handel und Industrie“ in Darmstadt

Bis 1906 gehörte Dernburg 38 Aufsichtsräten an; Aufsichtsratsvorsitzender in Unternehmen der

Schwerindustrie

1906 Wechsel in die Politik: Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts; daraufhin Verkauf

aller Aufsichtsratsmandate und Aktienbeteiligungen

1907-1910 Kolonialstaatssekretär: Leiter des neu gegründeten Reichkolonialamts

1907 (Informations-)Reise nach Deutsch-Ostafrika

1907 Veröffentlichungen „Koloniale Finanzpolitik“ und „Koloniale Lehrjahre“

1908 (Informations-)Reise nach Deutsch-Südwestafrika

1908 „Dernburgs Programm. Ein Wendepunkt im Schicksal Deutsch-Ostafrikas. Kolonie oder Neger-

land unter Deutscher Flagge?“ [unter Pseudonym „Africanus minor“ von Dernburg veröffentlicht]

1909 mehrwöchige Reise in die USA zum Studium der Baumwollproduktion

1910 Rücktritt vom Amt des Kolonialstaatssekretärs

1914 Aufenthalt in den USA; Versuch, der „Gräuelpropaganda“ entgegenzuwirken, scheitert

1918 Mitglied des Vorstands der DDP

1919 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung; im Kabinett Scheidemann von April/Mai bis Ju-

ni/Juli Finanzminister und Vizekanzler des Deutschen Reichs

1920-1930 Mitglied des Reichstags für die DDP

1931-1936 Initiator der Akzept- und Garantiebank, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Akzeptbank AG

† 14. Oktober 1937 in Berlin

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200

Ehrungen:

1913 Berufung in das Herrenhaus

Ehrendoktor der Universitäten Königsberg und München

Wirken in der NS-Zeit

Bernhard Dernburg, in Darmstadt geborener Bankier und Politiker, spielte zu Beginn des

20. Jahrhunderts – insbesondere von 1906-1910 – eine zentrale Rolle in der deutschen Kolo-

nialpolitik. In der Forschung werden entsprechend vor allem Dernburgs Reformen auf die-

sem Gebiet (teils kontrovers) diskutiert sowie die besonderen Umstände seiner politischen

Karriere herausgehoben: Es war in der Zeit des Kaiserreichs ungewöhnlich, dass ein jüdisch-

stämmiger Finanzexperte in führender politischer Funktion (als Staatssekretär im Reichsko-

lonialamt) eingesetzt wurde.

Bis 1930 gehörte Dernburg dem Deutschen Reichstag an, mit einem Mandat der von ihm

mitgegründeten DDP. Auf seine Idee hin wurde 1931 im Zuge der Bankenkrise die „Akzept-

und Garantiebank“ zur Rettung von Geldinstituten gegründet; bis zur Auflösung 1936 war er

Vorsitzender des Aufsichtsrats des in Akzeptbank AG umbenannten Instituts.

Von 1933 an zog sich Dernburg weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück – gezwungenerma-

ßen, wie sein Biograf Werner Schiefel urteilt. Wenngleich zahlreiche persönliche Dokumente

im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen sind, legen tradierte Dokumente nahe, dass er sich

„zum alten Eisen geworfen“ fühlte (1935). Im Geiste der nationalsozialistischen Rassepolitik

galt er als Jude; das NS-Regime ließ den Privatmann Dernburg jedoch wohl weitgehend un-

behelligt. Bereits in der Kaiserzeit spielte seine jüdische Herkunft eine Rolle – wenngleich

sein Vater Friedrich im Kindesalter mit seiner Familie zum protestantischen Glauben konver-

tiert war; seine Mutter entstammte einer protestantischen Pfarrersfamilie. Sowohl die anti-

semitische als auch die konservative Presse hatte 1906 Dernburgs jüdische Herkunft thema-

tisiert und sich allein aus diesem Grunde gegen seine Berufung in die Reichsverwaltung in

führender Funktion ausgesprochen. Inhaltlich gab es zeitweise eine Allianz zwischen Dern-

burg und den Antisemiten im Reichstag – die aber fragil war und schnell in Ablehnung um-

schwingen konnte (siehe dazu ausführlich Christian Stuart Davis).

Zur Emigration konnte sich Dernburg zunächst nicht entscheiden; später war er zudem zu

krank. Zwei seiner Söhne wanderten in die USA aus. In unveröffentlichten Aufzeichnungen

aus dem Jahr 1936, die sich als eine Art Memoiren bezeichnen ließen, äußerte sich Dernburg

gegenüber dem Nationalsozialismus „vorsichtig kritisch und vermied eine eindeutige Stel-

lungnahme“, so Schiefel, der das in Privatbesitz befindliche Material einsehen konnte (un-

terdessen zum Teil veröffentlicht bei Krause-Brewer). Den Antisemitismus betrachtete er

demnach als „ethischen Fehler des deutschen Charakters“. Aufgrund seines formalen

Rechtssinns („Rechtsfanatismus“, Schiefel, S. 179) sah er sich zur Loyalität zum (aus seiner

Sicht ungeliebten, aber rechtmäßigen) NS-Regime verpflichtet. Dem Juristen Kurt Korf, der

Dernburg Ende 1936 von seinen Ausreiseplänen berichtete, soll er auf dessen Frage nach

seiner Einschätzung zur politischen Entwicklung geantwortet haben:

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201

„Die Leute täuschen sich, wenn sie glauben, daß der Nationalsozialismus von innen heraus zusam-

menbrechen wird. Das wird nie der Fall sein. Sie täuschen sich auch, wenn sie glauben, daß diese

Sache sich verbürgerlichen wird, daß Hitler seine Ziele zurückschraubt oder mildert. Meiner Ansicht

nach wird der Nationalsozialismus erst nach einer völligen militärischen Niederlage als Abschluß ei-

nes verheerenden Krieges enden. Sie werden selbst dann noch versuchen, mit sich in den Abgrund zu

reißen, was sie können“ (Krause-Brewer, S. 251 f.).

In seinen letzten Lebensjahren fand Dernburg, so wiederum Schiefel (S. 180), Befriedigung in

seiner Rolle als Familienpatriarch. In einem Nachruf auf Dernburg in der englischen Presse

hieße es:

„In Nazi Germany Herr Dernburg’s Jewish ancestry debarred him even if he had wished to do so,

from playing any part in public life“ (The Daily Telegraph and Morning Post, 16.10.1937).

In einer SD-Übersicht aus dem Jahr 1939 wird Bernhard Dernburg unter „Erfassung führen-

der Männer der Systemzeit (Liberalisten – Pazifisten)“ gelistet.

Da Dernburg 1937 starb, liegen keine Entnazifizierungsakten vor. Es gibt keine Hinweise da-

rauf, dass Dernburg in das NS-Regime verwickelt war.

Quellen:

---

Literatur:

Bartmuß, Hartmut: Bernhard Dernburg. Kolonialpolitiker der Kaiserzeit. Berlin 2014.

Davis, Christian Stuart: Colonialism and Antisemitism during the Kaiserreich: Bernhard Dernburg and

the Antisemites. In: Leo Baeck Institute Yearbook 53 (2008), S. 31-56.

Dernburg, Bernhard: Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs-und Absatzbedingungen der deut-

schen Wirtschaft. Berlin 1931.

Hamburger, Ernest: Ein Staatssekretär der wilhelminischen Zeit: Bernhard Dernburg. In: Ders.: Juden

im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der mo-

narchistischen Zeit, 1848-1918. Tübingen 1968, S. 81-84.

Krause-Brever, Fides: Vom Brahmsee bis Shanghai. Begegnungen mit Leuten von Format. Mün-

chen/Hamburg 1987.

Ritter, Gerhard A.: Dernburg, Bernhard Jakob Ludwig. In: NDB, Bd. 3. Berlin 1957, S. 607 f.

Schiefel, Werner: Bernhard Dernburg 1865-1937. Kolonialpolitiker und Bankier im wilhelminischen

Deutschland. Zürich 1974.

Schumacher, Martin/Lübbe, Katharina/Schröder, Wilhelm Heinz: M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten

der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und

Ausbürgerung, 1933-1945. Eine biographische Dokumentation. Düsseldorf ³1994.

Utermark, Sören: „Schwarzer Untertan versus schwarzer Bruder“ – Bernhard Dernburgs Reformen in

den Kolonien Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun. Kassel 2012.

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202

Ludwig-Engel-Weg (J 9-10), benannt 1981 nach

Ludwig Engel (1906-1975)

Darmstädter Oberbürgermeister (1951-1971)

* 30. November 1906 in Darmstadt

1913-1925 Besuch des Realgymnasiums in Darmstadt

1925-1929 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Heidelberg, Mün-

chen, Berlin, Frankfurt am Main und Gießen

1925-1933 Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

1929 Referendarausbildung im Hessischen Justizdienst

1929-1933 Mitglied des Republikanischen Richterbunds

1932 Große Juristische Staatsprüfung und Promotion zum Dr. jur. „Über die Rechtsnatur des Tarifver-

trags, zugleich ein Versuch über das Problem Staat, Demokratie und soziale Klassenverbände“

1933 Entlassung aus dem Hessischen Justizdienst (Gerichtsassessor in Gießen) wegen politischer

Unzuverlässigkeit gemäß § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums

1933 Niederlassung als Rechtsanwalt in Darmstadt

1935-1943 Rechtsanwaltsgemeinschaft (Sozietät) mit Ludwig Metzger in Darmstadt

1935 Entzug der Verteidigung am Strafsenat des Oberlandesgerichts Darmstadt

1937-1945 Mitglied der NSV

1937-1945 Mitglied des NS-Rechtswahrerbunds

1937-1945 Mitglied des RLB

1943-1945 Kriegsdienst (ab 23.05.1943; Heer, Dienstgrad: Gefreiter)

1945-1946 Amerikanische Kriegsgefangenschaft (von März 1945 bis Mai 1946)

1946 Rechtsanwalt und Notar in Darmstadt

1948 Vizepräsident des Hessischen Staatsgerichtshofs

1949 Ernennung zum Senatspräsidenten beim Hessischen Oberlandesgericht, Leitung der Zweigstelle

Darmstadt

1951-1971 Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt

1954 Gründung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Darmstadt (Erstunter-

zeichner)

1956-1968 Präsident der deutschen Sektion des Rats der Gemeinden Europas

1958-1960 Mitglied des Hessischen Landtags

1971 Ruhestand

† 26. September 1975 in Darmstadt

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203

Ehrungen:

1955 Ehrensenator der TH Darmstadt

1971 Freiherr-vom-Stein-Plakette des Landes Hessen

1971 Ehrenbürger der Stadt Darmstadt

Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der BRD mit Schulterband und Stern

Ehrenpräsident der Deutschen Sektion des Rats der Gemeinden Europas

Wirken in der NS-Zeit

Ludwig Engel, promovierter Jurist und nach dem Zweiten Weltkrieg langjähriger Darmstädter

OB, war zur Zeit der „Machergreifung“ als Gerichtsassessor bei der Staatsanwaltschaft Gie-

ßen tätig. Im Oktober 1933 wurde er wegen politischer Unzuverlässigkeit (gemäß § 4 des

Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums) entlassen. Engel war Mitglied des

Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (bis zu dessen Auflösung 1933), was ihm – so Engel in sei-

nem Meldebogen vom 18.04.1946 – als „Antinazistische Betätigung“ ausgelegt wurde. Zu-

dem war er Mitglied des Republikanischen Richterbunds (seit 1929), dessen Mitglieder nach

der Auflösung 1933 in großer Zahl aus gleichem Grund entlassen wurden.

Nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst arbeitete Ludwig Engel als Rechtsanwalt in

Darmstadt. 1934 gründete er gemeinsam mit Ludwig Metzger eine Anwaltsgemeinschaft

(offizieller Praxiszusammenschluss am 15.04.1935). Die juristische Tätigkeit war nur unter

Einschränkungen möglich. Wie Engel selbst berichtete, wurden die beiden Rechtsanwälte

bereits 1935 „dadurch gemassregelt [sic!], dass uns die Verteidigung am Strafsenat des

Oberlandesgerichts Darmstadt, vor dem die sogenannten Hochverratssachen verhandelt

wurden, entzogen wurde, weil wir als Wahlverteidiger für frühere Kommunisten und Sozial-

demokraten auftraten und die Interessen unserer Klienten mit Nachdruck wahrnahmen“

(Ludwig Engel, 08.07.1947, HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 5).

Ludwig Engel war (laut Meldebogen vom 18.06.1946) von 1937-1945 Mitglied der NSV, des

RLB sowie der Berufsorganisation NS-Rechtswahrerbund (jeweils ohne Amt; „Angaben über

das Eintrittsdatum erfolgen nach bestem Wissen und Gewissen, da sämtliche Unterlagen

verbrannt sind“). Im Mai 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, wo er als Gefreiter

beim Heer Kriegsdienst leistete; im März 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangen-

schaft, aus der er im Mai 1946 entlassen wurde. Im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens

wurde ihm bescheinigt, dass er „Vom Gesetz nicht betroffen“ sei – was sich mit seiner do-

kumentierten Selbsteinschätzung deckte.

Über die Art der Tätigkeit als Rechtsanwalt 1933-1943 geben die überlieferten zeitgenössi-

schen Quellen nur bedingt Auskunft. Engel selbst berichtet von diversen Schikanen, die ihm

(und seinem Sozietäts-Partner Metzger) seitens des NS-Regimes die Arbeit erschwerten.

Zudem gab Engel an, Wilhelm Leuschner habe über Metzger 1944 Kontakt zu ihm aufge-

nommen und anfragen lassen, „ob ich bereit sei, bei Gelingen einer bestimmten Aktion –

was damit gemeint war, dürfte heute klar sein – eine Position in Regierung oder Verwaltung

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204

zu übernehmen, was ich vorbehaltlos bejahte“ (verifizieren lässt sich diese Darstellung

nicht). Das Büro samt Einrichtung wurde in der „Brandnacht“ 1944 weitgehend zerstört.

Im Zuge eines Spruchkammerverfahrens, in dem Ludwig Engel die Verteidigung eines gewis-

sen Karl Groh (ehemaliges Mitglied der NSDAP) übernahm, wurde Engel vom Belastungszeu-

gen Peter Keukert scharf attackiert – und seinerseits belastet. Engel habe, so Keukert, im

Darmstädter Gasthaus „Zum Alten Peter“ mit der Gestapo Orgien gefeiert. Zu der Anschuldi-

gung nahm Engel ausführlich Stellung (Schreiben vom 08.07.1947, siehe oben). Tatsächlich

sei er regelmäßig im genannten Lokal verkehrt; gemeinsam mit weiteren Mitgliedern eines

Skat-Stammtischs, „die sämtlich nicht der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehörten

und nahezu alle, das darf ohne weiteres gesagt werden, Antifaschisten waren“. Im „Alten

Peter“ verkehrten auch Nazis, „die der SS und dem SD angehörten. Zu diesen unterhielten

meine Freunde und ich keinerlei persönliche Beziehungen.“ Es sei zu Auseinandersetzungen

gekommen, die Engel als „nicht ungefährlich“ einschätzte. Allerdings habe es auch Kontakt

gegeben:

„Es kam vor, das, wenn meine Freunde und ich zu den letzten Gästen im „Alten Peter“ gehörten und

am Büffet noch ein Glas Bier tranken, Leute des Tisches, an dem die uniformierten Nazis sassen [sic!],

ebenfalls an das Büffet traten, um noch etwas zu trinken. Dabei kam es auch zu Gesprächen oder,

besser gesagt, zu Gesprächsfetzen. Wir gingen dem nicht aus dem Wege, denn dies erschien einer-

seits zu gefährlich, andererseits hofften wir, in vorgerückter Stunde vielleicht einmal etwas erfahren

zu können, was dem Einen oder Anderen von uns oder einem unserer sonstigen Freunde von Nutzen

sein könnte.“

Die Anschuldigungen gegen Engel wurden nicht weiter verfolgt, da die Glaubwürdigkeit des

Zeugen in Frage gestellt wurde (er hatte 1936 einen Mietstreit gegen Karl Groh verloren –

Verteidiger damals: Ludwig Engel! – und der von Keukert genannte Zeuge, der Wirt des „Al-

ten Peter“, bestätigte Keukerts Anschuldigungen nicht).

Die eingesehenen Quellen liefern keine Hinweise auf eine aktive Teilhabe von Ludwig Engel

am NS-System. Auch der Historiker Albrecht Kirschner fand bei seinen Recherchen zur „NS-

Vergangenheit ehemaliger hessischer Landtagsabgeordneter“ keine Hinweise auf eine Ver-

wicklung von Ludwig Engel in das NS-Regime (Kirschner, S. 62).

Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 5

HStAD, G 24 Nr. 145

HStAD, H 3, 2274 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, R 12 P Nr. 1094 [Kriegssachschäden-Akte (Kopie)]

HStAD, G 28 Darmstadt Nr. G 546 [Personalakten der Referendare]

StadtA DA, St 61 Engel, Dr. Ludwig [4 Mappen]

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205

„Engel, Ludwig“. In: Hessische Biografie [www.lagis-hessen.de/pnd/118530291] (Zugriff: 13.05.2016)

Literatur:

Dotzert, Roland: Engel, Ludwig. In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 208 f.

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Namen, Daten, Fakten. Darmstadt

2007.

Kirschner, Albrecht: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe zur Vorstudie „NS-Vergangenheit ehemaliger

hessischer Landtagsabgeordneter“ der Kommission des Hessischen Landtags für das Forschungsvor-

haben „Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen“. Wiesbaden 2013.

Lange, Thomas: „…im weitesten Sinn all derer, die guten Willens sind“. Die ersten Jahrzehnte der

GCJZ Darmstadt. In: Ders./Triebel, Lothar (Hrsg.): „Geh nicht den alten Weg zurück!“ Festschrift zum

sechzigjährigen Bestehen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1954-2014. Darm-

stadt 2014, S. 17-49.

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206

Esselbornstraße (F 10), benannt 1981 nach

Karl Esselborn (1879-1940)

Landesbibliotheksdirektor, Autor und Heimatforscher

* 1. Februar 1879 in Stuttgart

1880 Umzug nach Darmstadt (Vater dort Lehrer an der Landesbaugewerkschule)

1885-1897 Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt

1897-1901 Studium der Philologie und Rechtswissenschaften in Heidelberg (bis 1898/99) und

Rechtswissenschaften in Gießen

1901 Tätigkeit als Gerichtsassessor (juristischer Vorbereitungsdienst) in Darmstadt

1902 Promotion zum Dr. jur. in Gießen „Die Ministerverantwortlichkeit im Großherzogtum Hessen“

1902/03 Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“

1904 Akzessist an der Großherzoglichen Hofbibliothek in Darmstadt (später Hessische Landesbiblio-

thek), von da an in deren Diensten (bis zu seinem Tod)

1905 Ernennung zum Hilfsbibliothekar; Veröffentlichung der Übersetzung von Cesare Beccarias

„Über Verbrechen und Strafen“ aus dem Italienischen

1906 Hochzeit mit der Witwe Wilhelmine „Helma“ Voigt (geb. Ebel) in Gießen

Ab 1907 Verfasser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zu Darmstädter und hessischer

Geschichte, darunter „Hessische Volksbücher“ (1908-1938), „Hessische Biographien“ (1918-1934),

„Darmstädter Originale“ (1918), „Schriften zur hessischen Geschichte, Landes- und Volkskunde“

1912 Ernennung zum Bibliothekar

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg (Offizier, Rittmeister)

1919/20-1922 Herausgeber der Zeitschrift „Hessische Heimat", in der er zahlreiche eigene Artikel

veröffentlichte

1923 Promotion zum Dr. phil. in Gießen „Der Deutschkatholizismus in Darmstadt“

1925-1940 Herausgeber des „Hessischen Landkalenders“

1933 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 1888932)

1934 „Hundert Jahre Historischer Verein für Hessen“

1934 Herausgabe des (einmalig erschienenen) „Nationalsozialistischen Hessenkalenders“

1935 „Darmstädter Gärten“

1935-1940 Direktor der Hessischen Landesbibliothek (seit 1934 deren stellvertretender Direktor)

† 18. März 1940 in Darmstadt

Langjähriges Mitglied des Historischen Vereins für Hessen

Ehrungen:

1908 Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens Philipps des Großmüthigen

1922 Professorentitel der Universität Gießen

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Wirken in der NS-Zeit

Karl Esselborn, Direktor der Hessischen Landesbibliothek und profunder Kenner der hessi-

schen und Darmstädter Geschichte, stand seit 1904 in Diensten der Hessischen Landesbiblio-

thek (damals noch Großherzogliche Hofbibliothek, heute ULB) in Darmstadt. Er war Verfas-

ser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zu lokaler und regionaler Geschichte.

1935 trat Esselborn als Direktor der hessischen Landesbibliothek in Darmstadt offiziell die

Nachfolge von Hanns Wilhelm Eppelsheimer an, der im Herbst 1933 aus politischen Gründen

in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war. Bereits seit 1934 wirkte Esselborn als

stellvertretender Direktor der Bibliothek.

Esselborn war seit 1933 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 1888932). In seinem Tagebuch

aus dem Jahr 1933, S. 17, findet sich unter dem 29. April 1933 lediglich der Eintrag: „29.

Diensttermin. – bei Winter. – Eintritt in die NSDAP; Beitrag an Herrn [nicht eindeutig zu ent-

ziffern, HK] bezahlt.“ Ein weiterer Eintrag vom 2. Juni 1933 (S. 27) verweist auf eine komplett

der NSDAP beigetretene Einheit, die nicht näher beschrieben wird. [Es liegt die Kopie eines

weiteren Tagebuchs aus dem Jahr 1934 vor, das nicht vollständig ausgewertet wurde.]

Bis 1938 gab Esselborn Publikationen in der Reihe „Hessische Volksbücher“ heraus, Lebens-

erinnerungen von Johannes Weitzel 1934, Wilhelm Ulrich 1936, Dosch/Ihrig 1937 und Georg

Ludwig Kriegk 1938. 1934 erschien der dritte und letzte Band der „Hessischen Biographien“

(herausgegeben von Herman Haupt). Im gleichen Jahr erschien – im Format dem „Hessi-

schen Landkalender“ ähnlich, den Esselborn bis zu seinem Tod herausgab – die einzige Aus-

gabe des „Nationalsozialistischen Hessenkalenders“ (warum die Reihe nicht fortgesetzt wur-

de, ließ sich nicht klären) unter der Schriftleitung von Karl Esselborn. Das Vorwort (unter-

zeichnet mit „Der Verlag“) endete mit den Worten:

„Möge es dem Nationalsozialistischen Hessenkalender vergönnt sein, zu seinem Teil an dem großen

Werke des Wiederaufbaues des Deutschen Reiches durch den Führer Adolf Hitler beizutragen. Darm-

stadt, 28. August 1933 Heil Hitler!“

Dem eigentlichen Kalender voran gestellt findet sich das Horst-Wessel-Lied. Auf die Kalen-

derblätter folgen Beiträge verschiedener Autoren zu nationalsozialistischen Themen, etwa

„Die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung in Hessen“ (Wilhelm Haug), „Der Um-

sturz in Darmstadt“ (Hermann Reiße), „Deutsches Volkstum“ (Friedrich Wentzel). Die Beiträ-

ger begrüßen durchweg das NS-Regime und seine Protagonisten, teils in glorifizierender

Wortwahl. Ein Beitrag stammt unter dem Titel „Die Spitzen der hessischen Regierung“ (S. 28-

31) aus der Feder des „Schriftleiters“ (Herausgebers) selbst. Esselborn skizziert darin die Le-

bensläufe von vier Spitzenpolitikern der NSDAP in Hessen: Jakob Sprenger, Friedrich Werner,

Philipp Wilhelm Jung und Friedrich Ringshausen. Keines der Porträts enthält einen Anhalts-

punkt dafür, dass Esselborn den porträtierten Personen kritisch gegenüber gestanden hätte.

Positionen, Funktionen und Werdegänge werden kritiklos vorgestellt, wobei Esselborn seine

eigene Meinung nicht in den Vordergrund rückt (anders als dies in anderen Beiträgen der

Fall ist).

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Weitere eingesehene Beiträge Esselborns nach 1933 sind im Duktus der Zeit verfasst, tragen

aber keine offensichtlich antisemitischen oder den Nationalsozialismus ausdrücklich verherr-

lichenden Aussagen [seine im Nachlass überlieferten handschriftlichen Notizbücher beziehen

sich hauptsächlich auf Neuerscheinungen/Lektüre und Theaterereignisse, ULB Nachlass 167,

Kasten 3].

Im Nachruf von Wilhelm Martin Becker in den Mitteilungsblättern des Historischen Vereins

für Hessen hieß es, Esselborn sei „seinem Volk und der Partei […] ein treuer Genosse“ gewe-

sen (S. 373).

Da Karl Esselborn 1940 starb, liegen keine Entnazifizierungsdokumente vor. In welchen NS-

Organisationen (außer der NSDAP) Esselborn Mitglied war, ließ sich nicht ermitteln.

Quellen:

BArch, NSDAP-Mitgliederkartei

HStAD, G 35 E Nr. 74/35

HStAD, O 59 Esselborn Nr. 1 + Nr. 2 [Tagebuchaufzeichnungen 1933-1934]

HStAD, O 61 BDC Nr. 35

HStAD, R 12 P Nr. 1135 [Zeitungsartikel]

StadtA DA, ST 61 Esselborn, Karl

ULB Darmstadt, Nachlass 167 Karl Esselborn

Literatur:

Becker, Wilhelm Martin: Nachruf. Karl Esselborn. In: Mitteilungsblätter des Historischen Vereins für

Hessen 1 (1937-1940), S. 373-376.

Esselborn, Karl (Hrsg.): Nationalsozialistischer Hessen-Kalender 1934. Darmstadt 1934.

Kempken, Werner: Esselborn-Bibliographie. Die Schriften des Darmstädter Bibliothekars, Historikers

und Publizisten Karl Esselborn. Teil 1: 1902-1924. Bensheim 1991.

Stoll, Wilhelm: Esselborn, Karl (Sohn). In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 218 f.

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Eysenbachstraße (P 6), benannt 1958 nach

Philipp Eysenbach (1872-1946)

Vorsitzender des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Eberstadt

30. März 1872 in Eberstadt

1876 Umzug innerhalb von Eberstadt (nach Darmstädter Str. 6, Neubau Elternhaus)

1878-1883 Besuch der Volksschule in Eberstadt

1883 Besuch der Realschule in Darmstadt

Kaufmännische Ausbildung in einer „Drogengroßhandlung“ in Frankfurt am Main; Arbeit im elterli-

chen Betrieb

1888-1945 [eigenen Angaben folgend] Mitglied im (Deutschen) Reichsbund für Leibesübungen [erst

1934 gegründet (ab 1938 NSRL); bis 1934 vermutlich in Vorgängerorganisationen]

1894-1896 Militärdienst beim Feld-Artillerie-Regiment 25 in Darmstadt

1899 Übernahme des elterlichen Geschäfts (Ölmühle, Ölhandel) durch Bruder Heinrich

1902-1938 Besitzer eines Kolonialwaren-, Drogen- und Farbengeschäfts in Eberstadt (Ecke Heidelber-

ger Landstraße/Büschelstraße)

1902 Hochzeit mit Sophie Elisabeth Schwinn aus Nieder-Beerbach

1903 Geburt des Sohns Karl

1914 Tod der Mutter

1915-1918 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg

1919-1945 [eigenen Angaben folgend] Mitglied der NSKOV [erst 1933 gegründet; bis 1933 vermutlich

in Vorgängerorganisation(en)]

1927-1946 Vorsitzender des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Eberstadt

1927-1931 Verschönerungsmaßnahmen in und um Eberstadt sowie Anlage des Naturpfads in Eber-

stadt (dessen Einweihung am 11.07.1931)

Seit 1935 Angehöriger des Opferrings (vermutlich) der NSV

1935-1945 Mitglied der NSV

1937-1945 Mitglied der NSDAP [Mitglieds-Nr.: unbekannt]

1938 Übergabe des Ladengeschäfts an Sohn Karl

1938-1946 Mitglied des Roten Kreuzes

† 7. Oktober 1946 in Darmstadt

Ehrungen:

1937 (?) „Eysenbach-Brünnchen“ in Eberstadt nach Philipp Eysenbach benannt

„Eysenbach-Zimmer“ im Rathaus Darmstadt-Eberstadt (1975 aufgelöst)

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Wirken in der NS-Zeit

Philipp Eysenbach, Besitzer eines Kolonialwaren-, Drogen- und Farbengeschäfts in Eberstadt

(1902-1938, anschließend Übertragung des Geschäfts an den Sohn), trat besonders als Vor-

sitzender des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Eberstadt (1927-1946) in Erscheinung.

Er gilt als der Schöpfer des 1931 eingeweihten Naturpfads in Eberstadt.

Über sein Wirken in der NS-Zeit geben (nur) autobiografische Veröffentlichungen sowie die

Dokumente des Entnazifizierungsverfahrens Auskunft. Demnach war Philipp Eysenbach seit

1937 Mitglied der NSDAP. Die Eigenangabe im Meldebogen wurde vom angefragten Polizei-

präsidium bestätigt: „Soweit von hier aus festgestellt werden konnte, war der Privatier Phi-

lipp Eysenbach seit dem Jahre 1937 Mitglied der NSDAP; eine Unterlage darüber liegt hier

jedoch nicht vor“ (Polizeipräsidium Darmstadt, 09.11.1946). In der NSDAP-Mitgliederkartei

des BDC ließ sich die Angabe nicht verifizieren – möglicherweise wurde die Mitgliedskarte

alphabetisch falsch einsortiert (bei Schreibweisen mit „y“ häufiger der Fall).

Eysenbach war zudem Mitglied in den NS-Organisationen Reichsbund für Leibesübungen

(NSRLB) und in der Kriegsopferversorgung (NSKOV). Laut Polizeipräsidium konnte ermittelt

werden, dass er „seit 1935 Angehöriger des Opferrings war und der NSV angehörte“ (letzte-

res deckt sich mit seinen Eigenangaben). Durch den genannten Zusammenhang handelte es

sich vermutlich um den „Opferring“ des NSV (der eine reine Wohlfahrtseinrichtung war) und

nicht um den Opferring der NSDAP.

In seinen Lebenserinnerungen (verfasst 1944, veröffentlicht 1982) ging Eysenbach nicht auf

seine NSDAP-Mitgliedschaft ein. Er formulierte darin:

„Man hatte gehofft, der Krieg würde nach dem erfolgreichen Anfang nicht so lange dauern. Leider

haben wir heute, den 24. Januar 1944, die Dauer des ersten Weltkrieges schon überschritten und

sehen noch kein Ende. Die Rückschläge der letzten Jahre erfüllen uns mit Sorge, und die Fliegerangrif-

fe lassen uns nicht zur Ruhe kommen. Wir müssen aber aushalten, denn auf andere Weise läßt sich

der Krieg nicht zu einem glücklichen Ende führen. Schließlich haben die Kameraden an der Front doch

noch mehr zu erdulden.“

Aus seinem Kriegstagebuch aus den Jahren 1944-1946 – das 1982 „gekürzt“ publiziert wurde

(wobei der editorische Eingriff in das Manuskript nicht dokumentiert wird) – geht hervor,

dass Eysenbach ein Freund des Volkslieds war – und keiner des Jazz. Er wünschte sich Frie-

den und einen deutschen Sieg, wobei er an letzteres nicht mehr recht glaubte (und gegen

Ende des Kriegs überhaupt nicht mehr). Er schildert eindrücklich die „Brandnacht“ und deren

Folgen (auch in Eberstadt) sowie ausdrücklich, dass die Fliegeralarme und die Ungewissheit

kaum auszuhalten waren. Hinweise auf eine Einbindung in das NS-Regime finden sich in der

veröffentlichten Version des Kriegstagebuchs keine.

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens äußerte Eysenbach folgende Selbsteinschätzung:

„Da ich mich nicht aktiv betätigt und keinen Rang bekleidet habe, glaube ich, daß das Gesetz

auf mich keine Anwendung findet.“ Am 09.05.1947 wurde das Verfahren eingestellt, weil

Eysenbach unterdessen gestorben war und die Ermittlungen im Zuge des Verfahrens „ein

aktivistisches Verhalten des Betroffenen im Sinne des Gesetzes“ nicht belegen konnten.

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Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Stadt, Nr. 1392/47 E

HStAD, H 3 Nr. 2376 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, H 14 Darmstadt Nr. F 441/992 [Nachlass Philipp Eysenbach]

HStAD, H 14 Darmstadt Nr. R 1039

StadtA DA, ST 15 A 19/59 [Verkehrs- und Verschönerungsverein Darmstadt und Umgebung e. V.]

StadtA DA, ST 45 Nachlaß Franz Best [Ortschronik „Mein geliebtes Eberstadt, mein geliebter Franken-

stein“] NICHT eingesehen

Literatur:

Eysenbach, Philipp: Meine Erinnerungen. Eberstädter Heimathefte 4. Darmstadt 1982.

Eysenbach, Philipp: Mein Kriegstagebuch. Eberstädter Heimathefte 5. Darmstadt 1982.

Weißgerber, Wolfgang: Eberstadt im 19. Jahrhundert. Ein heimatkundlicher Bericht. Darmstadt 1969.

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Helmut-Fuchs-Weg (E-F 7-8), benannt 2002 nach

Helmut Fuchs (1922-2000)

Bezirksverwalter in Darmstadt-Arheilgen

* 16. Februar 1922 in Goldberg (Niederschlesien)

Ausbildung auf dem Landratsamt Goldberg

1941 Reichsarbeitsdienst

1941-1945 Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft

1945 im Sommer Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft

1945 Tätigkeit beim Landratsamt Marburg

1946 Hochzeit mit Ruth Anni Hollan-Merten

1949 Übersiedlung nach Darmstadt; Tätigkeit beim Institut für sozialwissenschaftliche Forschungen

in Darmstadt; anschließend Verwaltungsangestellter beim Landeswohlfahrtsverband, hier Vorsitzen-

der des Gesamtpersonalrats von Hessen

1956-1967 Stadtverordneter in Darmstadt (SPD)

1967-1972 ehrenamtlicher Stadtrat und Mitglied des Magistrats

1972-1983 Bezirksverwalter in Darmstadt-Arheilgen [CDU war strikt gegen seine Ernennung!]

† 18. September 2000 in Darmstadt

Mitbegründer der IG Arheilger Vereine

Ehrungen:

1983 Jubiläumsmedaille der Stadt Darmstadt

1983 Ehrenurkunde der Fritz-Wernath-Stiftung

1987 Bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Über das Wirken von Helmut Fuchs, ehemaliger Bezirksverwalter in Darmstadt-Arheilgen

(SPD), in der Zeit des Nationalsozialismus ist wenig bekannt.

Fuchs war 1933 erst elf und 1939 bei Kriegsbeginn 17 Jahre alt. Er leistete 1941 den obligato-

rischen Dienst beim RAD. 1941/42 durchlief er die Ausbildung zum Flieger (Flieger-Regiment

53), von 1943 an diente er in der Panzer-Abteilung Feldherrenhalle. Er geriet in amerikani-

sche Kriegsgefangenschaft, aus der er im Sommer 1945 entlassen wurde. Es ließen sich keine

Entnazifizierungsdokumente ermitteln (obwohl er 1945 beim Landratsamt Marburg tätig

war). Auch im Bundesarchiv lagen keine (personalisierten) Dokumente zu Helmut Fuchs vor.

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Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HStAD, R 12 P Nr. 1414

StadtA DA, ST 61 Fuchs, Helmut

Literatur:

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Namen, Daten, Fakten. Darmstadt

2007.

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Stefan-George-Weg (L 8), benannt 1957 nach

Stefan George (1868-1933)

Dichter

* 12. Juli 1868 in Büdesheim bei Bingen

Besuch der Realschule in Bingen

1882-1888 Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt

1887 Veröffentlichung der Zeitschrift „Rosen und Disteln“, darin Publikation erster Gedichte

1888/89 Reisen durch Westeuropa

1889-1891 Studium an der Berliner Universität; Besuch von Vorlesungen in Philosophie, Romanistik,

Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte

1890 Erster Gedichtband/Zyklus „Hymnen“

1891 Gedichtband „Pilgerfahrten“; Beginn zahlreicher Übersetzungen; Freundschaft mit Hugo von

Hofmannsthal

1892 Mitherausgeber der „Blätter für die Kunst“; aus dem Mitarbeiterkreis erwächst der sogenannte

„George-Kreis“ als ein loses Bündnis junger Lyriker um George als geistige Autorität („Meister“)

1897 Gedichtband „Das Jahr der Seele“

1898 Erste Begegnung mit Georg Bondi in Rom, der fortan alle Bücher Georges (und viele des Geor-

ge-Kreises) herausgeben sollte

1899 Gedichtband „Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel“;

Freundschaft mit Friedrich Gundolf

1907 Gedichtband „Der siebente Ring“

1910-1912 „Jahrbuch für geistige Bewegung“

1914 Gedichtsammlung „Der Stern des Bundes“

1917 Veröffentlichung von „Der Krieg“

1919 Heidelberger Treffen

1923 Erste Zusammenkunft mit den Brüdern Stauffenberg, die fortan zum George-Kreis zählten

1928 Gedichtband „Das Neue Reich“

1928 Letzte große Lesung des George-Kreises

1933 Ablehnung der ihm angetragenen (Ehren-)Mitgliedschaft einer neuen „Deutschen Akademie für

Dichtung“ sowie von Ehrungen anlässlich seines 65. Geburtstags; Rückzug in die Schweiz

† 4. Dezember 1933 in Minusio bei Locarno (Tessin, CH)

Ehrungen:

1927 Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main

1932 Goethe-Medaille (von Hindenburg gestiftet)

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Wirken in der NS-Zeit

Stefan George gilt als einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des beginnenden

20. Jahrhunderts. Seine Werke nahmen zunehmend eine prophetische und religiöse Deu-

tungsebene an. Von besonderer Bedeutung (und nur schwer von der Person Georges zu

trennen – gerade Georges Wirkung in der NS-Zeit über seinen Tod im Dezember 1933 hinaus

betreffend) ist der ihn umgebene Kreis junger Literaten (George-Kreis), die ihren „Meister“

verehrten.

Georges Einstellung zum Nationalsozialismus wird in der Forschung unterschiedlich einge-

schätzt. In der Bewertung nimmt Georges Ablehnung der (Ehren-)Mitgliedschaft einer neuen

„Deutschen Akademie der Dichtung“ eine besondere Bedeutung ein. Häufig wird seine Wei-

gerung Anfang Mai 1933, in der Akademie eine wie auch immer geartete Rolle/Funktion so-

wie einen „Ehrensold“ zu übernehmen, als Beleg für seine Ablehnung des NS-Regimes ge-

deutet. Aktuellere Veröffentlichungen liefern hingegen eine differenziertere Lesart: George

habe sich nie an Akademien beteiligt oder für eine öffentliche Funktion interessiert – und

seine Ablehnung auch in dieser Richtung begründet. Zudem findet sich in Georges Antwort-

schreiben auf die entsprechende Anfrage (seitens des Kultusministers Bernhard Rust, ausge-

sprochen durch Kurt Zierold, Leiter der Referate Literatur und Film) folgender Satz:

„die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne ich durchaus nicht [eingefügt: ab] und

schiebe auch meine geistige mithilfe [geändert in: mitwirkung] nicht beiseite“ (zitiert nach Karlauf,

S. 622).

Der Brief wurde am 10. Mai 1933 verfasst – es findet sich darin kein Bezug auf die zahlrei-

chen Bücherverbrennungen, die schon deutlich früher annonciert worden waren. Das ge-

samte Antwortschreiben entzieht sich einer eindeutigen Interpretation (Kauffmann, S. 87).

Wenngleich George sich (nach außen hin) nicht für politische Diskussionen interessierte und

öffentliche Auftritte scheute, versuchten die Nationalsozialisten, ihn als geistigen Vorreiter

zu vereinnahmen. Gerade Gedichte seines Spätwerks, 1928 veröffentlicht unter dem Titel

„Das Neue Reich“, wurden als Übereinstimmung mit den nationalsozialistischen Idealen ge-

deutet. Tatsächlich lasen auch andere Rezipienten „Das Neue Reich“ in direktem Zusam-

menhang mit dem „Dritten Reich“ – und der George-Kreis wurde teils als „bewusster

Schrittmacher“ (Karlauf, S. 582) des „Dritten Reichs“ angesehen: heldische Elite, Hierarchie

und korporativer Rechtsstaat, all diese Leitgedanken des George-Kreises ließen sich auf das

„Dritte Reich“ übertragen. Analysiert man die im „Neuen Reich“ veröffentlichten Gedichte,

lässt sich insgesamt relativ wenig originär „Politisches“ herauslesen. George selbst verstand

sein „Neues Reich“ ausdrücklich als ein geistiges, jenseits von real Existierendem. Dieses

geistige Reich firmierte auch unter „Das geheime Deutschland“.

Unter den Mitgliedern des George-Kreises befanden sich auch Juden. Auf Briefe und Berichte

jüdischer Freundinnen und Freunde, welche die zunehmende Gewalt gegen Juden seitens

der Nationalsozialisten anprangerten, reagierte George mit demonstrativer Gleichgültigkeit.

In Verkennung der Realität verwies er darauf, dass dem Geist die eigentliche Macht zuge-

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sprochen gehöre, ihn entsprechend alle politischen, gesellschaftlichen und ideologischen

Entwicklungen nichts angingen und daher auch nicht kümmerten. Thomas Karlauf bewertet

Georges Haltung in Bezug auf Juden wie folgt:

„Georges Einstellung zu den Juden entsprach dem vor allem im Mittelstand verbreiteten Antisemi-

tismus der ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘, von denen 1933 viele so unempfindlich geworden waren,

dass die schrittweise Entrechtung der Juden sie nicht wirklich empörte“ (Karlauf, S. 605).

George konstatierte paradoxerweise, er habe so viele jüdische Freunde (gehabt), dass er sich

zu diesem Thema nicht äußern müsse. Gegenüber der Öffentlichkeit hüllte sich George all-

gemein in konsequentes Schweigen gegenüber dem NS-Regime, was von einigen Zeitgenos-

sen (Walter Benjamin, Klaus Mann) als Ablehnung interpretiert wurde. Kai Kaufmann hinge-

gen argumentiert, Georges Schweigen sage lediglich aus, dass er weiterhin nichts mit der

Tagespolitik zu tun haben wollte.

Immer wieder verweisen biografische Veröffentlichungen darauf, George habe Schülern die

Mitgliedschaft in NS-Organisationen untersagt (so etwa Riedel, S. 196). Dennoch konnte er

nicht verhindern, dass einige seiner „Jünger“ das „Dritte Reich“ als das vom „Meister“ pro-

phezeite „Neue Reich“ ansahen und mit dem Nationalsozialismus sympathisierten (was sich

eindeutiger belegen lässt, Kauffmann S. 83 f.). Nach dem Tode Georges waren die Mitglieder

des George-Kreises uneins, ja tief gespalten, welche Position sie zum Nationalsozialismus

und dem „Dritten Reich“ einnehmen sollten („während die einen das ‚Neue Reich‘ […] mit

dem ‚Dritten Reich‘ Adolf Hitlers verwechselten, erblickten die anderen in ihm das ideelle

Gegenbild zur nationalsozialistischen Barbarei“, Osterkamp, S. 213). Bekannt ist letztlich,

dass mit Claus von Stauffenberg, der an Georges Grab Totenwache gehalten hatte (und an-

fangs zu den Sympathisanten der Nationalsozialisten zählte), ein enger Vertrauter das Atten-

tat auf Hitler am 20. Juli 1944 zu verantworten hatte. Als Stauffenberg nach der – ihr Ziel

verfehlenden – Tat vor das Erschießungskommando im Bendlerblock geführt wurde, habe er

„Es lebe das geheime Deutschland!“ gerufen (wie Zeugenaussagen belegen sollen).

Seitens des NS-Regimes wurde Georges Ableben als Tod eines der größten Dichter des deut-

schen Volkes und geistigen Wegbereiters des neuen Deutschlands inszeniert, der sich

schließlich ausdrücklich zur „Ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung“ bekannt habe.

Zahlreiche Zeitungen druckten eine entsprechende Pressemitteilung aus dem Kultusministe-

rium in der (falschen) Variante, George habe sich zur „Ahnherrschaft der neuen nationalso-

zialistischen Bewegung“ [Hervorhebung HK] bekannt, was die implizierte Lesart unterstrei-

chen mag. Nach Michael Petrow lässt sich 1935 allgemein gesprochen ein Wendepunkt in

der kulturpolitischen Wertung des Werkes Georges während der NS-Zeit festmachen: von

der versuchten Vereinnahmung hin zur diffamierenden Ausschließung.

George starb am 4. Dezember 1933 in Minusio (Tessin), wo er bereits die beiden vorange-

gangenen Winter verbrachte und sich seit Ende September 1933 ein drittes Mal aufhielt (ihn

motivierte für den Aufenthalt eher das milde Klima als die Flucht vor dem NS-Regime).

Offenbar war George in keiner NS-Organisation Mitglied. Aufgrund des Zeitpunkts seines

Todes liegen entsprechend keine Entnazifizierungsunterlagen vor.

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Quellen:

HStAD, R 12 P Nr. 7898 [Zeitungsartikel zum 65. Geburtstag]

StadtA DA, ST 61, George, Stefan

Literatur:

Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007.

Kauffmann, Kai: Das Leben Stefan Georges. Biographische Skizze. In: Aurnhammer, Achim et al.

(Hrsg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, S. 7-94.

Klussmann, Paul Gerhard: Stefan Anton George. In: NDB, Bd. 6. Berlin 1964, S. 236-241.

Netuschil, Claus K.: George, Stefan. In: Stadtlexikon Darmstadt 2006, S. 302.

Osterkamp, Ernst: Das Neue Reich. In: Aurnhammer, Achim et al. (Hrsg.): Stefan George und sein

Kreis. Ein Handbuch, Bd. 1. Berlin/Boston 2012, S. 203-217.

Petrow, Michael: Der Dichter als Führer? Zur Wirkung Stefan Georges im „Dritten Reich“. Marburg

1995.

Riedel, Manfred: Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Berlin 2014

[Original Köln et al. 2006].

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Fritz-Glenz-Straße (P 7), benannt 2003 nach

Fritz Glenz (1922-1996)

Langjähriger Darmstädter Stadtrat

* 1. Januar 1922 in Darmstadt

Besuch von Diesterweg- und Ohlyschule

1931 Mitglied bei Falken und bei Freien Turnern

Kaufmännische Lehre bei der Firma Kohlen-Köhler in Darmstadt

1939 Kaufmannsgehilfenprüfung

1941 Verwaltungsangestellter

1941 Reichsarbeitsdienst

1941-1942 Kriegsdienst (Sonderverband 288, Panzer-Grenadier-Regiment Afrika)

1942-1947 Britische Kriegsgefangenschaft in Ägypten

1947 Rückkehr nach Darmstadt, wohnhaft im Johannesviertel

1947 Mitglied in ÖTV und SPD; Beisitzer und Schriftführer des SPD-Ortsvereins Johannesviertel

1947/49-1984 Verwaltungsangestellter beim Regierungspräsidium Darmstadt (Leiter der Haushalts-

abteilung beim Entschädigungsamt, Sachbearbeiter im Dezernat für Gewerberecht, bis zum Ruhe-

stand Sachgebietsleiter im Dezernat Zivilverteidigung)

1959 Unterbezirksvorstand der Darmstädter SPD

1964 Stadtverordneter in Darmstadt (SPD), Vorsitzender des Liegenschaftsausschusses

Seit 1966 wohnhaft in Darmstadt-Eberstadt; Vorstandsmitglied der Eberstädter SPD, Initiator und

Leiter des kommunalpolitischen Arbeitskreises; Mitglied in zahlreichen Vereinen

Seit 1968 (bis zu seinem Tod) ehrenamtlicher Stadtrat (SPD) in Darmstadt

1972 Mitbegründer und später langjähriger (Vice-)Präsident des „Komitees der Internationalen Schü-

lerspiele“ (1972-1987 Sekretär, seit 1987 Präsident); laut Zeitungsberichten erreichte er „die formelle

Anerkennung für die Jugendorganisation beim IOC“

1974-1994 Vorsitzender der Sportvereinigung Eberstadt

1983-1989 Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Darmstadt

1995 Reise nach Moskau, um die „Internationalen Schülerspiele“ 1998 vorzubereiten

† 2. Februar 1996 in Darmstadt

Über 20 Jahre Personalratsmitglied beim Regierungspräsidium Darmstadt, lange Jahre SPD-

Betriebsgruppenvorsitzender beim Regierungspräsidium und 14 Jahre Hauptpersonalratsmitglied

(stellvertretender Vorsitzender) beim Hessischen Innenminister

Mitglied und (seit 1978) Vorsitzender des Theaterbeirats des Staatstheaters; Mitglied des Komitees

für Städtepartnerschaften

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Ehrungen:

1977 Ehrenbrief des Landes Hessen

1978 Freundschaftsplakette der Stadt Darmstadt

1982 Bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1984 Bundesverdienstkreuz am Bande

1985 Ehrung zum Stadtältesten in Darmstadt

1988 Ehrung für zwanzig Jahre Magistratsmitglied in Darmstadt (er war der erste, dem das gelang)

1995 Ehrenurkunde im Ledereinband des Landessportbundes Hessen

Wirken in der NS-Zeit

Fritz Glenz, Lokalpolitiker und langjähriger Stadtrat in Darmstadt, in seiner Heimatstadt sozi-

alisiert und seit 1931 Mitglied bei den Falken sowie bei den Freien Turnern, wuchs im Johan-

nesviertel auf, wo seine Eltern die Gaststätte „Glenz“ führten (Kahlertstraße 41), bis 1933 ein

beliebter Treffpunkt für Sozialdemokraten. Nach dem Schulabschluss absolvierte Fritz Glenz

eine kaufmännische Ausbildung bei der Firma Kohlen-Köhler in Darmstadt, 1939 legte er die

Kaufmannsgehilfenprüfung ab. Da er 1981 sein 40-jähriges Jubiläum beim Regierungspräsi-

dium Darmstadt feierte, ist davon auszugehen, dass er 1941 als Angestellter der Verwaltung

in den Staatsdienst eintrat.

Im Verlauf des Jahres 1941 wurde Glenz, im Alter von 19 Jahren, zum RAD eingezogen und

leistete anschließend Kriegsdienst. Zunächst war er Mitglied des Fliegerabwehr-Ersatz-

Bataillons 66, ab Juni 1942 Soldat des Sonderverbands 288 (Panzer-Grenadier-Regiment Af-

rika). Bereits im November 1942 geriet er bei Benghasi in britische Kriegsgefangenschaft

(verschiedene Lager in Ägypten), aus der er im Juni 1947 entlassen wurde. Nach seiner Rück-

kehr nach Darmstadt trat er in SPD sowie ÖTV ein und arbeitete wieder beim Regierungsprä-

sidium Darmstadt, später in leitenden Funktionen.

In Presseberichten wurde Glenz als „aufrechter und ehrlicher Demokrat“, als „Anwalt und

Fürsprecher des kleinen Mannes“ bezeichnet. Er selbst äußerte sich anlässlich seines

65. Geburtstags wie folgt: „Mein Leben war und ist gezeichnet von einer Absage an Kommu-

nismus und Faschismus!“ (Eberstädter Neue Zeitung, 08.01.1987).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente zu Fritz Glenz recherchieren. Auch ließen

sich aus dem vorliegenden Quellenmaterial keine Hinweise auf eine Verstrickung in das NS-

System nachweisen.

Quellen:

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HStAD, R 12 P, 1586

StadtA DA, ST 61 Glenz, Fritz

Literatur:

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Namen, Daten, Fakten. Darmstadt

2007.

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Gruberstraße (F 9-10), benannt 1967 nach

Karl Gruber (1885-1966)

Architekt, Stadtplaner und Hochschullehrer

* 6. Mai 1885 in Konstanz

1894-1903 Schulbesuch in Karlsruhe, Freiburg und Konstanz; 1903 Abitur in Konstanz

1903-1904 Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“

1903/04-1909 Studium der Architektur an der TH Karlsruhe

Ca. 1909-1913 Assistent seines Lehrers Friedrich Ostendorf an der TH Karlsruhe

1911 1. Preis im Wettbewerb um den Rathaus-Neubau in Lörrach (nicht realisiert)

1913 Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule Karlsruhe (Innenarchitektur)

1914 Promotion an der TH Karlsruhe, „Bilder zur Entwicklungsgeschichte einer deutschen Stadt“

1914 Vorstand des Baubüros der Universitäts-Kliniken in Freiburg im Breisgau (bis Kriegsbeginn;

Dienststellung: Regierungsbaumeister)

1914-1918 Kriegsdienst in einer Vermessungsabteilung (Mai 1918: Hauptmann der Reserve)

1919 Hochzeit mit Elisabeth Freiin Teuffel von Birkensee in Karlsruhe (vier Kinder)

1919-1925 Leiter des Hochbauamts in Freiburg im Breisgau (laut eigener Aussage: Stadtoberbaurat)

1921-1923 Umbau des städtischen Theaters Freiburg (ehem. Augustinerkloster) zum Stadtmuseum

1925-1933 Professor für mittelalterliche Baukunst und Kirchenbau an der TH Danzig

1927-1933 Restaurierung der Marienkirche in Danzig

1928 Gründungsmitglied der Architektenvereinigung „Der Block“

1928-1932 Neubauten der Universität Heidelberg (nach siegreichem Entwurf)

1930 Mitglied der preußischen Akademie des Bauwesens

1932 Gründungsmitglied des Kampfbundes Deutscher Architekten und Ingenieure (KDAI) – Ortsgrup-

pe Danzig

1933 Mitglied der Preußischen Akademie des Bauwesens

1933-1953 Professor für Städtebau, Gefügelehre und Entwerfen an der TH Darmstadt

1933-1945 Mitglied der NSV

1934-1935 Vorstand (Dekan) der Architektur-Abteilung der TH Darmstadt

1934-1945 Denkmalpfleger (zunächst für Provinz Rheinhessen, ab 1938 für Provinz Oberhessen); in

dieser Funktion 1935 Mitglied des Denkmalrats

1934-1939 Restaurierungs- und Umgestaltungsarbeiten in Lübeck

Mitglied des NSBDT sowie der Reichskammer der bildenden Künste [Zeitraum unklar]

1937 „Die Gestalt der deutschen Stadt“

1938 Teilnahme an Wettbewerb zum Verwaltungsforum in Frankfurt an der Oder (ohne Erfolg)

1938-1942 Projektierung/Ausführung Neubau des Instituts für Technische Physik der TH Darmstadt

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1940 Teilnahme an Wettbewerb zum Rathaus-Neubau in Bromberg (ohne Erfolg)

1942 Wiederaufbauplan für (teilzerstörte) Altstadt in Lübeck; erste Planungen zum Wiederaufbau

sowie zur Sicherung der wichtigsten Kirchenbauten von Mainz

1943 Wissenschaftliches Mitglied der „Nikolaus-Kopernikus-Gemeinschaft – Vereinigung zur Erfor-

schung des Reichsgaus Danzig-Westpreußen“

1943 „Das deutsche Rathaus“

1945 Wiederaufbaupläne für die Stadtkerne von Darmstadt (1945-1947) und Gießen (teilweise auf-

gegriffen 1949)

1945 Erster Dekan der neuen Architekturfakultät nach dem Zweiten Weltkrieg

1945-1947 Leiter der Wiederaufbaukommission der Stadt Darmstadt

1945-1948 Leiter der Wiederaufbaukommission der TH Darmstadt

1945-1964 Landeskirchenbaumeister der EKHN (1945-1954); in Darmstadt Wiederaufbau von Stadt-

kirche (1945-1956), Martinskirche (1947-1951), Stiftskirche (1956-1958) sowie Neubau der Friedens-

kirche samt Gemeindezentrum (1956-1964)

1949 „Der heilige Bezirk in der zukünftigen Stadt“

1952 Überarbeitete Neuauflage von „Die Gestalt der deutschen Stadt“

1953 Emeritierung (Vorlesungen und Exkursionen bis ca. 1959)

† 12. Februar 1966 in Darmstadt

Ehrungen:

1909 Goldene Medaille der TH Karlsruhe (für Diplomarbeit)

1931 Ehrensenator der Universität Heidelberg

1939 Verleihung des Treuedienst-Ehrenzeichens II. Stufe (gestiftet von Adolf Hitler)

1955 Ausstellung anlässlich seines 70. Geburtstags auf der Mathildenhöhe Darmstadt

1965 Ehrendoktor der TH Darmstadt sowie der TH München

1985 Ausstellung und Kolloquium anlässlich seines 100. Geburtstags in Darmstadt (EKHN, Stadt

Darmstadt, TH Darmstadt)

Wirken in der NS-Zeit

Karl Gruber hat als Hochschullehrer und Architekt, als Stadtplaner und Kirchenbauer über

Jahrzehnte in Darmstadt gewirkt. Er beschäftigte sich mit Baugeschichte und Architekturthe-

orie, entwickelte ein auf der mittelalterlichen Stadt aufbauendes Konzept der Stadtplanung.

Seit 1933 war er Professor an der TH Darmstadt mit einem Lehrstuhl für Städtebau, Gefüge-

lehre und Entwerfen.

Hochschullehrer und Architekt

Im Spätherbst 1932 erhielt Karl Gruber – zu der Zeit Professor für mittelalterliche Baukunst

und Kirchenbau an der TH Danzig – einen Ruf auf den Lehrstuhl Baukunst V der TH Darm-

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stadt; Ende Januar 1933 nahm Gruber diesen Ruf an. Durch die Veränderung der politischen

Verhältnisse zog sich das Verfahren in die Länge. Mit Wirkung vom 1. Mai 1933 wurde er

schließlich zum ordentlichen Professor ernannt. In Darmstadt angekommen, sah er sich einer

„Diffamierungskampagne“ durch den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund

(NSDStB) ausgesetzt, initiiert durch Karl Lieser, Führer der Hochschulgruppe des NSDStB.

Lieser hatte als Privatdozent den vakanten Lehrstuhl nach dem Tod seines Lehrers Karl Roth

(1932) vertreten und sich selbst Hoffnungen auf dessen Nachfolge gemacht. Stattdessen

kündigte ihm sein neuer Vorgesetzter, Karl Gruber, zum 1. Oktober 1933, da er seinen eige-

nen Assistenten aus Danzig nach Darmstadt mitzubringen gedachte. Mitte Mai 1933 verfass-

te Lieser eine Denkschrift über den Umbau der Architektur-Abteilung „im nationalsozialisti-

schen Sinn“, in der er auch (neben anderen Professoren aus der Architektur) Karl Gruber

persönlich angriff (die Denkschrift ist nicht überliefert; es existieren darüber aber mehrere

übereinstimmende Aussagen, siehe dazu auch Romero, S. 142 ff. sowie Hanel, S. 84 ff.). Gru-

ber sei, so Lieser, nicht für die Ausbildung von Architekten geeignet, da er – seit den Neu-

bauten der Universität Heidelberg – als „Kulturbolschewist“ anzusehen sei. Lieser rekurrierte

dabei auf eine Debatte, die sich nach der Einweihung des Bauwerks „Neue Universität Hei-

delberg“ entspann. Karl Willy Straub, Geschäftsführer des „Blocks“ (dessen Gründungsmit-

glied Gruber war), griff in seiner 1932 veröffentlichten Schrift „Die Architektur im Dritten

Reich“ Grubers Bau dezidiert als Negativbeispiel auf (Straub, S. 61); Paul Schultze-Naumburg

– von Gruber eigentlich sehr geschätzt – billigte in seinem „Geleitwort“ Straubs Angriffe auf

Gruber.

Karl Gruber verwahrte sich vehement gegen die – aus seiner Sicht – haltlosen Vorwürfe (laut

Gruber bezogen diese sich auf: „Fachliche Eignung unklar. […] Liberalistisch beeinflußt. Nicht

völkisch“) in Liesers Denkschrift. Auf Unterstützung hoffend, wandte er sich vertrauensvoll

an den Kollegen German Bestelmeyer in München, der über beste Kontakte zu nationalsozia-

listischen Entscheidungsträgern verfügte (dokumentiert bei Romero, S. 142-144). In einer

tradierten Erwiderung auf die Lieser’sche Denkschrift urteilte Gruber, dass darin „leichtfertig

und gewissenlos mit unwahren Behauptungen gearbeitet“ worden sei und führte weiter aus:

„Ich war zusammen mit Schultze-Naumburg, Schmitthenner und Bestelmeyer Gründungsmitglied des

Blocks und bin einer [sic!] der Gründungsmitglieder des Kampfbundes für deutsche Kultur, Ortsgrup-

pe Danzig (Mitgliedskarte vom 1.6.1932). […] Von einer roten oder sonstwie gefärbten badischen

Regierung bin ich nie in ein Ministerium berufen worden. Diese Behauptung ist erfunden, um mich zu

verdächtigen. Einer politischen Partei habe ich nie angehört, da ich als Stadtbaurat mir eine gründli-

che Verachtung des Parteiwesens angeeignet habe. Gewählt habe ich deutsch-national. […] Von ei-

ner Hochschule kommend, an der durch die gemeinsame Kampfstellung gegen die Polen eine gera-

dezu ideale Gemeinschaft zwischen Studenten und Dozenten besteht, bin ich von der hier herr-

schenden, wie ich glaube künstlich erzeugten, Übelkeit erregenden Atmosphäre geradezu entsetzt –

und mit mir die national-sozialistische Danziger Studentenschaft, die ihrer Empörung über die gegen

mich erhobenen Verdächtigungen auch gebührend Ausdruck verliehen hat“ (13.06.1933, DAM, Nach-

lass; komplette Erwiderung dokumentiert bei Romero, S. 145 f., hier 145)

Tatsächlich findet sich eine entsprechende Stellungnahme des Hochschulgruppenführers des

NSDStB Danzig in Grubers Personalakte (UA Darmstadt, 103 Nr. 232/8), worin der Unter-

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zeichnende seinen Darmstädter Kommilitonen darüber in Kenntnis setzt, dass an Grubers

Fähigkeiten und politischer Haltung („an dessen nationaler Gesinnung auch nicht der ge-

ringste Zweifel erlaubt ist“) nichts auszusetzen sei – ganz im Gegenteil. In dem erwähnten

Bittschreiben an Bestelmeyer äußerte Gruber, dass er „nicht Mitglied der Partei, aber Grün-

dungsmitglied der Ortsgruppe des K.d.A.I [Kampfbund deutscher Architekten und Ingenieu-

re]“sei, um näher (und überraschend offen, wenn man sich den Zweck seines Schreibens vor

Augen führt) zu erläutern:

„Ich selbst habe mich allerdings im Kampfbund nicht sehr stark betätigt, bin auch nicht der Gruppe

nationalsozialistischer Architekten beigetreten, weil mich die überall in Kollegenkreisen auftretende

Sucht, die eigene Richtung als ‚die Architektur des Dritten Reiches‘ zu erklären, angewidert hat“

(vermutlich Juni 1933, DAM, Nachlass).

Um der unsachlichen Kritik an seiner Bauweise entgegenzuwirken, gab es im Juli 1933 eine

Ausstellung über Grubers Werke in den Räumlichkeiten der TH Darmstadt, die gleichsam –

so Heinrich Walbe, derzeit Vorstand (Dekan) der Architektur-Abteilung – einer Antrittsvorle-

sung und einem „künstlerischen Glaubensbekenntnis“ entsprach.

Gruber blieb Zeit seines Lebens parteilos, war also nie Mitglied der NSDAP. Seinen eigenen

Angaben zufolge (HHStAW) war er seit 1933 Mitglied der NSV sowie Mitglied des NSBDT

(von ihm im Fragebogen als „Fachorganisation“ bezeichnet, ohne Zeitangabe der Mitglied-

schaft), in dem 1934 der KDAI aufgegangen war, und der Reichskammer der bildenden Küns-

te. Im Juni 1939 wurde ihm vom Rektor der TH Darmstadt das „vom Führer und Reichskanz-

ler gestiftete Treudienst-Ehrenzeichen 2. Stufe“ ausgehändigt.

Gruber lehrte über 20 Jahre in seiner Funktion an der TH Darmstadt und begleitete 1934 und

1935 das Amt des Vorstands (Dekans) der Architektur-Abteilung. Der Analyse von Melanie

Hanel folgend, wirkten (nach der „Säuberung“ 1933) an der TH Darmstadt ausschließlich

Architektur-Professoren, die „weder politisch noch aufgrund ihres fachlichen Stils als miss-

liebig galten“ – und Gruber war nach Hanel der einzige unter ihnen, der in der NS-Zeit eine

nennenswerte Bautätigkeit vorzuweisen hatte (Hanel, S. 352 f., Zitat 352). Zwischen 1934

und 1939 war er mit Restaurierungs- und Umgestaltungsmaßnahmen in Lübeck betraut (da-

zu Weihsmann, S. 618-622). Einige der unter Grubers Leitung sanierten mittelalterlichen Ge-

bäude wurden mit „programmatischen NS-Motiven“ verziert. An Konzeption und Bau von

NS-Prestigebauten war er in Lübeck hingegen nicht beteiligt. Den „erste[n] und einzige[n]

Staatsauftrag nach 1933“ (so Romero, S. 159) erhielt Gruber im Herbst 1938 in Darmstadt:

Auf Wunsch von Jakob Sprenger, Reichsstatthalter und Gauleiter von Hessen, wurde er mit

der Planung des Instituts für Technische Physik an der TH Darmstadt beauftragt. Obwohl sich

das Institut an kriegswichtigen Entwicklungen beteiligen sollte, verzögerten sich die 1939

begonnenen Bauarbeiten bis zur Fertigstellung im April 1942 erheblich. Wie Gruber selbst

ausführte, verzichtete er auch hier „auf alle Motive einer repräsentativen ‚Monumentalar-

chitektur‘“ (Gruber I, 1943, S. 3); das Gebäude wurde 1944 zerstört.

In der NS-Zeit wurde Gruber seitens der TH als „unabkömmlich“ eingestuft (gleich zahlrei-

chen anderen Professoren). Noch Anfang 1945 wurde für Gruber („Dienstgrad: Hauptmann

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d[er] R[eserve] a[ußer] D[ienst]“) eine „Z-Karte“ ausgestellt, was ihn vor dem Einzug zum

Volkssturm bewahrte (UA Darmstadt, 105 Nr. 120).

Architekturtheoretiker, Baugeschichtler und Stadtplaner: Parallelen zur NS-Ideologie

In der NS-Zeit verfasste Karl Gruber zwei Monografien, die sein Verständnis von Architektur

und Städtebau transportieren sollten, welches stark auf dem Idealbild einer mittelalterlichen

Stadt fußte (siehe dazu auch Gruber 1938, besonders S. 87). Die mittelalterliche Baukunst

diente ihm als (verklärtes) Vorbild für gestalterische Aufgaben der Gegenwart (Böhme,

S. 37); zudem ging er vom Bestehen „ewig gültiger Entwicklungsgesetze“ aus. Beides spiegel-

te sich besonders in seiner 1937 erschienenen Veröffentlichung „Die Gestalt der deutschen

Stadt“ wider, deren überarbeitete und erweiterte Neuauflage 1952 als Standardwerk Ein-

gang in die Architekturgeschichte fand (zum Folgenden ausführlich die Analyse von Romero,

S. 149-155). Gruber rekurrierte in seinem Werk auf den von ihm konstatierten, fortschrei-

tenden kulturellen Verfallsprozess, dem er in der Stadtplanung durch eine Rückbindung an

mittelalterliche Ideale entgegenwirken wollte:

„Aber es sind auch andere Dinge unseres heutigen Lebens, die an das Mittelalter gemahnen, und es

sind wohl die erfreulichsten: Wir bemühen uns, Staat und Gesellschaft wieder ständisch aufzubauen,

wir streben wieder nach Gemeinschaft, wir suchen aus der geistigen Isolierung wieder herauszu-

kommen, in die der einzelne schließlich geraten war. Allerdings war die mittelalterliche Gemeinschaft

religiös fundiert, aber ist nicht unsere Zeit eine der religiös aufgewühltesten? Müssen wir nicht die

Hoffnung hochhalten, daß sich das Abendland seines verantwortungsvollen großen Erbes wieder

bewußt wird und daß der Sinn der furchtbaren Kämpfe der Gegenwart gar kein anderer sein kann, als

daß die gegen den Materialismus gerichteten Kräfte im Kampf erstarken, um sich später zu sammeln

und sich über die Schranken der vergangenen Zeit hinweg zu einen?

Wenn wir heute einen Weg suchen, der uns weder in kollektivistische Gleichmacherei noch in zerset-

zenden Individualismus führt –, immer wieder wird das Bild der mittelalterlichen Stadt vor unseren

Augen entstehen, das dem einzelnen im Rahmen der Gemeinschaft seine Freiheit ließ und ihn doch

einband in das Gesetz, das allein uns Freiheit geben kann“ (Gruber 1937, S. 121 f.).

Anhand dieses ausführlichen Zitats wird ersichtlich, worum es Gruber bei der Konstruktion

städtebaulicher Zusammenhänge ging – und in welcher Weise Grubers architektonisches

Konzept im Geist der Zeit verhaftet war: Der Ablehnung der modernen Stadt als Sinnbild und

Ausdruck von Französischer Revolution, Manchester-Liberalismus, allgemeiner Individualisie-

rung. Einflüsse der Kulturmorphologie eines Oswald Spenglers sind offensichtlich, auch Gru-

bers Prägung durch Arbeiten von Paul Schultze-Naumburg und Heinrich Tessenow, führen-

den Köpfen der sogenannten „Traditionalisten“, Vertretern einer konservativen Zivilisations-

kritik (Böhme, S. 43 f.). Die Glorifizierung der mittelalterlichen Stadt war nicht Grubers Erfin-

dung – und sie war anknüpfungsfähig an genuin nationalsozialistische Auffassungen: Andre-

as Romero belegt anhand von Vergleichen mit Textstellen aus Gottfried Feders „Die neue

Stadt“ (1939) Grubers Nähe zur Ideologie des Nationalsozialismus. Grubers ahistorische Be-

trachtungsweise (mit deutlich völkischem Unterton) wird indessen schon in seinen eigenen

Worten erkennbar:

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„Als die unverbrauchte Kraft der germanischen Volksstämme das Erbe der sterbenden antiken Welt

antrat, übernahm sie mit diesem Erbe das Ergebnis einer tausendjährigen Entwicklung des Städte-

baus“ (Gruber 1937, S. 9; bewusst unverändert 1952, S. 9).

Gruber vertrat die Auffassung, dass nur dort, wo das Sakrale und das Profane die hierarchi-

sche Rangordnung auf Erden darstelle, wahres Bauen möglich sei (dazu Böhme, S. 38). Nur

eine „religiös durchgeistigte Gesellschaft“ (Romero, S. 152) könne nach Gruber die „neue

Stadt“ sinnvoll gestalten. (Wie er sich die Umsetzung vorstellte, dokumentiert 1949 seine

Veröffentlichung „Der heilige Bezirk in der zukünftigen Stadt“.) Hinsichtlich politischer Struk-

turen machte Gruber seine Auffassung deutlich, dass „nur der autoritäre Staat die Belange

der Allgemeinheit gegenüber der Ichsucht des einzelnen zu wahren in der Lage“ sei (Gruber

1937, S. 112).

Grubers zweite Monografie in der NS-Zeit, „Das Deutsche Rathaus“ (1943), ist insbesondere

ob ihres Erscheinungskontexts hier von Interesse. Inhaltlich lieferte Gruber einen aufwändig

recherchierten Überblick über Rathaus-Formen in Deutschland und deren historischen Be-

zug. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er Städten im deutschen „Grenzland“, wie Straß-

burg und Danzig, „die uns Deutschen von 1942 höchste Freude und tiefsten Schmerz bedeu-

ten, aber auch die Verpflichtung größter Verantwortung […] auferlegen“ (Gruber 1943, S. 7).

Der Band war „kein bloßes ‚Propagandawerk‘“ (Hanel, S. 353), erschien aber in der Reihe

„Sonderleistungen der deutschen Kunst“ im Rahmen des „Kriegseinsatzes der Geisteswis-

senschaften“; ein Großprojekt, das die kulturelle Überlegenheit der Deutschen wissenschaft-

lich untermauern helfen sollte. Gruber folgte den Vorgaben des interdisziplinären „Gemein-

schaftswerks“, indem er die Rathaus-Bauten als deutsche Sonderleistungen herausstelle.

In (Groß-)Städten des „Altreichs“ blieben Grubers veröffentlichte Überlegungen und Anre-

gungen nach 1937 weitgehend folgenlos; die NS-Planungen entwickelten sich gewisserma-

ßen in eine entgegengesetzte Richtung (große Achsen, Monumentalbauten). Anders verhielt

es sich im „neuen deutschen Osten“: Bei Problemen hinsichtlich der Stadterweiterung und

Stadterneuerung von mittelalterlich geprägten Klein- und Mittelstädten konnte Grubers

„Gestalt einer Stadt“ zu Rate gezogen werden. Sein städtebaulicher (und ideologischer) An-

satz mit der mittelalterlichen Bürgergesellschaft im Zentrum, die sich in „gebundener Frei-

heit“ ihre Städte erbaute, kam dem NS-Kolonisationsideal für die deutsche Besiedelung in

Polen und Russland sehr nahe. Gruber selbst äußerte sich zwischen 1935 und 1940 wieder-

holt in Vorträgen und Vorlesungen zum „neuen deutschen Osten“, auch unter programmati-

scher Perspektive:

„Wo liegt unsere Aufgabe auf dem Gebiet des Volkstumskampfs? Was ist zu tun? Als erstes und wich-

tigstes, es muß ein Wall von deutschen Menschen an unserer so dünn besiedelten Ostgrenze entste-

hen. Wir müssen siedeln […] Außerdem müssen wir das Deutschbewußtsein heben und die Zwischen-

schicht, die sonst dem Polentum anheimfällt[,] für das Deutschtum werben. Deutsche sollen keine

Polinnen heiraten. Deutsche Kindergärten müssen geschaffen werden. In den Städten des Ostens

müssen Kulturzentren entstehen, damit dem Glanz Warschaus ein Gegengewicht geschaffen wird

und das Gefühl kultureller Vereinsamung bei den Deutschen beseitigt wird. Mit Gewalt und Krieg ist

nichts zu machen – es ist eine kulturelle Volkstumsarbeit notwendig“ (Vortragsmanuskript, vermut-

lich Januar 1935, DAM, Nachlass).

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Gruber nimmt 1935 Aspekte der „ethnographischen Neuordnung im Osten“ vorweg, die

Adolf Hitler im Oktober 1939 proklamieren sollte (und die bekanntermaßen in der systemati-

schen Vernichtung von jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Polen mündete, mit dem

Ziel, Raum für deutsche Siedler zu schaffen). Im geheimen „Generalplan Ost“ (1941) war von

einem „Wall deutschen Volkstums“ die Rede. Die Nähe zum NS-Gedankengut wird zudem

deutlich, wenn man Grubers Diktion mit jener späterer Veröffentlichungen im Bereich „Ge-

staltung des neuen deutschen Siedlungsraums im Osten“ vergleicht. Einzelne Autoren bezo-

gen sich gar dezidiert auf Grubers planerische Grundsätze, wie Andreas Romero nachweist

(S. 156 f.). Noch nach dem deutschen Einmarsch in Polen bekräftigte Gruber seine Begeiste-

rung für den deutschen Osten, den Raum der „mittelalterlichen Ostkolonisation“. In einem

Vortragsmanuskript hielt er im Februar 1940 fest, was seines Erachtens nach (und in der für

ihn typischen Perspektive) die Besonderheit des „deutschen Ostens“ ausmachte:

„Ein mittelalterliches Amerika für unser Volk, ein Schmelztiegel aller deutschen Stämme und ein

Raum, in dem die größten kulturellen, staatlichen und baukünstlerischen Ideen des Mittelalters Form

gefunden haben“ (12.02.1940, DAM, Nachlass).

Interessant bleibt festzuhalten, dass Karl Gruber – anders als in konservativen Kreisen seiner

Zeit durchaus gängig, etwa bei Schultze-Naumburg – sein Geschichtsbild nicht von einer anti-

semitisch-rassistischen Ideologie ableitete (dafür finden sich in seinen Veröffentlichungen

und tradierten Manuskripten zumindest keine Hinweise). Andreas Romero gelangte daher zu

dem Fazit: „Gruber begrüßt die Staatsform des ‚Dritten Reiches‘, sein Führerprinzip, nicht

aber seine Inhalte“ (Romero, S. 153). In seiner Formsprache unternahm Gruber durchaus

den Versuch, seinen Weg im Nationalsozialismus zu finden, wie Werner Durth konstatierte:

„Grubers Suche nach Kompromissen mit der Kulturdoktrin des neuen Regimes ist unver-

kennbar“ (Durth, S. 245). 1943 nahm Gruber die Berufung zum wissenschaftlichen Mitglied

der „Nikolaus-Kopernikus-Gemeinschaft – Vereinigung zur Erforschung des Reichsgaus Dan-

zig-Westpreußen“ an, die im Mai des Jahres von Gauleiter und Reichstatthalter Albert Fors-

ter gegründet worden war (UA Darmstadt, 103 Nr. 232/9).

Nachkriegszeit: Wiederaufbau und Entnazifizierung

In seinem letzten Lebensabschnitt beschäftigte sich Karl Gruber besonders mit dem Wieder-

aufbau von Städten und Kirchen. Er brachte seine traditionsgebundene Vorstellung der Ar-

chitektur vielerorts ein – konnte sie aber nur zum Teil auch umsetzen. Bereits 1943/44 hatte

er mit einem Wiederaufbauplan auf die teilweise Zerstörung der Lübecker Altstadt reagiert.

Ähnlich wie in den Plänen nach 1945 sollten – Grubers Vorschlag nach – Baudenkmale als

Kristallisationspunkte dienen, der Wiederaufbau in historischem Geist (nicht aber als Kopie)

geplant und neuzeitliche Bebauung erst außerhalb des Stadtkerns zugelassen werden. Gru-

bers Pläne, die er im April 1944 vorlegte und die eine dichte Bebauung vorsahen (angelehnt

an der mittelalterlichen Vogelschau, aber mit neuer Gebäude- und Nutzungsstruktur), fan-

den keine Verwendung. In Darmstadt leitete Gruber von 1945 bis 1947 die von OB Ludwig

Metzger einberufene Wiederaufbaukommission der Stadt sowie bis 1948 den Wiederaufbau

der TH (Generalbebauungsplan 1946, Schmidt, S. 81 f.). Gerade in Darmstadt prägten (und

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prägen) Grubers oben genannte Kirchbauten das Stadtbild, die er vor allem in seiner Funkti-

on als Landeskirchenbaumeister der EKHN ab 1946 projektierte und umsetzte. Sein Wieder-

aufbauplan für die Stadt wurde von seinem Nachfolger Peter Grund hingegen nur auf einzel-

ne Elemente begrenzt (etwa Arkaden in der Innenstadt) umgesetzt; Ähnliches gilt hinsicht-

lich seiner Wiederaufbaupläne für Gießen.

Gruber galt 1945 als politisch unbelastet. Im Fragebogen zum Entnazifizierungsverfahren

1946 stufte er sich selbst als „nicht belastet“ ein mit der Begründung, er sei „bewusst u. aus

Ueberzeugung der Partei nicht beigetreten“. Zudem verwies er darauf, dass seine „Berufung

von der TH Danzig an die TH Darmstadt […] noch unter der alten Regierung im Januar 1933“

eingeleitet wurde. Im Februar 1947 wurde er als „vom Gesetz nicht betroffen“ eingestuft

(diese Einstufung erhielten 22 der letzten 50 Lehrstuhlinhaber der TH Darmstadt).

Bereits im August 1945 war seine Beschäftigung an der TH Darmstadt „endgültig bestätigt“

worden. Er wurde zum ersten Dekan der neu implementierten Architektur-Fakultät be-

stimmt. Wie Isabel Schmidt herausgearbeitet hat, wurden unter Grubers Leitung zwei als

politisch belastet entlassene Professoren als „technische Hilfskräfte“ wieder eingestellt –

was einem nicht unerheblichen Verstoß gegen die Auflagen der Amerikaner gleichkam (ähn-

lich wurde mit entlassenen Professoren in anderen Fakultäten verfahren, Schmidt, S. 179 f.).

Einer der beiden Professoren war Rudolf Geil, für dessen Rückbenennung sich Gruber später

(erfolglos) einsetzen sollte (Schmidt, S. 217). Gruber setzte sich – erfolgreich – für die Beru-

fung von Ernst Neufert (der unter anderem Mitglied in Albert Speers Arbeitsstab „Wieder-

aufbau“ war) auf die Professur von Karl Lieser ein. Im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens

von Lieser, dem ehemaligen Rektor der TH Darmstadt (der Gruber 1933 diffamiert hatte),

trat Gruber als einziger der gehörten Professoren als Belastungszeuge in Erscheinung

(HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 519782, Hanel, S. 115 sowie Schmidt, S. 212);

Liesers Rektoratszeit bewertete Gruber aber durchaus positiv (ebenso in einem Gutachten

1955, UA Darmstadt, 103 Nr. 64/2).

Im Rahmen eines Kolloquiums anlässlich Grubers 100. Geburtstags 1985 kam es zu hitzigen

Diskussionen, auch Karl Grubers Nähe zum NS-Regime und seine Rolle nach 1945 betreffend.

