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Inhalt Karin Schittenhelm Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Frühe Entwicklungen und aktuelle Zugänge . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I Ethnografische und konversationsanalytische Zugänge Herbert Kalthoff Ethnografische Bildungssoziologie. Perspektiven und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Andreas Wittel Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus . . . . . 59 Ingo Matuschek / Frank Kleemann Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit . . . . . . . . 81 Teil II Rekonstruktive Auswertungsverfahren Ralf Bohnsack Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus. Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung . . . . . . . . . . . 119 Arnd-Michael Nohl Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung. Von der soziogenetischen zur relationalen Typenbildung . . . . . . . 155

qualitative bildungs- und arbeitsmarktforschung · 2 Anne Honer brachte dieses Verhältnis zwischen Th emengebiet und Methode wie folgt zur Spra-che: „Interessant ist also ‚eigentlich‘

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Inhalt

Karin SchittenhelmQualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung.Frühe Entwicklungen und aktuelle Zugänge . . . . . . . . . . . . . 9

Teil IEthnografi sche und konversationsanalytische Zugänge

Herbert Kalthoff Ethnografi sche Bildungssoziologie.Perspektiven und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Andreas WittelArbeit und Ethnografi e im Zeitalter des digitalen Kapitalismus . . . . . 59

Ingo Matuschek / Frank KleemannKonversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit . . . . . . . . 81

Teil IIRekonstruktive Auswertungsverfahren

Ralf BohnsackOrientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus.Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung . . . . . . . . . . . 119

Arnd-Michael NohlDokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung.Von der soziogenetischen zur relationalen Typenbildung . . . . . . . 155

6 Inhalt

Andreas WernetDie Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . 183

Stefan KutznerArbeit, Beruf und Habitus.Fallrekonstruktionen von Erwerbsbiografi en mit der Objektiven Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Anne Juhasz LiebermannBiografi sche Ressourcen – ein zentrales Konzept in der biografi schen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung . . . . . . 241

Anja Schröder-WildhagenProfessionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management.Das Erkenntnispotenzial der Biografi eanalyse . . . . . . . . . . . . 267

Teil IIITheoretische Konzepte und Forschungsstrategien

Kirstin Bromberg„Arc of Work“ – als ‚sensitizing concept‘ für den Zusammenhang von beruflicher Arbeit und Organisationskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Uta LiebeskindKomparative Verfahren und Grounded Theory . . . . . . . . . . . . 325

Florian von RosenbergZur Rekonstruktion von Gesellschaft.Rekonstruktive Sozialforschung zwischen Habitus- und Feldanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Sabine Maschke und Ludwig StecherStrategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfi ndung . . . . . . . . . . 379

Inhalt 7

Karin SchittenhelmSampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit.Vergleichende Analysen von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . 407

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

Qualitative Bildungs- und ArbeitsmarktforschungFrühe Entwicklungen und aktuelle Zugänge1

Karin Schittenhelm

Bildung und (Erwerbs-)Arbeit sowie die hierüber hergestellten Laufbahnen, Hier archien und Unterschiede umfassen ein weithin diskutiertes Th emengebiet der Sozialwissenschaft en. Indem der vorliegende Band Grundlagen, Perspekti-ven und Methoden einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung vor-stellt, gibt er einen Überblick zu einem Spektrum der hier mittlerweile praktizier-ten Verfahren. Eine gegenstandsbezogene Betrachtung von Methoden ist nach dem vorliegenden Verständnis nicht lediglich eine Anwendung bereits vorhan-dener Verfahren auf eine per se feststehende Th emenstellung. Eine zentrale Frage ist vielmehr, wie methodische Zugänge zu einer entsprechenden Th emenfi ndung beitragen. Zudem ist von Interesse, wie Entwicklungen des Gegenstandsbereichs wiederum zu besonderen Anforderungen an die Instrumente und Verfahren der qualitativen Sozialforschung führen.2

Ein Band zur qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, wie dieser, richtet sich auf ein breites Th emenspektrum, dessen Teilgebiete auch eine sepa-rate Bearbeitung erfahren.3 Die Möglichkeit einer je gesonderten Beachtung bil-dungs- und arbeitsrelevanter Th emen soll hier nicht prinzipiell in Frage stehen. Mit dem gewählten Vorgehen wird jedoch dem Umstand Rechnung getragen,

1 Für hilfreiche Kommentare und Anregungen zu einer früheren Fassung des vorliegenden Textes danke ich Kirstin Bromberg.

2 Anne Honer brachte dieses Verhältnis zwischen Th emengebiet und Methode wie folgt zur Spra-che: „Interessant ist also ‚eigentlich‘ nicht die Methodenfrage, sondern die Frage danach, wel-chem Problem man sich stellt (dann erst wiederum stellt sich einem die Frage, mit welcher Me-thode man dies am besten tut).“ Honer 2011: 143 .

3 Eine Diskussion qualitativer Verfahren fand in der erziehungswissenschaft lichen Bildungsfor-schung (u. a. Ecarius / Friebertshäuser 2005) sowie in der Schul- und Unterrichtsforschung (Brei-denstein et al. 2002; Breidenstein / Schütze 2008) statt. Es fi nden sich dagegen weniger Beiträge, die sich mit einer eher soziologisch ausgerichteten qualitativen Bildungsforschung befassen. Zu prozessorientierten Ansätzen in der qualitativen Arbeits- und Organisationsforschung siehe Ernst (2010) und zu Fallstudien in der Industriesoziologie die Beiträge in Pongratz / Trinczek (2010).

10 Karin Schittenhelm

dass Per spektiven auf Bildung und Arbeit in vielerlei Hinsicht ineinandergreifen. Beispielsweise gibt es qualitative Forschungsperspektiven auf Organisationen, die sich auf Institutionen des Bildungs- und Beschäft igungssystems anwenden lassen (siehe Ernst 2010). Weiterhin ist davon auszugehen, dass Lern- und Bildungs-prozesse nicht allein im Jugendalter, sondern auch noch nach dem Übergang in das Arbeitsleben stattfi nden. Prinzipiell ist es eine Stärke beispielsweise einer biografi sch angelegten Forschung, dass sie den Erwerb und die berufliche Um-setzung von Bildung längerfristig in den Blick nehmen kann. Neben Beiträgen, die sich mit Bildung und Sozialisation in Schulen befassen, stellt der vorliegende Band auch Ansätze vor, die Lernprozesse noch während und nach einem Über-gang in den Arbeitsmarkt untersuchen.

Eine Einschränkung sollte hier jedoch genannt werden: Sofern von ‚Arbeit‘ die Rede ist, bezieht sich die Analyse in erster Linie auf Erwerbsarbeit bzw. auf Arbeitsmarktentwicklungen und deren Folgen für die soziale Stellung und Erfah-rungswelt verschiedener Bevölkerungsgruppen. ‚Arbeit‘ in einem umfassenden Sinne würde weitere Bereiche, wie z. B. die unentgeltliche Arbeit in der privaten Sphäre (in Familie oder anderen Lebensgemeinschaft en) sowie die nicht über den Arbeitsmarkt vermittelten Formen der Eigen- und Gemeinschaft sarbeit, umfas-sen.4 Demgegenüber können vergütete Arbeiten in privaten Haushalten ebenfalls über Entwicklungen der Arbeitsmärkte geprägt sein (vgl. Lutz 2008) und deren Folgen betreff en auch Personen, die temporär oder dauerhaft aus der Erwerbs-arbeit ausgeschlossen sind.

Ehe ich im Weiteren auf eine heute zu beobachtende Ausdiff erenzierung von Methoden und Methodologien zu sprechen komme, stelle ich frühere Entwick-lungen einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung vor. Angesichts begrenzter Möglichkeiten werden dabei ausgewählte Entwicklungslinien im deutschsprachigen Raum wie in der US-amerikanischen Soziologie skizziert.5 Es wird sich zeigen, dass sich bereits früh Perspektiven andeuten, die auch länger-fristig von Bedeutung sein sollten. Welche Entwicklungen außerdem eine Rolle

4 Insofern wird der Arbeitsbegriff hier nicht implizit lediglich als Erwerbsarbeit verstanden, eine Beachtung der weiteren Arbeitsformen kann in diesem Rahmen jedoch nicht geleistet werden. Zur Diskussion eines erweiterten Arbeitsbegriff s siehe u. a. Nierling (2011) und Götz (2010: 101).

5 Die Auswahl orientiert sich an der Aktualität für heutige Untersuchungen. Zu Entwicklungen im deutschsprachigen Raum ist anzumerken, dass trotz des Primats quantitativer Ansätze in der ehemaligen Bundesrepublik frühe qualitative Arbeiten dokumentiert sind (siehe z. B. Al-heit / Dausien 2009; Pongratz / Trincek 2010). Dagegen gibt es kaum Hinweise auf qualitative For-schungsansätze in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung der ehemaligen DDR. Für Informa-tionen zu dieser Frage danke ich Vera Sparschuh.

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 11

spielten, werde ich anschließend mit Blick auf gegenwärtige Zugänge einer quali-tativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zur Diskussion stellen.

1 Frühe Entwicklungslinien

1.1 Anfänge im deutschsprachigen Raum

In seinen Überlegungen zur „Marienthal-Studie“ über die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung einer Gemeinde in Österreich zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts beschreibt Lazarsfeld die Suche nach einem neuen Weg zwischen den „nackten Ziff ern der Statistik und den zufälli-gen Eindrücken der sozialen Reportage“ (Lazarsfeld 1975 [1960]: 15). Der Versuch, möglichst nahe an drängende Probleme der damaligen Zeit zu kommen, führte in der Untersuchung der ‚Arbeitslosen von Marienthal‘ zu einer vielbeachteten kom-binierten Anwendung qualitativer Forschungsmethoden. Marie Jahoda schrieb in ihrem späteren Rückblick:

„Einzelbeobachtungen als Anregung für die Erfi ndung quantitativer Zugänge zu neh-men, ist eine wichtige, aber nicht die einzige Funktion qualitativen Materials. Zumin-dest ebenso wichtig ist es, dass sie Einblick in die Komplexität gesellschaft lichen Le-bens und Erlebens vermitteln, der Zahlen nicht gerecht werden können. In der Regel beantworten beide Prozeduren verschiedene Fragen: das ‚Wie‘ des Erlebens, in dem Dinge zählen, die nicht gezählt werden können; und das ‚Wieviel‘, das auf Kosten des ‚Wie‘ präzise Antworten gibt“ (Jahoda 1991).

Die Gegenüberstellung der empirischen Zugänge beruht hier nicht auf einer prin-zipiellen Dichotomie zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren, wel-che die damalige Studie vielmehr in bis heute seltener Weise kombinierte. Zum Verständnis dessen, wie Langzeitarbeitslosigkeit seitens der ehemaligen Indus-triearbeiterschaft und ihrer Familien erlebt wird, verbindet die Studie außerdem mehrere qualitative Zugänge: Beobachtungs- und Befragungsformen sowie Do-kumentenanalysen. Der gemeindebezogene Ansatz umfasst nicht allein den Blick auf die Arbeitswelt, sondern auch auf das Bildungs- und Freizeitverhalten bzw. werden gerade das Fehlen von Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Fol-gen zum Th ema. Aus heutiger Sicht sind nicht allein die Methodenkombination und die Darstellung des besonderen Erkenntnispotenzials qualitativer Verfahren bemerkenswert. Hervorzuheben sind auch eine mit der damaligen Studie ein-

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hergehende Präzisierung und Weiterentwicklung von Forschungsperspektiven. Beispielsweise führte die Untersuchung zu einer Typenbildung, die sich auf die Herausbildung verschiedener Haltungen zur Arbeitslosigkeit und auf die damit verbundenen praktischen Bewältigungsformen bezog.

Der Forschungsstil Marie Jahodas, die auch im Anschluss an die Marienthal-Studie mit qualitativen Verfahren arbeitete, wurde in einer späteren Würdigung (Fleck 1998) als Suche nach einer Lebensnähe dargestellt. Es gehe ihr darum, ihren Ausgangspunkt „bei den wirklichen Problemen des Lebens zu nehmen“ (Fleck 1998: 279). Doch grenzt sich Marie Jahoda zugleich von einer einfachen Unmittel-barkeit ab: „Das Off ensichtliche – das, was man mit dem bloßen Auge sieht – darf man nicht einfach so hinnehmen“ (zit. in Fleck 1998: 279). Hier kommt bereits ein auch in späteren Debatten verhandelter Anspruch qualitativer Sozialforschung zum Ausdruck: Das Ziel, alltagsweltliche Erfahrungen und Praktiken zu beob-achten und zu verstehen einerseits, und andererseits die Abgrenzung vom bloßen Nachvollzug des unmittelbar Beobachtbaren und vom Verbleiben innerhalb des Alltagsverständnisses.

Die Suche nach einer Nähe zum Geschehen und das Interesse am Erleben sozialer Verhältnisse teilt gleichwohl ein weiterer Autor, dessen Arbeiten – wie die Marienthal-Studie – heute zum Bestand klassischer qualitativer Studien im deutschsprachigen Raum gehört. Siegfried Kracauer bezeichnet „Zitate, Gesprä-che und Beobachtungen an Ort und Stelle“ als Grundstock seiner Arbeit zu An-gestellten im Berlin der 20er Jahre (Kracauer 1971: 7). Er bringt den Wunsch zum Ausdruck „dass dieses Buch wirklich von ihnen spräche, die nur schwer von sich sprechen können“ (Kracauer 1971: 8). Nicht allein Arbeitsprozesse im engeren Sinne, auch soziale Beziehungen, politische und lebenspraktische Haltungen wie sie im Alltag der betreff enden Personen insgesamt zu beobachten waren, sind Ge-genstand seiner Untersuchung. Dabei geht auch Kracauer über eine unmittelbare Beschreibung des Beobachteten hinaus, indem er die gesellschaft liche Lage ana-lysiert, auf deren Grundlage sich das von ihm beobachtete Angestellten-Milieu formierte (s. a. Wittel in diesem Band).

In beiden Studien wird mit einem lokalen (auf eine Gemeinde bzw. auf eine Großstadt bezogenen) Ansatz untersucht, wie sich gesellschaft liche Entwicklun-gen und ihre Folgen in der alltäglichen Erfahrungswelt einer ausgewählten Bevöl-kerungsgruppe beobachten lassen. Deren Gemeinsamkeiten können, wie im Fall der Berliner Angestellten, durch die vergleichbare Stellung innerhalb eines loka-len Arbeitsmarktes gegeben sein oder wie bei den Marienthaler Arbeits losen auf einer vergleichbaren Ausgrenzung beruhen. Das ‚Wie‘ des Erlebens wird durch

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 13

eine breit angelegte Beobachtung alltäglicher Praktiken und sozialer Beziehun-gen in einer gesellschaft lichen Lage untersucht. Im Fall der Marienthal-Studie gehörten beim Blick auf Arbeitslose auch deren Kinder mit ihrem Verhalten in der Schule zum Gegenstand der Untersuchung. Damit zeigt sich ein Blick auf die sozial-räumliche Einbindung von Bildungsprozessen, der bis heute eher selten ist, jedoch auch in späteren Arbeiten wieder zum Vorschein kommt (siehe z. B. Beaud 1995).

Im Rückblick auf frühere Entwicklungslinien wird deutlich, wie sich in den ge-nannten Studien nicht allein die Herausbildung methodischer Ansätze und Ver-fahren, sondern auch historische Entwicklungen abzeichnen. So gelten sie heute als zeitgeschichtlich relevant für das Verständnis der Lage spezieller Bevölke-rungsgruppen im Vorfeld des Nationalsozialismus. Allerdings konnten die hier skizzierten Entwicklungslinien am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland und Österreich aufgrund des aufkom-menden Nationalsozialismus nicht weitergeführt werden. Ein Forschungsstil, der eine Erkundung vor Ort praktiziert und die Nähe zum jeweiligen Untersuchungs-gegenstand sucht, hat u. a. durch die ‚Chicago School‘ und in dieser Tradition ent-standene Arbeiten für die Soziologie langfristig an Bedeutung gewonnen.

1.2 Die ‚Chicago School‘ und ihre Folgen

Für die Forschungsperspektiven der ‚Chicago School of Sociology‘ war die Phi-losophie des amerikanischen Pragmatismus von Bedeutung (Joas 1988). In den Sozialwissenschaft en dient der Verweis auf diese Schule häufi g dazu, über frühe Entwicklungen qualitativer Sozialforschung zu informieren. Dies sollte nicht dar-über hinwegtäuschen, dass in der ‚Chicago School‘ insgesamt mit qualitativen und quantitativen Methoden gearbeitet wurde (vgl. Bulmer 1984: 6). Den entscheiden-den Einfl uss hatte die Schule jedoch für die Entwicklung qualitativer Verfahren. Dem mehr oder weniger losen Zirkel der Forschenden sowie Sozialreformer und -reformerinnen, die heute der ‚Chicago School‘ zugerechnet werden, entstammt eine Fülle „anschauungsgesättigter Studien“ (Joas 1988: 435), von denen einige zu Klassikern der So zial wissenschaft en avancierten. Darüber hinaus entstanden in der ‚Chicago School‘ und ihrem Umfeld Konzepte, die nicht nur für unmittel-bare Folgearbeiten, sondern auch längerfristig für die Soziologie von Bedeutung wurden.

14 Karin Schittenhelm

Neben den ethnografi schen Studien von Wegbereitern und Nachkommen der ‚Chicago School‘6 gab es eine weitere Herangehensweise, die sich für die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung als äußerst relevant herausstellen sollte: eine Unter-suchung über die Migration der polnischen Landbevölkerung in die Vereinigten Staaten, in der William Isaac Th omas und Th omas Znaniecki (1958 [1918 – 1920]) Briefe und autobiografi sches Material analysierten. Insbesondere mit Blick auf diese Pionierarbeit werden heute Anfänge der Biografi eforschung in der ‚Chi-cago School‘ verortet (z. B. Alheit / Dausien 2009). Das heute ebenfalls zu den Grundlagen der Sozialwissenschaft en zählende ‚Th omas-Th eorem‘ ging aus einer gemeinsamen Studie von William Isaac und Dorothy Swaine Th omas über so-zial auffälliges Verhalten von Kindern in den USA hervor.7 Sie erschien zu einer Zeit, als William Isaac Th omas, einer der bedeutenden Vertreter der frühen Chi-cago School, bereits nicht mehr an der Universität von Chicago tätig war (Bul-mer 1984: 59 – 60). Die mit dem Th omas-Th eorem postulierte Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung und Defi nition einer Situation durch die handelnden Akteure wurde in späteren Debatten der qualitativen Sozialforschung in vielerlei Hinsicht aufgegriff en und weiter verfolgt. Das ‚Wie‘ des Erlebens und der Interpretation einer Situation wurde als handlungsrelevant, d. h. als maßgeblich für die hand-lungspraktische Bewältigung angesehen. Nicht allein die Situationsdeutungen einzelner, auch die Aushandlung von Situationsdeutungen in Interaktionsprozes-sen gerieten ins Blickfeld der Analyse, wie sich beispielsweise in der späteren Be-gründung des symbolischen Interaktionismus durch Herbert Blumer zeigte (Blu-mer 1969; vgl. Joas 1988: 436).

Auch wenn die ‚Chicago School‘ mittlerweile eher in Verbindung mit der Er-forschung urbaner Milieus und der Folgen von Migration zur Kenntnis genom-men wird, fi nden sich in dieser Tradition auch arbeits- und organisationssozio-logische Untersuchungen. Hier ist zunächst Everett Hughes zu nennen, der als prominenter Vertreter einer Organisations- und Berufssoziologie in der Chica-goer Tradition gilt. Hervorzuheben sind beispielsweise seine Arbeiten über das US-amerikanische Bildungswesen, über Statuspositionen sowie über Formen der Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung.8 Nicht allein die formale Regelung, auch

6 Zur Unterscheidung zwischen einer ersten und zweiten Chicago School bzw. auch zur Frage nach einer mittlerweile dritten Chicago School siehe Neckel (1997).

7 Ihre Studie Th e Child in America enthält als Konsequenz methodologischer Überlegungen den Satz: „If men defi ne situations as real, they are real in their consequences“, zitiert nach Mijic (2010), siehe darin auch Informationen zu Entstehungsbedingungen und Folgen.

8 Siehe die Wiederauflage einer Auswahl der Arbeiten von Hughes aus den 50er und 60er Jahren in: Hughes (2008a [1971]).

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 15

das interaktive Aushandeln und praktische Umsetzen formaler Vorgaben seitens der beteiligten Personen bestimmen nach einem solchen Verständnis die Abläufe in Organisationen. Everett Hughs brachte den – im Verhältnis zu herkömmlichen Perspektiven erweiterten – Blick wie folgt zum Ausdruck:

„One of the commoner failures in study of work is to overlook part of the interactional system“ (Hughes 2008c [1956]: 309).

Weitere Arbeiten, die sich teilweise auf Hughs beziehen, jedoch zu eigenen An-sätzen und Konzepten geführt haben, entstanden in den Forschungsteams um Anselm Strauss.9 Dass Strauss heute weniger in Verbindung mit Bildungs- oder Arbeitsmarktforschung zur Kenntnis genommen wird, mag daran liegen, dass er zusammen mit Glaser vor allem als einer der Gründungsväter der ‚Grounded Th eo ry‘ gilt. Ihre nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung qualitativer Ver-fahren und Forschungsstrategien haben die beiden Begründer der ‚Grounded Th eo ry‘ mit Studien erworben, die im Bereich der Medizin- und Arbeitssoziolo-gie angesiedelt sind (Glaser / Strauss 1965, 1967). Insbesondere auf der Grundlage von Teilnehmenden Beobachtungen entstanden Untersuchungen von Interaktio-nen zwischen dem medizinischen Personal und Patienten in Kliniken sowie über komplexe Arbeitsanforderungen angesichts von Kommunikations- und Interak-tionsabläufen in medizinischen und pfl egerischen Berufen (Glaser / Strauss 1965, 2001 [1968]). Die Arbeiten von Strauss beziehen sich darüber hinaus auf die Her-ausbildung von Professionen, auf Karriereverläufe und Formen der Arbeitsorga-nisation (Strauss 2001 [1975]). Zudem war er an der Untersuchung über das Mi-lieu von Medizinstudenten in den USA der 50er Jahre (Becker et al. 2009 [1961]) beteiligt.

In diesen frühen Arbeiten zeichnet sich nicht zuletzt die zeitgeschichtliche Herausbildung neuer Berufe und Qualifi kationsprofi le ab (vgl. Joas 1988), für die eine Ausgestaltung der Berufsausübung und eine Aushandlung der beruflichen Rolle u. a. mit dem entsprechenden Klientel erforderlich war. Die Entwicklung der Forschungsperspektiven und Methoden ist insofern in enger Verbindung mit dem Stand der Bedingungen von Bildung und Erwerbsarbeit im jeweiligen Zeit-raum zu sehen.

9 Siehe die Wiederauflage der zum Th emengebiet relevanten Artikel als gesammelte Werke in Strauss 2001 [1975] und die umfassende Darstellung des Werks von Anselm Strauss in Strübing (2007).

16 Karin Schittenhelm

1.3 Die heutige Aktualität früher Entwicklungslinien

Trotz der zwischenzeitlichen Weiterentwicklung von Methoden qualitativer So-zialforschung sollten einige der früheren Entwicklungslinien auch längerfristig relevant werden. Bereits früh richtete sich der Blick auf Interaktions- und Kom-munikationsabläufe in Institutionen der Bildung und der Erwerbsarbeit. Aus heu-tiger Sicht ist bemerkenswert, dass in diesem Blick auf soziale Interaktionen auch schon die Verschränkung statusbestimmender Dimensionen ein Th ema war. In seinen Analysen über die Herstellung von Statuspositionen spricht Hughes eine später viel diskutierte Verschränkung verschiedener statusrelevanter Merkmale an, die formal oder verdeckt zur Wirkung kommen, wie etwa die Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, die Schichtzugehörigkeit und das Geschlecht (Hughes 2008b [1945]: 142 f.). Anselm Strauss bezog sich später in seinen Arbeiten sowohl auf Blumer als auch auf Hughes und entwickelte ein Konzept zur Analyse inter-dependenter prozesshaft er Abläufe in der Arbeitsorganisation – den arc of work, das auch in heutigen Arbeiten der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zur An-wendung kommt (vgl. Bromberg in diesem Band). Es ermöglicht die Analyse eines arbeitsteilig organisierten beruflichen Handelns in seiner wechselseitigen Bezogenheit.

Weiterhin waren prozesshaft e Verläufe in Bildungs- und Berufsbiografi en be-reits früh ein Gegenstand qualitativer Untersuchungen, die Lern- und Soziali-sationsprozesse in der Schule und noch im späteren Verlauf durch die Berufs-ausübung in den Blick nehmen (Becker / Strauss 2001 [1956]: 86).10 Prozesshaft e Verläufe können sich von ihrer Dynamik her den Gestaltungs- und Kontrollmög-lichkeiten Einzelner entziehen, was im Verständnis des Begriff s ‚trajectory‘ von Anselm Strauss hervorgehoben wurde (vgl. Riemann / Schütze 1991). Bei Strauss selbst bezieht sich die Analyse von prozesshaft en Verläufen auf das Studium von Bildungs- und Berufsverläufen, ist jedoch nicht darauf beschränkt, sondern kann beispielsweise auch in Krankheitsverläufen beobachtet werden (Strübing 2007: 118 f.). Auch in der Biografi eforschung von Fritz Schütze, der den Begriff der Verlaufskurve verwendet, zeigte sich ein prinzipielles Interesse an Prozess-strukturen des Lebenslaufs (Schütze 1981; vgl. Schröder-Wildhagen in diesem Band). Auf diese Weise lassen sich einerseits Erfahrungen des Ausgeliefertseins bis hin zu einem – zeitweiligen oder dauerhaft en – Kontrollverlust über den ei-

10 Ein Ansatz, Entwicklungs- und Lernprozesse in der gesamten Bildungs-und Berufsbiografi e zu analysieren, wurde später in der neueren Bildungs- und Lebenslaufforschung von Heinz (1995) ausgearbeitet, der Lernprozesse für und durch den Beruf darstellt.

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 17

genen Bildungs- und Berufsverlauf beobachten, was insbesondere krisenhaft e Entwicklungen berücksichtigt. Doch auch bei weniger dramatischen Verläufen geht es um die Eigenlogik von Prozessen, die zu unabsehbaren Folgen für die Bildungs- und Berufsbiografi e führen. Das Interesse an Prozessverläufen gilt bei-spielsweise einer Verlaufsdynamik, die sich längerfristig durch ein kumulatives Zusammenwirken relevanter Faktoren im Bildungs- und Berufsverlauf entwickelt, ohne dass deren Folgen intendiert sind (vgl. Schittenhelm 2011). Entsprechende Perspektiven auf Bildungs- und Berufsbiografi en sind insofern nicht durch eine ‚biografi schen Illu sion‘11 geprägt. D. h. ein Interesse an Biografi en beinhaltet nicht, dass den betreff enden Personen per se ein Freiraum an Gestaltungsmöglichkeiten unter stellt wird.

Schließlich erhielten Milieu- und Gruppenbildungen und deren Bedeutung für Bildungs- und Berufsverläufe bereits früh eine Aufmerksamkeit, die sich auch in neueren Arbeiten fortsetzt. Ein kollektives Verständnis von Symbolen und Deutungsmustern ist zwar von begrenzter sozialer oder lokaler Reichweite, für die Bewältigung von Anforderungen im Bildungsverlauf oder auch innerhalb von Arbeitsorganisation kann es jedoch in vergleichbarer Weise von Einfl uss werden. Vorläufer fi nden sich in der Beobachtung von Jugendgangs, wie etwa in der klas-sischen Studie von Frederic Th rasher in der frühen Phase der Chicago School. Doch nicht allein für die Beobachtung ausgegrenzter Gruppen und Milieus, auch für die Milieubildung innerhalb von Organisationen und die sich dort abspielen-den informellen Lernprozesse kann eine solche Perspektive aufschlussreich sein. Zu nennen wäre auch hier die Studie „Boys in White“ über (männliche) Medizin-studenten und ihre Milieubildung in den USA der 50er Jahre (Becker et al. 2009 [1961]). Ansätze, die sich auf die Herausbildung von Bildungsmilieus beziehen, arbeiten heute beispielsweise mit Gruppendiskussionen, um handlungs leitende Orien tierungen in der Interaktion zwischen Personen mit einem gemeinsamen Erfahrungsraum direkt zu beobachten. So fi nden sich im deutschsprachigen Raum mittlerweile Untersuchungen zu jugendlichen Bildungsmilieus, die sich mit Bildungsorientierungen und deren praktischer Erprobung in der Phase der Adoles zenz beschäft igen (Bohnsack 1989; Bohnsack / Nohl 2001; s. a. Bohnsack in diesem Band). Eine weitere Bedeutung haben solche Perspektiven, wenn es um eine Entwicklung geht, die mittlerweile auch als Entgrenzung zwischen Arbeit und der Sphäre der Nichtarbeit zur Sprache kommt (Götz 2010: 103 f.). Damit um-fassen die Anforderungen der Arbeitswelt die Person mit ihren gesamten Ressour-

11 Bourdieu (1986) formulierte dies als prinzipielle Kritik an der Biografi eforschung.

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cen, während umgekehrt die in der Sphäre der Nichtarbeit erworbenen Wissens-bestände potenzielle Verwertungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt haben. Ein in jugendkulturellen Milieus erworbener Habitus wird dann z. B. zur Voraussetzung für den Einstieg in neue Arbeitsformen (siehe v. Rosenberg in diesem Band).

2 Perspektiven und Methoden qualitativer Bildungs- und Arbeitsmarktforschung

In aktuellen Zugängen qualitativer Bildungs- und Arbeitsmarktforschung lassen sich weiterhin zwei Schwerpunkte unterscheiden, die auf den ersten Blick schein-bar wenig miteinander zu tun haben: einerseits die Analyse von Kommunikations- und Interaktionsprozessen in Organisationen und deren Umfeld, andererseits die Auseinandersetzung mit der Herauslösung von Bildungs- und Erwerbsverläufen aus institutionell vorgegebenen Ablaufmustern. Die erste Blickrichtung betrifft ein institutionelles Setting und bezieht häufi g verschiedene Akteursgruppen ein (z. B. Lehrpersonal an Schulen und die dortigen Schülerinnen und Schüler oder die verschiedenen Angehörigen der Belegschaft eines Betriebs). Im Unterschied dazu setzt sich der weitere Schwerpunkt mit den Bildungs- und Erwerbsbiogra-fi en von Einzelpersonen auseinander, die über eine vergleichbare Stellung ver-fügen. Es wird sich im Weiteren zeigen, inwiefern es auch Anknüpfungspunkte zwischen den hier zunächst unterschiedenen Perspektiven gibt.

2.1 Der Blick auf institutionelle und soziale Settings

Die Herstellung einer sozialen Ordnung durch praktisches Tun wird in ethno-grafi schen Zugängen ein Gegenstand der Beobachtung. Diese kann in der Schul- und Bildungsforschung sowohl den Unterricht und die Wissensvermittlung (Kalt-hoff 1997) als auch die Gleichaltrigenkultur und das Pausengeschehen umfassen (Breidenstein / Kelle 1998). Auch wenn sich Forschungsfragen auf die unmittelbare Aushandlung einer Tätigkeit (z. B. in Bildungseinrichtungen, in Dienstleistungs-berufen) oder auf die Koordination verschiedener Vorgänge beziehen, werden situative Abläufe zum Gegenstand der Beobachtung. Die aus der Ethnometho-dologie hervorgehende Konversationsanalyse befasst sich mit der sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktion im situativen (Arbeits-)Handeln (Bergmann 2005: 640; s. a. Matuschek / Kleemann in diesem Band). In den workplace studies wurden außerdem Zugänge praktiziert, die auch Technologien und Objekte in die

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 19

Analyse von Interaktionen einbeziehen (Knoblauch / Heath 1999; Bergmann 2005).Das Interesse daran, wie soziale Beziehungen und Hier archien im situativen Han-deln zu beobachten sind, zeichnet weitere qualitative Zugänge aus. Sie betreff en die informelle Aushandlung von Statuspositionen und soziale Segregationen in einer Einrichtung, selbst (oder insbesondere dann) wenn die betreff enden Per-sonen formal als gleichberechtigt gelten. Entsprechende Forschungsperspektiven wurden beispielsweise in qualitativen Studien zur Herstellung von Geschlechter-unterschieden am Arbeitsplatz verwendet (vgl. Heintz / Nadai 1998).12

Ein Blick auf Mikroprozesse kommt an Grenzen, wenn es darum geht, situa-tionsübergreifende Arbeitszusammenhänge und Interdependenzbeziehungen in-nerhalb einer Organisation verstehen zu wollen. Die Frage, in welcher Weise die für ein Forschungsfeld relevanten Zusammenhänge immer „vor Ort“ zu beob-achten sind, stellt sich außerdem, wenn ortsübergreifende Vernetzungen und Ab-hängigkeitsbeziehungen für die jeweilige Tätigkeit eine Rolle spielen (s. Wittel in diesem Band). Insgesamt variieren bestehende Ansätze darin, inwiefern sie die in einer konkreten Situation beobachtbaren Vorgänge in den Vordergrund stellen und inwieweit sie situationsübergreifende Zusammenhänge und Strukturen be-rücksichtigen. So bezieht sich das bereits genannte Konzept von Strauss (siehe 1.3) nicht allein auf die situativen Abläufe, sondern auf Interdependenzen und Pro-zessverläufe im institutionellen Umfeld.13 Da sich die damit verbundene Perspek-tive auf ‚Arbeit‘ im Sinne eines Handelns in Interaktionsbeziehungen (Strübing 2007) richtet, ist der Ansatz sowohl auf die teilnehmende Beobachtung verschie-dener Akteursgruppen anwendbar (wie dies in diversen Arbeiten von Strauss und seinen Teams der Fall war) als auch auf die Ermittlung von prozesshaft en Verläu-fen des Handelns einer befragten Gruppe in einer Bildungseinrichtung oder in einem Arbeits umfeld (vgl. Bromberg in diesem Band). Zu den Strategien, die er-lauben, komplexe Abläufe in Organisationen zu beachten oder auch das Verhält-nis mehrerer Akteursgruppen, Organisation und Einrichtungen zueinander, ge-hören vergleichende Untersuchungen. Konzeptionelle Fragen des Vergleichs, z. B. die Bestimmung der Untersuchungseinheit und die Ermittlung der anzulegenden Kriterien stellen für qualitative Untersuchungen nach wie vor eine Herausforde-rung dar (s. Liebeskind in diesem Band). Eine mögliche Strategie ist hier auch die

12 Zu Ansätzen qualitativer Sozialforschung, die speziell Geschlecht in Organisationen bzw. Insti-tutionen untersuchen, siehe auch Behnke / Meuser (1999).

