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Handbuch psychologischer Grundbegriffe herausgegeben von Theo Herrmann , Peter R. Hofstätter , Helmuth P. Huber, Franz E. Weinert Kösel-Verlag München

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Handbuch

psychologischerGrundbegriffe

herausgegebenvon Theo Herrmann

,Peter R. Hofstätter

,

Helmuth P. Huber, Franz E. Weinert

Kösel-Verlag München

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288 Messung und Statistik

Eine zusätzliche Problematik entsteht dadurch, daß die Null-Hypothese aus

der Menge aller Möglichkeiten einen einzigen Fall herausgreift,während die

ursprüngliche Hypothese alle übrigen Fälle umfaßt. Die a-priori-Wahr-scheinlichkeit der Alternativhypothese ist damit gleich 1. Dies hat zur Folge,daß man bei hinreichend großer Stichprobengröße mit Wahrscheinlichkeit1 ein signifikantes Ergebnis erhält. Irgendwelche Effekte,

die dem Fehlen

eines jeglichen Effektes widersprechen, wird es wohl überall geben. Ob siefür Theorienbildung und Praxis in einer Wissenschaft bedeutsam sind

,ist ein

völlig anderes Problem, das häufig nicht hinreichend gewürdigt wird.

Allerdings kann man die skizzierten Nachteile der üblichen Hypothesente-stung wohl kaum den statistischen Verfahren anlasten,

sondern vielmehr der

ungenügenden Spezifität üblicher Hypothesen in der Psychologie.

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Werner H. Tack

Moralisches Verhalten

Seit Hartshorne/May (1928-30) gut begründete Zweifel hinsichtlich derIdee eines über Situationen konsistenten und über die Zeit stabilen

Persönlichkeitsmerkmals Moralität äußerten, gewann die Überzeugung anEinfluß, daß verschiedene Formen moralischen Handelns je spezifischeKompetenzen und Motivationen erfordern sowie unterschiedlichen Ent-wicklungs- und Aktualisierungsbedingungen unterliegen. In der Folgeentwickelten sich mehrere Forschungszweige, die vielfach ohne Bezugzueinander jeweils umgrenzte Ausschnitte des Problemfeldes bearbeiteten.Ein Blick auf die empirische Forschung der letzten Jahrzehnte läßthinsichtlich Fragestellungen und Methoden, anthropologischen Grundan-nahmen und theoretischen Positionen höchst unterschiedliche Ansätze

erkennen.

Schon die Liste der in der Forschung gebräuchlichen Verhaltensindikatorenfür eine Disposition »Moral« zeigt die Vielfalt der Forschungsprobleme:Helfen, Schenken, Ehrlichkeit in Leistungsprüfungen, Beherrschung aggres-siver Tendenzen, Widerstand gegen den Meinungsdruck in einer Gruppeoder gegen das Begehren einer Autorität (in Gehorsamkeitsexperimentenvom Typ Milgram), Persistenz in der Bearbeitung langweiliger Aufgaben,Beachtung einer Spielregel usw. Ubereinstimmend wird ein Verhalten alsmoralisch klassifiziert, wenn es ohne äußere Kontrolle (Überwachung,Druck, Anreiz) einer sozial verbindlichen Norm (fNormen S. 329 ff.), einemallgemeinen ethischen Prinzip oder auch einer durch Autorität arbiträrgesetzten Regel entspricht. Die Beachtung einer Norm ohne äußereKontrolle gilt als ein erstes Indiz für deren Internalisation. Als weitereInternalisationsindikatoren werden auch argumentativ vertretene Wertüber-zeugungen (moralisches Urteilen) sowie emotionale Reaktionen nachÜbertretungen (Schuld, Scham, Reue) gewertet.Das Konzept Moral ist zwar nicht mehr als eine lose Klammer um heterogeneForschungsbereiche, regt aber doch immer wieder Bemühungen um eineIntegration an. Die heute verfügbaren Modelle moralischen Handelns undWertens bieten gewiß kein kohärentes Gesamtbild, die Tendenz zu einerübergreifenden Systemkonstruktion ist aber in den letzten Jahren deutlich.Wir wollen zunächst einen Uberblick über die wichtigsten Arbeitsrichtungengeben, hier und dort auf Aufgaben künftiger Forschung hinweisen, umanschließend einige Anwendungsimplikationen aufzuzeigen.