Ehemalige Schüler, Mitarbeiter und Kollegen verteidigten Gruber gegen die als Angriffe

wahrgenommenen Ausführungen von Helmut Böhme (siehe Literatur; Diskussion dokumen-

tiert in Karl Gruber 100 Jahre, S. 73-117): Schon zu seiner Danziger Zeit sei Gruber von der

„braunen“ Umgebung „scheinbar unberührt“ gewesen (S. 95); nach dem Krieg habe er den

Studenten Halt vermittelt in einer haltlosen Zeit; er habe sich unter anderem durch eine ge-

wisse Toleranz gegenüber Andersdenkenden ausgezeichnet, seine Lehre habe nicht auf „ir-

gendwelchen vorgefaßten ideologischen Meinungen“ (S. 100) basiert, überhaupt habe er nie

eine Ideologie vertreten; gerade auf die „Heimkehrergeneration“ habe er hingegen eine un-

geheure Kraft ausgestrahlt.

Grubers Biograf Andreas Romero machte in seiner Bewertung von Grubers Rolle an der TH

Darmstadt deutlich, dass zumindest eine Stilisierung Grubers als von den Nazis Diffamierter

nicht haltbar sei (Romero, S. 147 f.): Gruber konnte in der NS-Zeit lehren, forschen, publizie-

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ren und bauen; war 1934 und 1935 Vorstand (Dekan) der Architektur-Abteilung; konnte an

reichsweiten Wettbewerben (Verwaltungsforum in Frankfurt an der Oder 1938, Rathaus-

Neubau in Bromberg 1940) teilnehmen; seine finanzielle Existenz war nicht gefährdet (außer

möglicherweise kurzzeitig im Sommer 1933). Grubers Haltung gegenüber dem NS-Regime

wertete Romero als widersprüchlich: Trotz seiner Nähe zur NS-Ideologie (z. B. hinsichtlich

des „neuen deutschen Ostens“) war er kein NSDAP-Mitglied. Während Kollegen aus dem

„Block“ im NS-Regime mit staatlichen Aufträgen „überhäuft“ wurden, blieb ihm der Zugang

zu öffentlichen Bauaufträgen zunächst ganz verschlossen und auch später nur in begrenztem

Umfang möglich:

„Hätte Karl Gruber einen der Wettbewerbe, an denen er teilnahm, gewinnen können, so hätte er

wieder im Blickpunkt einer politischen Fachöffentlichkeit gestanden. So können wir sagen: Er hatte

Glück gehabt; er konnte während des ‚Dritten Reichs‘ im Schatten seiner Professur leben und arbei-

ten, ohne sich exponieren zu müssen“ (Romero, S. 148).

Quellen:

BArch Berlin, NS 5-VI/17588 [Nachrecherche – noch NICHT eingesehen]

BArch, Militärarchiv Freiburg, N 424 Gruber, Karl [Militärischer Nachlass, Laufzeit: 1914-1921; Be-

stand besteht größtenteils aus Aufzeichnungen, Karten- und Bildmaterial (auch Fotos) aus der Zeit

des Ersten Weltkriegs – NICHT eingesehen]

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 5603 (nur Meldebogen)

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 519782 [Entnazifizierungsverfahren Karl Lieser]

HStAD, H 3 Nr. 3561 [Kennkartenmeldebogen]

HStAD, O 61 Wolf, Christa Nr. 434

HStAD, R 12 P Nr. 1768 [Presseberichte]

HStAD, R 4 Nr. 14022

StadtA DA, ST 61, Gruber, Karl

StadtA DA, Skizzen und Pläne (Planserie 05/1945)

UA Darmstadt, 103 Nr. 64/2 [Personalakte Lieser]

UA Darmstadt, 103 Nr. 232/8 + 103 Nr. 232/9 [zweibändige Personalakte Gruber]

UA Darmstadt, 105 Nr. 120 [Akte „Volkssturm“]

UA Darmstadt, Gruber, Karl Prof. Dr. [Pressemappe]

Deutsches Architekturmuseum Frankfurt (DAM), Nachlass Karl Gruber

Literatur:

Böhme, Helmut: Anmerkungen eines Historikers zu Karl Grubers Werk. In: Karl Gruber 100 Jahre.

Städtebauliches Colloquium an der Technischen Hochschule Darmstadt am 3. Mai 1985 zum

100. Geburtstag Karl Grubers. Eine Dokumentation. Darmstadt 1987, S. 33-56.

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229

Durth, Werner: Architekten an der Technischen Hochschule Darmstadt, 1930-1950. In: Dinçkal, No-

yan/Dipper, Christof/Mares, Detlev (Hrsg.): Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hoch-

schulen im „Dritten Reich“. Darmstadt 2010, S. 233-253.

Gruber, Karl: Die Gestalt der deutschen Stadt. Leipzig 1937.

Gruber, Karl: Die Gestalt der deutschen Stadt. In: Ringshausen, Friedrich (Hrsg.): Jahrbuch der Volks-

und Heimatforschung in Hessen und Nassau 1933-1938. Verlag Volk und Scholle Darmstadt 1938,

S. 79-89.

Gruber, Karl (I): Der Neubau des Instituts für Technische Physik. In: Das Institut für Technische Physik

der Technischen Hochschule Darmstadt. Darmstadt 1943.

Gruber, Karl (II): Das deutsche Rathaus. München 1943.

Hanel, Melanie: Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus.

Darmstadt 2014.

Karl Gruber 100 Jahre. Städtebauliches Colloquium an der Technischen Hochschule Darmstadt am

3. Mai 1985 zum 100. Geburtstag Karl Grubers. Eine Dokumentation. Darmstadt 1987.

Romero, Andreas: Baugeschichte als Auftrag. Karl Gruber. Architekt, Lehrer, Zeichner. Braunschweig

1990.

Schmidt, Isabel: Nach dem Nationalsozialismus. Die TH Darmstadt zwischen Vergangenheit und Zu-

kunftsmanagement (1945-1960). Darmstadt 2015.

Straub, Karl Willy: Die Architektur im Dritten Reich. Stuttgart 1932.

Viefhaus, Marianne: Gruber, Karl. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 329 f. [überarbeitete und

erweiterte Online-Version: Anne Holtmann-Mares].

Weihsmann, Helmut: Bauen unterm Hakenkreuz. Architektur des Untergangs. Wien 1998.

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Habichweg (L 8), benannt 1958 nach

Ludwig Habich (1872-1949)

Darmstädter Bildhauer

* 2. April 1872 in Darmstadt

1878-1890 Schulbesuch in Darmstadt (Vorschule des Ludwig-Georgs-Gymnasium, Ludwig-Georgs-

Gymnasium, Realgymnasium)

1879-1886 Zeichnen und Modellieren beim Darmstädter Bildhauer Benedikt König

1887-1890 Unterricht am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main

1890 Abschluss des Realgymnasiums in Darmstadt

1890-1892 Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie in Karlsruhe (zusammen mit seinem

Freund Adolf Beyer), Schüler von Hermann Volz

1892-1896/1900 Studium der Bildhauerei in München, (Meister-)Schüler bei Wilhelm von Rümann

1892 Beginn der Tätigkeit als Porträtist am großherzoglichen Hof in Darmstadt

1894 erstes Modell von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1898 Gründungsmitglied der „Freien Vereinigung Darmstädter Künstler“

1899 Eines der sieben Gründungsmitglieder der Künstlerkolonie Darmstadt

1900 Lebensgroße Figur „Den Sternen entgegen“, in der NS-Zeit mit „Der deutsche Gruß“ tituliert

1901 Monumentalfiguren („Mann“ und „Frau“) am Ernst-Ludwig-Haus sowie Wandbrunnen am Ol-

brich-Haus, Mathildenhöhe Darmstadt

1901/1904 Beteiligung an den Ausstellungen der Künstlerkolonie (Bronzeplastiken, Medaillen,

Schmuckstücke)

1901 „Habich-Villa“ als Wohnhaus für Habich von Joseph Maria Olbrich entworfen und umgesetzt

Ab 1901 Bildhauerkurse an der Kunstschule von Adolf Beyer in Darmstadt

1902 Alice-Denkmal auf dem Wilhelminenplatz, Darmstadt

1903 Goethe-Denkmal im Herrengarten, Darmstadt (Architekt: Adolf Zellner)

1904 Hochzeit mit Sophie Freiin Löw von und zu Steinfurth (zwei Kinder)

1905 Gottfried-Schwab-Denkmal, Mathildenhöhe Darmstadt

1906 Bismarck-Denkmal auf dem Ludwigplatz, Darmstadt

1906-1910 Professor für Bildhauerei an der TH Stuttgart

1910-1937 Professor für Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste in Stuttgart

1913 Hirsch-Figur auf dem Kuppeldach des Kunstgebäudes in Stuttgart

1914 Mitglied des Denkmalsrats für Württemberg

1915-1918 Kriegsdienst als Soldat im Ersten Weltkrieg (Ostfront, Rang: Leutnant)

1918-1919 Direktor der (Württembergischen) Akademie der bildenden Künste in Stuttgart

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr.: 3234552), Ortsgruppe Stuttgart, ab 1937 Ortsgruppe

Darmstadt

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Ca. 1933-1945 Mitglied der NSV

Ca. 1933-1945 Mitglied der RKK

1937 Emeritierung, Rückkehr nach Darmstadt (Villa Habich, Mathildenhöhe)

1940 Mitglied des Beirats für Kultur und Volksbildung der Stadt Darmstadt

1944/1945 wegen Zerstörung seines Darmstädter Wohnhauses zunächst wohnhaft in Traisa bzw.

Eberstadt

1945 Umzug nach Jugenheim an der Bergstraße

† 20. Januar 1949 in Jugenheim

Ehrungen:

1895 Große Silberne Akademie-Medaille in München (für Columbus-Denkmal in Bremerhaven)

1897 Kleine Goldmedaille der Internationalen Kunstausstellung München

Weitere goldene, silberne und bronzene Medaillen im In- und Ausland für seine Kunstwerke

1900 Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens Philipps des Großmüthigen

1902 Verleihung des Professorentitels

1916 Eisernes Kreuz II. Klasse

1917 Hessische Tapferkeitsmedaille

1940 Kulturpreis der Stadt Darmstadt für „Der deutsche Gruß“ (erstmals vergeben; mit 3.000 RM

dotiert)

1972 Ausstellung im Ernst-Ludwig-Haus Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Ludwig Habich, renommierter Darmstädter Bildhauer und eines der ersten sieben Mitglieder

der Künstlerkolonie, hatte sein Hauptwerk 1933 bereits vollendet. In Darmstadt zeugen zahl-

reiche Statuen, Denkmäler und Reliefs bis heute von seiner aktiven Zeit in der Künstlerkolo-

nie (1899-1906).

Von 1910 bis 1937 wirkte Ludwig Habich als Professor für Bildhauerei an der Akademie der

bildenden Künste in Stuttgart, unterbrochen durch seinen Militärdienst im Ersten Weltkrieg

(in den Jahren 1918 und 1919 war er als Direktor der nun „Württembergische Akademie der

bildenden Künste“ genannten Institution tätig). Nach seiner Emeritierung im Jahr 1937 zog

Habich wieder in seine Heimatstadt Darmstadt, wo er auf der Mathildenhöhe die „Villa Ha-

bich“ bewohnte, bis diese beim Bombenangriff vom 11./12. September 1944 zerstört wurde.

Er kam kurzzeitig in Traisa bzw. in der Villenkolonie Eberstadt unter, bevor er im Oktober

1945 nach Jugenheim an der Bergstraße zog, wo er im Januar 1949 verstarb.

Ludwig Habich war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr.: 3234552; Eintritt

datiert auf den 1.5.1933). Zudem war er Mitglied der NSV sowie der RKK.

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Laut dem Werkverzeichnis von Peter Weyrauch hat Habich in der NS-Zeit nur wenige neue

Werke umgesetzt. Einige bereits angefertigte Gips-Modelle wurden in der „Brandnacht“

1944 zerstört und in der Folge nicht mehr ausgeführt.

Im Dezember 1940 wurde Habich die Ehre zuteil, den neu ins Leben gerufenen „Kulturpreis

der Stadt Darmstadt“ zu erhalten, der mit 3.000 RM dotiert war. Gauleiter Jakob Sprenger

zeigte sich auf Anfrage mit der Verleihung einverstanden. Der Preis wurde am 30. Dezember

1940 durch OB Otto Wamboldt feierlich überreicht. Wamboldt würdigte in seiner Ansprache

Habichs Lebenswerk, machte aber deutlich, dass ihm der Kulturpreis vornehmlich für seine

Skulptur „Der deutsche Gruß“ verliehen wurde (so steht es auch auf der Urkunde geschrie-

ben). Die lebensgroße Bronzestatue hebt den ausgestreckten rechten Arm zum Gruß. Sie

geht zurück auf eine Figur, die Habich bereits um 1900 in ganz ähnlicher Weise geschaffen

hatte (Änderungen sind nur im Detail festzustellen). Damals war die Plastik noch „Den Ster-

nen entgegen“ (Weyrauch, S. 69) tituliert; im Zeichen der „neuen Bewegung“ ließ sich der

Jünglingskörper „zeitgemäß-germanisierend“ umarbeiten und umdeuten (bereits 1933/34

hatte Habich eine Statue unter dem Titel „Empor“ basierend auf „Den Sternen entgegen“ in

getöntem Gips geschaffen, Weyrauch, S. 75). „Der völlig unpolitische Künstler wollte den

neuen Machthabern sicherlich nicht schmeicheln“, urteilt zumindest Habichs Biograf Peter

Weyrauch (S. 157). In Habichs Werk finden sich im Übrigen zahlreiche „edle, herrliche Jüng-

lingsgestalten“ (Heyfelder, S. 56), die dem NS-Ideal einer Plastik entsprachen, jedoch in ei-

nem anderen Kontext entstanden. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Kul-

turpreises, die in der Presse zitiert wurde, griff Habich eher aktuelle Bezüge auf:

„Unsere Arbeit für die deutsche Kultur muß eine Dankesleistung sein für die heldenhaften Taten un-

seres Soldaten. Eine ganz besondere Aufgabe erwartet uns hier in Darmstadt, nämlich im Sinne des

Appells des Führers Heimstätten und Siedlungen in wirklich künstlerischer Gestaltung und Durchfor-

mung zu schaffen. Hierbei werden bildende Künstler aller Art sowie die Architekten große Möglich-

keiten haben“ (Hessischer Landbote, 31.12.1940).

Ebenfalls 1940 wurde Habich zum Mitglied des Beirats für Kultur und Volksbildung der Stadt

Darmstadt ernannt (Weyrauch, S. 148).

Seit seiner Kindheit war Habich befreundet mit Adolf Beyer, mit dem er nach seiner Rück-

kehr nach Darmstadt wieder regelmäßigen Kontakt pflegte; beide wohnten in unmittelbarer

Nachbarschaft. Gemeinsam mit Beyer erlebte Habich die „Brandnacht“ 1944 in einem Keller.

Entnazifizierungsverfahren

In seinem Meldebogen zum Entnazifizierungsverfahren gab Habich seine Mitgliedschaft in

der NSDAP 1933-1945 zu Protokoll – seine aus Anfragen verbrieften Mitgliedschaften in NSV

und RKK gab er hingegen nicht an. Aus Habichs Angaben geht zudem hervor, dass er (auch

nach seiner Emeritierung 1937) über relativ hohe Einkünfte verfügte.

In der Akte finden sich (ausschließlich) zahlreiche „Persilscheine“ tradiert, die Habich uniso-

no darstellen als unpolitischen Künstler, der sich nur der Bildhauerei verpflichtet sah; der

während des NS-Regimes keine (staatlichen) Aufträge für NS-Kunst erhalten habe; auch nach

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1933 noch Kontakt zu vielen jüdischen Freunden pflegte; nie an NS-Aufmärschen oder Ver-

sammlungen teilgenommen, dafür sein ganzes Hab und Gut im Krieg verloren habe.

Allein aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP wurde in der Klageschrift dennoch die

Einstufung Habichs in Kategorie III (Minderbelastete) beantragt („Andererseits muß dem

Betroffenen entgegengehalten werden, daß er durch seine Mitgliedschaft zur NS-Partei von

allem Anfang bis zum Zusammenbruch einen Teil der Schuld mitzutragen hat, daß die Ge-

waltpolitik Hitlers festen Boden fand“). Das Gericht schloss sich dieser Auffassung nicht an,

folgte hingegen der Einschätzung von Habichs Anwalt, stufte Habich in Kategorie IV (Mitläu-

fer) ein und verurteilte ihn zu einer einmaligen Zahlung von 500,- RM (27.10.1947). In der

Urteilsbegründung wurde auf die oben genannten Zeugenaussagen rekurriert und wörtlich

erwähnt, dass wegen „dieser seiner Einstellung […] er vielfach Anfeindungen und Schikanen

ausgesetzt“ gewesen sei. Einer der beiden Beisitzer des Gerichts war Peter Grund.

Quellen:

BArch Berlin, NS 5-VI/17592 [nachträglich recherchiert – noch NICHT eingesehen!]

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Land, Nr. 5142

HStAD, R 12 P Nr. 1860

[Im HStAD unter R4 Portrait von Ludwig Habich (Zeichnung) sowie Bilder der Statuen „Deutscher

Gruß“ und dessen Vorbild „Empor“]

StadtA DA, ST 61, Habich, Dr. Ludwig et al.

Literatur:

Heyfelder, Erich: Ludwig Habich und seine Bildhauerschule an der Stuttgarter Kunstakademie. In:

Schwäbisches Heimatbuch. Stuttgart 1935, S. 53-66.

Ulmer, Renate: Habich, Ludwig. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 339.

Weyrauch, Peter: Der Bildhauer Ludwig Habich (1872-1949). Darmstadt 1990.

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Hahne-Schorsch-Platz (H 8), benannt 1976 [NICHT: 1953!] nach

Georg Hahn (1881-1972)

Obermeister der Darmstädter Fahrrad-Mechaniker-Innung

* 20. August 1881 in Darmstadt

Besuch der Mittelschule in Darmstadt; Ausbildung zum Mechaniker (Schlosser Stroh, Arheilger Str.)

1900-1902 Angehöriger der Kaiserlichen Marine (auf verschiedenen Schiffen), Teilnahme an der Nie-

derschlagung des Boxeraufstands in China; insgesamt über zwei Jahre in Asien

1902 Nach der Rückkehr nach Darmstadt Arbeit als Geselle in verschiedenen Firmen

1913 Eröffnung eines eigenen Fahrradgeschäfts (erstes Verleihgeschäft für Fahrräder in Darmstadt)

in der Heinheimer Straße; später Umzug in die Große Ochsengasse sowie in die Schwanengasse (heu-

tige Robert-Schneider-Straße/Ecke Schlossgartenplatz)

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg (Marine, 1914 Wilhelmshafen)

1919 Mitgründer und zeitweise Vorsitzender des „Darmstädter Radsportclubs“

1924 Teilnehmer der Deutschlandfahrt (Motorradrennen)

1924 Gründungsmitglied der „Vereinigten Fahrradhändler Darmstadts“

1924 Firma Georg Hahn & Co., zu der Zeit bestehend aus Fahrrad-Reparaturwerkstatt in der Großen

Ochsengasse sowie Fahrrad-Ladengeschäft in eigenem Haus, erhielt den Namenszusatz „Fahrrad-

haus“ und wurde als „offene Handelsgesellschaft“ geführt; Gesellschafter: Georg Hahn, Mechaniker

in Darmstadt, und Levi Seligmann, Kaufmann in Darmstadt

1928-1945 Mitglied des Reichkriegerbunds (ab 1938: NS-Reichkriegerbund)

1930 Auflösung der offenen Handelsgesellschaft zwischen Georg Hahn und Levi Seligmann

1933 Leitung (Obermeister) der Darmstädter Fahrrad-Mechaniker-Innung

1941-1945 Mitglied des RLB

1942 und 1944 Zerstörung der Werkstätte durch Bombenangriff (jeweils Wiederaufbau)

1951 Initiator des Wiederauflebens der Martinskerb

1952 Initiator der Neugründung des „Bezirksvereins Martinsviertel“ (1894 gegründeter Bezirksverein

war 1933 vom NS-Regime aufgelöst worden)

1952 Wiedergründung und Vorsitzender des Marinevereins Darmstadt

1963 50-jähriges Jubiläum des Fahrradhauses; Eigentümer: Sohn Georg

† 21. Januar 1972 in Darmstadt

Sportleiter des „Darmstädter Motorsportclubs“; Organisator von Rad- und Motorradrennen in und

um Darmstadt

Ehrungen:

1923 Großer Garbati-Preis (als Sieger des Motorradrennens Zürich-Berlin)

1955 Ehrennadel für 50 Jahre unfallfreies Fahren

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1956 Ehrenvorsitzender Bezirksverein Martinsviertel

1961 Ehrenurkunde für verdiente Bürger der Stadt Darmstadt

Ehrenmeister des Deutschen Mechaniker-Handwerks

Ehrenpräsident des Starkenburger Automobil- und Motorsportclubs

Ehrenpräsident des Marinevereins Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Georg Hahn, besser als „Hahne-Schorsch“ oder „Hahne-Goggel“ bekannter aktiver „Martins-

viertler“, war in der NS-Zeit als Fahrrad-Schlossermeister Inhaber eines Fahrradgeschäfts und

Obermeister der Fahrrad-Mechaniker-Innung in Darmstadt.

Als gelernter Mechaniker und begeisterter Radrennfahrer hatte Hahn 1913 einen Fahrradla-

den in der Heinheimer Straße eröffnet, mit dem ersten Fahrrad-Verleih in Darmstadt. 1929

befand sich das Geschäft mit Zweirad-Werkstatt („Fahrradhaus Georg Hahn & Co. oHG“) in

der Schwanenstraße (heute Robert-Schneider-Straße)/Ecke Schlossgartenplatz. Seit 1933

war Hahn als Obermeister mit der Leitung der Darmstädter Fahrrad-Mechaniker-Innung be-

traut. Mitgesellschafter des Fahrradhauses war Levi Seligmann. Laut überlieferter Akten im

Staatsarchiv Darmstadt (HStAD, G 28 Darmstadt Nr. R 1157) wurde die offene Handelsgesell-

schaft zwischen Georg Hahn und Levi Seligmann 1930 aufgelöst; der Grund dafür geht aus

den Akten nicht hervor. Im genannten Bestand findet sich eine Anfrage der Adam Opel AG

aus dem Jahr 1936 nach den Inhabern der Firma Georg Hahn & Co. in den Jahren 1928 und

1929. Der Hintergrund für diese Anfrage ließ sich ebenfalls nicht eindeutig klären.

Die Liegenschaft Schwanenstraße 12, auf der das Fahrradhaus angesiedelt war, gehörte dem

Juden Arie Zwickler, der sich seit 1934 Arie Stiel nannte. 1939 tauchte in Dokumenten als

Eigentümer ein Robert Krüger auf (Kaufmann, wohnhaft in Putbus). Über die genauen Moda-

litäten des Eigentümerwechsels – und ob Georg Hahn hierbei eine Rolle spielte – konnte

nichts Näheres in Erfahrung gebracht werden.

Georg Hahn war kein NSDAP-Mitglied und gehörte auch keiner anderen genuinen NS-

Organisation an. Von 1928 an war er Mitglied des Reichskriegerbunds, der 1938 in NS-

Reichkriegerbund umbenannt wurde; zwischen 1941 und 1945 war er eigenen Angaben fol-

gend Mitglied des RLB. Er war kein Mitglied der Wehrmacht.

Im Fragebogen zum Entnazifizierungsverfahren (HHStAW) gab er als Begründung zu Proto-

koll (für seine Annahme, das Gesetz träfe auf ihn nicht zu): „War stets Nazigegner u. Antifa-

schist“.

Zu Beginn der 1950er Jahre machte sich Hahn als Initiator der Martinskerb und der Neu-

gründung des Bezirksvereins Martinsviertel einen Namen. Er wurde als „Borjemaaster vom

Watzeverdel“ tituliert, war Vorsitzender (und später Ehrenvorsitzender) zahlreicher Vereine

und (beruflicher) Verbände.

Laut dem vorliegenden „Straßenverzeichnis der Stadt Darmstadt mit Erläuterungen zur Na-

mensgebung“ soll der Hahne-Schorsch-Platz im Martinsviertel 1953 nach Georg Hahn be-

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nannt worden sein – also noch zu dessen Lebzeiten. Den Akten des Beirats für Straßenbe-

nennungen und übereinstimmenden Zeitungsmeldungen folgend, wurde der Hahne-

Schorsch-Platz allerdings 1976 benannt (also posthum). Im Protokoll des Beirats für Straßen-

benennung aus dem Jahr 1977 findet sich die Klage darüber, dass der Magistrat den Platz

eigenmächtig benannt habe: „Der Beirat für Straßenbenennung zeigte hiervon sein Befrem-

den, da er nicht wie üblich vor der Benennung gehört wurde.“

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 20565 (nur Meldebogen)

HStAD, G 28 Darmstadt Nr. R 1157

HStAD, H 3 Nr. 64178 [Kennkartenmeldebogen]

StadtA DA, ST 61, Hahn, Georg

StadtA DA, Nachlass Carlo Schneider, Straßennamen in Darmstadt II [Dokumente 1974-1982]

[http://www.dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/ZwicklerArie.htm] Zugriff: 19.09.2016

[http://www.marineverein-darmstadt.de/3.html] Zugriff: 19.09.2016

Literatur:

Christ, Alexa-Beatrice: Hahn, Georg. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 342 f.

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Elisabeth-Hattemer-Straße (F 9), benannt 2011 nach

Elisabeth „Else“ Hattemer (1870-1948)

Politikerin

* 9. Januar 1870 in Bensheim (geb. Hemmes)

Ausbildung zur Oberschullehrerin im katholischen Internat Moselweis; im Anschluss für kurze Zeit

Lehrerin in Vallendar (bei Koblenz) sowie in Köln

1898 Hochzeit mit dem Gymnasialprofessor Karl Hattemer (vier Kinder), Umzug nach Michelstadt

(Odenwald), Hausfrau und Mutter

1901 Umzug nach Darmstadt, wo ihr Mann am Neuen Gymnasium lehrte

Um 1909 Mitglied des Katholischen Mädchenschutzvereins sowie des Elisabeth Vereins St. Martin in

Darmstadt

1912 Mitglied der städtischen Armen- und Fürsorgedeputation

1913 Tod ihres Mannes; alleinerziehende Mutter

1916 Teilnahme an Tagung des Katholischen Deutschen Frauenbunds im Berliner Reichstag

1919 (möglicherweise schon früher) Vorsitzende der Ortsgruppe Darmstadt des Katholischen Deut-

schen Frauenbunds (KDF), später dessen Landesvorsitzende

1919-1933 Mitglied des Hessischen Landtags für das Zentrum

1922 Mitglied des Reichsfrauenbeirats und Reichsausschusses des Zentrums

1924/1928 Kandidatin des Zentrums für die Reichstagswahlen (auf hinterem Listenplatz – aber 1928

als erste Frau; kein Einzug)

1925-ca. 1939 Leiterin des Caritassekretariats in Darmstadt

1928 Schiffsreise mit einem ihrer Söhne

1944 Zugriff durch Gestapo durch Wohnungswechsel verhindert (Quelle: Aussage Enkelin)

1945 Nach dem Krieg aushilfsweise Lehrerin in Viernheim

† 19. Dezember 1948 in Viernheim

Mitglied des Diözesan-Caritas-Vorstands

Ehrungen:

1918 Verleihung des Ehrenzeichens für Kriegsfürsorge durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen

und bei Rhein

Ehrenvorsitzende des Katholischen Frauenbunds Darmstadt

Ehrenkreuz Pro Ecclesia et Pontifice (päpstliche Auszeichnung für besondere kirchliche Verdienste;

verliehen anlässlich der Priesterweihe ihres zweiten Sohnes – auch der erste war Priester)

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Wirken in der NS-Zeit

Elisabeth „Else“ Hattemer war die einzige weibliche Abgeordnete in der Fraktion des Zent-

rums im Landtag des Volksstaats Hessen (und zwar in allen sechs Wahlperioden 1919-1933).

Ingrid Langer beschrieb das Naturell von Else Hattemer wie folgt:

„Sie vereinigte in ihrer Person und in ihrer Biografie – von ihr selbst zutiefst glaubwürdig gelebt und

dargestellt – Mütterlichkeit mit individuellem Selbstbewusstsein, Naivität und Kompetenz, sowie

biedere Provinzialität mit katholisch-motivierter Disziplin, die von einem warmen Interesse an den

Menschen begleitet war“ (Langer, S. 166).

Die Überlieferung hinsichtlich der Biografie Else Hattemers fokussiert auf deren Wirken als

Landtagsabgeordnete 1919-1933. „Sittenreinheit“, vom Katholischen Deutschen Frauenbund

(KDF) früh als Leitlinie für alles Tun propagiert, ließe sich auch als Richtschnur für die Arbeit

von Hattemer im Hessischen Landtag definieren. Sie setzte sich in Anfragen und Debatten

für (christlich geprägte) Mädchenbildung sowie Sozialfürsorge ein und kämpfte entschieden

gegen das sogenannte „Entfesselte Theater“ in Darmstadt. Ihre kulturelle Stoßrichtung wird

gut anhand eines von ihr gemeinsam mit der Zentrums-Fraktion 1929 eingereichten Antrags

zum Thema „Auswüchse in den Darstellungen des Kinos, Theater[s] und in den Auslagen der

Zeitungsstände“ deutlich. In der Debatte hierzu gab Else Hattemer den Ton an („Kampf um

Sein oder Nichtsein der sittlichen Kultur des deutschen Volkes“, „Mißachtung der Frauen-

würde“ etc., zitiert nach Langer, S. 214). Sie kritisierte in ihrer Rede einzelne Theaterstücke

in der Tendenz als „vollkommen bolschewistisch“, alle christlich denkenden Menschen wür-

den sich „mit Empörung und Ekel“ davon abwenden. In ihren Attacken wurde sie von Abge-

ordneten der DNVP (darunter Ferdinand Werner) unterstützt.

Über Else Hattemers Wirken in der Zeit nach 1933 gibt es relativ wenige belastbare Informa-

tionen. Ilse Langer stützt sich in ihrem biografischen Abriss hier hauptsächlich auf Aussagen

einer Enkelin. Demnach behielt Hattemer ihre Ämter in KDF und Caritas auch nach 1933 in-

ne. In Hattemers Wohnhaus in der Herrmannstraße, dessen ersten Stock sie bis 1939 be-

wohnte, befanden sich parterre das Caritas-Büro, deren Leiterin sie war, sowie eine Kinder-

krippe, die von Schönstädter Schwestern betrieben wurde. Beide Einrichtungen mussten im

Laufe der 1930er Jahre geschlossen werden. Hattemer zog sich aus dem öffentlichen Leben

weitgehend zurück, bezog zunächst eine kleinere Wohnung innerhalb Darmstadts und

wohnte ab 1940 die meiste Zeit in Viernheim bei einem ihrer Söhne, der dort Pfarrer war. Sie

blieb aber weiterhin in Darmstadt gemeldet. Laut ihrer Enkelin wurde nach dem Attentats-

versuch auf Hitler am 20. Juli 1944 nach Else Hattemer in Darmstadt gefahndet, die sich zu

der Zeit aber in Viernheim aufhielt und sich so einer möglichen Verhaftung habe entziehen

können (zumindest der Landeshauptkasse Darmstadt war allerdings ab 1943 ihre Adresse in

Viernheim durchaus bekannt, wie entsprechende Dokumente belegen, HStAD, G 35 E Nr.

4367). „Den Nationalsozialismus lehnte sie rigoros ab“, hieß es ohne weitere Erläuterung bei

Ingrid Langer, S. 221 (im Wortlaut übernommen im – nur wenige Zeilen umfassenden – Bei-

trag von Agnes Schmidt im Stadtlexikon Darmstadt).

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Nach Kriegsende – Else Hattemer war bereits 75 Jahre alt – gab sie auf Drängen ihres Sohns

aushilfsweise Unterricht für Jugendliche in Viernheim. Auch im KDF war sie weiterhin aktiv:

Das Protokoll einer Tagung in Frankfurt am Main vom 12.03.1946 vermerkte, dass „Frau

Prof. Hattemer“ die Anwesenden begrüßte und in ihrer Rede betonte, „dass wir Frauen,

auch wenn wir in der heutigen Zeit arm dastehen und alles verloren haben, eine Gemein-

schaft bilden müssen, die Gott sehen und nur sich einen Tempel der Liebe bauen“ (zitiert

nach Langer, S. 221).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente zur 1948 verstorbenen Elisabeth Hattemer

recherchieren.

Quellen:

StadtA DA, ST 61, Hattemer, [u. a.] Else, geb. Hemmes

HStAD, G 35 E Nr. 4367

HStAD, R 4 Nr. 20247 und Nr. 4871 UF

Literatur:

Langer, Ingrid: Zwölf vergessene Frauen. Die weiblichen Abgeordneten im Parlament des Volkstaates

Hessen. Ihre politische Arbeit – ihr Alltag – ihr Leben. Frankfurt am Main 1989, S. 166-221.

Rack, Klaus-Dieter/Vielsmeier, Bernd (Hrsg.): Hessische Abgeordnete 1820-1933. Biografische Nach-

weise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820-1918 und

den Landtag des Volksstaats Hessen 1919-1933. Darmstadt 2008.

Schmidt, Agnes: Hattemer, Elisabeth. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 351.

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Gerhart-Hauptmann-Straße (E-F 8), benannt 1953 nach

Gerhart Hauptmann (1862-1946)

Schriftsteller

* 15. November 1862 in Ober Salzbrunn (Schlesien)

1868-1878 Schulbesuch in Breslau (Dorf- und Realschule)

1878-1879 Landwirtschaftsausbildung, aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen

1880-1882 Besuch der Bildhauerklasse der Kunst- und Gewerbeschule in Breslau

1881 „Liebesfrühling. Ein Lyrisches Gedicht“ (erste Veröffentlichung, Privatdruck)

1882-1883 Besuch von Vorlesungen in Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Jena

1883 Arbeit als freier Bildhauer in Rom (künstlerisches Scheitern und Typhuserkrankung)

1884-1885 Zeichenausbildung in Dresden und Studium der Geschichte in Berlin (abgebrochen)

1885 Heirat mit Marie Thienemann, drei Kinder

1889 „Vor Sonnenaufgang“ (Uraufführung des Stücks begründet Ruhm als Dramatiker)

1892 „Die Weber“ (Hauptwerk)

1904 Nach Jahren in Trennung Scheidung von seiner Frau Marie und Heirat mit Margarete Marschalk,

mit der er bereits einen Sohn hatte (1900) und seit 1901 weitgehend in Agnetendorf (Schlesien) lebte

1905 Mitglied der „Gesellschaft für Rassenhygiene“

1910 „Der Narr in Christo Emanuel Quint“ (erste Romanveröffentlichung)

1913 „Atlantis“ (erste Verfilmung eines seiner Werke)

1918 Öffentliches Bekenntnis zur Republik

1926-1943 Sommermonate auf Hiddensee

1928 Eintritt in die Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste (1926 noch abge-

lehnt)

1932 Amerikareise anlässlich des Goethejahrs

1933 Unterzeichnung einer Loyalitätserklärung der Deutschen Akademie der Dichtung

1933 Antrag auf Mitgliedschaft in NSDAP wird abgelehnt [für diesen Antrag gibt es keine Belege, nur

Zeitzeugenaussagen!]

1940-1944 Atriden-Tetralogie: Iphigenie in Delphi, Iphigenie in Aulis, Agamemnons Tod, Elektra

1942 Erscheinen der Ausgabe letzter Hand in 17 Bänden

1942 Hauptmann-Büste von Arno Breker

1943-1944 Arbeit am Roman „Der neue Christophorus“

1944 „Mignon“ (Novelle; erscheint posthum 1947)

† 6. Juni 1946 in Agnetendorf/Schlesien

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Ehrungen:

1896-1905 Grillparzer-Preis (1896, 1899, 1905)

1905 Volksschiller-Preis, Ehrendoktor der University of Oxford, Ehrenmitglied der Berliner Secession

1909 Ehrendoktor der Universität Leipzig

1912 Nobelpreis für Literatur

1922 Ehrungen anlässlich seines 60. Geburtstags (darunter Gerhart-Hauptman-Festspiele in Breslau,

Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main, Adlerschild des Deutschen Reichs, Ehrenbürgerschaften)

1924 Orden Pour le Mérite (Friedensklasse)

1932 Ehrendoktor der Columbia University

1942 Ehrungen anlässlich seines 80. Geburtstags (darunter Niederschlesischer Schrifttumspreis, Si-

ling-Ring, Ehrenring der Stadt Wien, „Hauptmann-Tage“ in Wien)

1944 Aufnahme auf sogenannte „Gottbegnadeten-Liste“: Auflistung der unersetzlichen Künstler (als

einer von sechs Schriftstellern)

Posthum Benennung von Straßen und Schulen; mehrere Gedenkstätten und Denkmäler

Wirken in der NS-Zeit

Gerhart Hauptmann, bedeutender deutscher Dramatiker/Schriftsteller um die vorvergange-

ne Jahrhundertwende und 1912 Träger des Literatur-Nobelpreises, zeigte sich von der Per-

son Adolf Hitler begeistert, lehnte aber zentrale Elemente der NS-Ideologie ab.

„Hauptmann war kein Parteimann (geschweige denn ein Parteigenosse) und wurde es auch

nach 1933 nicht, er war aber empfänglich für die von Hitler ausgehende Faszination, sofern

sich dieser als unabhängiger Einzelner, als ‚Weltgenie‘ inszenierte“, konstatierte Haupt-

manns Biograf Peter Sprengel in seiner jüngst erschienen Veröffentlichung zu „Gerhart

Hauptmann im ‚Dritten Reich‘“ (Sprengel 2015, S. 132). Tatsächlich war Hauptmann kein

Mitglied der NSDAP; Sprengel schätzt die Geschichte über einen angeblichen Mitgliedsantrag

Hauptmanns, der nicht bewilligt worden sei, als eher unglaubwürdig ein (vgl. dazu u. a. den

Eintrag „Gerhart Hauptmann“ bei Wikipedia).

Auf der einen Seite verehrte Hauptmann Adolf Hitler, mit dessen Werk „Mein Kampf“ er sich

intensiv auseinandersetzte (er bezeichnete das Werk als „die in der Tat sehr bedeutende

Hitlerbibel“, Klee, S. 232), auf der anderen Seite lehnte er die NS-Rassentheorie (und die da-

von abgeleiteten Rassengesetze vom Sommer 1935) kategorisch ab – obgleich er 1905 eines

der ersten Mitglieder der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ war. Er bewunderte den Redner

Hitler, reichte ihm anlässlich der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer am 15. No-

vember 1933 (Hauptmanns 71. Geburtstag) symbolträchtig die Hand und goutierte, dass sein

Stück „Die goldene Harfe“ – laut Presseberichten „auf besondere Verfügung des Reichskanz-

lers Adolf Hitler“ – anlässlich der Grundsteinlegung für das „Haus der Deutschen Kunst“ in

München uraufgeführt wurde. „Rassenmischungen“ galten ihm jedoch als Bereicherung

(„Trotz Nürnberg und Gott weiß was, Gott / Ich jedenfalls bin ein Hottentott“, zitiert nach

Sprengel 2009, S. 84); gleichfalls hegte er kein Verständnis für NS-Euthanasie-Maßnahmen

(Sprengel 2015, S. 134).

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Entgegen einer verbreiteten Vorstellung hatte Hauptmann kaum unter Aufführungsverboten

zu leiden – mit einer wichtigen Ausnahme: An eine Aufführung seines zentralen Werks „Die

Weber“ war zwischen 1933 und 1945 nicht zu denken. Einzelne, weniger zentrale Stücke

fielen der Zensur zum Opfer; andere Werke, die sich leichter an der Blut-und-Boden-

Ideologie anlehnen ließen, stiegen aus der Versenkung. Der bereits erwähnten ersten Urauf-

führung während der NS-Zeit im Jahr 1933 folgten weitere fünf Premieren, wenngleich zu-

nächst nicht auf führenden Bühnen. Erst vor dem Hintergrund des Einflusses des Kriegs (und

der damit einhergehenden „Lockerung der kulturpolitischen Zügel“, Sprengel 2015, S. 137)

gelangten Hauptmanns Erstaufführungen wieder an renommierte Häuser. Besonders zu

nennen wären hier die Premieren im Zuge der Atriden-Tetralogie in Berlin und Wien (Spren-

gel 2009, S. 310 ff.): Die Aufführung der „Iphigenie in Aulis“, an Hauptmanns 81. Geburtstag

1943 am Wiener Burgtheater, gilt als sein letzter großer Triumph als Dramatiker. Insbeson-

dere 1937, im Jahr seines 75. Geburtstags, wurden an zahlreichen Häusern unterschiedliche

Stücke aus Hauptmanns Repertoire aufgeführt.

Hauptmann verstand sich als unpolitischer Dichter; tatsächlich fand nationalsozialistisches

Gedankengut keinen Eingang in seine veröffentlichten Werke. Jan-Pieter Barbian vertrat die

Auffassung, dass groteskerweise gerade die harsche Kritik der emigrierten Literaten „den

unkritischen, aber zunächst noch völlig unentschlossenen Dichter in die Arme der neuen

Machthaber“ getrieben habe. Hauptmann honorierte die „Errungenschaften“ des NS-

Regimes (Überwindung der Einzelstaaten, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher

Erfolg) ohne Einschränkung (so Barbian, S. 47). Auch trug er die außenpolitische Entwicklung

im NS-Deutschland der Jahre 1934-1939 vollständig mit. Bereits im November 1933 wurde in

deutschen Zeitungen eine Erklärung Hauptmanns veröffentlicht, in der er den „Austritt aus

dem sogenannten Völkerbund, den unser leitender Staatsmann verfügt hat“, befürwortete.

Auch der Überfall auf Polen und der Krieg gegen Frankreich, Belgien und die Niederlande

schien Hauptmann nicht vom „Führer“ und dem NS-Regime zu entfremden, wie ein Tage-

bucheintrag nahelegt: „Deutschland steht vor der Weltherrschaft, jedenfalls von Europa un-

ter deutscher Führung. […] und ein einziger, übermenschlicher Wille, der Wille Hitlers, hat es

bewirkt“ (Tagebucheintrag aus dem Nachlass, zitiert nach Barbian, S. 49).

Weniger eindeutig ist Hauptmanns Auffassung zu Hitlers „Judenpolitik“. Mit ignoranten Be-

merkungen soll Hauptmann die Verfolgung der Juden durch das NS-Regime abgetan haben

(Ebermayer, S. 264, Tagebucheintrag vom 15.02.1934) – obwohl viele seiner jüdischen

Freunde in Konzentrationslager deportiert oder ins Exil getrieben wurden. Hauptmann wur-

de von (ehemaligen) Weggefährten vorgeworfen, dass er weiterhin ein erlesenes Frühstück

in einem Luxushotel dem Blick in die politische Realität vorgezogen hätte. Zugleich setzte

sich Hauptmann 1933 und 1934 in Einzelfällen für rassisch Verfolgte ein, etwa für Max Lie-

bermann und Oskar Loerke, und verfasste im Oktober 1934 einen Nachruf auf den Verleger

Samuel Fischer. In den folgenden Jahren fanden sich hingegen kaum mehr Belege dafür, dass

sich Hauptmann für Verfolgte des NS-Regimes aktiv einsetzte (Barbian, S. 48). Peter Sprengel

urteilte, dass Hauptmann „die Besonderheit und besondere Gefährlichkeit der auf den Holo-

caust zielenden antijüdischen Politik Hitlers“ nicht rechtzeitig und in vollem Umfang erkannt

habe (Sprengel 2015, S. 134 f.)

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Das NS-Regime versuchte (so die in der Literatur gängige Auffassung) den bekannten und

beliebten Schriftsteller für seine Zwecke zu instrumentalisieren, wenngleich seine Kunst von

hochrangigen NS-Protagonisten mindestens als ambivalent angesehen wurde. Joseph Goeb-

bels etwa, der inhaltlich wenig mit Hauptmanns Bühnenstücken anfangen konnte, notierte

im November 1936 in seinem Tagebuch, nachdem er Hauptmann in der Berliner Volksbühne

begegnet war:

„[…] ein alter Mann, etwas selbstgefällig und eitel und vollkommen schimmerlos der modernen Zeit

gegenüber. Mit dem kann man keine Lorbeeren mehr ernten. Aber es ist besser, er ist unser Freund

als unser Feind“ (zitiert nach Barbian, S. 46).

Ganz in diesem Sinne war Goebbels auch 1942 gewillt, anlässlich des 80. Geburtstags von

Hauptmann in Breslau persönlich eine Rede auf den Jubilar zu halten, um gegenüber dem

Ausland die „großzügige Haltung“ des Nationalsozialismus zu demonstrieren. Unterschiedli-

che Auffassungen bezüglich der Person Hauptmanns zwischen dem Propagandaminister

Goebbels (in Personalunion auch Präsident der Reichskulturkammer) und anderen hochran-

gigen Parteifunktionären dokumentiert in diesem Zusammenhang die Einschätzung Alfred

Rosenbergs, der eine öffentliche Ehrung Hauptmanns (im Sinne einer kulturpropagandisti-

schen Aufwertung des „Repräsentanten der Republik“) entschieden ablehnte. Schließlich

verzichtete Goebbels auf einen persönlichen Auftritt bei den Feierlichkeiten in Breslau;

Hauptmann bekam mit dem Niederschlesischen Schrifttumspreis eine Auszeichnung auf

Gauebene verliehen (ausführlich zu den Planungen der Feierlichkeiten und den unterschied-

lichen Auffassungen seitens des NS-Regimes diesbezüglich Barbian, S. 51-57). Im Zuge der

Feierlichkeiten nahm Hauptmann von Gauleiter Baldur von Schirach, der extra aus Wien

nach Breslau gereist war, zudem den Ehrenring der Stadt Wien entgegen. Auch wurde ein

Glückwunsch-Telegramm des „Führers“ verlesen. Am folgenden Tag reiste Hauptmann (ge-

meinsam mit von Schirach und dem Gauleiter von Niederschlesien, Karl Hanke) nach Wien,

wo im Rahmen der „Hauptmann-Tage“ in 23 Vorstellungen sieben Stücke des Dramatikers

gespielt wurden (Sprengel 2015, S. 141). Ebenfalls in das Jahr 1942 fielen die Veröffentli-

chung der 17 Bände umfassenden Werkausgabe sowie die Anfertigung der Hauptmann-

Büste durch Arno Breker, zu der Zeit exponierter Vertreter der NS-Kunst.

Von führenden Stellen des NS-Regimes wurde Hauptmanns politische Anschauung als unzu-

reichend bewertet, wie sich aus einer Stellungnahme des „Amts Rosenberg“ aus dem Jahr

1942 ableiten ließ: „Bei aller Anerkennung der künstlerischen Gestaltungskraft Hauptmanns

ist die weltanschauliche Haltung der meisten seiner Werke vom nationalsozialistischen

Standpunkt aus kritisch zu betrachten“ (11.09.1942, BArch, NS 18/307). Dennoch wurde

Hauptmann 1944 als „überragende nationale Persönlichkeit“ auf die sogenannte „Gottbe-

gnadeten-Liste“ aufgenommen: Er fand Eingang auf die „Sonderliste der sechs wichtigsten

Schriftsteller“.

Ein interessantes (und zugleich irritierendes) Ergebnis der jüngeren biografischen Forschung

zu Hauptmanns Wirken in der NS-Zeit liegt in der Erkenntnis, dass in seiner niederschlesi-

schen, herrschaftlichen Villa „Wiesenstein“ in Agnetendorf, die der Schriftsteller selbst als

Ort innerer Emigration verklärte, neben Kritikern der NS-Herrschaft auch einflussreiche Re-

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präsentanten des NS-Regimes verkehrten (Sprengel 2009, S. 317-323, Sprengel 2015, S. 142);

darunter der Generalgouverneur Hans Frank („Judenschlächter von Krakau“), den Haupt-

mann – laut Peter Sprengel – „gerade menschlich“ schätzte.

In einer seiner letzten Veröffentlichungen (im Auftrag des Propaganda-Amts Breslau), dem

Prosatext „Dresden“, berichtete Hauptmann von der Bombardierung der Stadt im Februar

1945, deren Zeuge er geworden war. Durch gezielte Kürzung gelang es den zuständigen NS-

Stellen, aus der von Hauptmann eigentlich formulierten Klage eine Anklage (gegen die

Kriegsgegner) zu machen.

Nach 1946 gab es Bemühungen einer „postume[n] Ehrenrettung“ (so Barbian, S. 58), die

Hauptmanns Einstellung zum Nationalsozialismus zu relativieren versuchten. Jan-Pieter Bar-

bian beurteilte diese aufgrund der ihm vorliegenden Dokumente als nicht gerechtfertigt:

„Dagegen sprechen seine im Mai 1933 erfolgte Rückkehr nach Deutschland, viel mehr aber noch

seine äußerliche Anbiederung an die neuen Machthaber, seine gemeinsamen Auftritte mit NS-

Größen in der Öffentlichkeit, die Vielzahl seiner ‚bedauerlichen Erklärungen‘ für das deutsche Vater-

land und die Bereitschaft, seine Dramen zum Vorteil des Regimes im In- und Ausland aufführen zu

lassen“ (Barbian, S. 58).

Barbian attestierte Hauptmann einen Mangel an politischem Gespür, unkritische Autoritäts-

gläubigkeit sowie bedingungslosen Nationalismus. Die „Instrumentalisierung“ durch das NS-

Regime ließ Hauptmann demzufolge (wissentlich) geschehen. Seinen früheren Freunden

musste dies, so Barbian, wie Verrat an vermeintlich gemeinsamen, humanistischen Idealen

vorgekommen sein.

Da Hauptmann im Juni 1946 auf seinem Anwesen in Agnetendorf verstarb, ließen sich keine

Entnazifizierungsdokumente recherchieren.

Quellen:

BArch Berlin, NS 18/307

Literatur:

Barbian, Jan-Pieter: Zwischen allen Stühlen. Gerhart Hauptmann im „Dritten Reich“. In: Gerhart

Hauptmann. Text + Kritik 1999, S. 43-63.

Ebermayer, Erich: Denn heute gehört uns Deutschland... Persönliches und politisches Tagebuch. Von

der Machtergreifung bis zum 31. Dezember 1935. Hamburg/Wien 1959.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am

Main 42013, S. 232.

Sprengel, Peter: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Berlin

2009.

Sprengel, Peter: „Tragik der Menschheit überhaupt“? Gerhart Hauptmann im „Dritten Reich“. In:

Benz, Wolfgang/Eckel, Peter/Nachama, Andreas (Hrsg.): Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Pro-

tagonisten. Berlin 2015, S. 131-144.

Tempel, Bernhard: Daten zu Leben und Werk Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann. Text +

Kritik 1999, S. 110-115.

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Georg-Hensel-Weg (J 9), benannt 1997 nach

Georg Hensel (1923-1996)

Darmstädter Theaterkritiker, Journalist und Schriftsteller

* 13. Juli 1923 in Arheilgen

1929-1933 Besuch der Volksschule in Arheilgen

1933-1941 Besuch der Liebigs-Oberrealschule in Darmstadt

1934-1941 nach „Überführung“ der Evangelischen Jungschar Mitglied im „Deutschen Jungvolk“ der

HJ, ab 1938 Mitglied der eigentlichen HJ

1941 Abitur in Darmstadt

1941 Mitglied des RAD

1941-1945 Mitglied der Wehrmacht, Kriegsteilnehmer: Dienst als Funker in Nachrichten-Einheiten,

höchster Rang 1944: Obergefreiter

1945 Unterschlupf auf einer Almhütte, dann Rückkehr nach Darmstadt

1945-1974 Mitarbeiter des Darmstädter Echos; erster Volontär der Zeitung 1945, seit 1952 Leiter des

Feuilletons

1946 „Der Narr und die Maske“ (Privatdruck)

1948-1951 Einladungen zu Tagungen der „Gruppe 47“

1949 „Nachtfahrt“ (Roman)

1950 Heirat mit Anne Elisabeth Müller (ein Sohn)

Seit 1960 Autor (besonders von Theaterkritiken) für „Theater heute“ sowie für große Tageszeitungen,

darunter „Die Welt“ und die SZ

Seit 1964 Mitglied des Rotari Clubs Darmstadt

1966 „Spielplan. Dramen und Dramatiker von der Antike bis zur Gegenwart“ (Theaterführer, zwei-

bändiges Standardwerk; mehrfach von Hensel überarbeitet, zuletzt 1995)

1975 „Der Datterich im Darmstädter Biedermeier“

1975-1989 Leitender Theaterkritiker der FAZ, befreundet über 1989 hinaus mit Marcel Reich-Ranicki

Seit 1984 Ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

1994 „Glück gehabt. Szenen aus einem Leben“ (Autobiografie)

1995 „Glücks-Pfennige. Lustvolles Nachdenken über Theater, Literatur und Leben“

† 17. Mai 1996 in Darmstadt

Ehrungen:

1968 Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik [verliehen von der Deutschen Akademie für

Sprache und Dichtung für „Spielplan“]

1973 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt

1982 Julius-Bab-Kritikerpreis des Bundesverbands deutscher Volksbühnen

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1982 Carl-Zuckmayer-Medaille (Land Rheinland-Pfalz)

1983 Egon-Erwin-Kisch-Preis

1995 Goethe-Plakette des Landes Hessen

Wirken in der NS-Zeit

Georg Hensel, renommierter Darmstädter Theaterkritiker sowie Leiter des Feuilletons beim

Darmstädter Echo, später leitender Kritiker der FAZ, war Mitglied der HJ und als junger Mann

(im Alter von 17 bis 21 Jahren) als Soldat der Wehrmacht Kriegsteilnehmer als „Horchfunker“

einer Nachrichtenabteilung.

Hensel kam 1933 auf die Liebigs-Oberrealschule nach Darmstadt. Er hatte eine sogenannte

Freistelle, die er jedes Jahr aufs Neue über herausragende Leistungen bestätigen musste. In

seiner Autobiografie 1994 beschrieb Hensel, wie sich der Nationalsozialismus auf Jungen wie

ihn aus seiner Sicht auswirkte:

„Wer in jenen Jahren aufwuchs, dem wurde der Nationalsozialismus wie ein Sack über den Kopf ge-

zogen. Die Lebensbedingungen mussten nicht einmal bewusst gelernt werden, sie wuchsen uns zu,

wir wuchsen in sie hinein. Wir kannten nur die Welt, in der wir lebten, und wir hielten sie für normal.

Um die staatlich verordnete Beschränktheit nur zu erkennen, mußten viele Umstände zusammmen-

kommen: Erlebnisse, Menschen, Bücher“ (Glück gehabt, S. 42).

Im Jahr 1934 wurde die Evangelische Jugend aufgelöst und ging in der HJ auf. Als Zehnjähri-

ger kam Hensel so – zuvor Mitglied der Jungschar – zum „Deutschen Jungvolk“ in der HJ, wo

er „Jungenschaftsführer“ wurde (was dem Rang eines Unteroffiziers entsprach). 1936 sollte

er zum „Jungzugführer“ befördert und zu diesem Zweck in Darmstadt ausgebildet werden.

Seinen Lebenserinnerungen zufolge gelangte Hensel während dieses Lehrgangs zu der Ein-

sicht, dass die Welt der HJ mit seiner – schon stark von der Lektüre eigentlich verbotener

Literatur geprägten – Vorstellungswelt nicht in Einklang zu bringen war:

„Beim Lehrgang trugen wir nicht die üblichen schwarzen Jungenschaftsblusen, sondern graue Feld-

blusen und wurden auf dem nahen Exerzierplatz wie Rekruten bis zur Erschöpfung gedrillt. Es gab

Unterricht über ‚das nationalsozialistische Gedankengut‘, über das ich mir vorher kaum Gedanken

gemacht hatte. Nun aber kam es systematisch und konzentriert und wurde ungeheuer ernst genom-

men. Nachts konnte ich nicht schlafen, weil all das zu dem nicht paßte, was ich gelesen und gelernt

hatte. Bis dahin waren das tägliche Leben und die tägliche Lektüre beziehungslos nebeneinander

hergelaufen. Zum ersten Mal, spät genug, griffen die Leselektionen in den Alltag ein“ (Glück gehabt,

S. 61).

Der letzte Eintrag in seinem „Leistungsbuch“ datierte vom 8. August 1936; er gab sein Amt

auf, wechselte 1938 in die eigentliche HJ, die sich „wenigstens in Arheilgen, auf unzähmbare

Rüpeleien gegen die Vorgesetzten beschränkte“ (S. 62). Während es ihn 1933 noch empört

hatte, dass der ortsansässige jüdische Hühnerfutterhändler von der SA in den Tod getrieben

wurde (Hensel beschreibt dies als eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen), stellten für

ihn die Ereignisse rund um die Pogromnacht im November 1938 keinen Grund mehr für Em-

pörung dar.

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Nach dem Abitur 1941 wurde Hensel zunächst zum RAD eingezogen (RAD 8/242, Arbeits-

mann, HHStAW, DD). Er meldete sich daraufhin freiwillig zum Kriegsdienst, weil er sich nur

dadurch – so Hensel – die Waffengattung aussuchen konnte.

„Den Sack der nationalsozialistischen Erziehung hatte ich mir so weit vom Kopf gezerrt, daß ich, sieb-

zehn Jahre alt, wußte: Was man mir in Zukunft auch raten oder befehlen mochte, für mich gab es nur

noch eine einzige ernsthafte Aufgabe: den Kopf zu retten“ (S. 80).

Er meldete sich wiederum freiwillig zur Funker-Ausbildung – in der Hoffnung, so möglichst

weit von der Front entfernt eingesetzt zu werden. Tatsächlich wurde er 1943 zu einer „Nach-

richten-Fernaufklärungs-Kompanie“ kommandiert (NAFAK 626, Rang 1944: Obergefreiter,

HHStAW, DD); schließlich wurde seine Arbeit als „führungswichtig“ eingestuft und ihm „der

infanteristische Fronteinsatz verboten“. In seinen Kriegstagebüchern stand „kein Wort über

den Krieg“:

„Sie lesen sich wie Reisebeschreibungen eines zivilen Touristen. Es sind Notizen und kleine Aufsätze

über Landschaften, Städte und Menschen. Skizzen von friedlichen Alltäglichkeiten, die es so nicht gab

zwischen Kursk und dem Asowschem Meer, zwischen Charkow und dem Kaukasus, zwischen Buka-

rest, Budapest, Bratislava und Baden-Baden“ (S. 90).

Gemeinsam mit Kameraden desertierte Hensel kurz vor Kriegsende und versteckte sich mit

einem Freund auf einer Almhütte in Oberbayern. Er wurde schließlich offiziell aus der

Wehrmacht entlassen, entging so der Kriegsgefangenschaft und kehrte noch im Sommer

1945 nach Darmstadt (Arheilgen) zurück. Im November 1945 begann er offiziell (mit Geneh-

migung seitens der Militärregierung) seine Ausbildung beim Darmstädter Echo.

Georg Hensel war außer in der HJ in keiner anderen NS-Organisation Mitglied. Seine Anga-

ben im Fragebogen des Entnazifizierungsverfahrens (von dem nur der Meldebogen vorliegt)

stimmen mit denen in seinen veröffentlichten autobiografischen Zeugnissen überein. Hensel

gab unter dem Punkt „Selbsteinschätzung“ an: „Entlastet (Jahrgang 1923)“.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 3625/47 (nur Meldebogen)

HStAD, R 12 P Nr. 2133

StadtA DA, ST 61, Hensel, Georg

Literatur:

Deppert, Fritz: Hensel, Georg. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 370 f.

Hensel, Georg: Glück gehabt. Szenen aus einem Leben. Frankfurt am Main 1994.

Hensel, Georg: Georg Hensel. In: Assmann, Michael (Hrsg.): „Wie sie sich selber sehen“. Antrittsreden

der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie. Göttingen 2000, S. 270-272 [Erstdruck

1985].

Hensel, Georg: Etappen. Viernheim 1956.

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Elly-Heuss-Knapp-Weg (L 8), benannt 2004 nach

Elly Heuss-Knapp (1881-1952)

Politikerin und Sozialreformerin

* 25. Januar 1881 in Straßburg (Elsaß)

1899 Lehrerinnenexamen in Straßburg, Lehrerin an einer Privatschule

1900 Lehrerin für Bürgerkunde an einer Fortbildungsschule für Mädchen in Straßburg

1905-1906 Studium der Volkswirtschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Berlin

1906 Wiederaufnahme des Unterrichts in Straßburg und Beginn ihrer Vortragstätigkeit

1908 Heirat mit Theodor Heuss in Straßburg (ein Sohn), Umsiedlung nach Berlin; fortan schriftstelle-

rische Tätigkeit

1911 Lehrerin an der Sozialen Frauenschule Alice Salomons

1912 Umzug nach Heilbronn

1914-1918 Arbeitsvermittlung für Frauen von Soldaten im Felde in Heilbronn; Fortsetzung der Vor-

tragstätigkeit

1918 Umzug nach Berlin, Lehrerin im Pestalozzi-Fröbel-Haus und in der Sozialen Frauenschule

1919/20 Erfolglose Kandidaturen zur Weimarer Nationalversammlung (1919) und zum Deutschen

Reichstag (1920)

1923 Mitarbeit in der Evangelischen Gemeinde zum Heilsbronnen in Berlin-Schöneberg, über mehre-

re Jahre Teilnahme an religionspädagogischen Seminaren

1926-1933 Lehrerin am Burckhardt-Haus in Berlin-Dahlem

Seit 1928 Rundfunkvorträge

1931-1933 Mitglied des Kulturbeirats am Berliner Rundfunksender

1933-1942 Werbefachfrau und -beraterin namhafter Firmen in Deutschland und der Schweiz, Rund-

funk-/Schallplattenwerbung, nach dem Verbot der Rundfunkwerbung ab 1935 Kinowerbefilme

1934 „Ausblick vom Münsterturm. Erlebtes aus dem Elsaß und dem Reich“ (Autobiografie)

1939 Italienreise (Mai); Werbefilmarbeiten auf Baltrum (Juli)

1943 Aufenthalt auf dem „Boschhof“ in Oberbayern, dort Arbeit als Hauslehrerin

1943 Umsiedlung nach Heidelberg-Handschuhsheim (zu ihrer Schwester)

1945 Wiederaufnahme der publizistischen Tätigkeit und Umzug nach Stuttgart

1946-1949 Mitglied des Landtags von Württemberg-Baden in Stuttgart (erst DVP, dann FDP)

1949 Umsiedlung nach Bonn-Bad Godesberg

1949 Mitbegründerin des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, dessen Vizepräsidentin

1950 Umsiedlung nach Bonn, Villa Hammerschmidt

1950 Gründung der „Elly-Heuss-Knapp-Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk“

† 19. Juli 1952 in Bonn

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Ehrungen:

Ehrenbürgerin von Badenweiler

Benennung zahlreicher Schulen und Straßen

Wirken in der NS-Zeit

Elly Heuss-Knapp, Politikerin, Publizistin und Sozialreformerin, war 1933-1945 von ihrem

öffentlich-politischen Wirken weitgehend ausgeschlossen. Einer breiteren Öffentlichkeit be-

kannt wurde sie nach 1945 als Ehefrau des ersten deutschen Bundespräsidenten; als ihr

wichtigstes Vermächtnis gilt das von ihr 1950 ins Leben gerufene Müttergenesungswerk.

Elly Heuss-Knapp und ihr Mann, Theodor Heuss, gelten (und galten) allgemein als Gegner des

NS-Regimes. Theodor Heuss wurde von seiner Lehrtätigkeit an der Deutschen Hochschule für

Politik entbunden; er verlor 1933 auch sein Reichstagsmandat. Heuss arbeitete in der NS-Zeit

verstärkt an Biografien – für das Familieneinkommen trug vornehmlich Elly Heuss-Knapp

Sorge. Auch sie war – wohl aufgrund einer Denunziation (Vater, S. 223, Strerath-Bolz, S. 83) –

zur Aufgabe ihrer Lehrtätigkeit am Burckhardthaus (evangelisches Bildungsinstitut) gezwun-

gen. Eine Durchsuchung ihres Wohnhauses im Oktober 1933 verstärkte die allgemeine Ver-

unsicherung.

Auf Anregung ihres Cousins Hermann Geiger-Otto, der die Wybert-Gaba-Werke in Basel lei-

tete, begann Elly Heuss-Knapps Arbeit in der Werbebranche (zum Folgenden siehe die Briefe

bei Vater, S. 230 ff.). Insbesondere im neuen Feld der Rundfunkwerbung betätigte sie sich

mit großem (auch finanziellem) Erfolg. Sie verband gereimte Werbebotschaften mit einem

musikalischen Warenzeichen – Heuß-Knapp gilt allgemein als Erfinderin des „Jingles“ – und

nahm zahlreiche Werbeschallplatten auf. Ende 1934 arbeitete sie im Werbereich bereits für

ein Dutzend Firmen und bewarb bekannte Produkte und Marken, wie etwa Nivea (Beiers-

dorf) und Persil (Henkel). Im Laufe ihrer Karriere als Werbefachfrau arbeitete sie auch für die

Firmen/Marken AEG, Bosch, Hansaplast, Leica, Kaffee Haag, Kaloderma, Knorr, Osram, Py-

ramidon und Reemtsma. 1937 kauften Elly Heuss-Knapp und ihr Mann das Haus in der Kamil-

lenstraße 3 in Berlin, in dem sie schon seit Jahren zur Miete wohnten.

Ab 1935/36 arbeitete Elly Heuss-Knapp erfolgreich an Werbefilmen, die teils staatlich sub-

ventioniert wurden und im Kino liefen. Im Sommer 1939 etwa weilte sie zu Aufnahmen an

einem Werbefilm für die Fischereiwirtschaft auf der Insel Baltrum. Werbung für private Fir-

men bzw. privaten Konsum wurde immer stärker reglementiert; als dauerhafte Einnahme-

quelle erwies sich die Werbung für Nivea. Noch 1941 entwarf Heuss-Knapp für die Hautcre-

me eine Anzeige. Mit dem Werbeleiter der Produktlinie stand sie in einer Art freundschaftli-

chen Beziehung (Strerath-Bolz, S. 97).

Wenngleich Tagebucheintragungen und Briefe Elly Heuss-Knapps ablehnende Haltung ge-

genüber dem NS-Regime zu bezeugen scheinen, war sie als Werbefachfrau „zu Kompromis-

sen gezwungen“ (Horst Ferdinand): Für das NS-Winterhilfswerk verfasste sie Werbetexte,

ebenso im Januar 1940 im Auftrag des „Reichsinstituts für wirtschaftliche Aufklärung“ eine

Wäschefibel für Hausfrauen („Kriegswaschfibel“). Ein ähnlicher Auftrag erreichte sie von der

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„Reichsstelle für Lederwirtschaft“ – bei der ihr Sohn Ernst Ludwig während des Zweiten

Weltkriegs tätig war. Das Ergebnis war ein Propagandafilm zum Thema „Schuhpflege“.

Neben ihrer Tätigkeit im Bereich der Werbung verfasste Elly Heuss-Knapp 1934 (im Alter von

53 Jahren) eine Autobiografie. Eigentlich vom Verlagsleiter des Ullstein-Verlags, Eduard

Stadtler, dazu animiert, erschien das Buch unter dem Titel „Ausblick vom Münsterturm“ im

Oktober 1934 im Hans-Bott-Verlag Berlin – Ullstein erschien eine Veröffentlichung zu der

Zeit offenbar zu gefährlich.

Elly Heus-Knapp pflegte Kontakte zu Mitgliedern der Bekennenden Kirche, hörte Predigten

von Martin Niemöller in Dahlem und soll – so zuletzt ihre Biografin Ulrike Strerath-Bolz –

auch aufgrund ihrer kirchlichen Kontakte spätestens ab 1938 von der Gestapo überwacht

worden sein.

Ab 1941 gab es für die Werbefachfrau kaum mehr Aufträge. Gesundheitlich angeschlagen

(bereits 1933 und 1935 erlitt sie schwere Herzanfälle) zog sie sich gezwungenermaßen weit-

gehend aus der Werbearbeit zurück. Im Herbst 1943 verließ sie Berlin und folgte ihrem

Mann auf den „Boschhof“ nach Oberbayern. Während Theodor dort im Auftrag der Familie

Bosch an seiner Biografie über den 1942 verstorbenen Robert Bosch arbeitete, unterrichtete

Elly Kinder der Familie Bosch als Hauslehrerin.

Im November 1943 zog das Ehepaar nach Heidelberg, wo im Haus von Ellys Schwester Mari-

anne zwei Dachzimmer frei geworden waren. In Heidelberg erlebte Elly Heuss-Knapp das

Kriegsende, bevor sie noch 1945 nach Stuttgart übersiedelte, wo ihr Mann zum „Kultminis-

ter“ Württemberg-Badens ernannt worden war. Hier nahm sie ihre publizistische Tätigkeit

wieder auf. Als „Krönung ihres sozialen Engagements“ (Goller, S. 22) gründete sie 1950 das

Müttergenesungswerk.

In der eingesehenen biografischen Literatur zu Elly Heuss Knapp steht ihr Wirken in der NS-

Zeit nicht im Zentrum. Alexander Goller widmete dem Zeitraum nur wenige Seiten; Heuss-

Knapps Wirken als Werbefilmerin spart er vollständig aus. Ulrike Strerath-Bolz, die auch auf

unveröffentlichte Dokumente zugreifen konnte, sich hier aber hauptsächlich auf die Briefedi-

tion Margarethe Vaters stützte, rückte Elly Heuss-Knapp in die Nähe des Widerstands gegen

das NS-Regime. Belegen lässt sich das kaum. Schon Vater begründete in ihrem Kommentar

zu den Briefen aus der NS-Zeit die Beobachtung, dass sich in jenen Briefen kaum eindeutige

Stellungnahmen finden lassen, mit Heuss-Knapps Angst vor der Gestapo (Vater, S. 223). Als

Beleg für diese Annahme dienten Äußerungen, die Heuss-Knapp aus der Schweiz an emi-

grierte Bekannte geschrieben hat, und die etwas freier ihr Gefühl der Unterdrückung wäh-

rend der NS-Zeit dokumentierten. Die von Margarethe Vater 1961 herausgegebene Brief-

sammlung entspricht nicht einer wissenschaftlich-kritischen Edition.

Es ließen sich keine Entnazifizierungsakten zu Elly Heuss-Knapp ermitteln.

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251

Quellen:

StadtA DA, ST 61 Heuss, Prof. Dr. Theodor und Heuss-Knapp Elly

Literatur:

Ferdinand, Horst: Heuss-Knapp, Elly. In: Ottnad, Bernd (Hrsg.): Baden-Württembergische Biogra-

phien, Bd. 2. Stuttgart 1999, S. 218-223.

Goller, Alexander: Elly Heuss-Knapp. Gründerin des Müttergenesungswerkes. Eine Biographie.

Köln/Weimar/Wien 2012.

Pikart, Eberhard: Heuss, Elly Heuss-Knapp, geborene Knapp. In: NDB 9 (1972), S. 56 f.

Strerath-Bolz, Ulrike: Elly Heuss-Knapp. Wie die First Lady ihr Herz für Mütter entdeckte. Berlin 2012.

Vater, Margarethe (Hrsg.): Bürgerin zweier Welten: Elly Heuss-Knapp. Ein Leben in Briefen und Auf-

zeichnungen. Tübingen 1961.

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252

Hirschstraße (E 8), benannt 1918 nach

Heinrich Hirsch (1854-1932)

Direktor der Spar- und Darlehenskasse Arheilgen

* 1. November 1854 in Darmstadt

Heirat mit Maria Lang

Bürgermeisterei-Sekretär in Arheilgen

Direktor der Spar- und Darlehenskasse Arheilgen

† 7. November 1932 in Arheilgen

Ehrungen:

1910 Verleihung des Silbernen Kreuzes des Verdienstordens Philipps des Großmüthigen

Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Hirsch, Direktor der Spar- und Darlehenskasse Arheilgen und Bürgermeisterei-

Sekretär, hat kaum Spuren in den aufgesuchten Archiven hinterlassen. Da er bereits 1932 im

Alter von 78 Jahren verstorben ist, existieren keine Entnazifizierungsdokumente; und da die

Straße wohl schon zu Lebzeiten Hirschs (1918) nach ihm benannt wurde, ließen sich auch

keine Dokumente diesbezüglich recherchieren. Einzig die Sterbeurkunde liegt vor.

Es gibt keine Hinweise auf eine Verbindung von Heinrich Hirsch zum NS-Regime.

Quellen:

Standesamt Arheilgen, Sterbeurkunde Heinrich Hirsch

Regierungsblatt 1910, Beilage 31, S. 273.

Literatur:

---

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253

Hoelscherweg (E 7-8), benannt 1978 nach

Richard Hoelscher (1867-1943)

Zeichenlehrer und Kunstmaler

* 5. Februar 1867 in Alsfeld

1873-1883 Schulbesuch in Alsfeld (Vorschule der Realschule sowie Realschule)

1883-1887 Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Kassel

1886 erste Ölskizzen

1887 Prüfung als Zeichenlehrer an höheren Schulen in Berlin

1887/88 Militärdienst in Kassel („Einjährig-Freiwilliger“)

1888-1890 Zeichenlehrer an Schulen in Alsfeld und Offenbach am Main

1890 Umzug nach Darmstadt

1890-1914 Zeichenlehrer am Neuen Gymnasium in Darmstadt

1892 erste Ausstellung beim Kunstverein Darmstadt; in Sommerferien Studienreise nach Italien

1896 „Der Zeichenunterricht im Neuen Gymnasium“ (Programmabhandlung)

1898 Gründungsmitglied der „Vereinigung Darmstädter Künstler“ (1923 Vorsitzender in der Nachfol-

ge Adolf Beyers); Anstellung als Oberlehrer

1908 Mitglied des Kunstausschusses der Hessischen Landesausstellung

1908 Bildnis von Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein für Mainzer Schwurgerichtssaal

1911-1914 Beurlaubung vom Schuldienst auf eigenen Wunsch; Aufenthalt in Alsfeld und Darmstadt,

Reisen nach London, Paris und in die Niederlande

1914 Verlassen des Schuldiensts auf eigenen Wunsch, fortan freischaffender Künstler

1917-1919 Freiwilliger beim vaterländischen Hilfsdienst

1919 Heirat mit Anna Ruths (Ehe kinderlos)

1919-1921 acht Wandbilder („Siegfriedbilder“) für Treppenhaus des Realgymnasiums in Darmstadt,

gestiftet von Ludwig Wagner (London)

Ca. 1921-1928 Bilderzyklus mit Darstellungen aus der Edda für die Augustinerschule in Friedberg

(letzte Bilder laut Esselborn 1936 angebracht)

1926 „Hessenkinder auf dem Schulweg“ (Sitzungssaal Landesamt für das Bildungswesen Darmstadt)

1934-1941 Werkschau sowie Teilnahme an großen Kunst-Ausstellungen in Darmstadt

† 13. März 1943 in Darmstadt

Ehrungen:

1907 Verleihung des Professorentitels durch Großherzog Ludwig von Hessen und bei Rhein

1928 Georg-Büchner-Preis [„in dankbarer Würdigung seines meisterlichen, von Heimatliebe und kla-

rem Menschentum geprägten Werkes“]

1942 Ehrenmünze der Stadt Darmstadt [anlässlich seines 75. Geburtstags]

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Wirken in der NS-Zeit

Richard Hoelscher, aus Alsfeld stammender Zeichenlehrer und Kunstmaler, lebte seit 1890 in

Darmstadt. Das Gros seiner Werke war maßgeblich durch seine Heimat in der Schwalm ge-

prägt, wo er weiterhin regelmäßig die Sommermonate verbrachte, sowie durch die Gegend

um Darmstadt beeinflusst (Landschaftsmalerei, Porträts und andere Motive aus bäuerlichem

Milieu).

Zwischen 1933 und seinem Tod 1943 lebte Hoelscher als freischaffender Kunstmaler in

Darmstadt. Seine eher einfachen Kompositionen sowie seine umfangreichen Bild-Zyklen wa-

ren bis dahin weitgehend unpolitisch. „In den Jahren zwischen 1934 und 1943 schloss er sich

jedoch deutlich der nationalsozialistischen Kunstauffassung an“, wie Barbara Bott konstatier-

te (Bott, S. 147). Unter anderem malte er Bilder von trommelnden Pimpfen und Porträts von

Adolf Hitler (Regionalmuseum Alsfeld, Nachlass Richard Hoelscher).

Hoelscher, „Meister der Heimatkunst“, nahm in der NS-Zeit an großen Ausstellungen in

Darmstadt teil: 1935 Darmstädter Kunstschau „Deutsche Meister“, 1940 Kunstausstellung im

Städtischen Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe und 1941 Zeitgenössische Kunst

aus dem Südwestdeutschen Raume auf der Mathildenhöhe. Anlässlich seines 50-jährigen

Künstlerjubiläums zeigte die Kunsthalle Darmstadt 1934 eine umfassende Werkschau. Mit

seiner „heimatlichen Kunst“ war er regelmäßig in der Zeitschrift „Volk und Scholle“ vertreten

(bereits in deren ersten Ausgabe 1922). „Schon frühe hat er [Hoelscher] erkannt, wo die

starken Wurzeln seiner Kraft und Eigenart liegen und hat sich allen fremdartigen Einflüssen

und Modeströmungen fern gehalten“, urteilte Karl Esselborn 1937 anlässlich von Hoelschers

70. Geburtstags (Esselborn, S. 2). „Seine Kunst ist echt und wahrhaftig. Sie wurzelt in dem

Volkstum seiner oberhessischen Heimat sowohl in der Form- wie in der Farbgebung. Ihr

Grundzug ist ernst, sie vermeidet das Auffallende und Grelle, atmet aber eine tiefe Innerlich-

keit“ (ebenda, S. 7).

Mit der Verleihung der Ehrenmünze der Stadt Darmstadt durch OB Otto Wamboldt anläss-

lich des 75. Geburtstags Hoelschers 1942 löste – so ein Gratulant im „Lauterbacher Anzeiger“

– „das nationalsozialistische Deutschland eine Ehrenpflicht ein, die es seinen würdigsten

Kulturträgern schuldet“.

Es ließen sich keine Nachweise für Mitgliedschaften in NS-Organisationen recherchieren. Da

Richard Hoelscher im März 1943 verstarb, existieren auch keine Entnazifizierungsdokumente

zu seiner Person.

Quellen:

HStAD, G 35 E Nr. 6279

HStAD, R 4, 27715

HStAD, R 12 P Nr. 2342 [Zeitungsartikel]

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StadtA DA, ST 61, Hoelscher, Richard

Regionalmuseum Alsfeld, Nachlass Richard Hoelscher

Literatur:

Bott, Barbara: Gemälde hessischer Maler des 19. Jahrhunderts im Hessischen Landesmuseum Darm-

stadt. Bestandskatalog. Heidelberg 2003, S. 146-156.

Christ, Alexa-Beatrice: Hoelscher, Richard. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 399.

Esselborn, Karl: Ein Darmstädter Maler-Jubiläum. Zum 70. Geburtstag von R. Hoelscher. In:

Darmstädter Wochenschau, Februar 1937, S. 1-7.

Gombert, Ludwig: Die Siegfriedbilder im Realgymnasium zu Darmstadt. Stiftung von Ludwig Wagner

in London. Darmstadt 1925.

Hoelscher, Richard: Richard Hoelscher. Der Lebensweg des Künstlers von ihm selbst geschildert. In:

Volk und Scholle 12 (1934), S. 360-362.

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Irenenstraße (H 7), benannt 1872 nach

Irene Prinzessin von Hessen und bei Rhein (1866-1953)

Tochter von Großherzog Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein

* 11. Juli 1866 in Darmstadt

1878 Erkrankung an Diphterie; Tod der Mutter; fortan in Obhut ihrer Großmutter Victoria in England

1888 Heirat mit Heinrich Prinz von Preußen, drei Kinder

Ehemann bei der preußisch-deutschen Kriegsmarine; Hauptwohnsitz Stadtschloss in Kiel

1889 Teilnahme an Jungfernfahrt des Kreuzers „Irene“ (zu Familientreffen auf Malta)

1894 Erwerb des Landguts Hemmelmark bei Eckernförde

1894 Reise zur Beerdigung Zar Alexander III. sowie zur Hochzeit ihrer Schwester nach St. Petersburg

1898 Seereise zur „Ostasiatischen Kreuzerdivision“ in Kiautschau

1918 nach „Matrosenaufstand“ Rückzug auf Landgut Hemmelmark

1928 Auswanderung des Sohns Waldemar nach Costa Rica; Aufnahme der Enkeltochter Barbara

1929 Tod des Ehemanns und dessen Bestattung im Familien-Mausoleum auf Hemmelmark

1939-1945 zeitweise Aufenthalt auf Schloss Kamenz in Schlesien sowie in Berlin und Potsdam

1945 Rückkehr nach Hemmelmark

† 11. November 1953 in Hemmelmark

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Über Irene Prinzessin von Hessen und bei Rhein, dritte Tochter des Darmstädter Thronfol-

gerpaares (Ludwig IV. Großherzog von Hessen und bei Rhein und Alice Prinzessin von Groß-

britannien), liegen nur wenige Informationen zu ihrem Wirken in der NS-Zeit vor.

Bei Eckhart G. Franz heißt es:

„Im Zweiten Weltkrieg lebte Prinzessin Irene z. T. auf Schloss Kamenz in Schlesien, das Sohn Walde-

mar von seinem Vetter Joachim Albrecht von Preußen geerbt hatte. Waldemar starb auf der Flucht

1945, während die Mutter, zusammen mit der vom Kriegsausbruch in Europa überraschten Enkelin

Barbara […] unbeschadet ins zunächst von der Royal Air Force beschlagnahmte Hemmelmark zurück-

kehrte“ (Franz, S. 372 f.).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsakten zu Irene ermitteln, die bei Kriegsende 1945 be-

reits 78 Jahre alt war.

Quellen:

StadtA DA, ST 61, Irene von Hessen, Prinzessin

Literatur:

Franz, Eckhart G. (Hrsg.): Haus Hessen. Biografisches Lexikon. Darmstadt 2012, S. 371-373.