13 Auch in Arbeiten, die sich auf prozesstheoretische Ansätze in der Tradition von Norbert Elias beziehen, richtet sich der Blick auf Interdependenzbeziehungen und Prozessabläufe in Organi-sationen. Zu einer Darstellung dieser Ansätze in der Analyse von Organisationen im Beschäft i-gungs- und Bildungssystem siehe Ernst (2010).

20 Karin Schittenhelm

Durchführung von Fallstudien zu größeren Untersuchungseinheiten (z. B. Schu-len, Betriebe, Stadtteile etc.).14 Dabei können mit Hilfe je unterschiedlicher Me-thoden Informationen über Personen (Interviews, Gruppendiskussionen), über die Organisation (Dokumentenanalysen, Experten interviews) sowie über Abläufe und Interaktionsprozesse innerhalb derselben (Teilnehmende Beobachtungen) ermittelt werden.15

2.2 Die Rekonstruktion von Bildungs- und Erwerbsbiografi en

Während der Blick auf institutionelle und soziale Settings Zusammenhänge in-nerhalb und im Umfeld von Organisationen betrachtet, stellt sich bei Bildungs- und Erwerbsverläufen – im Unterschied dazu – eher die Herauslösung von in-stitutionell verbindlichen Vorgaben als methodische Herausforderung. In der Erforschung von Biografi en ist von einem zunehmenden Bedarf an Selbstverge-wisserung und Selbstthematisierung die Rede (Brose / Hildenbrand 1988a). Bil-dungs- und Erwerbsverläufe erfordern diesem Verständnis nach von Einzelnen hohe Orientierungsleistungen bei einer zugleich abnehmenden Verbindlichkeit normativer Anforderungen. Entsprechend richtet sich die Analyse solcher Ver-läufe z. B. auf Bildungsorientierungen oder berufsbiografi sche Orientierungs-muster (exemplarisch Giegel et al. 1988). Entscheidend ist eine Erfahrungs-aufschichtung im Lebensverlauf, die beispielsweise auch handlungspraktische Konsequenzen hat, indem biografi sche Ressourcen zu Handlungsstrategien und Bewältigungsfor men führen (s. Juhasz-Liebermann in diesem Band). In Um-bruchs- und Übergangssituationen ist die Beschaff enheit biografi sch erworbener Wissensbestände in besonderer Weise relevant (Schittenhelm 2005). Bildung und die Möglichkeiten ihrer beruflichen Verwertung auf dem Arbeitsmarkt sind auf diese Weise mit Blick auf die jeweiligen Träger von Bildungstiteln, auf ihr biogra-fi sch erworbenes Wissen und die damit einhergehende handlungspraktische Be-wältigung ihrer Lebensverhältnisse von Interesse. Diese werden als Resultat bis-heriger Abläufe und zugleich als Voraussetzung für den weiteren Verlauf einer Biografi e zur Kenntnis genommen.

14 Beispiele für die Durchführung komplexer Fallstudien zeigen sich in der ethnografi schen Schul-forschung (exemplarisch Schiff auer et al. 2002) oder in industriesoziologischen Fallstudien (Pfl ü-ger et al. 2010).

15 Zur Refl exion von Fallstudien mit Blick auf die Industriesoziologie siehe die Beiträge in Pon-gratz / Trinczek (2010); eine prinzipielle Diskussion der Konstruktion von Falleinheiten und de-ren Unterlegung durch Methoden liefern die Beiträge in Ragin / Becker (2009 [1992]).

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 21

Auch wenn Bildungs- und Erwerbsverläufe nicht mehr zwingend durch in sti-tu tio nelle Vorgaben bestimmt sind und Populationen als Ganze nicht mehr ein-deutig festlegen, stellt sich die Frage nach sozialen Regelmäßigkeiten, die anhand typischer Verläufe beobachtbar sind (s. Nohl in diesem Band). Von Interesse ist dabei auch, inwiefern soziale Hierarchien in systematischer Weise den Verlauf von Bildungs- und Berufsbiografi en prägen. Trotz der Kritik, die Pierre Bourdieu an interaktionistischen Ansätzen der Soziologie (Bourdieu 1992: 139 – 140) oder an der Biografi eanalyse (Bourdieu 1986) übte, fi nden seine Konzepte mit Blick auf diese Fragen in der qualitativ orientierten Bildungs- und Arbeitsmarktfor-schung eine Rezeption. Bourdieu zufolge haben Formen der Herrschaft und Hier-archisierung immer auch eine symbolische Dimension, die anhand von kogni-tiven Strukturen oder Wahrnehmungsmustern sozialer Akteure zu beobachten ist (Bourdieu 2000: 72). Damit geht einher, dass ein sozialer Status im Bildungs- und Beschäft igungssystem durch institutionell und informell hergestellte Interaktio-nen vermittelt wird. Nach einem solchen Verständnis sind es beispielsweise nicht allein die Bildungstitel von Personen, die für ihre ungleiche Stellung im Beschäf-tigungssystem von Bedeutung sind. Auch alltagsweltliche Wissensbestände, die in Bildungseinrichtungen sowie im Umfeld einer Person, einschließlich aller Netz-werke und Bezugsgruppen, erworben werden, spielen potenziell eine Rolle. Doch ist kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus (1979; 1983) nicht per se von Wert, son-dern es bedarf seiner Anerkennung, um realisiert zu werden, weshalb An sehen und An erkennung von Personen für die Verwertbarkeit ihrer Bildungstitel eine Rolle spielen (Neumann 2010). Mit der Aufmerksamkeit für gesellschaft liche Re-lationen und für die Formen, wie sie symbolisch vermittelt werden, kommt den Deutungs- und Klassifi kationsmustern der beteiligten Akteure eine Bedeutung zu. Insofern ist es keineswegs zufällig, dass die Rezeption der Konzepte Bour-dieus häufi g mit hermeneutisch-rekonstruktiven Verfahren einhergeht, welche den Sinnwelten der Akteure, aber auch sozialen Strukturen eine Bedeutung zu-messen (s. Kutzner in diesem Band).

Die Analyse von Bildungsprozessen im Rahmen eines qualitativen For-schungsansatzes richtet sich insgesamt auf den Erwerb und die Umsetzung for-maler Bildungstitel und berücksichtigt dabei auch nicht intendierte und nicht formalisierte Lernprozesse. Auch hier fi ndet ein soziales Handeln in Interaktions-beziehungen und unter institutionellen Rahmenbedingungen statt. Aus diesem Grunde wird in bisherigen Analysen von Bildungs- und Erwerbsbiografi en auch beachtet, wie institutionelle Kontexte oder soziale Netzwerke relevant werden. So erhalten Statusübergänge im Bildungsverlauf, z. B. beim Ausbildungs- und Be-rufseinstieg, in qualitativen Untersuchungen eine Aufmerksamkeit, indem sowohl

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biografi sche Erfahrungen als auch institutionelle und soziale Einbindungen zur Sprache kommen. Neben Interviews mit Einzelpersonen werden Zugänge prak-tiziert, die z. B. mit Hilfe von Gruppendiskussionen die Relevanz sozialer Netz-werke in die Analyse von Bildungs- und Erwerbsverläufen einbeziehen (Schitten-helm 2005) oder anhand einer teilnehmenden Beobachtung ein sozial-räumliches Umfeld (vgl. Beaud 1995) beachten. Eine Methodenkombination kann hier also mit dem Ziel einer Perspektiven-Kombination16 eine Rekonstruktion der Biogra-fi en von Einzelpersonen mit einer Methode zur Ermittlung des sozialen Feldes verbinden (siehe v. Rosenberg in diesem Band). Methodenkombinationen dienen in der Analyse von Bildungs- und Erwerbsverläufen außerdem dazu, die Reich-weite und Gültigkeit von Forschungsergebnissen zu überprüfen, z. B. mit Unter-suchungen, die eine Integration qualitativer und quantitativer Methoden prakti-zieren (siehe Stecher und Maschke in diesem Band).

3 Zum Aufbau und zu den Beiträgen des Bandes

Der vorliegende Band stellt eine aktuelle Methodenentwicklung in Verbindung mit gegenstandsbezogenen Perspektiven vor. Dabei bringen die jeweiligen Instru-mente und Verfahren notwendigerweise spezifi sche Zugangsmöglichkeiten und Perspektiven auf ‚Bildung‘ und ‚Arbeit‘ mit sich. Ausgangspunkt für die Zu-sammenstellung der Beiträge sind methodische und methodologische Gesichts-punkte. Der Band ist einem Methodenpluralismus verpfl ichtet und soll auch dem Verständnis verschiedener Methoden und damit einhergehender Perspektiven im Verhältnis zueinander dienen. Doch ist er notwendigerweise auch mit Einschrän-kungen und einer Auswahl hinsichtlich der dargestellten Methoden verbunden. Mit dem vorliegenden Interesse an gegenstandsbezogenen Konzeptionen wurden solche methodischen Zugänge ausgewählt, für deren Entwicklung die entspre-chenden Forschungsgebiete relevant waren und die umgekehrt für die Heraus-bildung einschlägiger Forschungsperspektiven der Bildungs- und Arbeitsmarkt-forschung eine Rolle spielten.

Es werden zunächst ethnografi sche und konversationsanalytische Zugänge (Teil  I) vorgestellt, die bereits frühe Vorläufer haben. Daneben gibt es einen Schwerpunkt auf rekonstruktive Auswertungsverfahren (Teil II), die heute vor allem im deutschsprachigen Raum eine prominente Rolle spielen und anhand

16 Methodenkombination wäre hier also im Sinne einer Perspektiven-Kombination zu sehen, zu verschiedenen Möglichkeiten und Zielen einer Methodenkombination siehe Flick (2011).

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 23

der Objektiven Hermeneutik, der Dokumentarischen Methode und der rekon-struktiven Biografi eanalyse beachtet werden. Ein für die Datenauswertung, aber auch für Forschungsstrategien der qualitativen Sozialforschung insgesamt wichti-ges Verfahren ist die Grounded Th eory. Sie könnte potenziell in unterschiedlichen Rubriken beachtet werden, kommt hier jedoch insbesondere im abschließenden Teil des Bandes zur Sprache. In diesem letzten Abschnitt geht es um Konzepte und Forschungsstrategien (Teil III), wobei theoretische Konzepte und deren Anwen-dung ebenso zur Diskussion stehen wie komparative Analysestrategien, Metho-denkombinationen und Strategien eines qualitativen Samplings.

Was die Datenerhebung betrifft , werden insgesamt teilnehmende Beobach-tung, Interviews, Gesprächsanalysen, Gruppendiskussionen sowie Bildanalysen in Betracht gezogen,17 d. h. Einzelmethoden, die unter Umständen auch in Me-thodenkombinationen zur Anwendung kommen. Eine kombinierte Anwendung fi ndet sich in heutigen Studien auch bei Auswertungsverfahren bzw. gibt es für deren Umsetzung auch Ermessensspielräume. Dadurch kann es vorkommen, dass eine Zuordnung heutiger Studien zu den im Weiteren vorgestellten Auswertungs-verfahren nicht immer eindeutig möglich ist.18 Auch wenn dies hier unbenom-men ist, geht es im vorliegenden Band darum, methodische Richtungen als solche mit Blick auf ihr Potenzial für den jeweiligen Gegenstand vorzustellen. Insofern wird in den Beiträgen zur Diskussion stehen, was die jeweiligen Verfahren mit Blick auf den Gegenstand leisten können, wo ihr besonderer Erkenntniswert liegt und in welcher Hinsicht auch neue Entwicklungen und Herausforderungen be-stehen. Neben einer Einführung in theoretische und methodologische Grund-lagen der vorgestellten Methoden geht es also wiederholt um Beispiele für ihre mögliche Anwendung in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung.

Herbert Kalthoff stellt Perspektiven und Herausforderungen einer ethnogra-fi schen Bildungssoziologie vor, wobei er im Sinne einer sozio-materiellen Bil-dungsforschung das Zusammenspiel von interaktiven Geschehen, schulisch-di-daktischen Artefakten und semiotischen Repräsentationen von Wissen hervorhebt. Andreas Wittel fragt nach den Möglichkeiten und Herausforderungen einer eth-nografi schen Arbeitsforschung angesichts von aktuellen Veränderungen von Ar-beit und Arbeitsmärkten. In diesem Zusammenhang wirft er die Frage auf, in

17 Dies geschieht mit Blick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes, neben der speziellen Literatur zu einzelnen Instrumenten der Datenerhebung fi nden sich ausführliche Darstellungen mehrerer Instrumente auch in Przyborski / Wohlrab-Sahr (2009).

18 Dies betrifft z. B. die kombinierte Anwendung rekonstruktiver Auswertungsverfahren, siehe auch Maschke / Schittenhelm (2005).

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welchem Rahmen zentrale Grundlagen einer Arbeitsethnographie zu überdenken und neu zu formulieren sind. Ingo Matuschek und Frank Kleemann befassen sich mit konversationsanalytischen Zugängen in der Erforschung von Kommunika-tionsvorgängen am Arbeitsplatz und zeigen deren Prinzipien und Möglichkeiten anhand verschiedener Forschungsbeispiele auf.

Ralf Bohnsack stellt die Dokumentarische Methode mit Blick auf ihre theore-tischen Grundlagen und Anwendungsformen am Beispiel einer Erforschung von Bildungsmilieus zur Diskussion. Die Rekonstruktion von Orientierungsmustern in Bildungsmilieus zeigt er anhand von Gruppendiskussionsergebnissen, ehe er seinen Beitrag mit einem Ausblick auf das Erkenntnispotenzial von Bildanalysen abschließt. Arnd-Michael Nohl befasst sich mit den Möglichkeiten einer Typen-bildung in der dokumentarischen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Neben einer soziogenetischen Typenbildung und Fragen der Mehrdimensionalität disku-tiert er eine relationale Typenbildung, die Kontextbedingungen für hoch ausdiff e-renzierte Bildungsverläufe ermittelt.

Andreas Wernet gibt eine Einführung in theoretische Grundlagen und Prämis-sen der Objektiven Hermeneutik. Die damit verbundenen Forschungsperspek ti-ven in der Bildungsforschung sowie das methodische Vorgehen erörtert er exem-plarisch anhand einer Fallstudie zum Schulwechsel im Bildungsverlauf eines Jugendlichen. Stefan Kutzner stellt das Auswertungsverfahren der Objektiven Hermeneutik und dessen Grundlagen anhand von Fallstudien zu milieubeding-ten Erwerbsbiografi en und deren Auf- oder Abstiegstendenzen dar. Dabei hebt er den rekonstruktiven Ansatz des Verfahrens der Objektiven Hermeneutik hervor, das sich für latente Sinngehalte in den Aussagen der Befragten und für die Struk-turbedingtheit der biografi schen Verläufe interessiert.

Anne Juhasz Liebermann befasst sich mit dem Erkenntnispotenzial der Bio-grafi eanalyse für die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Sie diskutiert deren Forschungsperspektiven anhand des Begriff s der „biografi schen Ressourcen“ und seiner Anwendungen in der biografi schen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Auf der forschungspraktischen Ebene stellt sie die Schritte des von Gabriele Ro-senthal entwickelten Verfahrens der Biografi eanalyse mit einer besonderen Auf-merksamkeit für das Verhältnis von erlebter und erzählter Lebensgeschichten dar. Anja Schröder-Wildhagen diskutiert das methodische Verfahren und Erkennt-nispotenzial der Biografi eanalyse von Verlaufskurven am Beispiel von Manage-mentberufen. Sie macht dabei deutlich, wie das in der Biografi eforschung von Fritz Schütze ausgearbeitete Konzept der Verlaufskurve aktuelle Entwicklungen in diesem Berufsfeld begriff lich-theoretisch erfasst. Mit Hilfe narrativer Interviews

Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung 25

und dem damit einhergehenden Auswertungsverfahren ermittelt sie Entstehungs-bedingungen und prozesshaft e Verläufe des ‚Erleidens‘ von Arbeitsabläufen.

Kirstin Bromberg stellt das Konzept des arc of work im Sinne von Anselm Strauss vor, das in der Tradition des symbolischen Interaktionismus verschiedene Elemente der Berufsarbeit analysiert. Mit Blick auf die Einbindung in arbeitstei-lige Organisationen und die mit dem Arbeitsauftrag verbundenen Interaktio-nen unterscheidet es systematisch verschiedene Ebenen der Arbeitsanforderun-gen. Als ein für analytische Fragen sensibilisierendes Konzept wird es im Rahmen einer Forschungsstrategie vorgestellt, die eine empirisch fundierte Th eoriebildung vorsieht. Uta Liebeskind befasst sich mit dem Vergleich in der qualitativen Daten-analyse anhand einer auf der ‚Grounded Th eory‘ beruhenden Forschungsarbeit zur Hochschullehre in Deutschland und Frankreich. Dabei stellt sie zunächst an-hand theoretischer und methodologischer Überlegungen generelle Fragen eines Vergleichs in qualitativen Untersuchungsanlagen zur Diskussion. Ihr eigenes Vor-gehen diskutiert sie am Forschungsbeispiel, wobei sie zudem exemplarisch die komparative Analyse auf der Grundlage eines auf der ‚Grounded Th eory‘ basie-renden Codier-Verfahrens aufzeigt.

Florian von Rosenberg diskutiert rekonstruktive Forschungsperspektiven, in denen die theoretischen Konzepte des ‚Habitus‘ und des ‚Feldes‘ von Pierre Bourdieu zur Anwendung kommen. Um die Verbindung einer Habitus- und Feldanalyse auch auf der Ebene der empirischen Analyse zu realisieren, stellt er eine Methodenkombination von Biografi e- und Diskursanalyse zur Diskussion. Eine weitere Methodenkombination behandelt der Beitrag von Sabine Maschke und Ludwig Stecher. Am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfi ndung stellen sie Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Forschungsperspektiven in der Bil-dungs- und Lebenslaufforschung zur Diskussion. Als Strategie, um diese Grenzen zu überwinden, schlagen sie eine integrative Sozialforschung vor und zeigen ver-schiedene Möglichkeiten einer Kombination qualitativer und quantitativer Ver-fahren auf. Um Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Verfahren geht es auch im abschließenden Beitrag. Dabei stelle ich am Beispiel von Untersuchungen zum Übergang zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt Strategien eines qualita-tiven Samplings vor, um Reichweite und Übertragbarkeit der Ergebnisse qualitati-ver Untersuchungen zu überprüfen und zu erweitern.

Als Herausgeberin geht mein Dank an die Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Beiträgen an einer Diskussion um Grundlagen, Perspektiven und Me-thoden einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung beteiligt haben. Abschließend danke ich außerdem meinen Mitarbeiterinnen Julia Küchel und

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Anna Meyer zu Schwabedissen für ihre Übernahme von Aufgaben des Redigie-rens und Korrigierens der Texte sowie Susanne Albrecht für ihr hilfreiches und sorgsames Lektorat des Buchmanuskripts.

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Teil IEthnografi sche und

konversationsanalytische Zugänge

Ethnografi sche BildungssoziologiePerspektiven und Herausforderungen

Herbert Kalthoff

1 Einleitung

Ende der 1970er-Jahre skizziert Ewald Terhart einen im angloamerikanischen Raum praktizierten Forschungsansatz und zwar die „ethnografi sche Schulfor-schung“. Ziel des Literaturberichts sei es, so der Autor, die wissenschaft stheoreti-schen und die forschungspraktischen Dimensionen des Ansatzes in der deutschen Erziehungswissenschaft bekannt zu machen, auf Forschungsresultate hinzuweisen und dabei gleichzeitig unterschiedliche Ausformulierungen des Ansatzes zu skiz-zieren. In der abschließenden Zusammenfassung wird die Hoff nung ausgespro-chen, dass auch in Deutschland konkrete ethnografi sche Schulforschungsprojekte folgen mögen (vgl. Terhart 1979). Jahrzehnte später liegen eine Reihe ethnogra-fi scher Studien vor, die entweder in der Schule über spezifi sche schulische Phä-nomene (etwa Unterrichtsgespräch, Bewertungspraxis) oder in der Schule über nichtschulische Phänomene (etwa ethnische Konfl ikte, Peer Culture) forschen. Die Institution Schule wird also als eine Möglichkeit genutzt, etwas über etwas anderes aussagen zu können, etwa über Kommunikationsprozesse, Beurteilungs-praktiken, Paarbildungen unter Kindern etc.

Kennzeichnend für die Bildungssoziologie allgemein ist, dass sie drei Dimen-sio nen schulischer Bildung erforscht: Sie erforscht schulische Selektionen, die Vermittlung und Aneignung von Wissen sowie die Steuerung und Organisation von Schule. Eine hohe strategische Relevanz für die ethnografi sche Bildungssozio-logie besitzt dabei die empirische Unterrichtsforschung und damit die Analyse dessen, was im Schulunterricht geschieht. An die Stelle anekdotischen Wissens über die Schule und den Schulunterricht hat eine theoretisch gerahmte empi-rische Forschung zu treten, die die vordergründigen Betrachtungen von Rand-bedingungen von Bildungsprozessen ersetzt durch eine detaillierte empirische Analyse von Prozessen der Wissensvermittlung und Wissensaneignung, der schulischen Bewertung sowie der Mikrofundierung sozialer Ungleichheit. Die Vermittlung und Aneignung von Wissen ist seit vielen Jahren Gegenstand einer

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interaktionistischen Bildungsforschung (bspw. Mehan 1979; Kalthoff 1997), die insbesondere die mündliche Performanz schulischen Unterrichtens untersucht. Betont wird in diesen Studien, dass Schule nicht nur schulisches Wissen an ihre Schüler vermittelt, sondern auch Klassifi kationen der Schüler an potenzielle Ar-beitgeber und Universitäten. Hiermit verbunden ist, dass Schüler sich nicht nur schulisches Wissen aneignen, sondern auch ihre Klassifi kationen, deren Bedeu-tung sie u. a. mit Lehrpersonen und ihrer Peer Group aushandeln (bspw. Kalthoff 1996; Breidenstein et al. 2007). Das Innenleben der Schule besteht darüber hinaus aus einer Vielzahl sozialer Beziehungen und Dynamiken, ohne die die Institution Schule nicht existieren und überleben kann.

Im Folgenden stelle ich den empirie-theoretischen Charakter der ethnografi -schen Bildungsforschung dar (1.) und skizziere dann das Programm einer sozio-materiellen Bildungsforschung, also einer Forschung, die das Zusammenspiel von interaktiven Geschehen, schulisch-didaktischen Artefakten und semiotischen Re-präsentationen von Wissen erforscht (2.).

2 Theoretische Empirie

Für das Selbstverständnis der ethnografi schen Bildungs- und Schulforschung sind zwei Merkmale relevant: Erstens betreibt die ethnografi schen Bildungs- und Schulforschung empirische Forschung nicht um ihrer selbst willen, sondern ver-steht sie als Anregungs- und Irritationspotenzial für soziologische Th eoriebildung. Es geht ihr dabei nicht um einen Beitrag zu einer allgemeinen Gesellschaft stheo-rie, sondern vielmehr um die Weiterentwicklung gegenstandsbezogener soziolo-gischer Th eorien. Hiermit verbunden ist das Verständnis, dass die Soziologie das Fremde und das Bekannte in der eigenen Gesellschaft befragt und immer dort, wo sie auf Selbstverständlichkeiten stößt, ihr diese zum Problem werden.1 Aber was ist Th eorie ? Auf diese Frage hat es wissenschaft sgeschichtlich betrachtet ver-schiedene Antworten gegeben: In der griechischen Philosophie stand theoria für eine Praxis der Anschauung, die Zeit und Muße voraussetzte – modern gespro-chen also: Handlungsentlastung. Th eorien im Sinne des kritischen Rationalismus meinen ein System von Sätzen, die u. a. falsifi zierbar, wertfrei und nachprüfbar sein müssen und den Begriff en der deduktiven Logik verpfl ichtet sind (vgl. Pop-

1 In Anlehnung an die bekannte Formulierung Max Webers: „Die spezifi sche Funktion der Wis-senschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Pro-blem wird“ (Weber 1988: 502; H. i. O.).

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per 1966): also Abstraktion von Details, Allgemeingültigkeit und Generalisierung von Aussagen, die einer Überprüfung standhalten. Th eorien haben hier den Sta-tus von Gesetzesaussagen. Gesellschaft stheorien (etwa Kritische Th eorie oder Sys-temtheorie) zielen dagegen mit „Th eorie“ auf die Gesamtheit oder Totalität des Sozialen und formulieren Aussagen, die empirisch kaum zu falsifi zieren sind und innerhalb des Th eoriediskurses auch nicht diese Funktion übernehmen. Schließ-lich wissenschaft stheoretische Metadiskurse: Sie operieren normativ, indem sie verbindlich die Prinzipien zu klären und zu kanonisieren suchen, die eine Th eorie zu einer wissenschaft lichen Th eorie machen und damit eine Diff erenz zu Alltags-theorien einführen. Es sind genau diese metatheoretischen Diskurse, die für man-chen Beobachter die Einheit des Faches herstellen und garantieren (bspw. Alexan-der 1982: 64 ff.; Sibeon 2004: 12 ff.).

Für die weitere Diskussion scheint mir eine Diff erenzierung von drei Perspek-tiven auf soziologische Th eorien sinnvoll zu sein. Unterscheiden kann man die Betrachtung von

(1) Th eorien als beobachtungsleitenden Annahmen, (2) Th eorien als aus empirischem Material entwickelte Kategorien,(3) Th eorien als beobachtbare soziale Phänomene.

Th eorien als beobachtungsleitende Annahmen legen fest, was der Gegenstand soziologischer Forschung sein kann und wie empirische Daten erzeugt werden sollen. Sie setzen die Auswahl des Gegenstandes und sorgen damit für eine Per-spektivität von Forschung sowie für ihre gerichtete Orientierung und Aufmerk-samkeit. Beobachtungsleitende Annahmen klären also zumindest temporär die Frage, wie die Beschaff enheit sozialer Ordnung soziologisch zu verstehen und zu erforschen ist. Das heißt: Th eorien als beobachtungsleitende Annahmen konstitu-ieren Forschung in dieser Wechselwirkung von Grundannahmen über das Soziale und Erforschung des Sozialen (vgl. Lindemann 2008). Soziologische Forschungs-methoden sind in dieser Konstellation ‚eingebettet‘: Sie setzen theoretische An-nahmen über die soziale Welt um, die sie empirie-theoretisch beobachten, und sie refl ektieren Ergebnisse, die im Lichte dieser theoretischen Annahmen Sinn ergeben oder auch irritieren können. Auch wenn nicht allgemein festzulegen ist, wie beobachtungsleitende Annahmen und Forschungsergebnisse im Einzelfall ein ander bestätigen oder irritieren, so haben diese Annahmen auch die Funktion, qualitative Forscher ‚von den Sachen zurück‘ (Blumenberg 2007) zu bringen. Dies bedeutet, dass sie die Suche nach Deutlichkeit des empirischen Datums rahmen und den Blick auf die Systematik oder Gestalt des sozialen Phänomens ausrichten.

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Aus empirischem Material entwickelte Th eorien sind am Gegenstandsbereich oder Fall orientierte Th eorien (im Sinne Mertons (1968: 39 ff.): Middle Range Th eo ries): Sie haben – im Sinne der Grounded Th eory – einen gegenstandsorien-tierten Charakter, wenn sie sich auf vergleichbare Fälle beziehen und die wesent-lichen Bedingungen der Kategorie aufzeigen, die aus dem empirischen Material gewonnen wurde. Sie haben einen formalen Charakter, wenn sie gegensätzliche Fälle vergleichen und damit die Bereiche ausdehnen, die der Kategorie empirisch zugrunde liegen. Formale Th eoriebildung dehnt gegenstandsorientierte Th eorien aus, indem sie auf die Integration von Gegensätzen und auf die Vergleiche ver-schiedener Bereiche abzielt. Schließlich sind Th eorien selbst Teil der Gesellschaft und damit ein „kulturelles Ereignis“ (Pfeiff er et al. 2001): Th eorien als beobacht-bare soziale Phänomene, die die Welt mit erzeugen, die sie beschreiben. Als solche sind sie soziologisch analysiert worden etwa als ein Kampf um wissenschaft liche Reputation (vgl. Bourdieu 1979), als Ergänzung empirischer Forschung (Luhmann 1998) oder als eine kulturelle Praxis, die einer ganz eigenen Logik folgt (Collins 1985).

Zweitens operiert die ethnografi sche Bildungsforschung mit einem starken Empiriebegriff . Der Rückgriff auf ethnografi sche Methoden impliziert den Ab-schied von der Annahme, die eigene Gesellschaft sei als genuiner Forschungs-gegenstand der Soziologie ein ihr immer schon vertrauter, verstandener und auch verfügbarer Gegenstand. Die „Illusion des unmittelbaren Verstehens“ (Bour-dieu / Wacquant 1996: 280) durch fl üchtige Alltagsbeobachtungen wird substitu-iert durch eine empirische Erforschung sozialer Lebenswelten respektive sozialer Praktiken. Empirische Forschung meint ein methodisches Vorgehen, mit dem in der direkten und andauernden Interaktion des Forschers mit den Teilnehmern seines Feldes wiederholt und aus unterschiedlichen räumlichen und Akteurs-perspek tiven empirisches Material erhoben wird (vgl. Breidenstein et al. 2012).

Nun kennzeichnet Ethnografi e keine in sich geschlossene Methodologie, Th eorie oder Forschungspraxis. Wenn man von einem Konzept der Ethnografi e sprechen kann, dann ist es die paradox klingende Verknüpfung von Teilnahme und Distanznahme. Auf dieses spannungsgeladene Verhältnis von Präsent-Sein und Re-Präsentieren (etwas wieder darstellen) hat es in der Geschichte der An-thropologie und Soziologie sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Hierbei sind grundsätzlich zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen die Refl exion über die Frage, welches Phänomen, welcher Akteur oder welche Situation wie beob-achtet wird (bzw. werden kann), und zum anderen die Frage, in welcher Form das Beobachtete zum Text wird. Man kann in diesem Zusammenhang etwa die

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Auffassung vertreten, dass das, was beobachtet wird, spezifi sche Aspekte der be-obachteten Kultur darstellt. Die Möglichkeit, diese zu beobachten, wird erstens an die Bereitschaft der Teilnehmer gekoppelt, vor den Beobachtern Kultur als eine praktische Aktivität zu vollziehen, und zweitens an die Fähigkeit des Ethnogra-fen, diese Aspekte auch erkennen zu können, ihnen gegenüber also nicht blind zu bleiben. Im Rahmen der ethnografi schen Feldforschung trainiert die Ethnogra-fi n ihre Wahrnehmungsfähigkeit, bildet eine explizite „Hörtechnik […] als Mit-hörer und Zuhörer“ (Amann / Knorr-Cetina 1991: 422; H. i. O.) heraus und ent-wickelt „Mitspielkompetenz“ (Reichertz 1989: 92), darüber hinaus aber setzt die direkte Beobachtungsform auch auf die „Stimulierung der nichtdiskursiven Be-wußtseinsebene“ (Amann / Knorr-Cetina 1991: 421). Das heißt: Die Erfahrungen, die Ethno grafen in und durch ihre Feldforschung machen, gehen über das hinaus, was sie in ihren Protokollen als positives Wissen festhalten; und dennoch stellen sie empirisches Wissen dar.

Auf die Frage, was der Ethnograf denn so treibt, hat Cliff ord Geertz eine ein-fache, aber prägnante Antwort formuliert: „Er [der Ethnograf, H. K.] schreibt“ (Geertz 1987: 28). Zu den klassischen Formen der Verschrift lichung während der Feldforschung zählen u. a. Fieldnotes, Beobachtungsprotokolle, Tagebuch (vgl. Emerson et al. 1995). Es handelt sich bei diesen verschiedenen Formen der Ver-schrift lichung um eine Dokumentierungstätigkeit. Die Tätigkeit des Dokumen-tierens unterscheidet sich entsprechend der Wissensform, die beobachtet wird, und entsprechend der Beobachtungspraxis. Drei Formen, zwischen denen Ethno-grafi nnen hin und her wechseln können, lassen sich unterscheiden: Erstens, eine Forscherin, die ein Interview über ein schulisches Ritual (etwa die morgend liche Begrüßung) durchführt und das Ritual entsprechend dieser Aussagen aufschreibt; zweitens, eine Ethnografi n, die das Ritual direkt und wiederholt beobachtet und den Vollzug in eigenen Worten beschreibt; drittens eine Ethnografi n, die das impli-zite Wissen herausarbeitet, das in diesem Ritual steckt, es expliziert. Die Tätigkei-ten des Aufschreibens, Beschreibens oder Explizierens stehen für die Produktion empirischer Daten; sie tun dies allerdings auf je spezifi sche Weise: unterschiedlich dicht und ausführlich, beschreibend und analytisch. Auch werden in dieser em-pirischen Phase der Forschung „analytical notes“ (Emerson et al. 1995) verfasst: mehr oder weniger kurze Einschübe, in denen die Ethnografi n erste analytische Gehversuche unternimmt. Für die Phase des Feldforschung lässt sich festhalten: Die Aktivität der Forschung ist im Wesentlichen eine Aktivität des beobachtenden Schreibens: Beobachtung geschieht in der Ethnografi e durch schrift liches Fest-halten. Dies verlangt den Ethnografen immer wieder die Distanzierung zum Feld

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durch sprachliche Bewältigung des Beobachteten ab und übernimmt hiermit eine überbrückende Funktion zwischen Vertrautem und Fremdem, Feldforschungs-situation und Wissenschaft lichkeit.