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290 Moralisches Verhalten

1 Beiträge einzelner Forschungsrichtungen

1.1 Moral als Konstrukt der differentiellen Psychologie

Die im Common Sense fest verwurzelte Überzeugung, Moral sei eine zur

verläßlichen Beschreibung von Menschen geeignete Dimension,hält einer

wissenschaftlichen Überprüfung zumindest dann nicht stand,wenn Normen-

bezogenes Verhalten die Basis der Beurteilung bildet. Eine mäßige transsi-tuationale Konsistenz moralischen Verhaltens wird häufig berichtet,

aber

Korrelationen über r= .40 sind selten, auch dann, wenn mehrere Prüfungen

der gleichen Art wie Ehrlichkeit in Leistungssituationen (Hartshorne/May1928) oder altruistisches Verhalten (Rushton 1976) betrachtet werden.

Analysiert man Normen-bezogene Verhaltensentscheidungen im Rahmeneines differenzierteren Handlungsmodells (z.B. Mischet/Mischel 1976),

ist

dies nicht weiter überraschend. Faktoren wie Übertretungsmotivation,

Valenzen erwarteter Handlungsfolgen für sich und andere, Interpretationder Aufforderungssituation, Verbindlichkeitsgrad perzipierter Regeln usw.

variieren über Situationen und Zeit,

so daß auch dann variable Verhaltens-

entscheidungen zu erwarten sind, wenn man eine gewisse Stabilität vonWertüberzeugungen, Selbstkontroll- und Handlungskompetenzen unter-stellte.

Solch naheliegende Überlegungen führten schon bald zu einer Differenzie-rung mehrerer Dimensionen moralischen Verhaltens und Wertens sowie zurKonstruktion entsprechender Meßskalen, die aber nur zum Teil anspruchs-volleren Testgütekriterien (fTestdiagnostik, S. 487 ff.) genügen. Hogans(1973) Bemühungen um Validierung von Fragebogenskalen zur Erfassungdes moralischen Wissens, der Akzeptierung sozial verbindlicher Regeln,

die

Empathie, der Autonomie des moralischen Urteils illustrieren diesenForschungsansatz. Ähnliche und weitere Skalen, etwa zur Messung derRollenübernahme, der Reife des moralischen Urteilens

, der Fähigkeit zumAufschub von Bedürfnisbefriedigung werden in der Forschung vielfachverwendet. Korreliert mit Verhaltensindikatoren für Norminternalisierung,

ergeben sich substantielle multiple Korrelationskoeffizienten von R>.50,

häufiger in jenen Fällen, in denen auch der theoretische Bezug zwischen dendifferentiell-psychologischen Konstrukten und den Verhaltensmaßen über-zeugt (Dlugokinski/Firestone 1973).

1.2 Der Beitrag der kognitiven Entwicklungspsychologie

Eine Fülle von Untersuchungen in der Tradition Piagets über die Entwick-lung des moralischen Urteilens wurde vor allem wieder durch KohlbergsArbeiten (seit 1964) angeregt. Es geht hier in erster Linie nicht ummoralisches Verhalten, sondern um die Genese argumentativer Begrün-

Moralisches Verhalten 291

dungsmuster für Regeln, Sanktionen und Entscheidungen. Der Probandwird auf rein intellektuellem Niveau mit Problemen konfrontiert, ohne daß

er in einer aktuellen Handlungssituation engagiert wäre. Einige Entwick-

lungslinien inhaltlicher und struktureller Art (hin zu höherer Komplexitätder Urteile, größerer Autonomie, internaler Orientierung) sind gut doku-mentiert (vgl. Hoffman 1970). Kohlberg konstruierte eine Skala der Reifedes moralischen Urteilens, die von einem vormoralischen (Orientierung anexternen Konsequenzen) über ein konventionell konformistisches (Orientie-rung an den Wertungen wichtiger Sozialpartner) zu einem Niveau mitvorherrschender Orientierung an individuellen Prinzipien und autonomerUrteilsfindung reicht. Die Forschungen zur Genese evaluativer Stellungnah-men scheinen auch die Grundlage für die Konzeption eines Zieltyps fürmoralische Erziehung und Entwicklung zu liefern, der sich auszeichnet durchdifferenziertes, komplexes Urteilen, durch autonome, flexible, situationsan-gepaßte Auslegung ethischer Prinzipien bei Handlungsentscheidungen und-bewertungen. Ähnliche Charakterisierungen moralischer Reife finden sichauch bei Hoffman, Loevinger, Peck/Havighurst, Ausubel u.a.m. (vgl.Kohlberg 1969).Die einseitige Konzentration auf die Argumentationsstruktur läßt die engereVerbindung der Kohlbergschen Dimension mit der allgemeinen Intelligenz-entwicklung als mit moralischem Verhalten verständlich werden (Hoffman1970). Inhaltliche Aspekte eines Wertsystems oder der Verbindlichkeitsgradvon Normen werden nicht erfaßt. Hypothesen über einen Zusammenhangzwischen der Reife moralischen Urteilens und konkretem Verhalten können