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Heinrich-Jobst-Treppe (J 9), benannt 2001 nach

Heinrich Jobst (1874-1943)

Bildhauer und Medailleur

* 6. Oktober 1874 in Schönlind (heute Ortsteil von Vilseck, Oberpfalz)

1880 Umzug nach München

Ab 1888 Ausbildung zum Bildhauer bei Johann Hauptmann in München

1896-1898 Schüler der Kunstakademie München

1898-1901 Gehilfe verschiedener Bildhauer, Mitarbeiter von Georg Wrba

1901-1907 Fachlehrer an der Bildhauerklasse der Städtischen Kunstgewerbeschule München; Arbei-

ten im Jugendstil

1907-1914 Mitglied der Darmstädter Künstlerkolonie; Zusammenarbeit und Freundschaft mit einigen

Mitgliedern der Künstlerkolonie sowie mit Paul Meissner

1907-1911 Lehrer für Plastik am Großherzoglichen Lehratelier für angewandte Kunst

1908 Relief am Portal des Hochzeitsturms sowie Portalschmuck am Zentralbad, Darmstadt

1908 Beteiligung an Hessischer Landesausstellung für freie und angewandte Kunst in Darmstadt

1909 Triton-Brunnen und Hessen-Löwe auf dem Paulusplatz, Darmstadt

1909/10 Beneke-Brunnen, Bad Nauheim

1911-1913 Sprudelhof, Bad Nauheim

1913 Liebig-Denkmal, Luisenplatz Darmstadt

Ca. 1914 Löwen sowie Fahnenmasten vor dem Hessischen Landesmuseum, Darmstadt

1915 Ernst-Ludwig-Brunnen (heute Ludo-Meyer-Brunnen), Offenbach

1919 Involviert an Gründung des Verbands der bildenden Künstler in Hessen

1924 Heirat mit Felicitas Fehr (vier Kinder)

1928 Leibgardisten-Denkmal (Gefallenen-Ehrenmal), Darmstadt

1933 Justus-Liebig-Plakette

1934 Hitler-Büste

1934-1940 Beteiligung an großen Kunst-Ausstellungen in Darmstadt

1938 Hakenkreuz-Dekor am Neubau der Materialprüfungsanstalt, Darmstadt

† 10. Februar 1943 in Darmstadt

Ehrungen:

1909 Ernennung zum Professor durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1909 Goldene Medaille Internationale Kunstausstellung München

1943 Gedächtnisausstellung im Landesmuseum

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Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Jobst, vielseitiger Bildhauer und Medailleur, Mitglied der Künstlerkolonie, lebte seit

1907 in Darmstadt. Er hat in Darmstadt zahlreiche Werke hinterlassen, wovon jene im öf-

fentlichen Raum (etwa Liebig-Denkmal, Löwen vor dem Landesmuseum, Leibgardisten-

Denkmal, Reliefs und Bauplastiken an Hochzeitsturm, Zentralbad und Hauptbahnhof) sowie

seine Grabdenkmale (Kittler, Olbrich, von Römheld) wohl die bekanntesten darstellen. Zu-

dem entwarf er ab 1907 zahlreiche Medaillen und Plaketten, darunter um 1920 die Ver-

dienstmedaille der Stadt Darmstadt.

Zwischen 1933 und seinem Tod 1943 wirkte Jobst in Darmstadt. Er war kein Mitglied der

NSDAP, muss hingegen Mitglied der RKK gewesen sein (wenngleich sich dafür keine Belege

finden ließen). Im Auftrag der Firma E. Merck gestaltete er 1933 eine Justus-Liebig-Plakette

(Quarg, S. 123). 1934 fertigte er Hitler-Büsten an; auch eine Göring-Büste entstammte seiner

Werkstatt. Für den Neubau der Materialprüfungsanstalt in Darmstadt 1938 entwarf er drei

dekorative Elemente an der Fassade des Eingangsbereichs, darunter ein Adler, der in seinen

Krallen ein Hakenkreuz im Lorbeerkranz hält.

Ein im Stadtarchiv Darmstadt überlieferter Brief legt nahe, dass Jobst eine Hitler-Büste in

öffentlichem Auftrag anfertigte. Der Brief vom 16.10.1934 an Oberst Ferdinand von Hahn,

von Jobst unterzeichnet „Mit Heil Hitler! bin ich ganz ergebenst“, bestätigt den „Empfang

von 800 M[ark] für die Hitlerbüste die Herr Reichsstatthalter Sprenger erworben hat“. Nach

Fertigstellung sollte die bronzene Büste an die „Vertretung Hessens in Berlin“ versandt wer-

den. Es wurden Postkarten mit dem Motiv der Hitler-Büste angefertigt (eine davon ist im

Nachlass Buxbaum überliefert, StadtA DA, ST 45 Buxbaum). In zeitgenössischen Zeitungsarti-

keln finden sich Aufnahmen des dekorativen Hakenkreuz-Elements an der Fassade der Mate-

rialprüfungsanstalt, von Jobst entworfen und von seinem Mitarbeiter Hermann ausgeführt.

Ein Sohn des Künstlers, Heinrich Jobst (jun.), bezeugte in einem Brief aus dem Jahr 1997 sei-

ne Erinnerung an die NS-Zeit (auf dass sein Vater „nicht in einem falschem Licht gesehen“

werde):

„Nun könnte man annehmen, daß er mit der NS-Regierung einverstanden war, weil er einige Hitler-

büsten, eine Göringbüste und ein paar Hakenkreuze an Baudekorationen geschaffen hat. Die Gründe

für seine Annahme solcher Aufträge liegen einmal darin, daß er eine Familie mit vier Kindern zu er-

nähren hatte; zum anderen war ihm bewußt, daß, wenn er als Nichtparteimitglied einen derartigen

Auftrag verweigert hätte, die Gestapo bald im Atelier erschienen wäre.“

Nach der im genannten Schreiben dokumentierten Erinnerung des Sohnes habe der Vater

unter „dieser Zwangssituation“ sehr gelitten, zumal „er [der Vater] Hitler […] regelrecht zu

hassen begann“. Niemals habe er den Vater „Heil Hitler!“ sagen hören. In die NSDAP sei

Heinrich Jobst trotz verlockender Angebote, „teils mit versteckten Drohungen“ versehen, nie

eingetreten.

Der Heimatforscher Karl-Heinz Hohenschuh, der sich eingehend mit dem Werk von Heinrich

Jobst beschäftigte, sah den Künstler ebenfalls in finanziellen Zwängen – auch, weil nach 1933

Aufträge jüdischer Auftraggeber kaum mehr möglich waren. Obwohl die nationalsozialisti-

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sche Geisteshaltung „zweifellos Einfluss“ auf das Werk Heinrich Jobsts gehabt hätte, habe

dieser den Nationalsozialismus abgelehnt:

„Die mitunter zu hörende Meinung, Jobst sei ein willfähriger Zuarbeiter der Nazis gewesen, ist ab-

surd. Sie kann nur von Leuten geäußert werden, welche die Umstände der Zeit von 1933 bis 1945

nicht aus eigenem Erleben kennen und deshalb aus heutiger Sicht nicht begreifen können. Da sich

Jobst wiederholtem Drängen, in die NSDAP einzutreten, erfolgreich widersetzen konnte, ist das Ge-

genteil richtig […]. Er war vielmehr ein Künstler, der sich nur seinem Werke verpflichtet sah“ (Hohen-

schuh, S. 19).

Hohenschuh gab (ohne hierzu eine Quelle zu nennen) an, „eine Gruppe hochrangiger SS-

Leute“ sei in Jobsts Atelier erschienen, habe den Auftrag zur Hitler-Büste erteilt und sogleich

eine entsprechende Anzahlung getätigt (Hohenschuh, S. 119). Einem Bericht der Frankfurter

Rundschau zu Folge sei die „Führerbüste“ selbst während der NS-Zeit nur kurzzeitig zu sehen

gewesen, da Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen „die Arbeit des Bildhauers Heinrich

Jobst für derart misslungen hielt, dass ein neuer Guss auf die Zeit nach dem Krieg verlegt

wurde“ (FR vom 23.04.2005).

Heinrich Jobst war während der NS-Zeit an großen Ausstellungen in Darmstadt beteiligt:

1934 Deutsche Frühjahrs-Ausstellung, 1935 Darmstädter Kunstschau „Deutsche Meister“,

1937 Lebendige Darmstädter Kunst, 1940 Kunstausstellung im Städtischen Ausstellungsge-

bäude auf der Mathildenhöhe.

Noch im Sommer 1943, wenige Monate nach dem Tod des Künstlers, fand in den Räumen

des Hessischen Landesmuseums eine Gedächtnisausstellung zu Ehren von Heinrich Jobst

statt, von OB Otto Wamboldt feierlich eröffnet. Kriegsbedingt konnte nur ein Teil seiner Ar-

beiten ausgestellt werden.

Da Heinrich Jobst 1943 starb, ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente recherchieren,

die etwa nähere Angaben zu Mitgliedschaften in NS-Organisationen hätten liefern können.

Quellen:

HStAD, R 12 P Nr. 2660

HStAD, G 37 Nr. 3664

[Unter HStAD, R 4, zahlreiche Bilder von Werken Jobsts]

StadtA DA, ST 45 Buxbaum Nr. 31

StadtA DA, ST 61, Jobst, Prof. Heinrich

[http://www.dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/JobstHeinrich.htm] Zugriff: 19.09.2016

Literatur:

Dotzert, Roland/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Kunst im öffentlichen Raum. In Darmstadt 1641-1994, bearb.

von Emmy Hoch und Erich Eck. Darmstadt 1994.

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Esselborn, Karl: Hessische Lebensläufe. Darmstadt 1979, S. 209-212 [Original 1937].

Hohenschuh, Karl Heinz: Heinrich Jobst (1874-1943). Ein Darmstädter Bildhauer aus Bayern. Darm-

stadt 2005.

Müller, Bernhard: Neuere Arbeiten von Heinrich Jobst. In: Deutsche Kunst und Dekoration 41 (1917-

1918), S. 288-296.

Quarg, Gunter: Medaillen und Plaketten von Heinrich Jobst. In: Kunst in Hessen und am Mittelrhein

34 (1994), S. 115-123.

Schmidt, Joachim: Paulusplatz-Geschichten. 100 Jahre im Tintenviertel. Darmstadt 2014.

Ulmer, Renate: Jobst, Heinrich. In: Darmstädter Stadtlexikon (2006), S. 449 f.

Ulmer, Renate: Jugendstil in Darmstadt. Darmstadt 1997, S. 188-192.

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Jakob-Jung-Straße (E 8-9), benannt 1953 nach

Jakob Jung (1867-1943)

Bürgermeister in Arheilgen

* 21. März 1867 in Wixhausen

1892 Heirat mit Katharina [???] in Arheilgen, zwei Kinder; Umzug nach Arheilgen

Bis 1914 Dreher bei der Firma Carl Schenck

1905-1910 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells Arheilgen (mit Unterbrechung 1908)

1907-1919 Vorsitzender der SPD-Arheilgen

1908 auf einer Versammlung der antisemitischen Christlich-Sozialen entkräftete Jung die Argumente

des Referenten

1914 Gemeinderechner in Arheilgen (Bürgermeisterei)

1918 Mitglied des (fünf Mitglieder umfassenden) Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrats in Arheilgen

1919-1933 Bürgermeister von Arheilgen (1919 und 1925 ohne Gegenkandidat gewählt)

1920 Kreisbeigeordneter (1925 wiedergewählt)

1923 als Bürgermeister von Arheilgen Ablehnung der Anerkennung der „Rheinischen Republik“; am

26. Oktober daraufhin inhaftiert und bis 6. Dezember im französischen Militärgefängnis in Wiesba-

den festgehalten

1933 Absetzung als Bürgermeister mit Verweis auf die „Verordnung zur Sicherung der Verwaltung in

den Gemeinden“ durch die NSDAP

1940 Tod seiner Ehefrau Katharina

† 19. August 1943 in Darmstadt

Ehrungen:

1931 Ehrung für 31 Jahre Tätigkeit im Konsumverein, dessen Aufsichtsratsvorsitzender er war

Wirken in der NS-Zeit

Jakob Jung, SPD-Bürgermeister von Arheilgen, wurde im April 1933 von den Nationalsozialis-

ten aus seinem Amt entlassen.

Die SPD war mit 43,5 Prozent der Stimmen noch bei der Reichstagswahl im März 1933

stärkste Partei in Arheilgen geblieben. Dennoch wurde Jakob Jung als SPD-Bürgermeister am

3. April 1933 durch den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Arheilgen, Julius Birkenstock, entlas-

sen; mit Verweis auf die „Verordnung zur Sicherung der Verwaltung in den Gemeinden“ (Ab-

setzungsbescheid veröffentlicht bei Mampel, S. 215, siehe auch S. 207 f.).

Über Jungs Wirken zwischen 1933 und seinem Tod 1943 ließen sich nur wenige Informatio-

nen recherchieren. Laut Georg Mampel galt der langjährige Vorsitzende der SPD-Arheilgen

als überzeugter Sozialdemokrat, der sich als Gemeinderat sowie als Bürgermeister von Ar-

heilgen für die Belange Benachteiligter eingesetzt hatte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts be-

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zog er offen gegen antisemitische Positionen Stellung. Seine beiden Söhne, ebenfalls SPD-

Mitglieder, bekamen in der NS-Zeit Schwierigkeiten bzw. wurden ebenfalls entlassen und

mussten sich neue Arbeit suchen (Mampel, S. 211 f.).

Im Oktober 1931 äußerte sich Jung anlässlich einer Ehrung für seine langjährige Tätigkeit als

Aufsichtsratsvorsitzender des Konsumvereins zu den Grundgedanken, die seinem Wirken in

der Genossenschaftsbewegung als Richtlinie dienten:

„Demokratie, Brüderlichkeit, Wohlwollen und Nächstenliebe als geistiges Band. Nur wenn die Nächs-

tenliebe wieder tiefere Wurzeln fasst, kann der Gedanke der Brüderlichkeit wieder den Boden der

Zukunft gewinnen. Wir brauchen keine Gewinnmenschen, sondern die Erhaltung des Lebens muß

Grundsatz bleiben“ (Beilage zum hessischen Volksfreund vom 16.10.1931).

Aufgrund des Tods von Jakob Jung im Jahr 1943 ließen sich keine Entnazifizierungsdokumen-

te recherchieren.

Quellen:

HStAD, P 9 Nr. 325/16 [Jakob-Jung-Straße]

StadtA DA, ST 61 Jung, Jakob

StadtA DA, Meldebogen

Literatur:

Engels, Peter: Arheilgen. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 39-43.

Mampel, Georg: 1878-1978. 100 Jahre Sozialdemokratie in Arheilgen. Darmstadt 1986.

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Junkersweg (H 7), benannt 1985 nach

Hugo Junkers (1859-1935)

Erfinder, Konstrukteur, Unternehmer

* 3. Februar 1859 in Rheydt (heute Stadtteil von Mönchengladbach)

1867-1874 Besuch der Höheren Bürgerschule Rheydt

1875-1878 Höhere Gewerbeschule in Barmen, Abschluss: Abitur

1878-1883 Studium an den Technischen Hochschulen Charlottenburg, Karlsruhe und Aachen

1883 Bauführer-Prüfung; Konstrukteur in rheinländischen Maschinenfabriken

1888-ca. 1893 Tätigkeit in der Dessauer Continental-Gasgesellschaft

1892 Herstellung des ersten Zweitakt-Gegenkolben-Gasmotors; Patent auf das Kalorimeter (Apparat

zur Bestimmung des Heizwerts von Gasen)

1894 Entwicklung des ersten Gasbadeofens auf der Grundlage des Kalorimeters

1895 Gründung der Firma „Junkers & Co“ (ICO) in Dessau, Fabrik für Gasapparate (ab 1911 auch Bau

von Flugzeugen)

1897-1912 Professor für Maschinenbau und Thermodynamik an der TH Aachen

1898 Heirat mit Therese Bennhold aus Dessau, zwölf [!] Kinder

1902 Gründung eines Forschungslaboratoriums in Aachen (Entwicklung von Ölmotoren)

ab 1909 auf Grundlage vorhergehender Forschungen Hinwendung zum Flugzeugbau

1910 „Patent über eine körperliche Gestaltung der Tragflächen“ (Flügel-Konstruktion)

1915 Entwicklung und Erstflug des ersten Ganzmetallflugzeugs (J 1)

1917-1919 „Junkers-Fokker AG“ (ILA) in Dessau

1919 Gründung der „Junkers-Flugzeugwerke AG“ (ILA) in Dessau; Bau des ersten Ganzmetall-

Verkehrsflugzeugs (F 13), zentral für die Entwicklung der deutschen Luftfahrt

1921 „Abteilung Luftverkehr der Junkerswerke“; eigenes Unternehmen zur Organisation des Inland-

flugverkehrs

1923 „Junkers Motorenbau GmbH“ (Jumo) in Dessau

1923 Errichtung einer Flugzeugfabrik in Fili (bei Moskau)

1924 „Junkers Luftverkehr AG“ (ging aus „Abteilung Luftverkehr“ hervor und 1926 in der „Deutschen

Lufthansa AG“ auf)

ab 1925 enge wirtschaftliche Beziehungen zum Bauhaus in Dessau; Beginn der Freundschaft zu Wal-

ter Gropius

ab 1932 Produktion der „Ju 52“ (bis Anfang der vierziger Jahre meistgebautes Verkehrsflugzeug)

1933 Junkers wird zur Übereignung seiner Patente und Aktien an das Deutsche Reich gezwungen;

Ausscheiden aus dem Unternehmen

1934 „Forschungsanstalt Prof. Junkers GmbH“; Metallhausforschung

† 3. Februar 1935 in Gauting bei München

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Ehrungen:

1897 Ernennung zum Professor für Maschinenbau und Thermodynamik (TH Aachen)

1919 Ehrendoktor (Dr. Ing. e. h.) der TH München

1925 Ehrendoktor (Dr. phil. h. c.) der Universität Gießen

1928 Ehrenbürger in Dessau, Rheydt und Aachen

1929 Ehrensenator der TH Karlsruhe und der TH München

1933 Senator der Deutschen Akademie

2001 Technikmuseum „Hugo Junkers“ in Dessau

Wirken in der NS-Zeit

Hugo Junkers, Erfinder, Konstrukteur und Unternehmer, gilt als herausragender deutscher

Flugzeugpionier. Er besaß bis 1933 zahlreiche wichtige Patentrechte, unter anderem im Be-

reich des Flugzeugbaus.

Bereits wenige Tage nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten wurde Hugo

Junkers aufgefordert, seine privaten Patentrechte auf seine Firmen zu übertragen. Als er dies

ablehnte, wurde vom anhaltinischen Oberstaatsanwalt Erich Lämmler ein Verfahren gegen

ihn wegen Verdachts auf Spionage eingeleitet (Vorwurf: Landesverrat). Im Mai 1933 wurde

Junkers untersagt, während des Verfahrens Dessau zu verlassen; im Juni 1933 unterschrieb

Junkers (im Beisein von Lämmler) die Übertragung von über hundert privaten Patenrechten

auf seine Firma (ILA). In der Literatur kursieren Mutmaßungen, wonach Hermann Göring für

die Zwangsmaßnahmen verantwortlich zeichnete – der zehn Jahre zuvor von Junkers als

Testpilot abgelehnt worden war.

Im August 1933 erhielten die Dessauer Junkers-Werke einen umfangreichen Staatsauftrag

zur Produktion mehrerer Tausend Flugzeuge für die Luftwaffe. Anfang Oktober wurde dann

im Reichsluftfahrtministerium (RLM) der Beschluss gefasst, Junkers zur Übergabe von 51 %

seiner Aktien an die Regierung zu zwingen. Oberstaatsanwalt Lämmler beorderte Junkers,

der sich in Bayrischzell (nahe München) aufhielt, nach Dessau. Am 17. Oktober 1933 wurde

Junkers unter Polizeiaufsicht nach Dessau gebracht und offenbar noch in der gleichen Nacht

zum Verzicht auf seine Aktienmehrheit genötigt.

Im November 1933 wurden schließlich Geschäftspapiere von Junkers Firmen beschlagnahmt.

Junkers musste auf Veranlassung des RLM seine Ämter als Aufsichtsratsvorsitzender bzw.

Geschäftsführer niederlegen; er verlor den Einfluss auf seine sämtlichen Werke. Im Dezem-

ber 1933 wurde er aus Dessau ausgewiesen. Ohne polizeiliche Genehmigung durfte er sein

Landhaus in Bayrischzell zunächst nicht verlassen.

In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Junkers insbesondere Forschungen im Bereich

des Leichtmetallbaus auf dem Bausektor: dem Metallhaus (dazu ausführlich Lauff und Scheif-

fele). 1934 gründete er zu diesem Zweck die Forschungsanstalt Prof. Junkers GmbH Mün-

chen. In München richtete er sich im Frühjahr 1934 (nach der Lockerung des Arrests) eine

Werkstatt ein und lebte mit seiner Familie in der Stadt (Blunck, S. 276). – Schon seit Mitte

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265

der 1920er Jahre hatte Junkers Kontakte zum Bauhaus in Dessau gepflegt (Lauff, S. 84 ff.,

Scheiffele, S. 160 ff.); 1929/30 hatte es erste gemeinsame Architekturprojekte gegeben.

Im Zuge der Aufrüstung wurden die Junkers-Werke (unter Beibehaltung des Namens) zu ei-

ner der größten Produktionsstätten für Militärflugzeuge ausgebaut. Junkers selbst starb

1935 in der Nähe von München. Auf die Entwicklung seines ehemaligen Unternehmens zum

kriegswichtigen Betrieb und der Produktion der Sturzkampfbomber (Stukas) hatte er keinen

Einfluss mehr.

Es ließen sich keine Entnazifizierungskaten zum 1935 verstorbenen Flugzeugpionier recher-

chieren. Eine wissenschaftlichen Maßstäben genügende Biografie zu Hugo Junkers war nicht

verfügbar.

Quellen:

---

Literatur:

Behrsing, Gert: Junkers, Hugo. In: NDB 10 (1974), S. 695-697.

Blunck, Richard: Hugo Junkers. Der Mensch und das Werk. Berlin 1942.

Budraß, Lutz: Die Enteignung von Hugo Junkers. In: Ders.: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in

Deutschland 1918-1945. Düsseldorf 1998, S. 320-335. [NICHT eingesehen, in ULB nicht am Standort!]

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am

Main 42013, S. 293.

Lauff, Sebastian: Der Traum vom Bauen. Hugo Junkers und die Architektur. Berlin 2001.

Lorenz, Holger: Kennzeichen „Junkers“. Ingenieure zwischen Faust-Anspruch und Gretchen-Frage. Die

technischen Entwicklungen und politischen Wandlungen der Junkerswerke von 1931 bis 1961. Mari-

enberg 2005.

Scheiffele, Walter: Bauhaus, Junkers, Sozialdemokratie. Ein Kraftfeld der Moderne. Berlin 2003.

Schmitt, Günter: Hugo Junkers und seine Flugzeuge. Stuttgart 1986.

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266

Kirnbergerstraße (R 7), benannt 1965 nach

Ferdinand Kirnberger (1875-1962)

Finanz- und Justizminister im Volksstaat Hessen

* 12. Januar 1875 in Mainz

Besuch des humanistischen Gymnasiums

Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Berlin und Gießen

1901 Große juristische Staatsprüfung

Referendar an verschiedenen Mainzer Gerichten; Assessor an verschiedenen Kreisämtern (darunter

auch jenes in Darmstadt)

1905 Heirat mit Auguste Humann, vier Kinder

1906 Kreisamtmann und Feldbereinigungskommissar in Friedberg

1912 Tätigkeit beim Kreisamt Offenbach

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg; 1915 zum Oberleutnant befördert (Feldartillerie); Verset-

zung Ende 1915 in das stellvertretende Generalkommando des 18. Armeekorps (Hauptmann d. R.)

1915 Ernennung zum Regierungsrat (noch während er „im Felde“ war)

1917 im Zuge seiner Versetzung nach Darmstadt Übersiedlung der Familie in die Residenzstadt

1920 Oberregierungsrat beim Landesernährungsamt

1920/21 Oberregierungsrat der Hessischen Provinzialdirektion Mainz (Familie bleibt in Darmstadt)

1922 Ernennung zum Ministerialrat im Hessischen Ministerium des Innern und Mitglied des Verwal-

tungsgerichtshofs in Darmstadt

1926-1934 Präsident des Katholischen Akademikerverbands (KAV)

1927/28 Nach dem Tod von Otto von Brentano Hessischer Innenminister (Zentrum)

1928-1933 Hessischer Finanz- und Justizminister unter Bernhard Adelung (1931 auch Übernahme des

Landwirtschaftsressorts)

1929 Wahl in das Zentralkomitee der deutschen Katholiken

Seit 1930 (Mit-)Herausgeber der Schriftenreihe „Kirche und Gesellschaft. Soziologische Veröffentli-

chungen des Katholischen Akademikerverbandes“

1933 Versetzung in den Ruhestand (durch NS-Regime)

1933 Mitorganisator der „3. Soziologische Sondertagung“ des KAV in Maria-Laach

1944 im Zuge der „Brandnacht“ Zerstörung seiner Wohnung und der gesamten Einrichtung; zunächst

Aufenthalt im Odenwald („Notwohnung“ in Fränkisch-Crumbach), dann in Bensheim

1945 Gründungsmitglied der CDU-Darmstadt (ohne Amt)

Ab 1946 Autor der neu gegründeten Zeitschrift „Neues Abendland“

1946-1951 Direktor (Präsident) des Verwaltungsgerichts Darmstadt

1947 erneut Präsident des nun wiedergegründeten KAV

1949 Rückkehr der Familie nach Darmstadt

1954 Gründungsmitglied der Darmstädter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

† 25. Juni 1962 in Darmstadt

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267

Ehrungen:

1914 Eisernes Kreuz II. Klasse

1915 Hessische Tapferkeitsmedaille (verliehen durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei

Rhein)

1924 Ehrenmitglied der katholischen Studentenverbindung K.D.St.V. Rheinpfalz Darmstadt

1952 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland

1954 Ehrenpräsident des KAV

1960 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

Komturkreuz des Gregorius-Ordens (verliehen mittelbar durch den Papst)

Wirken in der NS-Zeit

Ferdinand Kirnberger, Hessischer Finanz- und Justizminister im Volksstaat Hessen, war pro-

minenter Verwaltungsbeamter und Politiker des Zentrums in Hessen und Präsident des Ka-

tholischen Akademikerverbands (KAV).

Kirnberger war für das Zentrum 1927 zunächst als Innenminister in Nachfolge des verstorbe-

nen Otto von Brentano in das Kabinett des Volksstaats Hessen (unter Carl Ulrich) gerückt.

Von 1928 bis zur Auflösung 1933 wirkte er als Finanz- und Justizminister unter der Regierung

Bernhard Adelungs, ab 1931 auch für den Landwirtschaftssektor zuständig.

Im März 1933 wurde Kirnberger vom NS-Regime seines Amts enthoben und in den Ruhe-

stand versetzt. Der biografischen Literatur folgend war Kirnberger zwischen 1933 und 1945

nicht mehr öffentlich-politisch tätig und widmete sich vornehmlich wissenschaftlichen bzw.

philosophischen Überlegungen. Ein Ergebnis jener letztgenannten Überlegungen stellte 1947

die Veröffentlichung „Laiengespräche über den Staat“ dar; ein fiktiver Dialog zweier Perso-

nen, die sich über gesellschaftlich relevante Themen austauschen. Bei den entfalteten

staatstheoretischen Gedanken spielten Säulen der „Abendländischen Bewegung“ – christli-

che Werte, abendländische Kultureinheit, Föderalismus – eine zentrale Rolle.

Bis 1934 blieb Kirnberger jedoch Präsident des KAV (zum Folgenden Albert 2010, S. 48-96).

Der KAV hatte sich in der Weimarer Zeit zu einer starken Stimme des Sozialkatholizismus

entwickelt. Seit 1926 stand der Verband unter der Leitung von Ferdinand Kirnberger, wenn-

gleich Generalsekretär Franz Xaver Münch die eigentliche Leitfigur darstellte – auch Kirnber-

ger selbst sah in Münch den „überragenden geistigen Führer“ des KAV (Morsey 2002, S. 23,

dazu auch ebenda, S. 16). Kirnberger hingegen nahm stärker repräsentative Aufgaben wahr.

Anders als zahlreiche katholische Vereine in Deutschland stellte sich der KAV 1933 nicht ge-

gen das NS-Regime, sondern versuchte sich vielmehr im „Brückenbau zum Nationalsozialis-

mus“ (Albert 2010, S. 76-78). Marcel Albert hielt die – bereits von Zeitgenossen vertretene –

Auffassung für korrekt, „dass 1933 keine andere katholische Institution in Deutschland in

vergleichbar spektakulärer Weise auf die neue Regierung zugegangen war“ (Albert 2010,

S. 90). Der Generalvorstand des KAV (zu dem seit 1929 neben Kirnberger und Münch noch

Franz Xaver Landmesser zählte) sah den Nationalsozialismus anfangs als Chance an, seine

Interessen verwirklichen zu können. Als treibende Kraft hinsichtlich der Annäherung an den

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Nationalsozialismus kann Landmesser angesehen werden (Conze, S. 53). Auf den „Soziologi-

schen Sondertagungen“ des KAV in Maria Laach (1931-1933) nahm die Diskussion um Stän-

destaatskonzeptionen (in Anlehnung an Othmar Spann, „Ehrengast“ und einziger Redner der

ersten Sondertagung) breiten Raum ein. Eine gesellschaftsphilosophische Tagung des KAV im

Oktober 1931 „schwamm unter dem Titel ‚Religion – Rasse – Volkstum – Nation‘ im Strom

der Zeit“, wie Vanessa Conze konstatierte (Conze, S. 54).

Als einen Höhepunkt der „Harmonisierungsversuche des Katholizismus gegenüber dem Nati-

onalsozialismus“ (Conze, S. 55) insgesamt ließe sich die „3. Soziologische Sondertagung“ des

KAV im Juli 1933 bezeichnen (dazu ausführlich Albert 2004, S. 71-91). Als Redner zur Veran-

staltung (Titel: „Idee und Aufbau des Reiches“) geladen waren Vizekanzler Franz von Papen

sowie der Oberpräsident der Rheinprovinz, Hermann von Lüninck. Von Papen verkündete

auf der Tagung den tags zuvor (unter seiner Mitwirkung in Rom) verhandelten Konkordats-

abschluss, der von den Anwesenden mit Begeisterung aufgenommen wurde, wenngleich

sich später auch kritische Stimmen erhoben. Der Generalvorstand sandte am folgenden Tag

ein Telegramm an Adolf Hitler:

„Wir durften gestern anläßlich unserer Tagung über die Reichsidee aus dem Munde des Herrn Vize-

kanzlers v[on] Papen in der Benediktinerabtei Maria-Laach die Grundgedanken des soeben unter-

zeichneten Konkordates vernehmen. Wir erfuhren, in wie weitherziger Weise Sie, Herr Reichskanzler,

Ihre Person führend eingesetzt haben für eine großherzige Regelung des Verhältnisses von Kirche

und Staat. Wir danken Ihnen, Herr Reichskanzler, für diese säkulare Tat und verbinden hiermit das

Versprechen überzeugter Mitarbeit am Aufbau des neuen Deutschland“ (unterzeichnet von Kirnber-

ger, Münch, Landmesser, zitiert nach Albert 2004, S. 83, FN 162).

1934 legte Kirnberger sein Amt als Präsident des KAV nieder. Bezüglich der Motive hinsicht-

lich seiner Entscheidung finden sich in der Literatur unterschiedliche Vorschläge: Er habe

seinen Status als Beamter nicht gefährden wollen; er habe sich aus politischen Gründen (als

ehemaliger Zentrumsminister) für die Niederlegung entschieden (vgl. Albert 2010, S. 96 f.).

Marcel Albert hält als Grund „die konkordatsgemäße Neustrukturierung des KAV“ für wahr-

scheinlich: ab 1934 musste der KAV viel stärker genuin religiös als gesellschaftlich-politisch

ausgerichtet werden. Bis zur Niederlegung seines Amts trug Kirnberger die rechtskatholische

Ausrichtung des KAV sowie die Versuche der Annäherung an das NS-Regime mit. Der katholi-

sche Philosoph Dietrich von Hildebrand, der sich von Beginn an gegen den Nationalsozialis-

mus stellte, vertrat die Ansicht, Kirnberger habe sich von Münch instrumentalisieren lassen.

Schuld an der

„Geistesverwirrung bei meinem lieben, so frommen und antinationalsozialistischen Kirnberger [war]

natürlich Münch. Münch war ihm intellektuell und als envergure der Persönlichkeit so überlegen, daß

es für ihn nicht schwer war, Kirnberger zu veranlassen, sich [in Bezug auf den Nationalsozialismus,

HK] seinem ‚wishful thinking‘ anzuschließen“ (Hildebrand, S. 40).

Dass die Hinwendung des KAV zum „Volks-“ und „Volksgemeinschaftsgedanken“ durchaus

im Sinne seines Präsidenten erfolgte, legen Äußerungen Kirnbergers aus seiner Zeit als Hes-

sischer Minister nahe: Anlässlich einer Jubiläumsfeier des „Vereins für das Deutschtum im

Ausland“ rekurrierte er in seiner Rede auf das Bild der „Bluts- und Schicksalsgemeinschaft

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mit dem österreichischen Brudervolk“. Zudem verwendete er die Begriffe „Volk“ und

„Deutschsein“ gemäß deutschnationaler Ausdeutung:

„Das Bedürfnis engster Fühlung mit den Volksgenossen im Ausland darf eben nicht politischer Be-

rechnung entspringen, sondern muß wahre Herzensangelegenheit und heilige Pflicht des ganzen

deutschen Volkes werden. […] Das sind wir unseren Brüdern draußen schuldig, die bedrängt von

fremdem Volkstum ihr Deutschsein hochhalten“ (DZ vom 11.01.1932).

Nach der Zerstörung seines Wohnhauses 1944 zog Kirnberger übergangsweise in den Oden-

wald, in eine sogenannte „Notwohnung“ in Fränkisch-Crumbach. Später ließ er sich dann in

Bensheim-Schönberg nieder.

In der Nachkriegszeit wurde Kirnberger erster Direktor des Verwaltungsgerichts Darmstadt

(1946-1951). Er gründete die CDU in Darmstadt mit und wurde 1947 erneut zum Präsidenten

des (in diesem Jahr wiedergegründeten) KAV gewählt. Gemeinsam mit seiner Frau kehrte er

1949 nach Darmstadt zurück.

Kirnberger war als Vertreter der „Abendländischen Bewegung“ (wie andere am „Brückenbau

zum Nationalsozialismus“ beteiligte konservative Katholiken) auch nach 1945 tätig, etwa als

Autor der 1946 gegründeten Zeitschrift „Neues Abendland“ (Conze, S. 55, Schildt, S. 39 f.).

Es ließen sich im HHStAW (überraschenderweise) keine Entnazifizierungsdokumente zu Fer-

dinand Kirnberger recherchieren.

Quellen:

HStAD, G 21 B Nr. 5549

HStAD, G 35 E Nr. 9114

HStAD, R 4 [Fotos]

HStAD, R 12 P Nr. 2920

StadtA DA, ST 61, Kirnberger, Ferdinand

Literatur:

Albert, Marcel: „Zwecks wirksamer Verteidigung und Vertretung der katholischen Weltanschauung“.

Der Katholische Akademikerverband 1913-1938/39. Köln 2010.

Albert, Marcel: Die Benediktinerabtei Maria Laach und der Nationalsozialismus. Paderborn et al.

2004.

Conze, Vanessa: Der Katholische Akademikerverband. In: Dies.: Das Europa der Deutschen. Ideen von

Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970). München 2005,

S. 51-56.

Franz, Eckhart G.: Kirnberger, Ferdinand. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 489.

Hildebrand, Dietrich von: Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933-1938 (her-

ausgegeben von Ernst Wenisch). Mainz 1994.

Kirnberger, Albert: Geschichte der Familie Kirnberger. Mainz ²1951.

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270

Kirnberger, Ferdinand: Laiengespräche über den Staat. Augsburg 1947.

Lange, Thomas/Triebel, Lothar (Hrsg.): „Geh nicht den alten Weg zurück!“ Festschrift zum sechzigjäh-

rigen Bestehen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1954-2014. Darmstadt 2014.

Morsey, Rudolf: Görres-Gesellschaft und NS-Diktatur. Die Geschichte der Görres-Gesellschaft

1932/33 bis zum Verbot 1941. Paderborn 2002.

Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er

Jahre. München 1999.

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271

Thomasstraße (P 7), benannt 1953 nach

Thomas Kirschner (1864-1942)

Förster in Eberstadt

* 14. November 1864 in Eberstadt

1881 Gesellenprüfung zum Weißbinder

1891 Heirat mit Dorothee Kern

1896 Flurschütze in Eberstadt

1901 Vorprüfung zum Forstwart

1903 Fachprüfung zum Forstwart

1905 Forstwart der Forstwartei Eberstadt III

1910 Forstwart der Forstwartei Eberstadt II

1930 Versetzung in den Ruhestand

1938 Revierförster außer Dienst

† 22. September 1942 in Nieder-Ramstadt

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Thomas Kirschner, Förster in Eberstadt, war 1933 bereits 69 Jahre alt. Über sein Wirken in

der NS-Zeit von 1933 bis 1942 ließen sich kaum Informationen recherchieren.

Da Kirschner 1942 verstarb, liegen keine Entnazifizierungsdokumente vor. Es gibt keine Hin-

weise auf eine Verstrickung in das NS-System.

Quellen:

HStAD, G 33 B Nr. 1163

HStAD, G 33 B Nr. 1164

HStAD, G 35 E Nr. 9147

HStAD, G 38 Eberstadt Nr. 140

HStAD, G 38 Eberstadt Nr. 165

HStAD, R 12 P Nr. 2926

Literatur:

---

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Gretel-Klein-Platz (Q 7), benannt 2008 nach

Gretel Klein (1911-2005)

Sozialpolitikerin und Stadtälteste

* 16. April 1911 in Eberstadt (geb. Kirschner)

Gelernte Schneiderin und Krankenschwester

1926 Mitglied der SPD

1928 Mitglied der Naturfreunde

Ca. 1932-1938 Einlegerin bei der „G. C. Klebe“ Eberstadt

1935 Mitglied des DRK

1949 Vorstand des SPD-Ortsvereins Eberstadt

1956-1981 Stadtverordnete in Darmstadt; Mitglied in Fachausschüssen (Sozial- und Gesundheitswe-

sen), Krankenhauskommission, Sozialhilfekommission

1971 Mitglied der letzten Prüfungskammer für Kriegsdienstverweigerer

1977 Stadtälteste und Alterspräsidentin bei der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenver-

sammlung Darmstadt

† 18. September 2005 in Darmstadt

Jugendschöffin und langjährige Vorsitzende der AWO sowie des DRK (zusammen mit ihrem Mann) in

Eberstadt

Ehrungen:

Bürgerehrung der Stadt Darmstadt

Ehrenbrief des Landes Hessen

Ehrenkreuz des DRK

1976 Bundesverdienstkreuz

2001 Goldene Ehrennadel der SPD für 75 Jahre Parteizugehörigkeit

Wirken in der NS-Zeit

Anna Margarete „Gretel“ Klein, gelernte Schneiderin und Krankenschwester, war schon als

Jugendliche (1926) der SPD beigetreten. Bekannt aufgrund ihres sozialen Engagements als

„Engel von Eberstadt“, wirkte sie lange Jahre in der Lokalpolitik (langjährige Stadtverordnete,

Alterspräsidentin und Stadtälteste in Darmstadt). Sie betreute unter anderem eine Altenstu-

be in Eberstadt und setzte sich für die Belange von Jugendlichen ein.

Die Informationen über Gretel Klein in der NS-Zeit beschränken sich auf den von ihr ausge-

füllten Meldebogen im Entnazifizierungsverfahren (HHStAW). Darin gab sie an, in keiner NS-

Organisation Mitglied gewesen zu sein (alle entsprechenden Fragen mit „nein“ beantwor-

tet). In den 1930er Jahren war sie demnach Arbeitnehmerin (Einlegerin) bei der „G. C. Klebe

Eberstadt“ (Einkommen: 600-700 RM); für 1942/1945 gab sie keine berufliche Tätigkeit mehr

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zu Protokoll. Sie wurde nach Überprüfung ihrer Angaben als „nicht betroffen“ eingestuft

(17.04.1947).

Anlässlich der Einweihung des Gretel-Klein-Platzes 2008 ließ OB Walter Hoffmann wissen:

„Gretel Klein muss für uns Vorbild sein. Eine menschliche Gesellschaft und die Demokratie

sind nur möglich, solange es Menschen wie Gretel Klein gibt“ (Presse-Archiv Wissenschafts-

stadt Darmstadt).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 39910 (nur Meldebogen)

StadtA DA, ST 61 Klein, Gretel

Presse-Archiv Wissenschaftsstadt Darmstadt https://www.darmstadt.de/presseservice/archiv-einzelansicht/index.htm?tx_news_pi1[news]=1331&tx_news_pi1

[controller]=News&tx_news_pi1[action], Zugriff: 17.10.2016

Literatur:

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Erika-Köth-Weg (G 9), benannt 2001 nach

Erika Köth (1925-1989)

Darmstädter Kammersängerin

* 15. September 1925 in Darmstadt

Schulbesuch in Darmstadt

Um 1931 Debüt im Kinderchor des Darmstädter Landestheaters

1933 Erkrankung an Leukämie; sechs Monate vollkommene Lähmung der Beine

Mitglied des BDM

Um 1940 kaufmännische Lehre in einer Darmstädter Kohlenhandlung

Bis 1944 parallel zur Lehre Ausbildung an der Hessischen Landesmusikschule in Darmstadt

1944 Arbeit in einer Munitionsfabrik in Ober-Ramstadt

1945 Reinigungsarbeit in der Cambrai-Fritsch-Kaserne in Darmstadt im Zuge der „Sühnemaßnahmen“

1945 Fortsetzung der Gesangsausbildung (mit Stipendium) an der Akademie für Tonkunst in Darm-

stadt; Ausbildung zur Sopransängerin

1947 Erfolg bei einem Gesangswettbewerb von Radio Frankfurt

1948 erstes Engagement am Pfalztheater in Kaiserslautern

1950-1953 Engagement beim Badischen Staatstheater in Karlsruhe

1951 Heirat mit dem Schauspieler Ernst Dorn

1953-1978 Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper in München

1953-1971 Gastspiele an renommierten Opernhäusern sowie zahlreiche Tourneen, auch in die UdSSR

sowie nach Japan

1955-1958 Mitwirkende in 3 Spielfilmen

1973-ca. 1978 Dozentin für Gesang an den Musikhochschulen Köln und Mannheim

1978 Rückzug von der Opernbühne; Übersiedelung nach Neustadt-Königsbach an der Weinstraße

1984 Gründerin der „Internationalen Meistersingerkurse“ in Neustadt an der Weinstraße

† 20. Februar 1989 in Speyer

Ehrungen:

1956 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt

1962 Goldene Medaille des Mozart-Vereins Darmstadt

Verdienstorden von Rheinland-Pfalz sowie Bayerischer Verdienstorden

1975 Verdienstkreuz I. Klasse des Verdienstordens der BRD

Wirken in der NS-Zeit

Erika Köth, international erfolgreiche Opern- und Operettensängerin aus Darmstadt, ver-

brachte ihre Kindheit und Jugend in Darmstadt.

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Zu Beginn der NS-Zeit erkrankte Erika Köth – 1933 acht Jahre alt – an Leukämie; ihre Beine

waren über Monate gelähmt und es sollte Jahre dauern, bis sie wieder sicher laufen konnte.

Köth lebte nach dem frühen Tod des Vaters mit der Mutter und den Großeltern im Darm-

städter Martinsviertel. Sie war Mitglied des BDM, absolvierte eine kaufmännische Lehre bei

einer Kohlenhandlung in Darmstadt und besuchte parallel dazu die Hessische Landesmusik-

schule in Darmstadt. Die Gesangsausbildung musste nach Schließung der Schule 1944 unter-

brochen werden; Köth wurde zum Arbeitsdienst in einer Munitionsfabrik in Ober-Ramstadt

verpflichtet.

Nach Kriegsende war Köth (möglicherweise aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum BDM) zu einer

sogenannten „Sühneleistung“ verpflichtet worden. In einem Presseartikel 1969 hieß es dies-

bezüglich:

„Da die Maid beim BDM als ehemalige Blockflötenspielerin ein Kreuz machen musste, wurden ihr als

Sühne für nazistische Betätigung einige Wochen Putzen der Küchenräume in der Cambrai-Fritsch-

Kaserne aufgebrummt. ‚Ohne allzu großes Schuldbewußtsein, dafür mit langem Besen, kleinem Ei-

mer, und weiter Tasche trat ich an […]‘“ (DE vom 15.11.1969).

Später sortierte sie Karteikarten im Arbeitsamt. Köth sang abends vor amerikanischen Solda-

ten, war einziges weibliches Mitglied der 13-köpfigen „Wilhar-Melodikers“, nahm den Ge-

sangsunterricht an der Akademie für Tonkunst mit einem Stipendium versehen wieder auf

und gewann 1947 [oder 1948] unter 300 Teilnehmenden den ersten Preis bei einem Ge-

sangswettbewerb von Radio Frankfurt – Auftakt einer internationalen Gesangskarriere als

Koloratursopranistin.

Es ließen sich keine Entnazifizierungsakten zu Erika Köth recherchieren.

Quellen:

HStAD, O 59 Faust Nr. 24

HStAD, O 61 Boss Nr. 100

HStAD, R 4 Nr. 3426

HStAD, R 12 P Nr. 3263

Literatur:

Adam, Klaus: Herzlichst! Erika Köth. Darmstadt 1969.

Foltz, Gisela: Erika Köth. In: Brüchert, Hedwig (Hrsg.): Rheinland-Pfälzerinnen. Frauen in Politik, Ge-

sellschaft, Wirtschaft und Kultur in den Anfangsjahren des Landes Rheinland-Pfalz. Mainz 2001,

S. 258-262.

Kesting, Jürgen: Die großen Sänger, Bd. 3. Hamburg 2008, Erika Köth: S. 1792-1794.

Steinbeck, Karin: Köth, Erika. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 508 f.

Werner, Günter: Erika Köth. Ihr Herz ist voller Musik. Landau in der Pfalz 1984.

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276

Korellweg (O 8), benannt 1978 nach

Adolf Korell (1872-1941)

Pfarrer und Politiker

* 20. März 1872 in Ober-Kleen (Kreis Alsfeld)

1878-1885 Volks- und Bürgerschule in Gießen

1885-1891 Gymnasium in Gießen

1891-1895 Studium der Theologie in Gießen

1891 Mitglied der Burschenschaft „Germania Gießen“

1895/96 Besuch des Predigerseminars in Friedberg

1896 Pfarrverwalter in Alsfeld

1897-1900 Pfarrdienst in Darmstadt und anschließend in Düdelsheim (Kreis Büdingen)

1900-1912 Pfarrer in Königstädten (Kreis Groß-Gerau)

1901 Heirat mit Mathilde Disqué (drei Kinder)

1903 Mitglied der Freisinnigen Volkspartei (1906, 1909, 1912 erfolglose Kandidaturen für den Reichs-

tag)

1906 „Fall Korell“: Korell habe in der Stichwahl geheim den Kandidaten der Sozialdemokraten (nicht

den Nationalliberalen) unterstützt und zum Wahlsieg verholfen (Disziplinarverfahren eingestellt)

1911-1918 Mitglied des Hessischen Landtags (Fortschrittliche Volkspartei)

1912-1928 Pfarrer in Nieder-Ingelheim (Rheinhessen)

1917/18 freiwilliger Feldgeistlicher einer Infanterie-Division

1920-1928 Mitglied des Reichstags (DDP)

1923/24 nach zwischenzeitlicher Ausweisung aus Nieder-Ingelheim (Grund: Teilnahme an separatisti-

schen Aktivitäten) kurzzeitig Pfarrverwalter in Rendel (Oberhessen)

1924 gemeinsam mit Theodor Heuss Sprecher der DDP-Fraktion für die deutschen Weinbaugebiete

betreffenden Gesetze im Reichstag

1927-1931 erneut Mitglied des Hessischen Landtags (DDP)

1928-1931/32 Minister für Arbeit und Wirtschaft im Volksstaat Hessen (Ende 1931 Auflösung des

Ministeriums zugunsten des Finanz- und Innenministeriums)

Ca. 1932-1937 wohnhaft in Wiesbaden

1937-1939 wohnhaft in Camberg

1940 Pfarrer in Eschbach im Taunus (Landkreis Usingen)

† 17. September 1941 in Darmstadt

Ehrungen:

1923 Ehrensenator der Universität Gießen

Adolf-Korell-Straße in Rüsselsheim

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277

Wirken in der NS-Zeit

Adolf Korell, Pfarrer und Politiker, Minister des Volksstaats Hessen in der Regierung Adelung

(1928-1931), hinterließ in der NS-Zeit kaum öffentliche Spuren. Als eines der wenigen Do-

kumente aus der Zeit 1933-1941 befindet sich in seinem Nachlass ein Reisepass, ausgestellt

im Januar 1935 (HStAD, O 26).

Pfarrer in Ruhe Hermann Gunkel, Korells Biograf im Stadtlexikon Darmstadt, vermerkte zu

Korells Wirken 1933 bis zu seinem Tod 1941:

„Mit der NS-Zeit begannen für den aufrechten Demokraten Korell und seine Frau schwere Jahre. Sie

kamen nur notdürftig unter, in Wiesbaden bis 1937 und in Camberg 1937 bis 1939. Nach langen Be-

mühungen konnte Korell 1940 in Eschbach (Landkreis Usingen) in den Gemeindepfarrdienst zurück-

kehren. Er starb in D[armstadt] auf der Durchreise zu einer Nachkur in Neunkirchen im Odenwald.“

Ludwig Luckemeyer kam in der NDB zu einem ähnlichen Ergebnis:

„K[orell] litt im Dritten Reich persönlich unter seiner demokratischen Vergangenheit. Nachdem seine

Pension als Minister 1933 entfallen und er bei seiner Ernennung zum Minister 1928 aus dem Dienst

der Evangelischen Kirche ausgeschieden war, lebte er von einer kleinen Rente, bevor er 1940 ins

Pfarramt (Eschbach im Taunus) zurückkehren konnte.“

Karl Holl, der Briefe an den linksliberalen Adolf Korell von Philipp Köhler, einem Vertreter des

kleinagrarisch-mittelständigen Antisemitismus‘ im Großherzogtum Hessen, aus dem Jahr

1910 analysierte (aus dem Nachlass Korell), hielt fest: „[…] Korell war nicht nur kein Antise-

mit, sondern darüber hinaus ein überzeugter und leidenschaftlicher Gegner des Antisemi-

tismus“ (Holl 1967, S. 154; Holl stützte sich bei seiner Einschätzung allerdings auf Aussagen

von Angehörigen Korells).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsakten zum 1941 verstorbenen Pfarrer und Politiker re-

cherchieren. In den eingesehenen Quellen fanden sich keine Hinweise auf eine Verstrickung

in das NS-System.

Quellen:

HStAD, O 26 [Nachlass Adolf Korell]

HStAD, R 12 P Nr. 8001

StadtA DA, ST 61, Korell, Adolf und Mathilde

Literatur:

Gunkel, Hermann: Korell, Adolf. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 514.

Holl, Karl: Die Darmstädter Reichstagswahl von 1906 und der „Fall“ Korell. In: Archiv für Hessische

Geschichte und Altertumskunde NF 27 (1962/67), S. 121-161.

Holl, Karl: Antisemitismus, Kleinbäuerliche Bewegung und demokratischer Liberalismus in Hessen.

Drei Briefe Philipp Köhlers an Adolf Korell. In: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde

NF 30 (1967), S. 150-159.

Luckemeyer, Ludwig: Korell, Adolf. In: NDB 12 (1979), S. 583 f.

Schumacher, Martin (Hrsg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit

des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945. Düsseldorf 31994, S. 261.

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Kröhweg (K 7), benannt 1954 nach

Heinrich Reinhard Kröh (1841-1941)

Kunstmaler

* 7. Mai 1841 in Darmstadt

Ab 1847 Schulbesuch in Darmstadt (zunächst Institut Schwalbach, dann Realschule)

1858 Zeichenunterricht bei August Lucas

1860 Besuch der Museumszeichenschule von Galerieinspektor Carl Ludwig Seeger in München

1863 Studium an der Münchner Akademie beim Historienmaler Carl von Piloty

1868 Wechsel an die private Kunstschule von Karl Raupp in Nürnberg

Ca. 1870 Rückkehr nach Darmstadt

1872 Ernennung zum Großherzoglich-Hessischen Hofmaler in Darmstadt

1873 Gründung einer eigenen Kunstschule in Darmstadt

1876 Heirat mit Philippine Luise Müller, drei Kinder

1879 Zusammenlegung von Atelier und Kunstschule in eigenem Haus in der Kiesstraße, Darmstadt

1888 Mitglied der Münchener Künstlergenossenschaft; später auch (führend) in der Darmstädter

Sektion der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft (Ehrenmitglied 1931)

1889 Beteiligung mit Werken an der Eröffnungsausstellung der Kunsthalle Darmstadt; neben Por-

traits verstärkt Landschaftsmalerei

1898 erste von drei Reisen nach Norditalien, Gardasee (weitere folgten 1907 und 1910)

1911 umfangreiche Einzelausstellung des Darmstädter Kunstvereins

1929 Tod seiner Ehefrau

1931 Einzelausstellung der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft Darmstadt

1937 Unterstützung aus dem „Künstlerdank“

1940 Beteiligung an der Kunstausstellung Darmstadt

† 14. Dezember 1941 in Darmstadt

Ehrungen:

1911 Verleihung des Professorentitels durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1928 Silberne Preismünze der Stadt Darmstadt

1931 Ehrenmitglied des Reichsverbandes bildender Künstler

1936 Jubiläumsausstellung anlässlich seines 95. Geburtstags in Darmstadt

1941 Jubiläumsausstellung anlässlich seines 100. Geburtstags im Landesmuseum Darmstadt

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Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Reinhard Kröh, Darmstädter Landschaftsmaler sowie Maler am Darmstädter Hof,

war 1933 bereits 92 [!] Jahre alt.

Die künstlerischen Fähigkeiten des „Altmeister[s] der künstlerisch Schaffenden in Darm-

stadt“ wurden in der NS-Zeit nicht angezweifelt (hierzu und zum Folgenden BArch Berlin,

BDC, R 55/31842). Kröh war auch in hohem Alter noch künstlerisch aktiv, seine wirtschaftli-

chen Verhältnisse galten allerdings als prekär, weshalb die „Landesstelle Hessen-Nassau des

Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ den Antrag auf Unterstützung aus

dem „Künstlerdank“ befürwortete. Unter dem Punkt „Die politische Zuverlässigkeit“ hieß es:

„ist gegeben“ (Vermerke der mit der Prüfung des Gesuchs befaßten Stellen, 10.06.1937).

Kröh galt als „der älteste heute noch schaffende Künstler Deutschlands“, der „unwandelbare

Treue zur deutschen Art und Kunst in seinem Schaffen bewiesen“ habe (Spende Künstler-

dank an Professor Kröh-Darmstadt, [Friedrich] Ringshausen, 10.03.1937).

Anlässlich der Jubiläumsausstellung 1936 in Darmstadt wurde das „deutsche Wesen seiner

Kunst“ herausgestellt („befruchtet vom Erleben echt deutscher Landschaft“, Hessische Lan-

deszeitung vom 04.05.1936). Die (obligatorischen) Schreiben der NS-Prominenz anlässlich

seines 100. Geburtstags 1941 gedachten seiner „von grunddeutscher Haltung beseelten

schöpferischen Arbeit als Landschaftsmaler“ (Adolf Hitler), bescheinigten ihm ein „von tiefer

Heimatliebe getragen[es] Schaffen“ (Joseph Goebbels) und lobten, dass der „Odenwaldma-

ler“ auch „in den Jahren künstlerischer Verwilderung deutscher Meisterschaft treu geblie-

ben“ sei (Jakob Sprenger). In der Presseberichterstattung wurde dem „Nestor der deutschen

Künstlerschaft“ (Hessische Landeszeitung vom 11.05.1941) ebenfalls besonders seine „Treue

zu den Idealen der deutschen Kunst“ (OB Otto Wamboldt) zu Gute gehalten. Laut Ernst Klee

habe Gauleiter Sprenger 1941 auch die Verleihung der Goethe-Medaille für Kunst und Wis-

senschaft für Kröh beantragt, mit der Begründung, dieser habe den „Weg zum Führer längst

vor der Machtergreifung“ gefunden (Klee, S. 340).

Für Heinrich Reinhard Kröh, der noch 1941 im Alter von 100 Jahren in Darmstadt starb, lie-

ßen sich keine Entnazifizierungsdokumente ermitteln; über Mitgliedschaften in NS-Orga-

nisationen ist nichts bekannt.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 55/31842

StadtA DA, ST 61, Kröh, Prof. Heinrich [et al.]

Literatur:

Esselborn, Karl: Hessische Lebensläufe. Darmstadt 1979, S. 245 f.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007.

Lorenz, Inge: Der Maler Heinrich Reinhard Kröh (1841-1941) und die Motive des Odenwaldes. In: Der

Odenwald. Zeitschrift des Breuberg-Bundes 40 (1993), S. 148-164.

Magistrat der Stadt Darmstadt et al. (Hrsg.): Heinrich Reinhard Kröh 1841-1941. Leben und Werk.

Darmstadt 1992.

Netuschil, Claus K.: Kröh, Heinrich Reinhard. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 524 f.

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280

Leydheckerstraße (H 6-7), benannt 1956 nach

Otto Leydhecker (1869-1950)

Arzt

* 20. November 1869 in Darmstadt

Besuch des LGG

Studium der Medizin an Universitäten in Marburg, Heidelberg, München, Göttingen und Berlin

1893 Dissertation „Ueber einen Fall von Carcinom des Ductus thoracicus mit chyloesem Ascites“ an

der Universität Heidelberg

1895-1945 praktischer Arzt in Darmstadt; auch Bahn- und Theaterarzt – letztere bis 1937/38 als ein-

ziger in Darmstadt – sowie Schularzt und Arzt am Städtischen Altenheim (Versorgungsamt)

Lehrer an der Kunstschule von Adolf Beyer und Ludwig Habich (Anatomie für Künstler) sowie am

Fröbel’schen Institut

1908 Heirat mit Elisabeth Sternfeld (adoptiert, geb. Klappach), drei Söhne (alle drei Ärzte)

1910 Umzug in Heinrichstraße 23 (Praxis und Wohnhaus)

1933-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 2290692, Eintritt: 01.05.1933)

Ca. 1933-1945 Mitglied der NS-Ärztekammer

Ca. 1933-1945 Mitglied der NSV

1944/45 Ruhestand (im Alter von 75 Jahren)

1944 nach Zerstörung des Wohnhauses zwischenzeitlich wohnhaft in Hetzbach (Odenwald), Bens-

heim, Eberstadt, Künstlerkolonie Darmstadt

1945 zunächst wohnhaft in Vacha (Rhön), dann wieder in Darmstadt

1946/49 Wiederaufbau des Hauses in der Heinrichstraße 23

† 22. September 1950 in Darmstadt

Mitglied der Bach- und der Goethe-Gesellschaft

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Otto Leydhecker wirkte 50 Jahre als praktizierender Arzt in Darmstadt, so auch zwischen

1933 und seinem Ruhestand 1944/45. Er entstammte einer Darmstädter Ärztefamilie: sein

Großvater sowie sein Vater arbeiteten in führender Funktion in Darmstädter Kliniken; auch

die drei Söhne von Otto Leydhecker waren Ärzte.

Leydhecker wurde 1933 (im Alter von 64 Jahren) Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr.

2290692, Eintritt: 01.05.1933) und war Mitglied der NS-Ärztekammer sowie der NSV (jeweils

ohne Amt).

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens (zum Folgenden HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-

Zentral, Nr. 503725) gab Leydhecker zu Protokoll, dass er in keiner anderen NS-Organisation

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281

als der oben genannten Mitglied war. Er habe sich dazu gezwungen gesehen, der NSDAP

beizutreten, da er anderenfalls seinen Beruf nicht mehr hätte ausüben können (er war ne-

ben seiner Tätigkeit als Hausarzt auch als Bahnarzt, Schularzt, Theaterarzt sowie für das Ver-

sorgungsamt tätig) und damit die Ausbildung seiner Söhne finanziell nicht mehr gesichert

gewesen wäre. Zudem sei sein Schwiegervater Sternfeld [Adoptivvater seiner Frau, HK] Jude

gewesen, sein Austritt aus der NSDAP hätte daher die Familie in Gefahr gebracht.

Die Angaben Leydheckers werden von Zeugen gestützt, darunter der Präsident der Ärzte-

kammer Darmstadt, Richard Hammer, und der Darmstädter Bürgermeister Julius Reiber. Als

Zeuge, dessen antinationalsozialistisches Verhalten verbürgt ist, sei hier Pfarrer Karl Grein

zitiert:

„Herr Dr. med. Otto Leydhecker […] ist mir schon seit meiner frühesten Jugend bekannt. In den Jah-

ren der Naziherrschaft hatte ich oft Gelegenheit mich mit ihm zu unterhalten, bei welchen Gesprä-

chen er die Nazi-Methoden empörend ablehnte. L[eydhecker] ist politisch nicht in Erscheinung getre-

ten und erfolgte sein Eintritt in die NSDAP m.E. nur aus Selbsterhaltungstrieb; zumal er beamteter

Arzt war und auf Grund der nichtarischen Herkunft seiner Ehefrau sich schützen musste“ (Pfarrer

Grein, Darmstadt-Arheilgen, 21.06.1947).

Wie neueste Untersuchungen belegen, lag die Quote der NSDAP-Mitgliedschaft bei den Ärz-

ten der beiden hessischen Ärzte-Kammern mit 53,2 % (inklusive Anwärter 61 %) noch höher

als im Reichsdurchschnitt (Hafeneger, S. 232).

Otto Leydhecker wurde von der Spruchkammer Darmstadt-Stadt als „Mitläufer“ (Katego-

rie IV) eingestuft, da er während der NS-Zeit nicht „irgendwie politisch in Erscheinung getre-

ten“ sei. Er musste eine einmalige Zahlung von 300,- RM entrichten. In der Urteilsbegrün-

dung vom 30.10.1947 hieß es:

„Sein Schwiegervater, ein Herr Sternfeld[,] war Nichtarier, ein ältester Sohn ist nach schweren Miß-

handlungen als Antifaschist gestorben, ein zweiter Sohn vermutlich im Februar 1944 als Opfer der

NSDAP erschossen worden. Es ist unter diesen Umständen durchaus verständlich, wenn der Be-

troffene durch seinen Eintritt und durch sein Verbleiben bei der NSDAP geglaubt hat, seine Familie

schützen zu können.“

Laut Meldebogen (StadtA DA, ST 61) ist Leydheckers zweitältester Sohn Friedrich (*1911) in

Russland „gefallen“ (am 12.02.1943); die Söhne Johann (*1909) und Wolfgang (1919-1995)

überlebten die NS-Zeit (beide laut entsprechendem Vermerk Mitglied der NSDAP).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 503725

HStAD, H 3 Darmstadt Nr. 71802

HStAD, H 3 Darmstadt Nr. 71803 [Leydhecker, Elisabeth]

StadtA DA, ST 61 Leydhecker, Familie

Literatur:

Hafeneger, Benno/Velke, Marcus/Frings, Lucas: Geschichte der hessischen Ärztekammern 1887-

1956. Autonomie – Verantwortung – Interessen. Schwalbach im Taunus 2016.

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Lippmannstraße (K 7), benannt 1959 nach

Johannes Lippmann (1858-1935)

Maler

* 14. Januar 1858 in Offenbach

Besuch der Realschule in Offenbach

Zeichenunterricht bei Professor Hermann Müller, der an der Offenbacher Kunstgewerbeschule unter-

richtete; spätere Lehrer: Bildhauer Joseph Keller sowie der Frankfurter Maler Ferdinand Klimsch

1875-1877 zur Kunstausbildung in Dresden

1878 Ausbildung am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main

Einjährig-Freiwilliger beim Infanterieregiment 81

Ab 1880 Lithograph in Offenbach; Arbeit für die Lithographische Anstalt Schoembs, deren künstleri-

scher Leiter und Mitinhaber er später wurde; Kuratoriumsmitglied der Offenbacher Kunstgewerbe-

schule

1882 Heirat mit Frieda Schoembs (drei Kinder)

1889-1935 Mitglied der Freimaurerloge „Carl und Charlotte zur Treue“ in Offenbach

1895-1897 Sommeraufenthalte bei Paul Schulze-Naumburg in Kösen (Thüringen); Anregungen in

Landschaftsmalerei

1898 Atelier in Lützelbach im Odenwald; fortan verstärkt Landschaftsmalerei

1904 Beteiligung an einer Ausstellung im Münchner Glaspalast

1907 Erwerb eines Grundstücks in Lichtenberg im Odenwald

1908 Umzug in neues Haus nach Lichtenberg im Odenwald; fortan freischaffender Maler

1922 Mitbegründer des Gesangsvereins Lichtenberg-Niedernhausen

† 8. Februar 1935 in Darmstadt

Ehrungen:

1915 Verleihung des Professorentitels durch Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

1924 Ehrenmitglied des Odenwaldklubs [laut Dierks: 1929]

1928 Ehrenbürger von Lichtenberg

1928 Jubiläumsausstellung anlässlich seines 70. Geburtstags in der Kunsthalle Darmstadt

1930 Georg-Büchner-Preis [„dem treuen und meisterlichen Schilderer Odenwälder Menschen und

Landschaften“]

1933 Jubiläumsausstellung anlässlich seines 75. Geburtstags in der Kunsthalle Darmstadt

1935 Gedächtnisausstellungen anlässlich seines Todes in Darmstadt und Offenbach

1985 Gedächtnisausstellung anlässlich seines 50. Todestags, Museum Schloss Lichtenberg

2008/09 Ausstellung anlässlich seines 150. Geburtstags auf Schloss Lichtenberg

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Wirken in der NS-Zeit

Johannes Lippmann, vor allem bekannt durch seine Landschaftsbilder und bildlichen Darstel-

lungen des Arbeitslebens der bäuerlichen Bevölkerung, lebte seit 1908 als freischaffender

Maler in Lichtenberg im Odenwald.

Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war der „Maler des Odenwaldes und

seiner Menschen“ (Dierks, S. 4) bereits 75 Jahre alt. Er starb im Februar 1935 im Alter von 77

Jahren an Lungenkrebs. Die Krankheit hatte ihn seine letzten beiden Lebensjahre ge-

schwächt, wie Karl Esselborn in seinem Nachruf berichtete (Esselborn, S. 120 f.). Esselborn

charakterisierte Lippmanns Malerei als „wunderbar klar und logisch durchdacht“, wobei sie

dennoch ausgesprochen natürlich wirkte. Zum Künstler selbst äußerte sich Esselborn wie

folgt:

„Mit tiefer Religiosität hat er sich in die Landschaft eingelebt, die ihm ein beseelter Organismus ist.

[…] Die Sicherheit und Geschlossenheit seiner Gestalten und Landschaften machen seine Bilder, de-

nen man es mitunter anmerkt, daß er von der Lithographie herkommt, im besten Sinne volkstümlich.

Bis zuletzt war Lippmann ein rüstig Schaffender, seine urwüchsige Kunst hat ihn selbst jung erhalten

und sein jung gebliebenes Fühlen trat auch in der Begeisterung zu Tage, womit er die nationale Erhe-

bung begrüßte“ (Esselborn, S. 120; auch Hessische Landeszeitung vom 11.02.1935).

Schon Adolf Beyer bezeichnete 1928 Johannes Lippmann als „charaktervollen, bodenständig

gesunden Odenwaldmaler“ (Beyer, S. 327). Anlässlich der Johannes-Lippmann-Gedächtnis-

ausstellung im Kunstverein Darmstadt, bei deren Eröffnung der Leiter der NS-Kulturge-

meinde Darmstadts, Studiendirektor Moser, als Redner auftrat, wurde besonders die stets

„deutsche Kunst“ Lippmanns hervorgehoben. Im Darmstädter Tagblatt hieß es: „Lippmann

ist sich immer treu geblieben, alle Richtungen und Ismen konnten ihn nicht aus der Bahn

werfen. Er blieb ein echter deutscher Künstler in der besten Bedeutung dieses Wortes“ (DT

vom 15.04.1935). Max Streese äußerte sich in ähnlicher Weise und bewertete die Bedeutung

sowie die Einstellung des Künstlers wie folgt:

„Johannes Lippmann zählte zu den wenigen, die schon vor mehr als einem Menschenalter fühlten

und wußten, was d e u t s c h e gesunde Kunst ist und daß sie eines Tages alles Undeutsche, Blut-

fremde, überwinden muß, wenn sie als deutsche Kunst sich selbst bewähren will. […] [F]ür Johannes

Lippmann gab es keine Kunst, die nicht blut- und schollegebunden ist. Für ihn war es nicht nötig, eine

Forderung dazu im Schlagwort von Blut und Boden aufzustellen. Er wußte und kannte den uner-

schöpflichen Reichtum, der aus dem ewig lebendig sprudelnden Urquell der Natur strömt, der Land-

schaft, der Heimat, des Volkes, dem allen er blutverbunden war“ (DT vom 14.04.1935).

Auch anlässlich einer Ausstellung in der Kunsthalle Darmstadt 1937 bezeichnete Max Streese

Lippmanns Werke als „Zeugen echter und wahrer Heimatkunst“ (DT vom 04.04.1937).

In den biografischen Beiträgen von Margarete Dierks und Jutta Reisinger-Weber wurden

Lippmanns letzte Lebensjahre nicht im Kontext zum NS-Regime untersucht. Lippmanns Bio-

grafin Reisinger-Weber konstatierte auf ihrer Homepage jedoch:

„Wie vielen Malern seiner Zeit, erging es Johannes Lippmann. Seine Werke wurden posthum von den

Nationalsozialisten für ihre Ideologie vereinnahmt. Dies belegen Zeitungsartikel von 1935 und 1940.“

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Es ließen sich zum 1935 verstorbenen Maler keine Entnazifizierungsunterlagen finden; Hin-

weise auf Mitgliedschaften in NS-Organisationen fanden sich im eingesehenen Material nicht

dokumentiert.

Quellen:

StadtA DA, ST 61 Lippmann, Johannes, Prof., Maler

[http://dr-reisinger-weber.jimdo.com/johannes-lippmann], Zugriff: 03.12.2016

Literatur:

Beyer, Adolf: Johannes Lippmann. In: Volk und Scholle 6 (1928), S. 324-327.

Esselborn, Karl: Johannes Lippmann. In: Volk und Scholle 13 (1935), S. 118-121.

Dierks, Margarete: Im Odenwald. Landschaft und Menschen im Werk des Malers Johannes Lippmann

1858-1935. Fischbachtal 1985.

Reisinger-Weber, Jutta: Johannes Lippmann (1858-1935) – Maler des Odenwalds und seiner Men-

schen. In: Der Odenwald. Zeitschrift des Breuberg-Bundes 57 (2010), S. 144-161.

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Prinz-Ludwig-Weg (H 7), benannt 1988 nach

Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein (1908-1968)

Sohn des letzten Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein

* 20. November 1908 in Darmstadt

Kindheit und Jugend auf Schloss Wolfsgarten sowie im Neuen Palais in Darmstadt; Hausunterricht

1926 externes Abitur am Realgymnasium Darmstadt

Ca. 1930-1936 Studium der Kunstgeschichte in Darmstadt, Lausanne und München; begonnene Dis-

sertation „Das Problem der künstlichen Beleuchtung in der Malerei“ nicht abgeschlossen

Ca. 1933-1936 Mitglied der Deutschen Studentenschaft

1933-1935 Wehrübungen (Sommer 1933 in Ohrdruf; Herbst 1934 bis Sommer 1935 beim Kavallerie-

Regiment 118)

1936/37 Kulturattaché an der deutschen Botschaft in London

1937 Heirat mit Margaret Campbell Geddes; nach Tod großer Teile der Familie (Flugzeugabsturz)

Rückkehr im November nach Darmstadt, Adoption der Tochter seines verunglückten Bruders

1938 Umzug in Schloss Wolfsgarten (bei Langen)

1938-1945 Mitglied der NSDAP

1938-1945 Mitglied der NSV

Mitgliedschaften im Reichsbund Deutsche Jägerschaft sowie im NS-Reichskriegerbund

Ca. 1939-1943 mit Kriegsbeginn Dienst als Leutnant in verschiedenen Stäben, zuletzt an der Panzer-

truppenschule Krampnitz (nach „Prinzenerlass“ 1940 nicht im Kampfeinsatz); Rittmeister der Reserve

(Kavallerie-Regiment 6)

1942-1944 Fördermitglied des NSFK

1943 als Angehöriger eines ehemals regierenden Fürstenhauses Ausschluss aus der Wehrmacht;

Rückkehr nach Wolfsgarten

Nach 1945 Engagement für Wiederaufbau von Darmstadt sowie Unterstützung von Kunst-, Kultur-

und karitativen Einrichtungen in Darmstadt (involviert etwa in Schaffung des Bauhaus-Archivs, Neue

Künstlerkolonie, Rat für Formgebung, Schlossmuseum); Veröffentlichung von Gedichten unter dem

Pseudonym „Ludwig Landgraf“; lebte mit seiner Frau weiterhin auf Schloss Wolfsgarten

1958 Mitwirkung am deutschen Pavillon auf der Expo in Brüssel

1960 Adoption von Moritz von Hessen(-Kassel)

† 30. Mai 1968 in Frankfurt am Main

Ehrungen:

1958 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1958 Goethe-Plakette des Landes Hessen

1964 Ehrenzeichen des DRK

1972 Erinnerungstafel im Chorraum der Stadtkirche Darmstadt

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Wirken in der NS-Zeit

Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein, zweiter Sohn des Großherzogs Ernst Ludwig, kehrte

1937 aus London nach Darmstadt zurück, um das Familienerbe anzutreten.

Zu Beginn der NS-Zeit war Ludwig Student; er hatte Kunstgeschichte in Darmstadt, Lausanne

und München studiert. Eine bei Prof. Wilhelm Pinder in München begonnene Dissertation

über „Das Problem der künstlichen Beleuchtung in der Malerei“ brachte er nicht zum Ab-

schluss (Pinders nationale Auffassung von Kunstgeschichte war leicht mit der NS-Kunstauf-

fassung in Einklang zu bringen gewesen; Pinder bekannte sich zum Nationalsozialismus,

Bushart, S. 449). Im Zuge seines Studiums war Ludwig (automatisch) Mitglied der Deutschen

Studentenschaft (Mitgliedszeitraum unklar, HHStAW).

In den Jahren 1933-1935 nahm Ludwig an zwei größeren Wehrübungen teil; im Sommer

1933 in Ohrdruf sowie von Herbst 1934 bis Sommer 1935 beim Kavallerie-Regiment 118

(Franz 2012, S. 388). Im Oktober 1935 wurde er bei einem Autounfall auf der Autobahn zwi-

schen Darmstadt und Frankfurt am Main schwer verletzt (Hessische Landeszeitung vom

09.10.1935).

Im Oktober 1936 ging Ludwig als Honorarattaché (Kulturattaché) an die deutsche Botschaft

nach London, einer Einladung des neu ernannten deutschen Botschafters Joachim von Rib-

bentrop folgend. Ludwig war verlobt mit Margarte Geddes, die 1937 anstehende Hochzeit

stand allerdings unter keinem guten Stern: Zunächst musste die Zeremonie wegen des Todes

seines Vaters Großherzog Ernst Ludwig verschoben werden, vom 23. Oktober 1937 auf den

20. November 1937. Dann stürzte das Flugzeug, das Familienangehörige des Bräutigams von

Frankfurt nach London bringen sollte, bei einer Zwischenlandung im Nebel bei Ostende (Bel-

gien) ab. Unter den zu beklagenden Todesopfern befanden sich Ludwigs älterer Bruder Erb-

großherzog Georg Donatus, dessen Ehefrau Cäcilie und die gemeinsamen Söhne Ludwig und

Alexander sowie Ludwigs Mutter Eleonore. Die Hochzeit wurde in London vollzogen; das

junge Paar zog noch im November nach Darmstadt, wo Ludwig das Familienerbe antrat und

seine kleine Nichte Johanna (die nicht mitgereist war) adoptierte. Den Wohnsitz verlegte die

Familie nach Schloss Wolfsgarten; Johanna starb bereits 1939 an Meningitis.

Ludwig war (eigenen Angaben im Zuge der Entnazifizierung folgend, HHStAW) Mitglied der

NSDAP (1938-1945), der NSV (1938-1945), des Reichsbunds Deutsche Jägerschaft sowie im

NS-Reichskriegerbund. Im Gedenken an seinen flugbegeisterten Bruder existierte eine för-

dernde Mitgliedschaft beim NSFK: „Laut Feststellung meiner Verwaltung wurde 1-RM mo-

natl. Förderbeitrag 1942-1944 gezahlt. Offenbar in Erinnerung an meinen Bruder, der Flieger

war“ (HHStAW).

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde Ludwig eingezogen, er leistete als Leutnant Kriegsdienst „zu-

meist in Stabsstellen, zuletzt in der Panzertruppenschule Krampnitz“ (Franz 2012, S. 488).

1939 war er in Potsdam stationiert. Aufgrund des sogenannten Prinzenerlasses dürfte er ab

1940 von Kampfeinsätzen ausgeschlossen gewesen sein. Als Angehöriger eines ehemals re-

gierenden Fürstenhauses wurde er schließlich 1943 aus der Wehrmacht ausgeschlossen und

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287

kehrte nach Schloss Wolfsgarten zurück. Er verließ die Wehrmacht im Rang eines Rittmeis-

ters der Reserve (Kavallerie-Regiment 6).

Ludwig sorgte dafür, dass Teile der großherzoglichen Sammlung aus Darmstadt evakuiert

wurden und so die „Brandnacht“ 1944 überdauerten und nach dem Krieg in Darmstadt er-

neut ausgestellt werden konnten.

Im Entnazifizierungsverfahren gab Ludwig als Selbsteinschätzung „Höchstens Mitläufer“ zu

Protokoll. Die oben genannten Mitgliedschaften in NS-Organisationen wurden im Zuge des

Verfahrens weder bestätigt noch dementiert; von der angefragten lokalen Verwaltung wur-

de Ludwig als Mitläufer eingestuft, der „keine politische Tätigkeit ausgeübt“ habe. Streit gab

es hinsichtlich des Sühnebescheids – nicht bezüglich der tatsächlichen Einstufung als „Mit-

läufer“ (Kategorie IV), sondern hinsichtlich des zu Grunde gelegten Streitwerts in Höhe von

6.259.000 RM, woraus sich zusätzlich zur „Sühneleistung“ von 2.000 RM eine „Verfahrens-

gebühr“ in Höhe von 312.950 RM errechnete (zuzüglich 6,- RM für Porto und Auslagen,

10.04.1948). Der Streitwert wurde nach Einspruch von Ludwigs Rechtsbeistand nachträglich

auf 1.757.000 RM korrigiert; Sühneleistung und Einstufung blieben hingegen bestehen

(23.07.1948).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 502506

HStAD, D 26 [„Wolfsgarten-Archiv“, von Eckhart G. Franz ausgewertet]

StadtA DA, ST 61 Prinz Ludwig von Hessen und bei Rhein [zwei Mappen]

Literatur:

Bushart, Magdalena: Pinder, Georg Maximilian Wilhelm, Kunsthistoriker. In: NDB 20 (2001), S. 448-

450.

Franz, Eckhart G.: Ludwig Prinz von Hessen und bei Rhein. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 580 f.

Franz, Eckhart G. (Hrsg.): Haus Hessen. Biografisches Lexikon. Darmstadt 2012, S. 387-389.

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288

Von-der-Marwitz-Weg (J 10), benannt 2004 nach

Gebhard von der Marwitz (1914-1993)

Großherzoglicher Vermögensverwalter

* 22. Juni 1914 in Jena

1933 Abitur an der Deutschen Oberschule Berlin-Zehlendorf

1933 Studium der Rechtswissenschaften (Hauptfach Jura, Nebenfach VWL) in Heidelberg (nur Som-

mersemester)

1933 Umzug von Heidelberg nach Potsdam (dort wohnhaft 1933-1939)

Ab 1933 Studium der Rechtswissenschaften in Berlin

1933-1935 Mitglied der SA

1938 Geschichtsreferendar in der Justizverwaltung (Beamter)

1939-1945 Kriegsteilnehmer (Kriegsmarine, 01.09.1943: Oberleutnant zur See der Reserve)

Ca. 1945-1947 Kriegsgefangenschaft

1947/48 wohnhaft in Troisdorf (bei Bonn)

Ca. seit 1947 Mitglied der CDU

1948 Umzug nach Frankfurt am Main; Heirat mit Christa Zeiss (zwei Kinder)

1948-1949 Persönlicher Referent des ersten Frankfurter OB Walter Kolb (CDU)

In leitender Funktion bei Frankfurter Banken, darunter Bankhaus Bethmann

1951 Wahl in den Vorstand des DRK-Bezirksverbands Frankfurt (Schatzmeister)

1958-1982 Mitglied des Präsidiums des DRK-Landesverbands Hessen

1960-1990 Generalbevollmächtigter des großherzoglichen Vermögens (des Hauses Hessen und bei

Rhein)

1962 Umzug von Kronberg im Taunus nach Darmstadt

1962-1970 Vorsitzender des DRK-Bezirksverbands Frankfurt (bis 1983 zweiter Vorsitzender)

1965-1969 Schatzmeister des CDU-Kreisverbands Darmstadt

1972-1977 Ehrenamtlicher Stadtrat im Magistrat der Stadt Darmstadt (CDU)

1977-1981 Stadtverordneter (stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher) in Darmstadt; Vorsitz im

Haupt- und Finanzausschuss

1974-1989 Aufsichtsratsmitglied der Carl Schenck AG

† 4. Juni 1993 in Darmstadt

Ehrungen:

1987 Bundesverdienstkreuz am Bande

1989 Ehrenmitglied des DRK-Bezirksverbands Frankfurt am Main

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Wirken in der NS-Zeit

Gebhard von der Marwitz, lange Jahre Generalbevollmächtigter des großherzoglichen Ver-

mögens (des Hauses Hessen und bei Rhein), seit 1962 in Darmstadt ansässig und politisch

sowie kulturell aktiv, war während der NS-Zeit Student der Rechtswissenschaften und Soldat

der Kriegsmarine.

Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten legte Gebhard von der Marwitz an

der Oberschule in Berlin-Zehlendorf Anfang April 1933 sein Abitur ab. Direkt im Anschluss an

seinen Schulabschluss wechselte er zum Studium der Rechtswissenschaften an die Universi-

tät Heidelberg, wo er allerdings nur für das Sommersemester 1933 eingeschrieben blieb

(Hauptfach Jura, Nebenfach VWL, UA Heidelberg). Er zog zum Wintersemester von Heidel-

berg nach Potsdam und studierte fortan Rechtswissenschaften in Berlin.

Für von der Martwitz‘ Wirken in der NS-Zeit ließen sich nur wenige Informationen recher-

chieren. Die folgende Darstellung stützt sich weitgehend auf Selbstangaben in seinem Mel-

debogen im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens in Frankfurt am Main (HHStAW). Demnach

war von der Marwitz 1938 Gerichtsreferendar in der Justizverwaltung (verbeamtet, Beginn

der Tätigkeit unklar). Er war Mitglied der SA von November 1933 bis April 1935 (SA-Mann);

er war kein Mitglied der NSDAP oder einer anderen NS-Organisation. Bis Kriegsbeginn lebte

er in Potsdam, von 1939 bis 1945 war er bei der Kriegsmarine, seit September 1943 als Ober-

leutnant zur See der Reserve. Unter nicht näher zu klärenden Umständen geriet er 1945 in

Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 entlassen wurde.

Das Entnazifizierungsverfahren in Frankfurt am Main wurde eingestellt, da von der Marwitz

bereits vom Entnazifizierungsausschuss zuständig für den Landkreis Bonn, wo er 1947/48

lebte, entlastet worden war (Entnazifizierungs-Hauptausschuss des Regierungsbezirks Köln

Landkreis, 06.10.1947, Kopie in HHStAW).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/11, Nr. 11143/1-2

HStAD, D 27 A Nr. 154

HStAD, R 12 P Nr. 4078

UA Heidelberg, Studentenakte (StA Marwitz 1930-1940)

StadtA DA, ST 61 Marwitz, Christa von der + Gebhard

Literatur:

---

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290

Wilhelm-Michel-Straße (L 8), benannt 1953 nach

Wilhelm Michel (1877-1942)

Philosoph und Schriftsteller

* 9. August 1877 in Metz

1883 Rückkehr der Familie in die Heimat des Vaters (Frankenstein in der Pfalz)

1883-ca. 1887 Besuch der Dorfschule in Frankenstein in der Pfalz

Ca. 1887-1896 Besuch des humanistischen Gymnasiums in Mainz (der Heimat seiner Mutter)

1896-1900 Studium der Rechtswissenschaften in München

1900/01 Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“ in Mainz

1901 Arbeit als freier Schriftsteller in München

1902 erste Veröffentlichung in der „Münchner Zeitung“ (Kunstberichterstatter)

1904 „Apollon und Dionysos. Dualistische Streifzüge“ (sein erstes Buch)

1906-1930 Mitarbeiter der Zeitschrift „Die Weltbühne“

1911 „Friedrich Hölderlin“

1913 Umzug nach Darmstadt: Schriftleitung der Kunstzeitschriften des Darmstädter Kunstverlegers

Alexander Koch

1914-1918 Kriegsteilnehmer, zunächst Infanterie, dann bis Kriegsende Schriftleitung der von der

deutschen Heeresleitung herausgegebenen „Gazette des Ardennes“ in Charleville (Gefreiter)

1915 Heirat mit Herta Koch (Tochter des Alexander Koch), vier Kinder [Michels dritte Ehe; Angabe

1937: insgesamt zehn Kinder; Angabe 1938: acht Kinder (mit Namen)]

1919 Mitbegründer der Künstlervereinigung „Darmstädter Sezession“

1919 „Darmstadts Zukunft als Kunststadt“

Ab 1920 Mitarbeiter beim „Hessischen Volksfreund“, vor allem Kunst- und Theaterkritiken

1922 Aufruf „An die republikanische Intelligenz Darmstadts“ im „Hessischen Volksfreund“

1922 „Verrat am Deutschtum. Eine Streitschrift zur Judenfrage“

1926 „Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit“

1927 „Der abendländische Zeus“

1928-1930/33 Mitglied des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, Ortsgruppe Darmstadt (Nr. 422)

1928-1942 Autor der Zeitschrift „Eckart“

1930 „Die Schicksalsfrage des Nationalismus“

1931 [1932] „Bekenntnis zur Kirche“

1932 „Wir heißen Euch hoffen“

1933-1942 Mitglied der Reichsschrifttumskammer

1934-1942 Mitglied des RLB

1936 „Das Herz im Alltag“

1937 „E. Merck Darmstadt“; „Darmstadt. Ein Gespräch“

1939 „Nietzsche in unserem Jahrhundert“

1940 „Das Leben Friedrich Hölderlins“ (Hölderlin-Biografie)

† 16. April 1942 in Darmstadt

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Ehrungen:

1925 Georg-Büchner-Preis

Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Michel, Schriftsteller und Philosoph, lebte seit 1913 in Darmstadt, wo er 1942 ver-

starb. In der NS-Zeit publizierte er vor allem zahlreiche Essays in Zeitungen und Zeitschriften

(darunter auch NS-Publikationsorgane) sowie 1940 seine große Hölderlin-Biografie.

„M[ichel] ist ein Gesinnungslump ureigenster Prägung“ (Gestapo Darmstadt, 06.02.1940, BArch Ber-

lin, BDC, R 9361-V/8350).

In der biografischen Literatur wurde insbesondere Michels Beschäftigung mit dem Dichter

Hölderlin, mit dessen Leben und Werk er sich über 40 Jahre beschäftigte, als nachwirkende

Leistung hervorgehoben. Auf Michels Einbettung in die NS-Zeit hingegen fanden sich kaum

Hinweise. In der Zeit zwischen 1933 und seinem Tod 1942 veröffentlichte Michel Dutzende

von Essays in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften. Wie seine eigenen Angaben an die

Reichskammer Deutscher Schriftsteller dokumentieren, schrieb er neben regelmäßigen Bei-

trägen im „Darmstädter Tagblatt“ auch (unregelmäßig, aber jeweils in zweistelliger Anzahl)

Artikel für die NS-Tageszeitung „NSZ Rheinfront“ sowie für die Zeitschriften „Westmark“,

„Völkische Kultur“ und „Eckart“.

In den 1920er Jahren hatte sich Michel wiederholt für die Republik und gegen den Antisemi-

tismus ausgesprochen. In seinem 1922 veröffentlichten Aufruf „An die republikanische Intel-

ligenz Darmstadts!“ etwa forderte er die „Männer der geistigen Arbeit“ zur Teilnahme an

einer Demonstration auf „für das freie entschlossene republikanische Deutschland“, das er

durch „Landesfeind[e] im Innern“ bedroht sah. Im letzten Absatz des Aufrufs (unterzeichnet

mit „im Namen zahlreicher Kameraden, Wilhelm Michel“) hieß es:

„Schließt die Reihen mit euren Brüdern von Fabrik und Werkbank! Zeigt denen, die das Wort ‚Geist‘

nur als Lästerung im Munde führen, daß der deutsche Geist endgültig Partei genommen hat für die

Zukunft und Entwicklung, für Freiheit und Republik!“ (Hessischer Volksfreund vom 25.06.1922).

Michels ebenfalls 1922 erschienene Publikation „Verrat am Deutschtum. Eine Streitschrift

zur Judenfrage“ las sich als deutlich formulierte Absage an den Antisemitismus – und vor

allem als eine Klage darüber, dass Antisemitismus zu Unrecht mit „Deutschtum“ gleichge-

setzt würde. Es ließen sich zahlreiche Textbeispiele aus der 47 Seiten umfassenden Streit-

schrift nennen; die folgende längere Passage steht exemplarisch für deren Stoßrichtung (und

Wortwahl):

„Man beruft sich, indem man sich als übelriechender Coyote benimmt, auf deutsches Wesen, deut-

schen Geist, deutsches Blut. Man behauptet, echtes Deutschtum zu bewähren, indem man schäbig

ist wie eine Kellerassel, ordinär wie ein Strizzi, schamlos wie ein Leichenfledderer, betrügerisch wie

ein Wechselfälscher. Der Antisemitismus ist nicht bloß eine Sache zwischen Juden und Judenhassern.

Er ist in erster Linie eine Sache zwischen Deutschen und einer Horde von Verrätern aller edlen, geis-

tigen, ritterlichen Überlieferungen des Deutschtums, die wir als etwas Verehrungswürdiges in uns

tragen. Er ist unser aller Entehrung. Er ist die Schmach, die uns auf Jahrhunderte ans Galgenholz an-

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prangert. Er ist die brennende Schande all derer, die im Deutschtum ein edles, ausgezeichnetes

Werkzeug zur Verwirklichung der Menschheit erblicken. Er ist unverzeihliche Felonie, Urfall der Un-

treue gegen Volk und Land, er ist die frechste Unternehmung gegen das Deutschtum, die jemals ins

Werk gesetzt wurde“ (Verrat am Deutschtum, S. 10).

Michel war Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (Ortsgruppe Darmstadt), Mitarbei-

ter der Zeitschrift „Die Weltbühne“ und persönlich bekannt mit Wilhelm Leuschner sowie

Martin Buber. Seine Veröffentlichung „Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit“ (1926)

stand in der NS-Zeit auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ (BArch

Berlin, BDC, R 9361-V/8350). Noch im Mai 1932 zeigte ein Foto Michel gemeinsam am Tisch

mit Wilhelm Leuschner, dem Intendanten des Darmstädter Landestheaters Gustav Hartung

und Thomas Mann (andere Datierung: 1931, HStAD, R 4 Nr. 13486).

Erklärungsbedürftig erscheint anhand Michels Werdegangs in den 1920er Jahren, dass er

auch in der NS-Zeit ununterbrochen veröffentlichen durfte (und veröffentlichte). Er war bis

zu seinem Tod 1942 Mitglied der Reichsschrifttumskammer, publizierte nach 1933 – wie

oben erwähnt – zahlreiche Artikel (in der Regel in Form von Essays), auch in den genannten

NS-Publikationsorganen.

Als eine erste Annäherung an den Nationalsozialismus ließe sich Michels Veröffentlichung

„Wir heißen Euch hoffen. Betrachtungen zur neuen Weltstunde“ lesen, die der Philosoph

bereits 1932 verfasste. Der Rezensent des Darmstädter Tagblatts las die „Hoffnung auf eine

neue nationale Lebensmächtigkeit“, wenn Michel formulierte:

„Was die Geschichte jetzt als Menschenform zur Führung bringen will, das ist die dem Deutschen

eigene Wesensform. So fest es steht, daß die bisherige Richtung des Zivilisationsgeistes dieser Men-

schenform feindliche war, so fest steht es, daß die neue Wendung ihr günstig ist. Der Deutsche hat

sich nur als Deutscher zu erfüllen, um dieser Zeit gemäß zu sein. Das hat nichts mit einem leichten

Leben oder mit einer Gewähr für deutschen Welterfolg zu tun, aber es schenkt uns die Freude, unser

Dasein nach eignen Takten leben zu können“ (Wilhelm Michel: „Wir heißen Euch hoffen!“; Rezension

von Herbert Nette im DT vom 09.10.1932).

Michels Hoffnung, die von ihm vertretene Geisteshaltung eines „wahren Deutschtums“ ließe

sich mit dem (oder gerade durch den) Nationalsozialismus vorantreiben, zur führenden Geis-

teshaltung gestalten, durchwirkt später wiederholt seine Essays im „Darmstädter Tagblatt“

(zu DT-Beiträgen 1933-1936 vgl. StadtA DA, ST 61). Die (eingesehenen) Beiträge waren we-

der antisemitisch noch weitgehend in propagandistischem NS-Jargon verfasst. Michels Zu-

stimmung zu den „Errungenschaften“ des NS-Regimes sowie die Anschlussfähigkeit seines

Begriffs von „Deutschtum“ an die politische Gegenwart wurden darin aber wiederholt deut-

lich.

Im Juli 1935 erörterte Michel etwa „Die Frage nach dem, was ‚deutsch‘ ist“. Das von ihm

propagierte „Deutschtum“ stünde demnach keineswegs im Widerspruch zu Europa – ganz im

Gegenteil: Was „deutsch“ ist, sei ohne Einbettung in europäische Werte gar nicht denkbar.

Der Weg der Deutschen durch die Jahrhunderte sei dennoch geprägt von einem „Durchge-

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hen durch so vieles Fremde und Halbfremde, das doch nicht organisch einverleibt werden

konnte“. In der (politischen) Gegenwart habe sich dies hingegen grundlegend geändert:

„Es ist die gegenwärtige deutsche Stunde mit ihrer Frage nach dem, was ‚eigentlich‘ deutsch ist. Es ist

die Stunde, da der Deutsche als endlich festgewordenes Staatsvolk sich aus den unorganischen Früh-

verbindungen mit ‚Rom‘ herausnimmt, da er seine geschöpfliche Eigenheit betont unter Berufung an

die großen Mächte von Blut und Boden – nicht um sich in ein ‚deutsches Abseits‘ einzuriegeln unter

Verleugnung Europas, sondern ganz im Gegenteil: um den alten hohen Werten des Erdteils endlich

lebensrichtig zu begegnen und den germanisch-deutschen Beitrag zur europäischen Kultur und Men-

schenform in einem zweiten ‚kaiserlichen‘ Tun geschichtlich zu befestigen“ (DT vom 12.07.1935).

Im weiteren Verlauf des Essays hieß es weiter:

„Unser Fragen nach dem Eignen hat keinen weltflüchtigen, keinen stadtflüchtigen Sinn; es hat auch

durchaus keinen zivilisationsflüchtigen Sinn. Wir ziehen uns mit der Frage nach dem, was deutsch ist,

nicht aus dem Wettbewerb der Weltvölker zurück! Wir treten erst mit voller Kraft in ihn ein! Könnten

wir an diesem Inhalt der heutigen deutschen Selbstbesinnung irgendwelchen Zweifel hegen: die Au-

tobahnen, die unser Land durchstrahlen, die mächtige deutsche Technik, die vorbildliche Verarbei-

tung brennendster moderner Sozialfragen, die wahrhaft schöpferischen deutschen Vorstöße zur

Neugestaltung der Völkerbeziehungen würden uns zurufen: Fort mit solchem Zweifel! […] Aber em-

por mit dem stolzen Wissen, daß diese Selbstbesinnung uns als desto rüstigere Kämpfer hinausweist

auf das Feld der weltgültigen Tat.“

Technische Errungenschaften und die Sozialpolitik des NS-Regimes wurden auch in anderen

Veröffentlichungen von Michel positiv dargestellt, so in „Darmstadt. Ein Gespräch“ (1939)

der Anschluss an die „großartige Reichsautobahn“ (S. 5). In dem Band „E. Merck Darmstadt“

(1937), zu dem Michel den Text verfasste, lobte er im Kapitel „Soziale Einrichtungen“ die

Zusammenarbeit mit der „Deutschen Arbeitsfront“ sowie mit der „NS-Gemeinschaft ‚Kraft

durch Freude‘“:

„Kameradschaftlicher Geist, Gefühl der Werkgemeinschaft und auf beiden Seiten der ernste Wille,

die großen einschlägigen Gesichtspunkte unserer neuen Volksordnung voll zu verwirklichen, geben

dieser Zusammenarbeit das Gepräge und die Erfolgsgrundlage. In ihr drückt sich die Erkenntnis aus,

daß das Werk nur ein Teil der Volksgemeinschaft ist und daß daher alle Maßnahmen des Werkes von

dem gleichen Geist getragen sein müssen, von dem das ganze Volk getragen wird“ (E. Merck Darm-

stadt, S. 90).

Im Essay „Freude macht Freude“, in dem viel von Liebe, Herzensmilde und Verzeihen als hei-

lenden Kräften die Rede war, verwies Michel bezüglich der „Herzensachtung von jedem, der

mit ehrlichen freudigen Willen mitschafft am Aufbau unseres Volkes“ (im Kontext eher un-

vermittelt) auf Adolf Hitler:

„Standesdünkel, Gesinnungsdünkel, Vorbehalte kleinlicher Art – sind sie überall schon soweit abge-

räumt, wie sie es angesichts der großen Schicksalsverbundenheit aller Deutschen sein müßten? Der

Führer hat jedem die Bruderhand gereicht, der es redlich mit Volk und Vaterland meint. Hast du das

auch schon getan?“ (DT vom 20.12.1935).

Immer wieder thematisierte Michel in seinen Essays religiöse bzw. religionsgeschichtliche

Fragestellungen. Dabei fällt auf, dass für ihn das (protestantische) Christentum elementarer

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Bestandteil des „Deutschtums“ war; dass es seiner Ansicht nach keinen „Kampf zwischen

Christentum und Volkstum“ gab, „sondern ein bisher nie dagewesenes Mächtigwerden des

einen im andern, des einen durch das andere“ („Die Bühne im neuen Deutschland“, DT vom

01.05.1935). Es sollte „das deutsche Herz demütig und tapfer durch Leiden und Tat die Wirk-

lichkeit Gottes, die Herrlichkeit des gottgestifteten Lebens neu in die menschliche Seele

bringen“ (ebenda, unter Bezug auf die Veröffentlichung „Wesen und Mächte des heldischen

Theaters“ von Erich von Hartz). „Volksgemeinschaft“, „Deutschtum“, „Deutschlands Beru-

fung“ – Themen und Begrifflichkeiten, die Michel in seinen Beiträgen immer wieder aufgriff,

häufig in Zusammenhang gesetzt mit der von ihm konstatierten Besonderheit des „deut-

schen Wesens“:

„[…] – aber sieghaft hebt sich aus den wilden und leuchtenden Bildern die schwertführende Gewalt

des Deutschtums heraus, seine weltgestaltende Berufung, das Bewußtsein, daß es etwas Großes ist

Deutscher zu sein und deutsches Schicksal mitzuleben!“ („Erinnerung als Kraftspender“, DT vom

23.01.1935).

Zeitgenossen betrachteten Michels „Wendung“ vom Republikaner der 1920er Jahre zum

Befürworter des Nationalsozialismus‘ skeptisch bis ablehnend. Der Architekt Ernst W. Müller

bezeichnete in einem in Auftrag gegebenen Dossier Michel als „eine stadtbekannte Persön-

lichkeit der roten Aera, der sich nach Konjunktur beliebig dreht“ (Müller an Regierungsrat

Reiner, März 1934, HStAD, G 5 Nr. 15). 1934 veröffentlichte die Zeitschrift „Der Datterich.

Rhein-mainischer Beobachter“ eine sich über mehrere Ausgaben erstreckende Kampagne

gegen Michel. Die Titelseite der Ausgabe vom 02.11.1934 zeigte in Form einer Karikatur zwei

Wetterhähne mit Michels Konterfei: Bei jenem von 1920 blies der Wind von links, bei dem

von 1934 von rechts. Darunter stand zu lesen:

„Wenn einer auf hoher Warte steht, / Und sich nach jedem Winde dreht

Und schmettert ohne innere Müh‘ / Mal links, mal rechts sein Kikeriki

Dann nimmt man solchen wendigen Mann / Nicht ernster als jeden Wetterhahn!“

Auf der Titelseite der Ausgabe vom 09.11.1934 fand sich der erwähnte Aufruf von Michel aus

dem Jahr 1922 nochmals abgedruckt. Und das Titelblatt vom 23.11.1934 schmückte das

ebenfalls bereits erwähnte Foto, das Michel noch 1932 mit Leuschner, Hartung und Thomas

Mann an einem Tisch zeigte, untertitelt mit:

„Im Mai in diesem Kreis betroffen, / Im Juni heißt er uns schon ‚hoffen‘ –

Wie nützlich ist doch allezeit / Die Gabe rascher Wendigkeit!“

Im Textteil der Zeitschrift wurde Michel eine opportunistische Haltung unterstellt, sein Bei-

trag „Wir heißen euch hoffen“ in das Jahr 1933 datiert und als Reaktion auf die geänderten

politischen Verhältnisse hin gedeutet. Michel nahm zu den Vorwürfen explizit Stellung – in-

dem er darauf hinwies, der Text sei bereits im „Juni-Juli 1932 geschrieben“, das Buch könne

daher nur „eigene, freierwachsende Einsichten“ darstellen. Auch sei sein deutsches Natio-

nalbewusstsein nachweislich keineswegs neu. Tatsächlich hatte sich Michel bereits in seinem

Beitrag „Die Schicksalsfrage des Nationalismus“ mit der Entwicklung des Nationalismus in

Deutschland auseinandergesetzt. Er sah darin eine neue Entwicklung hinsichtlich des Natio-

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nalismus und verwies bereits 1930 darauf, dass „wir ohne Ausnahme gezwungen sind, über

alte Schablonen hinaus zu denken“. Das „künftige Deutschland“, so Michel weiter, werde

weder von den alten Linken noch von den alten Rechten allein geprägt sein, „sondern von

neuen Kräfteverbindungen, in denen möglicherweise auch das nationalistische Element eine

Rolle spielen wird“ (Die Schicksalsfrage, S. 460). [Er wendete sich gegen „primitive“ Gewalt,

machte sich stark für Geist und Gottgläubigkeit in Bezug auf Nationalismus.] Die Autoren des

„Datterich“ werteten in ihrer Replik (09.11.1934, S. 2) Michels Gegenrede als unzureichend:

Im Sommer 1932 habe er bereits den Aufstieg des Nationalsozialismus erkennen können; an

ihrer Einschätzung änderten daher Michels Erklärungsversuche nichts:

„Es steht fest, daß Wilhelm Michel über ein Jahrzehnt lang zur geistigen Prominenz der linken Rich-

tung zählte und sich als solcher öffentlich und häufig bemerkbar machte. Es steht fest, daß Wilhelm

Michel ehedem ein Buch verfaßte, in welchem er die Vertreter der heute herrschenden Anschauun-

gen mit Ausdrücken belegte, die einfach nicht wiederzugeben sind. Andererseits steht fest, daß Wil-

helm Michel ohne jeden erkennbaren Übergang plötzlich das Gegenteil von dem anbetet, was er

früher vertrat, und unter dem Motto ‚Was geb‘ ich für mein schläächt‘ Geschwätz von gestern‘ das

derzeit Gültige hymnisch besingt.“

1940 kam die Darmstädter Gestapo in einem Dossier über Michel zu einem ganz ähnlichen

Ergebnis, das im oben vorangestellten Zitat kulminierte: „M[ichel] ist ein Gesinnungslump

ureigenster Prägung“ (Gestapo Darmstadt, 06.02.1940, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/8350).

Michel wurde in dem Dossier als Intellektueller der „Systemzeit“ charakterisiert, dessen

„marxistische Gesinnung“ und „Haltung gegenüber dem Judentum“ Ausdruck in den oben

bereits genannten Veröffentlichungen aus dem Jahr 1922 fanden; auch der Verweis auf das

veröffentlichte Foto aus dem Jahr 1932 fehlte nicht. Seine Parteinahme bezüglich des Natio-

nalsozialismus wurde auch hier als Opportunismus bewertet: Wenngleich er in „staatspoliti-

scher Hinsicht“ nach 1933 nicht in Erscheinung getreten sei, so sei doch dringend empfohlen,

„seiner Wandlungsfähigkeit eiserne Schranken zu setzen“:

„Nach den obigen Ausführungen bestehen an der Zugehörigkeit des M[ichel] zur Reichsschrifttums-

kammer, zu der die hiesige Dienststelle bisher zur Stellungnahme nicht aufgefordert wurde, aus

staatspolizeilichen Gründen erhebliche Bedenken.“

Entsprechend wurde Michel von der NSDAP-Gauleitung als politisch unzuverlässig bewertet

und gefordert, „die Mitgliedschaft des Michel zur Reichsschrifttumskammer aufzuheben“

(Gauhauptstellenleiter, Gauleitung Hessen-Nassau, 23.06.1941, BArch Berlin, BDC, R 9361-

V/8350). Dennoch blieb Michel bis zu seinem Tod Mitglied der Reichsschrifttumskammer:

„Die Kammer hat sich eingehend mit der Frage befasst, ob M[ichel] auszuschließen war, hat es je-

doch dann bei der Mitgliedschaft belassen mit Rücksicht darauf, daß er nach der Machtübernahme

nicht mehr nachteilig in Erscheinung getreten war“ (Schriftsteller Wilhelm Michel, Ihr Schreiben vom

28.9.42, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/8350).

Der Reichsschrifttumskammer war im Übrigen schon früher bekannt, dass Michels politische

Vergangenheit Fragen aufwarf: In einem Schreiben an den Herausgeber der Monatsschrift

„Völkische Kultur“ machte die Kammer bereits im Februar 1935 (auf Anfrage) darauf auf-

merksam, dass man Michel ob seiner bekannten Angriffe auf den Antisemitismus „auf kei-

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296

nen Fall“ als Nationalsozialisten bezeichnen könne (Schreiben vom 14.02.1935, BArch Berlin,

BDC, R 9361-V/8350).

Da Wilhelm Michel 1942 verstarb, ließen sich keine Entnazifizierungsakten recherchieren.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/8350

HStAD, G 5 Nr. 15

HStAD, R 4 Nr. 13486 [erwähnte Gruppenaufnahme zu Tisch]

HStAD, R 12 P Nr. 4183

Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Wilhelm Michel [NICHT eingesehen]

StadtA DA, ST 61, Michel, Wilhelm

Literatur:

Michel, Wilhelm: Verrat am Deutschtum. Eine Streitschrift zur Judenfrage. Hannover/Leipzig 1922.

Michel, Wilhelm: Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1926.

Michel, Wilhelm: Die Schicksalsfrage des Nationalismus. In: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in

Deutschland 6 (1930/31), Heft 5 (Dezember 1930), S. 458-465.

Michel, Wilhelm: Wir heißen euch hoffen! Betrachtungen zur neuen Weltstunde. Darmstadt 1932.

Michel, Wilhelm: E. Merck Darmstadt. Darmstadt 1937 [herausgegeben von E. Merck Darmstadt,

„Den Text verfaßte […] Schriftsteller Wilhelm Michel, Darmstadt“].

Michel, Wilhelm: Darmstadt. Ein Gespräch. Darmstadt 1939.

Michel, Wilhelm: Der Kriegsrat Johann Heinrich Merck. Berlin 1941.

Netuschil, Claus K.: Michel, Wilhelm. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 633.

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297

Rudolf-Mueller-Anlage (J 8-9), benannt 1974 nach

Rudolf Mueller (1869-1954)

Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt

* 4. August 1869 in Gießen

Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt sowie des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums in

Hannover (Abitur in Hannover)

Studium der Rechtswissenschaften in Gießen, Tübingen, Göttingen, Jena und Berlin

Nach abgeschlossenem Studium Tätigkeiten im Hessischen Staatsdienst (Großherzogliches Polizeiamt

Darmstadt, Staatsministerium, Innenministerium)

1900 Heirat mit Martha Wölkel (drei Kinder)

1904 kurzzeitig stellvertretender Kabinettssekretär im Staatsministerium

1908 Kreisamtmann in Heppenheim

1909 juristischer Beigeordneter der Stadt Darmstadt

1910/11 Titel „Bürgermeister“ in Darmstadt (1921 für weitere zwölf Jahre bestätigt)

1914-1918 zunächst Teilnahme am Ersten Weltkrieg, dann Rückversetzung in die Verwaltung in

Darmstadt

1919 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei in Hessen

1929-1933 Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt

1929-1933 Vorsitzender des Odenwaldklubs (des Gesamtverbands der Odenwaldvereine; 20 Jahre

Vorsitzender der Ortsgruppe Darmstadt, 50 Jahre Mitglied des Odenwaldvereins)

1931 New-York-Reise

1933 Absetzung als OB durch die Nationalsozialisten (Ende März)

1945 Treuhänder der amerikanischen Militärregierung für die Grube Messel

† 1. Juni 1954 in Darmstadt

Ehrungen:

1932 Ehrensenator der Universität Gießen

1936 Ehrenmitglied des Odenwaldklubs

1949 Ehrenbürger der Stadt Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Rudolf Mueller, Jurist, leitender Beamter und schließlich ab 1929 OB der Stadt Darmstadt,

wurde vom NS-Regime Ende März 1933 aus seinem Amt fristlos entlassen.

Über Muellers Wirken in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ist wenig bekannt. In einem Pres-

sebericht hieß es bezüglich der Zeit nach seiner Entlassung: „Rudolf Mueller zog sich damals

aus dem öffentlichen Leben zurück und widmete sich vornehmlich seiner Liebe zur Kunst“

(DT vom 04.08.1969). Auch der Beitrag von Susanne Kiraly im Stadtlexikon Darmstadt geht

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298

nicht auf die Zeit ein [es wird lediglich – fälschlicherweise – auf seinen Vorsitz des Oden-

waldklubs ab 1936 verwiesen; er wurde 1936 zum Ehrenmitglied ernannt]. Kurz vor seiner

Entlassung Ende März wandte sich Mueller mit einem Schreiben an die Mitarbeiter der

Stadt(verwaltung) Darmstadt. Er bezog sich auf den Wahlsieg der Nationalsozialisten in Hes-

sen am 13. März 1933 und ließ im Zuge dessen wissen:

„Es ist klar, dass diese Entwicklung auch in den bürgerlichen Kreisen nicht überall kritiklos hinge-

nommen worden ist, und es sind oft nicht die schlechtesten Elemente, die sich nicht dazu entschlie-

ßen konnten oder können, gleichsam über Nacht sich zu einer anderen Weltanschauung zu beken-

nen“ (17.03.1933, An die städtischen Beamten, Angestellten und Arbeiter, gezeichnet [ohne „Heil

Hitler!“] Rudolf Mueller).

Aber auch die Kommunen müssten sich entsprechend der neuen Lage verhalten, so Mueller

weiter, und er warb um Loyalität der städtischen Beamten, Angestellten und Arbeiter:

„Und diese Einstellung zu der neuen Lage kann im Hinblick auf die Not des Vaterlandes und die Not-

wendigkeit eines Wiederaufbaus bei einer ruhigen Fortentwicklung nur eine positive sein, einerlei, ob

diese oder jene Einzelmaßnahme der Regierung innerlich gutgeheißen werden sollte oder nicht“

(ebenda, Hervorhebung im Original).

Deutschland dürfe schließlich nicht im „Chaos“ versinken, weshalb die Angesprochenen ihre

Pflicht zu tun hätten; sie hätten sich „unbeschadet der unbedingten Wahrung einer gerech-

ten und objektiven Einstellung zu allen Bevölkerungsgruppen“ treu und loyal zu verhalten.

Gegen die kursierende Behauptung, er sei SPD-Mitglied gewesen, verwahrte sich Mueller

kurze Zeit später vehement und öffentlich. Er sei tatsächlich schon seiner Herkunft nach

„bürgerlicher“ Einstellung und habe sich – trotz seines Eintritts 1919 in die „Demokratische

Partei“ – parteipolitischer Arbeit weitgehend verschlossen:

„Mein Interesse und meine Kräfte gehörten ausschließlich der Verwaltung meiner Heimatstadt. Das

Urteil über mein Wollen und den Erfolg meiner 24jährigen kommunalen Arbeit wird eine ruhigere

Zeit fällen“ (in der Presse veröffentlichte Stellungnahme vom 13.04.1933, StadtA DA).

Über Muellers Wirken nach seiner Entlassung als OB durch die Nationalsozialisten bis 1945

gab lediglich der von ihm selbst am 26. April 1946 ausgefüllte Meldebogen im Zuge seines

Entnazifizierungsverfahrens Aufschluss (HHStAW). Demnach war der abgesetzte OB weder in

der NSDAP noch in einer ihrer Unterorganisationen Mitglied (alle Fragen mit „nein“ beant-

wortet). Ob er Mitglied einer der NSDAP verbundenen Organisation war, konnte er nicht mit

Bestimmtheit ausschließen („Diese Sachen besorgte immer meine im Jahr 1945 verstorbene

Frau“). Als OB a. D. bezog er bis 1945 reduzierte Einkünfte (jährlich zwischen 10.000 und

16.000 RM). Auf die Frage, in welche Gruppe er sich einordnen würde, antwortete er „In gar

keine Gruppe“ mit folgender Begründung: „Ich wurde als Antifaschist am 30.3.33 von dem

Hitler-Regime aus meinem Amt fristlos entlassen und dadurch geldlich und moralisch schwer

geschädigt“. Seit Juli 1945 arbeitete er als Treuhänder der Grube Messel für die amerikan i-

sche Militärregierung in Darmstadt, die ihn als politisch entlastet ansah. Rudolf Mueller wur-

de am 03.02.1947 schließlich als „Vom Gericht nicht betroffen“ eingestuft.

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299

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 03656 (nur Meldebogen)

HStAD, O 29 Nr. 50

HStAD, R 4 Nr. 1384

HStAD, R 4 Nr. 21045

HStAD, R 12 P Nr. 4336

StadtA DA, ST 61 Müller, Rudolf

Literatur:

Kiraly, Susanne: Mueller, Rudolf. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 651.

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300

Elisabeth-Noack-Platz (H 9), benannt 1997 nach

Elisabeth Noack (1895-1974)

Musikwissenschaftlerin und Musikpädagogin

* 29. Juli 1895 in Mainz

1901-1911 Besuch der Höheren Töchterschule in Darmstadt (nach der Übersiedlung der Eltern)

1911-1915 Besuch der Ludwigs-Oberrealschule in Darmstadt (August 1914: Notreifeprüfung, März

1915: Abitur)

1915 Diakoniehilfsschwester im Städtischen Krankenhaus Darmstadt

1915-1917 private Musikstudien (1915/16 auch an der TH Darmstadt)

1917-1921 Studium der Musikwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin

1919 Abiturergänzungsprüfung (Latein)

1921 Promotion in Musikwissenschaften „Georg Christoph Strattner (ca. 1645-1708)“

1921 Musiklehrerin an verschiedenen Darmstädter Schulen

1921-1923 Kantorin der Evangelischen Johannesgemeinde Darmstadt

1921-1934 Mitglied des Reichsverbands deutscher Tonkünstler (im erweiterten Hauptvorstand)

1922 Staatliche Hessische Prüfung für Gesangslehrer an höheren Schulen (als erste Frau)

1922-1945 Mitglied des Tonika-Do-Bunds für musikalische Erziehung

1922-1923 Leiterin des Seminars für Musiklehrer an der Akademie für Tonkunst Darmstadt

1923-1924 Musiklehrerin am privaten Landerziehungsheim Hochwaldhausen (Oberhessen)

1924-1929 Musiklehrerin (ab 1925 Studienrätin) an der Helene-Lange-Schule in Schneidemühl (Pro-

vinz Grenzmark Posen-Westpreußen)

1925 Preußische Staatsprüfung für das künstlerische Lehramt (in Berlin) und Pädagogische Staatsprü-

fung (in Schneidemühl)

1925 „Die Bibliothek der Erfurter Michaeliskirche“

1927 „Mein erstes Singbuch“ (für Grundschüler nach Tonika-Do-Lehre konzipiert; mehrteilig)

1929-1934 Dozentin für Musik an der Pädagogischen Akademie Kiel (1932-1934: Hilfsdozentin)

1929-1931 Lehrbeauftragte an der Landeskirchlichen Schule für Kirchenmusik Eckernförde

1930 Gauleiterin Schleswig-Holstein im Reichsverband akademisch gebildeter Musiklehrerinnen

1930 Rundfunkbeiträge zum Thema „Volkslied“

1932 „Grenzen und Möglichkeiten des musikalischen Schulfunks und seiner unterrichtlichen Auswer-

tung“

1933/34 Lehrbeauftragte für Musikerziehung an der Hochschule für Lehrerbildung Kiel

1934-1956 (mit Unterbrechung) Studienrätin an der Hindenburgschule (1947 umbenannt in Käthe-

Kollwitz-Schule) Kiel

Bis 1934 Mitglied im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein, dort in mehreren Ausschüssen

1934-1945 Mitglied der NSV

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1934-1945 Mitglied des NSLB

1935-1945 Mitglied der NS-Frauenschaft [Musikalische Leiterin, Gau Schleswig-Holstein]

1937-1945 Mitglied der NSDAP (Nr. 5444166)

1937-1945 Mitglied des Reichskolonialbunds (RKB)

1937-1945 Mitglied des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland (VDA)

1938 „Chorerziehung“

1938-1940 „Deutsche Musiklehre für junge Menschen“ (unveröffentlichtes Manuskript)

1939-1945 Mitglied des Reichsluftschutzbunds (RLB)

1940-1945 Mitglied der Reichsmusikkammer (Abteilung Verleger)

1940-1957 Leiterin des Tonika-Do-Verlags für Musikerziehung in Kiel

1946-1951 Dozentin für Musik an der Pädagogischen Hochschule Kiel

1956 Ruhestand (bis April 1957 noch als „Hilfslehrkraft“ an der Käthe-Kollwitz-Schule tätig)

1957 Rückkehr nach Darmstadt

1964 „Wolfgang Carl Briegel. Ein Barockkomponist in seiner Zeit“

1967 „Musikgeschichte Darmstadts vom Mittelalter bis zur Goethezeit“

† 20. April 1974 in Darmstadt

Ehrungen:

1970 Johann-Heinrich-Merck Ehrung der Stadt Darmstadt (anlässlich ihres 75. Geburtstags)

Wirken in der NS-Zeit

Elisabeth Noack, Musikwissenschaftlerin und Musikpädagogin, war in der NS-Zeit als Studi-

enrätin und Dozentin im Bereich der Musikausbildung in Schleswig-Holstein tätig. Seit 1940

leitete sie zudem den Tonika-Do-Verlag in Kiel. Sie war Mitglied der NSDAP und weiterer NS-

Organisationen.

Die promovierte Musikwissenschaftlerin (Promotion 1921), in Darmstadt sozialisiert, hatte

zu Beginn der 1920er Jahre als Musiklehrerin an verschiedenen Darmstädter Schulen gear-

beitet und an der Akademie für Tonkunst das Seminar für Musiklehrer geleitet, bevor sie

über Hochwaldhausen (Oberhessen, 1923/24) und Schneidemühl (Provinz Grenzmark Posen-

Westpreußen, 1924-1929) nach Kiel gelangte. Von 1929 bis 1931 war sie Lehrbeauftragte an

der Landeskirchlichen Schule für Kirchenmusik Eckernförde. Zu Beginn der NS-Zeit agierte sie

als Dozentin für Musik an der Pädagogischen Akademie Kiel, wo sie seit 1929 lehrte (ab 1932

eigenen Angaben folgend aufgrund von „Sparmaßnahmen“ als „Hilfsdozentin“). Im Winter-

semester 1933/34 war sie zugleich Lehrbeauftragte für Musikerziehung an der Hochschule

für Lehrerbildung Kiel. 1934 wechselte sie schließlich als Studienrätin an die Hindenburg-

schule in Kiel (1932-1936 Städtisches Hindenburg-Oberlyzeum), an der sie bis zu ihrer Pensi-

onierung 1956 als (Musik-)Lehrerin tätig blieb (die Hindenburgschule wurde 1947 umbe-

nannt in Käthe-Kollwitz-Schule). Ihrer eigenen Aussage nach wurde sie 1934 mit Bezug auf

das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ – gegen ihren Willen – von der

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Hochschule in den Schuldienst zurückversetzt (BArch Berlin, BDC, R 9361-V/81804 sowie

LASH).

Elisabeth Noack war über viele Jahre in Fachverbänden für Musiker und Musiklehrende tätig,

teils in führender Funktion. Von 1921 bis 1934 war sie Mitglied des Reichsverbands deut-

scher Tonkünstler (zeitweise im erweiterten Hauptvorstand und Geschäftsführende Vorsit-

zende der Ortsgruppe Kiel), von 1940 bis 1945 in der Reichsmusikkammer (Abteilung Verle-

ger). Bereits 1930 wurde sie als Gauleiterin Schleswig-Holstein im Reichsverband akademisch

gebildeter Musiklehrerinnen geführt. Von 1934 bis 1945 war sie Mitglied des NSLB. Auf der

Karteikarte des NSLB findet sich vermerkt: „Schulungsleiterin f[ür] musik[alische] Kurse NS-

Frauenschaft, Gau Schleswig-Holstein seit 1932“. [Im Bundesarchiv sowie in Publikationen

zum NSLB finden sich Hinweise auf eine Elisabeth Noack, die als „Reichsfachgruppenleiterin,

Reichsfachschaft VII (Sozialpädagogische Berufe)“, innerhalb des NSLB in führender Funktion

tätig war. Hierbei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Frau gleichen Na-

mens aus Thüringen (Stadtroda), die seit 1928 der Berufsorganisation der Kindergärtnerin-

nen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen vorstand und nach 1945 ein Waisenhaus in Weimar

leitete, siehe BArch Berlin, NS 12; Feiten, S. 92; www.stiftunghaar.de.]

Darüber hinaus war Noack Mitglied in folgenden NS-Organisationen (HHStAW; BArch Berlin,

BDC, R 9361-V/81804): 1934-1945 in der NSV sowie in der NS-Frauenschaft (Musikalische

Leiterin, Gau Schleswig-Holstein), 1937-1945 in der NSDAP (Mitglieds-Nr. 5444166, rückda-

tiert auf 01.05.1937, Antrag vom 21.12.1937, BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei), im

Reichskolonialbund (RKB) und im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA).

Von 1940 bis 1957 leitete sie den Tonika-Do-Verlag in Kiel, ein gemeinnütziges Unterneh-

men, dessen Erlöse weitgehend in den Druck neuer musikpädagogischer Werke flossen. Der

Verlag wurde seit 1928 von Maria Leo geführt, die die Leitung 1935 wegen ihrer „nichtari-

schen Abstammung“ aufgeben musste und den Verlag an ihre Freundin Dorothea Gotzmann

verkaufte. Nach deren Tod 1939 übernahm Elisabeth Noack 1940 die Leitung des Verlags.

Überlieferte Korrespondenz dokumentiert ein langjähriges freundschaftliches Verhältnis

zwischen Maria Leo und Elisabeth Noack (ULB Darmstadt, [Teil-]Nachlass Elisabeth Noack,

Kasten 11). Auch mit dem Ehepaar Inna und Richard Glaser, das sich 1938 zur Emigration in

die USA gezwungen sah, verband Noack eine langjährige Freundschaft – Noack war 1956 als

Bevollmächtigte im Entschädigungsfall Richard Glaser eingesetzt (ULB Darmstadt, [Teil-

]Nachlass Elisabeth Noack, Kasten 5).

Zwischen 1938 und 1940 verfasste Noack eine „Deutsche Musiklehre für junge Menschen“,

die allerdings nicht veröffentlicht wurde (Manuskript in ULB Darmstadt, [Teil-]Nachlass Elisa-

beth Noack, Kasten 1). Das tradierte Manuskript weist kaum politische Äußerungen auf; bei

der Auflistung der in der Tradition des „Gemeinschaftssingens“ stehenden Institutionen fan-

den die aktuellen NS-Kreise (etwa „Sing- und Spielscharen der Hitlerjugend“) Erwähnung und

unter „Literatur für Gemeinschaftssingen“ wurde auf NS-Liederbücher verwiesen.

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Entnazifizierungsverfahren

In Fragebögen der Britischen Militärregierung gab Elisabeth Noack zu Protokoll, sie sei von

1935 bis 1938 von der Gestapo überwacht worden, „wegen Widerstands gegen den Natio-

nalsozialismus“ (zum Folgenden BArch Berlin, BDC, R 9361-V/81804 sowie LASH). Wegen

„politischer Unzuverlässigkeit“ bestand die Gefahr, so Noack weiter, dass sie ihre Schulstelle

und die Verbeamtung verlöre. Dies allein sei der Grund für ihren Eintritt in die NS-

Frauenschaft sowie in die NSDAP gewesen („Drohungen bewogen mich, in die NS-

Frauenschaft einzutreten und schließlich dem Zwang zum Eintritt in die Partei nachzuge-

ben“) – eine Darstellung, die von befreundeten Lehrerinnen gestützt wurde. [Seitens des

Entnazifizierungsausschusses war Noack nahegelegt worden, „Bescheinigungen glaubwürdi-

ger Persönlichkeiten beizubringen“ die bestätigten, „daß Sie durch besonderen Zwang der

Verhältnisse oder durch Druck zum Eintritt in die NSF und in die Partei gebracht worden“ sei,

Schreiben vom 24.08.1946, LASH Abt. 460 Nr. 4228.]

Zudem sei sie insbesondere durch ihren persönlichen Einsatz für Maria Leo in Gefahr gera-

ten. Um ihre jüdische Freundin zu schützen, wand sich Noack (wiederum eigenen Angaben

folgend) am 18.12.1941 an den „damaligen Stabsführer SS Himmler“. Darauf folgten Verhöre

durch die Gestapo sowie Gerichtsverfahren:

„Auf dieses vorsichtig und sachlich verfasste Schreiben erfolgte keine Antwort. Stattdessen wurde ich

im Gebäude der Gestapo […] am 27.1.42 durch einen jungen Regierungsrat verhört nach allen Me-

thoden der Einschüchterung: Anschreien, Bedrohen, Aussageerpressung durch Bedrohung anderer

Freunde usw. Auch die Drohung mit der ‚schärfsten Strafe, die wir haben‘, dem Konzentrationslager,

wurde ausgesprochen.

Die Anklage wurde weitergeleitet an die Partei und sollte von dort an die Schulbehörde weitergehen

zum Zweck der Einleitung eines Disziplinarverfahrens. Am 9.3.42 erfolgte meine Vernehmung beim

Kreisgericht, am 13.8. beim Gaugericht. Da ich inzwischen zur notwendigen Rücksprache in Berlin bei

Maria Leo war, lief ich unmittelbar in Gefahr, in ein Konzentrationslager überführt zu werden“ (BArch

Berlin, BDC, R 9361-V/81804).

Nur ihr Anwalt habe Letzteres verhindern können, was dieser in einer „Eidesstattlichen Ver-

sicherung“ bestätigte. Maria Leo beging im September 1942 Selbstmord.

Der zuständige Entnazifizierungsausschuss schloss sich im September 1946 Noacks Darstel-

lung an, woraufhin sie im Schuldienst verbleiben konnte. In der Begründung hieße es:

„Die Bescheinigungen glaubwürdiger Persönlichkeiten […] ergeben, dass N[oack] in ihrem Musikle-

ben aufgegangen ist, daß sie in einem jüdischen Kreise verkehrt und gewirkt hat und den Mitgliedern

dieses Kreises trotz starker Gefährdung treu geblieben ist und in Gefahren geholfen hat. Sie hat in

der Schule der nationalsozialistischen Direktorin Widerstand geleistet. N[oack] gehörte weder erzie-

herisch noch religiös, noch gar politisch zur Partei“ (18.09.1946, Deutscher Entnazifizierungsaus-

schuss auf der Landesebene Schleswig-Holstein, Abteilung Universität, LASH Abt. 460 Nr. 4228).

Unter Druck geriet Noack, als der oben genannte Vermerk in der Kartei der NS-Frauenschaft

auftauchte („Schulungsleiterin f[ür] musik[alische] Kurse NS-Frauenschaft, Gau Schleswig-

Holstein seit 1932“). In allen Fragebögen hatte Noack stets betont, in keiner NS-Organisation

je ein Amt inne gehabt zu haben. Die Dokumentation einer leitenden Funktion in der NS-

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Frauenschaft (und das seit 1932) stellte ihre Glaubwürdigkeit stark in Frage. Ihr wurde

Falschaussage und damit Fragebogenfälschung unterstellt – und sie wurde vom Schuldienst

suspendiert. Noack verteidigte ihre Aussagen vehement. Sie habe tatsächlich nie ein Amt

begleitet. Auf Anfrage habe sie lediglich mit einigen Frauen gesungen und ihnen Gesangsun-

terricht erteilt („Being asked by the NS Frauenschaft to sing with some of its members, and

instruct them in voice-training, I occasionally gave them lessons“) – wie sie dies bereits seit

1925 in unterschiedlichen Kreisen getan hätte, darunter auch mit Frauen des „Freiwilligen

Arbeitsdiensts“ der SPD. Wie Noack in einem Schreiben an die Stadt Kiel berichtete, wurde

sie im Oktober 1947 von den Vorwürfen freigesprochen:

„Am 19. Juni 47 wurde ich wegen angeblicher Fragebogenfälschung suspendiert. Die Gerichtsver-

handlung vor dem C. C. Court am 6. Oktober 47 ergab meine völlige Unschuld. Die Ursache für die

Beschuldigung war ein Fehler in der Nazi-Hauptkartei“ (15.12.1947, an Städtisches Schulamt, Betreff:

Gehaltszahlung, LASH Abt. 811 Nr. 7883).

Zur Bestätigung ihrer Rehabilitierung wurde die ursprüngliche Entnazifizierungsbescheini-

gung als wieder gültig gewertet, ihr ein Entlastungszeugnis ausgestellt und die Suspendie-

rung aufgehoben.

Ein Brief an Richard Glaser vom 7. Juli 1947, in dem Elisabeth Noack ihre Zerrissenheit in der

Zeit des Nationalsozialismus und ihre Gedanken zur Frage der Schuld darlegte (ULB Darm-

stadt, [Teil-]Nachlass Elisabeth Noack, Kasten 5), gibt Auskunft darüber, wie sie ihr Verhältnis

zum NS-Regime einordnete bzw. nach außen hin gesehen haben wollte. Tenor des Briefs ist,

dass Noack selbst sich stets innerlich und im engen Freundeskreis gegen den Nationalsozia-

lismus positioniert habe, aber sich gezwungen sah, bis zu einem gewissen Grad mit dem NS-

Regime zu kooperieren, um sich und andere nicht in Gefahr zu bringen. Ein „unentrinnbares

Netz“ habe über den Menschen gelegen, so Noack. Sie sei weder vorbereitet gewesen auf

die „Tyrannei“ noch habe sie schließlich eine Wahl gehabt („Wo gab es das in der Welt, dass

man Leuten sagte: entweder wir gehen gegen Dich vor, oder Du trittst in unseren Verein

ein?“). Der folgende Absatz mag veranschaulichen, wie Noack ihr Verhältnis zum NS-Regime

rückblickend bewertete bzw. kommunizierte:

„Als ich dann für Maria Leo an Himmler schrieb, um wenigstens den Versuch zu machen, ihr zu hel-

fen, da wusste ich schon, dass das mit 99 % Wahrscheinlichkeit keine Hilfe, sondern nur ein Bekennt-

nis zu ihr und gegen die Nazis wäre. Aber es musste versucht werden. Und als dies missglückt war

und die Gestapo mir den Prozess machte und ich ins KZ sollte, - da wäre ich gegangen, wenn sie nicht

in der infam raffinierten Weise gedroht hätten, den ganzen Kreis um Leo mit hineinzuziehen. Ich hät-

te die Konsequenz ziehen müssen, fest meine Meinung sagen müssen und sterben müssen. Aber –

genutzt hätte das praktisch nichts und niemand. Leo war nicht zu retten, das hatte man mir eindeutig

gesagt. Ich selbst wäre als Wahnsinnige oder Sittlichkeitsverbrecherin oder sonst verscharrt worden“

(Hervorhebung im Original).

Noack hielt die These der „Kollektivschuld“ für unangemessen, klammerte namentlich die

Jugend und „einfache Gemüter“ aus und differenzierte zwischen der „nationalsozialistischen

Räuberbande“ (den „wirklichen Halunken“) und denjenigen, die sich „verführen“ ließen –

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eigentlich aber keine Wahl hatten. Letztere – und zu denen sie sich selbst zählte – hätten

eine Mitschuld zu tragen:

„Ihr müsst nicht fragen: Warum habt Ihr nicht laut geschrien, wenn Ihr nicht wisst, dass wir einen

Knebel im Mund hatten. Und doch fühle ich mich mitschuldig. Denn ich war nicht unwissend […].“

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/81804

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/148637

LASH Abt. 460.19 Nr. 428 Geschäftszeichen K 271

LASH Abt. 460 Nr. 4228 Geschäftszeichen 312/G/52102

LASH Abt. 811 Nr. 7883

ULB Darmstadt, (Teil-)Nachlass Elisabeth Noack [Kästen 1, 5 und 11]

StadtA DA, ST 61 Noack, Elisabeth

Literatur:

Bill, Oswald: Noack, Elisabeth. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 675.

Feiten, Willi: Der Nationalsozialistische Lehrerbund. Entwicklung und Organisation. Ein Beitrag zum

Aufbau und zur Organisationsstruktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Weinheim

1981.

Hesse, Alexander: Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926-

1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933-1941). Weinheim 1995. [zu Noack S. 537-539]

Schweitzer, Philipp: Noack, Elisabeth. In: Unverricht, Hubert (Hrsg.): Musik und Musiker am Mittel-

rhein. Ein biographisches, orts- und landesgeschichtliches Nachschlagewerk, Bd. 1. Mainz 1974,

S. 124 f. [Manuskript eingesehen, StadtA DA, ST 61 Noack, Elisabeth].

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306

Orffweg (C 7-8), benannt 1977 [!] nach

Carl Orff (1895-1982)

Komponist und Musikpädagoge

* 10. Juli 1895 in München

Um 1900 erster Unterricht für Klavier, Orgel und Cello

1905-1912 Besuch des Gymnasiums in München (ohne Abschluss)

1911 „Eliland. Ein Sang vom Chiemsee“ (erster Liederzyklus)

1912 erstes Chorwerk nach Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“

1912-1914 Studium an der Akademie der Tonkunst in München

1917 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg (verschüttet im Schützengraben)

1918-1919 Kapellmeister an Münchener Kammerspielen, am Nationaltheater Mannheim sowie am

Landestheater Darmstadt

1920 Heirat mit Alice Solscher (eine Tochter, Scheidung 1925)

1924 Mitbegründer der „Günther-Schule“ (neue Verbindung von Bewegung und Musik); Leiter der

Abteilung für tänzerische Musikerziehung an der „Günther-Schule“

1929-1932 Brecht-Kantaten (persönliche Bekanntschaft mit Berthold Brecht 1924)

1930-1935 „Schulwerk für Kinder“ (Veröffentlichung seiner musikalisch-pädagogischen Arbeiten,

gemeinsam mit Gunild Keetman)

1932 „Lukas-Passion“; Übernahme der Leitung des Münchner Bach-Vereins

1935 „Das Paradiesgärtlein“ (Ballett nach Lautensätzen des 15. Jahrhunderts)

1936 „Einzug und Reigen der Kinder“ (für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin)

1937 Uraufführung der Bühnenkomposition „Carmina Burana“ in Frankfurt am Main

1939 Heirat mit Gertrud Willert (Scheidung 1953)

1939 Uraufführung von „Der Mond“ (Märchenoper) und von Shakespeares „Sommernachtstraum“

(mit neuer Musik von Orff, die jene von Mendelssohn Bartholdy ersetzte)

1943 Uraufführung von „Die Kluge“ und von „Catulli Carmina“

1947 Uraufführung von „Die Bernauerin“

1949 Uraufführung von „Antigone“

1950-1960 Leiter einer Meisterklasse für musikalische und dramatische Komposition an der staatli-

chen Hochschule für Musik in München

1950-1954 „Musik für Kinder“ (fünfbändige Neufassung des Schulwerks)

1952 neue Komposition zu Shakespeares „Sommernachtstraum“

1954 Heirat mit Luise (verwitwete) Schnell (geb. Rinser, Scheidung 1959)

1955 Umzug nach Diessen am Ammersee

1959 Uraufführung des Bühnenwerks „Ödipus, der Tyrann“

1960 Heirat mit Liselotte Schmitz

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1961 Leiter des neugegründeten Orff-Instituts an der Akademie „Mozarteum“ in Salzburg

1972 Komposition des „Gruß der Jugend“ zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in München

† 29. März 1982 in München

Ehrungen:

1944 Aufnahme als Komponist auf die „Gottbegnadeten-Liste“

1947 Musikpreis der Stadt München

1950 Ernennung zum Professor

1956 Orden „Pour le Mérite“ für Wissenschaften und Künste

1959 Ehrendoktor der Universität Tübingen; Bayerischer Verdienstorden

1965 Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main

1971 Goldene Medaille der Humboldt-Gesellschaft

1972 Ehrendoktor der Universität München

1972 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland

1974 Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst

1975 Ehrenbürger der Stadt München

1984 Gründung der Carl Orff-Stiftung

Wirken in der NS-Zeit

Carl Orff, Komponist und Musikpädagoge, gilt als einer der bedeutendsten Komponisten im

„Dritten Reich“ (Kater 1995, S. 2) und sein 1934-1937 entstandenes Bühnenwerk „Carmina

Burana“ als „weltweit am häufigsten aufgeführte Komposition der Musik des 20. J[ahr-

hunderts]“ (Dangel-Hofmann, S. 590). Orffs „Schulwerk“, ein umfangreiches musikpädagogi-

sches Konzept für Kinder (unter Einbezug der sogenannten „Orff-Instrumente“), erlangte im

Bereich der Musikpädagogik internationale Bedeutung.

Carl Orffs Wirken in der NS-Zeit ist seit Mitte der 1990er Jahre zum viel diskutierten Gegen-

stand der historischen Forschung geworden. Dabei wurde seine Verflechtung mit dem NS-

Regime sehr unterschiedlich bewertet (zu den unterschiedlichen Positionen vgl. Kater 2004,

besonders S. 151-154): Manche Autoren sahen in Orff vor allem einen Komponisten, dem

von den Nationalsozialisten Unrecht zugefügt wurde; andere stellten in den Vordergrund,

dass Orff mit dem NS-Regime kollaborierte (bis hin zu der Behauptung, Orff selbst sei Natio-

nalsozialist gewesen und seine Musik symptomatisch für die NS-Ideologie). Ausführlich hat

sich der Historiker Michael H. Kater mit Orffs Rolle im Nationalsozialismus auseinanderge-

setzt. Kater zeichnete das Bild eines egozentrischen, im Grunde unpolitischen Künstlers („Er

hielt sich aus jeder Kontroverse heraus, bei der es um etwas anderes als sein eigenes Leben

und seine Musik ging“, Kater 2004, S. 160), der kein Nazi war:

„Wie es eindeutig ist, dass Orff in der Weimarer Republik nie ein Linker war, so ist es sämtlichen ver-

fügbaren Quellen zufolge ebenso eindeutig, dass er das meiste, was Nationalsozialismus und Drittes

Reich repräsentierten, vor und nach Hitlers Machtübernahme missbilligte und dass er nie der NSDAP

beitrat“ (Kater 2004, S. 160).

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Primitivität und Brutalität der Nationalsozialisten waren mit Orffs Vorstellung von Ästhetik

sowie der Rolle des Künstlers nicht vereinbar. Orff verstand es aber, sich mit dem NS-Regime

zu arrangieren und erfolgreich zwischen den NS-Ebenen zu lavieren: seine Arbeit war ab

1937 durchaus und ab 1940/41 sogar sehr erfolgreich. Als Komponist und als Musikpädago-

ge gelang es ihm demnach, auch unter den Nationalsozialisten Anerkennung zu finden. Um

seine beruflichen Ziele zu erreichen, um zum Beispiel NS-Institutionen von seinem „Schul-

werk“ zu überzeugen – das seines Erachtens nach sowohl in der HJ als auch beim BDM Ver-

wendung finden konnte –, nutzte bzw. intensivierte er Kontakte zu Personen, die mit dem

NS-Regime in Verbindung standen bzw. sich für ihn und sein Werk einsetzen konnten (Kater

2004, S. 161-165, sowie 1995, S. 16-18). Bereits 1936 wurde seine Auftragsarbeit „Einzug

und Reigen der Kinder“ im Zuge der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin aufge-

führt (Klee).

Eine herausragende Stellung in Orffs Werk nahm die 1937 in Frankfurt am Main uraufgeführ-

te Kantate „Carmina Burana“ ein, an der der Komponist seit 1934 gearbeitet hatte. Die Pre-

miere verlief allgemein erfolgreich, wurde aber von prominenten Vertretern der nationalso-

zialistischen Kulturkritik scharf kritisiert, darunter eine Besprechung von Herbert Gerigk im

„Völkischen Beobachter“. Vor allem drei Aspekte des Stücks erwiesen sich als problematisch:

Orffs Komposition knüpfte nicht an eine romantische Tradition an (auch wenn es weit von

Atonalität entfernt war), der Text bestand aus einer Mischung aus Latein, Mittelhochdeutsch

und mittelalterlichem Französisch, und der Inhalt war offen sexuell (wenn nicht pornogra-

fisch). Aus diesen Gründen hatte das Stück zunächst Schwierigkeiten an anderen deutsch-

sprachigen Bühnen gespielt zu werden – es war aber keineswegs verboten und wurde auch

weiterhin aufgeführt. Allen Problemen zum Trotz, entwickelte sich „Carmina Burana“ dann

während des Zweiten Weltkriegs zum „phantastischen Erfolg“ (Kater 2004, S. 171).

Spätestens ab 1941 stand der Komponist Orff bei einflussreichen Protagonisten des NS-

Regimes hoch im Kurs (Kater 1995, S. 20). Schon kurz nach der Premiere der „Carmina Bura-

na“ 1937 bekam er vom Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, Friedrich Krebs,

einen Geldpreis in Höhe von 500,- RM zugesprochen – höher als die erhaltene Summe war

dessen politischer Wert einzustufen. Krebs, erklärter Antisemit, war es ein besonderes An-

liegen, die Kultur der Stadt Frankfurt von ihrer jüdischen Tradition zu separieren (hierzu und

zum Folgenden ausführlich Hanau, S. 250-257). Der Erfolg von Orffs „Carmina Burana“ an der

Frankfurter Oper wurde – ganz im Sinne von Krebs – überregional wahrgenommen. Im Früh-

jahr 1938 erhielt Orff seitens der Stadt Frankfurt dann das Angebot, für Shakespeares

„Sommernachtstraum“ eine neue Musik zu komponieren – die jene des „nichtarischen“ Felix

Mendelssohn Bartholdy ersetzen sollte. Orff nahm das Angebot an, obwohl ihm die politi-

sche Dimension nicht verborgenen geblieben sein konnte. Kater wertete das Engagement

auch als Ausdruck dafür, dass sich Orff seiner Position im „Kulturestablishment noch immer

nicht sicher war“ (Kater 2004, S. 169 – zudem habe er den Vorschuss von 5.000,- RM gut

gebrauchen können, vgl. auch Hanau, S. 253 ff.). Das Stück wurde im Oktober 1939 in Frank-

furt am Main uraufgeführt (Orff hatte sich schon 1917 erstmals an einer Bühnenmusik zum

„Sommernachtstraum“ probiert). Die Rezeption der Aufführung fiel unterschiedlich aus

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(auch Orff selbst zeigte sich nicht uneingeschränkt zufrieden) – die Auftraggeber aber waren

angetan: Im Frühjahr 1940 erhielt Orff ein Angebot über einen Vertrag, der ihm von April

1940 bis Ende 1942 im Monat 500,- RM zusicherte (den Orff vermutlich, aber nicht nach-

weislich angenommen hat, Hanau, S. 256). Als Gegenleistung wurden unter anderem Kom-

positionen von ihm erwartet, die in Frankfurt uraufgeführt werden sollten. Als einziges Er-

gebnis dieser Zusammenarbeit erschien die Uraufführung von „Die Kluge“ (1943). Wie ande-

re Premieren außerhalb von Frankfurt (Märchenoper „Der Mond“ 1939 und „Catulli Carmi-

na“ 1943) konnte auch das Stück nur bedingt an den Erfolg der „Carmina Burana“ anknüp-

fen.

Als ein weiterer Verehrer von Orffs Kompositionen erwies sich Baldur von Schirach, seit 1940

Gauleiter von Wien. Im Auftrag der Gauverwaltung Wien erhielt Orff einen Vertrag, der ihm

von April 1942 bis April 1944 monatlich 1.000,- RM einbrachte – und damit einen guten Teil

seines Einkommens sicherte (dazu ausführlich Kater 2004, S. 174 f.).

1942 bekam Orff zudem einen „Staatszuschuss“ von 2.000,- RM durch die Reichsmusikkam-

mer zugesprochen. Allerdings geht aus den tradierten Dokumenten der Reichsmusikkammer

hervor, dass selbst 1942 noch nicht alle Protagonisten der NSDAP von Orffs politischer Zu-

verlässigkeit überzeugt schienen. Seitens der NSDAP-Gauleitung München-Oberbayern etwa

hieß es in einer Anfrage an das Gaupersonalamt der NSDAP:

„Bei unserer Dienststelle bestehen Bedenken weltanschaulicher Art gegen das von ihm [Orff] heraus-

gegebene ‚Schul-Werk‘, und wir distanzieren uns auch von seinem musikalischen Schaffen“

(29.05.1942, Auskunft über den Komponisten Carl Orff, BArch, BDC, R 9361-V/81883).

Den überlieferten angefragten Stellungnahmen ist zu entnehmen, dass Orff tatsächlich we-

der der NSDAP noch einer ihrer Unterorganisationen angehörte, er politisch kaum in Er-

scheinung trat und offensichtlich nichts Nachteiliges über ihn bekannt war (BArch, BDC,

R 9361-V/81883). [Für Eleonore Buenings Behauptung, Orff sei „erst spät (1940) in die Par-

tei“ eingetreten, ließen sich keine Belege recherchieren; noch 1943 gab Orff hingegen selbst

an, kein Mitglied der NSDAP zu sein, vgl. Buening: Die Musik ist schuld.]

Laut Kater – dem von Kritikern, wie dem ersten Direktor des Orff-Instituts, Hans Jörg Jans,

ein positivistischer Umgang mit Quellen sowie eine annähernd „inquisitorisch“ anmutende

Methodik vorgeworfen wurde („Komponist sein in einer bösen Zeit“, DIE WELT, 11.02.1999)

– profitierte Orff von „Vergünstigungen und Privilegien“ (Kater 2004, S. 176) des NS-

Regimes. Insbesondere die Beziehung zum Propagandaministerium habe sich, so Kater, aus-

nehmend positiv entwickelt. Im Sommer 1944 wurde Orff als Komponist in die Liste der aus-

erwählten Künstler aufgenommen (Rathkolb, S. 176), was ihn vom Kriegsdienst aller Art be-

freite.

Orff war also weder Mitglied der NSDAP noch schien er ideologisch mit dem Nationalsozia-

lismus konform. Wenngleich zu Beginn der NS-Zeit von führenden Personen der NS-

Kulturkritik scharf angriffen und von Teilen der Partei stets misstrauisch betrachtet, gelang

ihm – insbesondere während des Zweiten Weltkriegs – schließlich eine erstaunliche berufli-

che Karriere während der NS-Zeit:

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„1944 befand sich Orff auf dem Gipfel einer Karriere, die sich wie durch ein Wunder vollständig ge-

wandelt hatte. Der mittellose Komponist, der zu Beginn des Nazi-Regimes beinahe zum politischen

Opfer geworden wäre, wurde nun gefeiert und offiziell anerkannt“ (Kater 2004, S. 176).

Nach 1945 versuchte Orff offenbar bewusst (und erfolgreich), sich als Opfer des NS-Regimes

zu inszenieren – oder zumindest seine Karriere im „Dritten Reich“ in einem anderen Licht

darzustellen. Kater vertrat die Auffassung, Orff habe dafür ganz gezielt drei Legenden lan-

ciert (Kater 2004, S. 168), die zum Teil bis in die Gegenwart ihre Wirkmächtigkeit nicht ein-

gebüßt haben. So behauptete Orff erstens, sein Stück „Carmina Burana“ sei von 1936 bis

1940 komplett verboten und über die gesamte Zeit des „Dritten Reichs“ unerwünscht gewe-

sen. Zweitens gab er an, seinen Verlag angewiesen zu haben, alle seine Werke zu vergessen,

die er vor 1937 komponiert hatte. Die erste Legende ist erwiesenermaßen falsch, für die

zweite fanden sich zumindest keine Belege. Drittens habe Orff in einem Gespräch mit dem

amerikanischen Offizier Newell Jenkins eine Rolle im aktiven Widerstand angedeutet: Ge-

meinsam mit seinem Freund Kurt Huber sei Orff Mitbegründer einer „Art Jugendgruppe“

gewesen (Huber gründete bekanntermaßen die „Weiße Rose“). Für diese Behauptung, die

seinen aktiven Widerstand gegen das NS-System belegen sollte, diente allerdings allein die

Erinnerung von Jenkins als Quelle (anders als Kater bezweifelten manche Historiker – darun-

ter Oliver Rathkolb – deren Glaubwürdigkeit). Bei einem Gespräch im OMGUS-Hauptquartier

in Bad Homburg im Frühjahr 1946 schien Orff keine Verbindung zur „Weißen Rose“ angege-

ben zu haben. Kater begründete dies damit, dass Orff zu diesem Zeitpunkt (nach dem Tref-

fen mit Jenkins) sich bereits dagegen entschieden hatte, eine Funktion als Lehrer oder Inten-

dant anzustreben – wofür er dringend eine entsprechende Eingruppierung benötigt gehabt

hätte (ausführlich zu diesem Komplex Kater 2004, S. 178 ff.). Nach Katers Recherchen und

deren Ausdeutung waren alle drei Legenden erfunden und verfolgten einzig das Ziel, Orffs

„Selbstgleichschaltung“ zu verschleiern:

„Orffs Legende von einer gegen das Dritte Reich gerichteten Aktivität muss im Kontext seiner beiden

anderen […] Legenden interpretiert werden: dass die Carmina Burana von den Nazis auf eine schwar-

ze Liste gesetzt wurde und daher das Werk eines Widerstand Leistenden war und dass – um die Ein-

zigartigkeit dessen zu betonen – all seine früheren Werke keine Rolle spielten und von seinem Verle-

ger in den Reißwolf gesteckt werden sollten. Alle drei Legenden waren miteinander verflochten und

dienten nur einem einzigen Zweck: die Basis für einen makellosen Carl Orff in der Nachkriegszeit zu

schaffen“ (Kater 2004, S. 185).

Entnazifizierungsakten wurden in der Literatur nicht genannt; eine Anfrage beim Staatsar-

chiv München ergab keinen Treffer.

Quellen:

BArch, BDC, R 9361-V/30618

BArch, BDC, R 9361-V/81883

Staatsarchiv München, Anfrage Entnazifizierungsakten

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311

Literatur:

Buening, Eleonore: Die Musik ist schuld. In: DIE ZEIT 28 (1995).

Dangel-Hofmann, Frohmut: Orff, Carl. In: NDB 19 (1999), S. 588-591.

Hanau, Eva: Nationalsozialistische Kulturpolitik in Frankfurt am Main und Carl Orff. In: Archiv für Mu-

sikwissenschaft 56 (1999), S. 245-257.

Kater, Michael H.: Carl Orff. Ein Mann der Legenden. In: Ders.: Komponisten im Nationalsozialismus.

Acht Porträts. Berlin 2004, S. 150-191.

Kater, Michael H.: Carl Orff im Dritten Reich. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995) S. 1-35.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007, S. 443.

Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat. Frankfurt am Main 1982.

Rathkolb, Oliver: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien 1991.

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Hartmuth-Pfeil-Weg (Q 8), benannt 1963 [bis 1966: Pfeilweg] nach

Hartmuth Pfeil (1893-1962)

Grafiker und Zeichner

* 13. Februar 1893 in Höchst am Main

1907 Umzug der Familie nach Darmstadt

1908-1910 Besuch der Kunstschule von Adolf Beyer in Darmstadt

1910-1914 Studium an der Kunstgewerbeschule München, vor allem bei Prof. Julius Dietz

1914-1918 Kriegsteilnehmer als Kriegsfreiwilliger, Flugzeugführer

1918 Rückkehr nach Darmstadt; selbständiger Grafiker, ab 1921 besonders im Bereich der Werbung

1919 „Theater im Theater“ (erste Folge Darmstädter Karikaturen von Hartmuth Pfeil)

Ab 1920er Jahre Zusammenarbeit mit dem Verlag Eduard Roether in Darmstadt

1924-1933 „Bienche Bimmbernell“, Illustrationen zu Sonntagsnachmittagsbetrachtungen von Robert

Schneider im Darmstädter Tagblatt

1927 Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Frankfurt am Main

1929-1960 Werbegrafiker für Fichtel & Sachs (Kugellagerhersteller) in Schweinfurt

1934-1944 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste

1936 Illustrationen zu „Darmstädter Wörterbuch“ von Johann Sebastian Dang

1936/38-1944 Mitglied des (NS) Reichsbunds für Leibesübungen (NSRL)

1937-1957 Kalendergestaltung für Fichtel & Sachs (Kugellagerhersteller) in Schweinfurt

1940 [1941] Polizeihilfsdienst, Revier Oberwachtmeister der Reserve

1940-1944 Mitglied der NSV

1941 Illustrationen zu „Wachstubengeschichten“ von Heinrich Rüthlein

1941-1944 Mitglied des Reichsluftschutzbunds (RLB)

1944 verpflichtet zu „Schanzarbeiten“ am sogenannten „Westwall“

1944-1949 nach „Ausbombung“ wohnhaft in Groß-Umstadt

1948-1961 „Pimm“, Darmstädter Echo (in fünf Bänden 1950-1959 auch in Buchform)

1957 Illustrationen zu „Belehrendes und ergötzliches Büchlein von der Darmstädter Straßenbahn“

(Text: Karl Friedrich Borée)

1949 Rückkehr nach Darmstadt; Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Werbegrafiker und Illustrator

1957-1962 Zeichnungen zum Zeitgeschehen für die Neue Presse, Frankfurt am Main

1962 „Familie Bimbernell“ im Darmstädter Tagblatt

† 4. Juni 1962 in Darmstadt

Ehrungen:

1942 Kunstpreis der Stadt Darmstadt

1953 Ausstellung zum 60. Geburtstag im Hessischen Landesmuseum Darmstadt

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1958 Bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1958 Ausstellung zum 65. Geburtstag in der Kunsthalle Darmstadt

1964 Gedächtnisausstellung (Grafik) in der Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Hartmuth Pfeil, Zeichner und Grafiker, wurde in Darmstadt insbesondere durch seine Karika-

turen bekannt, vor allem durch jene in der lokalen Presse („Bienche Bimmbernell“, „Pimm“).

Der „Chronist mit dem Zeichenstift“ war als Werbegrafiker und Buchillustrator erfolgreich. In

Darmstadt gestaltete er zudem die Werbung für das Heinerfest und für die Karnevalsgesell-

schaft „Narhalla“ (deren Ehrenpräsident er war) sowie zahlreiche Bühnendekorationen für

die Hessische Spielgemeinschaft.

Pfeils Wirken in der NS-Zeit wird in der biografischen Literatur als dem Regime gegenüber

distanziert dargestellt – wenn es denn überhaupt thematisiert wird. Während des Zweiten

Weltkriegs diente Pfeil zeitweise an der „Heimatfront“ als „Revier Oberwachtmeister der

[Polizei-]Reserve“; manche Bilder aus dem Sommer 1940 unterzeichnete er mit jener

Dienstbezeichnung (siehe Keil, S. 118-124), im Meldebogen zu seinem Entnazifizierungsver-

fahren (HHStAW) gab er als Zeitraum seines Diensts bei der Polizei-Reserve Darmstadt aller-

dings „Aug[ust] bis Okt[ober] 1941“ zu Protokoll (Ernennung zum Oberwachtmeister dem-

nach am „10.8.41“). Durch seine Tätigkeit als Werbegrafiker beim Kugellagerhersteller Fich-

tel & Sachs wurde er schließlich von dieser Art Reserve-Dienst befreit (so Keil, S. 369). Im

Spätsommer 1944 erhielt Pfeil (im Alter von 51 Jahren) die Einberufung zu Schanzarbeiten

am sogenannten „Westwall“. Er war eigenen Angaben in seinem Meldebogen folgend Mit-

glied der NSV (1940-1944), des RLB (1941-1944), des NSRL (ca. 1936-1944, bis 1938 DRL)

sowie der Reichskammer für bildende Künste (1934-1944).

Obgleich ein großer Teil seines Werks (wie auch seine Wohnung) in der „Brandnacht“ 1944

zerstört wurde, sind (aquarellierte) Zeichnungen, Entwürfe, Plakate und Werbegrafiken aus

der Zeit von 1933 bis 1945 überliefert (Institut Mathildenhöhe, Nachlass Pfeil); viele davon

zugänglich über die Veröffentlichung „Hartmuth Pfeil. Werke aus fünf Jahrzehnten“ aus dem

Jahr 1987. Darin heißt es zur Biografie des Grafikers:

„Der Nationalsozialismus fand in Pfeil keinen Freund. Schon immer gehegte Skepsis wich mit fort-

schreitender Zeit wachsender Abneigung, obwohl der Künstler vermutlich Förderung gefunden hätte,

da er selber nicht ‚artfremd‘ war und sein Schaffen mit der von den damaligen Machthabern geäch-

teten und verfolgten ‚entarteten Kunst‘ nichts zu schaffen hatte. So wurde seine Arbeit nicht behin-

dert, aber er profitierte nichts vom NS-System, wußte stets kühle Distanz zu wahren und ließ sich,

soweit das irgend möglich war, auch nicht für dessen Propaganda einspannen“ (Keil, S. 369).

Die in der Publikation veröffentlichten Zeichnungen und Plakate sind denn auch weitgehend

frei von nationalsozialistischem Pathos; wenn NS-Symbole zu sehen sind, dann eher in dar-

stellender Form: Im Kapitel „Rauher Wind und böse Zeiten“ (S. 117-155) finden sich Zeich-

nungen, Skizzen und Aquarelle, die etwa Soldaten, Polizisten und Funktionäre in NS-

Uniformen zeigen, Alltagssituationen während der NS-Zeit festhalten und die Arbeiten am

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sogenannten „Westwall“ dokumentieren. Ein Aquarell stellt die vierköpfige Familie Pfeil mit

Gasmasken dar (unterzeichnet mit „Familienglück“, Meine Familie, PF [19]42, S. 125). Pfeil

skizzierte und zeichnete beim „Wettkampftag der SA“ (1942, S. 130 f.), beim „Luftschutzwie-

derholungslehrgang“ (1942, S. 126 f.) sowie beim „Tag der Wehrmacht“ (1942, S. 128 f.). Ein

aquarelliertes Selbstbildnis in Polizeiuniform ist unterzeichnet mit „20.8.40, Nie wieder

Krieg“.

Alltagsszenen, die keinen direkten Zusammenhang zur NS-Zeit dokumentieren, finden sich

zudem zahlreich in den anderen Kapiteln des Buchs. Werbedokumente wiederum legen na-

he, dass seine Arbeit als Werbegrafiker zumindest in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg

erfolgreich weiterverlief, etwa in Form der intensiven Zusammenarbeit mit dem Kugellager-

hersteller Fichtel & Sachs (Plakatserie 1936, S. 349). Wenn sich diese Zusammenarbeit für

seine Befreiung vom Dienst bei der Polizei-Reserve als ausschlaggebend bewerten ließ, hatte

sie wohl auch in den 1940er Jahren Bestand. Dafür spräche auch das nahezu unveränderte

Einkommen Pfeils zwischen 1932 und 1943 (laut seiner eigenen Angaben im Meldebogen,

HHStAW). Auch mit der Heag in Darmstadt gab es eine Zusammenarbeit, wie die mit Zeich-

nungen von Pfeil bestückten Quittungsblätter der Heag dokumentieren (zumindest bis 1938,

StadtA DA, ST 61).

Plakate aus der Feder Hartmuth Pfeils, die sich in der Plakatsammlung der ULB Darmstadt

befinden, belegen, dass der Grafiker auch aktiv NS-Symbole in seine gestalterische Arbeit

einbezog und Plakate gestaltete, die für NS-Veranstaltungen warben. Offensichtlich war es

Pfeil zumindest nicht durchgängig möglich, sich nicht für die „Propaganda einspannen“ zu

lassen. Bei den vorliegenden Plakaten aus den Jahren 1934, 1935 und 1941 handelt es sich

um Werbung für Veranstaltungen im Kontext des NS-Regimes: Das Plakat für die Ausstellung

„Handwerk tut Not“ (1934) wirbt auf stilisierten Zahnrädern in orange und schwarz mit gro-

ßem weißem Hakenkreuz; ein Plakat mit dem Titel „Stamm Langemarck. Das Werden und

Schaffen der jungen Nation“ (Datierung: 7. April 1935) zeigt die Skizze eines jugendlichen

Trommlers, auf dessen Trommel Pfeil über deren gesamte Höhe eine Sigrune platzierte; die

obere Hälfte eines Plakats, das auf „Kulturelle Veranstaltungen im Kriegsjahr 1941“ verweist,

zieren Eichenlaub und Schwert gekreuzt, darüber ein golden strahlendes Hakenkreuz in

schwarz und weiß. Alle drei Plakate wurden bei der Firma (Druckerei und Verlag) Eduard

Roether in Darmstadt gedruckt, deren künstlerischer Mitarbeiter Pfeil seit den 1920er Jahren

war („Roether druckt, Pfeil entwirft“, Keil, S. 369).