Im Analyseprozess werden dann die so erzeugten Daten ausführlich kodiert und schematisiert, einzelne Situationen (Einzelfälle) und Ereignisketten werden analysiert. In dieser Phase der ethnografi schen Forschung überschneiden sich die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens. Zunächst liest die Ethnografi n (immer wieder) ihre Protokolle, ordnet sie nach den Kategorien, die sie durch die Kodierung gewonnen hat, und schreibt Memos, in denen sie verschiedene Beob-achtungen zu einem Phänomen zusammenfasst und ordnet. Erst mit zunehmen-der Dauer der Analyse treten das Schreiben des ethnografi schen Berichts und damit die Arbeit an Th emen, Begriff e oder Konzepten wieder stärker in den Vor-dergrund (ausführlich: Breidenstein et al. 2012; Emerson et al. 1995).

Abbildung 1 Die ethnografi sche Feldforschung (Quelle: Breidenstein et al. 2012)

FELDFORSCHUNG

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Ethnografi sche Bildungssoziologie 39

Was das Verhältnis von ethnografi scher Empirie und soziologischer Th eorie anbelangt, so ist zu sagen: Dieses Verhältnis gleicht einem gegenseitigen Inspi-rieren: Soziologische Th eorie hilft und unterstützt bei der Entwicklung der Fra-gestellung, der Präzisierung von Begriff en oder dem Herausfi nden von Th emen. Gleichwohl werden die empirisch erzeugten Daten nicht einfach durch Th eorie subsumiert, sondern gegen sie verteidigt: Sie dürfen der Th eorie widersprechen und zu neuen oder veränderten Begriff en oder theoretischen Einsichten führen. Es bedarf also sowohl eines profunden theoretischen Wissens als auch einer Sen-sibilität im Umgang mit den Daten. Off enkundig wird hier die Zirkularität der ethnografi schen Forschung, die zwischen theoretischer Praxis, Feldforschung und empirischem Wissen hin- und hergeht (siehe Abb. 1).

3 Die Erforschung schulischen Unterrichtens und Lernens

Was lässt sich nun beobachten, wenn Ethnografen mit diesem hier nur kurz skiz-zierten methodischen und theoretischen Rüstzeug in der Schule bzw. über schuli-schen Unterricht forschen ? Um auf diese Frage antworten zu können, ist ein Hin-weis auf das Entdeckungsprinzip der ethnografi schen Feldforschung notwendig. Im klassischen Sinne testen Ethnografen keine Hypothesen, sondern generieren eine Lesart sozialer Praktiken, institutioneller Settings oder kultureller Rahmun-gen, für deren off ene und versteckte Seiten sie sich interessieren. Sie können sich daher auf eher bekannte soziale Praktiken (etwa: Unterrichtsgespräch) oder weni-ger bekannte Praktiken (etwa: schulische Bewertung) konzentrieren. Die zu wäh-lende Strategie ist abhängig vom Forschungsinteresse, von der Möglichkeit der empirischen Beobachtung sowie von der Literaturlage. Im Folgenden stelle ich zwei verschiedene Dimensionen des Unterrichts dar, und zwar das Unterrichts-gespräch und die Bewertung der mündlichen Schülerleistung (3.1) sowie die Rolle schulischer Wissensobjekte (3.2).

3.1 Unterrichtskommunikation und Bewertung

Die Bewertungspraktiken von Lehrern lassen sich an verschiedenen Orten beob-achten: etwa an heimischen Schreibtischen bei der Korrektur schrift licher Klau-suren oder in einem zum Prüfungsraum umfunktionierten Klassenzimmer bei der mündlicher Abiturprüfung oder etwa im Lehrerzimmer bei der Zensuren-konferenz. Gemeinsames Kennzeichen dieser Bewertungssituationen ist, dass sie

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außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit liegen. Dies lässt sich mit der schritt-weisen Abfolge von lehren → lernen → prüfen → bewerten erklären, also mit der schulischen Temporalität. Die Bewertung von Schülern fi ndet aber auch im Kon-text des Unterrichts statt, also im fortlaufenden Austausch zwischen Lehrern und Schülern. Auf diese Szenen des Unterrichts möchte ich mich hier konzentrieren.

Soziologisch betrachtet ist es nicht plausibel, dass 25 – 30 Personen, die für-einander anwesend und wahrnehmbar sind, in einer geordneten Form mitein-ander sprechen (können). Zentral ist dabei, dass die Teilnehmer kommunikativ synchronisiert werden. Alois Hahn (Hahn 1991: 96) hat diesen Sachverhalt in die paradox erscheinende Formulierung gebracht: „Das Verbot zu reden ist auch die Voraussetzung dafür, dass überhaupt geredet werden kann.“ Um diese Art Rede-ampel, die bei den Schülern eine hohe Selbstdisziplin voraussetzt, zu kontrollie-ren, hat die Institution Schule ein Instrument entfaltet, das eine geordnete Kom-munikation ermöglichen soll: das Unterrichtsgespräch.

Im schulischen Unterricht wird Wissen in einer intensiven Weise mündlich verhandelt; die Form, in der dies stattfi ndet, ist das Unterrichtsgespräch. Das Un-terrichtsgespräch ist nichts anderes als eine Gesprächsapparatur, die von der In-stitution Schule zur Wissensbearbeitung etabliert worden ist. Drei grundlegende Merkmale kennzeichnen diese Praxis der Versprachlichung schulischen Wissens:

■ asymmetrische Konstellation und Sequenzierung des Unterrichts, ■ Ambivalenz von Deskription (Beschreibung) und Askription (Zuschreibung)

sowie ■ Zurechnung von Wissensstandards.

Diese Merkmale sind in der Literatur vielfach und wiederholt behandelt und auch empirisch dokumentiert worden (vgl. nur McHoul 1978; Mehan 1979; Kalthoff 1997, 2004; Payne / Hustler 1980). Ich werde diese Merkmale daher nur kurz skiz-zieren.

Asymmetrisches Sprechen und Sequenzierung des Unterrichts

Das Gespräch im Unterricht unterscheidet sich von der alltäglichen Konversation darin, dass die Vielstimmigkeit der Sprecher und die Äquivalenz der Akteure auf-gehoben werden. Denn im schulischen Unterricht herrschen andere Rede- und Schweigegebote, und die Lehrperson besitzt das Recht, für Schüler offi zielle Zeit-fenster des Sprechens zu öff nen. In ihrer Person ist der Allokationsmechanismus

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vereint, der die Schüler mit offi ziellen Rederechten ausstattet; sie ist also die zen-trale Figur im kommunikativen Geschehen des Unterrichts. Dies ist nicht be-sonders überraschend und seit langem bekannt. Dass aber die Lehrperson diese bevorzugte Stellung in der Gestaltung der Redebeiträge einnimmt, verdankt sie nicht nur ihrer zentralen Stellung im lehrerzentrierten Unterricht, sondern auch einem Mechanismus, der sie auf quasinatürliche Weise immer wieder in diese Position bringt; dies ist die Lehrerfrage, auf die Schülerantwort und Kommen-tierung durch die Lehrperson folgen. Das heißt, dass, sozialtheoretisch gespro-chen, reziproke Erwartungen den Schulunterricht bestimmen: Es wird erwartet, dass die Lehrperson Fragen stellt, dass Schüler antworten und die Lehrperson die Schülerantwort kommentiert, um konditionale Relevanzen zu schließen. Es wird erwartet, dass das Unterrichtsgespräch auf diese Weise strukturiert ist und dass die Teilnehmer diese Erwartungen auch erfüllen. Das Entscheidende ist, dass die Ausgangsfrage der Lehrperson ihr in systematischer Weise den Redezug nach der Antwort reserviert. Nachdem Schüler auf die Frage der Lehrperson geantwortet haben, ist sie automatisch wieder am Zuge. Das heißt, dass die Konstellation von Frage – Antwort – Kommentar die symbolische Ordnung der Sprecher sowie die Kontrolle über Zeit immer wieder herstellt.

In der Organisation der schulischen Gesprächsapparatur ‚Unterricht‘ nimmt die Lehrerfrage eine Schlüsselstellung ein: Sie symbolisiert mit anderen Worten das Organisationsprinzip des Unterrichts. Zugleich ist sie eine rhetorische Figur, ein Konstrukt, das – wie Simmel schon in den 1920er-Jahren anmerkte – „ein im sonstigen Leben nicht vorkommendes Gebilde“ (Simmel 1922: 64) ist. Für Ga-damer (1990: 369) steht die „pädagogische Frage“ vor der „paradoxen Schwierig-keit […] eine Frage ohne einen eigentlich Fragenden“ zu sein. Woran liegt dies ? Dies liegt daran, dass die Lehrerfrage keine Frage im eigentlichen Sinne ist. Fra-gen stellen heißt im Unterricht für Lehrpersonen ja nicht, sich zu fragen, son-dern andere zu befragen: Diejenigen, die die Fragen stellen, kennen die Antwort, und diejenigen, die antworten, aber nicht zwangsläufi g die Antwort wissen, stel-len sich nicht die Fragen, auf die sie eine Antwort wissen sollen. Am Beispiel der Lehrerfrage kann also ein immanentes Referieren beobachtet werden, das heißt eine Selbstreferenz der mündlichen Darstellung, die immer nur auf sich selbst verweist. Sichtbar wird hier, was die Lehrerfrage ist: Sie ist ein Mittel zur Überprü-fung, zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und zur Stimulierung des Gesprächs. Diese asymmetrische Strukturierung des Unterrichts tritt dann in den Hinter-grund, wenn Schüler ihrerseits Fragen stellen und damit die Richtung des Unter-richtsgesprächs mitbestimmen.

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Indem ein Schüler sein Wissen in seiner Äußerung mündlich darstellt, gibt er nicht nur Auskunft über sein Wissen, sondern auch darüber, ob er das Sprachspiel des Unterrichts beherrscht. Folgen wir Wittgensteins Überlegungen, so zeigt sich in der ‚richtigen‘ Antwort des Schülers auf die Frage des Lehrers eine Praxis der Übereinstimmung (Wittgenstein 1984: 337). Ein guter Schüler ist ein Schüler, der das Format – zu erkennen, was der Lehrer meint – in seiner mündlichen Praxis beherrscht. Diese Kompetenz geht mit einer Haltung einher, die u. a. durch die Form des schulischen Lernens vermittelt wird. Die mündliche Darstellung von Wissen entfaltet sich somit in einer durch Sprecherrechte gerahmten Interaktion.

Beschreibung und Zuschreibung

In der Aufeinanderfolge von Lehrerfrage → Schülerantwort → Lehrerkommentar → Schülerantwort … erfüllt der Lehrerkommentar eine besondere Funktion, denn er vermittelt dem Schüler, der gerade gesprochen hat, eine Einschätzung seiner Wissensdarstellung. Die Replik, der Kommentar, die Nachfrage, das Schweigen etc. des Lehrers erfüllen die Funktion eines Scharniers, das zwischen dem Inhalt der Schüleräußerung und dem Gehalt der Lehrerfrage vermittelt. Ein Beispiel:2

L: … jetzt geht’s weiter mit den Termen, InsaS1: err ((r)) Wurzel zett ((z))L: nein, nicht, DanielS2: Wurzel zett plus errL: da muss ein Plus dazwischen stehen …

In diesem Beispiel sieht man die Verkettung der Redezüge: Auf die Frage und Aus-wahl durch die Lehrperson antwortet eine Schülerin, deren Antwort dann kurz und knapp als falsch markiert wird („nein“). Bewertung der Schülerantwort und Auswahl eines anderen Schülers fallen im Redezug der Lehrperson zusammen. Interessant ist der zweite Kommentar der Lehrperson (Zeile 5): Mit ihm kommen-tiert die Lehrperson die falsche Antwort der Schülerin und markiert die Antwort des Schülers (Zeile 4) als richtig. Der Kommentar adressiert damit beide Schüler.

2 Es werden folgende Transkriptionszeichen verwendet: L: Lehrer; S: Schüler; Sn: mehrere Schüler; °Schule°: leise Aussprache; SCHULE: laute Aussprache; ((Schule)): Kommentar des Transkriben-ten; [: Beginn einer Überlappung (Parallelität von Sprechern); ]: Ende einer Überlappung; =: un-mittelbare Fortsetzung; ::: = gedehnte Aussprache; (P): kurze Sprechpause; (2): Angabe der Pause in Sekunden.

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Nicht unerwähnt bleiben soll hier die soziale Rahmung im Sinne Goff mans (Goff man 1980): Das schulische Unterrichtsgespräch fi ndet immer vor dem Pu-blikum der Schulklasse statt. SchülerInnen, die nicht dran sind, beobachten dabei zweierlei: das Geschehen auf der Hauptbühne zwischen fragender Lehrperson und antwortendem Schüler sowie das Geschehen jenseits dieser offi ziellen Bühne. Auch fragende Lehrpersonen und antwortende Schüler beobachten, und zwar ers-tens die Kommunikation selbst und die Reaktion der Schulklasse (des Publikums) sowie zweitens das andere Geschehen im Unterricht. Die besondere Stellung des Lehrerkommentars in der Unterrichtskommunikation zeigt sich nun darin, dass er immer wieder andere Schüler in die Kommunikation einbezieht, was dem Leh-rerkommentar einen ambivalenten Status verleiht. Er lässt die Schüler darüber im Unklaren, wer der nächste Sprecher wird – es können potenziell alle ‚dran‘ sein. Diese Doppelstruktur pädagogischen Handelns meint zunächst die Gesamt-heit der Schüler, zielt aber dann auf einen ab (vgl. Kalthoff 1997: 89 ff.). Aus dem Gesagten folgt, dass nicht nur unterschiedliche Rahmungen vorliegen, die den Unterricht an sich schon zu einem vielschichtigen Geschehen machen, sondern dass dies obendrein in einer fl uiden, sich kontinuierlich ändernden Konstellation geschieht, in die auch Artefakte (etwa die Tafel) aktiv einbezogen sind (ausführ-lich 3.2).

Nimmt nun die soziologische Analyse die Perspektive der Lehrperson ein, dann kann sie in diesem Beispiel nur erkennen, dass die Lehrperson off ensichtlich eine richtige Antwort sucht und eine falsche Antwort auch als solche markiert. Dieser Art Realismus entgeht aber eine zweite zentrale Funktion des Lehrerkom-mentars, und zwar die Zurechnung richtigen Wissens und damit der performative Charakter des Lehrerkommentars. Nimmt man die Perspektive der Schüler ein, dann ist der Lehrerkommentar nicht nur die neutrale Korrektur einer falschen Antwort, sondern immer auch die Bewertung einer Person. Dies liegt darin be-gründet, dass der Lehrerkommentar nicht nur die stoff liche Seite berührt, son-dern ebenso auf den Urheber der Äußerung zielt; damit er dies kann, werden Schüler durch das schulische Redeverfahren individualisiert. Etwas gewusst und etwas richtig gewusst zu haben, markiert einen zentralen Unterschied, denn hier-mit ist die Anerkennung einer Person verbunden. Der soziale Sinn der Kommen-tierung besteht schließlich auch darin, eine Ressource zur Kommunikation bereit-zustellen – denn sonst gäbe es nichts zu reden. Anders formuliert: Damit schu-lischer „Stoff “ im Unterricht kommuniziert werden kann, muss es etwas geben, das Lehrpersonen zu bewerten bzw. zu korrigieren haben, und gerade das, was sie kommentieren und bewerten, erzeugen sie durch ihre Fragen. Richtigstellung der Schülerantwort und Bewertung des Schülers gehen also im Kommentar eine

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Symbiose ein. Das heißt, dass der Lehrerkommentar performativ ist: Er beschreibt das geäußerte Wissen des Schülers, er wirkt auf die Person des Schülers und er schreibt dem Schüler eine Position zu.

Die Kommentierung einer Schülerantwort ist also kaum von ihrer Bewertung zu trennen: Lehrer geben zu verstehen, ob die Schülerantwort richtig, in etwa richtig oder falsch ist. Mit ihrem Kommentarturn akzeptieren bzw. affi rmieren Lehrer die Antwort des Schülers; solange er fehlt, sind „im Diskurs konditionale Relevanzen ‚off en‘“ (Streeck 1979: 248), da ihren Antworten Geltungsansprüche anhaft en, über die entschieden werden muss. Lehrerbewertungen lassen sich da-nach unterscheiden, ob sie eine Schülerantwort akzeptieren („mhh“, „richtig“, „stimmt“, Kopfnicken) oder sie ausdrücklich loben („schön“, „sehr schön“, „gut“); hierzu gehören ebenfalls emphatisch formulierte Kommentierungen („ganz genau“, „natürlich“).

Wenn Schüler antworten, formulieren sie Wissen als schon sanktioniertes Wissen (Lehrer sprechen dann von Reproduktion) oder als Suggestion: Schü-ler vermuten Wissen, sie probieren Antworten aus, sie „wagen“ (Lehrer) etwas. Mit dem Korrekturturn verwandeln Lehrer Suggestionen in Gewissheiten, d. h. in eine richtige, teilrichtige oder falsche Antwort. So entsteht ein interaktiv her-gestellter Wissensraum, auf den die Teilnehmer im weiteren Verlauf des Unter-richtsgespräches rekurrieren können bzw. müssen, da er als offi ziell ratifi ziert gilt (Streeck 1979; McHoul 1990). Lehrer wissen, von welchem Schüler sie welche Ant-worten erwarten können; für sie teilt sich die Schulklasse in Schülertypen auf. Die Kombination von Frage und Schüler – der gute Schüler bekommt die schwierige Transferfrage, der schlechte Schüler, damit er überhaupt etwas sagt, die leichte Reproduktionsfrage – erzeugt eine Zirkularität, die das bestätigt, was sie erzeugt. Das, was beschrieben und zugeschrieben wird, wird durch die Beobachtung des Lehrers vorbereitet. Diese Beobachtung fi ndet sowohl in der laufenden Unter-richtskommunikation als auch in der Bewertung der Klausuren statt. Wichtig ist für Lehrpersonen nun, dass ihre Verteilungstätigkeit und damit die „Auftrennung“ (Lehrperson) der Schüler nicht off ensichtlich werden.3 Schüler ihrerseits off enba-ren in den Antworten ihre Kompetenz, sich in diesem Raum bewegen, d. h. positi-ves Wissen äußern zu können. Dies schließt Darstellungskompetenzen ebenso ein

3 Was die Frage der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule anbelangt, so sieht diese Bildungssoziologie ihre Aufgabe nicht darin, Allgegenwärtigkeit und Omnirelevanz von Schicht zugehörigkeit empirisch nachweisen zu wollen, sondern darin, die praktischen Formen empirisch aufzuspüren, in denen soziale Klassifi kationen – trotz starker Neutralisierungen, die die Institution Schule vornimmt – vorgenommen werden. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden, vgl. aber Kalthoff (2006).

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wie ein geschicktes Manövrieren von Aufmerksamkeit und Beteiligung. Zugleich, so konnte ich beobachten, übernehmen Schüler die Handhabung ihres Geltungs-anspruches: Sie widersprachen in der Regel nicht dem Lehrer kommentar. Das heißt: Das Unterrichtsgeschehen wird noch dadurch aufgeladen, dass Schüler nicht nur für sich, sondern immer auch für andere sprechen: für die Klasse, für die „guten“, für die „fl eißigen“, für die „faulen“ etc. Schüler. Für die Lehrperson stehen also antwortende Schüler in einer indexikalen Relation zum beobachten-den Publikum. Sie sind – in anderen Worten – Mittel (oder: Medium) der Lehr-person, den Wissensstand der Klasse oder eines Teils der Klasse zu eruieren (vgl. Kalthoff 1997).

Dass auch das mündliche Unterrichtsgespräch eine versteckte Form der Prü-fung ist, wird dann off ensichtlich, wenn Lehrer ihre Bewertung für die mündliche Mitarbeit präsentieren. Dieser Aspekt des schulischen Alltags, der in den wieder-kehrenden Unterrichtsstunden geradezu in Vergessenheit gerät, erinnert Schüler zyklisch daran, dass das Unterrichtsgespräch auch ein Prüfungsgespräch ist: Aus einem ‚Beteiligen-und-Wissen-darstellen-Sollen‘ der Schüler wird nun ein off en auftretendes ‚Kategorisieren-Können‘ der Lehrer. Ich konnte Lehrpersonen be-obachten, die nach Beendigung des Unterrichts ihre noch frischen Eindrücke in Form eines Kurz- bzw. Zeichenprotokolls notierten; andere Lehrpersonen arbei-teten mit ihrer Erinnerung, andere lehnten mündliche Noten grundsätzlich ab. Einige Lehrpersonen sahen in den mündlichen Noten ein gutes Mittel, Schülern mehr Aufmerksamkeit und Beteiligung abzuverlangen. Einige der von mir beob-achteten Lehrpersonen beurteilten drei oder vier Mal im Schuljahr die mündliche Beteiligung der Schüler. Diese Zwischen-Noten waren für sie wie eine Stanzmarke, um „am Ende ein gutes Bild für die Gesamtnote“ zu haben (so eine Lehrerin). Das grundlegende, von ihnen zu lösende Problem besteht darin, eine passende Relation der Schüler herzustellen, die sich in den Prädikaten manifestiert, die die SchülerInnen für die Lehrer verkörpern. Hierzu zwei Lehrpersonen:

„Wenn ich der Julia neun Punkte gebe, muss ich dem Jürgen 14 oder 15 geben. Dann passt es wieder nicht mit der Andrea. Der müsste ich dann 16 geben, aber das geht ja nicht“

„Christoff er hab ich elf Punkte gegeben, weil ich dem Roman ja nur neun gebe.“

Die schulische Bewertungspraxis ist also immer auch ein permanentes Verglei-chen und Abwägen der Verteilung aller Schüler über die Notenskala: Schüler sind entweder besser, schlechter oder gleichrangig, oder sie sind besonders, normal

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oder weniger begabt. Diese Arbeit der Diff erenzierung durch Kategorisierung und Passung aller Schüler verweist aber nicht nur auf die Konstruktivität der schuli-schen Bewertungspraxis. Die Bewertung von Schülern durch Lehrer oder Lehrer-kollegien ist soziologisch betrachtet eine Diff erenzierung durch Kategorisierung. Kennzeichnend hierfür sind folgende Merkmale: Die schulische Kategorisierung bringt Schüler hervor, die auf einer Skala von gut bis schlecht angeordnet werden. Der Bewertung geht also keine eigenständige, objektive Leistung voraus, sondern das, was als Leistung gilt und als solche auch anerkannt werden kann, wird im Akt der Bewertung konstituiert. Mehr noch: Die schulische Bewertung zeigt – ver-gleichbar den Urteilen von Ratingagenturen – nicht nur die vergangene Leistung eines Schülers an, sondern die zukünft ig zu erwartenden Ergebnisse, deren Rah-men sie selbst mit absteckt. Die Kategorisierung verbindet somit verschiedene Zeitpunkte: Diagnose der (schon vergangenen) Gegenwart und Prognose der (ge-genwärtigen) Zukunft .

Darüber hinaus sind Lehrerurteile keine zuverlässigen, sondern kontingente Urteile, denn es hätte auch – vergleichbar dem Review-Prozess bei Fachzeitschrif-ten oder der Begutachtung durch die Forschungsförderung – anders entschie-den werden können. Dies ist vielfach belegt und experimentell getestet worden. Das Besondere der Schule aber ist, dass die Kontingenz der Fremdzuschreibung qua Klassifi kation überlagert und tendenziell zum Verschwinden gebracht wird. Deutlich wird dies an den institutionellen und rechtlich gerahmten Verfahren, mit denen die Institution Schule den kontingenten Urteilen ihres Personals materiel-les Gewicht und Wirkung verleiht. Das Urteil der Lehrperson wird mit anderen Worten gehärtet und objektiviert. Ich schlage vor, die Bewertung durch die Schule soziologisch als institutionelle Humandiff erenzierung zu fassen und zu analysieren.

Die Praxis der Kategorisierung muss sich bewähren und legitimieren können. Dies geschieht etwa in der Zeugniskonferenz oder in der mündlichen Abiturprü-fung (vgl. Kalthoff 2013). Aber auch die Bekanntgabe der mündlichen Noten vor den Schülern ist ein heikles Terrain für die Lehrperson, denn sie stellt nicht nur die Beurteilungen der Schüler dar, sondern exponiert auch sich selbst mit dieser ihrer Konstruktionsleistung (vgl. Zaborowski et al. 2011). Ein Beispiel aus einer 11. Klasse:

L: … Bernd bekommt die Nähe von Patrick nicht. [(1) fünf Punkte (P) vier. (1) Hubert = S1: [WAs:: ?L: = sehr ordentlich (P) zwei. (2) Marc (P) oft zu unkonzentriert, manchmal mit wirklich

guten Ideen (…) vier plus. (1) Norbert (P) mündlich besser als schrift lich, ähm drei mi-

Ethnografi sche Bildungssoziologie 47

nus (P) minus einem Punkt wegen der nicht gemachten Hausaufgaben von zwei Termi-nen, vier plus.

S2: [OA:::hS3: (3) [HohohohoS4: [Das is aber hart !L: Felix (P) sehr indiff erent, zweimal waren sie wirklich ganz toll, danach hatten sie einen

deutlichen Absacker. Sie sind auch zwischendurch immer wieder fähig zu guten Absa-ckern (1) sechs Punkte, vier plus [(1) Manfred (P) zu zaghaft . Ich glaube, sie können =

S5: [NEE:::L: = mehr, aber vielleicht glaub ich das nur (1) drei minus [(1) ] Peter hat einen klu- =S6: [OAh::: ] L: = gen Kopf, von dem ich noch manches Üble erwarte (2) zwei plus…

Die Kommunikation der Bewertung folgt einem Schema: Zunächst wird der Name des Schülers genannt, darauf folgt eine zusammenfassende Einschätzung der Leis-tung, hierauf folgt, nach einer kurzen Pause, die Note, an die sich gegebenen-falls eine (para)sprachliche Kommentierung durch Schüler anschließt. Der Schü-ler, der aufgerufen wird, erhält, im Unterschied zum Unterrichtsgespräch, kein Rede recht; die Namensnennung markiert vielmehr die Note als seinen Rangplatz: Das heißt: Bewertung und Person werden verknüpft . In diesem Fall kombiniert die Lehrperson die Bewertung mit beobachteten Eigenschaft en („sehr ordentlich“, „indiff erent“, „unkonzentriert“ etc.), mit Tendenzen („besser geworden“) oder mit Verlaufskurven („deutliche Absacker“, „anfangs besser“). Schüler platzen ihrer-seits in die Übergangsstelle von Note („zwei plus“) und neuem Schülernamen („Hubert“). Sie kommentieren laut und hörbar, sprachlich und parasprachlich die Urteile des Lehrers, der auf diese rhythmisch mitlaufende Kommentierung seiner Urteile nicht eingeht.

Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, dass das Unterrichtsgespräch einer komplexen Kodierung unterliegt, und zwar durch die Erwartung der Lehr-person, dass Schüler Fehler machen, die dann im Gespräch zu korrigieren sind; durch die gegenseitige Beobachtung des Geschehens auf den verschiedenen Büh-nen des Unterrichtsgesprächs; durch die Bewertung der Schüler: ihrer Antworten im laufenden Unterrichtsgespräch oder ihrer schrift lichen Arbeiten (hierzu Kalt-hoff 1996) sowie durch die Erwartungen der Lehrperson.

48 Herbert Kalthoff

3.2 Schulische Artefakte

Dem akustischen System der Wissensdarstellung – dem Unterrichtsgespräch – steht das optische System der dinglichen und semiotischen Darstellung von Wis-sensphänomenen zur Seite; diese Technologien des Zeigens aktualisieren den Sehsinn, der in der europäischen Geschichte als Sinn der Erkenntnis par excel-lence gilt und den Hörsinn abgelöst hat (vgl. Riedel 1984). Der schulische Unter-richt macht sich diesen Sehsinn zu Eigen: Dies geschieht dadurch, dass Wissen sichtbar gemacht wird, indem es durch Artefakte dargestellt und in eine semio-tische Repräsentation (z. B. an der Tafel) überführt wird. Artefakte, die Wissen darstellen (etwa das Modell einer „Schiefen Ebene“ oder ein „Prisma“), bezeichne ich als Wissensobjekte („epistemische Objekte“, Rheinberger 2001), die für die Akteure Phänomene sichtbar machen und Fragen aufwerfen. Artefakte, die hin-gegen die Darstellung von Wissen möglich machen (etwa die Tafel), werden als „technische Objekte“ (Rheinberger 2001) aufgefasst. Sie sind Medien, die anderen Medien Raum gewähren: etwa die Tafel der alphabetischen und operativen Schrift . Dem Auge – und damit dem Sehsinn – bietet sich ein Phänomen dar, das erst durch seine objektuale Aufführung zur Existenz gebracht wird.

Die Idee, dass eine Soziologie der Objekte für das Verständnis menschlicher Sozialität wichtig ist, ist in der Soziologie seit längerem bekannt. Ein kurzer Über-blick: Heidegger (2000) betont, dass Dinge immer schon in einem menschlichen Wirkzusammenhang gedacht werden müssen. Der konkrete Hammer verweist als „Zuhandenes“ (als „Zeug“) in seinem Gebrauch auf ein „Um-zu“ (seinen Zweck), die „Zeug-Ganzheit“ (andere Werkzeuge, eine Werkstatt), das Material des Ham-mers sowie den menschlichen Benutzer. Diese „Verweisung“ wird im vertrauten Umgang mit dem „Zeug“ in der Regel nicht thematisiert. Erst wenn Störungen auftreten (wenn bspw. der Hammer zerbricht), werden diese Bezüge sichtbar. Auch Ihde (1993) versteht Artefakte als integralen Bestandteil menschlicher Welt-bezüge, denn sie sind immer auf menschliche Wahrnehmung und Körper be-zogen und verändern den (körperlichen) menschlichen Weltbezug. Mead (1972, 1987) streicht die Widerstände heraus, die „physische Dinge“ unserem Handeln entgegensetzen können. Um überhaupt mit Dingen umgehen zu können, müssen wir – so Mead – die Rolle des Gegenstands übernehmen und sein Verhalten bzw. seine Widerständigkeit antizipieren, um eben diese zu überwinden. Für Bourdieu (1980) stehen materielle Dinge für die akkumulierte Geschichte – das Habitat. Dieses historisch angehäufte Wissen tritt den Menschen als eine verobjektivierte Entität entgegen. In seiner Studie über das kabylische Haus wird die Rolle, die Bourdieu den Dingen zuweist, noch deutlicher (siehe Bourdieu 1979). Die Dinge,

Ethnografi sche Bildungssoziologie 49

die sich in diesem Haus befi nden (wie etwa der Webstuhl, der Mittelpfeiler, der Hauptbalken), ordnen den Raum des Hauses und damit die soziale Welt: Das ka-bylische Haus ist für Bourdieu ein Inbegriff sozialer Ordnung, die sich in den Ob-jekten, die dieses Haus ausmachen, materialisiert hat. In den Studien Bour dieus werden materielle Objekte (etwa auch Konsumobjekte) in ihrer symbolischen Be-deutung für die menschliche Sozialität analysiert.

Prominent wurde eine Soziologie der Objekte durch die neue Wissenschaft s- und Technikforschung. Pinch / Bijker (1987) u. a. entwickeln das Programm der Social Construction of Technology (SCOT) und betonen die „interpretative fl exi-bility“, die vor allem zu Beginn einer neuen Technik steht. Hörning (2001) zeigt, dass Technik weder beliebig formbar und verwendbar ist, noch determiniert sie menschliche Praxis vollkommen und eindeutig. Im Gebrauch der Objekte kom-men vielmehr menschliche Praxis, praktisches Wissen und Objekte zusammen, wodurch Brüche und Kontingenzen sichtbar werden. Eines der prominentesten und zugleich radikalsten Programme der Wissenschaft s- und Techniksoziologie ist die von Latour, Callon und anderen entwickelte Actor Network Th eory (bspw. Latour 2001; Callon / Latour 2006). Latour entwirft darin die programmatische Forderung nach einer „symmetrischen Anthropologie“: Menschliche und nicht-menschliche Akteure (technische Artefakte, Schrift stücke, Gebäude usw.) sollen in der Forschungsperspektive gleichermaßen berücksichtigt werden. Innerhalb der Netzwerke werden Handlungsaufforderungen („Skripte“) in einem Über-setzungsprozess in technische Artefakte implementiert (Latour 1994), die ihrer-seits von menschlichen Akteuren spezifi sche Handlungen erfordern, die diese im Umgang mit den Objekten abrufen müssen. Menschliche Akteure bewegen sich demnach immer in einem von Technik und Artefakten designten Umfeld, das sie handeln lässt, und sie sind – wie durch einen unsichtbaren Faden – mit an-deren Ebenen von Gesellschaft verknüpft . Die von Latour vorgeschlagene „Inter-objektivität“ (Latour 2001) verändert somit den Blick auf menschliche Handlun-gen sowie auf das Mikro-Makro-Verhältnis. Gesellschaft liche Makrostrukturen sind demzufolge Ketten von Übersetzungen, die von partikularen Phänomenen hin zu ihrer Aggregation führen.