nur aus einer differenzierten Analyse des je gegebenen Entwicklungsniveausabgeleitet werden. So läßt erst eine Orientierung an selbstakzeptiertenPrinzipien Ungehorsam gegenüber einer Autorität in einem Milgram-Ver-such (im Sinne der Ablehnung einer ethisch verwerflichen Forderung) oderNonkonformität in einem Asch-Experiment erwarten (Saltzstein et al. 1972).

1.3 Die psychoanalytische Tradition

In tiefenpsychologischer Sicht ist die Internalisation von Normen ausemotionalen Reaktionen wie Scham oder Schuldgefühlen nach Übertretun-gen zu erschließen. Der Bezug der meist durch projektive Verfahrenermittelten Gewissensreaktionen zu moralischem Verhalten ist inkonsistent

(Kohlberg 1964). Eine theoriebezogene Differenzierung der emotionalenBewertungen eigenen Verhaltens scheint daher dringend geboten (z.B.Aronfreed 1968), ebenso eine überzeugende Analyse ihrer Funktion inmoralischen Entscheidungskonflikten. Eine vorschnell als Schuldgefühlklassifizierte Äußerung mag in Wirklichkeit instrumentellen Wert fürStrafvermeidung haben oder Ausdruck erlebter Verantwortlichkeit für die

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292 Moralisches Verhalten

Schädigung eines Anderen sein oder auch Furcht vor Ehrverlust widerspie-geln. Aktualisierungsbedingungen und Handlungskonsequenzen dieser un-terschiedlichen kognitiv/emotionalen Stellungnahmen dürften verschiedensein. Eine interessante Weiterführung dieser Forschungsrichtung ist in derAnalyse der Voraussetzungen »echter Schuldgefühle« (im Sinne desMitleidens mit anderen, für deren Leid man verantwortlich ist) zu sehen,

z. B.

Hoffmans (1975) Arbeiten zur Entwicklung und Sozialisation von Empa-thie.

1.4 Die lernpsychologische Analyse moralischen Verhaltens

In der Tradition Mowrers und Solomons steht die Strafforschung imVordergrund: Schuldgefühle werden als Strafantizipation gedeutet, normge-rechtes Verhalten als passive Vermeidung, gesichert durch Strafen, diehinsichtlich Intensität, Zeitpunkt, Art und Konsistenz optimiert werdenkönnen ( Walters/Parke 1967). Mit der kognitiven Wende der Lernpsycholo-gie wandelt sich das Interesse und richtet sich eher auf Induktionstechniken

im Sinne Aronfreeds (1968). Die neuen Fragestellungen betreffen dieInteraktion von Strafparametern und Regelbegründungen, die Abhängigkeitder Effektivität von Begründung und Begründungsmuster vom Entwick-lungsniveau des Lerners (Parke 1974).

1-5 Moralisches Verhalten als Funktion von Selbstkontrolle und Variablen

der Ich-Stärke

Die alte Weisheit, daß Willensstärke und Klugheit den moralischenCharakter ausmachen, erfährt durch empirische Forschungen Bestätigung,

die zeigen, daß Variablen wie Befähigung zum Aufschub von Bedürfnisbe-friedigung, Antizipation längerfristiger Konsequenzen,

Zukunftsorientie-

rung, Persistenz bei langweiligen Aufgaben,Kontrolle asozialer Phantasien

in unterschiedlicher Weise als Voraussetzungen oder Formen von Selbst-steuerungsprozessen interpretierbar sind. Sie alle kovariieren mit diversenIndikatoren moralischen Verhaltens