Nach der „Ausbombung“ 1944 lebte Pfeil in Groß-Umstadt, bevor er 1949 wieder nach

Darmstadt zurückkehrte. In seinem Entnazifizierungsverfahren wurde er als nicht betroffen

eingestuft – was seiner im Meldebogen dokumentierten Selbsteinschätzung entsprach. Un-

ter „Bemerkungen“ äußerte er: „1944 Total ausgebombt. Mein ganzes künstlerisches Le-

benswerk (Bilder, Zeichnungen[,] und Sammlungen) wurden vernichtet“ (Groß-Umstadt,

27.04.1946).

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Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Dieburg, NB (A-Z), Pfeil, Hartmuth

ULB Darmstadt, Plakatsammlung, plak 16/29 Da + plak 19/20 Da + plak 19/33 Da

StadtA DA, ST 61 Pfeil, Harmuth [sic!]

Institut Mathildenhöhe, Nachlass Pfeil

Literatur:

Kaiser, Hermann: Hartmuth Pfeil. Der Darmstädter Chronist mit dem Zeichenstift. Mit einer biogra-

phischen Skizze und Werkverzeichnis. Darmstadt 1967.

Keil, Heinrich: Hartmuth Pfeil. Werke aus fünf Jahrzehnten. Darmstadt 1987.

Welsch, Sabine: Pfeil, Hartmuth. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 707.

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Planckstraße (C 9-10), benannt 1972 nach

Max Planck (1858-1947)

Physiker

* 23. April 1858 in Kiel

1867 Übersiedlung nach München

1871-1874 Besuch des Maximilian-Gymnasiums in München (1874 Abitur)

1874-1879 Studium der Physik und der Mathematik in München und Berlin

1879 Promotion in München, „Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie“

1880 Habilitation in München, „Gleichgewichtszustände isotroper Körper in verschiedenen Tempera-

turen“

1880-1885 Privatdozent an der Universität München

1885-1889 Außerordentlicher Professor für Theoretische Physik an der Universität Kiel

1887 Heirat mit Marie Merck (vier Kinder)

Ab 1889 Professor an der Universität Berlin; ab 1892 Ordinarius (Lehrstuhl für Theoretische Physik);

Emeritierung 1926 (danach noch weiter an der Universität tätig)

1894 Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften

1900 sogenanntes „Plancksches Strahlungsgesetz“; Geburtsstunde der Quantenphysik („Plancksches

Wirkungsquantum“)

1903 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin

1905 Umzug in Villenkolonie Grunewald

1908 „Die Einheit des physikalischen Weltbilds“

1911 Heirat mit Marga von Hoeßlin (nach dem Tod von Marie Planck 1909, ein Sohn)

1912-1938 Ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften

1913/14 Rektor der Universität Berlin

1914 „Dynamische und statistische Gesetzmäßigkeit“

1915 „Das Prinzip der kleinsten Wirkung“

1916 Wahl zum Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG)

1920 Mitbegründer der „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“ (später DFG)

1922 „Vorlesungen über Thermodynamik“

1930-1936/37 Präsident der KWG

1935 „Die Physik im Kampf um die Weltanschauung“

1938 Rücktritt aus Akademie der Wissenschaften

1943 Gast bei Carl Still in Rogätz bei Magdeburg (Berliner Wohnung stark beschädigt)

1944 Wohnhaus in Berlin bei Luftangriff völlig zerstört

1945 Übersiedlung nach Göttingen

1945-1946 nochmals (kommissarischer) Präsident der KWG

† 4. Oktober 1947 in Göttingen

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Ehrungen:

1914 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences

1915 Orden „Pour le Mérite“ für Wissenschaften und Künste

1918 Ehrenmitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft

1918 Nobelpreis für Physik (Verleihung 1919)

1921 Liebig-Denkmünze des Vereins Deutscher Chemiker

1926 Mitglied der Leopoldina

1928 Adlerschild des Deutschen Reichs

1929 Max-Planck-Medaille (höchste Auszeichnung für theoretische Physik der Deutschen Physikali-

schen Gesellschaft; erste Träger 1929: Max Planck und Albert Einstein)

1933 Harnack-Medaille der KWG

1937 Ehrensenator der KWG

1938 Asteroid Nr. 1069 wurde zu Plancks Ehren Planckia genannt

1945 Goethepreis der Stadt Frankfurt

1946/47 Ehrenpräsident der KWG; Ehrenpräsident der Max-Planck-Gesellschaft

1947 Ehrenbürger der Stadt Kiel

Ehrendoktor der Universitäten Berlin (TH), Frankfurt, München (TH), Rostock, Athen, Cambridge,

Glasgow, Graz, London

Wirken in der NS-Zeit

Max Planck, hoch dekorierter Physik-Nobelpreisträger und herausragender Repräsentant der

Physik sowie der Naturwissenschaften allgemein, verhielt sich dem NS-Regime gegenüber zu

Beginn weitgehend loyal. Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Planck,

der bis 1936/37 Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) blieb, bereits im 75. Le-

bensjahr.

Max Planck war ein „bürgerlich-national gesinnter deutscher Patriot“ (Kohl, S. 59), oder, wie

Fritz Stern es formulierte, für „Planck waren Staatstreue und patriotischer Stolz Selbstver-

ständlichkeiten und Erbgut der Familie“ (Stern, S. 37). Seine (anfängliche) Loyalität gegen-

über dem NS-System ließe sich aus eben dieser Grundhaltung heraus deuten, wie Plancks

Biograf Dieter Hoffmann nahelegte:

„P[lanck]s gesellschaftspolitisches Denken wurzelte im deutschen Kaiserreich und war nachhaltig von

nationalkonservativen Anschauungen, preuß[ischem] Pflichtgefühl und Obrigkeitsgläubigkeit sowie

den Idealen von Ordnung und Gerechtigkeit geprägt. Der Revolution von 1918 und der Weimarer

Republik stand er verständnislos gegenüber, wenngleich er mit seinem wissenschaftsorganisatori-

schen Wirken praktisch zur (wissenschafts)politischen Stabilisierung der ungeliebten Republik bei-

trug. Gegenüber dem ‚Dritten Reich‘ verhielt sich P[lanck] zunächst weitgehend kompromißbereit,

wodurch nicht zuletzt die Selbstgleichschaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) gefördert

wurde. Mit der Festigung der NS-Terrorherrschaft entwickelte P[lanck] jedoch zunehmend eine elitä-

re innere Distanz zum Nazi-Regime, die gelegentliches Aufbegehren und Zivilcourage einschloß – so

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als er 1935 eine Gedenkfeier für den im Exil verstorbenen Fritz Haber (1868-1934) organisierte“

(Hoffmann 2001, S. 499; ausführlicher Hoffmann 2008, S. 84-103).

Planck war Mitglied der DVP, bis zu deren Auflösung durch die Nationalsozialisten (wann er

der Partei beitrat, ist unklar). Und tatsächlich existieren mehrere Belege dafür, dass sich

Planck formal dem NS-Regime andiente; er seine „Kompromissbereitschaft“ relativ weit fass-

te, wenn es darum ging, der deutschen Wissenschaft (und im Besonderen der KWG) ein

Mindestmaß an Freiheit zu erhalten. Plancks Devise lautete – wie schon nach dem Ersten

Weltkrieg – „Durchhalten und Weiterarbeiten“.

Obwohl es Planck – nach Fritz Stern – „niemals in den Sinn gekommen“ wäre, Menschen

nach rassischen oder religiösen Kriterien zu beurteilen (Stern, S. 39, hier noch in Bezug auf

die Zeit vor 1933, vgl. auch S. 61), wandte er sich im Juli 1933 mit folgenden Worten an In-

nenminister Frick:

„Dem Herrn Reichsminister des Innern beehre ich mich ergebenst mitzuteilen, daß die Kaiser-

Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gewillt ist, sich systematisch in den Dienst

des Reiches hinsichtlich der rassenhygienischen Forschung zu stellen“ (14.07.1933, zitiert nach Klee).

Bereits im Mai 1933 sandte Planck von der Mitgliederversammlung der KWG ein Telegramm

an Adolf Hitler, in dem er feierlich gelobte, „daß auch die deutsche Wissenschaft bereit ist,

an dem Wiederaufbau des neuen nationalen Staates, der Schutz und Schirmherr zu sein ge-

willt scheint, nach besten Kräften mitzuarbeiten“ (23.05.1933, BArch Berlin, R 43/II, Nr.

1227a). Planck, der Wehrkraft und Wissenschaft als wichtige Stützen für die Stärke Deutsch-

lands betrachtete (Fischer, S. 254), ging davon aus, dass nur eine Kooperation mit dem NS-

Staat die Freiheit der deutschen Wissenschaft gewährleisten konnte. Er war zum einen be-

müht um ein „formal normales Verhältnis zu den Nationalsozialisten, weil er die Autorität

einer gewählten Staatsmacht nicht anzweifelte“ (Kohl, S. 95). Zum anderen dachte er sich

dem hohen Anpassungsdruck 1933 unterwerfen zu müssen, wenn er sein Amt nicht an einen

Nationalsozialisten verlieren wollte. Sein Amt als Präsident der KWG wollte er demnach nicht

aufgeben, um größeren Schaden von der Institution abzuwenden. Er hielt „es für taktisch

klüger, den neuen Machthabern Konzessionen zu machen, je schneller und zuvorkommen-

der, desto besser“ (Kohl, S. 85). Weitere Beispiele für diese Vorgehensweise – die von Teilen

der Forschung als „Selbstgleichschaltung“ der KWG interpretiert wurde – waren etwa die

Neuwahlen des Senats der KWG sowie die Anwendung des „Gesetzes zur Wiederherstellung

des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ (dazu ausführlich Kohl, S. 85-90).

Auf die Frage von Otto Hahn, ob es nicht möglich sei, international anerkannte deutsche

Wissenschaftler zu einem Protest gegen die Vertreibung jüdischer Kollegen zu bewegen,

antwortete Planck:

„Wenn Sie heute 30 solcher Herren zusammenbringen, dann kommen morgen 150, die dagegen

sprechen, weil sie die Stellen der anderen haben wollen“ (zitiert nach Fischer, S. 248; zur Einordnung

vgl. Stern, S. 58).

Planck traf sich – in seiner Funktion als Präsident der KWG – mit führenden Kräften des NS-

Regimes, darunter das Treffen mit Adolf Hitler (16. Mai 1933, BArch Berlin, R 43/II, Nr.

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1227a), dessen Inhalt bzw. Bewertung in der Forschung umstritten ist. Planck selbst veröf-

fentlichte seine Erinnerung an den Verlauf des Gesprächs 1947 in den „Physikalischen Blät-

tern“. Demnach habe er sich bei dem Treffen mit dem „Führer“ für den Verbleib Fritz Habers

in Deutschland eingesetzt. Auf Hitlers Anmerkung, alle Juden seien Deutschlands Feinde,

habe Planck entgegnet, es gäbe „doch verschiedenartige Juden, für die Menschheit wertvol-

le und wertlose, unter ersteren alte Familien mit bester deutscher Kultur“ – eine Aussage,

die Planck von Kritikern als antisemitisch ausgelegt wurde; andere Forscherinnen und For-

scher sahen darin einen rein taktischen, pragmatischen Versuch, sich für jüdische Wissen-

schaftler einzusetzen (vgl. etwa Kohl, S. 91 f., Fischer, S. 252 f.).

Auch Plancks Freundschaft zu Albert Einstein lieferte Belege für seine anfängliche Kompro-

missbereitschaft gegenüber dem NS-Regime – sowie für seinen Einsatz für die Freiheit der

Wissenschaft. Planck war wesentlich mit dafür verantwortlich, dass Einsteins Relativitätsthe-

orie in der wissenschaftlichen Community Gehör fand; er hatte Einstein nach Berlin geholt.

Aber auch Planck stellte sich 1933 nicht öffentlich der NS-Hetze gegen Einstein entgegen;

obwohl er privat eine andere Auffassung vertrat, protestierte er nicht offiziell gegen die Be-

handlung seines Freundes (Fischer, S. 242-248, Hoffmann 2008, S. 86-89). Sein Festhalten an

Einsteins Forschungsergebnissen brachte Planck allerdings in Schwierigkeiten, da NS-

Institutionen darin einen Beleg für Plancks politische Unzuverlässigkeit sahen (Kohl, S. 61).

Die oben bereits erwähnte Gedächtnisfeier zu Ehren Fritz Habers ließe sich als offene Partei-

nahme für einen jüdischen Kollegen bewerten. Am 29. Januar 1935 organisierte Planck –

gegen den erklärten Widerstand seitens des NS-Regimes – eine Gedenkfeier anlässlich des

ersten Todestags des herausragenden Wissenschaftlers. Seine Versuche 1933, die Entlassung

Habers rückgängig zu machen, waren bekanntermaßen gescheitert. Ulrike Kohl wertete die

Veranstaltung als einen „Akt der ‚passiven Opposition‘“ (Kohl, S. 90-94, hier 94). Vereinzelt

hatte sich Planck für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingesetzt (Hoffmann 2008,

S. 89 f.); es wurde ihm aber auch vorgeworfen, sich zu wenig gegen die Umsetzung des „Ge-

setzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ engagiert zu haben (Kohl, S. 88 f.).

Dieter Hoffmann konstatierte hinsichtlich Planck Verhalten gegenüber jüdischen Mitgliedern

der Akademie eine „Mischung vermeintlich privaten Anstands und öffentlicher Selbstver-

leugnung im Dienste offensichtlicher Unmenschlichkeit“ (Hoffmann 2008, S. 99).

Ab 1936 zog sich Planck zunehmend aus den Geschäften der Generalverwaltung der KWG

zurück. Anlässlich des 25. Gründungsjubiläums der KWG im Januar 1936 trug er noch ein

loyal gehaltenes Telegramm an Hitler vor – hielt in seiner Ansprache aber auch die Erinne-

rung an jüdische Wissenschaftler wach, was seitens der amerikanischen Presse und auch

beim anwesenden amerikanischen Botschafter registriert und als mutig interpretiert wurde

(Kohl, S. 108). Plancks Präsidentschaft endete offiziell 1936; im darauffolgenden Jahr wurde

sein Nachfolger Carl Bosch in das Amt eingeführt. Die Einrichtung des Kaiser-Wilhelm-

Instituts für Physik 1938 ging noch maßgeblich auf Plancks Engagement während der Zeit

seiner Präsidentschaft zurück. Als 1938 die Akademie der Wissenschaften gleichgeschaltet

wurde, trat er aus Protest zurück. Schon Plancks 1935 gehaltene Rede über „Die Physik im

Kampf um die Weltanschauung“ galt Ernst Peter Fischer als Beleg dafür, „dass Planck als Per-

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sönlichkeit des öffentlichen Lebens die notwendigen Anpassungen nach außen hin unter-

nahm, ohne dass seine Gesinnung davon tangiert wurde“ (Fischer, S. 261). Die von Planck

vertretene „Theoretische Physik“ geriet verstärkt unter Kritik von Protagonisten der „Deut-

schen Physik“, die nun in einflussreichen Positionen saßen. Trotz seines fortgeschrittenen

Alters blieb Planck wissenschaftlich aktiv, reiste und hielt auch nach 1937 zahlreiche Vorträ-

ge. Laut Hoffmann stand Planck „nun weltanschaulich und politisch in deutlicher Distanz zur

NS-Ideologie wie zum Regime überhaupt“ (Hoffmann 2008, S. 102).

Bei einem Luftangriff auf Berlin wurde Plancks Haus 1943 schwer beschädigt und unbe-

wohnbar. Er nahm daraufhin die Einladung des Industriellen und Freunds Carl Still auf dessen

Gut nach Rogätz an der Elbe an. Im Sommer reiste Planck wie üblich mit seiner Frau in die

Alpen. Auf der Rückreise machte er im Oktober 1943 in Kassel Station, wo er einen Vortrag

halten sollte. Bei einem Luftangriff auf Kassel wurde das Haus zerstört, in dem er unterge-

bracht war. In einem Brief formulierte er daraufhin die Frage „Wann wird dieser Wahnsinn

ein Ende nehmen?“. Im Februar 1944 wurde schließlich sein Berliner Wohnhaus völlig zer-

stört.

Im Zuge des Attentats auf Hitler geriet Plancks Sohn Erwin in Haft (Hoffmann 2008, S. 103 f.).

Max Planck wand sich zunächst erfolglos an Heinrich Himmler und nach der Verurteilung

seines Sohns im Oktober 1943 persönlich an Hitler:

„Mein Führer! Ich bin zutiefst erschüttert durch die Nachricht, dass mein Sohn Erwin vom Volksge-

richtshof zum Tode verurteilt worden ist. Die mir wiederholt von Ihnen, mein Führer, in ehrenvollster

Weise zum Ausdruck gebrachte Anerkennung meiner Leistungen im Dienste unseres Vaterlandes

berechtigt mich zu dem Vertrauen, dass Sie der Bitte des im 87sten Lebensjahr stehenden [sic!] Ge-

hör schenken werden. Als Dank des deutschen Volkes für meine Lebensarbeit, die ein unvergängli-

cher geistiger Besitz Deutschlands geworden ist, erbitte ich das Leben meines Sohnes“ (zitiert nach

Fischer, S. 289).

Doch auch diese und weitere Eingaben (an Hermann Göring und erneut an Himmler) änder-

ten nichts an der Vollstreckung des Todesurteils am 23. Januar 1945.

Als Rogätz im Frühjahr 1945 zur Kampfzone wurde, sahen sich Planck und seine Frau zur

Flucht gezwungen. Sie gelangten nach äußert anstrengenden Tagen noch im Mai 1945 nach

Göttingen, wo sie bei einer Nichte Plancks unterkamen. Planck übernahm 1945 noch einmal

kommissarisch die Präsidentschaft der KWG, die ihm zu Ehren 1948 in Max-Planck-

Gesellschaft (MPG) umbenannt bzw. neu gegründet wurde.

Es ließen sich zu Max Planck, der im Oktober 1947 nach längerer Krankheit verstarb, keine

Entnazifizierungsakten recherchieren.

Quellen:

BArch Berlin, R 43/II, Nr. 1227a

Literatur:

Fischer, Ernst Peter: Der Physiker. Max Planck und das Zerfallen der Welt. München 2007.

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Hoffmann, Dieter: Planck, Max. In: NDB 20 (2001), S. 497-500.

Hoffmann, Dieter: Max Planck. Die Entstehung der modernen Physik. München 2008.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am

Main 42013, S. 463.

Kohl, Ulrike: Die Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Max Planck,

Carl Bosch und Albert Vögler zwischen Wissenschaft und Macht. Stuttgart 2002.

Planck, Max: Mein Besuch bei Adolf Hitler. In: Physikalische Blätter 3 (1947), S. 143

Stern, Fritz: Max Planck: Größe des Menschen und Gewalt der Geschichte. In: Ders.: Das feine

Schweigen. Historische Essays. München 1999, S. 35-63.

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Poepperlingweg (K 9), benannt 1974 nach den Brüdern

Hermann Poepperling (1890-1944) und Ludwig Poepperling (1885-1939)

Pädagogen und Schulreformer

Der ursprüngliche Magistrats-Beschluss vom 15.04.1970 sah vor, einer Straße in Darmstadt (Stich-

straße zur Erich-Kästner-Schule) den Namen „Hermann-Poepperling-Weg“ zu geben; auf Antrag von

OB Ludwig Engel, anlässlich des 80. Geburtstags von Hermann Poepperling 1970 (StadtA DA, Nach-

lass Carlo Schneider, Straßennamen in Darmstadt I). Die beschlossene Benennung erwies sich zu-

nächst als „nicht realisierbar“. 1974 wurde schließlich eine Straße im Neubaugebiet „Am Jungfern-

weg“ – nun nach den Brüdern Hermann und Ludwig Poepperling („fortschrittliche Schulreformer“) – in

„Poepperlingweg“ benannt (StadtA DA, Nachlass Carlo Schneider, Straßennamen in Darmstadt II).

Hermann Poepperling (1890-1944)

* 12. September 1890 in Bingen

1911 Promotion in Gießen, „Studien über den Monolog in den Dramen Shakespeares“

1913 Umzug von Mainz nach Darmstadt

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg

1918 Heirat mit Luise Lahr in Alzey

1920 Preisarbeit „Die Erziehung unserer Jugend im Geiste der Völkerversöhnung auf Grundlage deut-

scher Bildung“ (Veröffentlichung 1975)

1921 Oberlehrer am Realgymnasium zu Darmstadt

1922 Heirat mit Elisabeth „Elsa“ Diehl in Darmstadt (zwei Kinder)

1924 Konrektor in Darmstadt

1932 Oberstudiendirektor an der Liebig-Oberrealschule in Darmstadt

1933 wegen seiner demokratischen Einstellung seines Amts als Direktor der Liebig-Oberrealschule in

Darmstadt enthoben; fortan Studienrat an der der Liebig-Oberrealschule

Ca. 1934-1944 Mitglied des NSLB

† 19. Mai 1944 in Darmstadt

Ehrungen:

1918 Rückkehr aus Erstem Weltkrieg „ordensgeschmückt“

Wirken in der NS-Zeit

Hermann Poepperling, Pädagoge und Bildungsreformer, hinterließ in der NS-Zeit vergleichs-

weise wenige Spuren. Infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er 1933

aus führendem Amt an der Liebig-Oberrealschule in Darmstadt entlassen.

Obwohl Hermann Poepperling 1944 verstarb, existiert ein Entnazifizierungsmeldebogen zu

seiner Person (HHStAW). Ausgefüllt wurde dieser von seiner Witwe, Elisabeth Poepperling.

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Demnach war Hermann Poeperling in keiner NS-Organisation Mitglied, außer im NS-Lehrer-

bund (ohne Zeitangaben). Unter dem Punkt „Bemerkungen“ schrieb Elisabeth Poepperling:

„Mein 1944 verstorbener Mann wurde im Jahre 1933 wegen seiner demokratischen Einstellung sei-

nes Amts als Direktor der Liebig-Oberschule in Darmstadt enthoben“ (11.06.1948, HHStAW).

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs hatte Hermann Poepperling die Preisschrift „Die

Erziehung unserer Jugend im Geist der Völkerversöhnung auf der Grundlage deutscher Bil-

dung“ (1920) verfasst, die erst 1975 gedruckt wurde. Darin zeigte er sich als entschlossener

Kriegsgegner, der die Vermittlung der Friedensidee als zentrale Aufgabe schulischer Bildung

betrachtete:

„Prüft man die pazifistische Bewegung auf ihre wesentlichen begrifflichen Merkmale, so ergeben sich

diese: ihre Ideenhaftigkeit, ihr Glaube an eine Entwicklungsmöglichkeit der Menschheit, ihr Wille zur

praktischen Sittlichkeit und ihr Weltanschauungsgehalt. Die Inbeziehungsetzung dieser Merkmale

zum deutschen Geist liefert die Begründung für die Berechtigung pazifistischer Jugendbildung, denn

dem deutschen Geist sind die genannten begrifflichen Wesensmerkmale eigen.

Es ist entscheidend, wo und wie die zukünftige Schule, die von verstärktem Willen zur philosophi-

schen Durchdringung der Vielheit ihrer Stoffe beseelt sein muß, die Friedenspädagogik als Erzie-

hungsaufgabe und die Friedensgesinnung als Weltanschauungsfrage lösen kann und will“ (S. 74).

Hermann Poepperling plädierte eindringlich für die Lektüre von Kants „Vom ewigen Frieden“

in der Schule, um den pazifistischen Gedanken in den Köpfen der Schülerschaft zu veran-

kern.

„Am 28. April 1933 wurde Hermann Poepperling seines Amts als Oberstudiendirektor entho-

ben“, hieß es im Geleitwort zur Veröffentlichung von 1975 (S. 5-8, hier S. 5; Poepperling

blieb aber als Studienrat an der Schule, Hessisches Regierungsblatt 1933, S. 127), verfasst

vom ehemaligen OB Ludwig Engel, der Hermann Poepperling in der NS-Zeit als Rechtsbei-

stand zur Seite gestanden hatte. Engel zufolge litt Poepperling in den Jahren nach 1933 an

einem schweren Zuckerleiden. Dennoch musste er sich aufgrund einer Denunziation 1940

„vor der Gestapo und einem Sondergericht in Darmstadt“ verantworten (S. 7, auf den Inhalt

des Verfahrens ging Engel nicht näher ein), was ihn „an den Rand der physischen Erschöp-

fung“ brachte. Engel (selbst ehemaliger Schüler Poepperlings) beschrieb Hermann Poepper-

ling als Vorbild – und dessen Schicksal als Mahnung an zukünftige Generationen. Als Pädago-

ge habe sich Poepperling früh und stets unbeirrt gegen den Nationalsozialismus gestellt:

„Schon frühzeitig erkannte er die Gefahr des Nationalsozialismus und versuchte, in seinen Schülern

eine demokratische Grundgesinnung zu wecken durch die Erziehung zur Achtung des einzelnen und

seiner Rechte, zur Toleranz und zur Humanität, um die Jungen immun gegen das totalitäre Gift zu

machen. Der Gedanke der Völkerversöhnung war für ihn keine Utopie, sondern eine Idee“ (S. 6, vgl.

auch wortgleiche Passage und Ausführungen darüber hinaus, DE 08.04.1950).

Hermann Poepperling, der in der Berichterstattung nach 1945 durchgehend als Opfer des

NS-Regimes beschrieben wurde (StadtA DA, ST 61), starb 1944 als „gesundheitlich gebroche-

ner Mann“. Es ließen sich keine Hinweise auf eine Verstrickung mit dem NS-Regime recher-

chieren. Ludwig Engel konstatierte in seinem Antrag auf Straßenbenennung 1970:

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„Hermann Poepperling wäre nach meiner Meinung nach 1945 der geborene Hessische Kultusminister

gewesen und auch geworden. Die Tragik seines Lebens entschied anders“ (02.04.1970, OB Engel,

Benennung einer Strasse nach Oberstudiendirektor Dr. Hermann Poepperling, StadtA DA, Nachlass

Carlo Schneider, Straßennamen in Darmstadt I).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 55242 (nur Meldebogen)

HStAD, G 35 E Nr. 17613 [Poepperling, Elisabeth]

Hessische Regierungsblätter 1933-1934

StadtA DA, ST 61 Poepperling, Dr. Hermann + Ludwig

StadtA DA, Nachlass Carlo Schneider, Straßennamen in Darmstadt I + II

Literatur:

Poepperling, Hermann: Die Erziehung unserer Jugend im Geist der Völkerversöhnung auf der Grund-

lage deutscher Bildung [Geleitwort von Ludwig Engel]. Darmstadt 1975.

Ludwig Poepperling (1885-1939)

* 14. Januar 1885 in Mainz

1907 Umzug von Alzey nach Darmstadt

1908 Volontär an der Realschule in Alzey

1908/09 Lehramtsreferendar an der Höheren Bürgerschule in Dieburg

1909/10 Lehramtsassessor am Gymnasium Fridericianum in Laubach

1910 Heirat mit Elisabeth „Elsa“ Braun (mindestens ein Kind)

1910 Lehrer am Realgymnasium in Darmstadt

1917 Oberlehrer am Realgymnasium in Darmstadt

1920 Konrektor am Realgymnasium in Darmstadt

1924 Oberstudiendirektor an der Oberrealschule zu Mainz

1933 Amtsenthebung „unter Belassung der Amtsbezeichnung ‚Oberstudienrat‘ und des Dien-

steinkommens“; Studienrat am Gymnasium in Mainz (Adam-Karrillon-Gymnasium)

1934 Dienstentlassung und Versetzung in den Ruhestand

1934 Aufhebung der Dienstentlassung/Ruhestandsversetzung

1934-1939 Studienrat am Realgymnasium Gießen

† 9. September 1939

Ehrungen:

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Wirken in der NS-Zeit

Wie sein jüngerer Bruder Hermann, war Ludwig Poepperling als Lehrer und in führender

Funktion im Schulbetrieb tätig; auch er beschäftigte sich mit Reformen des (höheren) Schul-

wesens (StadtA DA, ST 61).

Ludwig Poepperling, der zu Beginn der 1920er Jahre als Konrektor am Darmstädter Real-

gymnasium tätig war, wirkte seit 1924 als Oberstudiendirektor an der Oberrealschule in

Mainz. Zum 1. Mai 1933 wurde er seines Amts enthoben und „unter Belassung der Amtsbe-

zeichnung ‚Oberstudienrat‘ und des Diensteinkommens“ als Studienrat an das Gymnasium

zu Mainz versetzt, das 1933-1945 den Namen „Adam-Karrillon-Gymnasium“ trug und seit

1953 „Rabanus-Maurus-Gymnasium“ heißt (StadtA Mainz). Im Frühjahr 1934 wurde Ludwig

Poepperling aus dem Schuldienst entlassen: als Daten fanden sich in den Quellen der

29.03.1934 („Dienstentlassung“, Regierungsblatt 1934, S. 100) sowie der 29.05.1934 („Ver-

setzung in den Ruhestand“, HStAD, G 35 E Nr. 17689). Doch bereits im Spätsommer des glei-

chen Jahres wurde die Dienstentlassung bzw. Ruhestandsversetzung rückgängig gemacht:

„Die auf Grund des § 4 des Reichsgesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom

7. April 1933 erfolgte Entlassung des oben Genannten wurde durch Urkunde vom 30. August 1934

[…] zurückgenommen. […] Vom 1. Oktober 1934 an entfallen die Bezüge, weil Oberstudiendirektor

Poepperling von diesem Tage an zum Studienrat am Realgymnasium in Gießen ernannt wurde“ (Hes-

sisches Staatsministerium, gezeichnet [Friedrich] Ringshausen, an die Direktion des Adam-Karrillon-

Gymnasiums Mainz, 06.10.1934, StadtA Mainz, siehe auch Hessisches Regierungsblatt 1934, S. 155).

Bis zu seinem Tod 1939, wenige Tage nach Kriegsbeginn, diente Ludwig Poepperling als Stu-

dienrat am Realgymnasium in Gießen. Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente re-

cherchieren. In den eingesehenen Unterlagen fanden sich keine Hinweise bezüglich einer

Verstrickung mit dem NS-Regime.

Quellen:

HStAD, G 35 E Nr. 17614

HStAD, G 35 E Nr. 17689

HStAD, G 53 Laubach Nr. 231

Hessische Regierungsblätter 1933-1934

StadtA DA, ST 61 Poepperling, Dr. Hermann + Ludwig

StadtA Mainz, 209/511

Literatur:

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Ottilie-Rady-Weg (D 7), benannt 2002 nach

Ottilie Rady (1890-1987)

Kunsthistorikerin

* 13. April 1890 in Darmstadt

1896-1900 Ausbildung am Reineck’schen Institut in Darmstadt

1900-1906 Besuch der Viktoria-Schule in Darmstadt

1914/15 Besuche bei ihrem Cousin Carl Thiemann in Dachau

1915 Geburt der (unehelichen) Tochter Else (Vater: Heeresflieger Paul Hermann Sieglitz)

1915-1917 Vorbereitung auf nachträgliches Abitur; Besuch des Darmstädter Pädagogiums (1917)

1917 Erlangung der Hochschulreife am Realgymnasium Gießen (als Externe)

1917-1922 Studium der Kunstgeschichte und der Archäologie an der TH Darmstadt (ein Semester)

sowie an Universitäten in Bonn und Frankfurt am Main

1922 Promotion in Kunstgeschichte an der Universität Frankfurt am Main, „Das weltliche Kostüm von

1250-1410 nach Ausweis der figürlichen Grabsteine im mittelrheinischen Gebiet“

1922-1937 Assistentin für Kunstgeschichte an der TH Darmstadt (lange Zeit bei Professor Paul Hart-

mann) in der Abteilung für Kultur- und Staatswissenschaften, ab 1931/32 in der Abteilung Architektur

(zu der Kunstgeschichte nunmehr gehörte); ab 1929 als Privatdozentin

1929 Habilitation im Fach Kunstgeschichte an der TH Darmstadt (damit erste habilitierte Kunsthisto-

rikerin in Deutschland), „Leben und Werke des Bildhauers Johann Baptist Scholl d. J. (1818-1881)“

1929-1932 Privatdozentin für Kunstgeschichte am Pädagogischen Institut in Mainz

1934-1937 außerordentliche Professorin an der TH Darmstadt (als eine von zwei Frauen)

1937 Kündigung ihrer Assistentenstelle (April) an der TH Darmstadt; Umzug nach Berlin unter Beur-

laubung von ihrer Tätigkeit als Dozentin

1937-1942 Journalistin in Berlin; Arbeit am Institut für wissenschaftliche Projektion des Dr. Franz

Stoedtner, dort Katalogisieren von Diapositiven für den Kunstgeschichtsunterricht

1939 Niederlegen der Lehrtätigkeit an der TH Darmstadt

1939 „Elsa Pfister-Kaufmann, Julius Kaufmann. Ein Künstlerehepaar“

1942 Heirat mit Franz Stoedtner (Ottilie Stoedtner)

1946-1959 nach dem Tod ihres Mannes Franz Stoedtner Leiterin des Instituts für wissenschaftliche

Projektion (seit 1948 in Düsseldorf angesiedelt)

1959 Heirat mit ihrem Cousin Carl Thiemann (Ottilie Thiemann-Stoedtner); Umzug nach Dachau

1966 nach Tod ihres Ehemanns dessen Nachlass-Verwalterin; fortan biografische Studien zu Dachau-

er Künstlern und Künstlerinnen

1981 „Dachauer Maler. Die Kunstlandschaft von 1801-1946“

† 12. April 1987 in Dachau

Ehrungen:

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327

Wirken in der NS-Zeit

Ottilie Rady, 1929 erste habilitierte Kunsthistorikerin Deutschlands, arbeitete zu Beginn der

NS-Zeit als Assistentin und Privatdozentin an der TH Darmstadt.

Als gebürtige Darmstädterin hatte Rady bereits an der TH Darmstadt ein Semester Kunstge-

schichte und Archäologie studiert. Nach ihrer Promotion 1922 in Frankfurt am Main erhielt

sie eine Assistentenstelle als Kunsthistorikerin bei Paul Hartmann in der Abteilung für Kultur-

und Staatswissenschaften an der TH Darmstadt, ab 1931/32 in der Abteilung Architektur, zu

der Kunstgeschichte nunmehr gehörte. Nach ihrer Habilitation 1929 war sie als Privatdozen-

tin an der TH Darmstadt tätig. Zu Beginn der NS-Zeit war Rady eine von drei Frauen im Lehr-

körper des Instituts, wobei eine ihrer beiden Kolleginnen bereits nach dem Wintersemester

1932/33 die Hochschule verließ (Hanel, S. 375). Am 15. Oktober 1934 wurde Rady zum au-

ßerordentlichen, außerplanmäßigen Professor [!] ernannt (Regierungsblatt 1934, S. 172).

Im Frühjahr 1937 verließ Rady Darmstadt und zog nach Berlin. Unter welchen Umständen

das Dienstverhältnis als Assistentin an der TH Darmstadt endete, ließ sich nicht eindeutig

klären. In der biografischen Skizze von Freia Neuhäuser, einer Freundin Ottilies, hieß es: „Da

sich Frau Professor mit der Ideologie des Nationalsozialismus nicht einverstanden erklären

konnte, wurde ihr gekündigt, ohne Zusage auf einen anderen Tätigkeitsbereich“ (Neuhäuser,

S. 34). In von ihr selbst erstellten tabellarischen Lebensläufen (jeweils nach 1945 verfasst)

finden sich folgende Angaben:

„1937, 1. April verliere ich die Darmstädter Assistentenstelle im Zuge der nazistischen Umbesetzung

von Frauenberufen auf Männer.

1937 ff. Gezwungenermaßen ging ich damals in den ‚Freien Beruf‘ nach Berlin, […]“ (Prof. Dr. Ottilie

Thiemann-Stoedtner, Dachau, 10.10.1962, StadtA DA, ST 61).

„1937 1. April. Meine Assistentenstelle an der T. H. Darmstadt wird gekündigt, ohne Zusage auf eine

andere Unterbringung. Als Dozentin beurlaubt, übersiedle ich nach Berlin in den freien Beruf.

1939 Nach Beendigung meiner Beurlaubung lege ich meine Darmstädter Lehrtätigkeit freiwillig nie-

der“ (1976, StadtA DA, ST 61).

In Berlin arbeitete Rady zunächst als Journalistin. 1939 erschien ihre biografische Arbeit „Elsa

Pfister-Kaufmann, Julius Kaufmann. Ein Künstlerehepaar“. Sie lernte den Kunsthistoriker und

Fotografen Dr. Franz August Stoedtner kennen, in dessen „Institut für wissenschaftliche Pro-

jektion“ sie Diapositive (Lichtbilder) für den Kunstgeschichtsunterricht aussuchte und katalo-

gisierte. Am 16.12.1942 heiratete Rady mit Franz Stoedtner ihren verwitweten, zwanzig Jah-

re älteren Chef, der im Januar 1946 starb. Ottilie Stoedtner übernahm daraufhin (als Erbin)

das „Institut für wissenschaftliche Projektion“.

Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente zu Ottilie Rady (bzw. Stoedtner; nach ihrer

zweiten Heirat 1959: Thiemann-Stoedtner) recherchieren. Das „Institut für wissenschaftliche

Projektion“ sowie der angegliederte Verlag befanden sich bis 1948 im Ostteil Berlins (Ottilie

Stoedtner verlegte 1948 Institut und Verlag nach Düsseldorf).

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Quellen:

Regierungsblatt 1934

StadtA DA, ST 61 Thiemann-Stoedtner, Prof. Dr. Ottilie

UA Darmstadt, Pressemappe Stoedtner [?]

Literatur:

Hanel, Melanie: Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus.

Darmstadt 2014.

Holtmann-Mares, Annegret: Ottilie Rady (1890-1987) – mit Willen und Beharrlichkeit zum Ziel. In:

hoch3, Mai 2015, S. 18.

Neuhäuser, Freia: Zum 90. Geburtstag der ersten habilitierten Kunsthistorikerin Deutschlands, Frau

Prof. Dr. Ottilie Thiemann-Stoedtner. In: Amperland 16 (1980), S. 32-36.

Rady, Ottilie: Zum Andenken an Prof. Dr. Paul Hartmann [ohne Ort, ca. 1944].

Rady, Ottilie: Elsa Pfister-Kaufmann, Julius Kaufmann. Ein Künstlerehepaar. Frankfurt am Main 1939.

Thiemann geb. Rady, Ottilie: Die Schule des Herrn Elias. In: Erlebte Vergangenheit. Darmstädter Bür-

ger erzählen. Darmstadt 1986, S. 160 f.

Wächter, Marion: Gezeugt – geboren – verleugnet. Leben und Herkunft der Else Faust (1915-1956).

In: Hessische Familienkunde 28 (2005), S. 185-190.

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Mina-Rees-Straße (K 6), benannt 2004 nach

Mina Rees (1902-1997)

Amerikanische Mathematikerin

* 2. August 1902 in Cleveland/Ohio (USA)

Aufgewachsen und Schulbesuch in New York City

Bis 1923 High School und erstes Studium der Mathematik am Hunter College, New York City

1923-1925 Master in Mathematik an der Columbia University, New York City

1925-1945 Dozentin für Mathematik am Hunter College, New York City

1929-1931 Beurlaubung; Promotion an der University of Chicago, „Division algebras associated with

an equation whose group has four generators”

1943-1945 erneute Beurlaubung; als geschäftsführende Assistentin Koordination einer Gruppe hoch-

rangiger Mathematiker (Applied Mathematics Panel des Office of Scientific Research and Develop-

ment), die im Auftrag der US-Regierung über militärische Anwendungen im Bereich der Mathematik

berieten

1946-1953 Leitung der Mathematik-Abteilung am neu geschaffenen Office of Naval Research (US-

Navy); Beratung der US-Regierung und anderer staatlicher Stellen bei der Förderung neuer Compu-

terprojekte (1949-1952 Director of the Mathematical Sciences Division, 1952/53 Deputy Science Di-

rector)

1950 „The federal computing machine program“

1952 „On the solution of nonlinear hyperbolic differential equations by finite differences“ (Veröffen-

tlichung zusammen mit Richard Courant und Eugene Isaacson)

1953-1961 Dekanin am Hunter College, New York City

1955 Heirat mit dem Physiker Leopold Brahdy

1961-1972 Professorin an der neu gegründeten City University, New York City (1961-1967 Dean of

Graduate Studies, 1967-1969 Provost of the Graduate School and University Center)

1964-70 Mitglied des US National Science Board

1969-1972 Präsidentin der Graduate School an der City University, New York City

1971 Vorsitzende der American Association for the Advancement of Science (als erste Frau)

Ab 1972 im Ruhestand; weiterhin beratend und forschend tätig

† 25. Oktober 1997 in New York City

Ehrungen:

1945 President’s Certificate of Merit (USA), King’s Medal for Service in the Cause of Freedom (GB)

1962 Award of Distinguished Service (Mathematical Association of America)

1965 Achievement Award (American Association of University Women)

1983 Public Welfare Medal (höchste Auszeichnung der National Academy of Sciences, USA)

1989 Computer Pioneer Award (IEEE Computer Society)

Vielfache Ehrendoktorin (an ca. 20 Universitäten und ähnlichen Bildungseinrichtungen)

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330

Wirken in der NS-Zeit

Die Amerikanerin Mina Rees gilt als bedeutende Mathematikerin und Pionierin der Compu-

tergeschichte, die während des Zweiten Weltkriegs eine Gruppe von Mathematikern koordi-

nierte und damit zum Kriegserfolg der Alliierten beitrug.

Rees arbeitete in der NS-Zeit als Mathematik-Dozentin (Assistant Professor, ab 1940 Associa-

te Professor) am Hunter College, New York. 1943 ließ sie sich von ihrer wissenschaftlich-

lehrenden Tätigkeit beurlauben, um in Washington, D. C., die Stelle der geschäftsführenden

Assistentin beim Leiter des Applied Mathematics Panel zu übernehmen. In diesem Gremium

waren von der US-Regierung bedeutende Mathematiker zusammengezogen worden, um

über militärische Forschungen und Anwendungen im Bereich der Mathematik zu beraten.

Mina Rees war als Wissenschaftsmanagerin in leitender Funktion tätig:

„In that position and as secretary to the panel, Rees was in a central position with respect to the

problems that were posed by the various military constituents, efforts to extract the mathematical

essence of the problems, and the task of finding mathematicians to solve them. Rees represented

the government in contracting the problems to various universities throughout the country“ (Green

et al., S. 867).

In diversen Projekten beschäftigte sich Rees unter anderem mit Strömungsproblemen bei

der U-Bootabwehrtechnik oder bei Raketenantrieben. Für ihre Arbeiten wurde sie später

sowohl von der US-Regierung als auch von der britischen Regierung mit hohen Ehrungen

ausgezeichnet. Während des Zweiten Weltkriegs erhielt Rees wichtige Einblicke in die Ent-

wicklung elektronischer Rechenanlagen, die sie nach dem Krieg in ihrer (wissenschaftlichen)

Karriere (auch in ihrer Funktion als Politik-Beraterin) nutzen sollte.

Mina Rees war als Mathematikerin und Wissenschaftsmanagerin auf höchster Ebene in mili-

tärische Forschung während des Zweiten Weltkriegs involviert – allerdings auf Seiten der

Amerikaner und daher gegen das NS-Regime in Deutschland.

Quellen:

[http://www.frauen-informatik-geschichte.de/index.php?id=64] Zugriff: 27.12.2016

Literatur:

Broome Williams, Kathleen: Improbable Warriors: Women Scientists and the U.S. Navy in World

War II. Annapolis, Maryland, 2001. [NICHT eingesehen]

Green, Judy/La Duke, Jeanne/Mac Lane, Saunders/Merzbach, Uta C.: Mina Spiegel Rees (1902-1997).

In: Notices of the American Mathematical Society 45 (1997), S. 866-873.

Shell-Gellasch, Amy: In Service to Mathematics: The Life and Work of Mina Rees. Boston 2001.

[NICHT eingesehen]

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331

Otto-Röhm-Straße (G-H 6-7), benannt 1965 nach

Otto Röhm (1876-1939)

Chemiker und Unternehmer

* 14. März 1876 in Öhringen/Württemberg

Besuch der Lateinschule in Blaubeuren und des humanistischen Gymnasiums in Ulm

1891 Abschluss der Mittleren Reife

1891-1894 Apothekerlehre in Blaubeuren

1894-1897 Apothekergehilfe in Biberach, Zürich und Ulm sowie Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger

1897/98 Studium der Pharmazie in München als „außerordentlicher Student“

1898-1901 Studium der Pharmazie und Chemie an der Universität Tübingen (Vollstudium der Chemie

nach erfolgreicher Approbationsprüfung in Stuttgart ab 1899)

1901 Promotion über die „Polymerisationsprodukte der Akrylsäure“ an der Universität Tübingen

1902 Tätigkeit bei Firma E. Merck sowie bei Landwirtschaftlicher Versuchsanstalt in Darmstadt

1903 Assistent am städtischen Untersuchungsamt in Stuttgart

1904 Hauptprüfung zum Nahrungsmitteltechniker in Stuttgart; Veröffentlichung „Maßanalyse“

1904-1906 Assistent am städtischen Gaswerk in Gaisburg

1907 Gründung des Unternehmens Röhm & Haas OHG in Esslingen (gemeinsam mit Otto Haas)

Ab 1907 Entwicklung technischer Enzyme zur Lederherstellung (Beizmittel „Oropon“), für Waschmit-

tel, zur Textilverarbeitung und Fruchtsaftklärung

1909 Umzug der chemischen Fabrik Röhm & Haas von Esslingen nach Darmstadt

1909 Heirat mit Elisabeth Soyka in Dresden (zwei Kinder)

Ab 1911 Forschungen auf dem Gebiet der Acrylchemie

1914 Erfindung von Burnus (Wäsche-Einweichmittel)

Ab 1914 Ausbau der Enzymproduktion im Werk in Darmstadt (für Herstellung von Waschmitteln,

Textilien, Kosmetika, pharmazeutische Präparate sowie von Fruchtsäften)

1928 Synthetisieren von Methacrylaten im Labor

1933 Erfindung des PLEXIGLASES ® (gemeinsam mit Walter Bauer sowie weiteren Mitarbeitern)

1936 Bericht über „Organisches Glas“ (PLEXIGLAS ®) auf Hauptversammlung der GDCh in München

1936 PLEXIGLAS ®-Exponate auf der Ausstellung „Deutschland“ in Berlin

Ab 1937/38 Herstellung von PLEXIGLAS ® vornehmlich für militärische Zwecke (Flugzeugbau)

1938 Umwandlung der Röhm & Haas AG in eine GmbH; Ausscheiden als Vorstandsvorsitzender

† 17. September 1939 in Berlin

Ehrungen:

1920 Verdienstkreuz für Kriegshilfe

1922 Ehrenbürger der TH Darmstadt (seit 1924 unter Bezeichnung Ehrensenator geführt)

1925 Ehrenpräsident des Syndikats der griechischen Gerber

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332

1935 Präsidiumsmitglied der Deutsch-Britischen Gesellschaft

1937 Grand Prix und Goldmedaille für PLEXIGLAS ® auf Pariser Weltausstellung

1937 Ernennung zum Generalkonsul von Bulgarien durch König Boris III.

Wirken in der NS-Zeit

Otto Röhm, Chemiker, Unternehmer und Erfinder, war während der NS-Zeit Firmenchef der

Röhm & Haas AG mit Sitz in Darmstadt (ab 1938 GmbH, ab 1971 Röhm GmbH, seit 2007

Evonik Röhm GmbH). Er entwickelte 1933 mit PLEXIGLAS ® einen Werkstoff, der ab 1937 vor

allem für militärische Zwecke genutzt wurde. Röhm schien dem Nationalsozialismus kritisch

gegenüber gestanden zu haben.

Für die von Otto Röhm und Otto Haas 1907 gegründete Firma war die Anwendung von PLE-

XIGLAS ® in der Rüstungsindustrie von großer wirtschaftlicher Bedeutung, besonders in der

Zeit des Zweiten Weltkriegs – als Röhm selbst bereits verstorben war. Auf der Hauptver-

sammlung der Gesellschaft Deutscher Chemiker hielt Röhm 1936 erstmals einen öffentlichen

Vortrag zu dem „Organischen Glas“ (Trommsdorff, S. 237, 280). Die Firma nahm daraufhin

die Möglichkeit wahr, auf internationalen Ausstellungen ihr Produkt hohen Regierungsver-

tretern zu präsentieren („100 Jahre Zukunft“, S. 49): Auf der Berliner Ausstellung „Deutsch-

land“ (1936) fanden aus PLEXIGLAS ® gefertigte Exponate (darunter auch eine Geige) in der

Ehrenhalle Platz; auf der Weltausstellung 1937 in Paris erhielt PLEXIGLAS ® höchste Auszeich-

nungen. Das Werksgelände in Darmstadt wurde in der Folge ausgeweitet, neue Fertigungs-

und Verarbeitungsanlagen gebaut, die insbesondere den Bedarf für die Produktion von Flug-

zeugkanzeln dienten: Röhm & Haas wurde zum Rüstungsunternehmen. Zu Beginn der NS-

Zeit hatte sich die politische Entwicklung noch negativ auf das (Auslands-)Geschäft der Röhm

& Haas AG unter ihrem Vorstandsvorsitzenden Otto Röhm ausgewirkt. Das Unternehmen

verlor jüdische Großkunden in der polnischen Lederindustrie und litt unter den scharfen De-

visenvorschriften. Seit Mitte der 1930er Jahre expandierte das Unternehmen: Lag die Mitar-

beiterzahl 1934 bei 450, konnte Otto Röhm schon 1937 den 1.000 Mitarbeiter begrüßen. Als

Röhm 1939 starb, beschäftigte sein Unternehmen über 1.800 Mitarbeiter bei einem Jahres-

umsatz von über 22 Millionen RM (Klitzsch, S. 715).

Während das Unternehmen durch die Aufrüstung seitens des NS-Regimes von gewinnbrin-

genden Rüstungsaufträgen profitierte – das Interesse des NS-Regimes an den Kunststoffen

veränderte die gesamte Firmenstruktur (hierzu ausführlich „100 Jahre Zukunft“, S. 49 ff.) –,

blieb Röhms Verhältnis zum Nationalsozialismus – laut seiner Biografen – distanziert

(Edschmid, S. 57 ff., Trommsdorff, S. 270 f.). Als problematisch erwies sich für Röhm wäh-

rend der NS-Zeit die jüdische Herkunft seiner Frau, die 1936 verstarb. Dies galt auch als

Grund für sein Ausscheiden aus wichtigen Fachgremien. In der Biografie von Ernst Tromms-

dorff hieß es zusammenfassend:

„Der Verlust seiner Frau, die politische und persönliche Belastung durch den Nationalsozialismus, die

Diffamierung seiner Familie – sein Sohn mußte sein Studium in Heidelberg 1935 abbrechen und in

Paris fortsetzen – das alles drückte auf ihn“ (Trommsdorff, S. 281).

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Kasimir Edschmid zitierte aus Tagebuch- und Kalenderblättern persönliche Notizen Röhms,

die seine Distanz zum NS-Regime belegen sollen. Nach Trommsdorff soll sich Röhm – trotz

seiner exponierten Stellung als Vorstandsvorsitzender eines Rüstungsbetriebs – mit politi-

schen Aussagen zurückgehalten, „Bekenntnisse zum Hitler-Reich“ verweigert und Juden per-

sönlich geholfen haben (S. 271). Überprüfen lassen sich diese Darstellungen anhand der

spärlich vorliegenden bzw. zugänglichen Quellen aus der Zeit nur schwer. Allerdings legen

die im Firmenarchiv überlieferten Dokumente nahe, dass Otto Röhm „dem NS-Regime – bei

aller Pragmatik – weiterhin kritisch gegenüberstand“ („100 Jahre Zukunft“, S. 54). Seine Un-

abhängigkeit schwand jedoch zunehmend; er geriet im Zuge der „Gleichschaltung“ des Un-

ternehmens innerhalb des Unternehmens ins Hintertreffen (laut Auskunft des Konzernar-

chivs der Evonik Industries AG liegen keine neuen Quellen vor, die die Einschätzung aus dem

Jahr 2007 in Frage stellten; zur Unternehmensgeschichte in der NS-Zeit siehe daher „100

Jahre Zukunft“, S. 46-61; persönliche Dokumente Otto Röhms befinden sich nach Auskunft

des Konzernarchivs nach wie vor in Familienbesitz).

Im Herbst 1937 erlitt Röhm einen Schlaganfall; seine gesundheitliche Verfassung erzwang in

den letzten Lebensjahren ärztliche Auflagen. Er unternahm 1938 noch eine Reise nach Bulga-

rien, wo er in Sofia zu einer Audienz bei König Boris III. geladen war (dieser hatte ihn 1937

zum Generalkonsul in Frankfurt am Main ernannt, Edschmid, S. 62, Trommsdorff, S. 272). Im

Zuge der Umwandlung der Röhm & Haas AG in eine GmbH im November 1938 gab Otto

Röhm seinen Vorstandsvorsitz ab. Sein Sohn gleichen Namens, der seit 1937 seinen Vater im

Unternehmen unterstütze, kam als Geschäftsführer aufgrund seiner jüdischen Herkunft

nicht in Frage; Otto Röhm jun. wurde 1940 auf Anweisung des Hessischen Gauleiters Jakob

Sprenger aus der Firma verwiesen und zu Zwangsarbeit herangezogen („100 Jahre Zukunft“,

S. 54).

Laut Angaben seitens des Konzernarchivs liegen dort keine Unterlagen vor, die Entlassungen

von Betriebsangehörigen aufgrund rassischer oder politischer Verfolgung dokumentierten

(dazu auch „100 Jahre Zukunft“, S. 48 f.). Noch unter Röhms Leitung (1936/37) erwarb das

Unternehmen allerdings Gelände (rund 10.000 m²), das zuvor der jüdischen Firma Herz Bo-

denheimer gehörte („100 Jahre Zukunft“, S. 56). Wenngleich Röhm & Haas den Erwerb be-

zahlte, einigte sich das Unternehmen im Zuge eines Rückerstattungsverfahrens nach 1945 in

einem Vergleich auf eine Entschädigung. Der umfangreiche Einsatz von Zwangsarbeitern und

Kriegsgefangenen im Unternehmen fand erst nach Röhms Ausscheiden aus der Firmenlei-

tung (bzw. nach seinem Tod) während der Kriegsjahre statt („100 Jahre Zukunft“, S. 58-61).

Eva Wittig – die auch die Texte für die mehrfach genannte Jubiläumsschrift anfertigte – be-

schrieb Röhms Wirken in der NS-Zeit im Stadtlexikon Darmstadt wie folgt:

„Die größte Entdeckung gelang ihm zusammen mit dem Chemiker Walter Bauer und weiteren Mitar-

beitern 1933 mit PLEXIGLAS ®. Der glasklare, leicht zu verarbeitende Kunststoff, fand während der

NS-Zeit nahezu ausschließlich für die Herstellung von Flugzeugkanzeln für Rüstungszwecke Verwen-

dung. Das brachte Röhm in ein Spannungsfeld zwischen unternehmerischer Verantwortung Staat und

Gesellschaft gegenüber und privater Sorge um die Zukunft seiner Familie, da seine Kinder über die

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Linie seiner verstorbenen Frau jüdischer Abstammung und damit rassischer Verfolgung durch das

Regime ausgesetzt waren“ (Wittig, S. 757).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsakten zum 1939 verstorbenen Otto Röhm im HHStAW

recherchieren. Röhm scheint kein Mitglied der NSDAP gewesen zu sein; ob er in anderen NS-

Organisationen Mitglied war, ließ sich anhand der ausgewerteten Informationen nicht ermit-

teln.

Quellen:

HStAD, R 4 Nr. 21049

StadtA DA, ST 61 Röhm, Dr. Otto + Otto (Sohn)

Evonik Industries AG, Konzernarchiv [Röhm-Archiv]

Literatur:

100 Jahre Zukunft. Die Röhm GmbH von 1907 bis 2007 [Jubiläumsschrift, herausgegeben von der

Röhm GmbH, Text: Eva Wittig]. Darmstadt 2007.

Edschmidt, Kasimir: In Memoriam Dr. Otto Röhm. Zum 50jährigen Bestehen der Chemischen Fabrik

Röhm & Haas Darmstadt. Darmstadt 1957.

Klitzsch, Rainer: Röhm, Otto Karl Julius. In: NDB 21 (2003), S. 715 f.

Trommsdorff, Ernst: Dr. Otto Röhm. Chemiker und Unternehmer. Düsseldorf/Wien 1976 [²1984].

Wittig, Eva: Röhm, Otto Karl Julius. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 756 f.

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Peter-Roßmann-Weg, benannt 2013 nach

Peter Roßmann (1884-1950)

Gastwirt und Metzgermeister

* 3. Juli 1884 in Neutsch im Odenwald (heute Gemeinde Modautal)

Seit 1912 wohnhaft in Darmstadt

1914 Heirat mit Elisabeth Delp (vier Kinder)

Ca. 1914 Wohnhaus mit Metzgerei in der Frankfurter Straße 79, später an gleicher Stelle Gastwirt-

schaft „Zum Rosengarten“: Metzger und Gastwirt („Roßmanns Rosengarten“)

1935-1945 Mitglied der DAF

† 17. September 1950 in Darmstadt

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Peter Roßmann war während der NS-Zeit als Metzger und Gastwirt in Darmstadt tätig. In der

Darmstädterstraße 79 betrieb er die Gaststätte (mit Metzgerei) „Zum Rosengarten“ als Fami-

lienbetrieb.

Über Peter Roßmanns Wirken in der NS-Zeit beschränken sich die recherchierten Informati-

onen auf dessen eigene Angaben im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens (Meldebogen,

HHStAW). Demnach war Roßmann, wie bereits erwähnt, 1933-1945 als „selbständiger Ge-

werbetreibender“ (Metzger, Gastwirt) tätig. Sein jährliches Gesamteinkommen bezifferte er

für den angefragten Zeitraum (1932-1945) mit 5.000-7.000 RM. Laut seiner Angaben war er

1935-1945 Mitglied der DAF, darüber hinaus weder Mitglied einer weiteren NS-Organisation

noch Angehöriger der Wehrmacht. Roßmann wurde am 28. März 1947 als „Vom Gesetz nicht

betroffen“ eingestuft und damit entlastet.

Es ließen sich keine Hinweise auf eine Verstrickung Peter Roßmanns mit dem NS-Regime

recherchieren.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 29916 (nur Meldebogen)

StadtA DA, Melderegisterblätter

HStAD Bestand H 3 Nr. 72642 [Kennkartenmeldebogen]

Literatur:

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Rüthleinweg (L 8), benannt 1956 nach

Heinrich Rüthlein (1886-1949)

Darmstädter Heimatdichter

* 26. September 1886 in Darmstadt

1892-1900 Besuch der Knabenmittelschule in Darmstadt (einer seiner Lehrer dort: Karl Schaffnit)

Ausbildung und Anstellung in einem Büro

1909-1911/1919-1933 Mitglied der SPD

1909 Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit

Um 1909 „Die Bekehrung“ (erstes Bühnenstück, einaktige Posse, in kleinem Kreis aufgeführt)

1910-1913 weitere Lustspiele, darunter „Die Villa“, „Die Brieftasche“, „Die Maibowle“

1912 Heirat mit Margarethe Katharina Eichel (ein Sohn)

1914-1918 Teilnahme als Soldat am Ersten Weltkrieg

1919-1949 Verwaltungstätigkeit/Beamter bei der Stadt Darmstadt

1920 „Der Glasschrank“ (bekanntestes Mundartstück)

1921 „Der Schieberfeind“

1929 „Die weißen Handschuhe“

1932 „Pistole und Tabakpfeife“

1933 Degradierung vom Stadtinspektor zum Stadtobersekretär

1934-1937 Mitglied der Reichsschrifttumskammer (Mitglieds-Nr. 11346)

1934-1945 Mitglied der NSV

1934-1945 Mitglied des Reichsbunds der Deutschen Beamten (RDB)

1937 „Fräulein Mandarin“ (Uraufführung in Erfurt)

1941 „Wachstubengeschichten“

1944 Zerstörung unveröffentlichter Manuskripte im Zuge der „Brandnacht“

1945-1949 Tätigkeit im Versorgungsamt; Stadtamtmann beim Standesamt der Stadt Darmstadt

† 3. Juli 1949 in Darmstadt

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Rüthlein, Darmstädter Heimat- und Mundartdichter in der Tradition Ernst Elias Nie-

bergalls, war über die gesamte NS-Zeit in der Darmstädter Stadtverwaltung beschäftigt.

Während der Weimarer Republik war Rüthlein Mitglied der SPD. Wie es in einer politischen

Beurteilung durch die Darmstädter Gestapo 1937 hieß (hierzu und zum Folgenden

01.11.1937, Geheime Staatspolizei an Reichsschrittumskammer, BArch Berlin, BDC, R 9361-

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337

V/10246), nahm er an SPD-Veranstaltungen teil und „unterstützte den Marxismus auch

durch Spenden“. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SPD bzw. der daraus geschlossenen

„marxistischen Einstellung“ wurde Rüthlein 1933 vom Stadtinspektor zum Stadtobersekretär

degradiert; von einer Dienstentlassung wurde jedoch abgesehen, da er „sein Amt stets ein-

wandfrei versehen hat und als ein stets hilfsbereiter Mensch und Kamerad bekannt war“.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fiel Rüthlein laut Einschätzung der

Gestapo nicht politisch auf. Er galt weiterhin als politisch unzuverlässig, aber ungefährlich:

„Seine jetzige politische Einstellung wird dahingehend beurteilt, daß er als langjähriger früherer SPD-

Mann, der schon von seinem Vater entsprechend beeinflußt worden war, innerlich seiner alten

Überzeugung treu geblieben ist. Es wird ihm indessen nicht zugetraut, daß er sich jemals aktiv staats-

feindlich betätigen würde“ (01.11.1937, Geheime Staatspolizei an Reichsschrittumskammer, BArch

Berlin, BDC, R 9361-V/10246).

Rüthlein – der 1937 von der Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer befreit worden

war, da der Umfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit als zu gering gewertet wurde – stell-

te 1941 einen Antrag auf (erneute) Aufnahme in die Kammer. Hintergrund war die ange-

dachte Veröffentlichung der „Wachstubengeschichten“, die das Darmstädter Soldatenleben

vor 1914 zum Inhalt hatte (1941 veröffentlicht mit Illustrationen von Hartmuth Pfeil). Sein

Aufnahmegesuch wurde offensichtlich abgelehnt, ihm aber nachträglich ein Befreiungs-

schein für die Veröffentlichung ausgestellt (BArch Berlin, BDC, R 9361-V/10246). Laut Be-

richterstattung in den lokalen Medien (nach 1945) soll eine Szene der „Wachstubengeschich-

ten“ wegen „Verächtlichmachung der Offiziere“ Anstoß im Reichspropagandaministerium

genommen haben (StadtA DA, ST 61). Einzelne Bühnenstücke (Einakter, Lustspiele, Schwän-

ke) wurden während der NS-Zeit aufgeführt, darunter im Mai 1937 die Uraufführung des

Stücks „Fräulein Mandarin“ in Erfurt.

Laut eigener Angaben in seinem Meldebogen 1946 (HHStAW) war Rüthlein 1934-1945 je-

weils ohne Amt Mitglied der NSV und des Reichsbunds der Deutschen Beamten (RDB); dar-

über hinaus in keiner anderen NS-Organisation tätig. Unter dem Punkt „Bemerkungen“ no-

tierte er: „Ich wurde als Sozialdemokrat (Mitglied 1909 bis April 1933) degradiert und ver-

folgt.“ Rüthlein wurde als „Vom Gesetz nicht betroffen“ (24.03.1947) eingestuft.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/10246

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 16426 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 8922

HStAD, R 12 P Nr. 5308

StadtA DA, ST 61 Rüthlein, Heinrich und Carl Heinrich

Literatur:

Eilers, Helge: Rüthlein, Heinrich. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 765.

Esselborn, Karl: Hessische Lebensläufe. Darmstadt 1979, S. 413-415 [Erstveröffentlichung 1926].

Keil, Heinrich: Hartmuth Pfeil. Werke aus fünf Jahrzehnten. Darmstadt 1987.

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338

Sauerweinstraße (D 8), benannt 1968 nach

Ludwig Sauerwein (1879-1951)

Arheilger Lehrer und Heimatforscher

* 9. Februar 1879 in Roßdorf

1894-1900 Besuch des Lehrerseminars in Darmstadt

1900-1906 Lehrer an der Volksschule Arheilgen

1906-1909 Lehrer an der Gemeindeschule zu Rudlos (Kreis Lauterbach)

1909-1914 Lehrer an der Gemeindeschule zu Angersbach (Kreis Lauterbach)

1914-1948 Lehrer an der Volksschule Arheilgen (bis zur Pensionierung)

1932-1945 Mitglied des NS-Reichskriegerbunds (NSRKB)

1934-1945 Mitglied des NS-Lehrerbunds (NSLB)

1934-1945 Mitglied der NSV

1944 Zerstörung seines Wohnhauses in Darmstadt-Arheilgen im Dezember

† 9. Oktober 1951 in Darmstadt

Ehrungen:

1960 [1967] Gedenktafel am Arheilger „Dreimärker“

Wirken in der NS-Zeit

Ludwig Sauerwein, in Roßdorf geborener Lehrer und Heimatforscher, lebte über die gesamte

NS-Zeit als Volksschullehrer in (Darmstadt-)Arheilgen.

Über Sauerweins Wirken in der NS-Zeit ist wenig bekannt. Neben seiner Tätigkeit als Volks-

schullehrer war er in der Heimatgeschichtsforschung aktiv. Bei einem Luftangriff auf Darm-

stadt während des Zweiten Weltkriegs wurde eine seiner Töchter, die mit ihren Kindern zu

Besuch war, getötet. Eine Tochter veröffentlichte 1962 (also posthum) „Die Geschichte Ar-

heilgens“, aus den von ihr aus dem 1944 zerstörten Wohnhaus geborgenen Unterlagen ihres

Vaters. Sauerwein war Mitglied in zahlreichen Vereinen und Chören und half den Volksbil-

dungsverein und die Volksbibliothek ins Leben zu rufen (Koch, S. 772).

Laut seiner eigenen Angaben im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens (HHStAW) war Ludwig

Sauerwein Mitglied des NSRKB (1932-1945) sowie des NS-Lehrerbunds und der NSV (jeweils

1934-1945). Es ließen sich (auch in weiteren Beständen) keine Mitgliedschaften in anderen

NS-Organisationen recherchieren. Sein Einkommen betrug 1933-1945 zwischen 420,- und

460,- RM. Laut seines Meldebogens aus dem Jahr 1946 war er verwitwet (HStAD, H 3 Nr.

72758).

Ludwig Sauerwein wurde im April 1947 als vom Gesetz „Nicht betroffen“ eingestuft

(HHStAW), was seiner Selbsteinschätzung entsprach.

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339

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 36792 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 72758

Regierungsblätter 1906, 1909 und 1914

StadtA DA, ST 61 Sauerwein, Ludwig

Literatur:

Koch, Roland: Sauerwein, Ludwig. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 772 f.

Sauerwein, Ludwig: Die Geschichte Arheilgens. Darmstadt-Arheilgen 1962.

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Scharounweg (F 9), benannt 1978 nach

Hans Scharoun (1893-1972)

Architekt

* 20. September 1893 in Bremen

1900-1912 Besuch des Gymnasiums in Bremerhaven

1912-1914 Studium der Architektur an der TH Berlin-Charlottenburg

1914 freiwillige Meldung zum Kriegsdienst

1915 Arbeit an Militär-Baubüro zum Wiederaufbau Ostpreußens

1917 stellvertretender Leiter des Bauberatungsamts in Insterburg/Ostpreußen

1918-1925 Arbeit als freier Architekt in Insterburg/Ostpreußen; Freundschaften mit Otto Bartning,

Walter Gropius, Mies van der Rohe, Bruno Taut

1919 Mitglied der Architektenvereinigung „Die Gläserne Kette“

1920 Heirat mit Annemarie „Aenne“ Hoffmeyer in Bremerhaven (Scheidung 1960)

1921-1925 diverse Wettbewerbsbeiträge

1925-1932/33 Professor an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe in Breslau

1926 Architekturbüro in Berlin mit Adolf Rading und Paul Kruchen; Mitglied der Architektenvereini-

gung „Der Ring“

1927-1932 Städtebauliche Entwürfe und Bautätigkeit (Siedlungsbau, Junggesellenhaus) in Berlin

1928/29 Ledigenheim in Breslau

1930-1933 Haus Schminke in Löbau

1933 Übersiedlung von Breslau nach Berlin; Arbeit als freier Architekt

1933-1942 Bautätigkeit in Berlin: Einfamilienhäuser und Wohnungsbau, darunter 1933-1940 Wohn-

anlage in Berlin-Spandau (erste Phase bereits 1930-1932)

Ca. 1934-1945 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste (Mitglieds-Nr. A 8533)

1945-1946 Stadtbaurat in Berlin (Leiter der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen); Wiederaufbau

unter dem Leitbild der „Stadtlandschaft“

1947-1958 Ordinarius für Städtebau an der Fakultät für Architektur der TU Berlin

1947-1950 Direktor des neu gegründeten Instituts für Bauwesen an der Akademie der Wissenschaf-

ten

1951 Entwurf einer Volksschule in Darmstadt („Meisterbauten Darmstadt“, nicht umgesetzt)

1954-1961 Großsiedlung Charlottenburg-Nord in Berlin

1954-1971 Hochhausbauten in Stuttgart

1955-1968 Präsident der Akademie der Künste Berlin

1957-1963 Meisterentwurf der Philharmonie Berlin

1958 „Hauptstadtwettbewerb“ (2. Preis): Idee der Stadtlandschaft

1960 Heirat mit Margit von Plato

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1971 Mitglied der Académie d’Architecture, Paris

† 25. November 1972 in Berlin

Ehrungen:

1954 Ehrendoktor der TU Berlin

1954 Berliner Kunstpreis

1959 Großes Bundesverdienstkreuz der BRD

1968 Ehrenpräsident der Akademie der Künste, Berlin

1959 Plakette der Freien Akademie der Künste, Hamburg

1962 Ehrensenator der TU Berlin

1964 Großer Preis des Bundes Deutscher Architekten (für die Berliner Philharmonie)

1965 Auguste-Perret-Preis der Union Internationale des Architectes, Paris

1965 Ehrendoktor der Universität Rom

1968 Großer Preis des Landes NRW für Baukunst

1969 Ehrenbürger von Berlin

1971 Ehrenmitglied des Colegio de Arquitectos del Peru

Wirken in der NS-Zeit

Hans Scharoun, deutscher Architekt des 20. Jahrhunderts und bedeutender Vertreter der

organischen Architektur, lebte und wirkte während der NS-Zeit in Berlin.

Scharoun war 1932/33 von Breslau nach Berlin gezogen, wo er fortan als freier Architekt

wirkte; bereits seit 1926 unterhielt er dort gemeinsam mit anderen Architekten ein Stadtbü-

ro, seit 1927 konzentrierte Scharoun seine Entwurfstätigkeit auf die Metropole. Sein Büro

befand sich nun in der Passauer Straße, bis die Räumlichkeiten 1943 bei einem Luftangriff

zerstört wurden. Während der gesamten NS-Zeit blieb Scharoun in Deutschland – anders als

einige seiner Kollegen, die zuvor gemeinsam mit ihm in den Architektenvereinigungen „Die

Gläserne Kette“ und „Der Ring“ organisiert waren. Wie Andreas Tönnesmann in seinem Bei-

trag zu Hans Scharoun „Im Dritten Reich“ darstellte, arbeitete Scharoun in der NS-Zeit konti-

nuierlich als Architekt – gemessen an der Quantität erfolgreicher als zuvor –, ging aber von

Beginn an persönlich auf Distanz zum NS-Regime, schwieg öffentlich und versuchte, „Berüh-

rungen mit der Sphäre des Politischen konsequent zu meiden“ (Tönnesmann, S. 46). Als Ar-

chitekt konnte sich aber auch Scharoun den politischen Gegebenheiten nicht entziehen, wie

Tönnesmann mit Blick auf dessen Werk und Wirken treffend konstatierte:

„Scharouns Bauten nach 1933 können nicht nach dem Gesichtspunkt gestalterischer Qualität in wich-

tige und unwichtige geschieden werden; sie sind in ihrer ganzen Breite Teil seines Œuvres. Lassen die

Einzelhäuser allein noch den Schluss zu, Scharoun habe den Weg der ‚inneren Emigration‘ gesucht

und sei letztlich an der Intransigenz des Systems gescheitert, so zeigt der gleichzeitige Wohnungsbau,

daß es diesen Weg tatsächlich nie gegeben hat. Umgekehrt läßt die ideelle und künstlerische Verar-

mung, die Scharouns Siedlungsbauten seit 1934 mitvollziehen, die abgeschirmte Raumkunst der Pri-

vathäuser unaufrichtig und prätentiös erscheinen. Hier zeigt sich erneut, daß die Vorstellung vom

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342

unpolitischen, neben dem Regime arbeitenden Architekten dringend der Revision bedarf. Planen und

Bauen wurde nach 1933 notwendig zur politischen Handlung – nicht nur deshalb, weil sich Behörden

und Architektenschaft willfährig ‚gleichschalten‘ ließen, sondern auch, weil ‚politikfreie‘ Räume nur

dort existierten, wo das Regime sie im eigenen Interesse zuließ. Scharouns Beispiel zeigt als eines von

vielen, daß niemand, der auf die Neutralität dieser Räume vertraute, der Verstrickung in die Wider-

sprüche des Systems entgehen konnte“ (Tönnesmann, S. 69 f.).

Scharoun konnte bis 1942 insgesamt 13 Einfamilienhäuser verwirklichen (hauptsächlich in

Berlin und Brandenburg, dazu ausführlich Tönnesmann, S. 46-60). Er sah sich zu Konzessio-

nen an NS-Architekturvorstellungen gezwungen, etwa die Dachgestaltung betreffend. Zu-

gleich gelang es ihm wiederholt, die reaktionäre Ideologie des Bauens durch Kompromisse

zu unterlaufen: Straßenfronten unterschieden sich etwa stilistisch markant von fantasievol-

len Gartenfassaden. Widersprüche kennzeichneten Scharouns Einfamilienhausbauten, in der

Innen- wie in der Außengestaltung. Tönnesmann interpretierte sie weniger als Opposition

denn als Hinweis auf Distanz zum NS-Regime (Tönnesmann, S. 52); um als Architekt in der

NS-Zeit arbeiten zu können, sah sich Scharoun zu opportunistischem Verhalten gezwungen:

„Seine Häuser suchen deprimierende Alltagserfahrungen nicht auszudrücken, sondern zu kompensie-

ren, und sie zeigen sich dort zum Nachgeben gegenüber der Diktatur bereit, wo Kompromißlosigkeit

die bauliche Realisierung gefährdet hätte“ (Tönnesmann, S. 55).

Stärker noch als im Bereich der Einfamilienhäuser brachte der öffentliche Siedlungsbau den

Architekten Scharoun zwangsläufig in die Nähe zum NS-Regime. Zwischen 1933 und 1940

konnte er wenigstens sechs Siedlungen und Wohnanlagen in Berlin und in Bremerhaven um-

setzen (ausführlich dazu Tönnesmann, S. 60-70). Scharoun selbst nahm zu diesen Bauten in

der Zeit nach 1945 keinen öffentlichen Bezug mehr auf. Das früheste Projekt führte – unter

neuen Vorzeichen – ein Bauvorhaben in Berlin-Spandau fort, dessen erste Bauphase bereits

1932 abgeschlossen war. Den Eindruck von Kontinuität konnte die 1934/35 umgesetzte Pla-

nung Scharouns nicht verwirklichen; spätere Projekte, wie die Klein- und Mittelhaussiedlung

in Berlin-Kladow (Bauauftrag 1935), waren noch stärker von „stilistische[m] Opportunismus“

(Tönnesmann, S. 66) bzw. dem „Verlust früherer Ideale“ (drittes Siedlungsprojekt in Bremer-

haven, Planung 1938, S. 68) gekennzeichnet.

Singulär erscheint in Scharouns Œuvre der verwirklichte Bau eines privaten Schwimmbads

für den Brandenburger Hutfabrikanten Silbermann, den Scharoun gemeinsam mit Hermann

Mattern 1937 plante. Die realisierte Anlage neben der Fabrik – für die Kinder Silbermanns,

die als Juden vom Besuch öffentlicher Badeanstalten ausgeschlossen waren – wurde vermut-

lich nur bis Sommer 1939 genutzt. Das Ensemble bestach durch selbstverständliche Eleganz:

„Unbehelligt von Auflagen und Einsprüchen, aber wohl auch im Bewußtsein, für Opfer des Regimes

zu bauen, scheint Scharoun hier für einen Moment zu neuer innerer Freiheit gefunden zu haben“

(Tönnesmann, S. 71).

Scharouns letzter Bau in der NS-Zeit wurde 1942 ausgeführt. Dokumentiert in seiner Akte

der RKK – Scharoun war Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste (Mitglieds-Nr. A

8533, Zeitraum unklar, Belege 1936-1944 – von ihm 1945/46 in den unten genannten Frage-

bögen nicht erwähnt) – findet sich auf Anfrage vom März 1942 der Verweis auf ein Bauvor-

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343

haben in Berlin-Reinickendorf der Wohnstädtebaugesellschaft Berlin Charlottenburg. Zudem

erwähnte Scharoun hier ein Projekt mit der Bezeichnung „500 Mann-Bunker“, das er im Auf-

trag des Generalinspektors für die Reichsleitung/Generalbauleitung „zur Vorlage gebracht“

habe (13.03.1942, Anfrage des Landesleiters der Reichskammer der bildenden Künste beim

Landeskulturwalter Gau Berlin, gesamte tradierte RKK-Akte unter Landesarchiv Berlin, A Rep.

243-04, 7969 [Film 148, Bilder 0452-0490, Zitat Bild 0475]). Für die Berechnung seines Jah-

resbeitrags wurde von der Reichskammer der bildenden Künste für das Jahr 1935 ein steu-

erpflichtiges Jahreseinkommen von 6.178,- RM zugrunde gelegt.

Während der Kriegszeit fertigte Scharoun – der nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden

war – zahlreiche Aquarelle, Bleistift- und Federzeichnungen an (vgl. dazu Threuter). Die Ent-

würfe in Form von „Architekturphantasien“ stellten öffentliche Bauten in den Mittelpunkt.

Es ließen sich zu Hans Scharoun keine Entnazifizierungsakten recherchieren; eine entspre-

chende Anfrage beim zuständigen Landesarchiv Berlin blieb ohne Treffer. Im Fragebogen der

Militärregierung gab er im August 1945 ein jährliches Einkommen von 15-20.000 RM für den

fraglichen Zeitraum (1933-1944) zu Protokoll; er verneinte darin alle Fragen nach Mitglied-

schaften in der NSDAP bzw. in deren Hilfsorganisationen (11.08.1945, Military Government

of Germany, Fragebogen, Landesarchiv Berlin, C Rep. 124-02, 12002). Auch im Personalfra-

gebogen der Stadt Berlin verneinte Scharoun alle Fragen zu Mitgliedschaften in NSDAP und

der Partei nahe stehenden Organisationen, nannte hier als durchschnittliches Jahresein-

kommen 12.000 RM und gab unter „Bemerkungen“ an:

„Entlassung aus dem Angestelltenverhältnis bei der Akademie durch die nationalsozialistische Ver-

waltung wegen meiner künstlerischen und politischen Einstellung“ (25.02.1946, Personalfragebogen,

Magistrat der Stadt Berlin, Landesarchiv Berlin, C Rep. 124-02, 12002).

Scharoun wirkte nach dem Zweiten Weltkrieg als Ordinarius der Fakultät Architektur an der

Technischen Universität Berlin. Im Zuge eines Antrags der Hochschule für Bildende Künste

auf Berufung Scharouns als Leiter einer Meisterklasse 1948/49 ebendort hin hieß es seitens

der dafür Verantwortlichen (Abteilung für Volksbildung), Studenten der TU Berlin würden

Scharouns Vorlesungen und Übungen meiden. Des Weiteren wurde eine Ablehnung des An-

trags politisch begründet:

„Hinzu kommt, dass die Persönlichkeit von Scharoun in politischer Hinsicht – vorsichtig ausgedrückt –

mindestens zu einigen Bedenken Anlass gibt“ (16.02.1949, Abteilung für Volksbildung, gezeichnet Dr.

Kruspi, an Stadtrat May, im Haus, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014, 1818).

Welcher Art die hier erwähnten Bedenken waren, wurde nicht näher erläutert.

Quellen:

Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, 7969 (Film 148) [Personenakte RKK]

Landesarchiv Berlin, B Rep. 014, 1818

Landesarchiv Berlin, C Rep. 124-02, 12002 [Personalakte]

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344

Literatur:

Bürkle, Johann Christoph: Hans Scharoun. Zürich 1993.

Geist, Johann Friedrich/Kürvers, Klaus/Rausch, Dieter: Hans Scharoun. Chronik zu Leben und Werk.

Berlin 1993.

Hoh-Slodczyk, Christine: Scharoun, Bernhard Hans Henry. In: NDB 22 (2005), S. 576-578.

Herbig, Bärbel: Die Darmstädter Meisterbauten. Ein Beitrag zur Architektur der 50er Jahre. Darm-

stadt 2000.

Tönnesmann, Andreas: Im Dritten Reich. In: Hoh-Slodczyk, Christine et al.: Hans Scharoun – Architekt

in Deutschland 1893-1972. München 1992, S. 46-77.

Threuter, Christina: Hans Scharouns Architekturzeichnungen aus der Zeit von 1939 bis 1945. Frank-

furt am Main 1994.