Für eine Bildungsforschung, die die Materialität schulischer Praktiken zum Forschungsgegenstand machen will (ausführlich Kalthoff 2011; Kalthoff / Röhl 2011), folgt aus dem Gesagten, dass Objekte am Vollzug sozialer Wirklichkeit be-teiligt sind; sie induzieren menschliche Handlungen und sind gleichzeitig auf den Vollzug der Handlungen angewiesen. Die soziale Wirklichkeit der Schule kenn-zeichnet ein unablässiges Hantieren und Verwenden von Artefakten, die es erst ermöglichen, zu unterrichten: Tafel, Kreide, Landkarten, Bücher, experimentelle

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Anordnungen etc. Die schulischen Akteure sind in dieser Welt schulischer Wis-sensobjekte eingebettet, die es ihnen erlauben, Wissen darzustellen, zu problema-tisieren und mündlich zu erörtern.

Im Kontext der Unterrichtsforschung stoßen Ethnographen unweigerlich auf das Phänomen, dass Objekte, die man im Unterricht benutzt, zu Medien wer-den, die den Schulstoff in einer bestimmten Weise darstellen sollen. Es scheint geradezu so zu sein, dass Objekte den Status ihrer Dinghaft igkeit verlieren und zu Mittlern des Wissens werden. Eine Tafel tut dies in einer anderen Weise als ein Beamer, eine Landkarte in einer anderen Weise als ein Globus, ein geometri-sches Modell im Mathematikunterricht in anderer Weise als ein physikalisches Experiment. Die medientheoretische Debatte der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass Medien keine neutralen Übermittler von Botschaft en sind, sondern an der Botschaft selbst beteiligt sind. McLuhan hat dies in einer oft zitierten Th ese zuge-spitzt: „Th e medium is the message“ (McLuhan 2001: 7). Die mediale Form selbst ist die Botschaft , die eine Wirkung entfaltet. Dieser von McLuhan angenommene demiurgische Charakter von Medien ist von anderen Kulturtheoretikern relati-viert worden. Beispielsweise konzipiert Krämer (2008) Medien als „Boten“: als mehr oder weniger fremdbestimmte Überträger einer Botschaft . Einerseits tre-ten „Boten“ als eigenständige Personen oder Objekte hinter die Botschaft zurück; andererseits und damit verbunden werden die Botschaft und der Absender im Medium präsent. Um das, was abwesend ist, verfügbar zu machen, muss – so die Th ese Krämers (2008: 82 ff.) – das Medium zurücktreten: Wir wollen am Fern-seher ein Bild ferner Welten sehen und eben keine elektronisch erzeugten Bild-punkte. Die Tafel tritt als Tafel in den Hintergrund, fokussiert aber die Aufmerk-samkeit auf die sichtbar gewordene Formel.

Übertragen wir diese Vorüberlegungen auf den Schulunterricht und seine Ob-jekte: Ich gehe von der Überlegung aus, dass erst innerhalb der Unterrichtssitua-tion durch den Gebrauch von Artefakten diese zu Wissensobjekten im Schul-unterricht werden. Erst wenn ein Lehrer mit der Kreide Formeln an die Tafel schreibt, wird aus Schiefer und Kreide ein Tafelbild. Erst durch die sprachliche Rahmung einer Lehrerin und den entsprechenden Gebrauch kann aus einem fal-lengelassenen Kugelschreiber ein Darstellungsobjekt werden, das den freien Fall demonstriert. Aus einer medientheoretischen Perspektive heißt dies, dass schu-lische Objekte nur dann den schulischen Stoff zum Vorschein bringen können, wenn an ihnen bestimmte Eigenschaft en hervortreten können und andere sich selbst in den Hintergrund drängen. Die Stoff lichkeit der Tafel, der Kreide, der Landkarten, die Materialität der physikalischen Experimente treten als solche in den Hintergrund, um überhaupt den „Lernstoff “ präsent machen zu können. Me-

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dien neutralisieren sich in einem gewissen Maße selbst. Es scheint geradezu so zu sein, dass durch dieses Zurücktreten des Mediums die Darstellung des Lernstoff s vertrauenswürdig wird. Dies geschieht allerdings auch – und dies hat die medien-theoretische Debatte etwas vernachlässigt – unter aktiver Beteiligung der mensch-lichen Teilnehmer: Sie lassen bestimmte Merkmale von Gegenständen auch in den Hintergrund treten – durch ihr Schweigen, durch fehlende Bedeutungen der Dinge für ihr Handeln, durch ihren selbstverständlichen Gebrauch etc.

Was bedeutet dies nun ? In Bezug auf eine Soziologie, die das Verhältnis von Praktiken und Dingen in den Blick nimmt, bedeutet dies erstens, eine dingliche Rahmung zu thematisieren, durch die menschliche Interaktion in den verschie-densten Zusammenhängen geprägt wird. Dies bedeutet zweitens, nicht nur die Verwicklung der sozialen Akteure in und durch die Objekte, sondern die Verwick-lung der Dinge in ihrem Gebrauch empirisch und theoretisch auszuloten. Dies möchte ich nun an Beispielen aus der Schule erläutern.

Beispiel 1Ein Physiklehrer führt seine Klasse in die schiefe Ebene ein. Zur Anschauung hat er ein Objekt mitgebracht, und zwar eine Kugelbahn. Sie soll Prinzipien der schiefen Ebene anschaulich machen. Zunächst aber muss dieser alltägliche Gegenstand überhaupt erst als ein Medium, an dem Wissen deutlich wird, konstituiert werden. Für die Schüler ist es ein vertrautes Objekt. Die Verwandlung in ein Wissensobjekt geschieht durch Hin-weise und Kommentare des Lehrers, die die Aufmerksamkeit der Schüler auf diejeni-gen Merkmale des Objekts lenken, die aus Sicht des Lehrers physikalisch interessant sind. Dies erreicht der Lehrer durch eine Problematisierung von Alltagsannahmen. Auf die Antwort eines Schülers – ‚da rollen Kugeln runter‘ – fragt er nach, ob das für alle Arten von Kugeln und für alle Arten von Kugelbahnen gilt. Gibt es evtl. Kugeln, die nicht rollen oder nicht so gut rollen, oder gar Bahnen, die Kugeln nicht gut rollen lassen ? Erarbeitet werden hier nach und nach die materiellen Rahmenbedingungen, die die Kugelbahn zu einer funktionierenden Kugelbahn machen. Der Lehrer stellt schließlich auch die Frage, wie das denn mit der Geschwindigkeit der Kugeln sei. Wo-von hängt sie ab ? Wann rollen die Kugeln langsam, wann rollen sie schnell ?

Die mündliche Problematisierung kontextiert den Gegenstand im Unterricht und transformiert ihn in ein Wissensobjekt (oder Wissensmedium). In diesem Bei-spiel geschieht dies dadurch, dass verschiedene Fragen am Objekt aufgeworfen und plausibilisiert werden. Diese Dynamik der Umwandlung in ein Wissens-objekt trifft nicht auf alle schulischen Dinge in gleicher Weise zu. Es existiert eine Vielzahl an Objekten, deren Transformation (mehr oder weniger) abgeschlossen

52 Herbert Kalthoff

ist, die sich also für andere Gebrauchsweisen und Interpretationen weniger off en anbieten (etwa das Prisma). Der praktische Gebrauch dieser Dinge ist – in La-tours (2001) Worten – wie durch einen unsichtbaren Faden mit den didaktischen Laboren verbunden, in denen diese Objekte entworfen, konstruiert, erprobt und gefertigt worden sind.

Die Transformation von Dingen in schulische Dinge (oder Medien) konnte auch in Mathematik beobachtet werden. In einer Schulstunde bringt eine Lehr-person ein Flugzeugmodell mit in den Unterricht und muss zunächst dafür sor-gen, dass die Schüler erkennen, dass es nicht um technische Ästhetik oder um technische Details des Flugzeugmodells geht. Es geht auch nicht um den Flug-zeugtyp. Es geht darum, den Gegenstand mathematisch zu betrachten. Man sieht dann die geometrische Form: der Rumpf ist ein Zylinder und dessen Maße kön-nen errechnet werden. Und über diese Maße errechnet der Lehrer dann mit den Schülern approximativ das Fassungsvermögen des Flugzeugtyps (vgl. Röhl 2012).

Dieses Sprechen über den Gegenstand fasse ich als darstellendes Sprechen. An dieser Stelle ist es unwichtig, dass diese Gesprächsform – wie oben gezeigt – asymmetrisch ist, bestimmten Regeln folgt und auf die Bewertung der Schüler an-gelegt ist. Wichtig ist an dieser Stelle vielmehr, dass das Gespräch der Lehrer und Schüler aus einem Objekt ein Erkenntnisobjekt macht, das als ein Medium des Wissenstransfers fungieren kann. Verbunden hiermit ist eine „Erziehung des wis-senschaft lichen Blicks“. Sie erfolgt jeweils fachspezifi sch: Was ist physikalisch in-teressant, was ist mathematisch interessant usw. Schüler lernen demzufolge nicht einfach nur den Schulstoff , sondern sie erwerben ein Verständnis davon, was es heißt, disziplinär zu denken und Dinge aus einer Fachsicht zu sehen. Dies impli-ziert etwa, zu lernen, von unwichtigen Details abzusehen. Geübt wird damit ein reduzierender Blick, der die Gegenstände auf mathematische oder physikalische Eigenschaft en reduziert – alles Voraussetzung dafür, eine Fachkultur zu verstehen. Das Üben von Abstraktion, das Absehen können von unwichtigen Details setzt sich in der weiteren Bearbeitung fort. Hinzu treten nun andere Medien der Dar-stellung, die den Gegenstand verwandeln und in ganz anderer Weise verfügbar machen. Die Rede ist hier von der Tafel und der mathematischen Schrift .

Im Beispiel des Physikunterrichts beginnt der Lehrer, mit den Schülern den Gegenstand – die schiefe Ebene – in Formelsprache umzuwandeln. Diese Formel-sprache nenne ich „operative Schrift “ (Krämer 1997). Kennzeichen dieser opera-tiven Schrift ist, dass sie ein ganz eigenes graphisches System ist. Als ein solches erlaubt sie, dass man zwei Dinge zur gleichen Zeit tun kann: Man kann ein Phä-

Ethnografi sche Bildungssoziologie 53

nomen in dieser Schrift mathematisch formalisieren und bearbeiten.4 Damit dies gelingen kann, wirken zwei Medien ineinander. Erstens die operative Schrift : Sie ist das Medium, in dem mathematische oder physikalische Sachverhalte darge-stellt werden – sei es in Buchstaben, Ziff ern oder anderen Zeichen. Zweitens die Tafel: Sie ist das Medium der Visualisierung: Auf ihrer Oberfl äche werden in ope-rative Schrift umgewandelte mathematische und physikalische Sachverhalte sicht-bar. Mit anderen Worten: Wenn etwa Physiklehrer an Wissensobjekten deren Ei-genschaft en sichtbar machen und diese an der Tafel im Medium der (operativen) Schrift transformieren, dann überschneiden sich Schrift lichkeit und Mündlich-keit, Objekte und Zeichen. Es ist genau diese Überschneidung, die die dingliche Rahmung des Schulunterrichts kennzeichnet, denn die schulischen Wissens-objekte existieren jeweils in diesen unterschiedlichen Formen.

4 Schluss

Dieser Beitrag hat eine soziologische Bildungsforschung skizziert, die aus einer empirisch-theoretischen Perspektive schulische Unterrichts- und Lernprozesse erforscht. Sie interessiert sich dabei für sehr unterschiedliche Phänomene: Das Unterrichtsgespräch ist ihr ebenso wichtig wie die Rolle von Artefakten, die Be-wertung von Schülern ebenso wichtig wie die Peer Culture, die Rahmung der Schule durch die Kultusbehörden ebenso wichtig wie die Lehrmittelindustrie. Ihr theoretischer Horizont sind wissens- und kultursoziologische Praxistheorien und poststrukturalistische Ansätze; methodisch folgen die Studien dem Primat der empirischen Mikrofundierung und Mikrodetaillierung ihrer theoretischen Aussagen. Für diese sozio-materielle Bildungsforschung – oder: Social Studies of Teaching and Education (Kalthoff 2011) – ist die Schule im heuristischen Sinne ein Humanlabor. Die Kennzeichen eines Humanlaboratoriums sind: Es belässt die Insassen nicht so, wie sie sind, es bearbeitet die Insassen nicht dort, wo diese sind, und es wartet auch nicht darauf, wann die Prozesse ablaufen, sondern erzeugt diese innerhalb der Institution selbst, und zwar im Kontext eines spezifi sch entwi-ckelten Behandlungsprogramms (vgl. Knorr Cetina 1995). Die Herausforderung für die Bildungssoziologie besteht darin, die in den Humanlaboratorien beobacht-baren Arbeitspraktiken und Arbeitsabläufe, Arbeitsmittel und Objektkonstellatio-

4 Für den mathematischen Unterricht gilt, dass seine Gegenstände in der Regel nur dann bearbei-tet werden können, wenn sie auch visualisiert worden sind.

54 Herbert Kalthoff

nen detailliert zu erforschen. Die sozio-materielle Bildungsforschung begegnet dieser Herausforderung bislang durch eine multi-perspektivische Ethnografi e

■ des Vollzugs schulischen Unterrichts durch Lehrpersonen und Schüler, ■ der Funktionsweise und des Gebrauchs schulischer Artefakte sowie der Rolle

zeichenförmiger Darstellung von Wissen, ■ der Diff erenzierung und damit Entmischung der Schüler durch eine Klassifi -

kationspraxis, die ihrerseits institutionell objektiviert wird.

Wichtig ist dabei, diese Dimensionen der schulischen Unterrichtspraxis in ihren Überschneidungen zu sehen und zu analysieren. Die ethnografi sche Bildungsfor-schung, wie sie in diesem Beitrag skizziert worden ist, dehnt ihren Gegenstand auch auf Bereiche jenseits von Schule und Unterricht aus. Zu wünschen sind für die Zukunft ethnografi sche Forschungen zur Rahmung der Schule durch die Kul-tusbürokratie sowie zur Arbeit der Lehrmittelindustrie.

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Arbeit und Ethnografi e im Zeitalter des digitalen Kapitalismus

Andreas Wittel

1 Arbeit

Für Karl Marx ist Arbeit bekanntlich einer der Grundbegriff e seiner Philosophie. Arbeit ist für ihn nicht nur eine wirtschaft liche, sondern eine menschliche Tätig-keit. Sie ist eine Universalkategorie der menschlichen Existenz und ist als solche unabhängig von spezifi schen sozialen und ökonomischen Formen. „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoff wechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“ (1985: 192). Im Unterschied zur Arbeit verweist der Arbeitsprozess auf wirtschaft liche und soziale Besonderheiten, auf je spezifi sche Produktions-formen. Transformationen von Arbeitsprozessen sind dann immer auch Trans-formationen von Gesellschaft en und Ökonomien. Insbesondere unterscheidet Marx kapitalistische von feudalistischen Produktionsformen. Auf diese Weise lässt sich plausibel zeigen, dass der kapitalistische Arbeitsprozess weder notwen-dig noch unvermeidlich ist und in einer zukünft igen neuen Phase überwunden werden kann.

Im Vergleich mit dem feudalistischen Arbeitsprozess arbeitet er zwei zentrale Phänomene des kapitalistischen Arbeitsprozesses heraus: Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. „Der Kapitalist paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden … Zweitens aber: das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. Der Kapitalist zahlt z. B. den Tageswert der Arbeitskraft “ (1985: 199 f.). Damit sind zwei Formen von Entfremdung thematisiert, zum einen die Entfremdung vom Produkt der ei-genen Arbeit und die damit einhergehende Unfähigkeit, eben die Dinge, die die Arbeiter selbst produziert haben, für ihren Lebensunterhalt zu verwenden,1 zum

1 Diese erste Form der Entfremdung hat ein Jahrhundert später Karl Polanyi (2001) aufgegriff en und als den Beginn der ,great transformation‘ markiert.

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anderen die Entfremdung von der Organisation des Arbeit, die im Kapitalismus von den Besitzern der Produktionsmittel vorgegeben wird.

Marxistische Analysen von Arbeit sind in den Sozialwissenschaft en lange Zeit unterentwickelt geblieben. Dies änderte sich erst in den 1970er-Jahren, als erst Harry Braverman (1974) und kurze Zeit später Michael Burawoy (1979) Pionier-arbeit leisteten und mit ihren Untersuchungen eine langjährige Debatte zum Ar-beitsprozess angestoßen haben, die dann in den späten 80er- und in den 90er-Jahren merklich verebbte. Marxistische Analysen von Arbeit machten Platz für poststrukturalistische und kulturwissenschaft liche Perspektiven. Marx wurde vorgeworfen – sicherlich zu Recht –, die subjektiven wie auch die kulturellen Di-mensionen des kapitalistischen Arbeitsprozesses unterschätzt zu haben.

Aber auch die Entwicklungen und Umwälzungen von kapitalistischer Pro-duktion haben eine Abkehr von Marx nahegelegt. Schließlich war dessen Prog-nose eines Klassenkampfes zwischen den Kapitalisten (= Eigentümern von Pro-duktionsmitteln) und den in Ketten gelegten Lohnabhängigen immer we niger wahrscheinlich. Schon Burawoy (1979), der in dem selben Chicagoer Betrieb Feldforschung machte wie schon eine Generation vor ihm Donald Roy (in den 1940er-Jahren), hat mit reichem ethnografi schen Material beschrieben, wie die Arbeitsbeziehungen zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen in diesem Be-trieb im Verlauf einer Generation von eher konfl iktbezogenen und zwangshaft en Formen zu eher konsensorientierten Formen übergingen.

Diese Herstellung von Konsens hat seitdem eher zugenommen und wurde über verschiedene Strategien gefördert. Erstens über Mitsprache und Mitbestim-mung. Hier haben Prozesse von Selbstorganisation und Gruppenarbeit den Weg für größere Entscheidungsspielräume seitens der Lohnabhängigen geebnet. Zwei-tens haben unternehmenskulturelle Initiativen Identifi kationsangebote geschaff en und emotionale Anbindungen an den Betrieb erhöht. Drittens haben Informa-tions- und Kommunikationstechnologien weichere, sauberere – und was jedoch umstritten ist: kreativere – Formen von Lohnarbeit hervorgebracht. Diese Ent-wicklungen sind, ganz in der Tradition poststrukturalistischen Denkens, äußerst ambivalent. Dies zeigt sich deutlich in den Debatten zu governmentality, zur Sub-jektivierung von Arbeit und zum unternehmerischen Selbst (Miller / Rose 1990; Voß / Pongratz 2003; Bröckling 2007; Jurczyk et al. 2009). Machtstrukturen sind weithin unsichtbar geworden. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang der eher resignative Befund von Zygmund Bauman:

„While all the agencies of political life stay where ,liquid modernity‘ times found them, tied as before to their respective localities, power fl ows well beyond their reach. Ours is

Arbeit und Ethnografi e im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 61

an experience akin to that of the airline passengers who discover, high in the sky, that the pilot’s cabin is empty“ (Bauman 2000: 133).

Dass Marx’ politische Ökonomie dennoch relevant geblieben ist oder wieder rele-vant wurde, ist angesichts der tiefen Krise der kapitalistischen Produk tionsweise wenig verwunderlich: Viele der Pathologien, die neoliberale Ideologien und ein ungezügelter Kapitalismus hervorgebracht haben, lassen sich nicht ohne Rekurs auf das theoretische Besteck der politischen Ökonomie erklären. Warum leben immer mehr Menschen in den sogenannten post-industriellen Nationen in pre-kären Verhältnissen und permanenter Unsicherheit ? Warum hat sich das Kapital verselbstständigt ? Wie kommt es, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölke-rung einen Anteil von über 40 Prozent am gesamten globalen Reichtum verbu-chen kann ? Warum ist die soziale Ungleichheitsschere in den letzten drei Jahr-zehnten so radikal auseinandergegangen, wo Lohnabhängige doch genau in dieser Periode einen Anstieg an Mitbestimmung und an Selbstorganisation erfahren haben ? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen exzessiver Anhäufung von glo-balem Reichtum in den Händen einer kleinen Elite und dem exzessiven Anstieg von sowohl privaten als auch öff entlichen Schulden für den Rest der Menschheit ? Zu all diesen Fragen lohnt sich eine Rückkehr zu Marx.

Weniger off ensichtlich ist jedoch die Frage, welche Impulse von Marx in der heutigen Zeit für ethnografi sche Arbeitsforschung ausgehen können.2 Hilfreich und produktiv erscheint mir hier ein Verweis auf die erste Form von Entfrem-dung, also auf die Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt ihrer Arbeit und auf die damit einhergehende Unfähigkeit, die Sicherung der eigenen Existenz über die Produkte der eigenen Arbeit gewährleisten zu können. Aus zwei Gründen rückt Lohnarbeit stärker ins Zentrum der Analyse. Zum einen ist Lohnarbeit eben charakteristisch für den spezifi schen (= kapitalistischen) Arbeitsprozess, der die Ursache ist für die von Marx beschriebene Entfremdung der Arbeiterin vom Pro-dukt der Arbeit. Zum anderen ist Lohnarbeit eine (ebenfalls historisch spezifi -sche) Ursache für Ausbeutung und Mehrwertproduktion.

Eine neue Kritik von Lohnarbeit und Arbeitsvertrag scheint unumgänglich. Hierzu gibt es bereits vielversprechende Vorlagen, sowohl von einer historischen (Steinfeld 2001) wie auch von einer rechtsphilosophischen (Ellerman 1992) Per-

2 Es geht mir natürlich keinesfalls darum, marxistische gegen poststrukturalistische Ansätze aus-zuspielen. Im Gegenteil, notwendig ist eine verstärkte Integration beider Ansätze, und hierzu ist schon viel Arbeit geleistest worden – vor allem in Kreisen um die italienische Operaismo Schule (Negri / Lazzarato / Virno 1998).

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spektive. „Capitalism is capitalist,“ schreibt Ellerman (1992: 93 – 94), „not because it is private enterprise or free enterprise, but because capital hires labor rather than vice-versa. Th us the quintessential aspect of our economy is neither private property nor free markets but is that legal relationship wherein capital hires labor, namely the employer-employee relationship.“ Lohn, so argumentiert Ellerman, ist nichts anderes als Miete, als angemietete Arbeit, und degradiert so Menschen zu Objekten.

Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, Formen von ethnografi sch fun-dierter Kritik an Lohnarbeit zu entwickeln. Empirische Studien, die ich hierzu kenne (Stahl 2008; O’Neil 2009; Coleman 2009) sind bislang dünn gesät und nicht unbedingt ethnografi sch im klassischen Sinn. Allerdings ist zu erwarten, dass solche Studien im Umfeld der jüngst gegründeten Zeitschrift ,Critical Stu-dies in Peer Production‘3 einen breiten Raum einnehmen werden. Überlegungen hierzu bleiben vorerst notwendigerweise abstrakt.

Ziel dieses Beitrags sind Erörterungen zum Verhältnis eines Forschungs-gebiets (Arbeit) mit einer sozialwissenschaft lichen Methode (Ethnografi e). Die-ses Verhältnis, das lange Zeit als eher unproblematisch galt, ist inzwischen in verschiedener Hinsicht neuen Herausforderungen ausgesetzt. Globalisierungs-prozesse, digitale Medien, immaterielle Arbeit und Netzwerkstrukturen legen es nahe, einige zentrale Grundannahmen von Arbeitsethnografi e zu überdenken. Im Zentrum dieses Beitrags steht eine Diskussion dieser Herausforderungen. Einige beziehen sich lediglich auf die Schwierigkeiten, eine vor über einem Jahrhundert entwickelte Methode unter stark veränderten Bedingungen überhaupt erst zur Anwendung zu bringen. Andere Herausforderungen sind mehr als nur methodi-scher Natur: sie thematisieren die soziale Relevanz des Forschungsdesigns. Dies bedeutet: Manchmal ist Ethnografi e der Ausgangspunkt meiner Argumentation, manchmal ist es Arbeit.

2 Ethnografi e von Arbeitswelten

Was macht eine Ethnografi e zu einer Ethnografi e von Arbeit ? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Off ensichtlich gehören hierzu Ethnografi en, die in sol-chen Forschungsfeldern operieren, in denen Arbeit in institutionelle Strukturen eingebettet und organisatorisch geregelt ist, also in der Landwirtschaft , im Berg-

3 Zu Informationen hierzu siehe http: / / cspp.oekonux.org / , zu peer production s. a. die Informa-tionen im letzten Abschnitt des Beitrags.

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bau, in Fabriken und Büros, im Dienstleistungsbereich, in Krankenhäusern, Al-tenheimen, psychiatrischen Kliniken, Polizeistationen und Gefängnissen. Hierzu gehören aber auch Ethnografi en von Berufsgruppen, Schichten, Industriesektoren oder Feldern wie etwa die Kulturindustrien oder die neuen Medien. Hierzu gehö-ren Arbeitslose und all diejenigen, die extrem marginalisiert arbeiten: Obdachlose, Prostituierte, Drogendealer und Kriminelle. Ethnografi e von Arbeit ist zweifellos ein weites Feld. Hinzu kommen zwei Probleme, die eine Eingrenzung dieses of-fenen Feldes noch weiter erschweren. Zum einen ist Arbeit, wie von Marx bereits herausgearbeitet, ein unverzichtbarer Teil menschlicher Existenz. Es ist demnach schwierig, sich eine Ethnografi e zu einer bestimmten Gruppe (einer Gemeinde, einer Subkultur etc.) vorzustellen, der es gelingt, Arbeit weitgehend auszublen-den. Zum anderen hat sich Arbeit im Spätkapitalismus sowohl räumlich wie auch zeitlich entgrenzt. Letztendlich kann man die Frage nur redundant beantworten: Arbeitsethnografi en sind solche Ethnografi en, die sich für Arbeit interessieren.

Umgangen habe ich bislang die Frage nach der Defi nition von Ethnogra-fi e. Diese Strategie der Vermeidung möchte ich auch weiterhin beibehalten. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass der Begriff der Ethnografi e eine enorme Expansion erfahren hat, in verschiedenen akademischen Disziplinen je unterschiedlich angeeignet wurde, und eine Anzahl von Neuinterpretationen hervorgebracht hat (etwa ,Autoethnografi e‘ oder ,virtuelle Ethnografi e‘), die nur noch wenig gemein haben mit dem Verständnis der ,Väter‘ dieser Methode, etwa dem von Franz Boas oder Bronislaw Malinowski. Hier Position zu beziehen und richtige Ethnografi e von falscher Ethnografi e zu trennen, macht meines Erach-tens wenig Sinn. Anstrengungen, die Reinheit einer Methode zu gewährleisten, würden dann privilegiert gegenüber Anstrengungen, eine sich dramatisch verän-dernde Welt zu verstehen.

Stattdessen wähle ich ein umgekehrtes Verfahren. Anstatt den Begriff der Ethno grafi e mit einer Defi nition fest zu zimmern, unternehme ich im Folgen-den den Versuch, einige der Grundannahmen von ethnografi scher Forschung in Frage zu stellen. Ethnografi e, so meine Konstruktion aus vier Grundannahmen, ist demnach eine Methode, die erstens auf Feldforschung basiert, die zweitens so-ziale Interaktion untersucht, die dies drittens mit teilnehmender und kopräsenter Beobachtung erreicht, um viertens eine existierende Kultur zu verstehen. Dies ist eine von mir konstruierte Defi nition mit dem alleinigen Ziel, sie zu dekonstru-ieren. Sie mag nicht völlig unumstritten sein, aber sie ist in dieser oder ähnlicher Form in unzähligen Handbüchern sozialwissenschaft licher Methodenlehre zu fi n-den. Diese vier Grundannahmen werden im Folgenden am Beispiel von Arbeits-

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forschung genauer inspiziert. Im letzten Teil dieses Kapitels komme ich zurück zu den Potenzialen und Problemen einer ethnografi schen Kritik von Arbeit.

2.1 Feld4

Noch in den 50er- und 60er-Jahren, zu Beginn seiner Karriere, so Cliff ord Geertz (1995: 43), sei das Konzept kulturanthropologischer Forschung recht klar gewe-sen: „they have a culture out there and your job is to come back to tell us what it is“. Dieses Konzept ist den Praktikern der Disziplin abhanden gekommen – teil-weise durch theoretische, teilweise durch praktische Entwicklungen: Die Ziel-gesellschaft en modernisierten und diff erenzierten sich, gleichzeitig intensivierten sich die Außenbeziehungen der jeweils analysierten ‚Kultur‘ – medial, telekom-munikativ, ökonomisch, durch Migration oder forschende sowie reisende Fremde. ‚Kultur‘, so lautet eine Bilanz der seit den 50er-Jahren geführten Debatten, ist nun-mehr auch an einem Ort nur noch im Plural zu fi nden. Erstaunlich ist indes, dass erst seit den 1980er-Jahren intensiver über die methodischen Implikationen dieser Veränderungen diskutiert wird. Denn schließlich entschwindet mit der Plurali-sierung der Kultur auch die Fiktion des ‚Feldes‘ als unproblematisch gegebenes Forschungsareal, dessen Grenzen Kultur als Singularität räumlich klar umschlos-sen hat.

Erste Überlegungen zu möglichen Konsequenzen setzten die US-amerikani-schen Anthropologen George Marcus und Michael Fischer (1986) in Gang, indem sie hervorhoben, dass transnationale politische, ökonomische sowie kulturelle Kräft e lokale und regionale Welten erheblich stärker als bislang mitkonstituieren. Ethnografi e sollte daher multilokal angelegt werden, um diesen Veränderungen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen und Objekte nicht mehr primär an einem Ort, sondern meist in Bewegung sind. Deshalb sei es vonnöten, sich verstärkt der Reise und den Wanderungsbewegungen zuzuwenden (Cliff ord 1997).

Dass diese methodische Diskussion erst mit solcher Verspätung gegenüber der theoretischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Dekolonialisierung, Modernisierung und Globalisierung ernsthaft begonnen wird, muss ebenso wie

4 Die Überlegungen in diesem Teilkapital sind nicht neu. Ich habe sie vor über einem Jahrzehnt zusammen mit Stefan Beck veröff entlicht (Beck / Wittel 2000). Die zentralen Argumente sind meines Erachtens noch immer gültig und sind hier nochmals zusammengefasst – zumeist in zi-tierender Form.

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die gegen diese Vorschläge einer Modifi kation der Forschungspraxen gerichteten Konservierungsappelle (etwa Geertz 1998) als Symptom dafür interpretiert wer-den, dass die Konzeption des ‚Feldes‘ eine zentrale orientierende und identifi ka-torische Funktion für die Ethnowissenschaft en hat. Dies gilt sowohl für das tradi-tionelle Verständnis des Feldes als homogenes, mit Dauerhaft igkeit ausgestattetes raumzeitliches Kontinuum wie auch für revidierte Konzeptionen des Feldes, wie sie in der modernen Kulturanthropologie, der Volkskunde oder der feldorientier-ten Soziologie der Chicago-Schule Anwendung fi nden.

Die Schärfe der vorgetragenen Kritik gegenüber Vorschlägen zur Revision des Feldbegriff s verweist darauf, dass sehr wirksame, implizite Vorannahmen in Bezug auf die Bedeutung des Feldes in den verwandten Disziplinen Kulturanthro-pologie, Volkskunde und feldorientierter Soziologie in Frage gestellt sind – eine Doxa, die etablierte Praxen reguliert und defi niert, wer als legitimer Praktiker der betreff enden Disziplinen gilt.

Diese Doxa ist zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend durch ein naturalistisches Erbe geprägt. Denn in ihrer Vor- und Übergangsgeschichte zu einer wissenschaft lichen Disziplin wurde die Kultur- und Sozialanthropologie ab Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Generation naturwissenschaft lich aus-gebildeter Akademiker geprägt, die mit der Forderung nach detaillierten Studien räumlich eng begrenzter Gebiete eine Methodik aufgriff en, die sich etwa in der Biologie durch die Einrichtung von Feldobservatorien in den 1870er-Jahren be-reits bewährt hatte.

Im Gegensatz zu den bis dahin dominanten Analysen von Tier- und Pfl anzen-präparaten – also dekontextierten Objekten –, die von Gewährspersonen in die Universitäten geliefert wurden, wurde in der Biologie das Studium der jeweili-gen Spezies in ihrem natürlichen Habitat – ihre Untersuchung als kontextierte Organismen – zunehmend als die überlegene Forschungsmethode angesehen. Beispielhaft für den bedeutenden Einfl uss des naturalistischen Positivismus für die Entwicklung des Feldforschungsparadigmas in der frühen britischen Sozial-anthro pologie war etwa der Naturwissenschaft ler A. C. Haddon, der seit Anfang der 1890er-Jahre maßgeblich an der Konzeption der Expedition in die Torres Straße beteiligt war, die 1898 von Sozialanthropologen aus Cambridge unternom-men wurde. Haddon (1896) insistierte etwa, dass ein Anthropologe nur durch direkte, langdauernde Beobachtung in einem eng begrenzten Gebiet fremde Kul-turen verstehen könne.