, wie wiederholt nachgewiesen werdenkonnte (Kohlberg 1964).Die Befolgung akzeptierter Regeln gegen konfligierende Motivationen setztSelbststeuerungsprozesse unterschiedlicher Art voraus, deren Optimierungin gezielten Interventionsprogrammen möglich erscheint: Sprachliche Wie-derholung einer Regel (Hartig/Kanfer 1973),

Denken an erfreuliche

Ereignisse (Masters/Santrock 1976), Selbstbewertungen unter Bezug auf einWertsystem oder auf Vorbilder, die Antizipation von Handlungskonsequen-zen für sich und andere, die bewertende Interpretation sozialer Handlungssi-tuationen usw. sind einige Ansatzpunkte für Selbststeuerungsprogramme(zur Übersicht Mischel/Mischel 1976).

Moralisches Verhalten 293

1.6 Die attributionstheoretische Perspektive

Überzeugungen bezüglich der Verursachung von Entscheidungen undHandlungsfolgen haben kognitive, affektive und verhaltensmäßige Konse-quenzen. Dies gilt gleichermaßen für die Interpretation eigenen und fremdenVerhaltens. Ob eine erlittene Aggression als unbeabsichtigt, gerechtfertigtoder böswillig interpretiert wird, determiniert die emotionalen Stellungnah-

men und das weitere Verhalten (Pepitone/Sherberg 1957). Die Unterlassung

einer Hilfeleistung kann eher rationalisiert werden, wenn andere, möglicher-

weise als kompetenter eingeschätzte Personen auch hätten eingreifen

können (»bystander-Effekt«, zur Übersicht Lück 1975). Die Verantwortungfür eine moralwidrige Handlung kann geleugnet werden, wenn einerAutorität die Entscheidungskompetenz zugeschrieben wird (Milgram 1963),ein Verbrechen mag durch eine Abwertung des Opfers gerechtfertigt werden

(Bandura 1973). Die Einschätzung der eigenen Verantwortlichkeit be-stimmt, ob man wegen eines Leidens, das einem geliebten Menschen

widerfährt, Mitleid oder Schuld empfindet. Auch wird man sich weniger zur

Hilfeleistung aufgefordert fühlen, wenn man dem in Not Befindlichen eineSelbstverschuldung zuschreiben kann.

1.7 Attitüdentheoretische Beiträge

Während insgesamt die Übereinstimmung zwischen Werthaltungen undVerhalten, wie in der Attitüdenforschung allgemein, nicht allzu eng ist,liefern die Modelle des Einstellungswandels aber doch wertvolle Hinweisezur Analyse und Planung von Veränderungen: so die dissonanztheoretischeDeutung (f Einstellung, S. HOf.) von Bewertungsänderungen nach unter-schiedlich intensiven Anreizen oder Strafdrohungen (Aronson/Carlsmith1963), die Interpretation der Verweigerung einer Hilfeleistung mit BrehmsKonzept der Reaktanz (Berkowitz 1973), die Änderung von Einstellungendurch Engagement in Rollenspielen (Chandlerl973), die Internalisation vonRegeln durch Weitervermittlung an andere (Parke 1974). Alle diese Ansätzeberuhen auf der Annahme einer dynamischen Interaktion zwischen Über-zeugungen, emotionalen Stellungnahmen und Verhaltensweisen. Im Lichtedieser Theorien sollten die Stabilität und Konsistenz des subjektiven

Verbindlichkeitsgrades von Wertüberzeugungen nicht überschätzt werden.Eine Modifikation nach inkonsistenten Verhaltensentscheidungen ist nichtüberraschend.

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294 Moralisches Verhalten

2 Folgerungen für die Praxis

Angesichts der angedeuteten Komplexität moralbezogener Entscheidungs-

und Bewertungsprozesse und angesichts des in vielen Fragen durchaus nichtbefriedigenden Wissensstandes sind die Verhaltensprognosen des Psycholo-

gen noch immer mit hohen Unsicherheiten belastet. Die gegenwärtigverfügbare Forschungsinformation liefert aber bereits eine Vielzahl von

Hinweisen für die Gestaltung von Interventionsprogrammen.