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Robert-Schneider-Straße (H 8), benannt 1947 nach

Robert Schneider (1875-1945)

Darmstädter Mundartdichter

* 6. Dezember 1875 in Darmstadt

1882-1890 Besuch der Volksschule in Darmstadt

Ca. 1890-1893 Ausbildung zum Buch- und Steindrucker

1893-1910 Arbeit als Steindrucker

1900 Heirat mit Elisabethe Hitter (zwei Kinder)

1900 erste Veröffentlichungen von Gedichten in Darmstädter Mundart (in lokaler Presse)

1903 „Heinerblut“ (erster Gedichtband)

1908 „Heinerblut“ (Band 2)

Ab 1909 Beiträge im Darmstädter Tagblatt (Pseudonym: Bienche Bimmbernell)

1910 „Die Wildsau un annern lustige Sache in Hesse-Darmstädter Mundart“ (Humoresken)

1911 Übernahme einer Zigarrenfiliale in Darmstadt

1914-1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg als „Frontkämpfer“, Landsturmbataillon Darmstadt (1915

Kompanie-Feldwebel)

1919-1920 Tätigkeit (Gehilfe) bei der Zentralstelle für Landesstatistik in Hessen

1920-1945 Beschäftigung bei der Hessischen Versicherungsanstalt für gemeindliche Beamte; zu-

nächst aushilfsweise, später als Beamter (Ober-Sekretär)

1922 „Lyrisches und Lustiges“

Seit 1923 (bis zur Auflösung) Mitglied der Darmstädter Freimaurerloge „Johannes der Evangelist zur

Eintracht“ (schließlich „Meister vom Stuhl“)

1925 „Gedichte“

1925 Mitbegründer der „Hessischen Spielgemeinschaft“

1926-1931 Mitglied des Journalisten- und Schriftstellervereins Darmstadt

Ab 1930 „Sonndagsnachmiddags. Betrachdunge in Hesse-Darmstädter Mundart von Bienche Bimm-

bernell“

1933 Lobeshymne auf Hindenburg und Hitler („Bienche Bimmbernell“, Darmstädter Tagblatt)

1933-1935 Mitglied des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller (1935 aufgelöst); Fachgruppenrefe-

rent der Untergruppe „Mundartdichtungen“ in der Fachgruppe „Erzähler“ der Verbandsgruppe

Darmstadt Gau Hessen-Nassau

1933-1941 Mitglied der Reichsschrifttumskammer

1934-1945 Mitglied der NSV [wohl auch des RLB]

1939 „Kraut un Riewe. Gedichte un Geschichte in Hesse-Darmstädter Mundart“

1940 „Därrobst. Gedichtcher un Geschichtcher in Darmstädter Mundart“

† 18. Mai 1945 in Darmstadt (Suizid)

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Ehrungen:

1914/18 Eisernes Kreuz I. Klasse und Hessische Tapferkeitsmedaille

1947 Gedenktafel an Robert Schneiders Geburtshaus in Darmstadt

1975 Robert-Schneider-Denkmal in Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Robert Schneider, Darmstädter Heimat- und Mundartdichter, der vor allem Gedichte und

Humoresken veröffentlichte, war während der NS-Zeit als verbeamteter Ober-Sekretär bei

der Hessischen Versicherungsanstalt für gemeindliche Beamte angestellt.

Als Schriftsteller war Robert Schneider Mitglied der Reichsschrifttumskammer (1933-1941).

Zudem war er Mitglied des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller, bis dieser 1935 aufge-

löst wurde; er agierte als Fachgruppenreferent der Untergruppe „Mundartdichtungen“ in

der Fachgruppe „Erzähler“ der Verbandsgruppe Darmstadt Gau Hessen-Nassau (BArch Ber-

lin, BDC, R 9361-V/10902).

„Problematisch und nicht genau zu klären ist Schneiders Verhältnis zum Nationalsozialismus. Zum

einen beschreibt Robert Stromberger in seinen persönlichen Aufzeichnungen, dass sein Großvater

Robert Schneider im Dritten Reich quasi Schreibverbot gehabt habe. Zum anderen hat Robert

Schneider in einer Ausgabe seines „Bienchen Bimbernell [sic!]“ vom 5. Mai 1933 die nationalsozialis-

tische Herrschaft begrüßt und seine ganze Hoffnung auf Besserung in Hitler und Hindenburg gesetzt.

Dies war jedoch eine einmalige Veröffentlichung. […] Wir können den Sachverhalt leider nicht end-

gültig aufklären, weil wir keine Dokumente besitzen, die eine objektive Beurteilung erlauben“

(31.05.2011, Provisorische Stellungnahme zum Mundartdichter Robert Schneider, an das Kulturamt,

Stadtarchivar Peter Engels, StadtA DA, ST 61).

Wie von Peter Engels korrekt dargestellt, liegen bezüglich Robert Schneiders Einstellung zum

NS-Regime unterschiedliche Einschätzungen vor – die auf unterschiedlich gearteten Quellen

basieren. Die erwähnte vielstrophige Ausgabe des „Bienche Bimmbernell“ endet mit folgen-

der Strophe:

„Hindeburch un Adolf Hitler

Sinnbild deitscher Aanichkeit!

Als des Volkes wahre Mittler

Jetzt un aach for alle Zeit!“

Der Beitrag im Darmstädter Tagblatt vom Mai 1933 (StadtA DA, ST 61) wurde als Beleg dafür

gewertet, dass Robert Schneider dem Nationalsozialismus nahe gestanden habe (Kautz,

S. 58 f., 82 f.). Demgegenüber erinnerte sich Schneiders Enkel, Robert Stromberger, in seinen

Lebenserinnerungen sehr detailliert an einen Besuch des Darmstädter Bürgermeisters [ver-

mutlich OB Otto Wamboldt, HK] im gleichen Jahr. Strombergers Erinnerung nach habe sein

Großvater in dem Gespräch auf seine schriftstellerische Freiheit verwiesen und im Anschluss

sich selbst ein „Schreibverbot“ auferlegt (Stromberger, S. 71 ff.). Nun war Stromberger 1933

drei Jahre alt und – wie er selbst schrieb – bei dem Gespräch nicht direkt zugegen. Tatsäch-

lich wurde Schneiders sehr erfolgreiche Kolumne „Bienche Bimmbernell“ allerdings einge-

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stellt (ob dafür Schneider selbst verantwortlich zeichnete, ließ sich nicht verifizieren); anläss-

lich einer Jubiläumsaugabe 1938 erschien „vum Bienche Bimmbernell“ nochmals der eher

unpolitische Beitrag „Wie de Datterich in de Himmel kumme is“ (DT vom 23.10.1938, 200

Jahre Darmstädter Tagblatt; siehe auch ‚Därrobst [1940]‘, S. 12-20).

Die von Robert Schneider während der NS-Zeit veröffentlichten Mundart-Gedichtbände

„Kraut un Riewe“ (1939) und „Därrobst“ (1940) sind weitgehend frei von NS-Jargon; inhalt-

lich erscheinen die Beiträge in der Regel unpolitisch. Als politisch zu deutendes Gedicht ließe

sich „Deitscher Friehling“ (veröffentlicht 1940 in „Kraut un Riewe“, S. 21 f., Zeit der Verfas-

sung unklar) bezeichnen, dessen dritte Strophe lautete:

„Deutsches Härz, du host erdrage

Viele Johrn der Nod und Schmach, –

Loß die falsche Welt drum sage

Was se immer sage mag.

Guck, en neier Himmel blaue

Will jetzt iwwer’s deitsche Land

Hab drum Hoffnung und Verdraun,

Dann wärd lug un Drug zu Schand.

Hab Gedult, es wärd allmehlich

Heller jetzt uff Schritt un Dritt,

Deitsches Härz, sei deshalb freehlich,

Blieh un sing un frei dich mit!“

Aus dem tradierten Bestand der Reichsschrifttumskammer (hierzu und zum Folgenden BArch

Berlin, BDC, R 9361-V/10902) geht hervor, dass Robert Schneider in den Jahren 1936 und

1937 rund 1.000,- RM aus schriftstellerischer Tätigkeit einnahm; 1940 waren es noch rund

300,- RM. Aufgrund seiner Angaben wurde Schneider 1941 aus der Mitgliedschaft zur Grup-

pe der Schriftsteller entlassen, da er die Vorgaben für „Berufsschriftsteller“ nicht (mehr) er-

füllte (die Entlassung wurde ausdrücklich formal begründet, Mitgliedschaft gelöscht:

11.10.1941). Aus den überlieferten Dokumenten geht weiterhin hervor, dass Schneider seit

1934 Mitglied der NSV war und sich sonst keiner NS-Organisation zurechnete. In einem Fra-

gebogen aus dem Jahr 1938 gab er seine Mitgliedschaft zur Loge „Johannes der Evangelist

zur Eintracht in Darmstadt“ mit dem Zusatz „Meister“ zu Protokoll.

Schneiders Zugehörigkeit zur genannten Loge spielte auch bei seiner Beurteilung durch die

Gestapo Darmstadt eine Rolle: „Gegen Schneider liegt – ausser seiner früheren Zugehörig-

keit zu einer Loge – in politischer Beziehung nichts Nachteiliges vor. Ruf und Leumund sind

gut“, hieß es auf Anfrage der Reichsschrifttumskammer (29.06.1938, Betreff: Obersekretär

Robert Schneider, Gestapo, Staatspolizeistelle Darmstadt). Die zuständige NSDAP-Stelle be-

scheinigte auf die gleiche Anfrage, dass Schneider kein NSDAP-Mitglied war und nur der NSV

sowie dem RLB angehört habe. Schneiders politische Haltung wurde (aus Sicht der NSDAP)

kritisch beurteilt:

„Vor der Machtübernahme stand er den Demokraten nahe. Er war Mitglied der Freimaurerloge ‚Jo-

hannes der Evangelist zur Eintracht‘ in Darmstadt bis zur Auflösung und war zuletzt Meister vom

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Stuhl. Das Verhalten des Schneider läßt noch zu wünschen übrig. Die Volksgemeinschaft lehnt er ab.

Den Deutschen Gruß erwidert er nur ungern. Die politische Zuverlässigkeit kann nicht bejaht wer-

den“ (12.05.1938, NSDAP Gauleitung Hessen-Nassau, an die RSK Berlin-Charlottenburg, Hervorhe-

bung im Original).

Die 1947 erfolgte Umbenennung einer Straße nach Robert Schneider in Darmstadt war be-

reits 1945 vorgeschlagen worden, mit folgender Begründung:

„[…] er war Dichter, Demokrat und Freimaurer und ist – daran kann kein Zweifel bestehen – ein Op-

fer des Krieges geworden“ (09.10.1945, Betreff: Nazismus und Militarismus, an Oberbürgermeister –

Hauptverwaltung, Abt. für Gewerbewesen [unterzeichnet: Rüthlein], StadtA DA, Straßenbenennun-

gen I (bis 1951) [ehemals 62.32.01]).

Es ließen sich zu Robert Schneider, der im Mai 1945 Suizid beging, keine Entnazifizierungsak-

ten recherchieren.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/10902

HStAD, R 4 Nr. 23086

StadtA DA, ST 61 Schneider, Robert

StadtA DA, Straßenbenennungen I (bis 1951) [ehemals 62.32.01]

Literatur:

Esselborn, Karl: Robert Schneider, 1875-1945, Mundartdichter. In: Hessische Lebensläufe. Darmstadt

1979, S. 425-428 [Erstveröffentlichung 1926].

Deppert, Fritz: Schneider, Robert. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 798.

Kautz, Fred: „Weh der Lüge! Sie befreiet nicht“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit im „Stadtlexi-

kon Darmstadt“. Ein deutsches Beispiel. Lich 2008.

Schneider, Robert: Kraut un Riewe. Gedichte un Geschichte in Hesse-Darmstädter Mundart. Darm-

stadt ²1951 [Erstveröffentlichung 1939].

Schneider, Robert: Därrobst. Gedichtcher un Geschichtcher in Darmstädter Mundart. Darmstadt

1940.

Stromberger, Robert: Aus dem Bub werd nix. Lebenserinnerungen. Darmstadt 2010.

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349

Schwippertweg (F 9), benannt 1978 nach

Hans Schwippert (1899-1973)

Architekt

* 25. Juni 1899 in Remscheid

1917 Abitur, Kriegshilfsdienst in der Landwirtschaft

1918 Teilnahme am Ersten Weltkrieg als Soldat

1920-1924 Studium der Architektur an den THs in Hannover, Darmstadt und Stuttgart

1924 Diplomarbeit an der TH Stuttgart bei Paul Schmitthenner; Praktika in Holzwerkstätten und Ar-

chitekturbüros, etwa in Berlin bei Erich Mendelsohn; Möbelentwürfe und Innenraumgestaltung

1927 erstes Wohnhaus (für Eltern in Duisburg)

1927-1934 Lehrtätigkeit an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Aachen

1928 Heirat mit Lies Eisinger (Scheidung 1934)

1928-1934 Mitglied des Werkbunds

1930 Katalog „Neuer Hausrat“

Ca. 1931-1943 Aufträge für den Kunst-Dienst Dresden bzw. Berlin

1932-1939 zwölf Einfamilienhäuser, davon allein acht in Aachen

1934 „Über die Wiedervereinigung der Baukunst mit den freien Künsten“

1934/35 Assistentenstelle für Entwurf- und Zeichenübungen an der TH Aachen

Ca. 1934-1945 Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste

Ca. 1936-1945 Mitglied der Reichsdozentenschaft

1936-1946 Lehrtätigkeit im Bereich Handwerkskunde und Freihandzeichnen an der TH Aachen

1936-1945 Mitglied der NSV

1937 St. Michaels-Altar im Pavillon „Catholique Pontifical“ als Beitrag zur Weltausstellung in Paris

1938 Veröffentlichung „Schwippert Hausrat 1938“

1938-1942 Mitarbeit an „Deutsche Warenkunde“

1938-1943 Entwürfe für Behelfsheime mit Möblierungsvarianten

1940 „Gerät und Volk“ (Vortragsmanuskript)

1942 „Von Wohnzeug und Werkzeug“, „Die Bank“, „Der Stuhl“

1943 Dissertation an der TH Aachen, „Wertware und Werkkunde“

1943/44 Habilitation an der TH Aachen, „Von Werklehre und Werkerziehung“

1944/45 Bürgermeister in Aachen (zivile Übergangsregierung); kommissarischer Leiter des Bauamts

der Stadt Aachen

1946 kommissarische Leitung der Architekturklasse an der Kunstakademie in Düsseldorf

1946-1961/68 Professur für Werklehre und Wohnbau an der TH Aachen (unterschiedliche Angaben)

1948/49 Bau des ersten Deutschen Bundestags in Bonn

1950 Heirat mit Gerdamaria Terno

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1950 Gründungsmitglied des Bundes Deutscher Architekten (BDA)

1950-1963 Nach Wiedergründung des Deutschen Werkbunds dessen erster Vorsitzender

1950/51 Bau des Großkraftwerks „Anna“ in Eschweiler

1951/52 Beteiligt an den Darmstädter Gesprächen „Mensch und Technik“ sowie „Mensch und Raum“

1952 Gründungsmitglied des Rats für Formgebung

1953-1971 verschiedene Kirchbau-Projekte (Wiederaufbau, Ausbau, Neubau), Wohnhäuser und Ver-

waltungsgebäude

1954/55 Wohnhaus für den Generalintendanten Gustav Rudolf Sellner in Darmstadt

1957 Wohnhochhaus im Hansa-Viertel in Berlin (im Zuge der „Interbau“)

1958 Konzeption des deutschen Beitrags „Städtebau und Wohnen“ zur Weltausstellung in Brüssel

1958-1960 Georg-Büchner-Gymnasium in Darmstadt (erster Entwurf bereits 1951)

1959-1966 Direktor der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf

1960-1968 Wohnhochhäuser für Studenten in Aachen

1967-1973 Geschirr- und Besteckentwürfe für die Firma Carl Pott in Solingen

† 18. Oktober 1973 in Düsseldorf

Ehrungen:

1935 Ehrenkreuz für Frontkämpfer (verliehen „Im Namen des Führers und Reichskanzlers […] in Erin-

nerung an den Weltkrieg 1914/18“)

1937 Ehrenurkunde [zweithöchste Auszeichnung nach Grand Prix] anlässlich der Weltausstellung in

Paris für „Deutschen St.-Michael-Altar“ (im Pavillon Catholique Pontifical)

1954 Verdienstkreuz des Deutschen Roten Kreuzes

1957 Großer Staatspreis NRW

1959 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland

Mitglied zahlreicher Akademien und ähnlicher Zusammenschlüsse

Wirken in der NS-Zeit

Hans Schwippert, Architekt und Gestalter, der nach 1945 als Architekt der jungen Bundesre-

publik reüssierte, agierte in der NS-Zeit als Architekt und Hochschullehrer (nicht zu verwech-

seln mit seinem jüngeren Bruder, dem Bildhauer Kurt Schwippert). Als sein bekanntestes

Bauwerk gilt der Deutsche Bundestag in Bonn (1948/49); in Darmstadt war er zu Beginn der

1950er Jahre an den Darmstädter Gesprächen beteiligt und zeichnete unter anderem für den

Bau der Georg-Büchner-Schule verantwortlich (1958-1960). Wenngleich Schwippert weder

Mitglied der NSDAP war noch der NS-Ideologie nahegestanden zu haben schien, standen die

Veröffentlichungsorgane, in denen er publizierte, spätestens ab 1938 nachweislich im Dienst

der NS-Propaganda.

Schwipperts Wirken in der NS-Zeit wurde in der Biografie von Agatha Buslei-Wuppermann

(Dissertation, veröffentlicht 2007) thematisiert und im Beitrag von Christopher Oestereich

(2010 [a]) nochmals ausführlich kritisch diskutiert, wobei hierzu die unten genannten zentra-

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351

len Quellenbestände herangezogen und ausgewertet wurden. Im umfangreichen Katalog zu

Hans Schwippert aus dem Jahr 2010 finden sich zudem wichtige Texte Schwipperts kommen-

tiert abgedruckt (Oestereich 2010 [b]).

Tenor des Forschungsstands zu Schwipperts Wirken in der NS-Zeit ist, dass er weder NSDAP-

Mitglied war noch der NS-Ideologie nahe stand, in seinem Schaffen aber zu weitreichenden

Kompromissen gegenüber dem NS-Regime bereit war. Agatha Buslei-Wuppermann fasste

den von ihr konstatierten „Anpassungswillen“ (S. 94) Schwipperts wie folgt zusammen:

„Als Opportunist wusste er sich der jeweiligen Lage anzupassen, so wie es ihm nützlich erschien.

Auch stilistisch lehnte er sich vorübergehend an den Repräsentationsstil des ‚Dritten Reiches‘ an. Es

gilt als erwiesen, dass sich seine Auftraggeber im Laufe der NS-Zeit in Stellung und Rang steigerten.

Auftraggeber für seine Möbel für Volkswohnungen war kein Geringerer als Heinrich Himmler“ (Bus-

lei-Wuppermann, S. 95).

Schwippert lehrte seit 1927 an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Aachen. Nach

deren Schließung im Frühjahr 1934 begleitete er eine Assistentenstelle für Entwurf- und Zei-

chenübungen an der TH Aachen, wo er ab 1936 einer Lehrtätigkeit im Bereich Handwerks-

kunde und Freihandzeichnen nachging. Erst 1942 – als er eine Professur vertrat – kam der

Anstoß zur Promotion, die er 1943 mit einer Dissertation über „Wertware und Werkkunde“

erfolgreich abschloss. Noch im gleichen Jahr begann er mit der Habilitation, veröffentlicht

1944 unter dem Titel „Von Werklehre und Werkerziehung“. Schwippert war als Lehrender an

der TH Aachen Mitglied der Reichsdozentenschaft und als Architekt Mitglied der Reichs-

kammer der bildenden Künste. Laut eigener Angaben (nach 1945) war er seit 1936 zudem

Mitglied der NSV.

Vor 1933 war Schwippert Mitglied des Werkbunds; er trat parteipolitisch nicht in Erschei-

nung, stand betont konservativ-religiösen Kreisen nahe und arbeitete häufiger in kirchlichem

Auftrag. Auch nach 1933 schien er sich mit politisch relevanten Projekten zunächst nicht zu

beschäftigen. Christopher Oestereich, der besonders intensiv Quellen zu Schwipperts Wirken

in der NS-Zeit analysiert und kontextualisiert hat, kam daher zu dem Schluss:

„[…] Schwippert blieb öffentlich vollkommen apolitisch, eine Nähe zu Idee und Politik der Nationalso-

zialisten ist nirgendwo nachweisbar“ (Oestereich [a], S. 78).

Auffallend erscheint jedoch, dass sich Schwippert – der neben seiner Lehrtätigkeit zwischen

1932 und 1939 ein Dutzend Einfamilienhäuser baute (Werhahn, S. 83, Buslei-Wuppermann,

S. 228 f.) – in den Dienst der NS-Propaganda stellte, als Architekt für die Kriegswirtschaft

tätig war und auch nicht davor zurückschreckte, in NS-Organen zu publizieren, die offen die

rassenideologisch fundamentierte Siedlungspolitik des NS-Regimes propagierten.

Wie einige seiner Kollegen aus dem Werkbund (darunter Otto Bartning und Theodor Heuss)

arbeitete Schwippert von 1931 bis 1943 regelmäßig für den – der Evangelischen Kirche na-

hen – „Kunst-Dienst“ (KD), der 1928 in Dresden gegründet worden war (hierzu und zum Fol-

genden ausführlich und differenziert Dieter Kusske). Der KD wurde 1934 in die Reichskam-

mer der bildenden Künste eingegliedert und diente als ausführendes Organ der Abteilung

„Evangelische Reichsgemeinschaft christlicher Kunst“. Von 1937 an fungierte der KD wieder

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als selbständiger Verein, allerdings wesentlich im Auftrag des Propagandaministeriums. Die

Darstellungen in der Sekundärliteratur hinsichtlich der Rolle des KDs in der NS-Zeit schwan-

ken zwischen „Verdrängung und Viktimisierung“ (Kusske, S. 72-102). Spätestens mit der kriti-

schen Untersuchung von Hans Prolingheuer (2001), der den KD als „mit beachtlichen Geld-

mitteln, mit Macht- und Weisungsbefugnis ausgestattetes evangelisches Kunstorgan des NS-

Staates“ beschrieb (S. 50), ist die lange vorherrschende und teils weiterhin vertretene Deu-

tung des KDs als Ort der inneren Emigration für ehemalige Werkbündler (vgl. Droste „Ver-

schworene Gemeinschaft“, S. 128 f.) kritisch zu hinterfragen sowie die Darstellung der Mit-

glieder des KDs als „Opfer“ des NS-Regimes vergleichbar den Juden weitgehend widerlegt

(Prolingheuer, S. 259). „Mit Gott und Goebbels für ‚christliche Kunst‘!“ – so ließe sich Pro-

lingheuers Einschätzung des KDs in der NS-Zeit zugespitzt und in dessen Worten zusammen-

fassen (S. 11).

Im Auftrag des KDs und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda war

Schwippert für verschiedene Ausstellungen mit verantwortlich. So gestaltete Schwippert den

Entwurf für Kapelle und Altar des deutschen Beitrags zum „Catholique Pontifical“ auf der

Weltausstellung in Paris 1937 (der Vatikan hatte ausgewählten Ländern die Gestaltung von

Altären ermöglicht; an der Ausführung des deutschen Beitrags waren – dem Konzept der

Werkgemeinschaft folgend – weitere Künstler beteiligt, Kusske, S. 266). 1939 war er an der

Ausstellung „Hausrat und Leben“ in Antwerpen beteiligt (Oestereich [a], S. 80). Die Ausstel-

lungsbeteiligungen erfolgten ehrenamtlich (!). Des Weiteren verfasste Schwippert Beiträge

für die vom KD organisierte „Deutsche Warenkunde“, einer Enzyklopädie von qualitativ

hochwertigen deutschen Gebrauchsgütern, in Anlehnung an das vom Werkbund 1915 er-

stellte „Warenbuch“. Seit Ende 1937 war Schwippert Mitarbeiter der „Deutschen Waren-

kunde“; er wirkte 1937-1939 im Auftrag des Propaganda-Ministeriums als Bearbeiter ver-

schiedener Warengruppen.

Schwippert veröffentlichte seit 1934 Beiträge in NS-Publikationsorganen. Sein „Plädoyer für

eine Neuorientierung gestalterischer Arbeit im Sinne einer Integration aller Künste“ (Oeste-

reich [a], S. 80) – eigentlich eine klassische Werkbund-Idee – erschien 1934 unter dem Titel

„Über die Wiedervereinigung der Baukunst mit den freien Künsten“ (Oestereich [b], S. 525-

528) in der Zeitschrift „Volk im Werden“, die sich der Verbreitung originär nationalsozialisti-

schen Gedankenguts verschrieben hatte. Der Beitrag war Teil einer Sonderveröffentlichung

des KDs zum „kommenden Neubau der Nation“, wie es einleitend hieß, und nimmt im Ge-

samtwerk eine Ausnahmestellung ein, da er auf den politischen Kontext dezidiert Bezug

nahm:

„Dies ist die Hoffnung einer neuen Zeit, daß sie solche Haltung wahrmache. Wie mag sich das braune

SA.-Gewand vor imitierten Seidentapeten und zwischen Plüschmöbeln und neben jenen ungeheuerli-

chen Sammlungen von Kitsch, früheren Reiseandenken oder heutigem angeblichem Kunstgewerbe

ausmachen? Man sollte nicht einige Stunden marschieren und Kameradschaft üben, um wie nach

einem anstrengenden Ausfluge in ein ganz anderes Land, nachher wieder in falsche Ansprüche und in

den aufgelegten Schwindel vollgestopfter und angeblich gemütlicher Häuser und Wohnungen zum

Ausruhen zurückzukehren“ (zitiert nach Abdruck, Oestereich [b], S. 527).

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Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bewegten sich Schwipperts Veröffentlichungen

hauptsächlich um das Thema „Gesamtkunstwerk Bau“ und erschienen auch in Zeitschriften,

die im Laufe der NS-Zeit verboten wurden (etwa in „Kunst und Nation“). Während des Zwei-

ten Weltkriegs veröffentlichte er nur mehr in Publikationsorganen, die zu der Zeit als Sprach-

rohre der nationalsozialistischen Ideologie dienten, etwa in der Zeitschrift „Neues Bauern-

tum“ („fachwissenschaftliche Zeitschrift für das ländliche Siedlungswesen“) bzw. in deren

Beilage „Der Landbaumeister“, wobei der Veröffentlichungskontext sich nur bedingt in der

inhaltlichen Ausrichtung der Texte widerspiegelte:

„Schwipperts Publikationstätigkeit in den Kriegsjahren beschränkt sich vollkommen auf Schriften, die

im Auftrag oder im Dienst der nationalsozialistischen Rasse- und Vernichtungspolitik erscheinen.

Seine Schriften selbst weisen demgegenüber keine auch noch so kleine Andeutung auf, ihr Autor

hätte sich der nationalsozialistischen Ideologie angenähert. Weder im Duktus noch im Inhalt weicht

er von seinen früheren Positionen ab“ (Oestereich [b], S. 523).

In der Beilage „Der Landbaumeister“ erschien 1942 eine Reihe mit Aufsätzen von Schwippert

unter dem Titel „Wohnzeug und Werkzeug“, gedacht als „Aufbau einer bäuerlichen Geräte-

kunde“, darunter die Beiträge „Bank“ und „Stuhl“ (hierzu und zum Folgenden Oestereich [b],

S. 534-538; Varianten der genannten Beiträge nahm Schwippert in seine Habilitation auf). Im

folgenden Jahr erschienen unter seinem Namen zwei Mappenwerke mit Konstruktionszeich-

nungen zu einfachen Möbeln (zur „Herstellung von Primitivmöbeln und Notgeräten der S ied-

lerselbsthilfe“): „Ländliche Möbel in einfacher Herstellung“ sowie „Behelfsmöbel in

Selbstherstellung“ – beide herausgegeben vom „Reichskommissar für die Festigung deut-

schen Volkstums“, Heinrich Himmler. Einer der Chefplaner der NS-Siedlungspolitik war SS-

Oberführer Prof. Konrad Meyer-Hetling, seines Zeichens Herausgeber der Zeitschrift „Neues

Bauerntum“. Christopher Oestereich hob diesen Kontext in seiner Beurteilung von Schwip-

perts Wirken in der NS-Zeit hervor (nach dem Verweis auf weitere ehemalige Mitglieder des

Werkbunds in Diensten des NS-Regimes, hinsichtlich der Siedlungspolitik vor allem bezogen

auf die Kriegszeit):

„Die nationalsozialistische Siedlungspolitik ist ebenso wenig unpolitisch wie Industriebau oder Wie-

deraufbau; ihr Charakter ist jedoch vielmehr verbrecherisch per se. Ihre Voraussetzungen – Vertrei-

bung und Mord – gehören ebenso zu der deutschen Politik im Krieg wie sie eine Funktion im gesam-

ten großen Plan des Völkermordens besitzt. Dies ist der Hintergrund, vor dem Schwippert im Auftrag

der SS Möbelentwürfe für den Bedarf ländlicher Siedler veröffentlicht“ (Oestereich [b], S. 523 f.).

Der Beginn des Kriegs 1939 beeinträchtigte Schwipperts berufliche Tätigkeit erheblich. Seine

Lehrtätigkeit wurde stark eingeschränkt; private Bauaufträge, die er wie erwähnt bis 1939

ausführte, stellten keine Einnahmequelle mehr dar. „Von Herbst 1939 bis zum Frühjahr 1940

war Hans Schwippert neben seiner Arbeit an der TH vor allem mit Auslandspropaganda be-

schäftigt“, resümierte Oestereich ([a], S. 82; auch zum Folgenden). Als Referent und Berater

war er für das „Deutsche Frauenwerk“ und für das BDM-Werk „Glanz und Schönheit“ tätig.

Im Mai 1940 bot er sich dem Luftwaffenführungsstab in Berlin an („Wehrbetreuung“ bei der

Truppe). Schwippert war aber auch weiter als Architekt tätig: Er plante um 1943/44 Notun-

terkünfte für die Montanblock-Baustab GmbH der „Reichswerke Hermann Göring“ und 1944

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für die Rüstungsindustrie. Im Frühjahr 1944 wurde Schwippert mit der Bauleitung im Zuge

der Verlegung der Veltrup-Werke von Aachen und Werl in Tunnel nahe der belgischen Gren-

ze betraut (Bauvorhaben „Steinershall Dompfaff 209“); das Unternehmen Veltrup spielte

eine zentrale Rolle bei Entwicklung und Produktion von Jagdflugzeugen. Der Einsatz Dutzen-

der sogenannter „Ostarbeiter“ lag laut einer Notiz von Schwippert vom Juli 1944 nicht in

seiner Verantwortung; durchgeführt wurde die Maßnahme von der OT-Einsatzgruppe Ruhr.

Schwippert nutzte seine unterschiedlichen Betätigungsfelder, um nicht in den Kriegsdienst

als Soldat eingezogen zu werden. Anfangs schützte ihn sein Einsatz als Frontkämpfer im Ers-

ten Weltkrieg, für den er 1935 noch ausgezeichnet worden war (Buslei-Wuppermann, S. 26).

Ab 1940 ließ er sich vom KD und von der „Deutschen Warenkunde“ in mehreren Schreiben

bestätigen, dass er als Mitarbeiter unabkömmlich sei (Breuer, S. 243, Werhahn, S. 320; vgl.

zu Schreiben seitens der TH Aachen Buslei-Wuppermann, S. 26). In einem im Universitätsar-

chiv der RWTH Aachen tradierten Schreiben aus dem Jahr 1943 hieß es:

„[…] laut vorliegender Belege ist Dipl.-Ing. Schwippert durch den Reichskommissar für die Festigung

des Deutschen Volkstums und durch den Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei mit Sonder-

aufgaben betraut“ (05.05.1943, Schreiben der TH Aachen an das Wehrdienstkommando Aachen,

zitiert nach Buslei-Wuppermann, S. 95).

Schwippert wurde demnach – wenn er in Aachen weilte – zum Werkluftschutzdienst der

Hochschule herangezogen; der Einberufung zur „Heimatflak“, die Ende April 1943 vorlag,

konnte er aufgrund des Schreibens hingegen entgehen. Nach dem Ende der NS-Herrschaft

im Raum Aachen war er von November 1944 bis März 1945 Bürgermeister und bekleidete

das Amt des kommissarischen Leiters des Bauamts der Stadt Aachen. Er wurde ins Oberprä-

sidium berufen und übernahm bis November 1946 die Abteilung Bauwesen, aus der das

Wiederaufbauministerium des Landes NRW hervorgehen sollte (Buslei-Wuppermann, S. 27).

Im Juni 1946 zog er nach Düsseldorf, behielt aber eine kleine Wohnung in Aachen, wo er

bereits im April 1946 zum Ordentlichen Professor an der RWTH ernannt worden war.

Schwipperts nach außen vertretene Selbstwahrnehmung seiner Rolle in der NS-Zeit deutete

sich in einem Vortrag an, den er 1964 anlässlich einer Ausstellungseröffnung hielt:

„Ich gedenke der Zeit, da ein verschworener Trupp, im Kunstdienst Berlin getarnt, gemeinsam die

1000 Jahre durchschritt“ (zitiert nach Oestereich [a], S. 78).

Zu Lebzeiten Schwipperts fand keine kritische Aufarbeitung der Rolle des KDs in der NS-Zeit

statt. Schwippert selbst äußerte sich öffentlich nicht zu seiner persönlichen Verstrickung mit

dem NS-Regime in der oben genannten Form (zu Äußerungen, in denen sich Schwippert als

Vorsitzender des wieder gegründeten Werkbunds für die Übernahme kollektiver Verantwor-

tung allgemein einsetzte, vgl. Oestereich [a], S. 84). Christopher Oestereich beschrieb das

„System der informell verschworenen Mitläufer“, das nahezu die gesamte technische Elite

der Architekten umfasste, um mit Blick auf Schwippert zu folgendem Schluss zu gelangen:

„Hans Schwippert zeigte ebenfalls das typische Verhaltensmuster des oberflächlich unbelas-

teten, doch durchaus nicht gänzlich unbeteiligten vormaligen NS-Volksgenossen. Er bekann-

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te sich nie zu seinen Tätigkeiten für die SS oder für die Rüstungsproduktion. Seine Publikati-

onen waren nicht zu leugnen; die Organe, in denen sie erschienen waren, jedoch mit Beiläu-

figkeit zu verschleiern“ (Oestereich [a], S. 84).

Auf Anfrage ließen sich im LAV NRW keine Entnazifizierungsakten recherchieren; im unten

genannten Bestand fanden sich aber Unterlagen zu seinem Entnazifizierungsverfahren. Er

gab in seinem Meldebogen zu Protokoll, „in künstlerischer Tätigkeit beschränkt gewesen zu

sein“ (zitiert nach Buslei-Wuppermann, S. 28); für seine politische Integrität konnte er mit

Mies van der Rohe (Chicago) und August Hoff (Köln) glaubwürdige Zeugen benennen.

Quellen:

Deutsches Kunstarchiv Nürnberg (im Germanischen Nationalmuseum), Nachlass Hans Schwippert

[Bestand noch unverzeichnet]

LAV NRW R, NW 355 Nr. 275 [alte Signatur: Hauptstaatsarchiv NRW Düsseldorf, NW 355 Nr. 275]

UA RWTH Aachen, PA 5748

Literatur:

Breuer, Gerda/Mingels, Pia/Oestereich, Christopher (Hrsg.): Hans Schwippert 1899-1973. Moderation

des Wiederaufbaus. Berlin 2010.

Buslei-Wuppermann, Agatha: Hans Schwippert 1899-1973. Von der Werkkunst zum Design. München

2007 [Dissertation].

Droste, Magdalena: Der Kunst Dienst. Kunsthandwerk und Design zwischen Kirche und NS-Staat. In:

Die nützliche Moderne. Graphik & Produkt-Design in Deutschland 1935-1955. Münster 2000, S. 116-

130.

Kusske, Dieter: Zwischen Kunst, Kult und Kollaboration. Der deutsche kirchennahe „Kunst-Dienst“

1928 bis 1945 im Kontext. Bremen 2013.

Oestereich, Christopher [a]: „Die 1000 Jahre durchstehen“? Hans Schwippert im Dritten Reich. In:

Breuer, Gerda (Hrsg.): Hans Schwippert 1899-1973. Moderation des Wiederaufbaus. Berlin 2010,

S. 76-86.

Oestereich, Christopher [b]: Schriften und Äußerungen 1928-1973. Eine Anthologie. In: Breuer, Gerda

(Hrsg.): Hans Schwippert 1899-1973. Moderation des Wiederaufbaus. Berlin 2010, S. 480-679.

Prolingheuer, Hans: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz. Köln 2001.

Werhahn, Charlotte M. E.: Hans Schwippert (1899-1973). Architekt, Pädagoge und Vertreter der

Werkbundidee in der Zeit des deutschen Wiederaufbaus . München 1987 [Dissertation].

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Elisabeth-Selbert-Straße (G 9), benannt 1989 nach

Elisabeth Selbert (1896-1986)

Politikerin und Juristin

* 22. September 1896 in Kassel (geb. Rhode)

1903-1907 Besuch der Volksschule

1907-1912 Besuch der Amalienschule (Mädchen-Mittelschule)

1912-1913 Besuch der Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins Kassel

1913-1914 Auslandskorrespondentin einer Kasseler Import- und Exportfirma

1916-1921 Postbeamtenanwärterin bzw. Postbeamtin im Telegraphendienst der Reichspost

1918 Eintritt in die SPD

1918-1933 Mitglied des Bezirksvorstands der SPD in Kassel

1919-1925 Mitglied des Gemeindeparlaments in ihrem Wohnort Niederzwehren bei Kassel

1919 Beginn des Engagements für politische Bildung von Frauen und für Gleichberechtigung (Vorträ-

ge, Veröffentlichungen)

1920 Heirat mit Adam Selbert (zwei Kinder)

1920 aktive Teilnahme an der Reichsfrauenkonferenz in Kassel (als Delegierte der SPD)

1924 Delegierte der SPD-Frauenkonferenz in Berlin

1925 (externes) Abitur an der Kasseler Luisenschule

1926-1929 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten in Marburg (als ein-

zige Frau) und in Göttingen (als eine von fünf Frauen)

1930 Promotion in Göttingen, „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“

1933 Reichstags-Kandidatur für hessische SPD auf Landesliste

1933 Erwirken der Freilassung ihres Mannes aus dem KZ Breitenau

1934 Zweites Staatsexamen in Berlin; gegen NS-Widerstand Zulassung zur Anwaltschaft

1934 Übernahme der Kanzlei zweier jüdischer Rechtsanwälte in Kassel; bis 1945 für den Unterhalt

der Familie maßgeblich verantwortlich

1934[36]-1945 Mitglied des NSRB

1938-1945 Mitglied der NSV

1938-1945 Mitglied des RLB

1943 Zerstörung der Kanzlei bei Bombenangriff auf Kassel

1944 Umzug in ein Hotel nach Melsungen

1945 Wiederöffnung der Kanzlei (nun auch Zulassung als Notarin); politisch zunächst im „Überpartei-

lichen Ausschuß“ der Stadt Kassel aktiv

1945-1953 Mitglied im Bezirks- und Parteivorstand der SPD Hessen-Nord

1946-1952 Stadtverordnete in Kassel

1946-1958 Mitglied des Hessischen Landtags

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357

1948/49 Mitglied im Parlamentarischen Rat (Ausarbeitung des Grundgesetzes der künftigen BRD)

1949 Kandidatur für Sitz im ersten Deutschen Bundestag (scheiterte knapp)

1958-1981 Tätigkeiten als Rechtsanwältin

† 9. Juni 1986 in Kassel

Ehrungen:

1956 Großes Bundesverdienstkreuz

1969 Wappenring der Stadt Kassel

1978 Wilhelm-Leuschner-Medaille

seit 1983 Elisabeth-Selbert-Preis der hessischen Landesregierung für wissenschaftliche und journalis-

tische Arbeit im Geiste der Gleichstellung von Mann und Frau

1984 Ehrenbürgerin der Stadt Kassel

Zahlreiche Straßen und Schulen in Deutschland tragen ihren Namen

Wirken in der NS-Zeit

Elisabeth Selbert, Juristin und Politikerin, bekannt als eine der vier „Mütter des Grundgeset-

zes“ und als „Anwältin der Gleichberechtigung“, war während der NS-Zeit als Rechtsanwältin

in Kassel tätig.

Das Wirken von Elisabeth Selbert in der NS-Zeit wurde in der unten stehenden Literatur be-

reits eingehend thematisiert, zentrale Quellenbestände – wie etwa Selberts Nachlass im Ar-

chiv der deutschen Frauenbewegung sowie Interviews nach 1945 – wurden von den Auto-

rinnen ausgewertet.

Selberts eigenen Angaben im Meldebogen des Entnazifizierungsverfahrens folgend

(HHStAW; Angaben decken sich weitgehend mit jenen aus anderen Quellen, auf die bereits

in der Literatur Bezug genommen wurde) war Selbert als Rechtsanwältin ungefähr seit 1934

Mitglied des NSRB [wobei der NS Rechtswahrerbund erst 1936 aus dem „Bund Nationalso-

zialistischer Deutscher Juristen“ hervorging]. Selbert war demnach seit 1938 Mitglied der

NSV und des RLB sowie seit 1940 Mitglied des Deutschen Frauenwerks.

Selberts Mann, Adam Selbert, wurde 1933 als stellvertretender Bürgermeister von Nieder-

zwehren bei Kassel (dem Wohnort der Familie Selbert) entlassen und im Sommer des glei-

chen Jahres als „Staatsfeind“ (er galt als „Roter“) einen Monat im KZ Breitenau in „Schutz-

haft“ festgehalten (Drummer/Zwilling 1999, S. 48; Notz verortete ihn fälschlicherweise „eini-

ge Monate im KZ in Weidenau“). Elisabeth Selbert erwirkte mit „juristischen Argumenten“

(Drummer/Zwilling 2010) seine Freilassung; Adam Selbert stand während der NS-Zeit unter

Aufsicht der Gestapo.

1934 legte Elisabeth Selbert in Berlin das zweite juristische Staatsexamen ab (laut Drum-

mer/Zwilling im Oktober, laut Notz im Frühjahr) und beantragte nach bestandener Prüfung

ihre Zulassung als Rechtsanwältin. Zu der Zeit war bereits abzusehen, dass Frauen generell

von Berufen in der Justiz ausgeschlossen werden sollten. Im Juli 1934 trat eine neue Justiz-

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358

ausbildungsverordnung in Kraft, im Dezember 1934 das Gesetz zur Änderung der Rechtsan-

waltsordnung, woraufhin Frauen als Anwälte nicht mehr zugelassen wurden (1935 wurden

nur mehr Anträge männlicher Bewerber positiv beschieden). Dennoch erhielt Selbert am

15.12.1934 die Zulassung zur Anwaltschaft – gegen den Willen des Präsidenten des Reichs-

justizprüfungsamts, der Rechtsanwaltskammer sowie des Gauleiters (hierzu und zum Fol-

gende Drummer/Zwilling 1999, S. 51, Notz, S. 84 f.). Der Präsident des Oberlandesgerichts

befand sich auf Dienstreise; zwei ältere Richter des Kasseler Oberlandesgerichts, die Selberts

Vater als Justizbeamten und wohl auch sie selbst gut kannten, händigten ihr in Vertretung

ihre Zulassung aus. Da Adam Selbert während der NS-Zeit ohne großen Verdienst blieb (er

war 1933/34 in den Ruhestand versetzt worden, erhielt nur eine kleine Rente und arbeitete

zeitweise in der Kanzlei seiner Frau), zeichnete Elisabeth Selbert bis 1945 maßgeblich für das

Familieneinkommen verantwortlich.

Im Dezember 1934 bezog Selbert eine Kanzlei in guter Lage. Die Sozietät hatte zuvor zwei

jüdischen Rechtsanwälten gehört, die sich zur Emigration gezwungen sahen. Laut Gisela

Notz, die sich auf Aussagen Selberts stützte, hatte Selbert den Voreigentümern die Einrich-

tungsgegenstände ordnungsgemäß bezahlt, „[d]ie Praxisübernahme hat sie korrekt abgewi-

ckelt und sich auch nicht finanziell bereichert“ (Notz, S. 86). Allerdings profitierte Selbert von

der Emigration der jüdischen Kollegen, worauf Heike Drummer und Jutta Zwilling in ihrer

Einschätzung verwiesen:

„Elisabeth Selbert vereinfacht im Rückblick ihre Darstellung, indem sie lediglich die für Geld erwor-

benen Einrichtungsgüter und Bücher aus jüdischem Besitz erwähnt. Denn realiter übernimmt sie

1934 die komplette Sozietät von Karl Elias und Leon Roßmann am Königsplatz 42. […] Trotz ihrer gro-

ßen Abscheu gegen Ausgrenzung und Antisemitismus profitiert Elisabeth Selbert von der Verjagung

ihrer Kollegen und hat als berufsunerfahrene Anwältin einen ausnehmend günstigen Karrierestart“

(Drummer/Zwilling 1999, S. 52 f.).

In der Zeit nach 1945 setzte sich Selbert in der Debatte um das „Treuhändergesetz“ im Hes-

sischen Landtag für diejenigen ein, die „jüdisches Vermögen gutgläubig und loyal erworben“

hatten. Andererseits verwies sie wiederholt auf die unrühmliche Rolle der Justiz im „Dritten

Reich“ und setzte sich dafür ein, dass die (wenigen) zurückgekehrten Juden rasch und unbü-

rokratisch staatliche Hilfen erhielten (Drummer/Zwilling, S. 53 f., Zitat S. 53).

In der Folge florierte die Kanzlei. In Interviews nach 1945 erinnerte sich Elisabeth Selbert

vornehmlich an Wirtschaftsstraf- und Familienrechtssachen (vgl. Böttger, S. 142 f.). Von ge-

nuin politischen Verfahren (wie Hochverratsprozessen) blieb sie ob ihrer politischen Vorge-

schichte ausgeschlossen. Drummer/Zwilling beschrieben Selberts Wirken als Anwältin in der

NS-Zeit dennoch treffend als „Gratwanderung“: Auch familienrechtliche Themen mussten

unter den Vorgaben des NS-Regimes verhandelt werden; der ideologische Einfluss machte

selbst vor dem Ehe- und Scheidungsrecht nicht halt – auch wenn Selbert in der Rückschau

die Auffassung vertrat, dass Hitler bis 1938 „die Justiz noch nicht erobert“ gehabt habe (Zitat

Selbert nach Dertinger, S. 18). Ihren eigenen Aussagen folgend versuchte Selbert gemeinsam

mit einigen Kollegen Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten, insofern das möglich war.

So erreichten sie etwa geringe Strafen, wo Freisprüche möglich erschienen wären – um Ge-

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359

nossen durch Gefängnisstrafen vor dem befürchteten Zugriff der Gestapo zu bewahren (In-

terview Selbert, siehe Böttger, S. 142).

Eine ähnliche „Gratwanderung“ erforderte ihre Anwaltstätigkeit in jüdischen Angelegenhei-

ten (Beurkundungen, Kaufverträge etc.), die sie ihrer Erinnerung folgend emotional stark

belasteten. Unfreiwillig wurde Selbert zur „Mitseherin, Mithörerin und Mitwisserin des ver-

brecherischen Handelns während der NS-Zeit“ (Drummer/Zwilling, S. 56). In der Rückschau

verwies Selbert wiederholt darauf, dass sie für die Versorgung ihrer Familie verantwortlich

war und sich entsprechend zu Vorsicht gezwungen sah:

„Aber ich musste natürlich eine gewisse Vorsicht walten lassen, weil ich der Ernährer der Familie war

und keinesfalls die Existenz aufs Spiel setzen konnte. Aber ich habe keinerlei Kotau gemacht, ich bin

gelegentlich auch wegen des Hitlergrußes, den ich ablehnte, vor den Präsidenten zitiert worden“

(Interview Selbert, siehe Böttger, S. 142).

1938 trat Selbert (wohl auf Anraten von Freunden) der NSV bei, um nicht weiter aufzufallen.

Zwischen Juli 1940 und Oktober 1943 vertrat sie als Anwältin mehrere Kasseler Kollegen (da-

runter auch Georg August Zinn), die in den Kriegsdienst eingezogen worden waren. Ein zu-

sätzliches Einkommen resultierend aus der zusätzlichen Arbeit ließ sich nicht ermitteln. Für

das Jahr 1943 nannte sie rund 13.000 RM als Jahreseinkommen (HHStAW). Beim verheeren-

den Bombenangriff auf Kassel im Oktober 1943 wurde ihre Kanzlei vollkommen zerstört.

Selbert arbeitete fortan viel in ihrer Wohnung; die (Arbeits-)Situation war offensichtlich

zeitweise chaotisch. Als sich die Lage 1944 gefühlt weiter verschlechterte, entschloss sich

das Ehepaar Selbert (beide Söhne waren an der Front) vorübergehend im nahe gelegenen

Melsungen, im Hotel „Lindenlust“, Unterschlupf zu finden. In Melsungen erlebte Elisabeth

Selbert dann auch das Kriegsende.

In der Nachkriegszeit arbeitete Selbert als Juristin und Politikerin. Sie war an der Neugrün-

dung der SPD in Kassel führend beteiligt, übernahm politische Verantwortung in der Stadt-

und Landespolitik und ist heute bekannt als eine der „Mütter des Grundgesetzes“, wobei sie

sich vor allem erfolgreich für die Aufnahme der Gleichberechtigung in die Verfassung ein-

setzte.

Im Zuge ihres Entnazifizierungsverfahrens 1946 wurde Elisabeth Selbert als „NB“ [Nicht be-

troffen] eingestuft, was ihrer Selbsteinschätzung entsprach (HHStAW).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Stadt, NB S II, Nr. 700 (nur Meldebogen)

Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, Bestand NLP11-ES [nicht eingesehen]

Literatur:

Böttger, Barbara: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen

um Art. 3 II Grundgesetz. Münster 1990.

Dertinger, Antje [Bevollmächtigte der Hessischen Landesregierung für Frauenangelegenheiten]: Eli-

sabeth Selbert. Eine Kurzbiographie. Wiesbaden 1986.

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360

Drummer, Heike/Zwilling, Jutta (1999): Elisabeth Selbert. Eine Biographie. In: Hessische Landesregie-

rung (Hrsg.): „Ein Glücksfall für die Demokratie“. Elisabeth Selbert (1896-1986). Die große Anwältin

der Gleichberechtigung. Frankfurt am Main 1999, S. 9-160.

Drummer, Heike/Zwilling, Jutta (2010): Selbert, geborene Rhode, Martha Elisabeth. In: NDB 24

(2010), S. 210 f.

Hessische Landesregierung (Hrsg.): „Ein Glücksfall für die Demokratie“. Elisabeth Selbert (1896-1986).

Die große Anwältin der Gleichberechtigung. Frankfurt am Main 1999.

Notz, Gisela: Dr. Elisabeth Selbert. In: Dies.: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Par-

lamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 bis 1957. Bonn 2003, S. 80-110.

Selbert, Elisabeth: Rede zur Gleichstellung von Mann und Frau (1949). In: Rathgeb, Eberhard: Die

engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945-2005. München 2005, S. 57-61.

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361

Henriette-Sennhenn-Straße (D 7), benannt 2002 nach

Henriette Sennhenn (1919-1996)

Ärztin

* 25. März 1919 in Grevenbroich

1927-1938 wohnhaft in Gürzenich-Düren

1933-1938 Mitglied des BDM (Nr. 1468293, JM-Führerin)

1938 Abitur am Gymnasium in Düren

1938 knapp halbjähriger Dienst beim RAD

1938-1943 Studium der Medizin an der Universität Köln (wohnhaft in Gürzenich und Köln)

1941-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 8310819)

1943 Promotion in Medizin an der Universität Köln, „Zur Spaltung von Peptiden durch menschliche

Serumenzyme“

1943 Übersiedelung als Hilfskassenärztin nach Darmstadt-Arheilgen, wo sie bis zu ihrem Tod lebte

1943-1949 zunächst Assistentin, dann Teilhaberin in der Praxis von Dr. Emil Voltz in Darmstadt-

Arheilgen

Nach 1949 eigene Praxis in Darmstadt-Arheilgen als Allgemeinmedizinerin

1989 Mitgründerin und Vorstand (bis zu ihrem Tod) des Vereins „Sag ja zum Kind e. V.“ in Darmstadt

† 27. Dezember 1996 in Darmstadt

Ehrungen:

1981 Bundesverdienstkreuz am Bande

Wirken in der NS-Zeit

Henriette Sennhenn, die 1943 als junge Hilfsärztin nach Darmstadt-Arheilgen kam, dort über

Jahrzehnte als Allgemeinmedizinerin praktizierte und unter anderem beim DRK-Blutspende-

dienst aktiv war, stammte ursprünglich aus dem Rheinland, wo sie die NS-Zeit als Schülerin

und Studentin erlebte. Seit 1941 war sie Mitglied der NSDAP.

„Die Ärztin, die auf Grund ihres Geburtsjahrganges 1919 zu den Jugendlichen zählt, wurde im Jahre

1943 als Hilfskassenärztin in Darmstadt-Arheilgen dienstverpflichtet und wie alle im Krieg notdienst-

verpflichteten Ärzte nach einer Anordnung der Regierung des damaligen Landes Hessen am

30.9.1945 entpflichtet. Sie ist bis 30.9.1946 als Assistentin dem Dr. med. Voltz in Arheilgen zugeteilt,

und muß ab 1.10.1946 ihre ärztliche Ausbildung vervollständigen. Für eine eigene Arztstelle kommt

sie, da in Hessen nicht beheimatet, sondern in die britische Besatzungszone gehörend, vorerst nicht

in Betracht. Vor 1943 war sie in ihrer Heimat Düren/Rheinland, sodaß über ihre politische Tätigkeit

vor 1943 bei uns nichts bekannt ist. Auch aus der Zeit ab 1943 sind keine Unterlagen über eine akti-

vistische Betätigung im Sinne der NSDAP bei mir bekannt“ (26.09.1946, Vorsitzender der Ärzteschaft

für den Regierungsbezirk Darmstadt, Dr. [Richard] Hammer [!]).

Bis 1938 besuchte Henriette Sennhenn das Gymnasium in Düren, das sie mit dem Abitur

abschloss. Zum Studium zog es sie an die Universität Köln; sie blieb aber zunächst in ihrem

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362

Wohnort Gürzenich (heute Stadtteil von Düren, rund 35 Kilometer östlich von Aachen) ge-

meldet. In Köln studierte sie zehn Semester Medizin (Physikum 1940, UA Köln) und beendete

ihr Studium 1943 mit einer Dissertation „Zur Spaltung von Peptiden durch menschliche Se-

rumenzyme“ (veröffentlicht in: Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 109

[1943], S. 742-749).

Sennhenn war Mitglied des BDM (Nr. 1468293); laut Eintrag auf ihrer Matrikelkarteikarte

seit 01.11.1933 (UA Köln), laut eigener Angaben im Zuge ihres Entnazifizierungsverfahrens

war sie im „Jungmädelbund“ 1934-1938 als „JM-Führerin“ (HHStAW). Anfang 1941 beantrag-

te Sennhenn eine Mitgliedschaft in der NSDAP, seit 01.04.1941 wurde sie als Mitglied der

NSDAP-Ortsgruppe Birgel (einer Nachbargemeinde von ihrem Wohnort Gürzenich) geführt

(Mitglieds-Nr. 8310819, BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliedskartei).

Nach ihrer Promotion 1943 gelangte Sennhenn, wie oben in der angefragten Stellungnahme

von Richard Hammer zu lesen, als notdienstverpflichtete Hilfskassenärztin nach Darmstadt-

Arheilgen, wo sie – zunächst als Assistentin, später als Teilhaberin – in der Praxis von Emil

Voltz arbeitete, die sie nach dessen Tod 1949 übernahm (StadtA DA, ST 61, Voltz, Emil). Ihr

Jahresverdienst 1943-1945 betrug 3.900 RM (HHStAW). Ab November 1944 war auch ihre

Mutter Amalie in Darmstadt-Arheilgen gemeldet (unter anderer Adresse, laut Meldeangaben

verwitwet, HStAD, H 3 Nr. 44192).

Im Zuge ihres Entnazifizierungsverfahrens stufte sich Henriette Sennhenn selbst zunächst als

„Mitläuferin“ ein, mit folgender Begründung: „Zwang zur Mitgliedschaft durch Schule und

später Universität“ (20.04.1946, Meldebogen, HHStAW). Im August berief sie sich – schließ-

lich erfolgreich – auf das in der Presse angekündigte „Amnestie-Gesetz für die Jugend“

(Schreiben vom 10.08.1946): Am 21.10.1946 wurde ihr Verfahren mit Verweis auf die „Am-

nestie-Verordnung für Jugendliche vom 19.9.1946“ eingestellt (Stichtag für das Gesetz war

der 01.01.1919). Im Vordruck der Spruchkammer Darmstadt war zu lesen: „Die Beweisauf-

nahme hat wesentlich Nachteiliges für die Gesamthaltung der Betroffenen nicht ergeben.“

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliedskartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 510366

HStAD, H 3 Nr. 44192

StadtA DA, ST 61 Sennhenn, Dr. Henriette

StadtA DA, ST 61, Voltz, Emil

UA Köln, Bestand Zugang 489/8 [Matrikelkartei II 1935-1945]

Literatur:

---

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363

Georg-Spengler-Straße (E 8), benannt 1953 nach

Georg Spengler (1884-1940)

Darmstädter SPD-Politiker

* 16. April 1886 in Arheilgen

1920-1933 Vorsitzender der SPD-Arheilgen

1922 Tod seines Vaters Philipp Spengler (Gründungsmitglied der SPD-Arheilgen)

1922-1933 Beigeordneter der Gemeinde (Darmstadt-)Arheilgen

1923 einer der 28 Verhafteten aus Arheilgen im Zuge der „Rheinischen Republik“ war „Reichsbahn-

bediensteter Georg Spengler, Vorsitzender der SPD und der SPD-Gemeinderatsfraktion“

1930 Wiederwahl zum Beigeordneten in Arheilgen (Gegenkandidat: Kommunist)

1932 Aufruf zur Gründung der „Eisernen Front“ Arheilgen

1933 Entlassung als Beigeordneter durch NSDAP-Ortsgruppenleiter; Niederlegen des Mandats als

Gemeinderatsmitglied

† 5. Mai 1940 in Darmstadt-Arheilgen

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Georg Spengler, Schlosser und Lokalpolitiker für die SPD in Arheilgen, sah sich im Mai 1933

zur Aufgabe seiner politischen Aktivität gezwungen.

Über Georg Spenglers Wirken in der NS-Zeit ließen sich nur wenige Informationen ermitteln.

Als zentrale Literatur erwies sich die Jubiläumsschrift „1878-1978. 100 Jahre Sozialdemokra-

tie in Arheilgen“ von Georg Mampel aus dem Jahr 1986, in der sich Spenglers politisches

Wirken dokumentiert findet – und daher nur wenig Biografisches für die Zeit nach 1933.

Bis 1933 war Spengler in führender Funktion für die SPD in der Lokalpolitik tätig, seit 1922

als Beigeordneter in Arheilgen. In einem Rundschreiben Anfang 1932 hatte er seine Reichs-

bannerkammeraden zur Gründung der Eisernen Front in Arheilgen aufgerufen („Wir müssen

der Stoßtrupp in der [Eisernen] Front sein!“, 10.01.1932, siehe Mampel, S. 186 f.). Im April

1933 wurde Spengler gemeinsam mit Bürgermeister Jakob Jung vom NSDAP-Ortsgruppen-

leiter Julius Birkenstock entlassen (Engels, S. 43, vgl. auch Biografie Jakob Jung, HK). Anfang

Mai 1933 sahen sich alle acht Gemeinderatsmitglieder der SPD, darunter auch Spengler, da-

zu gezwungen, ihre Ämter aufzugeben: „Auf Grund der veränderten Verhältnisse legen die

Unterzeichnenden ihre Mandate als Gemeinderatsmitglieder hiermit nieder“, hieß es in ei-

ner entsprechenden Erklärung (03.05.1933, zitiert nach Mampel, S. 208).

Während der NS-Zeit stand Georg Spengler unter Beobachtung; er musste sich regelmäßig

(und zwar täglich) auf der Bürgermeisterei melden, wie Georg Mampel berichtete (S. 210).

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Es ließen sich für den 1940 verstorbenen Georg Spengler, der in seiner Sterbeurkunde als

„Hilfswerkführer“ bezeichnet wurde (Sterberegister Darmstadt-Arheilgen), keine Entnazifi-

zierungsdokumente recherchieren. Es fanden sich im eingesehenen Material keine Hinweise

auf eine Verflechtung mit dem NS-Regime.

Quellen:

Sterberegister Darmstadt-Arheilgen (1940), Nr. 27.

Literatur:

Engels, Peter: Arheilgen. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 39-43.

Mampel, Georg: 1878-1978. 100 Jahre Sozialdemokratie in Arheilgen. Darmstadt 1986.

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Reinhold-Staudt-Platz (Q-R 7), benannt 1996 nach

Reinhold Staudt (1928-1978)

Politiker

* 16. September 1928 in Weilmünster

Besuch der Volksschule in Heppenheim und des Realgymnasiums in Bensheim

1948 Abitur

1949-1951 Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Heidelberg (drei Semester)

Ab 1951 Studium der Germanistik, Volkskunde, Soziologie und Philosophie an der Universität Frank-

furt am Main

1952-1956 Verlagsangestellter

Ab 1955 Redakteur von „Lebendiges Darmstadt“

1956-1960 Geschäftsführer des Verkehrs- und Verschönerungsvereins Darmstadt

1957 Promotion zum Dr. phil., „Studien zum Patenbrauch in Hessen“

1960 Eintritt in die SPD; später Mitglied des SPD-Unterbezirksvorstands Darmstadt-Stadt

1960-1963 Leiter der Pressestelle der Stadt Darmstadt

1963-1971 Pressereferent und Leiter des Verkehrs- und Werbeamts der Stadt Darmstadt

1970 Ernennung zum Magistratsdirektor

1971-1973 Presse- und Kulturreferent der Stadt Darmstadt

1973-1976 hauptamtlicher Stadtrat für das Dezernat Schule, Jugend und Sport in Darmstadt (SPD;

Ruhestandsversetzung nach Annahme des Bundestagsmandats)

Ab 1976 Mitglied der Neuen Darmstädter Sezession

1976-1978 Mitglied des Deutschen Bundestags für die SPD (Direktkandidat Wahlkreis Darmstadt, bis

zu seinem Tod)

1976-1978 Geschäftsführer der Neuen Darmstädter Sezession

Ab 1977 Ordentliches Mitglied des Sportausschusses und des Ausschusses für Bildung und Wissen-

schaft im Deutschen Bundestag

† 11. September 1978 in Darmstadt

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Reinhold Staudt (verheiratet, vier Kinder), seit 1960 in den Diensten der Stadt Darmstadt,

Magistratsdirektor, hauptamtlicher Stadtrat und bis zu seinem Tod 1978 Mitglied des Bun-

destags für die SPD, war bei Kriegsende 1945 erst 16 Jahre alt.

Während der NS-Zeit besuchte Reinhold Staudt zunächst die Volksschule in Heppenheim und

später das Realgymnasium in Bensheim (Abitur schließlich 1948). Zu Reinhold Staudts Leben

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und Wirken zwischen 1933 und 1945 liegen in den unten genannten Quellen und der ge-

nannten Literatur darüber hinaus keine Informationen vor.

Quellen:

HStAD, R 12 P Nr. 6280 [Zeitungsartikel 1973-1981]

StadtA DA, ST 61 Staudt, Familie

[http://www.darmstaedtersezession.de/person/reinhold-staudt], Stand: 09.05.2017

Literatur:

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Darmstadt 2007.

Staudt, Reinhold: Darmstadt – Porträt einer Stadt. Darmstadt 1967.

Vierhaus, Rudolf/Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen

Bundestages 1949-2002, Bd. 2 N-Z. München 2002.

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367

Stauffenbergstraße (K 7), benannt 1968 nach

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944)

Offizier der Wehrmacht und Mitglied des militärischen Widerstands

* 15. November 1907 in Jettingen

1913-1916 Besuch einer Privatschule

Ab 1916 Besuch des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums in Stuttgart (1926 externes Abitur)

1923 Begegnung mit Stefan George, Aufnahme in dessen Kreis

1926 Eintritt in das Reiterregiment 17 (später Kavallerie-Regiment 17) in Bamberg

1927-1928 Besuch der Infanterie-Schule in Dresden

1928-1929 Besuch der Kavallerie-Schule in Hannover

1929 Offiziersprüfung (Jahrgangsbester der Kavallerie)

1930 Beförderung zum Leutnant

1931 Geschützzugführer beim Kavallerie-Regiment 17 in Bamberg

1933 Beförderung zum Oberleutnant

1933 Heirat mit Nina Freiin von Lerchenfeld (fünf Kinder)

1934-1936 Bereiteroffizier und später Adjutant an der Kavallerie-Schule in Hannover

1936 Beginn des Studiums an der Kriegsakademie in Berlin; Englandaufenthalte

1937 Beförderung zum Rittmeister

1938 2. Generalstabsoffizier (Ib) im Stab der 1. Leichten (ab 1939 6. Panzer-)Division in Wuppertal;

Teilnahme an der Besetzung des Sudetenlandes

1939-1943 Kriegsteilnehmer (Polen, Frankreich, Ukraine, Tunesien)

1940 Hauptmann im Generalstab; Gruppenleiter der Organisationsabteilung im Generalstab des Hee-

res

1941 Beförderung zum Major im Generalstab

1942 Einsatz beim Oberkommando des Heeres in Winniza (Ukraine)

1943 Beförderung zum Oberstleutnant im Generalstab

1943 Versetzung nach Tunesien als 1. Generalstabsoffizier (Ia) der 10. Panzerdivision; im April schwe-

re Verwundung durch Jagdfliegerangriff; im Juli Entlassung aus dem Lazarett in München; im Oktober

Ernennung zum Chef des Stabes im Allgemeinen Heereswaffenamt in Berlin unter General Friedrich

Olbricht

1943 Einbezug in die militärischen Umsturzversuche und schließlich treibende Kraft des militärischen

Widerstands („Operation Walküre“-Pläne)

1944 zum 1. Juli Beförderung zum Oberst im Generalstab

1944 Lagebesprechungen mit Adolf Hitler

1944 am 20. Juli Attentat(versuch) auf Adolf Hitler; Umsturzversuch

† 20./21. Juli 1944 Hinrichtung in Berlin (im Innenhof des Bendlerblocks)

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368

Ehrungen:

1929 „Ehrensäbel“ für herausragende Leistungen in der Offiziersausbildung

1940 Eisernes Kreuz I. Klasse

1943 Goldenes Verwundetenabzeichen

1943 Deutsches Kreuz in Gold

Zahlreiche posthume Ehrungen in Form von Gedenktafeln, Gedenksteinen etc., Gedenkstätten, Na-

mensgebungen (Schulen, Kasernen, Straßen etc.)

Wirken in der NS-Zeit

Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 das (misslungene) Attentat auf

Adolf Hitler ausführte, war während der NS-Zeit ein hochrangiger Militär, der im Zweiten

Weltkrieg in führender Funktion im Einsatz war und ab 1940 im Generalstab des Heeres

diente (1944 ernannt zum Oberst). 1943 schloss er sich dem militärischen Widerstand gegen

das NS-Regime in der Person Adolf Hitlers an und entwickelte sich schließlich zu einem (aus-

)führenden Akteur der Umsturzpläne.

Zu Claus Schenk Graf von Stauffenberg existieren tausende Seiten biografischer Literatur –

die sich zumeist in großem Umfang auf die Aussagen von Zeitgenossen stützen und weit we-

niger auf tradierte Selbstzeugnisse rekurrieren (können). Die folgenden Ausführungen stüt-

zen sich auf die 2015 veröffentlichte Darstellung von Peter Steinbach (unter anderem seit

1983 Wissenschaftlicher Leiter der ständigen Ausstellung „Widerstand gegen den National-

sozialismus“ in Berlin, der in seine Überlegungen explizit die unten genannten Biografien von

Eberhard Zeller, Bodo Scheurig, Joachim Kramarz, Christian Müller, Peter Hoffmann und Ha-

rald Steffahn einbezog) sowie auf die Biografie von Eberhard Zeller aus dem Jahr 1994. Auf

eine detaillierte Darstellung der Umsturzpläne sowie der Ereignisse vom 20. Juli 1944 wird

im Folgenden mit Verweis auf die angegebene Literatur verzichtet.

Stauffenberg schlug nach dem Abitur 1926 eine militärische Laufbahn ein, bestand 1929 die

Offiziersprüfung als Jahrgangsbester der Kavallerie und war 1930 im Alter von 23 Jahren –

außergewöhnlich jung – zum Leutnant befördert worden. In das Jahr 1933 datieren – neben

der Machtübernahme seitens der Nationalsozialisten – drei für Stauffenberg wichtige Ereig-

nisse: Seine Beförderung zum Oberleutnant, seine Heirat mit Nina Freiin von Lerchenberg

sowie der Tod seines „Meisters“ Stefan George, zu dessen Kreis er und seine Brüder seit

zehn Jahren gehörten.

Bis zum Sommer 1934 diente Stauffenberg beim Kavallerie-Regiment 17 in Bamberg (ab

März 1931 Geschützzugführer). Im Herbst 1934 wechselte er als Bereiteroffizier an die Kaval-

lerie-Schule in Hannover, wo er bis 1936 tätig war; im Oktober 1936 begann er ein Studium

an der Kriegsakademie in Berlin. Befördert zum Rittmeister (1937), wurde Stauffenberg im

August 1938 als „Ib“ zur 1. Leichten Division in Wuppertal (ab Oktober 1939: 6. Panzer-

Division) kommandiert. Als 2. Generalstabsoffizier war er verantwortlich für die Versorgung

der Einheit, mit der er an der Besetzung des Sudentenlands beteiligt war.

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Am Überfall auf Polen im September 1939 war die 1. Leichte Division „an der Südflanke

maßgeblich beteiligt“ (Steinbach, S. 69, vgl. auch Zeller, S. 68 ff.). Mit der (in 6. Panzer-

Division umstrukturierten) Einheit zog Stauffenberg, im Januar 1940 zum Hauptmann im

Generalstab ernannt, im Mai 1940 in den Krieg gegen Frankreich, bevor er Ende Mai 1940

zum Generalstab/Oberkommando des Heeres (OKW) versetzt wurde. Im April 1941 wurde er

erneut befördert (zum Major im Generalstab) und bezog im Juni das Hauptquartier des OKW

in der Nähe von Angerburg in Ostpreußen, bei dem er bis Ende Januar 1943 Dienst tat (zwi-

schenzeitlich – Juni-Oktober 1942 – stationiert im Hauptquartier des Generalstabs bei Win-

niza in der Ukraine).

Kurz nachdem er zum Oberstleutnant im Generalstab befördert worden war, wurde Stauf-

fenberg Anfang Februar 1943 als „Ia“ (1. Generalstabsoffizier) der 10. Panzer-Division nach

Tunis kommandiert. Anfang April 1943 wurde er dort bei einem Luftangriff schwer verwun-

det. Er verlor sein linkes Auge, im tunesischen Feldlazarett mussten zudem seine rechte

Hand sowie zwei Finger der linken Hand amputiert werden. Er gelangte noch im April 1943

ins Lazarett nach München; die dortige Behandlung wurde unterbrochen durch Genesungs-

aufenthalt in Lautlingen, dem Wohnort seiner Familie.

Im September 1943 wurde Stauffenberg zum Chef des Stabs im Allgemeinen Heeresamt bei

General Friedrich Olbricht ernannt (offizieller Dienstantritt in Berlin: 01.10.1943; Aufgaben-

gebiet: Personal- und Materialbewirtschaftung des Heeres). Am 1. Juli 1944 erfolgte seine

Beförderung zum Oberst im Generalstab.

Stauffenberg war während des Zweiten Weltkriegs mit folgenden Auszeichnungen geehrt

worden: Eisernes Kreuz I. Klasse (1940), Goldenes Verwundetenabzeichen sowie Deutsches

Kreuz in Gold (1943). Im Juni/Juli 1944 gelangte er im Zuge von Lagebesprechungen mehr-

fach in direkten Kontakt zu Adolf Hitler.

Die posthumen Ehrungen von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, so auch die Straßenbe-

nennung in Darmstadt 1968, bezogen sich allerdings nicht auf sein militärisches Wirken in

der oben skizzierten Form, sondern auf seinen Widerstand gegen das NS-Regime, der sich

seit 1943 in zahlreichen Treffen in Widerstandskreisen, insbesondere im Kreise des militäri-

schen Widerstands manifestierte – und schließlich im Attentat vom 20. Juli 1944 sowie dem

Umsturzversuch („Operation Walküre“) gipfelte. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass

Staufenberg nicht nur entschlossen war, Hitler umzubringen und das NS-Regime zu stürzen,

nicht „nur“ ausführende, sondern auch treibende Kraft war und als ein Motor innerhalb der

deutschen Widerstandsbewegung(en) angesehen werden muss. Bekanntermaßen scheiterte

das Attentat auf Adolf Hitler und auch der sich an den vorgesehenen Tod des Diktators an-

schließende politische Umsturz gelang nicht. Stauffenberg wurde noch in der Nacht vom 20.

auf den 21. Juli 1944 im Innenhof des Bendlerblocks in Berlin hingerichtet.

Stauffenbergs zahlreiche Treffen mit Kräften des Widerstands, die Vorbereitungen des At-

tentats und des Umsturzes sowie die Abläufe des 20. Juli 1944 sind bekannt und in der ange-

gebenen Literatur (und in vielen anderen Werken) detailliert, im Falle des 20. Julis teils minu-

tiös nachgezeichnet, sofern die Quellenlage dies zuließ. Unstrittig ist Stauffenbergs Verant-

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wortung für die Tat; manche Autoren gingen davon aus, dass Stauffenberg schließlich – un-

ter Bezug auf seinen Mentor Stefan George – Hitler als „Personifizierung des Bösen

schlechthin“ (Steinbach, S. 17) betrachtete. Stauffenberg habe den Unrechtscharakter des

NS-Regimes – dessen Teil er in führender militärischer Funktion über Jahre hinweg war –

erkannt und gehandelt, obwohl er einen soldatischen Eid geschworen hatte. Stauffenberg

kann sicher nicht als Anhänger einer parlamentarischen Demokratie bezeichnet werden; bei

einem erfolgreichen Umsturz wäre voraussichtlich um die Struktur Deutschlands gerungen

worden. Stauffenberg als Patrioten zu charakterisieren, der zunächst mit nationalistischen

und revisionistischen Zielen des NS-Regimes sympathisierte (was zutrifft), griffe allerdings in

seiner Bewertung deutlich zu kurz, wie Peter Steinbach argumentierte:

„Welches Deutschland das Resultat dieser Auseinandersetzungen geworden wäre, wissen wir nicht.

Aber Stauffenberg nur zum Symbol des Rückwärtsgewandten zu machen, weil er aus den Horizonten

seiner Zeit handelte, wäre unhistorisch. Es wäre ebenso leichtfertig, ihn zum Träger der freiheitlichen

Grundordnung zu erhöhen. Diese Ordnung war ein Resultat der Niederlage. Der Mensch Stauffen-

berg war Produkt und Gegensatz seiner Zeit. […] Er handelte nicht, als es zu spät war, sondern er

handelte, weil er zu den wenigen seiner Zeit gehörte, die Verantwortung suchten und deshalb den

‚entscheidenden Wurf‘ riskierten. Dies war weitaus gefährlicher, als bis zum Ende des Krieges zur

Fahne zu stehen, die das Hakenkreuz trug, wie viele, die ihre Feigheit als Eidtreue verklärten. […]

Stauffenberg wollte durch seine Tat einen Unrechtsstaat beseitigen. Er ist deshalb nicht nur eine

Person der deutschen, sondern der europäischen Geschichte. Seine Tat hätte Europa vor der Kata-

strophe eines bis zum bitteren Ende geführten Krieges bewahrt, der Europa verwüstete und schließ-

lich für 40 Jahre teilte. Seine Persönlichkeit muss deshalb immer auch in den Zusammenhang der

deutschen und zugleich der europäischen Geschichte gerückt werden“ (Steinbach, S. 17 f.).

In der deutschen Erinnerungskultur war bis in die 1960er Jahre die Einschätzung der Natio-

nalsozialisten, die Stauffenberg und seine Mitstreiter als Verräter ansahen, überaus wirk-

mächtig. Die Einschätzung Staufenbergs wurde (auch später) kontrovers diskutiert, changier-

te zwischen „Würdigung und Verurteilung“ (vgl. zu einzelnen Phasen Steinbach, S. 20 ff.). In

der aktuellen Forschungsliteratur wird unter anderem darauf verwiesen, dass Stauffenberg

auch Kontakte zum zivilen Widerstand suchte, was lange Zeit kaum Beachtung fand (Stein-

bach, S. 112). Einzelne Äußerungen Stauffenbergs, etwa abfällige Bemerkungen gegenüber

der polnisch-jüdischen Bevölkerung in einem Feldpostbrief aus dem Jahr 1939, wurden wie-

derholt als Beleg dafür angebracht, dass sich Stauffenberg nicht (oder nur bedingt) als

„Held“ eigne. In der heutigen offiziellen Erinnerungskultur überwiegt die Ansicht führender

Widerstandshistoriker, die darauf verweisen, dass Stauffenberg als „Produkt seiner Zeit“, als

Soldat der Wehrmacht, der an seinen Eid gebunden war, Verantwortung (mit ihm bewussten

Konsequenzen) übernommen habe, um das von ihm als Unrechtssystem erkannte NS-

Regime beseitigen zu wollen.

Literatur:

Hoffmann, Peter: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 1992.

Hoffmann, Peter: Stauffenberg und der 20. Juli 1944. München 1998.

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Kramarz, Joachim: Claus Graf von Stauffenberg. 15. November 1907 – 20. Juli 1944. Das Leben eines

Offiziers. Frankfurt am Main 1965.

Scheurig, Bodo: Claus Graf von Stauffenberg. Berlin 1964.

Steffahn, Harald: Stauffenberg. Reinbek bei Hamburg ³2002.

Steinbach, Peter: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Wagnis – Tat – Erinnerung. Stuttgart 2015.

Ueberschär, Gerd R.: Stauffenberg. Der 20. Juli 1944. Frankfurt am Main 2004.

Zeller, Eberhard: Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Paderborn et al. 1994.

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Dolf-Sternberger-Weg (J 9-10), benannt 1996 nach

Dolf Sternberger (1907-1989)

Sprachkritiker und Politikwissenschaftler

* 28. Juli 1907 in Wiesbaden

1913-1916 Besuch der Grundschule („Vorschule“) in Wiesbaden

1916-1925 Besuch des Staatlichen Realgymnasiums in Wiesbaden (Abitur 1925)

1925-1932 Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte, später hauptsächlich

der Philosophie in Kiel, Frankfurt am Main, Heidelberg und Freiburg im Breisgau

1931 Heirat mit Ilse Bella Blankenstein (geb. Rothschild, ein Stiefsohn), Trauzeugin: Hannah Arendt

1932 Promotion zum Dr. phil. bei Paul Tillich in Frankfurt am Main, „Der verstandene Tod. Eine Un-

tersuchung zu Heideggers Existential-Ontologie“ (veröffentlicht 1934)

1932-1933 Rezensionen in der „Zeitschrift für Sozialforschung“

1932-1934 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der von Professor Viktor von Weizäcker geleiteten So-

zialpolitischen Arbeitsgemeinschaft in Heidelberg

1934-1943 Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ (Mitarbeit seit 1927), seit 1935 Ressortleiter für Wis-

senschaft, Erziehung und Bildung

1934-1939 Essays in der „Neuen Rundschau“

1938 „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert“ (weitere Auflagen 1947, 1955)

Ca. 1943-1945 nach dem vom NS-Regime verhängten Berufsverbot 1943 (Streichen von „Berufsliste“)

Tätigkeit in einem Fabrikbüro in Heidelberg

1945-1949 Begründer, Mitherausgeber und Autor der Zeitschrift „Die Wandlung“ (zusammen mit

Karl Jaspers, Alfred Weber, Werner Krauss und später auch Marie-Luise Kaschnitz), darin die Glosse

„Wörterbuch des Unmenschen“

1946-1966 regelmäßige politische Kommentare im Hessischen Rundfunk

1947-1955 Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg

1947-1967 Vorsitzender der Deutschen Wählergesellschaft (von ihm mitbegründet)

Ab 1949 Kolumnist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

1950 „Figuren der Fabeln“

Ab 1951 Leiter einer politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe, aus der sich das politische Seminar

des Alfred-Weber-Instituts und 1958 das Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidel-

berg entwickelte

1950-1958 (Mit-)Herausgeber der Zeitschrift „Die Gegenwart“

1952-1961 Gründungsmitglied und Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission

1955-1960 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg

1957 „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ (weitere Auflage 1967)

1958 „Gefühl der Fremde“

Ab 1959 Mitarbeiter und Berater bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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1960 Mitbegründer und Herausgeber der Politischen Vierteljahresschrift

1960-1972 Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg (Amtsbezeichnung

ordentlicher Professor seit 1962)

1962-1964 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft

1962-1972 Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg

1963 Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

1964 Gastprofessor an der Universität Chicago (USA)

1964-1970 Präsident des Deutschen PEN-Zentrums

1972 Emeritierung (Entbindung von seinen amtlichen Verpflichtungen auf eigenen Antrag)

† 27. Juli 1989 in Frankfurt am Main

Ehrungen:

1970 Ehrenvorsitzender der Deutschen Wählergesellschaft

1971-1977 Ehrenpräsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland

1967 Goethe-Plakette des Landes Hessen

1967 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt

1974 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

1977 Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen

1977 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste

1980 Ehrendoktor der Universität Sorbonne (Paris)

1982 Ehrendoktor der Universität Trier

Wirken in der NS-Zeit

Dolf (eigentlich Adolf) Sternberger, nach 1945 ein herausragender Vertreter der Politikwis-

senschaften in Deutschland und zugleich erfolgreicher Publizist im politisch-kulturellen Be-

reich, arbeitete während der NS-Zeit als Redakteur der Frankfurter Zeitung (bis 1943), veröf-

fentlichte kultur- bzw. sprachkritische Beiträge und gilt als Vertreter der sogenannten „ver-

deckten Schreibweise“.