Die Übernahme des in den 1870er-Jahren entwickelten Feldforschungspara-digmas zog jedoch als neue Wissenschaft spraxis für alle beteiligten Disziplinen die Notwendigkeit zu teilweise radikalen Umstellungen nach sich, die wiederum

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zu einer Stabilisierung dieser Datenerhebungspraxis führte. Besonders wirksam und deshalb traditionsbildend waren die mit der methodischen Forderung nach Feldforschung verknüpften Umbrüche. Das ‚Feld‘ wurde hierbei zu einem obli-gatorischen Passagepunkt sowohl für einzelne Forscher wie auch für die Disziplin der Kultur- oder Sozialanthropologie insgesamt. ,Richtige‘ ethnografi sche For-schung war durch einen längeren Aufenthalt in einem Feld gekennzeichnet, das geografi sch, sozial sowie kulturell idealerweise eine maximale Distanz zur Heimat des Forschers aufweisen konnte. Es ist hierbei die zeitweise überwundene Distanz zu einem exotischen Feld, mittels derer der Forscher seine privilegierte Augen-zeugenschaft antreten konnte. Je entlegener das Feld, desto größer der Ruhm.

Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass diese privilegierte Augenzeugenschaft durch dauerhaft e Nähe zu den Bewohnern des jeweiligen Feldes eine hervor-ragende Erkenntnismethode darstellt. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass teilneh-mende, ansässige Beobachtung des Feldes angesichtige, raumzeitlich abgeschlos-sene Beziehungen privilegiert, während andere, weniger lokalisierte Beziehungen tendenziell aus dem Sichtfeld ausgeblendet werden (Gupta / Ferguson 1997). Dies wird vor allem dann zum Problem, wenn der Forscher selbst auf eine dauerhaft e Ansässigkeit verpfl ichtet ist, seine Forschungssubjekte jedoch teilweise hoch mobil sind. Wird unter diesen Umständen das klassische Feldforschungsparadigma dogmatisiert, wird der Grundgedanke, der der Feldforschung zugrunde liegt, auf-gegeben. Das Konzept der Feldforschung lässt sich zu nehmend nur noch durch teilweisen Verzicht auf Feldforschung und eine Intensivierung der Erforschung von Netzen realisieren.

2.2 Teilnehmende und kopräsente Beobachtung

Ebenso wie dem Feld kommt dem Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘ für die Bestimmung von ethnografi schen Verfahren ein zentraler Stellenwert zu. Während jedoch die Idee des Feldes, wie eben dargestellt, in den letzten Jahrzehn-ten sowohl theoretisch als auch methodologisch immer mehr unter Beschuss ge-raten ist, gilt dies nicht für den Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘.

In gewissem Sinn war diese Formulierung schon immer ein Problem. Schließ-lich ist wirkliche Teilhabe oft nicht möglich. Je fremder das Forschungsfeld, desto schwieriger ist es logischerweise für die Ethnografi n, sich soweit zu integrieren, dass echte Teilnahme möglich ist. Oft ist es deshalb richtiger und bescheidener, von einer ,dabeistehenden Beobachtung‘ zu sprechen.

Arbeit und Ethnografi e im Zeitalter des digitalen Kapitalismus 67

Dies ist allerdings eher eine Frage von terminologischer Etikette und keine grundlegende Infragestellung des Dabei-Seins. Genau dieses Dabei-Sein wird seit der Etablierung von Ethnografi e als deren methodischer Kern gesehen. So schrei-ben etwa Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997: 21), dass das „kultursozio-logische Verständnis von der Gelebtheit kultureller Ordnungen ein weiteres Cha-rakteristikum von ethnographischer Praxis (ist): die anhaltende Kopräsenz von Beobachter und Geschehen.“ Amann und Hirschauer beleuchten zwei Dimensio-nen von Kopräsenz, eine räumliche und eine zeitliche Dimension, Gleichörtlich-keit und Gleichzeitigkeit.

Es stellt sich nun die Frage, wie Forderungen nach gleichörtlichen und gleich-zeitigen Forschungen in postmodernen (oder spätkapitalistischen oder informa-tionsgesellschaft lichen) Kontexten umgesetzt werden können. Nach Fredric Jame-son (1991) etwa ist in frühkapitalistischen Gesellschaft en das Globale noch direkt aus dem Lokalen erschließbar – eine perfekte Bedingung für Ethnografi e. Dies habe sich im Spätkapitalismus jedoch entscheidend verändert. Nun ist das Lokale kurzlebig und vergänglich geworden und das Globale unsichtbar. David Harvey (1989) charakterisiert Postfordismus mit dem Begriff der ,time-space compression‘, in dem Krisen unberechenbar und launisch geworden sind, und unterscheidet dies vom fordistischen ,time-space displacement‘, in dem Krisen entweder exportiert oder aufgeschoben wurden. ‚Time-space compression‘ bezieht sich auf Technolo-gien (vor allem Kommunikationstechnologien), die beschleunigende Wirkungen haben und zeitliche Diff erenzen schwinden lassen. Anthony Giddens (1990) hat für nachmoderne Gesellschaft en einen ähnlichen Begriff geprägt, den der ‚time-space distanciation‘. Damit konstatiert er eine Situation, in der alltägliches Leben seine lokalen Anbindungen verliert. Für Manuel Castells (1996) schließlich sind in der Informationsgesellschaft Orte abgelöst worden durch Flüsse, und digitale Technologien produzieren eine Form von Unmittelbarkeit, die zu zeitloser Zeit führt und die Geschichte auflöst.

Nun sind diese vier Befunde, die ich hier viel zu grob verkürzt habe, keines-falls deckungsgleich. Allerdings sind sich all diese Befunde darin einig, dass das Lokale nicht nurmehr lokal ist, und dass wirtschaft liche und technologische Pro-zesse unser Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit tiefgreifend transfor-mieren.

In diesem Transformationsprozess wird es zunehmend schwieriger, das Credo von Kopräsenz (von Forscherin und den Erforschten) für ethnografi sche Praxis aufrechtzuhalten – sowohl in Bezug auf Gleichörtlichkeit wie auch in Bezug auf Gleichzeitigkeit. Nirgends tritt dieses Problem deutlicher zutage als im Bereich der ethnografi schen Arbeitsforschung.

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Dies möchte ich anhand von zwei Entwicklungen verdeutlichen, am Beispiel von immaterieller Arbeit und am Beispiel von medialisierter Interaktion und Kommunikation. Michael Hardt und Antonio Negri (2000) vertreten die Th ese, dass immaterielle Arbeit das zentrale Element ist, um die Logik von globaler ka-pitalistischer Herrschaft zu verstehen. Mit dem Konzept der immateriellen Ar-beit verbinden sie einen marxistischen Ansatz mit der Analyse von Arbeit in der Informationsgesellschaft . Immaterielle Arbeit ist solche Arbeit, die immaterielle Produkte hervorbringt, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Aff ekte und Beziehungen. Diese Form der Arbeit hat laut Hardt und Negri in den letzten Jahrzehnten nicht nur rapide zugenommen, vielmehr steht sie im Zentrum und hat Formen materieller Arbeit an die Ränder des ,Empire‘ verdrängt.

Es stellt sich also die Frage, ob sich immaterielle Arbeit ebenso gut beobach-ten lässt wie materielle Arbeit. Schließlich wird sie in erster Linie nicht mit dem Körper, sondern mit dem Kopf ausgeführt.5 Die relativierende Formulierung ,in erster Linie‘ ist hier natürlich wichtig. Jede Form von Arbeit beansprucht Kopf und Körper. Allerdings nimmt der Körper bei materieller Arbeit eine weit größere Rolle ein als bei immaterieller Arbeit. Und dies gilt in umgekehrter Weise auch für den Kopf. Donald Roy (1960) hat wunderbar gezeigt, wie die manuellen und hochgradig routinisierten Fließbandtätigkeiten den Kopf eben gerade nicht be-anspruchen, sondern ihn frei machen für Gedanken, die mit dem Arbeitsprozess selbst wenig zu tun haben. In starkem Kontrast hierzu fi ndet analytische und in-tellektuelle Arbeit zu weiten Teilen im Kopf statt, zwar in permanenter Interaktio-nen mit entweder anderen Menschen oder mit Dingen (Texten, Bildern, Grafi ken, Statistiken, Datensätzen), aber ein Großteil des Arbeitsprozesses fi ndet im Gehirn statt und ist nicht direkt beobachtbar. Auch in meinen eigenen ethnografi schen Forschungen hat sich gezeigt, dass die teilnehmende Beobachtung von immateri-eller Arbeit weniger interessante Daten produziert als die Beobachtung materiel-ler Arbeit. Dies bedeutet keinesfalls, dass Erforschung von immaterieller Arbeit weniger ergiebig ist – es bedeutet lediglich, dass die Methode der teilnehmenden Beobachtung an Grenzen stößt, die im Forschungsprozess natürlich umgangen oder kreativ überwunden werden können.

5 Hier ist eine wichtige Einschränkung vonnöten. Dieses Problem stellt sich nicht für alle Bereiche immaterieller Arbeit gleichermaßen, sondern nur für intellektuelle und analytische Arbeit. Af-fektiver Arbeit, etwa Arbeit in der Serviceindustrie (Verkäuferinnen, Frisöre, Bedienungen) und anderen Formen von Kundenarbeit eignet sich ganz hervorragend für Beobachtung, schließlich spielt hier der Körper eine ganz zentrale Rolle – man denke etwa an das Lächeln der von Arlie Hochschild (1983) untersuchten Stewardessen.

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Der zweite Prozess, der kopräsente Beobachtung in zeitgenössischen Arbeits-kontexten erschwert, ist die Medialisierung kommunikativer Arbeit. Zwar ist das Phänomen einer medialisierten Kommunikation in Arbeitsprozessen nicht neu, aber seit der digitalen Wende hat es erheblich zugenommen. Wiederum stellt sich die Frage, wie dies die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung beeinfl usst. Generelle Aussagen sind hier problematisch, denn die Möglichkeiten für teilneh-mende Beobachtung hängen vor allem von den je spezifi schen Medien ab. Für die Beobachtung eines Telefonats stellen sich etwa andere Herausforderungen als für die Beobachtung einer E-Mail-Korrespondenz. Allerdings sind in beiden Fällen Kopräsenz (im Sinne von Gleichörtlichkeit) nur noch eingeschränkt möglich.

Wiederum ist dies keineswegs ein Argument, dass Ethnografi e im Kontext von mediatisierter Kommunikation vor unüberwindlichen Hindernissen stehe. Vielmehr sollte dies als eine Herausforderung begriff en werden, die kreativ um-gangen werden kann – was allerdings zur Folge hat, dass das Ideal von Kopräsenz aufgegeben werden muss. Für den Forschungsprozess und die dabei generierten Ergebnisse ist dies zumeist auch nicht tragisch, denn die gleichzeitige Beobach-tung etwa einer E-Mail-Korrespondenz liefert in der Regel selten bessere For-schungsdaten als eine Kopie derselben Korrespondenz, die der Ethnografi n zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt wird. Der Punkt dieser Argumentation ist lediglich, dass Kopräsenz in der alltäglichen Arbeitskommunikation inzwischen nicht mehr der Normalfall, sondern fast schon der Idealfall ist.

Eine Reihe von Forschungsrichtungen sind an der Integration von Medien (vor allem Informations- und Kommunikationstechnologien) im Arbeitsalltag besonders interessiert und forschen hierzu ethnografi sch. Zu nennen wären hier etwa die Studien zur ,Computer Supported Cooperative Work‘ (CSCW), ,Science and Technology Studies‘ (STS) sowie die ,Workplace Studies‘.6 Diese Forschungs-richtungen sind zum einen inspiriert von Bruno Latours Arbeiten zur ,Actor-Network-Th eory‘, zum anderen von Lucy Suchmans (1987) Konzept der ,situated actions‘. Viele dieser Studien – soweit man dies in der hier erforderlichen Kürze überhaupt verallgemeinern kann – sind inspiriert von einer eher ethnomethodo-logisch ausgerichteten Ethnografi e. Dieser spezifi sche und sehr detaillierte Fokus auf Interaktionen zwischen arbeitenden Menschen, aber vor allem auch auf die In-teraktionen zwischen Menschen und Computern (und anderen Medienobjekten) hat zahlreiche Innovationen hervorgebracht – sowohl im Bereich der Erforschung von Netzwerken als auch im Bereich mikrosoziologischer Studien. Der Vorteil

6 Siehe zu Workplace Studies Knoblauch und Heath (1999), zum Stand des STS-Diskurses Ilyes (2006) und zu CSCW sowie generell zum Th ema ‚Studies of Work‘ Bergmann (2005).

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dieser Studien – die fast schon mikroskopische Erforschung der Inter aktion zwi-schen Menschen und technologischen Objekten – ist zugleich auch ein Nachteil für ethnografi sche und Medien einbeziehende Arbeitsforschung. Denn in diesen Ansätzen werden Medien zwar kontextualisiert, allerdings um den Preis einer oft dekontextualisierten Arbeitsforschung. Hierzu mehr im nächsten Abschnitt.

2.3 Soziale Interaktion

Das dritte Charakteristikum ethnografi scher Praxis ist eine Fokussierung auf Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen. Ethnografi e ist eine Beob-achtung von sozialer Interaktion oder, wie Amann und Hirschauer (1997: 24) re-sümieren: „Ethnographie ist die Teilhabe an der Inspektion sozialer Situationen.“ Im Unterschied zu ,Feld‘ und ,teilnehmender Beobachtung‘ liegt die Problematik von ,sozialer Interaktion‘ an anderer Stelle. Das ‚Feld‘, das ja schon immer eine so-ziale Konstruktion war, wird durch eine Reihe von Transformationen immer mehr dekonstruiert. Die Forderung von Kopräsenz von Ethnografi n und den Ethno-grafi erten ist nicht mehr zu halten, wenn zwischen den Ethnografi erten selbst Kopräsenz aufgegeben wird. ,Soziale Interaktion‘ hingegen ist nicht in Gefahr, in irgendeiner Form aufgelöst zu werden.

Vielmehr ist dies ein Problem von Reichweite. Je mehr sich Ethnografi e auf soziale Interaktion konzentriert, desto mehr besteht die Gefahr, die politischen und ökonomischen Kontexte, die soziale Interaktionen zumindest teilweise struk-turieren, aus dem Blickwinkel zu verlieren. Am Beispiel von Arbeitsforschung: Ethnografi e von Arbeit, die sich auf die Erleuchtung sozialer Interaktionen fest-legt, kann Arbeit nur in einem begrenzten Ausmaß analysieren. Arbeit wird hier reduziert auf Arbeitsbeziehungen und auf die Organisation von Arbeit in spezi-fi schen Settings (Institutionen, Firmen etc.). Ausgeblendet werden dann all jene externen Kräft e, die etwa Arbeitsprozesse, Arbeitskonfl ikte und Produktionsmodi zumindest teilweise strukturieren. Je mehr sich ethnografi sche Arbeitsforschung auf soziale Interaktion beschränkt, desto weniger steht Arbeit selbst im Zentrum der Analyse.

Genau diesem Punkt widmet Michael Burawoy viel Aufmerksamkeit. Am Beispiel der Chicago School zeigt Burawoy (2000: 7 – 15) die Konsequenzen der Verengung von ethnografi scher Forschung auf soziale Interaktion. Demnach sei die Chicago School zunächst durchaus mit der Ambition gestartet, ethnografi -sche Forschung nicht auf lokale Kontexte zu beschränken. So sei der ,founda-tional classic‘ der Chicago School, Th omas und Znanieckis ,Th e Polish Peasant in

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Europe and America‘, eine vielversprechende globale Ethnografi e. Erst unter der Führung von Robert Park habe sich die Chicago School mehr und mehr auf die ethnografi sche Erforschung lokaler Settings (Städte, Stadtteile, Firmen und Insti-tutionen) beschränkt. Diese Entwicklung kulminierte in Studien, die so ziale In-teraktion selbst in lokalen Settings weitgehend dekontextalisierten. Hierfür stün-den etwa die Arbeiten von Erving Goff man. „Closing ethnography off from its context had the advantage that its claims could be generalised across diverse set-tings“ (Burawoy 2000: 14). Allerdings habe dieser Fokus auf menschliches Ver-halten in abgeschlossenen Welten (Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken etc.) einen Preis: Die Kontrollsysteme, die ja zu beachtlichen Teilen menschliches Ver-halten strukturieren, werden dann weithin ignoriert.

Ich möchte im Folgenden an zwei deutschsprachigen Klassikern zeigen, warum die Einbeziehung von Kontext für Arbeitsforschung so produktiv ist. Sieg-fried Kracauer (1971) hat für seine Ende der 1920er-Jahre veröff entlichte Studie ,Die Angestellten‘ kein klassisch ethnografi sches Vorgehen gewählt – zumindest kein Vorgehen, das durch einen klar vorgegebenen Forschungsrahmen charak-terisiert ist. Kracauer hat natürlich auch viele soziale Situationen analysiert, aber hat daraus keinen Fetisch gemacht, sondern sie mit anderen Methoden der Daten-generierung verwoben. Das von ihm analysierte Material ist vielfältig und schein-bar zufällig – private Briefe, offi zielle Firmendokumente, Zeitungsartikel, Ar-beitsbekleidungen, Gespräche mit Angestellten in verschiedenen hierarchischen Ebenen, und eine Fülle von Beobachtungen (sowohl in bürokratischen Institutio-nen wie auch außerhalb der Arbeitswelt). Es sind indes Lumpen, wie Walter Ben-jamin so scharfsinnig im Nachwort dieser Studie angemerkt hat, die unbeachtet am Wegesrand liegen und von Kracauer aufgelesen und so verknüpft werden, dass eine kohärente Erzählung zur Mentalität von Angestellten in der Weimarer Re-publik entsteht. Die Verknüpfungen sind keinesfalls zwingend, aber es sind genau diese riskanten Verwebungen von ,kleinen‘ Beobachtungen und der Analyse von größeren Kontexten, die es möglich machen, so verschiedene Bereiche wie die quasi wurzellose, sich erst formierende Angestelltenmentalität mit Bürokratisie-rung, der Taylorisierung und Sinnentleerung von Angestelltenarbeit, dem Auf-kommen der Unterhaltungsindustrie und dem Aufkommen von Faschismus in Verbindung zu bringen und so Kracauers Studie zu einem ethnografi schen Meis-terwerk machen.

,Die Arbeitslosen von Marienthal‘, eine soziografi sche Studie zu den Fol-gen von Langzeitarbeitslosigkeit, ist ein weiteres Beispiel eines ethnografi schen Meister werks, bei dem die teilnehmende Beobachtung von sozialer Interaktion keineswegs im Zentrum der methodischen Herangehensweise steht. Die von

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Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975) in den 30er-Jahren durchge-führte Studie eines österreichischen Dorfes, das nach der Schließung einer Fa brik mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert war, ist bahnbrechend aufgrund einer in-novativen Verschränkung von qualitativen und quantitativen Methoden sowie einer Verknüpfung von bereits vorgefundenen Materialien mit eigens für die Studie erhobenen Daten. Für jede Familie in Marienthal hat das Erhebungsteam einen Ordner angelegt, der dann mit verschiedensten Daten gespeist wurde, etwa mit Daten von Haushaltserhebungen und Essenserhebungen, mit Fragebögen, Daten zur Zeitverwendung, Interviews, informellen Gesprächen sowie solchen Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den Erforschten, die durch Hilfsleistungen des Forschungsteams in Gang gesetzt wurden. Um nämlich eine nur scheinbar natürliche Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den erforschten Familien zu erhöhen, hat das Team im Dorf Angebote etabliert, etwa Erziehungsberatungen und Kurse im Bereich von Fitness und Kreativität. Dieses Vorgehen, in vielerlei Hinsicht problematisch – die ,Wirklichkeit‘ im Dorf wurde künstlich verändert; die Arbeitslosen wurden über die eigentlichen Absichten die-ser Angebote nicht informiert – ist innovativ als eine Form von experimenteller Ethnografi e. Während also die Beobachtung der sozialen Interaktion zwischen den Erforschten nicht zentral war für die Formulierung der Forschungsergebnisse, kommt der Interaktion zwischen Forschern und Erforschten in der Tat zentrale Bedeutung zu.

Bislang habe ich die Problematik von sozialer Interaktion vor allem hinsicht-lich der Frage der Reichweite thematisiert. Eine zweite Problematik von ethnogra-fi scher Arbeitsforschung, die soziale Interaktion ohne Einbeziehung von Kontext untersucht, bezieht sich auf die Potenziale für kritische Sozialforschung. Sicher-lich, soziale Interaktion ist kritisierbar, es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Kri-tik von Arbeit im digitalen Kapitalismus möglich ist, wenn ethnografi sche For-schung sich lediglich auf die Mikrowelt sozialer Beziehungen beschränkt. Am Beispiel von actor-network-theory (ANT) lässt sich dieser Aspekt gut verdeutli-chen. Bruno Latour (2005) plädiert dafür, die Soziologie des Sozialen durch eine Soziologie der Verknüpfungen zu ersetzen, dies sind Verknüpfungen zwischen Menschen einerseits und zwischen Menschen und Dingen andererseits. Die vor allem von Durkheim beeinfl usste Soziologie des Sozialen verwechsle, so Latour, Ursache und Wirkung und operiere mit einer Vielzahl von abstrakten Begriff en, die erklärend wirken sollen, die aber eigentlich der Erklärung bedürften. Diese Begriff e könnten nur dann erfolgreich erklärt werden, wenn die Spuren der Kon-struktion dieser Begriff e nachgezeichnet werden können. Es gelte also, solche Be-griff e nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie zunächst einmal empirisch

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zu legitimieren. Deshalb vermeidet ANT Begriff e wie Gesellschaft , Kultur, Macht, Struktur, und Kontext, um nur einige zu nennen.

Latours Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings hat seine Soziologie der Verknüpfungen meines Erachtens einen teuren Preis: Kritik wird aufgege-ben zugunsten von Analyse. Wo Gesellschaft nicht ist, kann Gesellschaft auch nicht kritisiert werden. Verknüpfungen von Aktanten können nur beschrieben und dann analysiert werden. Es macht schließlich wenig Sinn, diese Verknüpfun-gen einer Kritik zu unterziehen. Insofern ist eine von ANT inspirierte ethnogra-fi sche Arbeitsforschung eher eine Analyse von Mensch-Objekt-Beziehungen (mit viel Spielraum für die Analyse von menschlichem Eigensinn), denn eine kritische Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen und der Organisation von Arbeit in spezifi schen politischen, ökonomischen und technologischen Kontexten.

2.4 Kultur

Das vierte Charakteristikum ethnografi schen Arbeitens ist ein Schwergewicht auf kulturellen Fragestellungen und Erkenntnissen, siehe die bereits zitierte Anwei-sung von Cliff ord Geertz an Ethnografen, die ,culture out there‘ zu fi nden und zu beschreiben. Dieser Schwerpunkt auf Kultur als Forschungsgegenstand gilt sicher lich nicht für alle ethnografi sch operierenden Schulen und Disziplinen glei-chermaßen – die Manchester School of Social Anthropology7, aber auch generell die britische Anthropologie etwa haben schon immer sozialen, politischen und wirtschaft lichen Fragestellungen den Vorzug eingeräumt. Dennoch ist es nicht allzu verzerrend, die Gewichtung auf Kultur als eines der zentralen Elemente zu sehen, die ethnografi sche Praxis etablieren und legitimieren.

Auf die Problematik des Kulturbegriff s als wirksame analytische Kategorie ist mehrfach hingewiesen worden. Im Zuge der ,Writing Culture‘ Debatte (Clif-ford / Marcus 1986) wurde Kultur zunehmend politisiert und als neokoloniales In-strument problematisiert. Lila Abu-Lughod (1991) etwa sieht in Kultur ein we-sentliches Werkzeug ,for making the other‘. Anstelle einer Beschreibung von ,den anderen‘ würden diese durch ethnografi sche Praxis erst hergestellt. Sie plädiert dafür, Homogenisierungen und Verallgemeinerungen aufzugeben, und stattdes-sen Geschichten über Individuen in bestimmten Räumen und Zeiten zu erzäh-

7 Eine gute Einführung (für Studierende von Studierenden) in die Arbeiten der Manchester School hat Anna Schmidt hier erstellt: http: / / anthropology.ua.edu / cultures / cultures.php?cultu-re=Manchester%20School.

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len. Ähnlich argumentiert Tim Ingold (1993): Die Übersetzungen, die westliche Ethnografen vornehmen, um von nicht-westlichen Welten zu berichten, würden nicht funktionieren. Um eine Ethnografi e zu ermöglichen, die auf gegenseitigem Verstehen basiert, müsse das Kulturkonzept aufgegeben werden. In der deutschen Diskussion haben jüngst Chris Hann (2007) und Stefan Beck (2009) die wesent-lichen Kritiken zusammengefasst und für die Abschaff ung des Kulturbegriff s plä-diert.

Mein eigenes ,Unbehagen an der Kultur‘ bezieht sich in erster Linie weder auf die mangelhaft e analytische Brauchbarkeit des Kulturbegriff s noch auf dessen fragwürdige politische Implikationen – obwohl ich alle vorgebrachten Einwände teile. Mein Unbehagen, fast noch schlimmer, zielt auf die Relevanz von Kultur als Forschungsgegenstand im digitalen Kapitalismus.

Es gilt in den Sozial- und Humanwissenschaft en als wenig umstritten, dass in der zweiten Hälft e des letzten Jahrhunderts ein sogenannter ,cultural turn‘ ein-gesetzt hat, ein turn also, der indiziert, dass die Relevanz von kulturellen Per-spektiven, Konzepten und Th eorien zugenommen hat. Nun ist die Konstatierung von turns immer problematisch und mehrdeutig, und es ist an diese Stelle nicht möglich, auf die zahlreichen Versuche zur Bestimmung des cultural turn einzuge-hen. Mein eigenes Verständnis des cultural turn ist durch zwei Prozesse gekenn-zeichnet, erstens durch eine umgangssprachliche Ausweitung des Kulturbegriff s von Hochkultur sowohl zu populärer Kultur wie auch zu dem anthropologischen Verständnis von Kultur als ,way of life‘, zweitens durch die Schwächung von posi-tivistischen Epistemologien und einer stärkeren Hinwendung zu Zeichen, Symbo-len und Konzepten wie Interpretation, Bedeutung, Diskurs und Kommunikation.

Dieser cultural turn hat nicht nur die cultural studies als neue akademische Disziplin hervorgebracht, sondern auch eine Vielzahl von bahnbrechenden theo-retischen Konzepten, die innovative Zugänge ermöglichten, etwa für eine dis-kurs-basierte Machttheorie (Foucault), neue Formen von Klassen- und Gesell-schaft sanalyse (Bourdieu), politische Ökonomie (Baudrillard) und die Analyse von Moderne und Postmoderne (Jameson).

Diese Th eorien haben über viele Jahrzehnte den sozial- und humanwissen-schaft lichen Diskurs entscheidend geprägt – und sie prägen ihn auch weiterhin. Allerdings zeigen sich auch erste Risse im Gebälk des cultural turn. Erstens hat die Disziplin der cultural studies – zumindest in ihren angelsächsischen Ursprungs-ländern eine Schwächung erfahren, zum einen durch eine Vielzahl von Schlie-ßungen akademischer Institute – das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham, einst stolzes Flaggschiff der cultural studies, steht hier als Paradebeispiel – zum anderen durch eine seit den 90er-Jahren anschwellende Kri-

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tik, die den cultural studies vorwirft , ihre Kritikfähigkeit aufgegeben zu haben und stattdessen zu einem verlängerten Arm der creative industries avanciert zu sein (hierzu etwa die Kritik von Th omas Frank 2001). Zweitens sind die oben erwähn-ten bahnbrechenden Kulturtheorien fast ausschließlich in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren entstanden, während in den letzten zwei Jahrzehnten wenig kultur-theoretische Innovationen zu verzeichnen waren – dafür wurde, wie bereits be-schrieben, umso mehr Kritik an der Brauchbarkeit des Kulturbegriff s als analyti-sche Kategorie vorgetragen. Am wichtigsten ist vielleicht der dritte Riss: Während Kulturtheorien in den letzten zwei Jahrzehnten nur bedingt neue Impulse erhiel-ten, sind Informationstheorien in demselben Zeitraum von einer akademischen Nische in den Mainstream eingedrungen. Die ,großen Erzählungen‘, die in den letzten zwei Jahrzehnten geschrieben wurden (etwa Castells 1996, Hardt / Negri 2000 und Benkler 2006), thematisieren vor allem das Informationszeitalter. Es scheint, als werde der cultural turn von einem neuen turn, dem digital turn, etwas in den Hintergrund gedrängt.

In eben diesem Zeitraum haben sich eine Reihe von Krisen zugespitzt – alle globaler Natur – und alle haben inzwischen bedrohliche Ausmaße erreicht mit größtenteils unkalkulierbaren Folgewirkungen. Zu nennen wäre hier u. a. die Schulden- und Finanzkrise, die Energiekrise (peak oil), die globale Ernährungs-krise sowie verschiedene ökologische Krisen (allen voran natürlich Klimawan-del). Es stellt sich meines Erachtens zu Recht die Frage, welchen Beitrag kultur-wissenschaft liche Forschung in solch einer Situation leisten kann. Sollte es schwer werden, auf diese Frage gute Antworten zu fi nden, ist die Th ese eines Relevanz-verlusts kulturwissenschaft licher Forschung zumindest erörterungswürdig. Im letzten Abschnitt soll dieses Unbehagen an der Kultur stärker an ,Arbeit‘ und ,Lohnarbeit‘ angebunden werden. Zunächst jedoch eine abschließende Anmer-kung zu Ethnografi e.

3 Arbeit und Ethnografi e im digitalen Kapitalismus

Um den Topos der Ethnografi e rankt sich eine interessante Paradoxie: Auf der einen Seite geraten, wie hier an vier Beispielen beschrieben, die klassischen Säu-len ethnografi scher Forschung in eine immer größere Schräglage, auf der anderen Seite erfährt der Begriff der Ethnografi e eine ungeheure Expansion. Je weniger die klassische Festschreibung von Ethnografi e plausibel bleibt, desto mehr erstreckt sich der Begriff wie ein Pilz über immer weitere Bereiche empirischer Sozial und Kulturforschung.

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In einer solchen Situation gibt es zwei Möglichkeiten, um auf diese Paradoxie zu reagieren. Man spielt entweder Methodenpolizei und defi niert einen Rahmen für ethnografi sche Forschung, um dann, gemäß der aufgestellten Kriterien, über Zulassung oder Ausschluss richten zu können. Die polemische Formulierung die-ser Variante lässt unschwer darauf schließen, dass ich ihr eher skeptisch gegen-überstehe. Die zweite Möglichkeit scheint mir produktiver: Man akzeptiert die Expansion, die der Begriff erfahren hat. Dies führt bedauerlicherweise zu einer Verwässerung des Begriff s. Allerdings lässt sich die zweite Variante auch positiv formulieren: Ethnografi e bewegt sich weg von einer spezifi schen Methode empiri-scher Sozialforschung und mutiert stattdessen zu einer Th eorie und Logik des For-schungsprozesses.

Eine solche Bestimmung eröff net neue Potenziale zur Erforschung von Ar-beit und zur Kritik von Lohnarbeit. Ein Großteil der ethnografi schen Arbeitsfor-schung operiert in institutionellen Kontexten – Arbeit wird erforscht in Unter-nehmen, Fabriken, Betrieben und Büros. Dies sind die Orte von Lohnarbeit, also genau der Form von Arbeit, die spezifi sch ist für den kapitalistischen Arbeits-prozess. Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsargumentation und den Marxschen Formen von Entfremdung. Meines Erachtens wurde in ethnografi -scher Arbeitsforschung – zumindest in den letzten Jahrzehnten – nur die zweite Form von Entfremdung thematisiert, also die Form von Entfremdung, die durch fehlende Selbstorganisation der Arbeit verursacht wird.

Die erste Form der Entfremdung jedoch, die Entfremdung zum Produkt der ei-genen Arbeit, ist aus dem Diskurs ethnografi scher Arbeitsforschung schlicht ver-schwunden. Lohnarbeit und die mit ihr einhergehende Entfremdung der Arbei-terin vom Produkt der Arbeit unterliegt kaum ethnografi scher Kritik, sie wird vielmehr als natürlich und unvermeidlich akzeptiert. Dies war solange plausibel, wie sich Arbeit als soziales Phänomen fast ausschließlich in klassischen organisa-torischen Kontexten bewegt hat. Mit dem Aufkommen des social web formieren sich jedoch Alternativen zum Lohnarbeitsparadigma. Solche Alternativen sind sicherlich nicht neu, sie haben in Form von freiwilliger und gemeinnütziger Ar-beit immer existiert, allerdings immer an den ökonomischen Rändern und immer in einer Weise, die kapitalistische Lohnarbeit ergänzt hat, ohne jedoch in direkte Konkurrenz zu ihr zu treten.

Mit der digitalen Wende und dem Aufkommen des social web hat sich eine Alternative zur industriellen Produktion (einer Produktion für den Markt) for-miert, die Yochai Benkler (2006) als ‚social production‘ bezeichnet. Benkler un-terscheidet zwei Formen von social production, zum einen die ‚commons based peer production‘, zum anderen ‚peer production‘. Erstere, die commons-based peer

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production, ist dadurch charakterisiert, dass eine oft große Anzahl von Personen sich einem gemeinsamen Projekt verschreiben und ohne klassische Befehlsstruk-turen zusammenarbeiten, oft auch ohne fi nanzielle Kompensation. Beispiele für commons-based peer production sind etwa Wikipedia oder die Open-Source Ge-meinde. Demgegenüber basiert ,peer production‘ eher auf individuellen Handlun-gen, die keine Koordination mit anderen verlangen. Hierzu gehören etwa Texte, Fotos, Filme und Musikstücke, die ins Netz gestellt werden. In beiden Fällen wird nicht für den Markt produziert, sondern für das Gemeinwohl, und die erstellten Produkte sind keine Waren, sondern Gemeingüter. Das Verhältnis von sozialer Produktion zur Produktion für den Markt ist zu komplex, um in wenigen Zeilen angemessen beschrieben zu werden. Allerdings ist es kein Zufall, dass mit dem Aufkommen der sozialen Produktion die Kulturindustrien (Zeitungen, Verlage, Musikvertrieb, Filmvertrieb etc.) immer stärker in die Krise geraten.