Als Anlässe für Interventionsbemühungen werden folgende Diagnosengenannt: Unkenntnis oder Ablehnung sozial verbindlicher Standards;unzulängliche Konkretisierung abstrakter Regeln in aktuellen Handlungssi-tuationen; rigide, wenig komplexe Urteilsbegründung; belastende undhinsichtlich künftigen Verhaltens nicht funktioneile affektive Reaktionenwie Schuld oder Scham; unkontrollierbare Motivationen

, welche die

Befolgung moralischer Standards gefährden (so etwa Haß und Feindselig-

keit, deviante sexuelle Motive, Abhängigkeit von Autoritätsmeinungen,

Angst); unzulängliche Selbststeuerungsmechanismen usw.

Auf der Basis einer Störungsdiagnose und einer Zielentscheidung wird derPraktiker nach Möglichkeiten der Intervention suchen

, welche sich in

lockerer Anlehnung an ein Handlungsmodell, wie es u. a. Mischel/Mischel

(1976) formulieren, ordnen lassen. Wir beschränken uns durchaus einseitigauf Interventionen, die am Sozialisanden ansetzen

. Demgegenüber weisensoziologische Devianztheorien eindringlich auf gesellschaftliche Bedingun-gen abweichenden Verhaltens hin (Opp 1968): Ansatzpunkte für optimie-rende Veränderungen können natürlich auch die Rechtsordnung,

die

Verteilung von Ressourcen, der faktische Zugang zum Bildungssystem oderdie sozio-ökologische Struktur einer Stadtregion sein.

2.1 Vermittlung verbindlicher Werthaltungen, was durch Identifikationspro-

zesse, Rollenspiele (/Rolle und Status, S. 407 ff.), optimal gestaltete »forcedcompliance-Anordnungen« {Weiner 1976), induktive (im Gegensatz zuMacht-ausübenden) Erziehungsstile (Hoffman 1970) erleichtert,

durch

Stigmatisierung und Abdrängen in eine Außenseiterposition erschwertwerden mag.

2.2 Reduktion der Motivation

, die mit der Befolgung moralischer Standardskonfligiert, z.B. Eindämmung von Haßgefühlen durch Stabilisierung desbedrohten Selbstwertgefühls (Fürntratt 1974), von Ängsten durch eineReduzierung objektiver Abhängigkeiten über ein Netz rechtlicher undsozialer Sicherungen u. a. m.

Moralisches Verhalten 295

2.3 Aufbau von Selbststeuerungskompetenzen, die an verschiedenen Punk-ten einer Handlungssequenz ansetzen mögen: Selbstkontrolle kann durchnormative Selbstinstruktion, sorgfältige Antizipation von Handlungskonse-

quenzen für sich und andere, rationale Wahl einer Handlungsalternative,

kognitive Neubewertung einer affektauslösenden Situation, Steuerungemotionaler Erlebnisinhalte (Rosenhan et al. 1976) ausgeübt werden.

2.4 Entwicklung sozialer Motivationen und ihrer kognitiven Voraussetzun-

gen: Mitfühlen mit dem Leid und der Freude anderer mag an die

Entwicklung der role-taking-skills gebunden sein (Hoffman 1975), kannaber auch durch Rollenspiele und Vorstellungstraining verbessert werden.

2.5 Aufbau von Verhaltenskompetenzen: Hilfsbereitschaft muß durch Fer-

tigkeiten im Helfen ergänzt werden (zur Übersicht Lück 1975); zurRealisierung gesellschaftlich vermittelter Ziele müssen sozial akzeptierteVerhaltensmittel verfügbar sein.

2.6 Optimierung der Attribuierungsmuster: Belastende, dysfunktionale

Schuldgefühle, Passivität in Notsituationen, gehorsame Erfüllung moralwi-driger Aufträge, feindseliges Verhalten u. a. m. beruhen auf Kognitionen derBedingungen, Motivationen von Handlungen und Verantwortlichkeiten fürHandiungsausgänge. Eine Modifikation dieser Attribuierungen verändertdie affektiven Bewertungen eigener und fremder Handlungen und damitauch nachfolgendes Verhalten (zur Übersicht Weiner 1976).

2.7 Förderung autonomer und kognitiv komplexer moralischer Urteilsbil-

dung im Rahmen allgemeiner ethischer Prinzipien: GesellschaftlicherWandel, Moral- und Rollenkonflikte lassen eine konkrete Festlegung von

Verhaltensstandards, die in jeder Situation und auf Dauer Geltung haben,nicht zu. Statt dessen müssen konkrete Entscheidungen ständig jeweils neu

elaboriert und gerechtfertigt werden. Die Entwicklung moralischer Reife in

diesem Sinne ist offenbar durch kurzfristige Außeneinflüsse nicht deutlich zubeschleunigen, die Kenntnis sozio-ökologischer Korrelate (Hoffman 1970)läßt sich aber im Sinne langfristiger optimierender Interventionen dochauswerten.