Grundlegende Arbeiten über Dolf Sternbergers Schaffen in der NS-Zeit veröffentlichte Wil-

liam J. Dodd (Professor of Modern German Studies an der University of Birmingham), der

sich – anders als die meisten Biografen, die den Politikwissenschaftler Sternberger nach 1945

ins Zentrum stellten (vgl. Münkler, Vogel) – der sprachkritischen Veröffentlichungen Stern-

bergers widmete und dessen umfangreichen Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Mar-

bach in diesem Sinne auswertete.

In einem Lebenslauf aus dem Jahr 1948 äußerte sich Sternberger wie folgt zu seinem Wirken

in der NS-Zeit:

„Von 1932 bis 1934 wirkte ich in einer sozialpolitischen Arbeitsgemeinschaft mit Sitz in Heidelberg

mit und lebte währenddessen von einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissen-

schaft. Die akademische Laufbahn blieb mir infolge meiner Ehe mit einer Jüdin verschlossen. So wur-

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de ich, übrigens ohne Bedauern, Journalist. Ich war der letzte Redakteur der Frankfurter Zeitung, der

noch von Dr. Heinrich Simon, dem damaligen Besitzer, persönlich engagiert wurde. Vom August 1934

bis genau zum 5. Mai 1943 war ich Redakteur an der Frankfurter Zeitung, immer mit Sitz in Frankfurt

selbst, und bearbeitete dort die Angelegenheiten der Bildung, Kirche und Wissenschaft; ausserdem

veröffentlichte diese Zeitung zahlreiche literarische Beiträge von mir. Leider konnte ich einen Posten

im Auslande aus den vorerwähnten Gründen nicht übernehmen, namentlich nachdem mir im Jahre

1938 die Erteilung eines neuen Reisepasses vom Frankfurter Polizeipräsidium verweigert worden

war. Ich darf sagen, dass ich in meiner publizistischen Wirksamkeit während der Hitler-Zeit eine ent-

schieden humanistische Richtung trotz aller Schwierigkeiten und Gefährdungen durchgehalten habe.

Nach einer Reihe von Konflikten wurde ich am 5. Mai 1943 durch den Reichspropagandaminister –

zusammen mit drei anderen Kollegen aus der Redaktion [Hausenstein, Reifenberg und Suhr, HK] –

aus der sogenannten Berufsliste gestrichen und musste das Haus sofort verlassen. Zum Militärdienst

wurde ich nicht eingezogen, da ich infolge eines Erlasses Hitlers von Ende 1940 zum Kriegsdienst

‚nicht zu verwenden‘ war [wegen seiner Ehe mit einer Jüdin, HK]. Unter akuter Bedrohung durch die

Gestapo siedelten meine Frau und ich im Juli 1943 fluchtartig nach Heidelberg über. Die folgenden

Jahre verbrachte ich, unter dauernden Bedrängnissen, in einem Fabrikbüro in Heidelberg; diese Tä-

tigkeit bot mir immerhin die Gelegenheit[,] die menschliche Arbeit in der modernen Industrie an

einem Beispiel zu studieren. Der vielfach drohenden und mehrmals über mich verhängten Einberu-

fung zur Zwangsarbeit konnte ich glücklich entgehen“ (Curriculum Vitae von Dr. Dolf Sternberger

[1948], zitiert nach Dodd 2007, S. 301 f.).

Wie Dodd überzeugend darlegte, lässt sich Sternberger als Vertreter der „inneren Emigrati-

on“ bezeichnen, wobei sich der Biograf der Schwierigkeiten der Begrifflichkeit durchaus be-

wusst zeigte (Dodd 2007, S. 22-25). Sternberger bediente sich bei seinen Veröffentlichungen

im Themenbereich der Kultur- und Sprachkritik nachweißlich einer „Technik des indirekten

Ausdrucks“ (Dodd 2007, S. 24), die sich als „verdeckte Schreibweise“ (so Sternberger selbst

1950) bezeichnen lässt und darunter Eingang in die Forschungsliteratur fand (ausführlich

dazu Dodd 2007, S. 149-219). Anhand der zeitgenössischen Rezeption von Sternbergers Ver-

öffentlichung „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert“ (1938) ließ sich etwa nach-

weisen, dass schon den Zeitgenossen das „zwischen den Zeilen Lesen“ durchaus gelang –

auch der NS-Zensur, wie ein Gutachten der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrift-

tums („Amt Rosenberg“) belegte (Dodd 2015, S. 69 f.). Allerdings gelang es jenem Rezensen-

ten (Urteil: „unter allen Umständen abzulehnen“, vgl. Ehrke-Rotermund/Rotermund, S. 203)

nur eine der drei rekonstruierten Ebenen des „verdeckten Schreibens“ zu dechiffrieren.

Dodd kam daher zu dem Ergebnis, das manche der „verdeckten“ Angriffe auf den National-

sozialismus auch dem suchenden Leser seitens der Vertreter des NS-Regimes zugänglich wa-

ren. Es schienen allerdings deutliche Unterschiede im „Dechiffrierungsapparat“ der Leser-

schaft zu bestehen; die „verdeckte Schreibweise“ war demnach „[k]ein Geheimnis also, aber

nur bedingt ein offenes“ (Dodd 2015, S. 76). Die Haltung Walter Benjamins, der Sternberger

in einem Brief und einer Rezension des Mitläufertums bezichtigte, wurde in der akademi-

schen Diskussion lange übernommen, ohne Benjamins „Diskursposition“ (Dodd 2015, S. 66)

zu hinterfragen (dazu auch Ehrke-Rotermund/Rotermund, S. 221 f.). Allen Schwächen und

Fehlschlüssen im Zusammenhang mit Sternbergers Sprachkritik – die seit den 1960er Jahren

heftig diskutiert und kritisiert wurde – zum Trotz, rückte Dodd Sternbergers aufklärerische

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Motivation, einen „in der publizierenden ‚inneren Emigration‘ geformte[n] Habitus der Hell-

hörigkeit“ (Dodd 2007, S. 30) in den Vordergrund seiner Analyse und kam zu dem Ergebnis,

dass sich Sternberger „als hervorragenden und auch mutigen Exponenten der Essayistik der

‚inneren Emigration‘ ausweisen“ lasse (Dodd 2007, S. 218).

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erschien Sternberger eine akade-

mische Laufbahn als illusorisch (hierzu und zum Folgenden Dodd 2007, S. 75-78, 84-88). Sei-

ne 1932 vorgelegte Dissertation „Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Heideggers

Existential-Ontologie“ (veröffentlicht 1934) war in einem Gutachten von Theodor W. Adorno

noch außergewöhnlich lobend und mit dem „Anspruch auf das Prädikat ‚vorzüglich‘“ be-

zeichnet worden. Bis 1934 stand Sternberger in regem Kontakt zu Adorno und weiteren Ver-

tretern der „Frankfurter Schule“; er veröffentlichte 1932/33 in den ersten beiden Jahrgängen

der „Zeitschrift für Sozialforschung“ Buchbesprechungen. Sternbergers Frau – mit der er zum

Teil gemeinsam publiziert hatte – erhielt nun als Jüdin Publikationsverbot. Die wirtschaftli-

che Existenz des Ehepaares wurde anfangs über ein Stipendium der Notgemeinschaft der

deutschen Wissenschaft (Vorgängerorganisation der DFG) sichergestellt, doch war klar, dass

dies nicht von langer Dauer sein konnte. In der Redaktion der Frankfurter Zeitung wurde

Sternberger dann das neu geschaffene Ressort der Bildungspolitik zugeteilt. Die Frankfurter

Zeitung gehörte zu den wenigen Publikationsorganen, „in denen ‚das andere Deutschland‘

noch durch Abtasten und Umgehen der Zensur ein kodiertes Lebenszeichen von sich geben

konnte“ (Dodd 2007, S. 24). Bis Mai 1943 konnte Sternberger in der Redaktion der Frankfur-

ter Zeitung arbeiten und publizieren. Nach 1945 lobte er wiederholt den solidarischen Zu-

sammenhalt innerhalb der Redaktion und die daraus erwachsenden Freundschaften; als prä-

gende Erfahrung in der NS-Zeit schilderte er die Treue in seiner Ehe.

In Folge der Veröffentlichung des Beitrags „Figuren der Fabel“ in der Frankfurter Zeitung

vom 25.12.1941, soll im Propagandaministerium eine Akte zu Sternberger angelegt worden

sein, die allerdings auf Intervention des Berliner Büros der Frankfurter Zeitung vernichtet

worden sein soll (Dodd 2007, S. 78; in den Beständen des ehemaligen BDC im BArch Berlin

ließ sich keine Akte zu Sternberger auffinden, HK; Text und ausführlicher Kommentar zu „Fi-

guren der Fabel“ bei Ehrke-Rotermund/Rotermund, S. 194-222).

Über Sternbergers Wirken nach seinem Ausschluss aus der Frankfurter Zeitung im Mai 1943

und seine Tätigkeit in einem Heidelberger Industriebetrieb (siehe Zitat oben) gibt es wenige

belastbare Informationen. Laut einer autobiografischen Notiz soll er bis Frühjahr 1945 bei

der Firma Stotz-Kontakt GmbH beschäftigt gewesen sein (Dodd, S. 76, FN 17); das Kriegsen-

de erlebte er in einem Sanatorium in Baden-Baden. Nachdem eine Neugründung der Frank-

furter Zeitung zunächst an der Pressepolitik der amerikanischen Militärregierung scheiterte,

führten Verhandlungen über eine Zeitschrift von „gehobenem Niveau“ im Oktober 1945 zum

Erfolg: In der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Die Wandlung“ erschien die erste Glosse des

„Wörterbuchs des Unmenschen“, das Sternberger in Zusammenarbeit mit seinen langjähri-

gen Kollegen Gerhard Storz und Wilhelm Süskind 1957 als Buchpublikation herausgeben soll-

te.

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Es ließen sich weder im HHStAW (zuständig für Frankfurt am Main) noch im Generallan-

desarchiv Karlsruhe (zuständig für Heidelberg) Entnazifizierungsakten zu Dolf Sternberger

recherchieren.

Quellen:

Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar, Nachlass Sternberger [NICHT eingesehen]

Generallandesarchiv Karlsruhe, 480 Nr. 11412 [Wiedergutmachungsakte 1950-1961, NICHT eingesehen]

UA Heidelberg, PA 3030

UA Heidelberg, PA 5985-5987

UA Heidelberg, Rep 27-1887

StadtA DA, ST 61 Sternberger, Prof. Dr. Dolf

Literatur:

Dodd, William J.: Die „verdeckte Schreibweise“ ein offenes Geheimnis?: Dolf Sternbergers Panorama

oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938) im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionen. In: Roth,

Kersten Sven et al. (Hrsg.): Sprache, Universität, Öffentlichkeit: Sprachwissenschaftliche Beobachtun-

gen und sprachkritische Anmerkungen. Festschrift für Jürgen Schiewe zum 60. Geburtstag. Bremen

2015, S. 65-78.

Dodd, William J.: Jedes Wort wandelt die Welt. Dolf Sternbergers politische Sprachkritik. Göttingen

2007.

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Darmstadt 2007. [S. 227: Träger der

Wilhelm-Leuschner-Medaille].

Drüll[-Zimmermann], Dagmar: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1933-1986. Berlin et al. 2009, S. 603 f.

Ehrke-Rotermund, Heidrun/Rotermund, Erwin: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstu-

dien zur ‚verdeckten Schreibweise‘ im „Dritten Reich“. München 1999.

Münkler, Herfried: Dolf Sternberger (1907-1989). In: Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian (Hrsg.): Deut-

sche Politikwissenschaftler. Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin. Baden-Baden 2014,

S. 739-752.

Vogel, Bernhard: Dolf Sternberger und die Politische Wissenschaft. In: Mohr, Arno/Nohlen, Dieter

(Hrsg.): Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaft. Heidelberg

2008, S. 240-246.

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Robert-Stolz-Straße (C 7), benannt 1977 nach

Robert Stolz (1880-1975)

Österreichischer Komponist

* 25. August 1880 in Graz

1896 Staatsprüfung für Musik am Wiener Staatskonservatorium

1897 Opernkorrepetitor am städtischen Theater Graz

1902 Kapellmeister am Stadttheater Salzburg

1903 Operettendebüt „Schön Lorchen“ am Stadttheater Salzburg, es folgen über 50 Operetten

1904 Engagement als Dirigent am Deutschen Theater Brünn

1905/07-1917 Musikalischer Leiter und Direktor am Theater an der Wien

1905 Erstaufführung der Operette „Die lustige Witwe“ am Theater an der Wien (dirigiert von Stolz)

1914-1918 Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg (unter anderem als Kapellmeister)

1924 Eröffnung eines eigenen Theaters; nach dessen Konkurs Umzug nach Berlin

1920er Jahre Komponieren von Opern, Singspielen, Musicals, Musiken für Eisspiele und Liedern; da-

runter weltbekannte Schlager („Servus Du“, „Ob blond ob braun, ich liebe alle Frau‘n“)

1930 Komposition der Partitur für den Tonfilm „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“

1936 Operette „Zum Goldenen Halbmond“

1935-1937 Komposition von Filmmusik, darunter „Der Himmel auf Erden“ (1935), „Die Austernlilli“

(1937), „Musik für Dich“ (1937).

1938/39 Emigration über Paris in die USA (1940)

1941/42 Ausbürgerung und Beschlagnahme seines Vermögens durch die Nationalsozialisten

1941/45 Oskar-Nominierungen für seine Kompositionen zu den Filmen „Spring Parade“ von Henry

Koster und „It happened tomorrow“ von René Clairs

1946 Rückkehr nach Österreich

Ab 1952 Kompositionen für die Wiener Eisrevue

† 27. Juni 1975 in Berlin

Ehrungen:

1934 Große Medaille (Beste Musik) Internationale Filmfestspiele von Venedig

1946 Professor honoris causa durch die Österreichische Regierung

1962 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

1964 Erstes Ehrenmitglied der Volksoper Wien

1965 Ehrenring der Stadt Graz

1968 Ehrenring des Landes Steiermark

1969 Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film

1969 Ehrenring der Bregenzer Festspiele

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1970 zahlreiche Ehrungen anlässlich seines 90. Geburtstags, darunter Ehrenbürger der Städte Wien

und Graz, Ehrenmedaille der Stadt Rotterdam, Ehrenring der GEMA, Österreichisches Ehrenzeichen

für Wissenschaft und Kunst

1971 Jerusalem-Medaille (für Fluchthilfe in NS-Zeit)

1973 Ehrenmitglied der Wiener Volksoper

Wirken in der NS-Zeit

Robert Stolz, Komponist und Dirigent, der als bedeutender Wiener Operettenkomponist gilt,

emigrierte 1938/39 aus Österreich zunächst nach Frankreich und 1940 in die USA. Seine Mu-

sik galt im „Dritten Reich“ fortan als „unerwünscht“, Stolz wurde 1941/42 ausgebürgert.

Seit 1924 arbeitete Stolz aus Karrieregründen vornehmlich in Berlin (in Wien war er mit ei-

nem eigenen Theater gescheitert). Er galt als „einer der erfolgreichsten Komponisten der

leichten Muse“ (Semrau 2007, S. 183) und wurde durch Schlagermelodien in den neuen Me-

dien Tonfilm und Radio populär. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten

wurden seine Werke weiter aufgeführt und durchaus positiv besprochen. Semrau etwa zi-

tierte eine wohlwollende Kritik aus dem „Völkischen Beobachter“ anlässlich der Premiere

der Operette „Zum Goldenen Halbmond“ im März 1936 am Nationaltheater in Osnabrück

(Semrau 2007, S. 184, Semrau 2000, S. 138). Auch hochrangige NS-Akteure äußersten sich

anerkennend (vgl. Semrau 2000, S. 141, Stolz, S. 356). Doch Stolz ließ sich nicht in den Dienst

der Nationalsozialisten stellen, sondern emigrierte 1938/39 zunächst nach Paris und Ende

März 1940 in die USA. Seinen eigenen Angaben in seinen Lebenserinnerungen folgend (vgl.

neben Stolz/Stolz auch Semrau 2000, S. 143 f.), verließ Stolz bereits im März 1938, im Zuge

des sogenannten „Anschlusses“ Österreichs, seine Heimat und ging über Zürich nach Paris

ins Exil. Von Frankreich aus emigrierte er Ende März 1940 schließlich in die USA.

Es gibt in der Literatur Zweifel an der Version von Stolz, nach der er noch am 12. März 1938

Wien verlassen haben will, aufgrund eines Anrufs seines Bruders, den er als Warnung ver-

standen haben wollte und wonach er seine Abreise als Flucht vor der Gestapo interpretierte.

Ein von Stolz unterschriebenes Dokument vom 11. April 1939 bestätigte seitens des Magist-

rats der Stadt Wien sein Heimatrecht (Semrau 2000, S. 145, Semrau 2007, S. 184). Unabhän-

gig von dem unklaren Zeitpunkt genieße, so Semrau, die konsequente Entscheidung von

Stolz, seine Heimat zu verlassen, Anerkennung:

„Anzunehmen ist jedenfalls, dass Stolz, zu welchem Datum auch immer, seine Heimat aus freien Stü-

cken, aus Abscheu vor der Kulturpolitik des Reiches und aus Solidarität mit seinen jüdischen Freun-

den verließ“ (Semrau 2007, S. 185).

Ganz ähnlich äußerte sich Oliver Rathkolb, der intensiv zu „Künstlereliten im Dritten Reich“

(1998) arbeitete. Auf die Frage, welche prominenten Unterhaltungskünstler Österreich wäh-

rend der NS-Zeit freiwillig verlassen hätten, nannte Rathkolb einzig Robert Stolz:

„Mir fällt in diesem Zusammenhang nur der Komponist Robert Stolz ein […] Der verließ Österreich

ohne Not nach dem Anschluss, weil ihm vor dem Regime einfach ekelte“ (Rathkolb laut Hager, siehe

Literatur).

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Während der Zeit seines Pariser Exils und wohl auch noch in den USA suchten Repräsentan-

ten des NS-Regimes Kontakt zu Stolz, um ihn zu einer Rückkehr ins „Reich“ zu bewegen. Stolz

sollte keine Repressalien zu befürchten haben; er ließ sich auf das Angebot dennoch nicht

ein.

Stolz‘ Abstammung war wiederholt umstritten; die – aus Sicht des NS-Regimes – einwand-

freie Herkunft eines Großelternteils galt noch 1941 als ungeklärt. Zudem galt seine damalige

Frau (Stolz war insgesamt fünfmal verheiratet) als „Volljüdin“ (was allerdings ebenfalls um-

stritten war, vgl. BArch Berlin, BDC, R 9361-V/83514). Der Komponist arbeitete erwiesener-

maßen mit zahlreichen Juden zusammen; manche seiner Kollegen sollen ihn selbst für „jü-

disch“ gehalten haben. Nicht verifizieren ließ sich die in der Literatur tradierte Geschichte,

wonach Stolz vor 1938 mehrere Male politisch Verfolgte (darunter Frauen und Kinder) illegal

bei Fahrten von Berlin nach Wien über die Grenze gebracht haben soll (noch bei Semrau

2000, S. 141 f., zuletzt Weniger, S. 489). Die Idee, den Wagen des bekannten Komponisten

mit Hakenkreuzfahne auszustatten, sei demnach seinem Chauffeur gekommen; es habe bei

Grenzkontrollen (von 21 solcher Fahrten ist die Rede) keine Probleme gegeben.

Belegen hingegen lässt sich, dass sich die Berichterstattung gegenüber Robert Stolz nach

dem Verlassen Österreichs wandelte, das heißt kritisch bis ablehnend wurde. So hieß es et-

wa zum „freiwilli[en] Emigrant[en]“ im „Völkischen Beobachter“ Ende 1939:

„In Deutschland ist man aber so großzügig gewesen, die Musik des Herrn Stolz in Nahrung zu setzen.

Wenn Monsieur Stolz auch kein Jude ist, so wird man wohl kaum einen Unterschied zwischen seiner

Handlungsweise und der seiner jüdischen Freunde erkennen“ (Musikalische Emigration in Nöten,

Berliner Zeitung vom Dezember 1939, zitiert nach Eidam, S. 143).

Auch in internen Vermerken der Reichsmusikkammer wurde die Emigration von Stolz kriti-

siert, welcher schließlich dessen offizielle Ausbürgerung am 28. März 1942 folgte (ein ent-

sprechender Erlass war bereits im Sommer 1941 ergangen). Aufführungen seiner Kompositi-

onen wurden als „unerwünscht“ bezeichnet, zumal er sich im Exil negativ zum „Dritten

Reich“ geäußert habe:

„St[olz] ist nach dem Anschluss Österreichs zuerst nach Paris und nach Beendigung des französischen

Feldzugs nach USA emigriert. In Interviews, die in amerikanischen Zeitungen erschienen sind, erging

er sich in wüsten Beschimpfungen des Führers und des Nationalsozialismus‘, sodass seine Ausbürge-

rung seitens des deutschen Konsulats in Boston beantragt wurde. Lt. Beschluss der Reichsmusikprüf-

stelle vom 4.4.1941 ist die Verbreitung aller Kompositionen von Robert Stolz im gesamtdeutschen

Bereich unerwünscht, da er sich durch Deutschland und den Nationalsozialismus verächtlichmachen-

den [sic!] und herabwürdigenden [sic!] Interviews in amerik[anischen] Zeitungen ausserhalb der

deutschen Volksgemeinschaft gestellt hat“ (Vermerk in Akte Robert Stolz der RKK/RMK, BArch Berlin,

BDC, R 9361-V/83514).

Wie Stolz in seinen Lebenserinnerungen beschrieb, war die Zeit im Pariser Exil für ihn keine

leichte. Er traf dort immerhin auf seine fünfte Frau, Yvonne Louise Ulrich, genannt „Einzi“

(vgl. Semrau 2000, S. 120 ff.). In den USA reüssierte er mit Beiträgen zu Filmmusiken, die

sogar Oskar-Nominierungen nach sich zogen (aber nicht entsprechend ausgezeichnet wur-

den). Seine eigenen Bühnenstücke, teils am Broadway in New York aufgeführt, blieben weit-

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gehend erfolglos. Nach Semrau habe Stolz in den USA dennoch „einen wichtigen Beitrag zur

Popularisierung der wienerischen Unterhaltungsmusik geleistet“ (Semrau 2007, S. 187).

Im November 1946 kehrte Stolz nach Österreich zurück (über die – von Stolz aktiv geförderte

– Legendenbildung hin zum „personifizierten Evergreen“ und „Walzerkönig“ vgl. Semrau

2007). Auf Entnazifizierungsunterlagen fanden sich in der Literatur keine Hinweise.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/83514

Literatur:

Eidam, Klaus: Robert Stolz. Biographie eines Phänomens. Berlin 1989.

Hager, Angelika: Wie österreichische Publikumslieblinge sich mit dem NS-Regime arrangierten. In:

profil vom 23.02.2010 [https://www.profil.at/home/wie-publikumslieblinge-ns-regime-262724], Zu-

griff: 11.05.2017.

Prieberg, Fred K.: Musik im NS-Staat. Frankfurt am Main 1982.

Rathkolb, Oliver: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien 1998.

Semrau, Eugen: Robert Stolz. Sein Leben. Seine Musik. Salzburg/Wien/Frankfurt am Main 2002.

Semrau, Eugen: Mehr als ein Leben. Konstruktion und Funktion der Robert-Stolz-Legende. In: Schal-

ler, Wolfgang (Hrsg.): Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und „Entartung“.

Berlin 2007, S. 179-197.

Stolz, Robert/Stolz, Einzi: Servus Du. Robert Stolz und sein Jahrhundert. München 1980.

Weniger, Kay: „Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben ...“. Lexikon der aus Österreich

emigrierten Filmschaffenden 1933 bis 1945. Eine Gesamtübersicht. Hamburg 2011.

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Straubplatz (L-M 6), benannt 1983 nach

Hans Straub (1899-1962)

Vorsitzender des Siedlerbunds der Heimstättensiedlung

* 24. Juni 1899 in Hausen an der Fils (Kreis Göppingen)

Dreher bei der Firma Carl Schenk in Darmstadt

1926 Umzug von seiner Heimatgemeinde Hausen an der Fils nach Darmstadt, der Heimat seiner zu-

künftigen Frau

1927 Heirat mit Katharina Zimmermann in Darmstadt

1938 Bezug des Siedlerhauses im Pulverweg 6 (Heimstättensiedlung Darmstadt-Süd)

19XX-1962 Vorsitzender (Gemeinschaftsleiter) des Siedlerbunds der Heimstättensiedlung Darmstadt-

Süd

Bis 1933 Mitglied der SPD und des Reichsbanners

1933-1945 Mitglied der DAF

1939-1945 Mitglied der NSV

1942-1945 Mitglied des RLB

1946 2. Vorsitzender des von ihm mitbegründeten „Landesverbands Hessischer Kleinsiedler e. V.“

1949-1960 1. Vorsitzender des „Landesverbands Hessischer Kleinsiedler e. V.“ (ab 1954 „Deutscher

Siedlerbund, Landesverband Hessen e.V.“)

† 23. Oktober 1962 in Darmstadt

Ehrungen:

1960 Ehrenvorsitzender des „Deutschen Siedlerbunds, Landesverband Hessen e.V.“

Wirken in der NS-Zeit

Hans Straub, über lange Jahre Vorsitzender des Siedlerbunds der Heimstättensiedlung in

Darmstadt, war während der NS-Zeit als (Eisen-)Dreher Angestellter der Firma Carl Schenck.

Laut eigener Angaben im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens (HHStAW) war Hans

Straub von 1933 an organisiert in der DAF, ab 1939 in der NSV und ab 1942 im RLB. Im ent-

sprechenden Meldebogen bezeichnete er sich als „aktiv bis 1933 im Reichsbanner u[nd in

der] SPD“. Im Januar 1947 wurde er als „Vom Gesetz nicht betroffen“ eingestuft. Unter An-

gaben zur Wehrmacht hatte er „entfällt“ notiert; im Melderegister der Stadt Darmstadt fand

sich unter dem Datum 19./24.7.45 der Eintrag „Ehemann kam vom Wehrdienst“ (StadtA DA).

Straub war 1926 nach Darmstadt gezogen, in die Heimatstadt seiner zukünftigen Frau (Heirat

mit Katharina Zimmermann 1927). Seit 1938 war er Hausbesitzer im Pulverhäuserweg 6

(Heimstättensiedlung): Im nördlichen Teil des Pulverhäuserwegs wurden 1937/38 von der

„Nassauischen Heimstätte“ Einfamilienhäuser gemäß dem Reichsheimstättengesetz errich-

tet und nach dreijähriger Bewährung den Siedlern als Eigentum übergeben. Nach seiner er-

wähnten Rückkehr vom „Wehrdienst“ war Straub ebendort wieder wohnhaft gemeldet.

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Hans Straub war bis zu seinem Tod 1962 Vorsitzender (Gemeinschaftsleiter) des Siedler-

bunds der Heimstättensiedlung Darmstadt-Süd. Nach dem Zweiten Weltkrieg fungierte er

zugleich als Vorsitzender des „Landesverbands Hessischer Kleinsiedler e. V.“ (ab 1954 „Deut-

scher Siedlerbund, Landesverband Hessen e.V.“).

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 2051 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 45759

StadtA DA, Melderegister

Literatur:

Deutscher Siedlerbund, Landesverband Hessen e.V. (Hrsg.): Deutscher Siedlerbund, Landesverband

Hessen e.V. 50 Jahre 1946-1996. Jubiläumsschrift zum 50jährigen Bestehen des Landesverbandes.

Oberursel 1996.

Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens der Heimstättensiedlung Darmstadt-Süd 1932-1957.

Darmstadt 1957.

1932-1982. 50 Jahre Heimstättensiedlung. Darmstadt 1982.

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Stühlingerweg (E 8), benannt 2004 nach

Wilhelm Stühlinger (1906-1990)

Pfarrer

* 11. August 1906 in Reinheim

1917-1926 Besuch des Alten Realgymnasiums in Darmstadt (von Reinheim pendelnd, Abitur 1926)

1926-1933 Studium der Germanistik und Geschichte in Frankfurt am Main und Gießen, dann der

Evangelischen Theologie an den Universitäten in Gießen, Heidelberg, Tübingen und Göttingen (dort

I. Staatsexamen und Assistent seines Lehrers Prof. Carl Stange)

1933-1945 Mitglied der NSDAP

Um 1934 Besuch des Predigerseminars in Friedberg und Lehrvikariat in Wöllstein (Rheinhessen)

1935 Ordination in der Mainzer Christuskirche

1935-1940 Pfarrverwalter der Evangelischen Kirchengemeinde in Bechtolsheim (Rheinhessen)

1935 Heirat mit Gertrud Bender (vier Kinder)

1940-1949 Pfarrer in Bechtolsheim (unterbrochen durch Kriegsdienst/Kriegsgefangenschaft)

1940-1945 Kriegsdienst (Luftwaffe, Wehrmachtspfarrer) und (französische) Kriegsgefangenschaft

1949-1973 Pfarrer der Evangelischen Michaelsgemeinde in Darmstadt

1949-1970 Vorsitzender des Evangelischen Bundes in Darmstadt

1952-1964 Mitglied der Synode der EKHN (laut anderer Angaben: 1949-1967)

1952-1958 Vorsitzender des Vorstands der „Vereinigten Martinsgemeinde“, Initiator mehrerer Bau-

maßnahmen (darunter Komplex Michaelskirche)

1952-1970 Dekan des Evangelischen Dekanats Darmstadt-Stadt

Ab 1953 Mitglied im Verwaltungsrat des Hessischen Diakonievereins (Diakonie)

1954 unter den Erstunterzeichnern der Gründung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammen-

arbeit in Darmstadt

1973 Pfarrer im Ruhestand

1973-1976 Mitarbeit bei der Aktion „Essen auf Rädern“ in Darmstadt

1976-1978 vertretungsweise Pfarrdienst in der Evangelischen Petrusgemeinde in Darmstadt

1978-1979 vertretungsweise Pfarrdienst in der Evangelischen Auferstehungsgemeinde in Darmstadt-

Arheilgen

1979-1987 Veröffentlichungen unter „Erlebtes und Erlauschtes in Poesie und Prosa“ („Ernst und hei-

ter und so weiter“ 1979, „Besinnliches und Fröhliches“ 1981, „Frisch, fromm, fröhlich, frei“ 1987)

† 26. Oktober 1990 in Darmstadt

Ehrungen:

1970 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1976 Kronenkreuz in Gold des Diakonischen Werks

1987 Bundesverdienstkreuz

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Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Stühlinger, der seit 1949 als Pfarrer und später als Dekan in Darmstadt wirkte und

vor allem in der Michaelsgemeinde Spuren hinterlassen hat, schloss in der NS-Zeit seine

Ausbildung zum evangelischen Pfarrer ab und arbeitet als Gemeinde- und Kriegspfarrer.

Stühlinger war seit 1933 Mitglied der NSDAP.

Zu Beginn der NS-Zeit beendete Stühlinger sein Studium der Evangelischen Theologie in Göt-

tingen, wo er als Assistent seines Lehrers Prof. Carl Stange, eines konservativ-lutherischen

Theologen, wirkte. Er besuchte anschließend das Predigerseminar in Friedberg (Oberhes-

sen), ging 1934 zum Abschluss seiner Ausbildung (Lehrvikariat) nach Wöllstein (Rheinhessen)

und wurde im Mai 1935 in der Christuskirche zu Mainz ordiniert. Daraufhin wechselte er

zunächst als Pfarrverwalter, später als Pfarrer an die evangelische Kirchengemeinde im nahe

gelegenen Bechtolsheim (Rheinhessen, heute wie Wöllstein Landkreis Alzey-Worms), wo er

schließlich bis 1949 wirken sollte. Im November 1935 heiratete er Gertrud Bender.

Unterbrochen wurde seine Tätigkeit als Gemeindepfarrer durch seinen Militärdienst im

Zweiten Weltkrieg (zum Folgenden Deutsche Dienststelle [WASt], Personenrecherche): Stüh-

linger war Anfang 1940 einem Truppenteil der Luftwaffe zugeordnet (laut Meldung vom

08.02.1940: Landesschützenkompanie 2/XII der Luftwaffe). Im Februar 1942 trat er von der

„Flakhorst-Kompanie (E) Darmstadt“ in den „Stab Kriegslazarett-Abteilung (mot.) 607“ mit

Einsatzraum Südrussland (Meldung vom 16.02.1942). Im November 1943 wurde als seine

Dienststellung „Kriegspfarrer“ vermerkt (Meldung vom 05.11.1943; in welchem Zeitraum er

als Kriegspfarrer tätig war, ist unklar). 1944/45 operierte sein Truppenteil (4./Kriegslazarett-

Abteilung [mot.] 607) am Oberrhein; laut Presseberichten nach 1945 geriet Stühlinger in

französische Kriegsgefangenschaft, aus der er noch 1945 wieder nach Bechtolsheim zurück-

kehrte.

Wilhelm Stühlinger trat 1933, noch als Student in Göttingen, der NSDAP bei (Eintritt:

01.05.1933, Mitglieds-Nr.: 3185158, BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei; zwischen

der Ortsgruppe Göttingen und der Ortsgruppe Bechtolsheim findet sich der Eintrag „Orts-

gruppe Friedberg Gau Schlesien“; dabei dürfte es sich um eine falsche Gaubezeichnung han-

deln, was der Besuch des Predigerseminars in Friedberg [Oberhessen] nahelegt).

Nach 1945 gab Stühlinger an, dass er 1937 wegen seiner Tätigkeit für den Evangelischen

Bund angezeigt worden sei und ab 1938 keinen Religionsunterricht mehr habe halten dürfen

(Zentralarchiv der EKHN, Personalakte). Beide Angaben ließen sich nicht verifizieren, zumal

das Protokollbuch der Evangelischen Kirchengemeinde Bechtolsheim nicht tradiert wurde:

Laut Vermerk von Stühlinger im Protokollbuch nach 1945 lag das Buch seit Kriegsende nicht

mehr vor (Auskunft von Pfarrer Markus Krieger, Bechtolsheim, vom 29.06.2017).

Es ließen sich keine Entnazifizierungsdokumente zu Wilhelm Stühlinger recherchieren; eine

Anfrage beim Staatsarchiv Koblenz, zuständig für Bechtolsheim, blieb ohne Ergebnis.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

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Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

Zentralarchiv der EKHN, Personalakte

HStAD, R 12 P Nr. 6459

Evangelische Kirchengemeinden Bechtolsheim, Biebelnheim, Ensheim & Spiesheim

StadtA DA, ST 61 Stühlinger, Wilhelm

Literatur:

Gunkel, Hermann: Stühlinger, Wilhelm. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 903.

Lange, Thomas: „… im weitesten Sinn all derer, die guten Willens sind“. Die ersten Jahrzehnte der

GCJV Darmstadt. In: Ders./Triebel, Lothar (Hrsg.): „Geh nicht den alten Weg zurück!“ Festschrift zum

sechzigjährigen Bestehen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 1954-2014, S. 17-

49.

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Christine-Teusch-Weg (G 9), benannt 2001 nach

Christine Teusch (1888-1968)

Politikerin und Lehrerin

* 11. Oktober 1888 in Köln-Ehrenfeld

Katholische Schulbildung in Köln

1910 Lehrerinnenexamen

1910-1913 Oberlehrerin am Lyzeum Marienberg in Neuss

1913 Rektorenprüfung in Koblenz

1913-1917 im Schuldienst der Stadt Köln

1915-1917 Vorsitzende des „Katholischen Lehrerinnenvereins“ des Bezirksverbands Köln

1917 Beurlaubung von der Lehrtätigkeit: Leitung einer Nebenstelle für Frauenarbeit bei der Militär-

verwaltung in Essen (zuständig für Rüstungsarbeiterinnen)

Seit 1918 Tätigkeiten in der katholischen Frauen- und Gewerkschaftsarbeit

1918 Verbandssekretärin des neu gegründeten Frauendezernats in der Kölner Zentrale des „Gesamt-

verbandes der christlichen Gewerkschaften"

1919 Wahl in die verfassungsgebende Weimarer Nationalversammlung (als jüngstes Mitglied und als

eine von sechs Frauen des Zentrums)

1920-1933 Mitglied des Reichstags für das Zentrum (Mitglied des Sozialpolitischen Ausschusses, als

Schriftführerin berufen in das Präsidium des Reichstags)

1923-1965 Vorsitzende des Deutschen Nationalverbands der Katholischen Mädchenschutzvereine

mit Sitz in Freiburg im Breisgau

1933-1936 Rückkehr in die Lehrtätigkeit nach Auflösung des Reichstags: Volksschullehrerin in Köln

1936 vorzeitige Pensionierung (offiziell aus gesundheitlichen Gründen)

1945 Mitglied der CDU (Landesvorstand Rheinland)

1946 Vorstandsmitglied der CDU in der britischen Besatzungszone

1946 „Die christliche Frau im politischen Zeitgeschehen“

1946/47-1966 Landtagsabgeordnete in NRW

1947-1954 Kultusministerin von NRW (als zweite Frau in Deutschland Ministerin auf Landesebene)

1953 Leitung der Kultusministerkonferenz

Mitbegründerin der „Studienstiftung des Deutschen Volkes“, des „Deutschen Akademischen Aus-

tauschdienstes“ sowie der „Forschungsgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“

† 24. Oktober 1968 in Köln

Ehrungen:

1954 Ehrensenator[in] der RWTH Aachen

1956 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der BRD (als erste Frau)

1963 Ehrenbürgerin der Universität Köln

Benennung zahlreicher Straßen und Plätze (insbesondere in NRW)

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Wirken in der NS-Zeit

Christine Teusch, über Jahrzehnte in der katholischen Frauen- und Gewerkschaftsarbeit täti-

ge Politikerin und Lehrerin, erste Kultusministerin Nordrhein-Westfalens (1947-1954), muss-

te während der NS-Zeit ihre politische Arbeit als Reichstagsabgeordnete aufgeben, war aber

weiter im karitativen Bereich tätig.

Die folgenden Informationen stützen sich weitgehend auf die „politische Biografie“ zu Chris-

tine Teusch, die 2014 von Kathrin Zehender auf Basis einer Dissertation erschien. Zehender

hatte noch die Gelegenheit, den Nachlass von Teusch im Historischen Archiv der Stadt Köln

auszuwerten, bevor dieser nach dem Einsturz des Gebäudes 2009 zu großen Teilen zerstört

wurde bzw. bis heute nicht mehr zugänglich ist.

Teusch war seit Bestehen des Reichstags 1920 dessen Mitglied für das Zentrum, die Partei

des politischen Katholizismus‘. Sie engagierte sich besonders in sozialpolitischen Fragen, war

Mitglied des Sozialpolitischen Ausschusses (stellvertretende Vorsitzende) und als Schriftfüh-

rerin berufen in das Präsidium des Reichstags. Sie konnte ihr Mandat bis zuletzt behaupten,

wurde sogar am 21. März 1933 nochmals als Schriftführerin in das Präsidium des Reichstags

gewählt. Bei der Abstimmung über das umstrittene „Ermächtigungsgesetz“ soll sie intern

dagegen votiert haben, schloss sich dann aber – wie alle ihre Parteikollegen – der Mehrheit

innerhalb der Fraktion an, die schließlich geschlossen dafür stimmte.

Nach der Gleichschaltung des Reichstags durch das NS-Regime und der erzwungenen Selbst-

auflösung der Zentrumspartei im Juli 1933 war Christine Teuschs politische Karriere zunächst

beendet – und eine für sie schwierige Zeit begann, wie ihre Biografin konstatierte:

„Das Dritte Reich wurde für Christine Teusch zur Leidenszeit. Das Ende des politischen Katholizismus,

die Verfolgung von Katholiken, insbesondere der Beamten, und die massiven Einschränkungen in der

katholischen Verbandsarbeit waren für sie nur schwer zu verkraften. Auch persönlich erging es ihr

nicht gut. Sie musste Verhöre, Hausdurchsuchungen und Drohungen des NS-Regimes ertragen. All

dies zehrte an ihrer Gesundheit, um die es schon in den 1920er Jahren nicht gut bestellt war“ (Ze-

hender, S. 95).

Anfang April 1933 erreichte Teusch ein Schreiben, das ihre Wiedereinberufung in den Kölner

Schuldienst in Aussicht stellte, da der Reichstag „bis auf weiteres beurlaubt“ sei (Zehnder,

S. 95). Laut des Schreibens war ihr Dienstantritt für Herbst 1933 avisiert; in persönlichen

Aufzeichnungen fanden sich bereits vor den Sommerferien Einträge, die auf Tätigkeiten im

schulischen Lehrbetrieb verwiesen. In ihrem Nachlass fanden sich zudem zahlreiche Krank-

meldungen dokumentiert, teils über längere Zeiträume. Im Frühjahr 1934 musste Teusch

Durchsuchungen erdulden (zeitlebens unverheiratet, lebte sie zusammen mit ihrer Zwillings-

schwester Käthe in einer Wohnung in Köln-Ehrenfeld) sowie Verhöre seitens der Gestapo

ertragen. Daraufhin wurde sie in den Kölner Vorort Worringen (straf-)versetzt, konnte aber

über den Kontakt zu einer Schulrätin eine Rückversetzung in ihren Heimat-Stadtteil Köln-

Ehrenfeld erwirken (Juni 1934). „Als prominente Vertreterin des politischen Katholizismus

und bekannte Verfechterin der Weimarer Republik war Teusch von Anfang an dem Terror

des NS-Regimes ausgesetzt“, resümierte Zehnder nach Studium des Teusch’chen Nachlasses

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(S. 96). In Folge wiederholter Krankmeldungen bzw. Kuraufenthalte und einer amtsärztlichen

Untersuchung (Herbst 1935) wurde Teusch schließlich zum 1. Juni 1936 wegen Dienstunfä-

higkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt (im Alter von 47 Jahren).

Kathrin Zehender äußerte Zweifel daran, dass Teuschs schlechter Gesundheitszustand allein

für die Dienstunfähigkeit verantwortlich zu machen sei (S. 98, 103). Sie begründete ihre

Zweifel mit der regen Arbeits- und Reisetätigkeit, die Teusch auch weiterhin etwa im Rah-

men ihrer Funktionen als Vorsitzende des Deutschen Nationalverbands der Katholischen Mäd-

chenschutzvereine und anderer katholischer Verbände wahrnahm (belegbar anhand von Kalen-

dereintragungen). Daher könne auch von „innerer Emigration“ und einem völlig zurückgezo-

genen Leben Teuschs, wie in der Literatur wiederholt zu lesen ist (exemplarisch Eich, S. 85;

Morsey, S. 205), nicht die Rede sein. Trotz einschneidender Maßnahmen seitens des NS-

Regimes gegen die katholische Verbandsarbeit zugunsten von NS-Organisationen (dem

Mädchenschutz wurden etwa Stellenvermittlungen untersagt, die Bahnhofsmission aufge-

löst, ebenso weitere katholische Verbände), blieb Teusch in führender Funktion intensiv in

die Arbeit etwa des Mädchenschutzes involviert. Zu ihrem engen Kreis an Bezugspersonen

(zu denen sie teils über die gesamte NS-Zeit in regelmäßigem Kontakt stand) gehörten auch

Personen des (katholischen) Widerstands gegen das NS-System. Es ließe sich daraus aller-

dings kein aktiver Widerstand gegen das NS-Regime rekonstruieren:

„Weder die erschwerten Bedingungen durch die NS-Herrschaft noch Drohungen, Verfolgung oder die

Kriegswirren konnten Christine Teusch daran hindern, sämtliche Kontakte innerhalb des Verbandska-

tholizismus aufrecht zu erhalten und nach wie vor reichsweit tätig zu sein. Dabei ging es primär da-

rum, die katholischen Verbände im Nationalsozialismus, aber nicht etwa gegen ihn zu erhalten. So

leistete Teusch in erster Linie ‚passiven Widerstand‘. Mit katholischen Widerstandskreisen stand sie

allenfalls indirekt über dessen Mitglieder in Kontakt“ (Zehender, S. 99, Hervorhebung im Original; vgl.

auch Lauterer, S. 245 f.).

Selbst während des Krieges wurden Konferenzen und Tagungen abgehalten, an deren Pla-

nung und Durchführung Teusch beteiligt war.

Gemeinsam mit ihrer Schwester Käthe reiste Teusch während der Kriegszeit zu teils längeren

Erholungsaufenthalten, etwa nach Heigenbrücken (Spessart), St. Peter (Schwarzwald), Sim-

pelveld (Niederlande), Prüm (Eifel) und Reit im Winkel. Häufig hielt sie sich vor Ort in kirchli-

chen Einrichtungen auf (Klöstern etc.), wo sie als ehemalige Zentrumspolitikerin und Vor-

standsmitglied unterschiedlicher katholischer Verbände gern gesehen war.

Die letzten Kriegsmonate verbrachte Teusch im Karolinen-Hospital in Neheim-Hüsten. Der

Grund für den Aufenthalt ist in der Literatur umstritten (vgl. Zehender, S. 111 f.; Lauterer,

S. 246 f.): Sie soll dort mit ihrer Zwillingsschwester nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 un-

tergetaucht sein; es gibt auch Hinweise (Briefe und Berichte Dritter) die nahe legen, dass

Teusch dort zumindest die letzte Zeit vor Kriegsende in sogenannter „Schutzhaft“ verbrach-

te, ja sogar von der SS umgebracht werden sollte. Andere Autoren gehen hingegen davon

aus, Teusch habe sich nicht aufgrund politischer Verfolgung nach Neheim-Hüsten begeben,

sondern da sich ihre Schwester (bei einem Bombenangriff auf Köln verletzt) im dortigen

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389

Hospital zur Genesung aufhielt. Teusch habe demnach ihren Aufenthalt erst nach 1945 ent-

sprechend umgedeutet:

„Auch kann von einer Verhaftung, wie sie bei Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen schon 1933

gang und gäbe war, keine Rede sein. Teusch stellte später ihr Leben in der beschützenden Klausur

des Franziskanerklosters sinnentstellend als Schutzhaft dar. Diese Stilisierung korrespondiert mit dem

angeblichen Mordversuch der SS unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner […]“ (Lauterer,

S. 246 f., Hervorhebung im Original).

Christine Teuschs Entnazifizierungsakte liegt im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen vor [bis-

lang nicht eingesehen].

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, Bestand NW 1049 (Hauptausschuss Regierungs-

bezirk Köln) Nr. 18438 [NICHT eingesehen]

Literatur:

Eich, Klaus-Peter: Schulpolitik in Nordrhein-Westfalen 1945-1954. Düsseldorf 1987.

Küppers, Heinrich: Christine Teusch. In: Heyen, Franz-Josef (Hrsg.): Rheinische Lebensbilder. Köln

1997, S. 197-215.

Morsey, Rudolf: Christine Teusch (1888-1968). In: Fürst, Walter (Hrsg.): Aus dreißig Jahren. Rheinisch-

Westfälische Politikerporträts. Köln 1979, S. 202-209.

Lauterer, Heide-Marie: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19-1949. Königstein im Taunus

2002.

Zehender, Kathrin: Christine Teusch. Eine politische Biografie. Düsseldorf 2014.

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390

Thießweg (J 9), benannt 1981 nach

Frank Thiess (1890-1977)

Schriftsteller

* 13. März 1890 auf Gut Eluisenstein bei Uexküll (in der Nähe von Riga, heute Lettland)

1893 Emigration der Familie nach Berlin

Schulzeit in Berlin (mehrfacher Schulwechsel) und Aschersleben

Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Berlin und Tübingen

1913/14 Promotion, „Die Stellung der Schwaben zu Goethe“

1915 im April kurzzeitiger Einzug als Armierungssoldat an die Ostfront, bereits im Mai „untauglich“

entlassen

1915 Heirat mit einer Lehrerin (Trennung 1919)

1916-1919 Redaktionsassistenz beim Berliner Tagblatt sowie weitere journalistische und schriftstelle-

rische Tätigkeiten

1919/20 Aufenthalt in München, Mittenwald und Berlin

1920/21 Dramaturg an der Volksbühne in Stuttgart

1921 „Der Tod von Falern“ (Romandebut)

1921-1923 Theaterkritiker beim „Hannoverschen Anzeiger“

1922 Heirat mit Florence Losey (zweite Ehe)

Seit 1923 freier Schriftsteller in Berlin und am Steinhuder Meer

1923 „Die Verdammten“

1924-1931 Romanzyklus „Jugend“ („Der Leibhaftige“, „Das Tor zur Welt“, „Abschied vom Paradies“,

„Der Zentaur“)

1927 „Frauenraub“

1933 „Die Verdammten“ und „Frauenraub“ auf „Lister der unerwünschten Literatur“

1933 „Johanna und Esther“

1934 „Der Weg zu Isabelle“ (verfilmt 1939 unter dem Titel „Der Weg zu Isabel“)

1935 „Der ewige Taugenichts“ (Bühnenstück)

1936 „Tsushima“

1937 „Stürmischer Frühling“

1938-1945 Tätigkeiten wie Drehbücher für UFA-Filmproduktionen

1941 „Das Reich der Dämonen“

1941 Heirat mit Yvonne de Juge (dritte Ehe) in Rom (ein Kind)

1942/1946 Doppelroman über Caruso: „Neapolitanische Legende“ und „Caruso in Sorrent“

1944 Geburt der Tochter Irene in Wien

1945-1952 Aufenthalt in Bremen(-Oberneuland)

1945 sogenannte „große Kontroverse“ mit Thomas Mann über die „innere Emigration“

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1947-1975 umfangreiches literarisches Werk

1950 Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

1952 Umzug nach Darmstadt, wo er bis zu seinem Tod lebte und wirkte

1952-1953 Herausgeber der Zeitschrift „Neue Literarische Welt“

1955 Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Leiter der Litera-

turklasse

† 22. Dezember 1977 in Darmstadt

Ehrungen:

1950 Ehrenmitglied des Schutzverbands deutscher Autoren

1955 Großes Verdienstkreuz der BRD

1955 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt (erster Träger)

1960 Silberne Verdienstplakette der Stadt Darmstadt

1961 Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich

1968 Goethe-Plakette des Landes Hessen

1968 Konrad-Adenauer-Preis

Wirken in der NS-Zeit

Frank Thiess, Schriftsteller und „Drahtzieher im Literaturbetrieb“, der von 1952 bis zu seinem

Tod 1977 in Darmstadt lebte, wirkte in der NS-Zeit einerseits als Autor sehr erfolgreicher (in

hoher Auflage veröffentlichter) Bücher, der zumindest anfangs versuchte, seine Arbeit dem

NS-Regime anzupassen bzw. Kontakte zu seinen Gunsten zu nutzen, andererseits waren ein-

zelne seiner Werke verboten, manche konnten als regimekritisch gelesen werden. Thiess

war in der Nachkriegszeit umstritten und geriet aufgrund von Veröffentlichungen in den

1960er Jahren erneut in die Kritik.

„In der Tat handelt es sich bei Thiess‘ antibolschewistischen, antidemokratischen, elitären und orga-

nisch geprägten Vorstellungen sowie seinem Bekenntnis zur christlich-abendländischen, humanisti-

schen Tradition um konservativ-revolutionäres Gedankengut“ (Wolf, S. 308, in Bezug auf Thiess‘ Ro-

man „Das Reich der Dämonen“, annähernd Wortgleich schon Westenfelder, S. 286).

Die (Forschungs-)Literatur zum Autor Frank Thiess und zu dessen Wirken in der NS-Zeit ist

umfangreich wie uneinheitlich: Deutungen schwanken von (verdecktem) Widerstand gegen

das NS-Regime bis hin zu dessen offensichtlicher Unterstützung. Yvonne Wolf stellte in ihrer

Dissertation zu „Frank Thiess und der Nationalsozialismus“ in den „historischen Werken“ des

Autors (auf deren Untersuchung ihre Analyse basierte) ein „ambivalentes Changieren zwi-

schen völkisch-nationalen und NS-kritischen Positionen“ fest (Wolf, S. 9). Helmut Böttiger,

der sowohl den Nachlass von Frank Thiess in der ULB auswertete (Stand: 2009) wie Doku-

mente im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (darunter Thiess‘ Tagebuch aus dem Jahr

1945) kam zu folgendem Schluss:

„Es fällt auf, dass die Grundlinien des Thiess’schen Denkens immer dieselben bleiben, ob in der Wei-

marer Republik, dem ‚Dritten Reich‘ oder in der Nachkriegszeit und in der Bundesrepublik: Immer

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geht es um das aristokratische Prinzip des ‚Geistes‘, der eine Führungsrolle übernehmen soll, und um

eine Beschwörung der Gefahr, die von der Masse ausgeht“ (Böttiger, S. 32).

Thiess ließe sich zu den Anhängern einer „konservativen Revolution“ zählen, die während

der Weimarer Republik die parlamentarische Demokratie vehement ablehnten und in gewis-

ser Weise dem Nationalsozialismus den Weg ebneten. Er war aber weder Mitglied der

NSDAP noch schien er deren Auftreten zu goutieren:

„Doch die Nazis, die konkrete Ausformung der völkisch-antidemokratischen Strömungen der Weima-

rer Zeit, waren Thiess durchaus unsympathisch. Seine Haltung war zu elitär für die kleinbürgerlich-

pöbelhaften Massen und die krakeelenden NSDAP-Funktionäre, er fühlte sich von ihnen abgestoßen.

Das ‚Geistige‘, die ‚deutsche Kultur‘ waren für ihn die obersten Werte“ (Böttiger, S. 16).

Es ließen sich aber durchaus Belege dafür auffinden, dass Thiess zumindest bis 1936 Mittel

und Wege zu finden suchte (und auch fand), um weiterhin schriftstellerisch tätig zu sein bzw.

publiziert werden zu dürfen – und dabei zu (ausformulierten) Konzessionen an das NS-

Regime bereit war.

Als Beispiel, das auch in der Literatur häufig genannt wurde, dient das von Frank Thiess ver-

fasste Vorwort zur 1933 erschienen Neuauflage seines 1924 publizierten Romans „Der Leib-

haftige“, erster Band seines Romanzyklus‘ „Jugend“ (in der Neuauflage S. 9-15, Vorwort zur

„vom Dichter durchgesehenen Sonderausgabe“ in Auszügen auch bei Loewy, S. 199 f.). Darin

deutete Thiess den Text in unterschiedlichen Dimensionen als anknüpfungsfähig an den Na-

tionalsozialismus, gab nachträglich denjenigen Recht, die ihn als „antisemitischen Roman“

lasen (vgl. auch Deppert, S. 919) und rief dazu auf, „mit ausgekehrtem Herzen in ein neues

Zeitalter aufzubrechen!“. Von der Kritik (vgl. etwa Grimm, S. 44), so ist in der Literatur zu

lesen, sei stets übersehen worden, dass der Verlag Zsolnay das Vorwort initiiert und Thiess

„offenbar nolens volens mitgespielt“ habe, um weiter veröffentlichen zu dürfen (Anger-

mann, S. 249 und 260, Zitat S. 260, beim Sachverhalt rekurrierend auf Wolf, S. 4). Thiess

selbst allerdings nannte in einem Brief an Staatsrat Hans Hinkel vom Oktober 1934 „Die

Leibhaftigen“ als einen jener Romane, aufgrund derer er sich „den unauslöschlichen Hass

der jüdischen Literatenschaft und der jüdischen Presse zugezogen hatte, während sie zu-

gleich in ihrer Art als geistige Wegbereiter des neuen Deutschland ihre Aufgabe erfüllen

durften“:

„Ich habe 1924 im ‚Leibhaftigen‘ im ersten Zeitroman der Nachkriegsliteratur so rücksichtslos die

Mechanisierung und Verjudung des deutschen Denkens dargestellt, dass ich mir damit fast die ge-

samte Linkspresse zu entrüsteten Feinden machte“ (beide Zitate 26.10.1934, Frank Thiess, an Staats-

rat Hans Hinkel, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/11407).

Die „unverwechselbare Deutschheit“ seiner Bücher, so Thiess weiter, sei über die Grenzen

des „Dritten Reichs“ wahrgenommen und erkannt worden:

„Diese Bücher hatten zur Folge, dass man mich als typischen Vertreter des neuen Deutschland zu

Vorträgen ins Ausland rief, wo ich mehr als irgend ein anderer für das Verstehen des nationalsozialis-

tischen Gedankengutes wirken konnte“ (26.10.1934, Frank Thiess, an Staatsrat Hans Hinkel, BArch

Berlin, BDC, R 9361-V/11407).

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Mehrfach wandte sich Thiess bei Problemen an Staatsrat/Staatskommissar Hans Hinkel (vgl.

Dokumente in RKK-Akte Thiess, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/11407 sowie im Deutschen Lite-

raturarchiv in Marbach, vgl. zu Letzteren Böttiger, S. 17), wiederholt setzte sich Hinkel (er-

folgreich) für den Autor ein. Mit einem Brief vom 30. Januar 1936 bedankte sich Thiess bei

Hinkel dafür, dass dieser „schon soviel Gutes für mich getan“ habe und bat erneut um Unter-

stützung, diesmal hinsichtlich der noch nicht endgültig genehmigten Aufführung eines Büh-

nenstücks („Der ewige Taugenichts“). Hans Hinkel, seit 1933 Reichsorganisationsleiter des

Kampfbundes für deutsche Kultur und Dritter Geschäftsführer der Reichskulturkammer, war

zu der Zeit im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda als Sonderbeauftrag-

ter für „Kulturpersonalien“ zuständig („Sonderreferat Hinkel – Judenfragen“) und zeichnete

damit maßgeblich für die „Entjudung“ des deutschen Kulturbetriebs verantwortlich.

Wenngleich zwei von Thiess‘ Werken 1933 auf die „Liste der unerwünschten Literatur“ ge-

setzt worden waren („Die Verdammten“ und „Frauenraub“), ist „ein Totalverbot der Werke

von Thiess […] nicht ergangen und auch nicht zur Durchführung gelangt“ (05.09.1935, [Ru-

dolf] Erckmann an Staatskommissar Hinkel, im Haus [Reichsministerium für Volksaufklärung

und Propaganda], BArch Berlin, BDC, R 9361-V/11407). Die Reichsstelle zur Förderung des

deutschen Schrifttums sah Thiess offensichtlich kritisch; laut Hinkel hatte sie ein Totalverbot

dessen Werks angestrebt. Thiess‘ Publikationen wurden aber von Fall zu Fall geprüft, wie es

hieß, und es gab zunächst keine Beanstandungen bezüglich der nach 1933 verfassten Texte.

Zumindest für eine Förderung von Thiess sahen allerdings auch andere NS-Stellen keinen

Grund:

„Ein Anlaß zur Förderung von Thiess bestand auf der anderen Seite nicht, da seine Probleme, seine

Darstellungen und seine Diktion so stark den Charakter des individualistischen liberalen Zeitalters

tragen, daß er nicht als einer der vorwärtsweisenden Autoren angesehen werden kann“ (05.09.1935,

[Rudolf] Erckmann an Staatskommissar Hinkel, BArch Berlin, BDC, R 9361-V/11407).

In seinem bereits erwähnten Schreiben an Hans Hinkel vom Oktober 1934 begründete Thiess

gegenüber dem Staatskommissar auch seine Nicht-Mitgliedschaft in der NSDAP:

„Um endlich auch die negativen Seite[n] dieser Angelegenheit zu berühren, so lag der Grund, der

mich verhinderte, in die Partei einzutreten, lediglich darin, dass ich seit 1920 öffentlich gegen das

Parteiensystem als solches Stellung genommen hatte und einen Mangel an Folgerichtigkeit darin

erblickte, in die NSDAP einzutreten, so lange sie sich ‚Partei‘ nannte. Dazu kam, dass die Bildung der

Harzburger Front mich plötzlich ein Zusammengehen mit der Reaktion fürchten liess, wogegen ich

große Bedenken hatte. Dass dem Führer trotzdem das grosse politisch-taktische Manöver ohne

Preisgabe seiner Ziele gelang, darf uns heute nicht veranlassen, die, welche einst darum bangten, als

Gegner abzulehnen“ (26.10.1934, Frank Thiess, an Staatsrat Hans Hinkel, BArch Berlin, BDC, R 9361-

V/11407).

Thiess konnte 1936 den Roman „Tsushima“ über den russisch-japanischen Seekrieg 1905

veröffentlichen – der schließlich in hunderttausender Auflage publiziert und zum größten

Verkaufserfolg für Thiess überhaupt wurde –, „kein faschistisches oder nationalsozialisti-

sches Buch, doch ein Werk, das die beiden unter dem Nationalsozialismus protegierten Gen-

res des historischen und des Kriegsromans in sich vereinte“ und den Anforderungen des

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Marktes genügte (Wolf, S. 184, ausführlich dazu S. 125-185). Reinhold Grimm vertrat 1972

die Auffassung, dass zumindest dieser Roman keineswegs als Beitrag zur „inneren Emigrati-

on“ gelesen werden könnte (Grimm, S. 45 f.).

In der Literatur ebenfalls umfangreich diskutiert wurde Thiess‘ 1939 begonnener und 1941

veröffentlichter Roman „Das Reich der Dämonen“ (etwa Wolf, S. 186-308, Helbig 2000, Hel-

big 2005, S. 143-148, Angermann, S. 251 f.). Er wurde teils als „sehr bedeutendes Werk der

literarischen ‚Inneren Emigration‘“ bewertet (Angermann, S. 252), das einen „erheblichen

Grad an Oppositionsgeist offenbaren“ würde (Helbig 2005, S. 146). Häufig wurde in der Lite-

ratur darauf verwiesen, dass das Werk, dessen erste Auflage rasch vergriffen war, vom NS-

Regime schließlich verboten wurde (so etwa Loewy, S. 325). Marcus Hajduk hingegen vertrat

die These, das Buch sei nie verboten, sondern lediglich ein Besprechungsverbot durch das

Amt Rosenberg ausgesprochen worden – das wiederum auch nur einen Monat währte

(Hajduk, S. 396). Thiess selbst habe, so Hajduk unter Berufung auf Barbian (Barbian, S. 413),

in seiner Selbstinszenierung als Opfer des NS-Regimes das Verbot in die Welt gesetzt. Als

erwiesen erscheint zumindest, dass das Werk nicht – wie Thiess behauptete – „prompt nach

Erscheinen des Werkes“ verboten wurde (Thiess 1972, S. 133). Thiess hatte den Roman spä-

ter als „Geschichtswerk des Widerstands“ bezeichnet (Thiess 1972, S. 135). Louis Ferdinand

Helbig kam am Ende seiner ausführlichen Erörterungen (Helbig 2000) zu folgendem Schluss:

„Sein Roman ‚Das Reich der Dämonen‘ verdient das Prädikat ‚Geschichtswerk des Widerstands‘ und

er als Schöpfer Anerkennung dafür, die Notwendigkeit zum Widerstand bewußt gemacht zu haben,

denn geistiger Widerstand beginnt stets mit Bewußtsein“ (Helbig 2000, S. 126).

Andere Autoren urteilten zurückhaltender, da in besagtem Werk kein Aufruf zum Wider-

stand gegen ein – wie auch immer geartetes – Unrechtssystem zu lesen sei (vgl. etwa Wes-

tenfelder, S. 280-288). Grimm machte darauf aufmerksam, dass viele derjenigen Stellen, die

tatsächlich als „regimekritisch“ angesehen werden könnten, erst in den Auflagen nach 1945

eingefügt wurden, nicht aber in den ersten beiden Auflagen zu finden waren („1.-10. Ts.“

und „10.-31. Ts.“), welche in der NS-Zeit erschienen (Grimm, S. 43).

Norbert Angermann, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte und ausgewiese-

ner Fachmann für die mittelalterliche Geschichte des Baltikums, der sich 2008 in seinem Auf-

satz „Frank Thiess und der Nationalsozialismus“ mit dem Wirken von Thiess in der NS-Zeit

auseinandersetzte, bewertete „Das Reich der Dämonen“ ebenfalls als „regimekritisch“. An-

germann gelangte nach der Auswertung umfangreichen Quellenmaterials (darunter der

Thiess’sche Nachlass in der ULB Darmstadt) zu folgender Beurteilung:

„Als Ergebnis der vorliegenden Materialzusammenstellung kann aber festgehalten werden, daß

Thiess das nationalsozialistische Regime entschieden ablehnte. Dieses Bild läßt sich auch durch Publi-

kationen aus der Nachkriegszeit bestätigen, in denen der Autor immer wieder seinen Abscheu vor

Hitler und dessen Schergen zum Ausdruck bringt“ (Angermann, S. 255).

Angermann, der auch andere Romane von Thiess als „regimekritisch“ deutete, verwies unter

anderem auf das maschinenschriftliche, unveröffentlichte Manuskript „Wie war es mög-

lich?“ aus dem Nachlass Frank Thiess der ULB Darmstadt (undatiert, vermutlich gegen

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395

Kriegsende verfasst), in dem Thiess auf die totalitäre Kontrolle während des „Dritten Reichs“

verwies und damit in gewisser Weise auch seine „Flucht“ in die „innere Emigration“ legiti-

mierte (vgl. ausführlicher Angermann, S. 255 f.). – Kürzlich gelangten neue Quellen in den

Nachlass der ULB (der derzeit neu verzeichnet wird), darunter Tagebücher von Frank Thiess

aus den 1930er Jahren. Norbert Angermann fand nach Auswertung der Tagebücher aus den

Jahren 1933-1935 sich in seiner früheren Beurteilung von Frank Thiess‘ Einstellung zum Na-

tionalsozialismus bestätigt: Anfangs habe Thiess die „klaren Verhältnisse“ nach der „Macht-

ergreifung“ zwar begrüßt, doch noch 1933 (und in der Folgezeit verstärkt) habe er sich in

den Tagebüchern deutlich kritisch gegenüber dem NS-Regime geäußert (laut Gespräch mit

Norbert Angermann am 11.06.2017 in Darmstadt). Eine kritische Auswertung des erweiter-

ten Nachlasses steht noch aus.

Auf den ersten Blick überraschend erscheint, dass Thiess gleichzeitig mit so unterschiedli-

chen Personen wie dem Philosophen Hermann Graf Keyserling und dem Monarchisten Fried-

rich Reck-Malleczewen befreundet war sowie mit dem linken Revolutionär Kurt Hiller; es

verbanden die Genannten mit Thiess „die gemeinsamen vitalistischen und aristokratischen

Züge“ (so Böttiger, S. 18). Am verblüffendsten aus heutiger Sicht erscheint jedoch die lang-

jährige und intensive Freundschaft mit dem jüdischen Schriftsteller Hermann Broch, in dem

Thiess nach 1945 fraglos einen integren Fürsprecher hatte. Broch, der sich 1938 zur Emigra-

tion aus Österreich (über Großbritannien in die USA) gezwungen sah, stand mit Thiess bis

1938 und dann wieder ab 1948 in regem Briefkontakt (große Teile in ULB Darmstadt, Nach-

lass Frank Thiess). Der überlieferte Briefwechsel (rund 200 Briefe) gibt Aufschluss darüber,

wie sich Thiess gegenüber Broch – der die Machtübernahme der Nationalsozialisten von Be-

ginn an als Katastrophe wahrnahm – zum NS-Regime äußerte:

„Die deutsche Situation sehe ich nicht so verzweifelt an wie sie. Sie werden sich auch darüber klar

sein, dass rein politisch gesehen ein großer Fortschritt dadurch zustande gebracht wurde, dass end-

lich klare Verhältnisse, scharf akzentuierte Fronten geschaffen worden sind. Den Weg des radikalen

Nationalstaates mussten wir gehen, nachdem die deutschen Kommunisten dumm genug gewesen

sind, die Zeichen der Zeit nicht zu begreifen und starr bei ihrem Parteischema und den Dogmen der

III. Internationalen blieben“ (Brief von Thiess an Broch vom 18.03.1933, zitiert nach Böttiger, S. 20).

Spätere Briefe können als Hinweis darauf gelesen werden, dass Thiess dem Nationalsozia-

lismus ablehnend gegenüberstand:

„Ich mache mir gewiss keine Illusionen über das, was Österreich heute ist und nach der ganzen Welt-

lage heute sein kann, aber ich weiß Sie dort und ein paar andere Menschen, die mir lieb sind, zu alle-

dem ist die Luft bei Euch, wie ungesund Ihr sie auch mit Recht empfinden mögt, nicht mit diesen

Miasmen der Verlogenheit, der Angst und des Hasses geladen und allein durch die Tatsache offener

Grenzen nach allen Ländern frischer als bei uns, wo man es tageweise kaum noch zu ertragen ver-

mag“ (Brief von Thiess an Broch vom 13.01.1935, ULB Darmstadt, Nachlass Thiess, zitiert nach Bötti-

ger, S. 21, Hervorhebung im Original).

Als intimer Kenner des genannten Briefwechsels kann Paul Michael Lützeler angesehen wer-

den, Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities sowie Direktor des Max

Kade Center for Contemporary German Literature (Washington University in St. Louis), des-

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sen ausführlich kommentierte Publikation des Briefwechsels noch 2017 erscheinen soll

(Wallstein-Verlag Göttingen). Lützeler bewertete das Verhältnis zwischen Thiess und Broch –

auf Anfrage – wie folgt:

„Es entwickelte sich bald eine wirkliche Freundschaft, und Thiess blieb der denkbar beste Berater und

gleichzeitig kritische Leser Brochs bis 1938, als Broch, da er Jude war, ins Exil gehen musste. In den

für Broch ausgesprochen schwierigen Monaten zwischen März und Juli 1938 blieb Thiess ein treuer

Freund und schickte ihm auf Bitten Brochs hin auch das Manuskript seines antifaschistischen Romans

‚Die Verzauberung‘ über die Schweiz nach England nach. Broch gehörte zu einer Reihe von jüdischen

Freunden von Frank Thiess, aber mit keinem blieb er so eng befreundet wie mit Broch. Als nach dem

Krieg Thiess als Gefolgsmann der Nazis bezeichnet wurde, veröffentlichte Broch 1948 sowohl in der

New Yorker Exilzeitschrift ‚Aufbau. Reconstruction‘ [vgl. Böttiger, S. 22] wie auch in der ‚Hamburger

Akademischen Rundschau‘ eine ‚Erklärung‘, in der er betonte, dass er Frank Thiess immer nur als

Verächter der Nationalsozialisten gekannt habe, und dass – anders als viele sog. ‚Arier‘ – Thiess ihm

auch vor der Flucht nach England 1938 geholfen habe“ (E-Mail von Paul Michael Lützeler vom

14.06.2017).

Als weiteres Indiz für die Ablehnung nationalsozialistischen Gedankenguts wertete Lützeler

(wie andere Autoren auch) die Tatsache, dass Thiess 1932 den jüdischen Verleger Paul Zsol-

nay wählte und im Zsolnay-Verlag auch nach 1933 publizierte. Von Paul Zsolnay, dem Thiess

freundschaftlich verbunden blieb, liegt denn auch ein Leumundsschreiben für Frank Thiess

von September 1945 vor, in dem der Verfasser seine Überzeugung zum Ausdruck brachte,

dass Thiess („mein intimer Freund“) „die Nazis und alles, wofür sie eintraten, hasste“

(23.09.1945, Paul Zsolnay, London, an Herrn Stier tom Moehlen, Staatsarchiv Bremen, Nach-

lass Senator a. D. Hermann Wolters 7, 143-58).

Thiess hielt sich seit 1923 hauptsächlich in Berlin und am Steinhuder Meer auf. Während der

NS-Zeit wechselte er häufiger seinen Aufenthaltsort; sein Landgut am Steinhuder Meer ver-

kaufte er 1936 (laut Angermann aufgrund „finanzieller Schwierigkeiten“, S. 249), er hielt sich

zeitweise in Österreich auf, zwischenzeitlich auch in Italien (Loewy, S. 325). Im Oktober 1941

heiratete er in Rom (in seiner dritten Ehe) Yvonne de Juge; seine Tochter Irene wurde im

Januar 1944 in Wien geboren (Staatsarchiv Bremen, Meldekarte). Thiess „schlug sich im Na-

tionalsozialismus als Drehbuchautor durch“, konstatierte Helmut Böttiger (Böttiger, S. 22):

Von 1938 bis 1945 wurden Drehbücher aus seiner Feder von der UFA verfilmt; auch sein

1934 veröffentlichter Roman „Der Weg zu Isabelle“ kam 1939 in die Kinos (unter dem Titel

„Der Weg zu Isabel“). Der Film „Diesel“ (1942), für den Thiess ebenfalls das Drehbuch ge-

schrieben und der die stets siegreiche deutsche Technik zum Gegenstand hatte, erhielt das

Prädikat „staatspolitisch wertvoll“ (Klee, S. 610). Ebenfalls 1942 erschien im Übrigen auch

der erste Teil von Thiess‘ zweiteiliger Romanbiografie über den Tenor Enrico Caruso („Nea-

politanische Legende“). Zu Beginn des Jahres 1945 weilte er im Rahmen von Recherchen zu

einer Filmproduktion der UFA (Film über den Aufbau der Zeiss-Werke) in Dresden, später

befand er sich in Berlin, wie sich jeweils anhand seiner Tagebuchaufzeichnungen aus dem

Jahr 1945 rekonstruieren lässt.

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Das Kriegsende erlebte Thiess schließlich in Bremen – unter einigermaßen skurrilen Umstän-

den: Von April bis Oktober 1945 hielt er sich mit seiner Ex-Frau Florence bei deren (neuen)

Schwiegereltern, dem alten Ehepaar Apking auf, während seine Frau Yvonne mit der ge-

meinsamen Tochter Irene im Salzkammergut weilte, in Bad Aussee – dem ehemaligen Domi-

zil von Hermann Broch (Tagebuch 1945, Deutsches Literaturarchiv in Marbach, vgl. Böttiger,

S. 25 ff.). Thiess blieb in Bremen und lebte ab Oktober 1945 in Bremen-Oberneuland (dort

gemeldet bis Oktober 1952 an drei unterschiedlichen Adressen, Staatsarchiv Bremen, Mel-

dekarte), bevor er im Herbst 1952 nach Darmstadt übersiedelte.

Nach Kriegsende lieferte sich Thiess die sogenannte „große Kontroverse“ mit Thomas Mann,

in der er den emigrierten Literaten heftig attackierte und für sich die Wortführerschaft der

„inneren Emigration“ reklamierte (und auch die Verwendung der Begrifflichkeit „innere

Emigration“ seit 1934 – wie Böttiger belegt möglicherweise nicht zu Unrecht, S. 17; vgl. zu

anderer Meinung Grimm, S. 42 f., dem der Nachweis vom November 1934 allerdings noch

nicht vorlag). Einen umfassenden Überblick über Thiess‘ Rolle in der „großen Kontroverse“

lieferte Marcus Hajdu in seiner Dissertation 2002 (erschienen 2003). Hajdu wertete darin

auch Briefe von und an Thiess in diesem Kontext aus (S. 354-409), deren kritische Kommen-

tare aufschlussreiche Hinweise über Thiess‘ Verhältnis zum NS-Regime lieferten. Hajdu ver-

suchte nachzuweisen, dass sich Thiess nach 1945 ganz bewusst als Opfer des NS-Regimes zu

inszenieren suchte.

Eine weitere Kontroverse um den Autor Frank Thiess entspann sich im Zuge der Verleihung

des umstrittenen Konrad-Adenauer-Preises an Thiess und zwei weitere Preisträger 1968.

Dabei wurde Thiess seine positive Besprechung des geschichtsrevisionistischen Buchs „Der

erzwungene Krieg“ des amerikanischen Historikers David L. Hoggan aus dem Jahr 1962 vor-

geworfen. Thiess hatte die Thesen Hoggans über die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs

unkritisch übernommen (was selbst Norbert Angermann als „bedauerlich“ be- bzw. verur-

teilte, S. 256). Massive Proteste lösten zudem Thiess Beiträge in der „Deutschen National-

Zeitung und Soldaten-Zeitung“ aus dem Jahr 1965 aus. In einem Beitrag wies Thiess darauf

hin, dass es „prinzipiell richtig, ja notwendig“ sei, neben der deutschen Schuld auch nicht-

deutsche Verbrechen zu berücksichtigen – „[n]icht um die deutschen Untaten zu verkleinern,

sondern um den anderen vor Augen zu führen, wessen der Mensch überhaupt fähig ist und

daß es keine Unterschiede zwischen bösen und guten Nationen gibt“ (Thiess 1965, zitiert

nach Angermann, S. 257). Das ständige Schreien nach „Bestrafung Schuldiger“ mit Blick auf

die NS-Zeit verhindere eine wirkliche Einkehr, so Thiess weiter. Im Zuge der Proteste gegen

die Preisverleihung veröffentlichten 50 deutsche Professoren eine Erklärung, in der sie die

Veröffentlichungen in rechtsextremen Publikationsorganen brandmarkten und die Preisver-

leihung sowie deren Begleitumstände „als Symptome gefährlicher Irreführung und befremd-

licher Fehleinschätzung“ werteten (unter den Unterzeichnern: Karl Otmar Freiherr von Are-

tin, Theodor Eschenburg und Dolf Sternberger, DE vom 11.05.1968). Heinz Winfried Sabais,

der die Laudatio auf Thiess halten sollte (vgl. StadtA DA, ST 61), setzte sich in der Kontrover-

se für Thiess ein; Thiess selbst ließ wissen:

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„Die im Zusammenhang mit dem Adenauerpreis gegen mich gerichteten Unterstellungen und Angrif-

fe werde ich weder mit Gegenerklärungen noch Verleumdungsprozessen beantworten. Wer mein

Lebenswerk, meine autobiographischen Bücher und meine Haltung während der Hitlerjahre kennt,

wird diesen Standpunkt zu würdigen wissen. Meine Zeit ist mir zu kostbar, um sie mit Pressegefech-

ten zu verschwenden“ (DT, 11.05.1968).

Die Preisverleihung wurde zunächst verschoben, später in Abwesenheit von Thiess (und von

Sabais) durchgeführt. Im Darmstädter Tagblatt kommentierte Max Peter Maaß die Angriffe

auf Thiess im Zuge der Preisverleihung mit Unverständnis: „Wir setzen uns Irrtümern aus,

wenn wir nonkonformistische Persönlichkeiten in Schubladen politischer Richtungen einord-

nen wollen“ (DT vom 14.05.1968).

In einem Leserbrief setzte sich Thiess 1970 für die Freilassung des schwerkranken Rudolf Heß

ein („Gnade für Heß“, Bayern-Kurier vom 03.01.1970): Die Grausamkeit einer langjährigen

Einzelhaft stünden im Widerspruch zur christlichen Moral. Außerdem habe Heß alles unter-

nommen, um einen Krieg zwischen Deutschland und England zu verhindern. Bereits 1947

hatte Thiess einen Brief der Witwe von Alfred Jodl (Chef des Wehrmachtführungsstabes im

Oberkommando der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs, der im Oktober 1946 hin-

gerichtet worden war) beantwortet:

„Sie schrieben, dass er [Alfred Jodl, HK] in Nürnberg sein Leben für Deutschland gab, und ich möchte

diesen Satz vielleicht noch anders verstehen als Sie ihn gemeint haben, nämlich in jenem symboli-

schen Sinne des freien Opfers trotz der scheinbaren Unfreiheit, in der er sich befand, und darin liegt

die Größe des Todes und seine Fruchtbarkeit. Vom Standpunkt der Pharisäer aus gesehen, wurde

auch Jesus bestraft, doch die Christen wendeten diese ‚Strafe‘ in ein Opfer, das er für die Sünden der

Menschheit brachte, und so ging von Golgatha ein Strom des Lebens aus“ (02.03.1947, Frank Thiess

an Luise Jodl, Deutsches Literaturarchiv Marbach, zitiert nach Böttiger, S. 32).

Zu Frank Thiess ließen sich keine Entnazifizierungsakten ermitteln. Er war, wie erwähnt, von

1945 bis 1952 in Bremen(-Oberneuland) gemeldet (Staatsarchiv Bremen, Meldekarte), bevor

er von dort nach Darmstadt zog; es konnten aber weder ein Meldebogen noch eine Spruch-

kammer-Akte ausfindig gemacht werden.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 9361-V/11407

Staatsarchiv Bremen, Nachlass Senator a. D. Hermann Wolters 7, 143-58

Staatsarchiv Bremen, Meldekarte

ULB Darmstadt, Nachlass Frank Thiess [auszugsweise eingesehen]

Deutsches Literaturarchiv Marbach [NICHT eingesehen]

StadtA DA, ST 61, Thiess, Dr. Frank

E-Mail von Paul Michael Lützeler vom 14.06.2017

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399

Literatur:

Angermann, Norbert: Frank Thiess und der Nationalsozialismus. In: Garleff, Michael: Deutschbalten,

Weimarer Republik und Drittes Reich, Bd. 2. Köln/Weimar 2008, S. 245-262.

Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfel-

der. München 1995.

Böttiger, Helmut: „Nie wird der Geist eines modernen Staates unserer Auffassung von Geist entspre-

chen“. Drahtzieher im Literaturbetrieb (1): Frank Thiess. In: Ders.: Doppelleben. Literarische Szenen

aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Ausstellung. Göttingen 2009, S. 12-33.

Deppert, Fritz: Thiess, Frank. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 918 f.