Unbestreitbar: Arbeit, die in soziale Produktion investiert wird, gewinnt zu-nehmend an Bedeutung, nicht nur an gesellschaft licher Bedeutung, sondern auch an wirtschaft licher Bedeutung. Gleichzeitig eröff net diese Form von Arbeit eine Reihe von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Fragen und Problemen. Dies sind Fragen zum Wert der Produkte sowie Fragen zum Wert der Arbeit. Dies sind weiterhin Fragen zur Rückgewinnung von Autonomie über den Arbeits-prozess, aber auch Fragen zu neuen Formen von Entfremdung, die sich, wie etwa Franco ‚Bifo‘ Berardi (2009) vorschlägt, an der Achse zwischen menschlicher Zeit und monetärem Wert ausdrücken. Dies sind schließlich auch Fragen zu neuen Formen von Ausbeutung. Denn im Internet sind die Nutzer zu Produzentinnen von Inhalten geworden. Sie produzieren Informationen, die Profi t ermöglichen. Diesen Vorgang beschreibt Yann Moulier-Boutang (2007) als ‚pollination‘. Firmen wie zum Beispiel die Anbieter von social media platforms können durch die unbe-absichtigte Arbeit der user Profi te erwirtschaft en, genauso wie manche Pfl anzen zur Reproduktion auf die unbeabsichtigte Befruchtungsarbeit von Bienen ange-wiesen sind. Ausgebeutet wird hier soziale Interaktion selbst. Im digitalen Kapita-lismus ist soziale Produktion auf der einen Seite Arbeit und auf der anderen Seite nichts anderes als menschliche Energie, menschliche Zeit, sowie der Ausdruck von Gefühlen, Gedanken, und Beziehungen. Schließlich sind dies Fragen zum Verhältnis zwischen social production und der Produktion für den Markt, denn oft bilden sich hier neue Mischformen heraus. Die Herausforderung, die diese Entwicklung an die Sozialwissenschaft stellt, ist in der Tat enorm. Um Lohnarbeit ethnografi sch kritisierbar zu machen, ist eine Ausweitung des Blicks jenseits der engen Grenzen von Lohnarbeit erforderlich.

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Michael Burawoy (1979), dessen ,Manufacturing Consent‘ ebenfalls zu der Reihe von arbeitsethnografi schen Klassikern gehört, die auf eine Fetischisierung von sozialer Interaktion verzichten, entwickelt in seiner Studie eine scharfe Kri-tik soziologischer Praxis. „Th e political implications of sociology stem from the adoption of a particular philosophy of history in which the future is the perfection of the present, and the present is the inevitable culmination of the past. From this all else follows. By taking the particular experiences of capitalist society and shap-ing them into universal experiences, sociology becomes incapable of conceiving of a fundamentally diff erent type of society in the future…What exists is natural, inevitable, and unavoidable“ (Burawoy 1979: 13). Ob diese harsche Kritik an sozio-logischer Forschung gerechtfertigt ist oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt. Was mich an dem Zitat beeindruckt, ist sein Plädoyer für eine utopisch ausgerich-tete Sozialforschung.

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Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit

Ingo Matuschek / Frank Kleemann

Gesprochen wird immer und überall – während der Arbeit, in Bildungsprozes-sen oder während der Vorstellung als Arbeitsuchender bei der Bundesagentur für Arbeit. Zwar dürfte mit der Ausbreitung der Dienstleistungsarbeit der Stel-lenwert von Kommunikation für die Arbeit zugenommen haben, aber auch in der Produktionsarbeit ist der Austausch zwischen den Beteiligten unabding-bare Voraussetzung für Motivation, Produktivität und Sicherheit. In jedem Fall sind Kommunikationsarbeit und Arbeitskommunikation ein wichtiger Unter-suchungsgegenstand – und folglich benötigt man ein spezifi sches methodisches Instrumentarium, um sich dezidiert diesen sozialen Phänomenen zu nähern.

Einen methodischen Zugang zur Untersuchung von Kommunikationsarbeit und Arbeitskommunikation eröff net die Konversationsanalyse als methodolo-gisch fundiertes Instrumentarium, mit dem die vielschichtigen Abläufe und In-halte von Gesprächen aller Art systematisch erfasst und die grundlegenden Ord-nungen verbalen Austauschs identifi ziert werden können. Technische Grundlage dafür ist, dass in natürlichen Situationen stattfi ndende Gespräche auf Ton- bzw. Videodatenträger aufgezeichnet und anschließend detailliert verschrift licht wer-den. Erst auf dieser Grundlage wird sichtbar, dass Gespräche eine (je nach Ge-sprächsart variierende) innere Struktur aufweisen, zugleich häufi g eine Melange aus anscheinend klaren Versatzstücken, parasprachlichen Einlassungen, einge-schobenen thematischen Nebengleisen und Exkursen etc. darstellen, die aber alle-samt dazu beitragen, intersubjektiven Sinn zu produzieren und eine situative so-ziale Ordnung zu konstituieren.

Der vorliegende Beitrag führt zunächst in die methodologischen Grundlagen (1) und methodischen Arbeitsschritte (2) der Konversationsanalyse ein, bevor er anhand ausgewählter Beispiele informatisierter Kommunikationsarbeit in Call Centern zu einer praktischen Veranschaulichung gelangt (3). Damit wird ein Schwerpunkt auf die Gesprächsführung im Rahmen einer spezifi schen Form der Wirtschaft skommunikation gelegt – im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine Form von Kommunikationsarbeit. Am Beispiel der Cockpit-Kommunikation von

82 Ingo Matuschek / Frank Kleemann

Piloten wird in einem weiteren Schritt auf Arbeitskommunikation in einer kon-kreten Arbeitssituation eingegangen (4). Abschließend wird auf beispielhaft e Ar-beiten verwiesen, und Potenziale und Grenzen der Konversationsanalyse werden diskutiert (5).

1 Methodologische Grundlagen der Konversationsanalyse

Mit der Konversationsanalyse lassen sich kommunikative Interaktionen aller Art untersuchen, die in „natürlichen Situationen“ vorkommen. Geklärt wird mittels eines formalanalytischen Vorgehens, wie die beteiligten Akteure im Gespräch eine situative soziale Ordnung durch wechselseitig aufeinander bezogene Sprechhand-lungen gemeinsam herstellen. Th eoretische Grundlage dafür ist die Ethnometho-dologie, die soziale Ordnung als fortlaufende Herstellungsleistung der Akteure in Alltagssituationen auf der Grundlage gemeinsam geteilter Hervorbringungsregeln – der „Ethnomethoden“ – analysiert (1.1) Bezogen auf den spezifi schen Gegen-stand „Gespräche“ sind insbesondere die Ethnomethoden des turn-taking, also des Sprecherwechsels, konstitutiv (1.2).

1.1 Ethnomethodologische Fundierung

Grundlegender Bezugsrahmen der Konversationsanalyse ist die Ethnomethodo-logie (Garfi nkel 1967; Psathas 1973). Was Ethnomethodologen, und damit auch Konversationsanalytiker, als soziale Ordnung bezeichnen, entspricht nur bedingt dem, was wir im Alltag unter Ordnung verstehen. So ist das Befolgen des Verhal-tensgebots ‚Rechts vor links‘ im Straßenverkehr sicherlich ein Fall des Akzeptie-rens einer sozialen Ordnung, die qua Rechtssetzung Gültigkeit beansprucht – und im Alltag wird man gut daran tun, sich auch so zu verhalten und damit eine be-rechenbare Ordnung aller mitzutragen. Über den orientierenden Charakter der Regeln in sich ständig verändernden Verkehrssituationen dürfte zudem – bei aller Kritik an Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverboten o. Ä. weitge-hend Einigkeit bestehen. Um aber im ganz praktischen Sinne im Straßenverkehr handlungsfähig zu sein, muss auf noch eine ganze Reihe anderer ‚Regeln‘ zurück-gegriff en werden, die im ethnomethodologischen Sinn erst soziale Ordnung kon-stituieren: vor allem handelt es sich dabei um Regeln, die jemanden in die Lage versetzen in Bezug auf Andere kompetent zu agieren, die wiederum in Bezug auf alle Anderen agieren. Nur selten gibt es in solch komplexen Situationen ledig-

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 83

lich eine Weise, ‚richtig‘ zu agieren. Letztlich bedeutet das, dass jede der aufein-ander bezogenen Handlungen der Beteiligten die weitere Interaktion struktu-riert, indem der gewählte Handlungsschritt bestimmte Handlungsmöglichkeiten des Anderen eröff net und andere verschließt – die Regel wird im Moment ihres Vollzuges in Kraft gesetzt, z. B. wenn man mit einer kurzen Kopfbewegung den Weg trotz Vorfahrtberechtigung für den Anderen frei gibt und dieser entscheiden muss, ob er nun fährt oder aber die verkehrsrechtliche Regel vorzieht und stehen bleibt. Genau dies etabliert dann die situativ hergestellte soziale Ordnung, die im Mittelpunkt der Ethnomethodologie steht.

Th eoretischer formuliert: Soziale Ordnung wird in der Ethnomethodologie als „Vollzugswirklichkeit“ („ongoing accomplishment“) untersucht, im Sinne einer fortlaufenden Ausführung von Handlungen, die in ihrer beständigen Wiederho-lung oft ähnliche Muster aufweisen. Soziale Ordnung wird in dieser Perspektive in jeder Situation sukzessive gemeinsam mit anderen hergestellt – gewisser maßen in jeder Situation immer wieder von Neuem. Das impliziert, dass Individuen prin-zipiell Handlungsmacht zugeschrieben wird und sie nicht nur als Ausführende ‚gesellschaft liche Strukturen‘ reproduzieren: Sie sind keine Schauspieler, die einen bereits vorgegebenen und ihnen bekannten Text nur zur Aufführung bringen. Vielmehr improvisieren sie und stellen damit zugleich die situative Ordnung per-manent neu her.

Dazu setzen sie auf ‚Ethnomethoden‘, also in der Sozialisation vermittelte Me-thoden der Hervorbringung sozialer Praktiken und eingeübte Kommunikations- bzw. Handlungsschemata. Letztlich teilen alle Akteure ein gemeinsames und stillschweigend akzeptiertes Wissen darüber, nach welchen basalen Regeln die ‚Improvisation‘ im Handlungsvollzug verläuft . Dieses handlungsleitende Wissen umfasst sowohl allgemeine Regeln des wechselseitigen Sprechens und der Inter-aktion als auch situationsspezifi sches Wissen. Je nachdem, ob man sich bei einer Arbeitsbesprechung, im Wartezimmer beim Arzt oder in der Fankurve bei einem Fußballspiel befi ndet, gelten spezifi sche Regeln: Brüllen ist im Stadion sozial er-laubt, beim Arztbesuch nicht und auch in der Arbeitsbesprechung allenfalls als Ausnahme.

Die Anwendung solcher Ethnomethoden in sozialen Interaktionen läuft in ‚Echtzeit‘ blitzschnell ab und es wird nur selten ganz bewusst, welche verinnerlich-ten Regeln und Methoden dem Handeln zu Grunde liegen. In professionalisier-ten Kommunikationssituationen wie der Wirtschaft skommunikation greifen Un-ternehmen auf die damit gegebene hohe normative Verbindlichkeit zurück, etwa wenn sie Scripts für Call Center-Gespräche designen. Sie ‚beherrschen‘ dann mit-tels ausgefeilter Begrüßungs-, Th ematisierungs- und Verabschiedungsszenarien

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das der Alltagsinteraktion zugrunde liegende soziale Regelwerk und instrumen-talisieren es. Dies fällt umso leichter, als dem Gegenüber die Flucht kaum möglich ist – die eigenen Ethnomethoden legen einen ein Stück weit im Verhalten fest, so handlungsentlastend sie oft auch sind.

Im Hinblick auf die Konversationsanalyse gilt es in beobachteten Situationen zu bedenken, dass nicht die Regeln als solche analysiert werden sollen.1 Vielmehr geht es primär um einen mikroskopischen Blick darauf, was die Akteure in der Situation aufeinander bezogen tun: Wie sprechen sie miteinander und wie erzeu-gen sie dadurch wechselseitig die soziale Situation ihres Gespräches ? Aufgabe ist es, Handlungsmuster zu identifi zieren, mit denen soziale Ordnung hergestellt wird und ggf. auf dieser Basis dann Rückschlüsse auf zugrunde liegende Regeln zu zie-hen. Dagegen ist der ‚subjektiv gemeinte Sinn‘ oder die vermeintliche Intention der Akteure für die Konversationsanalyse nicht von Interesse. Fokussiert wird vielmehr, was ein Akteur tut und was dies beim Anderen bewirkt, der daraufhin seinerseits wieder etwas tut und dadurch bei dem Ersten etwas bewirkt usw. usf. Soziale Ordnungen werden also nicht als in (sozial geformten) Deutungen, Orien-tierungen, Relevanzen, Dispositionen oder Einstellungen der einzelnen Akteure begründet verortet (was einem strukturalistischen Determinationsverhältnis der Ordnung über die Akteure entspräche), sondern in der Praxis der interagierenden Akteure, der wiederum bestimmte Methoden ihrer Hervorbringung zu Grunde liegen.

Eine wichtige methodische Konsequenz dieser Perspektive ist es, dass die Kon-versationsanalyse sich allein auf das Gesagte konzentrieren kann, in dem die Ak-tivitäten der Gesprächspartner unmittelbar dokumentiert sind; prinzipiell un-sichere Vermutungen über Intentionen der Akteure können also unterbleiben.

1.2 Turn-Taking

Schritt für Schritt wird Ordnung im Prozess der Interaktion durch die Akteure erst hergestellt – und es handelt es sich dabei gewissermaßen um eine „lokale“, si-tuativ begrenzte Ordnung für die Akteure, die durch Dritte mittels genauer Ana-lyse erst rekonstruiert werden kann (z. B. Wissenschaft ler anhand des Textma-terials oder Vorgesetzte durch Mithören). Dass an jedem beliebigen Punkt einer Konversation ‚Ordnung‘ besteht, fasst die Konversationsanalyse mit der Maxime „order at all points“: Jeder einzelne Beitrag der gesamten Interaktion strukturiert

1 Eine gute Einführung bieten z. B. Auer et al. 2011 sowie Deppermann 2008.

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sinnhaft den Ablauf und damit die Gesamtordnung des Gesprächs, da jegliche sprachliche Aktivität sinnhaft Bezug auf die vorgängige(n) Äußerung(en) nimmt und zugleich sprachliche Anschlussaktivitäten eröff net. In allen Konversationen fi nden sich an jeder Stelle jeweils Anhaltspunkte dafür, dass von den Akteuren ‚Ordnung‘ hergestellt wird. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass der jewei-lige Beitrag zur Ordnungsbildung dem Interpreten einer aufgezeichneten Kon-versation unmittelbar zugänglich ist.2 Der Ablauf des Gespräches transportiert in mehr oder minder verschlüsselter Weise die jeweils hergestellte ‚Ordnung‘. Ziel der Konversationsanalyse ist es, eben diese Ordnung methodisch aufzuschlüsseln. Das erfordert ein sequenzielles Vorgehen: Gespräche sind grundlegend durch den Sprecherwechsel zwischen den Interaktionspartnern charakterisiert. Daher bildet jeder Redebeitrag eines Beteiligten eine Sequenz. Es gilt, die Konversation schritt-weise dahingehend zu analysieren, wie jede einzelne Sequenz an die vorherge-henden anschließt und welche Anschlussmöglichkeiten sie für die nachfolgenden eröff net. Das Zustandekommen der sequenziellen Ordnung des Gesprächs folgt bestimmten Regeln.

Kinder müssen zuweilen ermahnt werden, anderen nicht „ins Wort zu fal-len“ oder „dazwischenzureden“, weil sie die basalen Regeln der Gesprächsführung noch nicht verinnerlicht haben. Alle im ethnomethodologischen Sinne kompe-tenten Gesprächsteilnehmer kennen hingegen die Regel, dass jeweils einer von ihnen redet und die anderen abwarten müssen, bis der momentane Sprecher ‚fer-tig‘ ist.3 Einen ganz allgemeinen Zugriff auf die sequenzielle Abfolge von Konver-sationen stellt die grundlegende Systematik des turn taking von Sacks, Schegloff und Jeff erson (1974) zur Verfügung, die Sprecherwechsel fokussiert. Ausgangs-punkt ist, dass zu einem beliebigen Gesprächszeitpunkt jeweils nur eine Person über das Rederecht verfügt. Sie kann eine weitere Person explizit als nächsten Sprecher benennen (off ensiv etwa mit der Aufforderung: „Sag du auch mal was dazu“) und damit das eigene Rederecht weitergeben. Tut sie dies nicht und be-endet gleichwohl erkennbar ihren Beitrag (sei es, dass die Intonation das Ende

2 Auf Grund des fl üchtigen Inhalts von Konversationen ist es erforderlich, diese auf Ton- oder Video datenträger aufzuzeichnen und anschließend zum Zwecke der Interpretation zu verschrift -lichen. Dazu werden sehr kleinteilige Transkriptionsregeln verwendet, die auch parasprachliche Laute, Prosodie oder Intonation beachten und in die Interpretation einbezieht (vgl. dazu Klee-mann et al. 2009).

3 Das bedeutet nicht, dass Verletzungen dieser basalen Regel in der Praxis nicht vorkommen. Sie folgen aber ihrerseits gattungs- bzw. bereichsspezifi schen zusätzlichen Regeln (z. B. an welcher Stelle und in welcher Form ein Diskussionsteilnehmer einer Fernsehtalkshow dem jeweiligen Sprecher ins Wort fallen kann). Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich zunächst an einem idealtypischen ‚Normalgespräch‘.

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eines Satzes anzeigt und die Person anschließend schweigt, oder sei es durch eine explizite Konklusion, z. B. „mehr kann ich dazu nicht sagen“), so entsteht eine of-fene Situation. Das Rederecht erhält dann derjenige, der als nächster zu sprechen beginnt; geschieht in dieser Hinsicht nichts, verbleibt das Rederecht beim vor-herigen Sprecher. Im Extremfall redet dann keiner mehr und die Konversation ist beendet.

Der Wechsel des Rederechts zwischen den Sprechenden vollzieht sich an so-genannten „transition relevant points“ (TRP). Dieser Punkt beschreibt jene Mo-mente im Verlauf des Gesprächs, an denen das Rederecht wechselt, beibehalten wird oder auch umkämpft ist. Formalisiert lauten die basalen Regeln wie folgt (vgl. Dittmar 1997; C = current, N = next speaker):

Regel 1 (wird beim ersten TRP eines Redebeitrags angewandt):

a) Wenn C im Laufe eines Redebeitrages N als nächsten Sprecher wählt, dann muss C zu reden aufhören und N als nächster reden, wobei die Redeübergabe bei dem ersten TRP- nach der N-Wahl erfolgt.

b) Wenn C N nicht wählt, kann sich jeder beliebige andere Teilnehmer selbst wählen; der erste gewinnt das Recht auf den nächsten Redebeitrag.

c) Wenn C N nicht gewählt hat und sich kein anderer Teilnehmer gemäß b) selbst wählt, kann C (ist jedoch nicht verpfl ichtet) den Redebeitrag fortsetzen (d. h. das Recht auf einen weiteren Redebeitrag beanspruchen).

Regel 2 (wird bei allen folgenden TRPs angewandt):

Wenn C Regel 1 c) angewandt hat, dann gelangen Regeln 1 a) – c) zur An-wendung, und dies geschieht rekursiv an dem nächsten TRP, solange bis der Wechsel vollzogen ist.

Diese Systematik erfasst idealtypisch die alltagskulturell durch die Akteure geteil-ten Grundregeln für einen legitimen Sprecherwechsel in Kommunikationssituatio-nen. Gerade durch diese Ausrichtung kann dem häufi g weitaus dynamischeren Ablauf von realen Gesprächen Rechnung getragen werden, da die turn-taking-Regeln eine nähere Bestimmung der Abweichungen (z. B. Durcheinander reden) ermöglichen. In verschiedenen sozialen Situationen unterliegen die Basisregeln also jeweils unterschiedlichen, den Sprechenden jeweils mehr oder weniger ver-trauten Anwendungsnormen. Es ist nun eine empirische Aufgabe zu bestimmen, in welchen Situationen welche Regeln im Detail herrschen.

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 87

Dass jemand das Rederecht besitzt, heißt nur selten, dass alle anderen Ge-sprächsteilnehmer währenddessen völlig stumm wären. So ist es in Alltagsgesprä-chen üblich und zuweilen sogar notwendig, dass ein Zuhörer dem Sprecher fort-laufend sogenannte Hörersignale, beispielsweise in Form eines kurzen „mhm“ oder „ja“, gibt, die seine fortgesetzte Aufmerksamkeit bekunden.4 Auch para-sprachliche Elemente wie Lachen oder Räuspern können Reaktionen auf den Rede beitrag darstellen. Solche Signale haben unter Umständen einen Einfl uss auf den weiteren Redebeitrag des aktuellen Sprechers, ohne das Rederecht unmittel-bar zu beschneiden. Sie sind folglich in die Analyse eines Gesprächs mit einzube-ziehen, da sie als scheinbare Grenzfälle der Regel „order at all points“ Reaktionen des Sprechenden hervorrufen kann: z. B. den Bezug auf das soeben Gesagte und eine ad-hoc-Einschätzung des Hörersignals als Impuls für die folgende Äußerung (oder eben den Verzicht auf das Rederecht). Letztlich sind also weniger die Si-gnale an sich, sondern die Eff ekte der Lautäußerung auf das Gespräch und dessen Ordnung von Interesse.

Hinzu kommt, dass es sich bei Formen der Kommunikationsarbeit wie auch in der Arbeitskommunikation selten um herrschaft sfreie Räume handelt – in der Regel werden z. B. sachliche Anforderungen wie die in betriebliche Leitlinien und Vorgaben gegossenen Intentionen des Unternehmens wirksam, wie auch das Kommunikationsmedium selbst die Kommunikationssituation als technisch ver-mittelte konstituiert (vgl. Kleemann / Matuschek 2003a). Aus arbeitssoziologischer Perspektive ist sie damit prinzipiell als Ineinandergreifen von betrieblichem und individuellem Handeln und damit als spezifi sch gerahmte (Wirtschaft s-)Kommu-nikation zu verstehen. Daher ist es sinnvoll, entsprechendes Kontextwissen sys-tematisch in die Analyse der Kommunikate einzubeziehen – wie dies in der Kon-versationsanalyse auch üblich ist. (vgl. Abschnitt 5).

2 Methodische Vorgehensweise der Konversationsanalyse

Die Arbeitsschritte der Konversationsanalyse lassen sich in Erhebung und Daten-aufbereitung einerseits und die eigentliche interpretative Arbeit andererseits un-terteilen. Im vorliegenden Beitrag wird der Schwerpunkt der Darstellung auf den zweiten Teilaspekt gelegt; zum besseren Verständnis sei aber kurz auch auf Fragen der Datengewinnung und -aufbereitung eingegangen.

4 Das ist besonders bei Telefonaten erforderlich, da hier die Aufmerksamkeit allein über den akus-tischen Kanal und nicht gestisch oder mimisch bekundet werden kann.

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Datenerhebung

Konversationsanalytische Untersuchungen beziehen sich auf Kommunikation in ‚authentischen‘ Alltagssituationen, die nicht von den Forschern initiiert worden sind. Grundlage ist ein nonreaktives Verfahren der Datenerhebung: Gewonnen werden „natürliche Daten“ von Gesprächen, die im Idealfall mittels audio- oder audiovisueller Datenträger ohnehin aufgezeichnet werden (z. B. aus juristischen Gründen aufgenommene Feuerwehrnotrufe oder zu Trainings- bzw. Evaluations-zwecken von der Organisation erfasste Call-Center-Gespräche). Insoweit kein vorhandenes Material von Forschern genutzt werden kann, sondern Aufzeich-nungen auf Initiative der Forscher eigens angefertigt werden, ist auf das Vermei-den jeglicher Beeinfl ussungen der natürlichen Gesprächssituation zu achten. Em-pirische Grundlage von Konversationsanalysen sind jeweils Gespräche gleicher Art (seien es nun telefonische Notrufe, Arbeitsbesprechungen, therapeutische Sit-zungen oder Tischgespräche), die in angemessener Anzahl und Varianz vorliegen sollen.5 Ziel ist jeweils, die besonderen Merkmale der Gesprächsart in ihrer Struk-tur zu ermitteln sowie spezifi sche sprachliche Mechanismen zu identifi zieren und in ihrer Funktion zu erfassen.

Transkription

Der erste grundlegende Schritt der Konversationsanalyse besteht darin, die auf Ton- oder Video-Datenträger aufgezeichneten Gesprächsdaten zu transkribieren. Dabei ist in jedem Fall eine Transkriptionsweise erforderlich, die auch Aspekte wie gleichzeitiges Sprechen mehrerer Akteure, Tonlagen, Pausen, Dehnungen von Wörtern, das Verschlucken von Silben oder parasprachliche Elemente wie lautes Atmen erfasst, die möglicherweise eine Bedeutung für die Interpretation haben. Die wechselseitige, bisweilen parallele Bezugnahme der Teilnehmer aufeinander lässt sich in „Partiturschreibweise“ darstellen, bei der zwei (oder mehrere) beson-ders gekennzeichnete, untereinander stehende Zeilen parallel zu lesen sind. Ge-

5 In Bezug auf angemessene Anzahl und Varianz kann an dieser Stelle lediglich auf die grundlegen-den Überlegungen der Grounded Th eory hingewiesen werden, in deren Konzept des ‚theoreti-cal sampling‘ auf die Frage nach der Sättigung des Th eoriebildungsprozesses eingegangen wird (Glaser / Strauss 1998). Die Fortführung von Erhebungen bzw. Analysen ergeben sich aus dem Stand der konzeptuellen Dichte – sind gedankenexperimentell weitere inhaltliche Aspekte denk-bar, sollte entsprechendes Material erhoben werden bzw. die vorhandenen Daten dementspre-chend einer weiteren Analyse zugeführt werden.

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 89

nerell gilt in der Konversationsanalyse, dass für die Transkription nur objektiv zu bestimmende Aspekte von Interesse sind, die jegliche vorschnellen Interpretatio-nen vermeiden. So kann man etwa mit einem Klammerzusatz „(lautes Ein atmen)“ ein hörbares nichtsprachliches Ereignis dokumentieren. Eine aufgrund des Ton-falls unterstellte Ironie in einer sprachlichen Äußerung hätte dagegen nichts in der Transkription verloren, da es sich um eine Interpretation und nicht um eine reine Wiedergabe dessen handelt, was zu hören ist. Konversationsanalytische Tran-skriptionen sollen sich solcher Interpretationen enthalten.6

Sequenzielles Auswertungsverfahren

Der nach Erhebung und Transkription erste analytische Schritt der Konversa-tionsanalyse ist die nach formalsprachlichen Kriterien vorgenommene Sequen-zierung in einzelne voneinander abgrenzbare Einheiten. Die Sequenzen werden dann jede für sich in ihrer Form und Funktion und in ihrer Abfolge genauer be-stimmt (z. B. Begrüßung oder Verabschiedung als klar zu isolierende Einheiten). Dadurch erhält man die Ablaufstruktur des einzelnen Falles in enger Fokussie-rung auf seine sprachliche Struktur. Zwei weitere Schritte kommen im weiteren Verlauf der Auswertungen hinzu: die Einbeziehung von Kontextwissen über den Untersuchungsgegenstand und Fallvergleiche. Diese drei Schritte stehen nicht in einer linearen Abfolge, sondern werden integrativ aufeinander bezogen, um die Einzelfälle genauer und auf rekursive Art und Weise zu durchdringen. Abwei-chend von diesem Vorgehen erfolgt die Darstellung der einzelnen Schritte nach-folgend in linearer Reihung.

Zu Beginn geht es um den empirischen Einzelfall: Sein Aufbau wird anhand voneinander abgrenzbarer Einheiten, den Sequenzen, formal zergliedert. Das of-fensichtlichste Kriterium der Sequenzierung ist der oben angesprochene Spre-cherwechsel. Es ist Aufgabe der Sequenzierung, zu bestimmen, inwieweit mehrere der Redebeiträge eine sprachlich-funktionale Einheit bilden und als übergeord-nete Sequenz gelten können, etwa wenn sich die Gesprächspartner gegenseitig begrüßen oder in komplexen Frage-Antwort-Sequenzen agieren. Neben solchen Paarsequenzen können feinere Sequenzen auch innerhalb eines Redebeitrags nach ihrer unterschiedlichen sprachlichen Form und / oder Funktion bestimmt werden. Große wie kleine Sequenzen ergeben insgesamt die Sequenzstruktur oder sequen-

6 An dieser Stelle kann kein umfassender Einblick in Transkriptionsmethoden gegeben werden. Vgl. weiterführend etwa Dittmar (1997).

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zielle Organisation des Gesprächs. Es gilt, die Art und Weise zu analysieren, wie einzelne Sequenzen aufeinander Bezug nehmen und eine zeitliche Abfolge her-gestellt wird.

Es geht bei der konversationsanalytischen Sequenzanalyse nicht primär dar-um, einzelne Äußerungen zu isolieren, um sich ihnen dann intensiv zu widmen – vielmehr soll entsprechend der Maxime „order at all points“ insbesondere der jeweiligen Einbettung einer Textstelle in den Gesprächsverlauf Beachtung ge-schenkt werden, da jede Gesprächssequenz die nachfolgenden strukturiert und auf die vorherigen Bezug nimmt. Den Text von Beginn an unter dem Gesichts-punkt seiner sequenziellen Abfolge zu lesen, würdigt den faktischen Verlauf der Konversation und vermeidet Vorgriff e unter Bezug auf spätere Stellen, die den Kommunizierenden ja zum Zeitpunkt der jeweiligen Äußerung auch nicht be-kannt waren. Sind damit einerseits Bezüge zum vorher Gesagten erwartbar, do-kumentieren sich auch Folgeerwartungen der Gesprächsteilnehmer – etwa dass auf eine Frage eine Antwort erwartet wird. (In realen Gesprächssituationen sind regelmäßig Brüche mit dieser Normalitätsvorstellung zu verzeichnen, deren Sys-tematik es ebenfalls zu erfassen gilt.)

Die Sprecherwechsel dokumentieren die Dynamik des Gespräches und eröff -nen dadurch weitere Erkenntnisse: Ein Sprecherwechsel kann glatt verlaufen, d. h. beide Sprecher halten sich an gesellschaft liche Konventionen, mit der üblichen kurzen Pause zwischen den Beiträgen. Auch hier sind Abweichungen zu verzeich-nen: z. B. jemand nicht ausreden lassen, einen Satzanfang des Gesprächspart-ners unterbinden, Satzabbrüche, mehrmaliges Ansetzen zur eigenen Rede, Aus-rufe ohne weitere Erläuterungen („Aha !“), parasprachliche Eingaben (wie lautes Atmen) oder auch Stille.

Im Rahmen der sequenziellen Analyse gilt es daher, sprachliche Besonderhei-ten zu refl ektieren, insbesondere die Bedeutung von:

■ phonetischen Phänomenen (Dialekt, Lautbildung), ■ prosodischen Elemente (d. h. Intonationen, Lautstärke, Tempo- / Rhythmus-

wechsel, Pausen, etc.), ■ den Gebrauch der Grammatik (z. B. in der Wortfolge und etc.), ■ Lexik (Wahl von Fachbegriff en oder Jargons etc.) sowie ■ Stilistik (Redewendungen, Metaphern, sprachliche Formeln etc.).7

7 Vgl. dazu z. B. die Einführungen von Schwitalla (1997), Linke et al. (1996).

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Bei alledem ist zu fragen, warum diese Merkmale so angewandt wurden und wel-che Wirkungen Redebeiträge dadurch erhalten. Um deren Bedeutung zu erken-nen, ist beispielsweise die Beachtung von Widersprüchen in der Rede ebenso wichtig wie weitschweifi ge Ausführungen eines Arguments. Auch hier gilt: „order at all points“.

Die Daten sind zunächst kontextfrei zu analysieren, d. h. die soziale Interak-tion soll aus sich heraus ohne Rückgriff auf ggf. vorhandenes Wissen rekonstruiert werden. Auch dies dient als Selbstverpfl ichtung, den Blick unmittelbar auf den Ablauf der aufgezeichneten und transkribierten Interaktion zu richten. Erst da-nach bzw. im Erkennen nicht rein sequenziell interpretierbarer Daten können zu-sätzliche Informationen über den Kontext eines Gesprächs, also gesprächs externe Informationen beispielsweise über Besonderheiten des verhandelten Vorgangs, die beteiligten Personen oder den institutionellen Rahmen hinzugezogen werden. Das Hinzuziehen von Wissensbeständen, die den Forschenden zugänglich sind, ist also produktiv für die Konversationsanalyse, wenn auch im Ablauf der Interpre-tation zunächst zeitlich nachrangig. Dazu zählen Kenntnisse über Bedingungen des Handelns im jeweiligen Untersuchungsfeld ebenso wie über Besonderheiten der Kommunikation in bestimmten Situationen, Milieus oder Kommunikations-formen oder allgemein soziologische bzw. linguistische Wissensbestände z. B. über allgemeine Höflichkeitsregeln und Umgangsformen. Insbesondere Praxis-wissen über das relevante Feld kann helfen, im Gespräch vorkommende Begriff e oder Sachverhalte richtig verstehen zu können – ein bloß abstrakt bleibendes Wis-sen reicht häufi g nicht aus, um das für die Gesprächsanalyse notwendige Ver-ständnis einzubringen.