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Leo Montada

Motiv und Motivation

1 Handeln und Motivation

»Motivation« soll Fragen nach dem Wozu des Handelns beantworten. Solche

Fragen drängen sich nicht nur auf, wenn Handeln unverständlich oder allzu

willkürlich erscheint. Handeln trägt seine Absichten nicht immer voll zurSchau. Gleiches Handeln kann verschiedene

, und verschiedenes Handeln

Motiv und Motivation 297

gleiche Gründe haben. Handeln ist instrumentell und schon deshalb bei

gleicher Absicht vielfältig austauschbar. Handeln ist deshalb weniger nach

seinen äußeren Erscheinungsweisen, als nach seiner Gerichtetheit auf

bestimmte Ziele zu unterscheiden. Die unbegrenzt erscheinende Zahlmöglicher Ziele hat man durch mancherlei Klassifikationssysteme auf eine

erschöpfende Zahl von Inhaltsklassen zu reduzieren versucht und jeder

Inhaltsklasse den Namen einer »Motivation« gegeben; z. B. der Inhaltsklassevon Leistungszielen den Namen »Leistungsmotivation« (vglMurray 1938;

Maslow 1954).Bei der Bestimmung von Zielen, die das Handeln motivieren, ist zwischendem Handlungsergebnis und den Folgen (Konsequenzen) des Handlungser-gebnisses zu trennen. Die Unterscheidung ist aus zwei Gründen zweckmäßig.

Einmal zieht ein Handlungsergebnis in aller Regel mehrere Arten vonFolgen nach sich (z. B. Folgen für die Selbstbewertung, die Fremdbewertung,für materiellen Gewinn oder Verlust, für Erreichung weitergesteckter Ziele).Zum anderen hat das gleiche Handlungsergebnis für verschiedene Personenauch verschieden ausgeprägte Folgen (so löst die gleiche Note bei verschie-

denen Schülern unterschiedliche Selbstbewertungen, Fremdbewertungenu. a. aus). Die Folgen haben für den Handelnden Anreizwerte bestimmterQualität und Stärke. Was zum Handeln motiviert, sind demnach dieAnreizwerte der vorweggenommenen Folgen des voraussichtlichen Ergeb-nisses eigener Handlungen. Handlungen und ihre Ergebnisse sind instru-menteil, um vorweggenommene Folgen auszukosten oder zu meiden, je nachdem, ob die Folgen eher positive oder negative Anreizwerte für denHandelnden haben.

Inhaltsklassen von Handlungszielen, die verschiedene Arten der Motivationabgrenzen, sind deshalb nicht nur nach den Handlungsergebnissen, sondernauch nach den damit verknüpften anreizgeladenen Folgen zu unterscheiden.Solcherart ausgegrenzte Inhaltsklassen sind in der neueren Motivationsfor-schung insbesondere »Leistung« (achievement; vgl. Atkinson/Feather 1966;Heckhausen 1967, 1977; Weiner 1974; Schmält/Meyer 1976), »Anschluß«(affiliation; Atkinson 1958; Mehrabian/Ksionzky 1974), »Macht« (power;Winter 1973; Kipnis 1974), »Hilfe« (helping; Macaulay/Berkowitz 1970)und »Aggression« (Geen/O

'Neal 1976). Unter den verschiedenen Arten vonMotivation ist die des Leistungshandelns bis heute am besten erforscht undsteht deshalb im Mittelpunkt der weiteren Erörterungen.Leistungshandeln (leistungsmotiviertes Handeln) liegt vor, wenn zu erken-nen ist, daß ein Tüchtigkeitsgrad maßgebend ist, d. h. wenn das Handlungser-gebnis etwas besser, ebenso gut, nicht viel schlechter sein soll als... (vgl.McClelland et al. 1953). Leistungshandeln beruht auf fünf Voraussetzungen(Heckhausen 1974a): Das Handeln kann (1) zu einem objektivierbarenErgebnis führen, das (2) nach Maßstäben der Güte oder der Menge (kurz,