Dotzert, Roland: Die Darmstädter Kommunalpolitik seit 1945. Darmstadt 2007. [S. 225: Erster Träger

der Johann-Heinrich-Merck-Ehrung 1955]

Grimm, Reinhold: Innere Emigration als Lebensform. In: Ders./Hermand, Jost (Hrsg.): Exil und Innere

Emigration. Third Wisconsin Workshop. Frankfurt am Main 1972, S. 31-73.

Hajdu, Marcus: „Du hast einen anderen Geist als wir!“. Die „große Kontroverse“ um Thomas Mann

1945-1949. Gießen 2003 [Dissertation Gießen 2002].

Helbig, Louis Ferdinand: Auseinandersetzungen um Diktatur und Emigration. Frank Thiess im Ro-

manwerk und im öffentlichen Disput. In: Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Europäische Dimensionen

deutschbaltischer Literatur. Berlin 2005, S. 133-154.

Helbig, Louis Ferdinand: „Das Reich der Dämonen“ als „Geschichtswerk des Widerstandes“. Frank

Thiess und die „Innere Emigration“. In: Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Deutsche Autoren des Ostens als

Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Beiträge zur Widerstandsproblematik. Berlin 2000,

S. 111-126.

Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt am Main

2007.

Loewy, Ernst: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Frankfurt am Main

1983 [Original 1969].

Thiess, Frank: Es gibt keinen Unterschied zwischen bösen und guten Nationen. In: Deutsche National-

Zeitung und Soldaten-Zeitung vom 21.05.1965.

Thiess, Frank: Jahre des Unheils. Fragmente erlebter Geschichte. Wien/Hamburg 1972.

Westenfelder, Frank: Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel

des historischen Romans zwischen 1890 und 1945. Frankfurt am Main et al. 1989 [Dissertation Karls-

ruhe 1987].

Wolf, Yvonne: Frank Thiess und der Nationalsozialismus. Ein konservativer Revolutionär als Dissident.

Tübingen 2003.

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Inge-Vahle-Weg (M 6), benannt 2004 nach

Inge[borg] Vahle[-Gießler] (1915-1989)

Künstlerin

* 6. Februar 1915 in Krevese (Altmark) als Ingeborg Gießler

Umzug der Familie nach Stendal (Altmark)

1934 Abitur am Oberlyzeum in Stendal

1934-1935 Studium an der Hochschule für Kunsterziehung in Berlin-Schöneberg sowie der Philoso-

phie und Kunstgeschichte an der Kunstakademie in Berlin

1935-1938 Studium an der Kunstakademie in Düsseldorf

1938-1956 freiberuflich künstlerische Tätigkeit in Stendal (plastisch, grafisch und textil)

1939 Heirat mit Fritz Vahle (zwei Kinder)

1942 Geburt des Sohns Friedrich-Eckart (genannt Fredrik), 1945 Geburt des Sohns Karsten

Ab 1946 Ausstellungen (zunächst mit ihrem Mann Fritz Vahle) und Ausstellungsbeteiligungen im In-

und Ausland

1955 „Bildteppich der Gegenwart“

1956 Übersiedlung nach Darmstadt; weiterhin künstlerische Tätigkeit: Malerei, Tapisserien, Mosaike,

textile Objekte

1959 Glasmosaike in der Georg-Büchner-Schule in Darmstadt

1963-1969 Glasfenster der Evangelischen Stephanuskirche in Gelsenkirchen-Buer

1968-1978 zahlreiche (Einzel-)Ausstellungen im In- und Ausland, darunter in Darmstadt 1968 (Kunst-

halle) und 1975 (Staatstheater)

1969 „Künstler in Darmstadt“

Seit 1970 Mitglied des Deutschen Werkbundes

In 1980er Jahren Autorin sogenannter „Ringbücher“ (Bild- und Schriftcollagen, darunter ca. 1988

„Gegenwärtige Vergangenheit“), Rauminstallationen

† 26. November 1989 in Darmstadt

Ehrungen:

1954 Diplom d‘honneure, X. Triennale in Mailand

1957 Diplom der Zusammenarbeit, XI. Triennale in Mailand

1975 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Inge Vahle, seit 1956 in Darmstadt lebende Künstlerin, deren künstlerisches Repertoire nach

1945 unterschiedliche Ausdrucksformen umfasste (Malerei, Collagen, Tapisserien und ande-

re textile Objekte, Mosaike, Ringbücher, Rauminstallationen), war in der NS-Zeit Schülerin,

Studentin und freischaffende Künstlerin.

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Vahle (damals noch Gießler) besuchte das Oberlyzeum in Stendal, das sie 1934 mit dem Abi-

tur verließ. Sie zog zum Studium zunächst nach Berlin, wo sie an der Hochschule für Kunster-

ziehung in Berlin-Schöneberg sowie an der Berliner Kunstakademie Philosophie und Kunst-

geschichte studierte. 1935 wechselte sie zum Studium an die Kunstakademie in Düsseldorf;

dort lernte sie ihren späteren Mann Fritz Vahle kennen (Heirat 1939), der ebenfalls an der

Kunstakademie tätig war. Der damalige Direktor der Kunstakademie, Peter Grund, sollte Inge

Vahle 1963 in das dreiköpfige Team holen, das die Entwürfe für die Evangelische Stephanus-

kirche in Gelsenkirchen-Buer erarbeitete; Vahle gestaltete die Betonglaswände der Kirche

(Umsetzung ab 1968, also erst nach Grunds Tod).

Von 1938 an arbeitete Inge Vahle als freischaffende Künstlerin in Stendal, bis sie 1956 mit

ihrer Familie in den Westen, nach Darmstadt zog. 1942 wurde ihr Sohn Friedrich-Eckart (ge-

nannt Fredrik) geboren, 1945 der zweite Sohn Karsten. Ihr künstlerisches Schaffen war zu

der Zeit von Landschaftsmalerei geprägt, insofern die veröffentlichten Bilder aus den 1930er

und 1940er Jahren als exemplarisch für diesen Lebensabschnitt angesehen werden können

(vgl. Klein 2015, S. 8-11). Ihr Mann Fritz war 1940-1945 als Soldat im Kriegsdienst (Frank-

reich, Norwegen, Russland).

Es ließen sich zu Inge Vahle, die bis 1956 in Stendal lebte, keine Entnazifizierungsakten re-

cherchieren.

Quellen:

HStAD, R 12 P Nr. 6728

StadtA DA, ST 61 Vahle, Fritz, Inge, Fred(e)rik

Literatur:

Christ, Alexa-Beatrice: Vahle, Inge. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 936.

Inge und Fritz Vahle. Retrospektive [Katalog Kunsthalle]. Darmstadt 1993.

Klein, Christiane (Hrsg.): Inge Vahle. Textil – Textur – Text. Darmstadt 2015.

Vahle, Inge: Ausstellungskatalog Kunsthalle Darmstadt. Darmstadt 1968.

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Viktoriastraße/Viktoriaplatz (H 7), benannt 1872/1892 [!] nach

Viktoria von Hessen und bei Rhein (1863-1950)

Enkelin von Königin Viktoria von Großbritannien und Irland

5. April 1863 auf Schloss Windsor Castle (London)

1883-1912 Vorsitz im Alice-Hospital und für die Alice-Schwesternschaft in Darmstadt

1884 Heirat mit Prinz Ludwig von Battenberg (ab 1917 Louis Mountbatten, Marquess of Milford Ha-

ven) in Darmstadt (vier Kinder)

1885 Geburt der ersten Tochter auf Windsor Castle

Ab 1887/88 Hauptwohnsitz auf Malta; längere Aufenthalte auf Schloss Heiligenberg (Jugenheim)

Ab 1902 Ehemann hauptsächlich in der Admiralität in London eingesetzt (1912-1914 Erster Seelord,

Chef der britischen Kriegsmarine)

1916 Hochzeit des ältesten Sohnes George

1921 Tod ihres Ehemanns, fortan Wohnung im Kensington Palace (London)

24. September 1950 in London

Ehrungen:

1884 Benennung der Viktoriaschule in Darmstadt

Wirken in der NS-Zeit

Prinzessin Viktoria von Hessen, verwitwete Marchioness of Milford Haven, lebte lange Zeit

ihres Lebens in Großbritannien.

Bei Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Viktoria im 70. Lebensjahr. Sie lebte

nach dem Tod ihres Ehemanns 1921 in einer Wohnung im Kensington Palace. Als dieser wäh-

rend des Zweiten Weltkriegs bombardiert wurde, zog sie nach Windsor Castle; sie starb 1950

in London.

Viktoria stand während der NS-Zeit in Kontakt unter anderem zu ihren Familienmitgliedern

in Darmstadt, musste 1937 den Tod ihres Bruders sowie kurze Zeit später den Tod weiterer

Verwandter beim bekannten Flugzeugunglück in Ostende beklagen sowie 1938 den Tod ih-

res ältesten Sohnes George.

Es ließen sich keine Informationen recherchieren, die eine Verstrickung mit dem NS-Regime

nahelegten.

Quellen:

StadtA DA, ST 61 Viktoria von Hessen, Prinzessin

Literatur:

Franz, Eckhart G.: Battenberg, Ludwig Prinz von. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 61.

Franz, Eckhart G. (Hrsg.): Haus Hessen. Biografisches Lexikon. Darmstadt 2012.

Knodt, Manfred: Viktoria – die Namensgeberin der Viktoriaschule. Darmstadt 1995.

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Emil-Voltz-Straße (E 8), benannt 1953 nach

Emil Voltz (1881-1949)

Praktischer Arzt

* 7. April 1881 in Langenbergheim

Studium der Medizin an der Universität Gießen

1908 Promotion in Medizin an der Universität Gießen, „Beitrag zur Frage der chirurgischen Behand-

lung der Wanderniere“ (Referent: Peter Poppert, Chirurgie)

Seit 1910 wohnhaft in (Darmstadt-)Arheilgen

1911 Heirat mit Anna Hoffmann aus (Darmstadt-)Arheilgen (zwei Kinder)

Praxis als Praktischer Arzt in (Darmstadt-)Arheilgen

Ca. 1934-1945 Mitgliedschaften in DAF, NSV, RKB, RLB, NSRL sowie Opferring

1935 Tod seiner Frau Anna (geb. Hoffmann)

1937-1945 Mitglied der NSDAP

1938-1945 Mitglied des NS Reichskriegerbunds

1939-1945 Mitglied des NS-Ärztebunds

† 30. Oktober 1949 in Darmstadt-Arheilgen

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Emil Voltz war über die gesamte NS-Zeit als Praktischer Arzt mit eigener Praxis in (Darm-

stadt-)Arheilgen tätig. Er war Mitglied der NSDAP sowie weiterer NS-Organisationen.

Die Informationen zum Wirken von Emil Voltz in der NS-Zeit gründen hauptsächlich auf sei-

ner Entnazifizierungsakte (HHStAW) sowie auf der NSDAP-Mitgliederkartei (BArch Berlin,

BDC). Laut letzterer war Voltz, wohnhaft in der Darmstädterstr. 52 in Darmstadt-Arheilgen,

seit 01.05.1937 Mitglied der NSDAP (Aufnahme beantragt am 19.05.1937; Mitglieds-Nr.:

5902693). Im Fragebogen zu seinem Entnazifizierungsverfahren gab er an, seit 1938 „Anwär-

ter“ der NSDAP gewesen zu sein. Zudem nannte er seine Mitgliedschaft im NS-Ärztebund

(„5.5.39-zuletzt“) als einzige weitere Mitgliedschaft in „einer Naziorganisation“. Im Zuge der

anschließenden Nachforschungen konnten jedoch weitere Mitgliedschaften in NS-Orga-

nisationen sowie in Organisationen, die unter nationalsozialistischem Einfluss standen, er-

mittelt werden: In der Parteistatistischen Erhebung (der NSDAP) aus dem Jahr 1939 fanden

sich unter Emil Voltz Mitgliedschaften in DAF, NSV, RKB, RLB, NSRL sowie Opferring (ab

01.12.1934) dokumentiert. Der angefragten Ärztekammer war „eine aktive Tätigkeit im Sin-

ne des Nationalsozialismus nicht bekannt“ (Sühnebescheid vom 20.02.1947).

Emil Voltz, dessen Frau Anna 1935 verstorben und dessen Sohn (* 1913) „im Donbogen“

1942 „gefallen“ war (HStAD, H 14 Darmstadt Nr. F 444/1199), gab als jährliches steuerpflich-

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tiges Gesamteinkommen in der NS-Zeit rund 20.000 RM zu Protokoll; er hatte eine/n Ange-

stellte/n in seiner Praxis. Auf die Frage „In welche Gruppe des Gesetzes gliedern Sie sich

ein?“ notierte er: „Mitläufer = nominelles Mitglied“. Als „Mitläufer“ (Gruppe IV) wurde er

auch seitens der Spruchkammer Darmstadt-Stadt eingestuft (20.02.1947); er hatte eine

Geldsühne in Höhe von 2.000 RM zu tragen. [Im Fragebogen hatte er mit „7.4.88“ ein fal-

sches Geburtsdatum angegeben.]

Seit 1943 wurde Voltz von der Ärztin Henriette Sennhenn in seiner Praxis unterstützt, die

zunächst als seine (notdienstverpflichtete) Assistentin, später als seine Teilhaberin fungierte.

Nach Voltz‘ Tod 1949 übernahm Sennhenn die Arheilger Praxis (er bedachte sie – laut einer

Ergänzung zu seinem Testament zehn Tage vor seinem Tod – mit der Einrichtung der Praxis,

HStAD, H 14 Darmstadt Nr. F 444/1199).

Die Straßenbenennung Emil Voltz zu Ehren erfolgte 1953/54 im Zuge noch ausstehender

Umbenennungen nach der Eingemeindung von Arheilgen zu Darmstadt 1937 (Stichwort:

Doppel-Benennungen).

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 505053

HStAD, H 3 Nr. 73739

HStAD, H 14 Darmstadt Nr. F 444/1199

UA Gießen, Promotionsdatenbank

StadtA DA, Ordner Darmstädter Straßennamen

StadtA DA, ST 61, Voltz, Emil

Literatur:

Voltz, Emil: Beitrag zur Frage der chirurgischen Behandlung der Wanderniere. Gießen 1908.

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Walbeweg (H 9), benannt 1965 nach

Heinrich Walbe (1865-1954)

Architekturprofessor und Denkmalpfleger

* 6. März 1865 in Lauban (Schlesien)

Besuch der Landesschule Pforta (Abitur 1884)

1884-1889 Studium der Architektur an der TH Aachen

1889 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in München

1890-1894 Referendariat als Regierungsbauführer in Bad Nauheim sowie in Köln; Beginn seiner Lauf-

bahn in staatlichen Bauverwaltungen

1895 Heirat mit Mathilde Meißner (drei Kinder)

1895-1902 Tätigkeiten als Architekt und Baumeister in Köln, Sorau und Halle an der Saale (dort zum

Stadtbaumeister ernannt)

1902-1933 ordentlicher Professor für Baukunst an der TH Darmstadt

Ab 1902/03 Denkmalpfleger für die Provinz Oberhessen

1907-1909 Rektor der TH Darmstadt

Ab 1912 (spätestens) Mitglied des Deutschen Werkbunds

1912-1920 Errichtung des Verwaltungsgebäudes der Firma Merck in Darmstadt

1913-1916 Dekan der Architekturfakultät an der TH Darmstadt

1920 Gefallenendenkmal im Hochschulstadion in Darmstadt

1920-1921 erneut Rektor der TH Darmstadt

Ab 1922 Kirchenbaumeister der EKHN: Neubauten, Wiederaufbau, Sanierungen

Ab 1924 Denkmalpfleger auch für den südlichen Teil der Provinz Starkenburg

1928-1930 erneut Dekan der Architekturfakultät an der TH Darmstadt

1933 Ruhestandsversetzung

1942 „Das hessisch-fränkische Fachwerk“

Bis 1943 öffentliche Vorlesungen zum Thema „Alte Bauweisen in Hessen, praktische Denkmalpflege“

1944-ca. 1947 nach Zerstörung seines Wohnhauses in Darmstadt für drei Jahre Umzug nach Nördlin-

gen (dort wohnte ein Sohn)

Ab ca. 1947 gemeinsam mit seiner Frau in einem Darmstädter Altersheim in Heppenheim

† 20. Januar 1954 in Heppenheim

Ehrungen:

1907 Verleihung des Ritterkreuzes I. Klasse des Verdienstordens Philipps des Großmüthigen

1908 Geheimer Baurat

1932 Ehrendoktor der Universität Gießen (Dr. theol. h. c. – für seine Verdienste um den Wiederauf-

bau von Kirchen)

1953 Bundesverdienstkreuz

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Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Walbe, über Jahrzehnte als Professor für Baukunst an der TH Darmstadt und als

Denkmalpfleger im Großherzogtum Hessen tätig, beantragte 1933 seine Versetzung in den

Ruhestand. Er publizierte in der NS-Zeit Beiträge zu Baukunst- und Heimatforschung, darun-

ter das Standardwerk „Das hessisch-fränkische Fachwerk“ (1942).

Seit 1902 wirkte Walbe an der Architektur-Abteilung der TH Darmstadt als Professor für

Baukunst; er versah wiederholt Ämter als Dekan und Rektor der Hochschule. Zugleich mach-

te er sich als Denkmalpfleger für den Erhalt zahlreicher Kunstdenkmäler im Großherzogtum

Hessen verdient und wirkte als Kirchenbaumeister der Evangelischen Landeskirche (heute:

EKHN). Politisch ließ er sich als national-konservativ einstufen; er vertrat in den 1920er Jah-

ren die Deutsche Volkspartei in der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung.

Im Herbst 1933 beantragte Walbe seine Versetzung in den Ruhestand. Manfred Efinger fol-

gend, waren für seine Entscheidung nicht allein altersbedingte Gründe verantwortlich:

„Nach den heftigen Auseinandersetzungen an der TH Darmstadt im Frühjahr 1933 und den national-

sozialistischen Anfeindungen durch Studierende und Dozenten stellte der 68-jährige Heinrich Walbe

am 14. September 1933 den Antrag auf Versetzung in den Ruhestand. Diesem Antrag wurde bereits

am 23. Oktober 1933 durch Reichsstatthalter Jakob Sprenger (1884-1945) stattgegeben. Dass Walbe

keinesfalls aus freien Stücken aus dem Amt geschieden war, deutet ein Schreiben an, das er am

30. Oktober 1933 an den TH-Rektor Hans Busch (1884-1973) richtete“ (Efinger 2015).

Auch Melanie Hanel wollte einen Zusammenhang zwischen Walbes Ruhestandsgesuch und

den Ereignissen an der Architektur-Abteilung im Jahr 1933 (Stichwort: „Lieser-Affäre“) nicht

ausschließen (Hanel, S. 95). Walbe, der weder Mitglied der NSDAP noch der SA war (Hanel,

S. 214), zeigte sich im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens von Karl Lieser (zu dem Walbe

als Zeuge beitrug) über dessen gehässige Kommentare bezüglich der politischen bzw. cha-

rakterlichen Eigenschaften seiner Kollegen empört – stimmte aber den fachlichen Urteilen

Liesers zum Teil zu (HHStAW, Abt. 520 DZ Nr. 519782, auch Hanel, S. 115). Im erwähnten

Schreiben an Rektor Busch zeigte sich Walbe dankbar für seine Zeit als Professor an der TH

Darmstadt, bedauerte aber zugleich, dass gerade in seinem letzten Semester „das Vertrauen

zwischen Studenten und Dozenten fast ganz aufgehoben zu sein schien“ (UA Darmstadt, 103

Nr. 693/2).

Nach der offiziellen Emeritierung 1933 hielt Walbe bis 1943 weiterhin Vorlesungen zum

Thema „Alte Bauweisen in Hessen, praktische Denkmalpflege“ an der TH Darmstadt (UA

Darmstadt, 103 Nr. 693/2). Er war zudem weiterhin als Denkmalpfleger und Bauforscher

(publizistisch) tätig. Hervorzuheben seien die maßgeblich von ihm beeinflusste Instandset-

zung der Michaelskapelle (Königshalle) in Lorsch (Rückbaumaßnahmen abgeschlossen 1935)

sowie die Beschreibungen der Kunstdenkmäler des Kreises Gießen, die 1933/1938 als Bände

des Hessischen Denkmalwerks (Kunstdenkmäler im Volksstaat Hessen) erschienen. Das

„Jahrbuch der Volks- und Heimatforschung in Hessen und Nassau 1933-1938“ (herausgege-

ben von Friedrich Ringshausen im „Verlag Volk und Scholle“) veröffentlichte 1938 Walbes

Überlegungen zu historischen Siedlungs- und Hausformen in Hessen; 1942 erschien schließ-

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lich das Standardwerk „Das hessisch-fränkische Fachwerk“ (Schriften der Volks- und Heimat-

forschung, Bd. 4). Die genannten Veröffentlichungen lassen Walbe als einen Vertreter „ge-

sunder deutscher Baukunst“ (Heinz Rudolf Rosemann 1936, zitiert nach Durth, S. 244) er-

scheinen, dokumentierten aber – über den Veröffentlichungszusammenhang hinaus – keine

inhaltliche Nähe Walbes zum NS-Regime. Auch Zeitungsmeldungen anlässlich seines 70sten

Geburtstags 1935 legen keine persönliche Verstrickung mit dem NS-Regime nahe (StadtA

DA, ST 61).

Nach der Zerstörung seiner Darmstädter Wohnung im September 1944 zog Walbe mit seiner

Frau nach Nördlingen (der jüngste Sohn Wolfgang wirkte als Amtsgerichtsrat in Nördlingen;

er starb in den letzten Kriegstagen). Seine letzten Lebensjahre verbrachte Walbe dann ge-

meinsam mit seiner Frau in einem Altersheim der Stadt Darmstadt in Heppenheim (Müller,

S. 124).

Es ließen sich zu Heinrich Walbe, der bei Kriegsende 80 Jahre alt war, keine Entnazifizie-

rungsdokumente recherchieren, weder im HHStAW noch im für Nördlingen zuständigen StA

Augsburg.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520 DZ Nr. 519782 [Entnazifizierungsverfahren Karl Lieser]

StA Augsburg, Spruchkammer Nördlingen Akten 2903 [Entnazifizierungsverfahren Ilse Walbe

(Schwiegertochter), NICHT eingesehen]

HStAD, R 4 [mehrere Fotos]

HStAD, R 12 P Nr. 6870

Regierungsblätter 1903-1933

UA Darmstadt, 103 Nr. 693/2 [Personalakte]

UA Darmstadt, 918 [Teilnachlass Walbe]

StadtA DA, ST 61, Walbe, Prof. Heinrich

Literatur:

Durth, Werner: Architekten an der Technischen Hochschule Darmstadt 1930-1950. In: Dinçkal, No-

yan/Dipper, Christof/Mares, Detlev (Hrsg.): Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hoch-

schulen im „Dritten Reich“. Darmstadt 2010, S. 233-253.

Efinger, Manfred: Der Architekturprofessor Heinrich Walbe (1865-1954). In: Hoch³ 11 (2015), S. 22.

Guther, Max: Die Architekturprofessoren der THD von 1841 bis 1945 und ihre Planungen für Hoch-

schule und Stadt Darmstadt. In: THD Jahrbuch 1980, S. 107-143.

Hanel, Melanie: Normalität unter Ausnahmebedingungen. Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus.

Darmstadt 2014.

Müller, Otto: Heinrich Walbe. In: Mitteilungsblätter des Historischen Vereins für Hessen 3 (1954),

S. 123 f.

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408

Viefhaus, Marianne [online überarbeitet von Manfred Efinger]: Walbe, Heinrich. In: Stadtlexikon

Darmstadt (2006), S. 955.

Walbe, Heinrich: Siedlungs- und Hausformen in Modellen dargestellt. In: Ringshausen, Friedrich

(Hrsg.): Jahrbuch der Volks- und Heimatforschung in Hessen und Nassau 1933-1938. Darmstadt 1938,

S. 209-214 (+ Tafeln 39-46).

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409

Wilhelm-Walcher-Weg (B 8), benannt 2008 nach

Wilhelm Walcher (1910-2005)

Physiker

* 7. Juli 1910 in Kaufbeuren (Allgäu)

1916-1920 Besuch der Volksschule in Kaufbeuren

1920-1926 Besuch der Realschule in Kaufbeuren

1926-1929 Besuch der Oberrealschule in Kempten (Allgäu), Abitur 1929

1929-1931 Studium der technischen Physik an der TH München (Vordiplom)

1931-1933 Studium der Physik an der TH Berlin (Diplom im Oktober 1933)

1933-1937 wissenschaftlicher Assistent am Physikalischen Institut der TH Berlin, unter anderen bei

Gustav Hertz

1933-1939/1945 Mitglied des NSKK

1937 Promotion an der TH Berlin bei Hans Kopfermann, „Über einen Massenspektrographen hoher

Intensität und die Trennung der Rubidiumisotope“

1937-1942 Wechsel mit Kopfermann als dessen Assistent an das Institut für Experimentalphysik der

Universität Kiel

1938-1948 Veröffentlichungen zu „(massenspektroskopischer) Isotopentrennung“

1940 Heirat mit Erika Baumbach, geb. Büchner (zwei Kinder)

Ab 1939 (externer) Mitarbeiter der Firma Telefunken

1940-1945 Mitglied der NSV

1940/41-1945 Mitglied des NS-Dozentenbunds

1942 Habilitation an der Universität Kiel, „Beiträge zur massenspektroskopischen Isotopentrennung“

1942 kurzzeitige Vertretungsprofessur an der Universität Kiel (Lehrstuhl für Experimentalphysik)

1942-1947 Wechsel mit Kopfermann als dessen Assistent an das 2. Physikalische Institut der Universi-

tät Göttingen

1944 Ernennung zum Oberassistenten

1947-1978 Professor und Direktor des Physikalischen Instituts der Philipps-Universität Marburg

1949 Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Philipps-Universität Marburg

1950 Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentags

1952-1954 Rektor der Philipps-Universität Marburg

1957 Aktion gegen atomare Aufrüstung („Göttinger 18“)

1959-1961 Vorsitzender des Verbands Deutscher Physikalischer Gesellschaften (heute Deutsche Phy-

sikalische Gesellschaft)

1961-1967 Vizepräsident der DFG

1969 maßgeblich beteiligt an der Gründung der GSI

1978 Emeritierung

† 9. November 2005 in Marburg

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410

Ehrungen:

1975 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland

1976 Ehrendoktor der Ruhr-Universität Bochum

1989 Ehrenmitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

Wirken in der NS-Zeit

Wilhelm Walcher, Physiker, nach 1945 an der Gründung der GSI maßgeblich beteiligt, arbei-

tete während der NS-Zeit als Wissenschaftler an Physikalischen Instituten der TH Berlin so-

wie der Universitäten in Kiel und Göttingen. Während des Zweiten Weltkriegs war er an Pro-

jekten der Rüstungsforschung beteiligt, darunter das deutsche Uranprojekt.

Walcher schloss im Herbst 1933 sein Studium der Physik an der TH Berlin erfolgreich ab

(„Mit Auszeichnung bestanden“, hierzu und zum Folgenden UA Göttingen, Kur Walcher, Wil-

helm – die Göttinger Kuratoriumsakten umfassen auch Walchers Personalakten der Universi-

tät Kiel). Er blieb bis 1937 als wissenschaftlicher Assistent am Physikalischen Institut der TH

Berlin und erlernte vor allem bei Gustav Hertz das Rüstzeug für seine wissenschaftliche Kar-

riere. Seine Dissertation 1937 „Über einen Massenspektrographen hoher Intensität und die

Trennung der Rubidiumisotope“ an der TH Berlin betreute Hans Kopfermann, dem er noch

im gleichen Jahr als Assistent an das Institut für Experimentalphysik der Universität Kiel folg-

te, um weiter vor allem im Bereich der massenspektroskopischen Isotopentrennung for-

schen zu können. Vorliegende Angebote seitens der Industrie schlug Walcher zu Gunsten des

wissenschaftlichen Arbeitens aus; ein Vermerk weist allerdings darauf hin, dass er neben den

Einkünften im Rahmen seiner Assistentenstelle „einige Einkünfte“ resultierend aus einem

„Mitarbeiterverhältnis zur Firma Telefunken“ verbuchen konnte. Auch nach Kriegsende gab

Walcher ab 1939 eine „Mitarbeitervergütung (Telefunken)“ an, die bei etwa 2.500 RM jähr-

lich gelegen haben dürfte (Fragebogen der Militärregierung vom 25.05.1945, NLA Hannover,

Nds. 171 Hildesheim Nr. 322; sein Assistentengehalt betrug demnach 1934-1938 zwischen

3.000 und 3.900 RM, sein Einkommen insgesamt belief sich 1939-1944 auf 6.500-7.600 RM).

Die Verlängerung seiner Assistentenstelle wurde wiederholt bewilligt; auch seitens der NS-

Dozentenschaft formierte sich dagegen kein Widerstand. Walchers Chef, Hans Kopfermann,

machte sich für ihn stark und lobte seine wissenschaftlichen wie pädagogischen Fähigkeiten.

Im Mai 1940 heiratete Walcher Erika Baumbach (geb. Büchner), noch während seiner Kieler

Zeit kamen die Söhne Thomas (1941) und Stephan (1942) zur Welt. Seine Frau war zuvor

verheiratet mit dem Physiker Siegfried Baumbach – der am gleichen Kieler Institut tätig war,

derzeit aber im Krieg Dienst tat. Es gab Bestrebungen, einen der beiden Wissenschaftler zu

versetzen, die aber vor Walchers Wechsel nach Göttingen offenbar nicht umgesetzt wurden.

Mit seinen „Beiträgen zur massenspektroskopischen Isotopentrennung“ habilitierte sich

Walcher an der Universität Kiel und vertrat im Sommersemester 1942 sogleich den Lehrstuhl

für Experimentalphysik. Zudem wurde er im Juni 1942 zum Dozenten der Physik an der Uni-

versität Kiel ernannt. Für die Behauptung, Walchers Habilitationsschrift sei wegen politischer

Unzuverlässigkeit zunächst abgelehnt worden und nur durch die Einflussnahme Kopfer-

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411

manns schließlich angenommen worden (Wikipedia), fanden sich im eingesehenen Quellen-

material keine Belege.

Im Herbst 1942 folgte Walcher wiederum Kopfermann an das 2. Physikalische Institut der

Universität Göttingen. Neben Walcher wurde mit Wolfgang Paul auch Kopfermanns zweiter

Assistent zum 1. Oktober 1942 aus Kiel nach Göttingen versetzt (04.07.1942, Reichsminister

für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung), der mit Walcher bereits an der TH Berlin stu-

diert hatte und – wie Walcher – Kopfermann bereits nach Kiel gefolgt war. Obwohl Walcher

offensichtlich über den Oktober 1942 hinaus noch vertretungsweise das Institut für Experi-

mentalphysik in Kiel leitete (bis sein Nachfolger den Dienst antreten konnte), zog er mit der

Familie im August 1942 nach Göttingen. Zwei Jahre später, im August 1944 wurde Walcher

an der Universität Göttingen zum Oberassistenten ernannt; wiederum hatte sich Kopfer-

mann für ihn eingesetzt.

Walcher war zu keiner Zeit Mitglied der NSDAP. Laut eigener Angaben in Fragebögen der

Militärregierung 1945 und 1946 war er von 1940/41 bis 1945 Mitglied des NS-Dozenten-

bunds und der NSV, von November 1933 bis September 1939 Mitglied des NSKK. Auch in

Fragebögen zur NS-Zeit hatte er regelmäßig als einzige Mitgliedschaft in einer NS-Organi-

sation das NSKK angegeben (allerdings auch nach 1939 nicht auf einen Austritt verwiesen).

Bis 1947 blieb Walcher am 2. Physikalischen Institut, bevor er als Professor für Experimen-

talphysik an die Philipps-Universität nach Marburg wechselte, wo er über drei Jahrzehnte als

Direktor des Physikalischen Instituts wirkte. Über Details zu seiner Forschungsarbeit wäh-

rend seiner Göttinger Zeit gaben die eingesehenen Quellen kaum Aufschluss. In einem

Schriftenverzeichnis aus dem Jahr 1944 verwies Walcher neben den genannten Aufsätzen

auf „Ferner: Verschiedene geheime Berichte“. Als aufschlussreich erwiesen sich hier die For-

schungsergebnisse von Gerhard Rammer, der 2004 mit seiner Arbeit „Die Nazifizierung und

Entnazifizierung der Physik an der Universität Göttingen“ ebenda promovierte. Rammer wer-

tete (neben umfangreichem Archivmaterial) Interviews aus, die Mark Walker mit Wilhelm

Walcher geführt hatte („Wilhelm Walcher, befragt von Mark Walker, 4. Juni 1985. Privatbe-

sitz“, Rammer, S. 587).

Wie Wolfgang Paul blieb auch Wilhelm Walcher über die gesamte Göttinger Zeit uk-gestellt

(Rammer, S. 160; vgl. auch Steiner, S. 199). Grund dafür war offenbar ihre Reklamation für

Arbeiten im Bereich der Isotopentrennung für den Uranverein (Paul kann wie Walcher hier

als Experte angesehen werden, Habilitation 1944 „Ein Massenspektrometer zur Bestimmung

von Isotopenmischungsverhältnissen“). Wie Walcher war Paul 1933 in Form einer „symboli-

sche[n] politischen Anpassung“ (Rammer, S. 160) dem NSKK beigetreten – allerdings trat er,

Wolfgang Paul, im Mai 1937 auch der NSDAP bei. Die Überlieferung zu Rüstungsprojekten

am Göttinger Institut ist nur bruchstückhaft überliefert. Eine Auflistung „Kriegsarbeit von

Instituten der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen“

vom Februar 1943 belegt, dass Walcher (in leitender Funktion) mit seinen Kollegen an ver-

schiedenen Rüstungsprojekten höchster Dringlichkeitsstufen forschte:

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412

„Die Abteilung 2 (altes Kieler Institut) bearbeitete einen SS-Auftrag des Heeres, einen SS-Teilauftrag

der Kriegsmarine und einen SS-Teilauftrag der Luftwaffe. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter waren

Wilhelm Walcher (leitend), Wolfgang Paul (Assistent) und [Helmut] Schaefer (Mitarbeiter)“ (Rammer,

S. 301 – SS steht hier für die Dringlichkeitsstufe!).

Das 2. Physikalische Institut arbeitete schon 1941, bevor Kopfermann mit seinem Kieler

Team nach Göttingen gelangte, an zahlreichen Kriegsaufträgen für Heereswaffenamt, Kriegs-

marine und Reichsluftfahrtministerium. Als Spezialist für Massenspektroskopie war Walchers

Wissen auch und besonders im Forschungsbereich der Kernspaltung gefragt. „Mit seinen

Fähigkeiten war er im deutschen Uranprojekt willkommen, wo er an einer massenspektro-

skopischen Methode zur Trennung des U 235 Isotops vom natürlichen Uran arbeitete“

(Rammer, S. 158). Davon zeugen auch seine beiden Aufsätze in der Zeitschrift für Physik aus

dem Jahr 1944 (siehe Literatur). Walcher gelang es – Rammer folgend – mit „politischer Mi-

nimalanpassung“ (und damit ist die Mitgliedschaft im NSKK gemeint, S. 159) Kariere zu ma-

chen. Neben seiner Forschungstätigkeit war er stets in die Lehre am Institut eingebunden (zu

Lehrveranstaltungen ab 1943 vgl. Rammer, S. 437 f.).

Gerade an Walchers Mitwirken am deutschen Uranprojekt waren nach Kriegsende auch die

Alliierten stark interessiert:

„Von den in Deutschland durchgeführten physikalischen Forschungen genoss vor allem das Uranpro-

jekt die besondere Aufmerksamkeit der Alliierten. Die mit der Ermittlung aller diesbezüglichen Aktivi-

täten beauftragte Alsos-Mission suchte, die vorrückenden alliierten Truppen begleitend, all jene Orte

auf, in denen das Uranprojekt betrieben wurde und wo daran beteiligte Wissenschaftler vermutet

wurden. In der sogenannten ‚Strassburg Summary‘ listeten die Alliierten 242 deutsche Wissenschaft-

ler auf und bewerteten in einer Zehn-Punkte-Skala ihre Bedeutung für das Uranprojekt. Unter den 24

wichtigsten Personen (6 bis 10 Punkte) befand sich nur ein Physiker aus den Göttinger Universitätsin-

stituten. Dies war Wilhelm Walcher (6 Punkte), dessen Arbeiten zur Isotopentrennung von Bedeu-

tung waren“ (Rammer, S. 310).

Offensichtlich wurde gegen Walcher kein Entnazifizierungsverfahren eröffnet. Laut hand-

schriftlichem Vermerk auf dem Fragebogen der Militärregierung vom 25.05.1945 lag gegen

Walcher kein belastendes Material in den Beständen der NSDAP vor („Nothing against him in

NSDAP Files“, NLA Hannover, Nds. 171 Hildesheim Nr. 322).

Quellen:

BArch, B 522/Philosophischer Fakultätentag

NLA Hannover, Nds. 171 Hildesheim Nr. 322 [Entnazifizierungsakten]

UA Marburg, Bestand 308/13

UA Kiel, Bestand 47 Universität [Kieler Kuratoriumsakten in UA Göttingen, Kur Walcher Wilhelm!]

UA Göttingen, Kur Walcher, Wilhelm

Literatur:

Kamke, Detlef: Prof. Dr. Ing., Dr. rer. nat. h. c. Wilhelm Walcher 70 Jahre. In: Physikalische Blätter 36

(1980), S. 234 f.

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413

Rammer, Gerhard: Die Nazifizierung und Entnazifizierung der Physik an der Universität Göttingen.

Göttingen 2004 [Dissertation].

Steiner, Peter M.: Wolfgang Paul im Gespräch. In: Frieß, Peter/Ders. (Hrsg.): Forschung und Technik

in Deutschland nach 1945. München 1995, S. 197-214.

Walcher, Wilhelm: Über eine Ionenquelle für massenspektroskopische Isotopentrennung. In: Zeit-

schrift für Physik 122 (1944), S. 62-85.

Walcher, Wilhelm: Trennung der Thalliumisotope. I. Massenspektroskopische Trennung. In: Zeit-

schrift für Physik 122 (1944), S. 401-406.

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Wiesenthalweg (L 7), benannt 1988 nach

Georg Wiesenthal (1909-1972)

Historiker, Archäologe, Volkskundler

* 29. November 1909 in Darmstadt

1916-1919 Besuch der Bessunger Mittelschule 2

1919-1928 Darmstädter Realgymnasium (Abitur 1928)

1928-ca. 1934 Studium der Geschichte, Germanistik, Volkskunde und Kunstgeschichte in Frankfurt

am Main (1928-1930) und in Gießen (Mitglied der Burschenschaften Tuiskonia und Adelphia)

1932-1945 Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 927952, Eintritt: 01.02.1932)

1934 vorgeschichtliche Ausgrabungen auf dem Glauberg (Oberhessen)

Ca. 1935-1938 Tätigkeiten (Volontär) in der vorgeschichtlichen Abteilung des Hessischen Landesmu-

seums und beim Hessischen Denkmalarchiv in Darmstadt

1935-1945 Mitglied des NSDStB (laut eigener Angabe)

1936/37 Dissertation „Die alten Namen der Gemarkung Glauberg“ (veröffentlicht 1936, Promotions-

urkunde März 1937)

1937-1938 NSDAP-Blockleiter in Darmstadt

1938-1939 Assistent am Museum der Stadt Worms

1938-1939 Mitarbeit beim SD (Sicherheitsdienst der SS) in Worms

1938-1941 Veröffentlichungen in „Volk und Scholle“, darunter „Sonnenrad und Hakenkreuz in rhein-

hessischen Bodenfunden“ (1939)

1939 „Das Wormser Stadtgebiet in vor- und frühgeschichtlicher Zeit mit einer archäologischen Sied-

lungskarte“

1939-1945 Kriegsdienst (Dienstrang zuletzt: Leutnant)

1940 Heirat mit Herta DXXXsch [?] in Darmstadt

1945-1950 Russische Kriegsgefangenschaft

1950 für kurze Zeit nochmals am Museum der Stadt Worms tätig

Ca. 1950-1953 Tätigkeit beim Amt für Bodendenkmalpflege in Darmstadt

Ab 1953 Tätigkeit am Stadtmuseum Darmstadt (Leiter, als Sachbearbeiter im Dienst der Stadt Darm-

stadt); zahlreiche lokalhistorische Publikationen und Vorträge; Mitglied des Heinerfestausschusses

sowie der Vereinigung Alt Darmstadt

1953 „Darmstadts Bodenurkunden“

1955 „Darmstädter Anekdoten“

1956 „Darmstädter Kalender“

1968 „Stadtführer Darmstadt“

† 28. Juni 1972 in Darmstadt

Ehrungen:

---

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415

Wirken in der NS-Zeit

Georg „Schorsch“ Wiesenthal, Darmstädter Heimatforscher, in Darmstadt besonders ab den

1950er Jahren als Leiter des Stadtmuseums Darmstadt und Autor zahlreicher lokalgeschicht-

licher Veröffentlichungen präsent, war noch vor 1933 Mitglied der NSDAP, zeitweise Block-

leiter und kurzzeitig in Diensten des Sicherheitsdienstes der SS.

Wiesenthal studierte ab 1928 Geschichte, Germanistik, Volkskunde und Kunstgeschichte, bis

zum Wintersemester 1929/30 in Frankfurt am Main, anschließend an der Ludwigsuniversität

in Gießen. Er war aktives Mitglied der Burschenschaften Tuiskonia und Adelphia. Im Sommer

und Herbst 1934 nahm er an vorgeschichtlichen Ausgrabungen auf dem Glauberg (Kreis

Büdingen) teil; 1936 erschien „zur Erlangung der Doktorwürde bei der Philosophischen Fa-

kultät der Hessischen Ludwigsuniversität zu Gießen“ seine Dissertation „Die alten Namen der

Gemarkung Glauberg“. Seit Juli 1935 war er in Darmstadt als Volontär in der vorgeschichtli-

chen Abteilung der Kunst- und historischen Sammlungen des Hessischen Landesmuseums

tätig (bis ca. 1937) sowie beim Hessischen Denkmalarchiv im Schloss. Von 1938 an wirkte er

als Assistent am Museum der Stadt Worms.

Zwischen 1937 und 1941 veröffentlichte Wiesenthal zahlreiche Artikel zu vor- und frühge-

schichtlichen Themen mit lokalem bzw. regionalem Fokus in der Zeitschrift „Volk und Schol-

le“ sowie in weiteren Zeitschriften und Zeitungen. Wie in seinem Beitrag „Sonnenrad und

Hakenkreuz in rheinhessischen Bodenfunden“ (1939) spannte er teils einen Bogen von der

(germanischen) Frühgeschichte bis in die derzeitige Gegenwart:

„Auch das Hakenkreuz wird als uraltes Heils- und Sonnenzeichen oft in vorgeschichtlichen Gräbern

gefunden. Es wurde aus dem Radkreuz, der einfachsten Darstellung des Sonnenrads […], entwickelt.

Dieses alte Heilszeichen und Sinnbild des Lebens lebt schon seit Jahrtausenden auf deutschem Bo-

den. […] Es hält sich durch das ganze Mittelalter, auch in der christlichen Kunst; es behauptet sich vor

allem in den Werken der Volkskunst und wird im Anfang unseres Jahrhunderts Sinnbild der völki-

schen Bewegung, bis es heute in der Fahne des Dritten Reiches wieder seine Bedeutung als Heilszei-

chen nordischen Wesens und germanischen Volkstums erlangt hat“ (Wiesenthal, Georg: Sonnenrad

und Hakenkreuz in rheinhessischen Bodenfunden. In: Volk und Scholle 17 (1939), S. 205-210, Zitat

S. 205; vgl. auch Beiträge in der Hessischen Landeszeitung, StadtA DA, ST 61).

Bereits zu Beginn des Jahres 1932 war Wiesenthal der NSDAP beigetreten (Mitglieds-Nr.:

922952, Eintritt: 01.02.1932, BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei). Laut eigener An-

gaben (HHStAW) fungierte er von 1937 bis 1938 als Blockleiter der NSDAP. In seinem Melde-

bogen im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens gab er zudem zu Protokoll, dass er zu seiner

Zeit in Worms (1938-1939) Mitarbeiter des SD (Sicherheitsdienst der SS) gewesen war (mit

dem Vermerk: „Mitarbeit ohne V-Mann Ausweis“). Von 1935 bis 1945 war er – ebenfalls

seinen eigenen Angaben folgend – Mitglied des NSDStB.

Von 1939 bis 1945 war Wiesenthal als Soldat der Wehrmacht im Kriegsdienst; seine Trup-

penzugehörigkeiten, Dienstgrade und Einsatzorte lassen sich anhand der angefragten Infor-

mationen der Deutschen Dienststelle (WASt) relativ detailliert rekonstruieren: Aus den do-

kumentierten Meldungen geht hervor, dass Wiesenthal 1940 dem Pionier-Bataillon 229 an-

gehörte (unterstellt der 197. Infanterie-Division) mit Einsatzraum Posen (später: Niederlan-

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de), 1941 in der Bäckerei-Kompanie 112 diente (unterstellt der 112. Infanterie-Division,

Dienstgrad: Kriegs-Verwaltungsinspektor), 1942/43 als Zahlmeister dem Armee-Verpfle-

gungsamt 515 zugewiesen war (Einsatzräume: Weißrussland, Südrussland), von welchem er

im Oktober 1943 zur Wehrkreisverwaltung XII Wiesbaden abging. Im März 1944 war er in

Reims stationiert (Stab III/Grenadier-Regiment 1058, 91. Infanterie-Division), im Mai 1944

wurde er der Verwaltungs-Kompanie 179 zugeteilt. Laut eigener Angaben war er von August

bis Dezember 1944 als Fahnenjunker beim Pionier-Ersatz-Bataillon 34 und anschließend bei

der Pionier-Schule 1 Dessau-Roßlau stationiert, zuletzt (laut HHStAW seit 01.04.1945) im

Dienstrang eines Leutnants.

Anfang Mai 1945 geriet Wiesenthal in Dömitz an der Elbe in Kriegsgefangenschaft und blieb

schließlich bis Ende 1949 in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Minsk (Weißruss-

land) in Haft. Zum Jahresbeginn 1950 entlassen, kehrte er über das Heimkehrer-Lager

„Waldschänke“ in Bad Hersfeld für kurze Zeit nach Worms zurück (laut Knieß), um noch im

Frühjahr 1950 zum Amt für Bodendenkmalpflege nach Darmstadt zu wechseln (gemeldet in

Darmstadt seit März 1950, HStAD, H 3 Nr. 58996).

Das Entnazifizierungsverfahren gegen den Spätheimkehrer Georg Wiesenthal wurde unter

Bezug auf das „Gesetz zum Abschluss der politischen Befreiung in Hessen vom 30.11.1949“

eingestellt. In der Begründung wurde explizit darauf verwiesen, dass „der Tatbestand die

Einstufung in die Gruppe der Belasteten oder Hauptschuldigen nicht rechtfertigt, insbeson-

dere die Beweisunterlagen für eine solche Einstufung nicht ausreichend erscheinen“

(22.12.1950 Zentralberufungskammer Hessen; ein entsprechender Beschluss erfolgte am

10.01.1951, beides HHStAW). Seinerzeit angefragte Informationen und Dokumente, vor-

nehmlich zu Wiesenthals Tätigkeit beim SD, konnten nicht ermittelt werden.

Seit 1973 verfügt das Stadtarchiv über einen umfangreichen Nachlass zu Georg Wiesenthal,

der laut Auskunft von Dr. Peter Engels jedoch keine persönlichen Dokumente zu Wiesenthals

Wirken in der NS-Zeit enthält.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, NSDAP-Mitgliederkartei

Deutsche Dienststelle (WASt), Personenrecherche

HHStAW, Abt. 520/Frankfurt (A-Z), Wiesenthal, Georg

HStAD, H 3 Nr. 58996

HStAD, R 12 P Nr. 7172

UA Gießen, Promotionsdatenbank

StadtA DA, ST 61 Wiesenthal, Dr. Georg und Karl (Vater)

StadtA DA, Nachlass Georg Wiesenthal

StadtA Worms, 202/160

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417

Literatur:

Knieß, Friedrich Wilhelm: Wiesenthal, Georg. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 989 f.

Wiesenthal, Georg: Die alten Namen der Gemarkung Glauberg. Gießen 1936.

Wiesenthal, Georg: Sonnenrad und Hakenkreuz in rheinhessischen Bodenfunden. In: Volk und Scholle

17 (1939), S. 205-210.

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418

Windausweg (F 8), benannt 1976 nach

Adolf Windaus (1876-1959)

Chemiker

* 25. Dezember 1876 in Berlin

1883-1895 Besuch des Französischen Gymnasiums in Berlin

1895-1899 Studium zunächst der Medizin (1895-1897), dann der Chemie an den Universitäten Frei-

burg im Breisgau und Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin

1899 Promotion an der Universität Freiburg im Breisgau bei Heinrich Kiliani, „Neue Beiträge zur

Kenntnis der Digitalisstoffe“

Um 1900 Militärdienst in Berlin als Einjährig-Freiwilliger

1900-1901 Volontärassistent am Institut für Chemie der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (bei

Emil Fischer)

1901-1913 Tätigkeit an der Universität Freiburg im Breisgau (seit 1906 außerordentlicher Professor)

1903/04 Habilitation an der Universität Freiburg im Breisgau, „Über das Cholesterin“

1913-1915 ordentlicher Professor für Medizinische Chemie an der Universität Innsbruck

1915 Heirat mit Elisabeth Resau (drei Kinder)

1915-1944 Professor für Chemie und Direktor des Allgemeinen Chemischen Instituts an der Universi-

tät Göttingen

1919-1924 Mitglied der Demokratischen Partei

1925-1938 Untersuchungen hauptsächlich im Bereich der Vitamin-Forschung

1935 Ruhestandsgesuch (abgewiesen)

1938 Forschungsreise nach Paris

1944 Emeritierung (auf eigenen Wunsch)

† 9. Juni 1959 in Göttingen

Ehrungen:

1922 Mitglied (seit 1943 Ehrenmitglied) der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina Hal-

le/Saale

1927 Adolf-von-Baeyer-Denkmünze des Vereins Deutscher Chemiker

1928 Nobelpreis für Chemie

1938 Pasteur-Médaille (Paris)

1938 Treuedienst-Ehrenzeichen 1. Stufe (für 40 Jahre Dienstleistung)

1941 Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft (verliehen durch Adolf Hitler, ausgehändigt 1942)

1943 Kriegsverdienstkreuz I. und II. Klasse

1951 Großes Verdienstkreuz der BRD (ausgehändigt 1952)

1952 Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste

1959 Bundesverdienstkreuz mit Stern

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419

1977 Adolf-Windaus-Medaille der Universität Göttingen

Ehrendoktor der Universitäten Göttingen und Freiburg (1949) sowie der Tierärztlichen Hochschule

Hannover (1953) und der TH München

(Ehren-)Mitglied weiterer Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften, darunter Ehrenmitglied

des Vereins Deutscher Chemiker

Wirken in der NS-Zeit

Adolf Windaus, Chemiker und Nobelpreisträger, war während der NS-Zeit bis zu seiner Eme-

retierung 1944 Direktor des Chemischen Instituts der Universität Göttingen.

Windaus wirkte seit 1915 als Professor für Chemie an der Universität Göttingen, über lange

Jahre fungierte er als Direktor des Allgemeinen Chemischen Instituts. Für seine herausragen-

de Forschung im Bereich der Vitamine erhielt er 1928 den Nobelpreis für Chemie; die Vita-

minforschung bildete auch nach 1933 seinen Forschungsschwerpunkt (dazu ausführlich

Haas, S. 40-83, vgl. auch Stoff, S. 123-137). Windaus galt als einer der führenden Chemiker

seiner Zeit.

Über Windaus‘ Haltung zum NS-Regime lieferten Unterlagen aus dem ehemaligen BDC

(BArch Berlin, BDC, VBS 1/1200025989), aus seiner umfangreichen Personalakte der Univer-

sität Göttingen (UA Göttingen, Kur[atoriumsakten] Windaus, Adolf) sowie aus seinem Entna-

zifizierungsverfahren (Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 324) Auf-

schluss.

An der Qualität seiner wissenschaftlichen Forschung bestand auch seitens der NSDAP keiner-

lei Zweifel, wie aus politischen Beurteilungen aus den Jahren 1934, 1939 und 1941 hervor-

ging – an seiner Einstellung gegenüber „Führer und Bewegung“ hingegen sehr wohl: Bei aller

wissenschaftlichen Verdienste sei Windaus „weltanschaulich keineswegs tragbar“ hieß es in

einer Stellungnahme vom Juni 1934 (hierzu und zum Folgenden BArch Berlin, BDC, VBS

1/1200025989). Er sei und bleibe Demokrat, habe etwa den Besitzer eines Hotels offen mit

Boykott gedroht, wenn dieser die Hakenkreuzfahne hisste. Aus parteipolitischer Perspektive

erschienen Vortragsreisen ins Ausland sowie besondere Ehrungen kritisch zu prüfen bzw.

abzulehnen. Auch später – laut der tradierten Beurteilungen aus den Jahren 1939 und 1941

– ließen sich keine Hinweise darauf finden, dass Windaus „seine frühere grundsätzliche ab-

lehnende Haltung gegenüber dem heutigen Staat geändert“ habe (12.10.1941, NSDAP-

Ortsgruppe „Hainberg“ Göttingen). Er wurde allgemein als politisch uninteressiert bezeich-

net; als Forscher, der nur an seiner Wissenschaft interessiert gewesen sei („Er lebte in splen-

did isolation“). In einem späten Vermerk über die (aus Sicht der Partei eher unbefriedigende)

Situation an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen

hieß es:

„Windaus, Adolf o. emer. o. Professor der Chemie

grüsst bis zum heutigen Tag bewusst nicht mit dem deutschen Gruss, hat es abgelehnt, auf dem Ge-

biet der Gaskriege zu arbeiten, ein wissenschaftlich hochbedeutender und innerlich unbedingt vor-

nehmer Mann, aber im ganzen von durchaus vormärzlichen [sic!] Stil“ (Abschrift ohne Datum, wenn

tatsächlich nach Emeritierung: Juni 1944 oder später).

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420

Windaus, der offenbar keiner NS-Organisation angehörte (Mitgliedschaft im RLB nicht ausge-

schlossen, Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 324) und nach 1933 aus

dem Präsidium der Deutschen Chemischen Gesellschaft sowie dem Vorstand der Kaiser-

Wilhelm-Gesellschaft entfernt wurde, geriet wiederholt in Konflikt mit Verantwortlichen des

NS-Regimes, wenn es um Stellenbesetzungen und andere dienstliche Handlungen in seinem

universitären Verantwortungsbereich (etwa Habilitationen) ging. Er weigerte sich zudem an

politischen Kundgebungen der NSDAP teilzunehmen oder zur Teilnahme daran aufzurufen.

Relativ gut dokumentiert ist ein Vorgang aus dem Jahr 1935 (UA Göttingen, Kur Windaus,

Adolf sowie Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 324): Eine Gruppe na-

tionalsozialistischer Studenten zeigte Mitarbeiter von Windaus bei der SA an, die mit dem

einzigen jüdischen Doktoranden am von Windaus geleiteten Institut für Organische Chemie

verkehrten. Windaus wandte sich daraufhin im September 1935 an das Ministerium für Wis-

senschaft, Erziehung und Volksbildung mit der Bitte um seine Entpflichtung zum April 1936 –

da er nicht das Gefühl habe, für ein entschiedenes Vorgehen gegen die „Ruhestörer“ auf den

Rückhalt des Ministeriums zählen zu können. Der jüdische Doktorand sei ein „ordentlicher,

begabter und fleissiger Mann, der bei mir sein Doktorexamen machen will“. Windaus beklag-

te sich in dem Schreiben auch darüber, dass Assistenten- wie Habilitationsstellen nicht mehr

nach Begabung und Prinzipien der Leistung vergeben würden – wie er dies schon immer

praktizierte –, und zog vor diesem Hintergrund persönliche Konsequenzen:

„Ich bin zu alt, um die ethischen Anschauungen, in denen ich aufgewachsen bin, noch ändern zu kön-

nen. Da es mir unmöglich ist unter den gegenwärtigen gespannten Zuständen in Göttingen wissen-

schaftlich weiter zu arbeiten, halte ich es für das Richtige, meinen Platz zu räumen und ihn frei zu

machen für einen Mann, der die jetzige Entwicklung und die Jugend besser versteht als ich“

(02.09.1935, Windaus, an das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Berlin).

Windaus wurde daraufhin nach Berlin bestellt und ihm erläutert, dass sein Rücktritt nicht

erwünscht sei; den Hauptaktivisten der „aufsässigen Studenten“ wurde ein Wechsel der Uni-

versität nahegelegt (dem sie folgten). Tatsächlich wurde der jüdische Student, Klaus Neisser,

in Göttingen promoviert; er emigrierte nach seiner Promotion nach Brasilien (Deichmann,

S. 84).

Bis 1938 war es Windaus möglich, Reisen zu Vorträgen und Tagungen im Ausland wahrneh-

men (belegt sind Reisen in die Schweiz, nach Holland und 1938 letztmals eine Forschungsrei-

se nach Paris, UA Göttingen, Kur Windaus, Adolf); allerdings wurden ihm einzelne Auslands-

reisen untersagt. Sein Einkommen belief sich auf bis zu 220.000 RM jährlich (1941-1944);

neben seinem Gehalt erhielt er eine „Beteiligung am Reingewinn der Firma E. Merck-

Darmstadt an dem Vitaminerlös“ (Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr.

324, zu entsprechendem Vertrag aus dem Jahr 1927 vgl. Haas, S. 38 f. sowie 97 ff.).

Im März 1943 bat Windaus erneut um eine Versetzung in den Ruhestand; dieses Mal machte

er gesundheitliche Gründe geltend. „Selbstverständlich werde ich mich bemühen, kriegs-

wichtige Arbeiten fortzusetzen“, fügte er dem Schreiben abschließend noch an (04.03.1943,

an den Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, UA Göttingen, Kur

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Windaus, Adolf). Über ein Jahr später wurde seinem Gesuch schließlich entsprochen (Emeri-

tierung im Mai/Juni 1944).

Während der Kriegszeit war Windaus – entgegen aller Vorbehalte seitens der NSDAP – mit

der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft (1941 verliehen durch Adolf Hitler, ausge-

händigt 1942) sowie mit dem Kriegsverdienstkreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet worden.

Im November 1945 verfasste Adolf Windaus einen zehn seitigen, maschinengeschriebenen

Bericht, in dem er sich mit Fragen der Schuld in Bezug auf das „Dritte Reich“ beschäftigte

(Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 324). Er brachte darin seine Geg-

nerschaft zum Nationalsozialismus zum Ausdruck, die sich nach Kriegsende noch verschärft

habe, als er von den Gräueltaten in Konzentrationslagern hörte, die ihm zuvor – anders als

von den Alliierten allgemein behauptet – so nicht bekannt gewesen seien. Windaus wendete

sich in seiner Darstellung gegen eine „Kollektivschuld“ der Deutschen (ohne dass der Begriff

genannt wurde) und verwies abschließend auf das, was ihm als „Schuld der Alliierten“ er-

schien. Er selbst verstand sich – bei aller konsequenten Ablehnung des Nationalsozialismus –

nicht als dem aktiven Widerstand zuzurechnen, da er nie einer „politischen Untergrundbe-

wegung“ angehört habe.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, VBS 1/1200025989

Niedersächsisches Landesarchiv, Nds. 171 Hildesheim Nr. 324

UA Göttingen, Kur[atoriumsakten] Windaus, Adolf

Literatur:

Haas, Jochen: Vigantol. Adolf Windaus und die Geschichte des Vitamin D. Stuttgart 2007.

Stoff, Heiko: Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920-

1970. Stuttgart 2012.

Deichmann, Ute: Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. Wein-

heim 2001.

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422

Würthweg (J 8), Benennung beschlossen 1956 (benannt 1959) nach

Joseph Würth (1900-1948)

Darmstädter Verleger und Kunstdrucker

* 17. März 1900 in Darmstadt

Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt

1915 Mitbegründer der Vereinigung „Die Dachstube“; Illustrator, Setzer und Mitherausgeber des

gleichnamigen Flugblatts (1915-1918)

1918 Abitur

1918-1920 Studium der Kunstgeschichte in Frankfurt am Main

1919 Gründungsmitglied der Darmstädter Sezession und zeitweise deren Geschäftsführer (1926)

1921-1923 Herausgeber der Theaterzeitschrift „Das neue Forum“

1921/1927 Gründung des „Darmstädter Verlags“ (seit 1927 „Darmstädter Verlag. Handpresse Joseph

Würth“; Vorgänger: „Verlag der Dachstube“); fortan Verlegen bibliophiler Bücher – handgesetzt,

handgedruckt und handgebunden

1929 Heirat mit Charlotte „Lotte“ Weygandt

1934-1944 Mitglied der Reichskulturkammer

Ca. 1940-1944 Mitglied des RLB

Ca. 1942-1944 Mitglied der NSV

1944 „In memoriam Carlo Mierendorff“; Organisation der Beerdigung von Carlo Mierendorff auf dem

Waldfriedhof in Darmstadt

1944-1946 nach Zerstörung von Wohnung und Werkstatt in Darmstadt wohnhaft in Ruhpolding (Villa

Edelweiß)

1946-1948 wieder Druck bibliophiler Bücher sowie der Jugendzeitschrift „Helle Segel“

† 12. Oktober 1948 in Darmstadt

Ehrungen:

---

Wirken in der NS-Zeit

Joseph „Pepy“ Würth, Verleger, Setzer und Kunstdrucker, lebte und arbeitete bis 1944 in

Darmstadt. Nach der Zerstörung seiner Werkstatt und großer Teile seines Besitzes zog er

nach Ruhpolding, von wo aus er 1946 wieder nach Darmstadt zurückkehrte.

Würth druckte und verlegte auch während der NS-Zeit in seinem 1927 offiziell gegründeten

„Darmstädter Verlag. Handpresse Joseph Würth“ vor allem bibliophile Bücher, bei denen es

eher um das handgemachte Erscheinungsbild denn um eine hohe Auflage ging. Seine Werk-

statt/Druckerei befand sich nach wie vor auf dem Anwesen seines Wohn- und Elternhauses

in der Hoffmannstraße 19 – wo bereits 1915 „Die Dachstube“ gegründet worden war.

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423

Es erschienen handgefertigte Bücher unter anderem von Fritz Usinger („Die Stimmen“ 1934,

„Die Geheimnisse“ 1937, „Geist und Gestalt“ 1939, „Hermes“ 1941), Wilhelm von Ploennies

(„Leberecht vom Knopf“ 1935) und Kasimir Edschmid („Das Drama von Panama“, 1937 in

einer Auflage von 1.500 Exemplaren) sowie drei „Jahreszeiten“-Bände des Illustrators Albert

Schäfer-Ast (1938-1942). Zwischen 1938/40 und 1944 erschienen weitere bibliophile Hand-

pressendrucke, darunter ein Schiller-Gedichtband („Der junge Eros“ 1940) sowie 1944 der

Almanach „Ein gutes Jahr 1944“, letzterer herausgegeben von Henriette von Schirach. Würth

soll sich dazu gezwungen gesehen haben, den als Weihnachtsgabe des Kriegsbetreuungs-

diensts entstandenen Almanach herzustellen, um weiter als Verleger tätig sein zu können

(vgl. Material in StadtA DA, ST 61).

Als besonders aufwändig produzierter Druck sollte 1944 die „Carmina Burana“ von Carl Orff

auf Würths Handpresse hergestellt werden, „in lateinisch, altfranzösisch und althochdeutsch

gedruckt, mit handschriftlichen Noten und Texten von Carl Orff und 42 handkolorierten

Zeichnungen von Eva Schwimmer“ (StadtA DA, ST 61). In enger Zusammenarbeit mit Orff

und Schwimmer entstand ein Prachtband, dessen Auflage von 1.700 Exemplaren schon vor

Drucklegung ausverkauft war. Beim verheerenden Luftangriff auf Darmstadt am 11./12. Sep-

tember 1944 verbrannte die gesamte bereits versandfertige Auflage. Erhalten blieb allein ein

Andruck, den Carl Orff später der Witwe Würths zur Verfügung stellte. Neben der Auflage

der „Carmina Burana“ wurden auch weitere Originalzeichnungen und Handschriften sowie

große Teile von Würths Besitz zerstört.

Im Jahr 1944 organisierte Würth die Beisetzung von Carlo Mierendorff auf dem Darmstädter

Waldfriedhof, anlässlich derer Theodor Haubach die Gedenkrede hielt. Würth hatte den

Leichnam seines in Leipzig bei einem Luftangriff im Dezember 1943 getöteten Freundes nach

Darmstadt bringen lassen (wie nach 1945 zu lesen war gegen den Willen des dortigen Gau-

leiters), wo seine Asche im Grab der Eltern beigesetzt wurde (am 22.02.1944). – Mierendorff

hatte noch 1941 die deutsche Übersetzung von Texten des schwedischen Lyrikers Carl Mi-

chael Bellmann unter Pseudonym bei Würth verlegen lassen („Bachanal im Grünen“, mit

Federzeichnungen von Eva Schwimmer).

In Presseberichten nach 1945 wurde wiederholt darauf verwiesen, dass Würth auch wäh-

rend der NS-Zeit zu den Freunden aus der „Dachstuben“-Zeit den Kontakt zu halten suchte;

seine Werkstatt sei bis zur Zerstörung 1944 eine „Oase der Freiheit“ gewesen (so Kurt Heyd

im DE vom 15.03.1980).

Nach der Zerstörung seines Wohnhauses und der angeschlossenen Druckerei im Herbst 1944

zog Würth (auf Vermittlung seines Freundes Kasimir Edschmid) mit seiner Frau und seiner

Mutter nach Ruhpolding (Oberbayern), in die Villa Edelweiß, von wo aus er im September

1946 nach Darmstadt zurückkehrte. Bis zu seinem frühen Tod 1948 war er wieder als Verle-

ger in Darmstadt tätig (Erteilung der Verlagslizenz – unter der alten Firmenbezeichnung –

durch die Militärregierung am 27. Juni 1946); die alte Handpresse konnte allerdings nicht

wieder in Gang gebracht werden.

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Laut eigener Angaben im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens (HHStAW) war Joseph

Würth seit 1934 Mitglied der Reichskulturkammer, etwa seit 1940 des RLB und seit 1942 der

NSV (er gab im Meldebogen die Eintritte in RLB und NSV mit Fragezeichen an und datierte

alle Mitgliedschaften bis 1944). Er war demnach kein Mitglied der Wehrmacht, als steuer-

pflichtiges jährliches Gesamteinkommen (in RM) gab er für 1934 „Kein“, für 1938 „ca. 1.000“

und für 1943 „6.972“ zu Protokoll. Unter Selbsteinschätzung vermerkte er „Unbelastet“, als

Begründung dafür gab er an: „Weil ich keiner Naziorganisation unter 1 angehört und in den-

jenigen unter 2 keine Tätigkeit ausgeführt habe“ (10.05.1946, Ruhpolding). Er wurde als

„Vom Gesetz nicht betroffen“ (Stempel undatiert) eingestuft.

Quellen:

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 44239 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Darmstadt Nr. 11865

HStAD, R 4, 21063

HStAD, R 12 P Nr. 7335

StadtA DA, ST 61

StadtA DA, Benennung von Straßen/Umbenennung von Straßen, Bd. 1 [Provenienz: Hochbauamt

(1949-1964)]

StadtA DA, Archiv-Kasten mit Mappen Kommission für Straßenbenennung [1956-1977]

Literatur:

Netuschil, Claus K.: Würth, Joseph. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 1008 f.

Netuschil, Claus K.: Der Darmstädter Verlag – Handpresse Joseph Würth. Ein Beitrag zur Verlagsge-

schichte und Buchkunst in Darmstadt 1927-1948. Darmstadt 1980.

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Zerninstraße (P 6-7), benannt 1949 [noch zu Lebzeiten!] nach

Heinrich Zernin (1868-1951)

Darmstädter Kunstmaler

* 23. November 1868 in Darmstadt

1873 Umzug in die Neckarstraße 9 in Darmstadt

1875-1887 zunächst Besuch des Instituts von Theodor Maurer, anschließend des Realgymnasiums in

Darmstadt (bis zur Untersekunda); erster Zeichenunterricht beim Maler August Fritz

1887 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger

1887-1891 letzter Schüler des Darmstädter Kunstmalers Heinrich Hoffmann

Ca. 1889-1890 Besuch der großherzoglichen Museumszeichenschule im Darmstädter Residenz-

schloss, Unterricht bei Ludwig Hofmann-Zeitz (gemeinsam mit seinem Vetter Leo Kayser)

1891-1892 Schüler des Darmstädter Kunstmalers Heinrich Richard Kröh

Ab 1892 freischaffender (Landschafts-)Maler

1892/93 nach Aufenthalt in Berlin mehrmonatiger Aufenthalt mit Leo Kayser in München, Naturstu-

dien, Bekanntschaft mit Paul Weber

1893-1925 neben der (Landschafts-)Malerei umfangreiches Werk an Radierungen

1894 Heirat mit Magdalena „Leni“ Hufnagel; von München Rückkehr nach Darmstadt

1895 Italienreise (mit Frau Leni und Leo Kayser), Besuch bei Arnold Böcklin in der Nähe von Florenz

Um 1900 Kopien alter Militärbilder im Auftrag seines Bruders Alfred Zernin

1900 Herausgabe einer Mappe mit Lithografien (im Selbstverlag)

1913 Umzug nach (Darmstadt-)Eberstadt, fortan dort wohnhaft

1918 zum Hilfsdienst verpflichtete Hilfskraft beim Stadtmuseum Darmstadt (bei Karl Noack, Kunstge-

schichtliche Sammlungen); etwa zu der Zeit auch Mitarbeit an den „Hessischen Biographien“ sowie

am Künstlerlexikon Thieme-Becker

Ab 1920 Leiter des Ortsvereins Darmstadt der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft

Ca. 1934-1945 Mitglied der RKK, der NSV, des RLB und des RKB

1937/39 Spende „Künstlerdank“

1938 Gesamtausstellung seines Werks in der Kunsthalle Darmstadt

1944 Zerstörung seines Ateliers in der Rheinstraße in Darmstadt

1949 Tod seiner Frau

† 17. November 1951 in Darmstadt

Ehrungen:

1938 Ausstellung (Gesamtschau) anlässlich Zernins 70. Geburtstags in der Kunsthalle Darmstadt

1942 Kulturpreis der Stadt Darmstadt (gemeinsam mit dem Komponisten Paul Zoll)

1968 Gedächtnisausstellung anlässlich seines 100. Geburtstags im Justus-Liebig-Haus in Darmstadt

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Wirken in der NS-Zeit

Heinrich Zernin, Darmstädter Kunstmaler, Schüler unter anderem von Heinrich Hoffmann

und Heinrich Reinhard Kröh, wirkte auch während der NS-Zeit als Kunstmaler in Darmstadt(-

Eberstadt).

Seit 1913 lebte Heinrich Zernin in (Darmstadt-)Eberstadt, sein geräumiges Atelier in Darm-

stadt (Rheinstraße) nutzte er zunehmend als Lager für sein umfangreiches Werk. Über sein

Wirken in der NS-Zeit lieferte die biografische Literatur nur wenige Informationen. Eine Nähe

zum Nationalsozialismus wurde ihm einhellig abgesprochen. Seine Biografin Anette Wagner-

Wilke äußerte sich etwa wie folgt:

„In den 1930er Jahren wird es ruhiger um Heinrich Zernin. Mit dem sich verbreitenden nationalsozia-

listischen Gedankengut sympathisiert er nicht. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges lebt Heinrich

Zernin zurückgezogen in Eberstadt und arbeitet weiter an seinen Bildern“ (Wagner-Wilke, S. 18).

Anlässlich Zernins 70. Geburtstags 1938 zeigte die Kunsthalle Darmstadt eine Gesamtausstel-

lung seines Werks, die laut zeitgenössischer Presseberichte von Publikum und Kritik sehr

wohlwollend aufgenommen wurde (StadtA DA, ST 61). Ernst W. Müller etwa würdigte Zern-

ins künstlerisches Werk und schloss mit den Worten:

„Zernin hat seiner Heimat viel gegeben, die Heimat aber weilte lange, lange Jahre nicht bei sich

selbst, sondern bei ihren liberalistischen Feinden und gab Zernin nur kargen Lohn. Er aber ging nie

mit der Mode[,] sondern blieb sich selber und der Heimat treu. Mögen nun endlich auch unserem

deutschen Maler Heinrich Zernin die wohlverdienten Herbstreben reifen“ (23.11.1938, StadtA DA,

ST 61).

Im Jahr 1942 erhielt Zernin den Kulturpreis der Stadt Darmstadt zugesprochen, gemeinsam

mit dem Komponisten Paul Zoll. Leider, so war zu lesen, war zur Preisverleihung durch OB

Otto Wamboldt „Altmeister Zernin krankheitshalber am Erscheinen verhindert“ (StadtA DA,

ST 61). Auch Claus K. Netuschil verwies in einer biografischen Skizze auf Zernins Fernbleiben

anlässlich jener Feierlichkeiten:

„In den damaligen Zeitungsmeldungen hieß es, Zernin entschuldige sein Fernbleiben krankheitshal-

ber. Der Künstler, der keineswegs konform mit dem politischen System des dritten Reiches ging, fehl-

te bei der Preisverleihung aus Gründen der Überzeugung. Nach dem Krieg wollten viele nicht verste-

hen, warum Zernin den Preis überhaupt angenommen hatte. Zur Ablehnung fehlte dem 74-jährigen

die Kraft“ (Netuschil 1978 [keine Seitenzahlen]; vgl. ähnliche Deutung bei Wagner-Wilke, S. 18).

Zernin war Mitglied der Reichkulturkammer für bildende Künste (Mitglieds-Nr. 1170) sowie –

eigenen Angaben im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens folgend (HHStAW) – Mitglied

der NSV, des RKB und des RLB. Zu zeitlichen Angaben sah er sich 1946 nicht in der Lage, da

alle Unterlagen in seinem Atelier verbrannt seien. Er gab zudem eine „einmalige Altersspen-

de vom Künstlerdank 1200 M“ zu Protokoll. Wie tradierte Unterlagen aus der RKK-Akte Zern-

ins dokumentieren (BArch Berlin, BDC, R 55/33399), verteilte sich der Betrag offenbar auf

mehrere Einzelspenden ab 1937. Die Zuwendungen aus dem „Künstlerdank“ mussten jeweils

beantragt und begründet werden. Vor der Genehmigung wurden unter anderem bei den

lokalen NSDAP-Parteiorganen Erkundigungen eingeholt. Zu Zernin – der zu keiner Zeit Mit-

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glied der NSDAP war – wurde entsprechend die NSDAP-Ortsgruppe Darmstadt-Eberstadt

angefragt; gegen eine Zuwendung bestanden offensichtlich keine Bedenken:

„Der angefragte Kunstmaler Heinrich Zernin war vor der Machtübernahme schon national eingestellt

und großer Judengegner und bejaht den heutigen Staat bedingungslos. Z. ist also politisch zuverläs-

sig“ (17.08.1938, Ortsgruppe Eberstadt der NSDAP, i. A. Amtsleiter Hütten, an das Reichsministerium

für Volksaufklärung und Propaganda Spende „Künstlerdank“, BArch Berlin, BDC, R 55/33399, Hervor-

hebung im Original).

Zernins Lebensverhältnisse wurden wiederholt als „bescheiden“, seine wirtschaftliche Lage

als „schlecht“ bezeichnet, seine künstlerische Begabung als „herausragend“ bzw. „über-

durchschnittlich“ beurteilt. Der Altmeister selbst machte geltend, dass er kaum mehr Bilder

verkaufte und zu „70 % arbeitsunfähig erklärt“ sei. Anlässlich einer Anfrage 1939 gab der

Ortsgruppenleiter der NSDAP-Ortsgruppe Darmstadt-Eberstadt folgende Auskunft:

„Der Kunstmaler Heinrich Zernin ist politisch zuverlässig. Er ist mir persönlich seit etwa 1920 bekannt,

hat sich niemals aktiv oder passiv gegnerisch betätigt und hat schon Jahre vor der Machtübernahme

mit der Bewegung sympathisiert. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind gering. Künstlerisch be-

trachtet gehörte er einer älteren Schule an, doch sind seine Bilder, insbesondere seine Aquarelle

heute noch recht ansprechend. Insbesondere hat Zernin niemals Konzessionen an den Kulturbol-

schewismus gemacht“ (10.05.1939, Ortgruppenleiter der NSDAP-Ortsgruppe Darmstadt-Eberstadt,

an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Spende „Künstlerdank“, BArch Berlin,

BDC, R 55/33399).

Beim Luftangriff auf Darmstadt im September 1944 wurde Zernins Atelier in der Rheinstraße

und darin große Teile seines Œuvres zerstört (Wagner-Wilke beziffert den Verlust mit 400

Bildern, S. 19).

Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens stufte sich Zernin selbst in „die Gruppe der Unbe-

lasteten“ ein, mit der Begründung: „Nach Artikel 9 des Gesetzes ist keine [sic!] der dort an-

geführten Absätze auf mich anwendbar, da ich politisch ganz uninteressiert bin“. Er wurde

am 18.04.1947 als „Vom Gesetz nicht betroffen“ eingestuft.

Quellen:

BArch Berlin, BDC, R 55/33399

HHStAW, Abt. 520/Darmstadt-Zentral, Nr. 42910 (nur Meldebogen)

HStAD, H 3 Nr. 74084

HStAD, R 12 P Nr. 7398

StadtA DA, ST 61, Zernin, Heinrich

StadtA DA, ST 45, Nachlass Franz Best

Literatur:

Heinrich Zernin als Dokumentator seiner Heimatstadt. Darmstadt 1979.

Netuschil, Claus K.: Heinrich Zernin (1868-1951). Darmstadt 1978.

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Netuschil, Claus K.: Zernin, Heinrich. In: Stadtlexikon Darmstadt (2006), S. 1015.

Netuschil, Claus K.: Von Eugen Bracht bis Pierre Kröger. Ein Darmstädter Bilderschatz von 1900 bis

2000. Darmstadt 2014. [zu Zernin S. 100 ff.]

Wagner-Wilke, Annette (Hrsg.): Heinrich Zernin (1868-1951). Ein Eberstädter Heimatmaler. Darm-

stadt ²2013.

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429

Abkürzungsverzeichnis

ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund

AdJb Archiv der deutschen Jugendbewegung

AOK Allgemeine Ortskrankenkasse

AWO Arbeiterwohlfahrt

BArch Bundesarchiv

BDA Bund Deutscher Architekten

BDC Berlin Document Center

BDM Bund Deutscher Mädel

BK Bekennende Kirche

BRD Bundesrepublik Deutschland

CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands

DAF Deutsche Arbeitsfront

DAM Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main

DC Deutsche Christen

DDR Deutsche Demokratische Republik

DE Darmstädter Echo

DESY Deutsches Elektronen-Synchrotron

DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

DJ Deutsches Jungvolk

DJH Deutsches Jugendherbergswerk

DNVP Deutschnationale Volkspartei

DRK Deutsches Rotes Kreuz

DT Darmstädter Tagblatt

EJW Evangelisches Jugendwerk

EKHN Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

EKNH Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Gestapo Geheime Staatspolizei

GDCh Gesellschaft Deutscher Chemiker

GSI Gesellschaft für Schwerionenforschung

HEAG Hessische Eisenbahn-Aktiengesellschaft [1941: Hessische Elektrizitäts-Aktiengesellschaft]

HJ Hitler-Jugend

HK Holger Köhn

HHStAW Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

HStAD Hessisches Staatsarchiv Darmstadt

HWA Heereswaffenamt

JM Jungmädelbund

KAV Katholischer Akademikerverband

KD Kunst-Dienst

KDAI Kampfbund Deutscher Architekten und Ingenieure

Page 430: Projekt Darmstädter Straßennamen · 2 Aßmuth, Peter 134 Bartning, Otto 135 Bäumer, Gertrud 139 Behnisch, Günter 143

430

KDF Katholischer Deutscher Frauenbund

KKD Kirchenkampf

KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

KZ Konzentrationslager

LDP Liberaldemokratische Partei (Hessens 1946-1948)

MA Militärarchiv

MdB Mitglied des Deutschen Bundestags

MPG Max-Planck-Gesellschaft

NDB Neue Deutsche Biographie

NS Nationalsozialistisch/Nationalsozialismus

NSBDT Nationalsozialistischer Bund Deutscher Technik

NSBO Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation

NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSDDB Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund

NSBDT Nationalsozialistischer Bund Deutscher Technik [vor 1936: Techniker]

NSDStB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund

NSFK Nationalsozialistisches Fliegerkorps

NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps

NSKOV Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung

NSRB Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund

NSRL Nationalsozialistischer Reichsbund für Leibesübungen

NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

OB Oberbürgermeister

PG/Pg.(Pgg) (NSDAP-)Parteigenosse(n)

RAD Reichsarbeitsdienst

RFR Reichsforschungsrat

RKB Reichskolonialbund

RKdbK Reichskammer der bildenden Künste

RKK Reichskulturkammer

RLB Reichsluftschutzbund

RM Reichsmark

RWTH Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule

SA Sturmabteilung

SD(-UA) Sicherheitsdienst des Reichsführers SS(-Unterabteilung)

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS Schutzstaffel

StadtA (DA) Stadtarchiv (Darmstadt)

StAM Staatsarchiv München

SZ Süddeutsche Zeitung

TH(D) Technische Hochschule (Darmstadt)

UA Universitätsarchiv

VDA Verein für das Deutschtum im Ausland [1933: Volksbund für das Deutschtum im Ausland]