Fallübergreifende Analyse

Der Fallvergleich zielt darauf, Gleichförmigkeiten aller Art auszuloten, die zwi-schen einzelnen Fällen des Datenkorpus bestehen, zum Beispiel im Hinblick auf die Verlaufsstruktur der Gespräche oder in Bezug auf soziale Mechanismen bzw. Prozesse, die sich innerhalb von Gesprächen identifi zieren lassen. Das Vorgehen folgt wiederum einer inhaltlich off enen Logik der Entdeckung von Mustern im Einzelfall wie im Vergleich über Einzelfälle hinweg – gerahmt vom jeweiligen Un-tersuchungsinteresse der Forschenden. Ein weiteres Ziel des Fallvergleichs be-steht darin, systematische Unterschiede zwischen Fällen herauszuarbeiten. Ge-meinsamkeiten wie Unterschiede lassen sich wiederum daraufhin untersuchen, ob sie sich bestimmten Typen von Gesprächen zuordnen lassen: So können bei

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empirischer Evidenz z. B. Notrufe in unterschiedliche Klassen (z. B. Polizeinotruf, Feuerwehrnotruf, Meldungen via Autobahnnotrufsäule, Seelsorge etc.) aufgeteilt werden. Dazu ist aber eine entsprechende vorgängige Typisierung erforderlich, die wiederum zunächst Gleichförmiges zwischen Gesprächen eines Typus auf-decken muss. Auch hier geht es also um die Entdeckung von Gleichförmigkei-ten, aber nicht bezogen auf den gesamten Datenkorpus, sondern auf Teile davon und im Kontrast zu anderen Teilen, die ebenfalls untereinander Gemeinsamkei-ten aufweisen.

3 Kommunikationsarbeit als Gegenstand der Konversationsanalyse – am Beispiel der Kundeninteraktion im Call Center

Im Folgenden wird auf einen Datenkorpus zugegriff en, der Call-Center-Gesprä-che unterschiedlichen Ablaufs bei einer Direktbank („Fidi-Bank“) beinhaltet.8 In den Interpretationen fl ießen Sequenzierung, Kontextwissen und Fallvergleich sukzessive ineinander – damit wird bezweckt, den Ertrag der Konversationsana-lyse in der fi nalen Zusammenfassung der Fälle herauszuarbeiten und so einen Eindruck von der Leistungsfähigkeit der Methode zu vermitteln.

Arbeitssoziologisch betrachtet, besteht eine strukturelle Asymmetrie zwischen Call-Center-Agent und Kunden, begründet allein schon mit unterschiedlichen Zugängen der Beteiligten (vgl. Brünner 2000: 111), aber auch mit diff erenten Kom-petenzen und Motivationen (Volpert 1975, 1981; Michelsen 1997; Kleinbeck 1997).

Die Agents verfügen über ein breites (datenbanktechnisch hinterlegtes) Fach-wissen, Kenntnis der institutionellen Abläufe und hohe Sachkompetenz auf der Grundlage alltäglicher, standardisierter Routinehandlungen. Ihre Gesprächskom-petenz umfasst auch den instrumentellen Umgang mit Emotionen (der Bestand-teil der Marketingstrategie des Unternehmens sein kann) und die professionell ausgebildete Fähigkeit zur Empathie – gestärkt in Trainings der Bank. Nicht zu-letzt strukturieren eigens entwickelte Bearbeitungs- und Gesprächsführungs-

8 Der Datenkorpus umfasst insgesamt 89 Telefonate von Agents mit Kunden einer Direktbank. Zu-sätzliches Kontextwissen wurde auf mehreren Wegen generiert: a) mittels einer vergleichenden Dokumentenanalyse der Kommunikationskonzeptionen, der Rekrutierungskriterien und der Schulungsunterlagen der „Fidi-Bank“; b) durch thematisch strukturierte Interviews mit Call-Center-Agents sowie operativen und administrativen Managern; und c) mittels ethnografi scher Beobachtungsstudien, die in Beobachtungs- bzw. Interviewprotokollen dokumentiert wurden (für eine detaillierte Darstellung der Datengrundlage und des betrieblichen Kontexts vgl. Hab-scheid et al. 2006: 26 – 31).

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 93

konzepte die Sprach- wie Sachbearbeitungshandlungen der Mitarbeiter. Struktu-rierend für die Gesprächsführung der Agents in den nachfolgend exemplarisch analysierten Call-Center-Gesprächen der Fidi-Bank wirkt das bankeigene Steue-rungsinstrument „Eff ekt“, das im Sinne eines Orientierungsrahmens den Agenten formale Leitlinien der Gesprächsstrukturierung (in Eröff nungs-, Analyse-, Lö-sungs- und Ausklangphase) vorgibt, die durch Handlungsorientierungen ergänzt sind, die den Mitarbeitern die Möglichkeit eröff nen sollen, innerhalb allgemei-ner Rahmenvorgaben erfahrungsbasiert ihren individuellen Gesprächsstil zu ent-wickeln, um im Kundengespräch möglichst „authentisch“ zu wirken (siehe aus-führlicher dazu: Habscheid et al. 2006: 30 f.).

Auf Seiten der Kunden sind Kompetenz und Motivation ebenfalls von Bedeu-tung (vgl. Rieder / Matuschek 2003): Die Bank erwartet basale Kenntnisse über Banktransaktionen, eine gewisse Gesprächskompetenz und ein effi zientes Auftre-ten. Institutionelle Abläufe sind den Kunden aber dennoch weitgehend unver-traut, und die Perspektive ist auf ihren konkreten Einzelfall gerichtet, in dem sie eine bestimmte Rolle einnehmen. Damit verbunden sind spezifi sche Emotionen, die schnell in negative Gefühle einmünden können – insbesondere dann, wenn es darum geht, eigene Ziele gegenüber der Bank durchzusetzen.

Die nachfolgend exemplarisch analysierten Gespräche aus der Fidi-Bank fol-gen den in Eff ekt gleichsam materialisierten Zielen: Servicegespräche von wenigen Minuten Dauer, die bei größerer Komplexität der nachgefragten Dienstleistung aber auch länger dauern können. Die angezielte rasche gemeinsame Defi nition des Kundenanliegens und auch die kooperative Bearbeitung des Anliegens erfolgt zumeist reibungslos. Beispiel 1 dokumentiert einen solchen Ablauf:9

Beispiel 1: Gespräch Fidi 216A = Call-Center-Agent (m); K = Kunde (m)

01 A25: schönen guten Tag, hier ist die kundenberatung; ich02 bin Daniel Berger ?03 K216: (Auslassung 4 Sek.)04 will bei mir was=äh zurückholn.05 A25: zurückholen. eine lastschrift hoff e [ich.06 K216: [jawoll.07 A25: So: u:nd (.) wa:nn is das passiert herr (Auslassung 1 08 Sek.).

9 Für die Erklärung der verwendeten Transkriptionssymbole: siehe Anhang.

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09 K216: (Auslassung 1 Sek.)10 A25: dritter siebter, (.) ja dAnn (.) sagen=sie=mir=noch11 den auftraggeber ?12 K216: internationale schrägstrich ost.13 A25: (--) tau:sendzwOhundertsiebnundsibbzig mark und14 siebnunddreißig pfenninge ?15 K216: Genau.16 A25: (--) u:nd das möchten sie wegen (.) widerspruch 17 zurückgeben lassen.=18 K216: =ganz genau.19 A25: Okay, kleinen augenblick, (4 Sek.) sO dann wiederhol ich20 nochmal=lasse die lastschrift zurückgeben vom dritten 21 siebten (.) an die internationale, über 22 eintausendzwohundertsiebnundsiebzig Mark und 23 siebnunddreißig pfenninge.24 K216: genau. is ungerechtfertigt.25 A25: okay. dAs hab ich ausgeführt, herr (Auslassung 1 Sek.)26 K216: bin ich ihnen sehr dankbar. 27 A25: [danke=wiederhörn. 28 K216: (&&&&) tschü[ß.29 A25: [tschüß, schönen tag noch.

Das Gespräch ist durch eine unproblematische Verständigung gekennzeichnet: Dem Call-Center-Agent ist trotz der nur kurzen Angabe des Anliegens (Z. 4) nach der Begrüßungssequenz (Z. 1 – 3) schnell klar, worum es dem Kunden geht. Nach kurzer Nachfrage (Z. 5: „eine Lastschrift hoff e ich ?“) und dem Einholen von Informationen zum Zeitpunkt der Lastschrift (Z. 7) vollzieht er das notwendige Procedere, beginnend mit der Erhebung notwendiger Daten (Z. 10 – 18) und sich durch Bestätigung des Kunden vergewissernd. Der Kunde folgt entlang seiner Fragen und zeigt durch prompte Antworten seine erfahrungsbasierte Kompetenz. Mit der regelhaft en Zusammenfassung der gewünschten Dienstleistung leitet der Agent die Endphase des Gespräches ein (Z. 19 – 23). Der eigenen und ausschließli-chen Zielstellung (Z. 4) wird bis zum Ende des Gesprächs nichts hinzugefügt – der Agent belässt es dabei, den Auftrag auszuführen; die vom Arbeitgeber im Rahmen des Eff ekt-Konzepts erwartete Standardformulierung „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun ?“ entfällt. Mit bestätigter Durchführung des Auftrages (Z. 25) und der pointierten Danksagung des Kunden (Z. 26) beendet die gegenseitige Verabschie-dung das Telefonat (Z. 27 ff.)

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Etliche Gespräche bei der Fidi-Bank sind ähnlich unkompliziert wie das obige – es handelt es sich dabei gewöhnlich um Routine-Interaktionen wie Über-weisungen oder Kontostandsabfragen. Es kann aber auch zu kritischen Situationen kommen: Sie werden durch Brüche in der Interaktion hervorgerufen, in denen die Ko-Produktion der Dienstleistung fragil wird. Die Dienstleistungserbringung ist dann erschwert und die Gespräche entwickeln sich in unvorhersehbarer Weise – bis hin zum Abbruch. Das ist nur begrenzt trainierbar und die Defi nition bzw. Bearbeitung des Kundenanliegens verläuft dann weniger klar strukturiert, wie das nachfolgende Beispiel 2 zeigt: Der Kunde hat Probleme, eine Kontostandsangabe im Online-Banking zu deuten und ein Anruf bei der Bank soll Klärung bringen; das Gespräch verläuft nach einleitenden Sequenzen (Gesprächseröff nung, Benen-nung des Anliegens durch den Kunden, Identifi zierung des Kunden durch Kun-dennummer und Geheimzahl sowie Problemeingrenzung) wie folgt weiter:

Beispiel 2: Fidi 208A22 = Call-Center-Agent (m); K208 = Kunde (m)

84 K208: [und wo und wo krieg ich 85 denn unten die (-) äh (-) wieso steht da gesAmtsumme 86 sAldo ? (.) müsste nicht eigentlich haben sein ? Oder 87 (--) heißt das halt so ?88 A22: ah ähm meinen sie jetzt auf der übersichtsseite ?89 K208: ja;90 A22: da ham sie zwei fenster (.) eine seite oben eine seite 91 unten92 K208: ja=93 A22: =oben sind ähm die beiden kOnten also einmal das 94 gemeinschaft skonto einmal das einzelkonto ersichtlich 95 .hhh=96 K208: ja97 A22: =und wenn sie dann jeweils eins anklicken (.) kriegen 98 sie im unteren feld den aktuellen stand nochmAl.99 K208: ja wo muss=ichn da anklicken ? (.) einfach mittendrauf ?100 A22: ja klicken sie einfach mittendrauf auf (.) das konto101 im oberen feld.102 K208: da mAcht er nix.103 A22: und dann sehen sie Unten das zins-girokonto (-) dann 104 defi nitiv mit dem stand oder ?

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105 K208: ja da steht aber saldo viertausendeinhundertdreißig. 106 (1.5) ist doch eigentlich ein haben oder ?107 A22: viertausendeinhundertdrEIßig. das sind die beiden 108 konten zusammengerechnet.=109 K208: =sehn se sehn se.=110 A22: =im oberen bereich.

Die Sequenz dokumentiert, dass Mitarbeiter und Kunde sich nicht verständigen können. Der Kunde verwechselt in Zeilen 84 ff. den Fachterminus „Saldo“ – d. h. die Diff erenz zwischen „Soll“ (Verbindlichkeiten) und „Haben“ (Guthaben) – mit dem (auch phonetisch ähnlichen) „Soll“ und befürchtet eine Überziehung des Kontos. Der Agent dagegen geht in seiner Nachfrage ab Zeile 88 (und in Zeile 89 durch den Kunden darin bestärkt) davon aus, dass Probleme mit der Nutzung des Online-Banking-Systems bestehen (was durchaus zutreff en kann). Dass der Kunde fachliche Begriff e verwechselt, wird seitens des Agents jedoch nicht regis-triert, obwohl der Kunde dem Agenten eine entsprechende ‚alternative‘ Deutungs-möglichkeit der Situation explizit anbietet („Oder(--) heißt das halt so ?“, Z. 86 f.). Auch die Wiederholung in Zeile 105 („ist doch eigentlich ein haben oder“) erreicht nicht das Ohr des Agenten. Dieser verharrt in der Normalitätserwartung, einen kompetenten Durchschnittskunden als Gegenüber zu haben, wie er Gegenstand der Schulungen ist. Mit Zeile 102 verstärkt sich dies noch dadurch, dass der Agent auf den Einwurf des Kunden („da mAcht er nix“) nicht eingeht und in seiner Nor-malitätsvorstellung verbleibt. Unterschiedliche Kompetenzen der Kunden werden durch Eff ekt nicht berücksichtigt, was letztlich im obigen Beispiel zur gesteigerten Irritation führt. Kunden mit nur geringer Erfahrung passen nicht zu den Vorstel-lungen, die sich das Unternehmen von seinen Konto- und Depot inhabern macht, und entsprechend bleiben die Schulungen an dieser Stelle unterkomplex. Die von der Bank vorgesehene Gesprächsstruktur ist in solchen Fällen schwer um-zusetzen; der Gesprächserfolg wird der individuellen Kommunika tionsfähigkeit der Mitarbeiter überantwortet, ohne dass präventive Formulierungen oder Ge-sprächsstrategien vorhanden sind. Das Ausbleiben der erwarteten Kompetenzen kann also die gemeinsame Ko-Produktion erschweren oder gar unmöglich ma-chen, ebenso wie das Fehlen einer gemeinsamen Zielsetzung.

Einen in anderer Hinsicht kritischen Gesprächsverlauf bildet Beispiel 3 ab: Es handelt sich um eine Aushandlung über eine vom Kunden als unzureichend empfundene Leistung der Bank. Der Kunde erkundigt sich über den Bearbei-tungsstand einer überfälligen Ertragsgutschrift aus einer Wertpapieranlage bei einer Landesbank auf sein Konto. Das Ausbleiben wurde zuvor bereits telefo-

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 97

nisch moniert. Im aktuellen Gespräch rekapituliert er nach Nennung des Anlie-gens und seiner Registrierung im Informationssystem den bisherigen Verlauf der Fallbearbei tung. Die Agentin ruft den Vorgang im Informationssystem auf und macht sich ein Bild, das sie den Kunden kommuniziert: Ein Kollege der Fachab-teilung habe bei der Landesbank eine Anfrage gestellt, auf deren Beantwortung man warte. Der Kunde verweist darauf, bereits gebeten zu haben, sich telefonisch zu erkundigen und setzt fort:

Beispiel 3: Gespräch Fidi 120A14 = Call-Center-Agentin (w); K120 = Kunde (m)

081 K120: ich bin selber082 bankkaufmann und weiß eigentlich, wIE in so ner083 wertpapiertechnik was Abgeht; und [(ich &&&) und vierzehn084 A14: [ja.085 K120: tage sind defi nitiv zu lAng; [(-) dafür dass/ [086 A14: [m-hm. [sie ham087 A14: (völ[lig)/088 K120: [weder/ das kann weder an den überweisungszeiten noch089 K120: sonst irgendworan liegen; da muß irgendwas schief090 gelau[fen sein.091 A14: [muss was schief gelaufen sein, ja.092 K120: und (-) weil ich mir da nun berechtigte sorgen mache, hab093 ich den kollegen gebeten da einfach Anzurufen und094 nachzufragen. weil Ich kann ja schlecht bei der sächsischen095 <<lächelnd10:> landesbank anrufen> und fragen warum die fidi-096 bank probleme bei der (-) äh:m erträgnis-<<lächelnd:>097 verbuchung [hat>. (der wird mir) sagen war098 A14: [<<lächelnd:>mhm.>099 K120: schön [dass sie hier anrufen, aber/[100 A14: [((lächelt)) [mer kriecht keine101 A14: aUskunft , da haben [sie recht.102 K120: [genau; (-) ja. und wenn man das wieder

10 Im Gespräch nutzten beide Probanden einen betont heiteren Sprechstil, der hier mit dem Begrif-fen ‚lächelt‘, ‚lächelnd‘ umschrieben wird, um die Transkription nicht komplizierter zu machen. Ob ein solcher Schritt zulässig ist, muss vor dem Hintergrund der Forschungsfrage entschieden werden – hier wurde er aus Darstellungsgründen präferiert.

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103 schrift lich alles macht; das dAUert einfach zu lange.104 es=ist für ne bAnk dann wirklich 105 (Auslassung 1 Sek.)106 A14: Allerdings war uns (.) äh:m- (.) also hier ist (-) des=des107 wEItere vorgehen Is auch so; also die anfrage wurde108 schrIft lich gestellt;109 K120: (&&&&&&&&)110 A14: und (.) wir müssen da auf antwort wArten. das geht auch111 nicht telefonisch. (.) des geht [über die (--) äh (-) des112 K120: [warUm nicht ?113 A14: geht über ne fachabteilung; (-) wir selber ham gar keinen114 kontakt hier direkt zur (-) es el be:. sondern das geht115 über die fachabteilung; und die macht des schrift lich.116 und in der regel erhält sie auch ziemlich schnell antwort.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Ausbildung als Bankkaufmann reklamiert der Kunde die fachliche Kompetenz, konstatieren zu können, dass ein zu klä-render Fehler im Ablauf vorliegt. Selbst der Landesbank gegenüber nicht hand-lungsmächtig, erwartet er eine telefonische Klärung durch die Fidi-Bank. Hatte die Agentin seine Ausführungen zuvor mehrfach bestätigend kommentiert, ent-gegnet sie – in mehreren Anläufen ansetzend (Z. 106 f.) –, dass eine schrift liche Anfrage dem üblichen Verfahrensweg entspräche. Die kategorische Schließung ihres Argumentationsganges „das geht auch nicht telefonisch“ (Z. 110 f.) wird vom Kunden unmittelbar hinterfragt („warum nicht ?“, Z. 113). Zur Begründung wird angeführt, dass die Anfrage von einer Fachabteilung und nicht vom Call Center durchgeführt werde – sie nimmt sich damit zugleich aus der Schusslinie: Mit einer erneuten kategorischen Feststellung („die macht des schrift lich“, Z. 115) wird diese als jenseits des eigenen Einfl ussbereichs autonom agierende Einheit der Fidi-Bank vorgestellt. Dadurch weist sie alle Verantwortlichkeit der Call-Center-Mitarbeiter für die Verzögerung von sich. Zugleich wird darauf verwiesen, dass schrift liche Anfragen üblicherweise schnell beantwortet werden; der konkrete Fall wird damit zur Besonderheit, die nicht allein der Fidi-Bank zuzurechnen ist.

Beispiel 3 dokumentiert zum Teil konfl igierende Interessen der Gesprächs-partner, die sie unter Bezug auf je gesonderte Kompetenzen verfolgen: Der Kunde verweist auf seine Fachkompetenz gepaart mit Hinweisen auf den ‚gesunden Men-schenverstand‘ und stellt ironisierend fehlende eigene Handlungsmöglichkeiten (Z. 94 – 99) dar, um seinen Wunsch nach einer mündlichen Anfrage durch die Fidi-Bank zu betonen. Auf der rhetorischen Ebene anerkennt die Agentin des

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 99

Öft eren die prinzipielle Berechtigung des Kundenanliegens, wodurch auch die prinzipielle Bereitschaft der Fidi-Bank zur Behebung des Problems dokumentiert wird; zugleich weist sie aber den konkreten Wunsch mit Verweis auf prinzipiell angemessene formale Abläufe der Bank zurück. Der Kunde hat demnach ein be-rechtigtes Anliegen, seinem Lösungsansatz wird aber nicht entsprochen. Die Ge-sprächsführung bleibt auf beiden Seiten trotz unterschiedlicher Interessen bezüg-lich des zu erreichenden Ziels sachlich.

Demgegenüber dokumentiert das nachstehende Beispiel 4 eine Konstellation, die sowohl von situativ divergenten Zielsetzungen als auch von einer auf Seiten des Kunden sozial inadäquaten Kommunikationsweise geprägt ist.

Beispiel 4: Gespräch Fidi 115A14 = Mitarbeiterin (w); K115 = Kunde (m)

01 A14: schönen guten morgen, hier ist die customer care 02 hotline der Fidi-Bank, ich bin petra maier.03 K115: ja grüß gott etz wollt i grad einen04 K115 dAUErauftrag machen [(-) und des (.) ge/05 A14: [ja ?06 K115 gelump funktioniert net,07 A14: im internet ? o[de:r/08 K115: [ja im Internet, da steht immer09 K115: da, bitte morgen öh übermorgen ausfülln; so10 ein kÄse <<acc> i=habs gestern a=schon probiert und11 K115: da steht immer=s=gleiche drauf[.>12 A14: [mhm, mhm, (.)13 A14: also wenn sie mi:m internet jetzt ä:h (-)14 probleme haben; da kann ich sie (.)15 weiterverbinden an unsere InternethOtline.16 K115: naa (.) nh (-) da/ s=geht=um=n dAUerauftrag.17 A14: mhm; da kann ich sie dann an die18 A14: kundenberatung wei[terverbinden die hilft 19 K115: [ja ja, dann machens=des20 A14: [ihnen gerne. (.) aber wenn sie wie gsagt21 K115: [schnell=amal.22 A14: dann noch zum Internet(.) [äh/23 K115: <<acc + cresc> [i hAb zum24 K115 internet keine probleme, [i hab zum

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25 A14: [keine26 K115: [DAUERAUFTRAG probleme; schnEll=[schnEll.> .hhh=27 A14: [(fragen) <<all> [okay.>28 A14: =<<all> ja.> geben sie mir bitte die29 personennummer ?30 K115: mh; <<rall> des is> (.) äh (Auslassung 6 Sek.)31 A14: so. da stell ich sie jetzt dIrekt durch32 (Auslassung 2 Sek.) (&&) und die nehmen den dann33 A14: gleich für sie auf; [den dauerauftrag; [ja ? 34 K115: [ja [mh35 A14: n kleinen moment dauerts; sie ham kEIne36 A14: warteschleifenmusik.37 K115: ja:38 A14: sso. (.) wünsche ihnen noch en schönen39 tag [(herr) (&&&&)40 K115: [ja ebenfalls

Der Kunde teilt unmittelbar nach der knapp erwiderten Begrüßungsformel der Agentin sein Problem mit, dass die Einrichtung eines Dauerauftrags via Inter-net nicht funktioniere (Z. 3 – 6). Im Vergleich mit den anderen Gesprächen des Korpus stellt sich das hier praktizierte Vorgehen des Kunden, seinen Namen im Anschluss an die Begrüßungsformel nicht zu nennen, als ungewöhnlich dar und verstößt gegen gängige Höflichkeitskonventionen. Die Grenze zur Unhöflichkeit wird dann mit der die Verärgerung über die technische Infrastruktur der Fidi-Bank zum Ausdruck bringenden Wortwahl („des gelump“, Z. 4 / 6) überschritten.

Die relativ diff use initiale Darstellung des Kunden erfordert zunächst eine dialo gische Abklärung seines genauen Anliegens (Z. 7 – 27). Die Agentin beginnt mit einer präzisierenden inhaltlichen Nachfrage (Z. 7), ihre sich als unzutreff end erweisende Interpretation über die Intention des Kunden (Lösung eines Problems mit dem Internet, Z. 13 – 15) strukturiert die Sequenz, die mit dem Versuch wei-tergeführt wird, im Sinne eines (vom Unternehmen als Leitlinie vorgegebenen) möglichst umfangreichen Service eine umfassende Problemlösung herbeizufüh-ren (erneuter Rekurs auf Internet als weitergehendes Problem, Z. 20 / 22).

Die Verärgerung des Kunden über die dysfunktionale Internet-Anwendung besteht auch in der Präzisierung seines Problems (Z. 8 – 11) fort. Die kolloquiale Wendung „so ein käse“ (Z. 9 – 10) steht außerhalb der sprachlichen Gepfl ogen-heiten von Wirtschaft skommunikation. Während er dann formal adäquat auf das vorgeschlagene Procedere durch Spezifi kation seines Anliegens mit Ableh-

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 101

nung reagiert (Z. 16), aber den darauf bezogenen zweiten Verfahrensvorschlag der Agentin billigt (Z. 19), kommt es auf den erneuten Hinweis der Agentin auf die Internethotline zu einer sprachlichen Entgleisung des Kunden: die beschleu-nigte Redeweise mit sich steigernder Lautstärke (Z. 23 – 24 / 26) erhält durch die angehängte, akzentuiert gesprochene Befehlsformel „schnell-schnell“ einen An-ordnungscharakter, der die sofortige Ausführung der Weiterverbindung ultimativ fordert. Die Gesprächspartnerin wird zur Befehlsempfängerin degradiert – der Rahmen eines regulären Kundengesprächs wird gesprengt. Nach parallel gespro-chenen Verstehensäußerungen (Z. 25 / 27) und einer unmittelbar nachfolgenden, schnell gesprochenen Bestätigung („ja.“, Z. 28) übergeht die Agentin diese Regel-verletzung mit dem Einstieg in die formale Prozedur der Identifi kation des Kun-den im Informationssystem der Bank (Z. 28 – 30) und geht nach anschließender Darstellung des weiteren Verfahrens für den Kunden zu einer routinisiert freund-lichen Verabschiedung über, die der Kunde wiederum mit einer äußerst knappen Höflichkeitsformel erwidert.

Im vorliegenden Fall divergieren die Zielsetzungen des Kunden und der Agen-tin: Erwartet der eine die ‚sofortige‘ Problembehebung durch die Hotline und nimmt sich das Recht, die Agentin als ‚Prügelknaben‘ für seine Wut über den unzureichenden Internetzugang zu benutzen, strebt die andere eine Problem-diagnose und Serviceadministration nach dem üblichen Schema der Fidi-Bank an. Das Gespräch ist geprägt von einer mangelnden Beherrschtheit des Kunden in Verbindung mit dessen defi zitärer sozialer Kompetenz: Die Agentin (als Person) und ein aus seiner Sicht fehlerhaft es technisches System werden gleichgesetzt; Un-höflichkeit ist dominanter Gesprächsstil, mit dem die Agentin im Gesprächsver-lauf zur bloßen Befehlsempfängerin degradiert wird. Zugleich kann das Anliegen zu Beginn des Gesprächs nicht eindeutig nachvollziehbar dargestellt werden. Die Agentin verkennt, dass es sich m einen ‚Sonderfall‘ handelt und dass bei einem emotional erregten und auf eine rasche Lösung drängenden Kunden ihr routine-haft es Verfahren der ‚Servicemaximierung‘ durch ergänzende Dienstleistungs-angebote verfehlt ist.

Konstellationen unkritischer bzw. kritischer Situationen im Call Center lassen sich idealtypisch entlang der für die Ko-Produktion eines Gespräches wichtigen Faktoren Kompetenz und Zielsetzung folgendermaßen systematisieren (vgl. Rie-der / Matuschek 2003):

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1. In kooperativen Interaktionen agieren Call-Center-Agent und Kunde kompe-tent und weisen übereinstimmende Zielsetzungen auf. Kritische Situationen treten nicht auf und Anliegen werden in angemessener Zeit korrekt ausge-führt.

2. Potenziell fehlerträchtige Interaktionen sind durch konvergente Zielsetzun-gen der Akteure gekennzeichnet, jedoch entspricht die Kompetenz eines oder beider Beteiligten bezüglich der zu erbringenden Dienstleistung nicht den Erwartungen des Dienstleistungsunternehmens.11 Mögliche Folge: Missver-ständnisse und Fehler im Verlauf der Interaktion.

3. In potenziell konfl iktträchtigen Interaktionen agieren die Beteiligten kompetent, verfolgen jedoch, mehr oder weniger off en, divergierende Zielsetzungen, die sie durchzusetzen versuchen. Gewöhnlich ist das Kompetenzniveau beider-seits hoch und wird jeweils strategisch eingesetzt. Vorhandenes Fachwissen und strategische Gesprächsführung halten trotz divergierender Zielsetzungen die Kommunikation ohne denkbare verbale Ausfälle in sachlichen Bahnen.

4. Potenziell entgleisende Interaktionen entstehen zumeist, wenn geringe Kompe-tenz und Divergenz von Zielsetzungen zusammentreff en. Das kann auch auf geschulte Agents zutreff en, etwa wenn die Rahmung eines Gespräches derart selten vorkommt, dass Reaktionen nicht trainiert sind. Ein Beispiel hierfür aus dem Korpus der Fidi-Bank-Gespräche ist ein (insgesamt 13 Minuten dauern-der) Outbound-Call, der die Frau eines kurz zuvor verstorbenen Bankkunden am Telefon erreicht. Die Witwe weist den Agent zu Beginn des Gesprächs auch explizit auf das Ereignis hin. Sie ist desorientiert und fachlich überfragt, aber der Agent vermag es nicht, sein (aus seiner Sicht berechtigtes und dringliches)

11 Im Hinblick auf die Agents sind solche Erwartungen explizit (Stellenbeschreibungen) oder im-plizit (z. B. Kenntnisse zum Telefonbanking, Fachtermini) ausformuliert.

Tabelle 1 Konstellationen unkritischer und kritischer Situationen im Überblick

Kompetenz der Akteure Verhältnis der Zielsetzungen der Akteure

Konvergent Divergent

In Übereinstimmung mit Erwartungen

Kooperative Interaktion Potenziell konfl iktträchtige Interaktion

Nicht in Übereinstimmung mit Erwartungen

Potenziell fehlerträchtige Interaktion

Potenziell entgleisende Interaktion

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 103

Anliegen zu vertagen und auf die besondere Situation empathisch zu reagie-ren. Er beschränkt das Gespräch auf geschäft liche Fragen, was zu divergenter Zielsetzung führt und eine emotionalen Reaktion der Kundin hervorruft , die schließlich das Gespräch beendet.

Die mittels Konversationsanalyse erarbeiteten Merkmale der sprachlichen Inter-aktion zwischen Agents und Kunden verdeutlichen einerseits strukturelle und an-dererseits situative Bedingungen der Gesprächsführung. Im Vergleich der Doku-mentenanalyse der Schulungs- und Trainingskonzepte der Fidi-Bank mit realen Gesprächen wird unter anderem deutlich, dass das Unternehmen mittels Eff ekt a) eine idealisierte Vorstellung von den Kunden als gleichermaßen kompetente und kooperative Partner und b) eine ebenso idealisierte Vorstellung von Stan-dardverläufen der Gespräche transportiert, die als unterkomplex bilanziert wer-den müssen. Fehlgeschlagene Gespräche werden im Regelfall der mangelnden Leistung der Agents zugeschrieben, sie basieren aber zum einen auf dem in Tei-len verfehlten Kommunikationsansatz des Finanzinstituts selbst sowie zum ande-ren auf der an Effi zienzkriterien orientierten Ausrichtung der Trainings, in denen die quantitativ dominierenden weitgehend unproblematischen Situationen fokus-siert werden. Erst im Vergleich zwischen arbeitsorganisatorisch abgesichertem, einheitlichem Auftritt der Agents einerseits und den in den faktischen Gesprächs-situationen emergierenden Gesprächskonstellationen andererseits sind Divergen-zen und Belastungen als institutionell hervorgebrachte Probleme beschreibbar.

4 Arbeitskommunikation als Gegenstand der Konversationsanalyse

Stand im vorstehenden Kapitel die Kommunikationsarbeit von professionellen Gesprächspartner einerseits und zumeist fachlichen Laien im Vordergrund der Betrachtung, so geht es in diesem Abschnitt darum, Arbeitskommunikation – als in organisationale Herrschaft sstrukturen und Hierarchien eingebettete Interak-tion zwischen fachlich kompetenten Personen – aus konversationsanalytischer Perspektive zu erfassen. Das soll nicht in der Intensität des vorangegangenen Ab-schnitts geschehen, sondern in Form einer beispielhaft en Kurzdarstellung zweier Kommunikationssequenzen im Cockpit eines Verkehrsfl ugzeuges.12

Piloten werden darauf trainiert, sich gemeinsam in standardisierte Arbeits-abläufe zu begeben (vgl. dazu Matuschek 2008) – vom gemeinsamen Check der

12 Für eine intensive Bearbeitung des gleichen Gegenstands vgl. Bergmann et al. 2008.

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Instrumente über das Abarbeiten von Kontrollaufgaben zur Interaktion in den verschiedenen Phasen eines Fluges. Generell gilt für das Arbeitshandeln das Vier-Augen-Prinzip mit kommunikativer Absicherung. Dabei folgt auch die Kommu-nikation in hohem Maße standardisierten Mustern, die Eindeutigkeit und damit Sicherheit erzeugen sollen – entsprechendes Verhalten wird langjährig eingeübt und in regelmäßigen Tests überprüft . U. a. gehört dazu bei der Absolvierung von vorgeschriebenen Standardprozeduren (v. a. Sicherheitschecks), das Verstehen von Äußerungen des Kollegen durch genaue Wiederholung des Gesagten zu be-stätigen. Eine sich an diesen Ziel orientierende Kommunikation stellt sich z. B. folgendermaßen dar13:

PF = pilot fl ying (m); PM = pilot monitoring (m)

01 PF: check lIst. (.) standa:rd (.)[02 PM: [stan[dard03 PF: [two:: seven04 PM: standard two seven.05 PF: aft er check out check list.[06 PM: [aft er check out check list.

Die Sequenz leitet die Überprüfung nach dem Start ein, die einem festgelegten Procedere folgt, hier als „standard two seven“ für den Flugzeugtyp Boeing 727. Pilot fl ying gibt vor und Pilot monitoring bestätigt dem Prinzip nach mit identi-schen Worten. Ein großer Teil der unmittelbar aufgabenbezogenen Kommunika-tion im Cockpit verläuft so, unterbrochen allerdings von Abstimmungen mit der Flugsicherung, dem Bodenpersonal oder auch der Airline.

Im obigen Beispiel leitet PF in Z. 1 die Prozedur mit der üblichen Formel „check list.“ ein und beginnt das Überprüfungs-Procedere in Z. 1 mit dem, aller-dings mit einer Verzögerung in der zweiten Silbe gesprochenen, Wort „standa:rd“, gefolgt von einer kurzen Pause („(.)“, Z. 1), bevor er (Z. 3) „two:: seven“ nach-schiebt. Die Formel „standard [+ Zahlenfolge]“ steht zu Beginn der Überprü-fungsprozedur; der Pilot fl ying benennt damit, nach welcher (vom „Muster“, also dem Flugzeugtyp, abhängigen) Standardprozedur die Überprüfung durchgeführt

13 Die Gesprächsmitschnitte entstammen Aufzeichnungen während eines Streckenerprobungs-fl uges, an dem einer der Autoren im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Arbeit von Piloten teilnehmen konnte. Es wurde 2007 aufgezeichnet. PF steht für Pilot fl ying (also denjenigen, der aktuell für die Bewegung des Flugzeuges verantwortlich zeichnet); PM für Pilot monitoring, also für denjenigen, der überwachende Tätigkeiten ausführt und den Funkverkehr führt.

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 105

wird. PM bestätigt, nach PFs Innehalten bereits den ersten Teil dieser Sequenz mit der Wiederholung des Wortes „standard“ (Z. 2) und folgt damit der grund-legenden Verhaltenssmaßregel, alle Einzeläußerungen des in der Situation ‚agie-renden‘ PF im Wortlaut zu wiederholen. Er stellt so zugleich klar, dass er um den an dieser Stelle einsetzenden Standardprozess weiß, aber auf die genaue Bezeich-nung durch den PF warten wird. Das in der gedehnten Aussprache „two::“ zum Ausdruck kommende nochmalige Zögern von PF in Z. 3 dokumentiert, dass PF sich erst noch konzentrieren muss, um den aktuellen Flugzeugtyp im Rahmen der Prozedur zu benennen.14

Die bestätigende Wiederholung „standard“ von PM in Z. 2 fungiert zugleich als Hörersignal, dass PM die (unvollständige) erste Sequenz registriert hat, und als Aufforderung an PF, entsprechend den vorgeschriebenen Routinen mit der Prozedur fortzufahren (in dem er benennt, nach welchem Standard die folgende Prozedur ablaufen wird). PF setzt in Z. 3, noch während PM seine Aufforderung (Z. 2) formuliert, den begonnenen Prozess der Bezeichnung des Flugzeugtyps fort; allerdings mit einem weiteren Zögern. Unmittelbar nach der vollständigen Bezeichnung durch PF bestätigt PM in Z. 4 die nun vollständige (standardisiert vorgegebene und insofern ‚erwartbare‘) Sequenz von PF. Die Mitteilung von PM „standard two seven.“ zeigt an, dass er PF (richtig) verstanden hat und fordert PF zugleich auf, die Prozedur fortzusetzen.

Dass PM bereits in Z. 2 auf die unvollständige Formel von PF in Z. 1 reagiert, ist auch der spezifi schen Situation der Besetzung von Cockpits geschuldet: Zwar durchlaufen alle Piloten einer Airline dieselben Ausbildungsgänge und werden auf ein bestimmtes, eben standardisiertes Verhalten eingeschworen und regelmä-ßig überprüft – zugleich fl iegen die Piloten in wechselnden Zusammensetzungen, so dass Piloten nicht über Routinen verfügen, wie der oder die jeweils andere die Vorschrift en in der Praxis im Detail umsetzt. Die Wiederholung von PM in Z. 2 ist damit als Teil der situativen Aushandlung der Kommunikation im Cock-pit zu werten: Beide Beteiligte wissen letzten Endes nur ungefähr, was kommen wird und wie der andere kommuniziert; sie sind trotz Routinen im Flugbetrieb Novizen in der aktuellen Situation der Zusammenarbeit. In den Zeilen 5 und 6 funktioniert dieser Prozess im wahrsten Sinne des Wortes buchstabengetreu nach Vorschrift .

14 Ob sich der Pilot an dieser Stelle sammeln muss, schlicht unkonzentriert ist oder sich nochmals gedanklich vergewissert, welchen Flugzeugtyp er fl iegt, kann dagegen mit konversationsanaly-tischen Methoden nicht beurteilt werden – ist aber in ihrer Analyseperspektive auch nicht von Interesse (vgl. Abschnitte 1 und 2) – vielmehr geht es darum, welche Ordnung sich durch diese Pause einstellt.

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Das kurze Beispiel zeigt, dass auch die hoch geregelte Kommunikation im Cockpit nicht ohne Friktionen verläuft und alle Trainings immer nur Annäherun-gen an einen Idealzustand darstellen können, die Piloten aber auf diesen Ideal-zustand optieren und sich in ihrer Kommunikation auf die Standardisierung be-ziehen, um den als sicherheitsrelevant angesehenen ‚human factor‘ gleichsam zu kanalisieren.

Dass die Kommunikation während der Arbeit ausschließlich arbeitsbezo-gene Th emen behandelt, ist weder in Call Centern noch im Cockpit Realität und dürfte auch in allen anderen Arbeitsbereichen allenfalls eine Wunschvorstellung der Verantwortlichen sein. Das folgende Beispiel verdeutlicht eine solche Abwei-chung; die Kommunikation spielte sich am Boden auf dem Weg zur Startposition ab und behandelt zunächst technische Besonderheiten:

PF = pilot fl ying (m); PM = pilot monitoring (m)

01 PF: die neunzig be: mit langsame spool ? oder sin die alle normal ?02 PM: die sind alle völlig meschugge eingestellt, also musste 03 gucken; ich hab kEIne ahnung, wie- (-) jetzt=hier=die=bahn=04 foxtrott- (.) was die fürn spool hat; keine ahnung. also ist05 nicht eins was fortläuft (4) sogar würd ich sagen (-) der 06 erste sollte kein neuling sein ((lacht leise))07 (5) 08 PF: ich hatte geplant schöne TRAUM machen, mit alex (.) auf der09 siebenhunderter[10 PM: [ja,[11 PF: [habe ich getauscht[12 PM: [ich hatte die13 siebenhunderter jetzt vor zwei oder drei tagen gehAbt (2,5)14 den ganzen tag mit wetterradar gekämpft , eis schon bei15 scoreline und so; echt geil. (3) aber es ist schon gut,16 also wenn fl ugfl äche vierhundertzehn bei gewittern (.)17 ist schon geil, wenn du da so hoch kommst, ist schon- (.)18 natürlich auch noch gemein. (4) wir sind eigentlich fertig,19 ne ?

Mit einer initialen Doppelfrage (Z. 1) nach den Eigenarten der Triebwerke des Flugzeuges, die eine verzögerte Annahme des Schubs (spool) betrifft , knüpft PF an die vermeintlichen Erfahrungen PMs an. Hintergrund ist der Umstand, dass

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 107

Piloten selten dieselbe Maschine fl iegen und daher Vergewisserung über das (je-weils divergierende) Start-, Flug- und Bremsverhalten der Maschine hilfreich sein können (auch wenn prinzipiell hinreichende individuelle Kompetenz vor-handen ist, die Maschinen in jedem zulässigen fl ugtauglichen Zustand zu fl iegen). Die zweite Frage von PM in Z. 1 impliziert die vage Hoff nung, dass es sich um eine normal eingestellte Maschine handelt (deren Bedienung keine besonderen Anforderungen stellt). Die Antwort PMs verdeutlicht, dass über die den Fragen zu Grunde liegenden Umstände nichts ausgesagt werden kann: Die angezeigten Einstellungen seien völlig ‚meschugge‘ und PF müsse sich selbst herantasten und sehen, wie er zurecht kommt – ‚also musste gucken‘ (Z. 2 f.). In Z. 3 f. unterbricht PM seine Ausführungen zum Spool der Maschine kurz, um PF darauf hinzuwei-sen, welche Rollbahn er anzusteuern hat („jetzt=hier=die=bahn=foxtrott“), um anschließend mit der Bewertung des Spools fortzufahren. Die Einschätzung „was die fürn spool hat; keine Ahnung“ (Z. 4) bezieht sich darauf, dass PM wie PF über keinerlei Erfahrung mit der konkreten Maschine im derzeitigen Wartungszustand hat, den Spool daher nicht genau beschreiben kann (und will); solche Spekula-tion widerspricht der Rationalität des Handelns in der Luft fahrt, die hoch for-malisiert nach objektiver Datenlage agiert. Mit der anschließenden Feststellung „also ist nicht eins was fortläuft “ (Z. 4 f.) gibt PM seinem Gesprächspartner aber eine Tendenz an: dass der Schub unregelmäßig hochfährt (was zugleich ein in der Luft fahrt bekanntes Problem darstellt). Durch den Nachschub „sogar würd ich sagen (-) der erste sollte kein neuling sein“ (Z. 5 f.) werden die technischen Vor-aussetzungen des Fluges als anfordernd klassifi ziert, das leise Lachen zum Schluss nimmt aber wiederum ein wenig die Schärfe aus der Aussage. Implizit erhebt PM mit dieser Äußerung, die „Neulingen“ Probleme beim Start vorhersagt, den von PF durchzuführenden Start der Maschine zu einer Bewährungsprobe für diesen – eine Bewährungsprobe, die zugleich Vertrauen in die fl iegerischen Kompetenzen umfasst.

Nach einer Gesprächspause wechselt PF in Z. 8 f. das Th ema, ohne auf die vorherige Antwort PMs einzugehen. Damit schließt er das off ene Th ema Spool ab, ohne dass ihm eine genauere Einschätzung des Triebwerkverhaltens möglich wäre. Der Th emenwechsel führt das Gespräch auf ein anderes Flugzeugmuster neuerer Bauart, das zu fl iegen für PF ein schönes Erlebnis darstellt. PM validiert in Zeile 10 durch seine zwischengeschobene Bestätigung („ja,“) die Relevanz des von PF angeschnittenen Th emas und signalisiert durch die aufsteigende Intona-tion zugleich eigenen Redebedarf, woraufhin PF mit der elliptischen Fortführung „habe ich getauscht“ (Z. 11) seine noch gar nicht recht begonnene Ausführung aus Z. 8 f. abschließt. Ohne an PFs Äußerungen anzuschließen, setzt sich PM in seiner

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nachfolgenden Erzählung (Z. 12 – 18) als mit dem thematisierten Flugzeugmuster Erfahrener in Szene und erläutert schwierige Flugverhältnisse, die er als positive Herausforderung erlebt hat. Nachdem PF seinerseits auf diese Erzählung nicht mit Nachfragen oder Anmerkungen reagiert, kehrt PM zur Kommunikation über die konkrete Arbeit zurück („wir sind eigentlich fertig, ne ?“, Z. 18 f.).

In beiden Teilsequenzen präsentiert sich PM als Führungspersönlichkeit in-nerhalb des Teams – er gibt Hinweise und Anweisungen, stellt die eigene Expertise heraus (man sollte kein Neuling sein, Z. 6) und verweist auf eigene Erfahrungen. Schließlich führt er das Gespräch wieder auf die engere Arbeitskommunikation zurück (Z. 18 f.) und schenkt dem Procedere Aufmerksamkeit, nachdem PF das Gespräch eher auf Randbereiche gelenkt hatte. Dies entspricht auch PMs Stellung als Ranghöherer, die aber generell in kollegialer Weise gelebt wird. Teil der Kolle-gialität ist es, nicht nur sklavisch auf die Arbeitsaufgaben zu orientieren, sondern im Gespräch zu versuchen, eine gemeinsame Verständigungsebene zu fi nden – zugleich aber eine Voraussetzung für Handeln in der Teamstruktur. Das Gespräch über Randthemen hat also seine begrenzte Berechtigung, muss aber konkreten Anforderungen der Arbeitssituation jeweils strikt untergeordnet werden; zur Un-termauerung dieser Th ese wären im fortschreitenden Verlauf der Untersuchung weitere Beispiele der Cockpit-Kommunikation heranzuziehen.

5 Erträge und Ergänzungsmöglichkeiten konversationsanalytischer Zugänge

Die Konversationsanalyse ist im Kern ein formalanalytisches Verfahren: Im Mit-telpunkt steht zunächst, wie Konversationen strukturiert sind und nicht, welche Inhalte behandelt werden. Sie folgt einer ‚Logik der Entdeckung‘ von sprachlichen Mustern bzw. Mechanismen. Analysiert werden dabei stets Konversationen glei-cher Art – seien es Videokonferenzen, militärische Lagebesprechungen, psycho-therapeutische Patientengespräche, telefonische Notrufe, Seminardiskussionen an der Uni oder Tischgespräche.

So arbeitet etwa Bergmann (1993) in seiner Untersuchung zu Feuerwehrnot-rufen sowohl deren kommunikative Verlaufsstruktur als auch in den Gesprächen wiederkehrende Mechanismen und Regelmäßigkeiten heraus: Ersteres erreicht er durch den vergleichenden Ausweis regelmäßig vorhandener Elemente und ihrer Reihenfolge (z. B. Begrüßung, Verabschiedung), die einen typischen Pha-senverlauf von Notrufen begründen (ohne dass jedes Element immer vorkom-men muss, was wiederum als Abweichung charakterisierbar wäre und ggf. auf

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 109

besondere Bedingungen verweist). Mechanismen und Regelmäßigkeiten identifi -ziert Bergmann im Sinne einer ‚Logik der Entdeckung‘ anhand von Auffälligkei-ten, an denen eine Arbeitshypothese angelegt wird, die anschließend systematisch anhand des gesamten Datenkorpus überprüft wird. Auch hier geht es also um die Entdeckung von Regelmäßigkeiten, deren Auftreten den besonderen Bedingun-gen der jeweiligen Gesprächsform bzw. -kontexte geschuldet sein kann.

Weitere Beispiele für den Ertrag von konversationsanalytischen Zugängen las-sen sich international in aller Fülle fi nden; nachstehend sei exemplarisch auf ei-nige Studien verwiesen.

In der Publikation „Fast food, fast talk“ beschreibt die amerikanische Sozio-login Robin Leidner (1993) interaktive Dienstleistungsarbeit (interactive service work) von der Schalter- oder Fensterbedienung im Schnellrestaurant über die kommunikativen Routinen von Flugbegleitern bis zum Versicherungsverkauf nach Skript. Die Organisation kommunikativer Tätigkeiten im Dienstleistungs-sektor erfolgt dabei über weite Strecken dem tayloristischen Vorbild der indus-triellen Rationalisierung manueller Arbeit. Deren Prinzipien bestehen u. a. darin, komplexe Tätigkeiten zu zerlegen, zeitbezogenen zu planen, entsprechende Ver-haltensmuster durch alltägliche Sozialisation, formale Instruktion und Training sowie Kontrollinstanzen bei reduzierten Entscheidungsspielräumen der Sub-jekte hervorzurufen sowie eine Automatisierung von Teiltätigkeiten und die An-bindung menschlicher Arbeitsroutinen an technische Systeme zu unternehmen. Entsprechende Konturen haben die Kommunikationsleistungen der Probanden angenommen. Handelt es sich bei den Gesprächen z. B. um Telefonate in Call Centern, werden oft zeitgleich die Kundendaten am Bildschirm aktualisiert. So werden Gespräch und elektronische Dokumentation im Sinne der Effi zienzstei-gerung und Koordination miteinander verklammert und insoweit ein Instrument der bürokratischen Herrschaft durch Organisation etabliert.

Das Beispiel des „London Ambulance Service fi asco“ (vgl. Heath / Luff 2000) vom Herbst 1992 dokumentiert die Folgen schematischer Kommunikationsvor-stellungen in konkreten Arbeitssituationen: Im Zuge einer Reorganisation im me-dizinischen Notfalldienst der britischen Metropole sollte die anachronistisch an-mutende Praxis, eingehende Notrufe zunächst handschrift lich auf Papierzetteln zu dokumentieren und dann via Funk mündlich an die Besatzungen der Fahr-zeuge weiterzugeben durch ein modernes, eigens entwickeltes computergestütz-tes System ersetzt werden. Auf diese Weise sollten wesentliche Angaben aus den Notrufen mit Standortinformationen der Krankenwagen automatisch verknüpft , Zeitpläne erstellt und Anweisungen übermittelt werden. Sofort stellten sich Pro-bleme ein: Das System verlangte nahezu perfekte Informationen zum Standort

110 Ingo Matuschek / Frank Kleemann

der Krankenwagen, die aber von den Besatzungen nicht geliefert werden konnten. Folge waren Fehleinsätze mit erheblichen Verzögerungen. Nur etwa 20 Prozent der Krankenwagen trafen im vorgegebenen Zeitkorridor am Notfallort ein. Die Probleme potenzierten sich, so dass schließlich eine Durchstellung bis zu zehn Minuten dauerte, Listen dringlicher Fälle vom Monitor verschwanden und in Ver-gessenheit gerieten – kurz: Das Personal verlor den Überblick. Am zweiten Tag etablierte man ein halb-manuelles Verfahren, am dritten Tag brach das System zusammen und man kehrte zunächst zu Telefongespräch, Papier und Bleistift zu-rück. In der Analyse des Falles bemängelten Experten, dass die nur ihrer eigenen Rationalität folgenden Verantwortlichen zu wenig beachtet hätten, wie die Be-schäft igten in der alltäglichen Kommunikation mit anderen ihre Arbeit faktisch vollzogen. Die anachronistisch erscheinenden Instrumente stellten funktionale Umgebungen für Dokumentations- und Koordinationsaufgaben dar – man hatte irrtümlich angenommen, dass formale Modelle und technische Systeme Verände-rungen der Arbeits- als Kommunikationsabläufe bewirkten; dabei hatte man den situierten, fl exiblen und kontingenten Charakter von Arbeitskommunikation zu wenig beachtet.

Formen rationalisierter Kommunikationsarbeit und ihre Folgen, wie die von Leidner bzw. Heath und Luff beschriebenen Fälle, werden in der anwendungs-orientierten Gesprächsforschung schon seit Längerem untersucht und hinsicht-lich ihrer Chancen und Risiken ausführlich diskutiert (etwa bei Antos 1988; Brünner 2000; Cameron 2000; Habscheid 2003). Dabei dominiert der Blick auf interaktive Dienstleistungen, es liegen aber auch Untersuchungen etwa zu Not-falltelefonaten (Bergmann 1993) oder zur Cockpitkommunikation unter Piloten bzw. zwischen Piloten und den Einrichtungen der Flugsicherung (Bergmann et al. 2008) vor. Hier wie dort gilt, dass vorfabrizierte Schemata und Formulierungs-bausteine die Kommunikation von den Fähigkeiten und Entscheidungen des ein-zelnen Mitarbeiters unabhängig machen und als kognitive Stütze Abschweifungen und Vergessen vermeiden helfen (Brünner 2000) bzw. gewisse Mindeststandards an Höflichkeit und konsistenter Außendarstellung gewährleisten.

Christoph Meiers (1998, 1999) Untersuchung von Videokonferenzen steht für die in den letzten Jahren zunehmende Tendenz, auch visuelle Daten in die Kon-versationsanalyse einzubeziehen. Meier untersucht die Auswirkungen der audio-visuellen technischen Vermittlung auf den Ablauf und die Interaktionsdynamik von Arbeitsbesprechungen. Ein zentraler Befund ist, dass die Sitzposition vor der Kamera darüber mitentscheidet, in welchem Maße man in einer Videokonferenz Gehör fi ndet: Durch die Ausrichtung der Teilnehmer schauten die vorne Sitzen-den – diese Plätze nahmen jeweils quasi naturwüchsig die ranghöchsten Beteilig-

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 111

ten ein – jeweils zur Kamera hin, achteten jedoch nicht auf hinten Platzierte. Auch wurden Erstere aufgrund des Weitwinkelfokus der Kamera größer und deutlicher dargestellt und ihre Äußerungen lauter und deutlicher übertragen. Videotech-nisch vermittelte Kommunikation führt also im Vergleich zu Besprechungen, die face to face in einem Raum stattfi nden, zu einer stärkeren Hierarchisierung des Austauschs und der Entscheidungsfi ndung.

Das Beispiel der Call-Center-Gespräche (s. o. Abschn. 3) verdeutlicht, dass ar-beitsorganisatorische Rahmungen Gespräche strukturieren, mitarbeiter- wie kun-denseitige Beiträge zur Kommunikation aber innerhalb dieses Rahmens gleicher-maßen in ihren jeweiligen Facetten zu berücksichtigen sind. In vergleichenden Analysen sind ohne Weiteres die Kommunikation strukturierenden Faktoren zu identifi zieren; Leitfäden und individuelle Abweichungen davon sind als Ergebnis organisierter Individualität decodierbar. Ähnliche Phänomene lassen sich auch in den kursorisch dargestellten weiteren Arbeitsfeldern feststellen und zeigen damit Varianzen der Kommunikationsarbeit bzw. Arbeitskommunikation auf.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob allein dieser konversationsanalytische Zugang zur in der Gesprächssituation hervorgebrachten sozialen Ordnung hin-reichend ist. Auf dieser Grundlage sind Rückschlüsse auf arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen sicher möglich; der Zugang dazu bleibt aber in der Ver-pfl ichtung auf die paradigmatische Leitfrage der Konversationsanalyse notwendi-ger Weise in einer formalanalytischen Perspektive verfangen. In gewisser Weise werden die agierenden Personen als Träger von spezifi schen sozialen rsp. betrieb-lichen / organisationalen Prägungen nur insoweit wahrgenommen, wie diese Hin-tergründe in ihrem kommunikativen Handeln unmittelbar zum Ausdruck kom-men. Tiefer liegende soziale Prägungen und die Hintergründe ihres Verhaltens gelangen kaum in den Blick, spielen aber in der Regel eine große Rolle.

Der konversationsanalytische Zugang bedarf in dieser Hinsicht einer Erweite-rung, die über die bloße Aufnahme von Kontextinformationen hinausgeht. Multi-methodische Fallstudien (vgl. etwa Wolff / Müller 1997; s. dazu auch Kleemann et al. 2009: 57 – 59) scheinen besonders geeignet, jenseits einer Befolgung formeller Leitlinien die alltagspraktische Realisierung von Kommunikation in der Arbeit zu analysieren. So werden Lücken vordergründig klarer Anweisungen erkennbar, die die Arbeitenden im Gespräch selbst schließen, oder es geraten Kontrollstruktu-ren als wichtiger Faktor in den Blick: Wie Kontrolle geschieht, welche Sanktionen ausgesprochen werden, wie Kontrolle die Unternehmenskultur sowie die Motiva-tion beeinfl usst und welche Auswirkungen dies auf die Kommunikationsarbeit hat (vgl. für Call Center: Matuschek et al. 2007), sind der Etablierung einer sozialen Ordnung im Gespräch vorgängige Strukturen. Diese entziehen sich gewöhnlich

112 Ingo Matuschek / Frank Kleemann

dem unmittelbaren konversationsanalytischen Zugriff . Daher sind weitere kom-plementäre methodische Zugänge (Beobachtungen / Interviews) sinnvoll, um sol-che vorgelagerten Ordnungen genauer zu erfassen. Die analytische Tiefenschärfe wird noch gesteigert, wenn es in subjektorientierter Perspektive gelingt, Orientie-rungen und Motivationen der Beteiligten zu erhellen. Das umfasst nicht nur die Kommunikation an sich, sondern auch die Wahrnehmung der Arbeitssituation. Mittels Narrationen generierender Interviews kann es gelingen, Umformungen betrieblicher Vorgaben als einerseits der individuellen Befi ndlichkeit zuträgliche, andererseits die Nachhaltigkeit unternehmerischen Handelns betonende Grund-haltung zu identifi zieren (ebd.). Das zeigt zum einen die Begrenztheit von struk-turierenden Vorgaben. Zum anderen wird damit die unmittelbare Beziehung der am Gespräch Beteiligten zueinander, aber auch zur Organisation in einem Drei-ecksgebilde zusammenfasst. Dieses verschweißt unterschiedliche Interessen (und Machtpositionen) in der Kommunikationssituation zu einer temporären Kon-stellation, die in jeweils dyadischer Beziehung (z. B. Kunde-Agent, Agent-Unter-nehmen, Unternehmen-Kunde, vgl. dazu Gutek 1995) zueinander auf den Erhalt der Gesamtkonstellation zielt. Wünschenswerter Weise wären alle Beteiligten zu interviewen, um dieser Konstellation nicht nur konversationsanalytisch näher zu kommen.

Methodisch plädiert der vorliegende Beitrag also dafür, konversationsanaly-tisch gewonnene Erkenntnisse sowohl als (Teil-)Grundlage der Analyse wie auch als Ergänzung der mittels Interview- und Beobachtungstechniken gewonnenen Daten und als eine kontrollierende Spiegelung von (subjektiven) Darstellungen der Interviewten durch dokumentierte Sprachperformanz zu begreifen. Die so entstehende Methodenkombination verheißt nun allerdings nicht per se einen universalen triangulativen Königsweg, sondern stellt eine dem Forschungsgegen-stand Kommunikationsanalyse angemessene Methodenwahl dar.

Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit 113

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Anhang: Verwendete Transkriptionssymbole

A: oder [etwa nicht ?B: [ja, stimmt. Simultanphase: Sprecher A und B reden ab dem „Klammer“-Zeichen

parallel(.) kurze Pause, Stockung (-), (--) längere Pausen (unter einer Sekunde) (2.5) Pause mit Zeitangabe (hier: 2,5 Sekunden) mein Brud/ Abbruch eines Wortes mAchen Betonung (= einzelne Vokale werden akzentuiert)NA MACH SCHON Emphaseintonation (= ganzes Wort wird lauter und höher ausgespro-

chen)ne:t Lautlängung dann=doch schneller Anschluss ja ? Tonhöhenbewegung: stark steigend so, Tonhöhenbewegung: mittel steigendwolln– Tonhöhenbewegung: gleichbleibend

116 Ingo Matuschek / Frank Kleemann

passiern; Tonhöhenbewegung: mittel fallend sonst nicht. Tonhöhenbewegung: tief fallend (&&&) Wortlaut unverständlich (dummes) Wortlaut unsicher .hhh hörbares Ein- oder Ausatmen ((stöhnt)) Handlungs- und Verhaltensbeschreibungen <p>das stimmt> Angaben zur Prosodie (gültig jeweils für die Textpassage innerhalb der

Klammer): p: leise f: laut t: tief h: hoch all: schnell len: langsam cresc: lauter werdend dim: leiser werdend acc: schneller werdend rall: langsamer werdend (Auslassung 4 Sek.) Ausblendung auf der Audioaufzeichnung (z. B. zur Wahrung der An-

onymität einer Person, die namentlich genannt wird) mit Angabe der Dauer in Sekunden

Adam Bauer Anonymisierung personenbezogener Angaben in Kapitälchen

Teil IIRekonstruktive Auswertungsverfahren

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und HabitusElementare Kategorien der Dokumentarischen Methode mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung

Ralf Bohnsack

Die Dokumentarische Methode und ihre metatheoretischen Kategorien, wie u. a. diejenigen des Orientierungsschemas und Orientierungsrahmens und deren Oberbegriff des Orientierungsmusters, haben ihren Anfang in der Rekonstruk-tion von Bildungsprozessen in der Adoleszenzentwicklung genommen. Zum einen konnten elementare Diff erenzen der Bildungsmilieus von GymnasiastInnen und Auszubildenden herausgearbeitet werden. Diese Diff erenzen betreff en insbe-sondere Unterschiede in der zeitlichen Struktur der Orientierungsmuster. Zum anderen konnten wir bei den Auszubildenden Stadien bzw. Phasen von Bildungs-prozessen in der Adoleszenzentwicklung und die damit verbundene spezifi sche Orientierungsstruktur identifi zieren. In meinen späteren Ausführungen – in Ab-schnitt 4 – werde ich hierauf genauer eingehen.

Zunächst – in den Abschnitten 1, 2 u. 3 – möchte ich elementare grundbegriff -liche Klärungen anbieten und zu dem Zwecke die zentralen Kategorien innerhalb theoretischer Traditionen verorten. Dabei wird es insbesondere darum gehen, die in der habitualisierten Handlungspraxis, im habituellen Handeln, implizierten und diese Praxis orientierenden Muster (Orientierungsrahmen und Habitus) zu un-terscheiden von den Mustern, wie sie als (kontrafaktische) Erwartungen im Sinne von Normen und als zweckrationale Modelle der (theoretischen) Verständigung über diese Praxis unsere Kommunikation orientieren (Orientierungsschema)1. Nach einer Rekonstruktion der Diff erenzen zwischen den beiden kategorial un-terschiedlichen Bildungsmilieus der Auszubildenden und GymnasiastInnen in Abschnitt 4 werde ich in Abschnitt 5 eine weitere handlungstheoretische Katego-rie einführen: diejenige des Aktionismus. Aktionismen sind weder dem habituel-

1 Siehe zu den Begriff en Orientierungsmuster, Orientierungsrahmen, Orientierungsschema und Habitus auch Bohnsack 1998 sowie 2010d.

120 Ralf Bohnsack

len Handeln noch dem zweckrationalen Handeln zuzuordnen und somit weder in den Kategorien des Orientierungsrahmens noch des Orientierungsschemas zu fassen.

Schließlich werde ich in Abschnitt 6 auf die Bedeutung dieser Kategorien für die Bild- und Videointerpretation eingehen. Um den lediglich visuell zugäng-lichen inkorporierten Bewegungen gerecht zu werden, müssen weitere (hand-lungs-)theoretische Begriff e eingeführt werden: diejenigen der Gebärde sowie der operativen und der institutionalisierten Handlung, um dann deren Beziehung zu den Kategorien Orientierungsrahmen und Orientierungsschema zu klären.

1 Grundkategorien der empirischen Rekonstruktion sozialen Handelns und ihre Begründung in unterschiedlichen Theorietraditionen und Paradigmata

Die Dokumentarische Methode zeichnet sich durch eine methodologisch be-gründete und die empirische Forschung fundierende Hinwendung zur Praxis sozialen Handelns aus. In dieser praxeologischen Ausrichtung knüpft die Doku-mentarische Methode in ihrem heutigen Verständnis an drei methodologisch-theoretische Zugänge an. Zum einen hat die Ethnomethodologie bahnbrechende Arbeiten vorgelegt, die uns den Zugang zu den Praktiken des Alltags, den „artful practices“ of „everyday life“ (Garfi nkel 1967: vii) hinsichtlich ihrer Geordnetheit und ihres kunstvollen Charakters eröff net. Dieser Weg führt uns allerdings eher zu den formalen Strukturen alltäglicher Verständigung. Der andere Weg ist der-jenige der praxeologischen Kultursoziologie von Bourdieu mit seiner Konzeption des Habitus. Den dritten Zugang fi nden wir in der Wissenssoziologie Karl Mann-heims, welche ich auch als praxeologische Wissenssoziologie bezeichne und die uns die methodologisch-theoretischen Grundlagen bietet, um die anderen beiden Zu-gänge integrieren und weiter entfalten zu können.

Im Sinne dieser drei Traditionen und insbesondere derjenigen in der Nach-folge von Bourdieu und Mannheim führt der Weg zur Praxis des Handelns über das diese Praxis orientierende – implizite oder inkorporierte – Wissen. Dessen theoretische und methodologische Präzisierung gelingt nur, wenn wir diese Di-mension des atheoretischen Wissens, wie Mannheim (1964: 98) es auch nennt, zu unterscheiden vermögen von jener anderen Dimension des Wissens, welche als explizites Wissen uns vor allem in Form der Th eorien der Erforschten über ihr ei-genes Handeln, über ihre eigene Praxis begegnet. Es handelt sich also um die Di-mension der Alltagstheorien, der Common Sense-Th eorien.

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 121

Es gilt also, die Rekonstruktion dieser Praxis des Handelns und des hand-lungsleitenden Wissens von der Rekonstruktion der Th eorien systematisch zu unterscheiden, welche die Akteure selbst über diese Praxis entfalten.

Insbesondere im Bereich des sog. interpretativen Paradigmas und hier vor allem in den Entwicklungen in der Tradition der Sozialphänomenologie von Al-fred Schütz sind zwar die Architektur resp. die Logik der Verständigung über die Praxis, also Th eoriebildungen des Common Sense, in überzeugender Weise rekon-struiert worden, ohne aber die Praxis des Handelns und das handlungsleitende Wissen mit der ihm eigentümlichen Logik systematisch davon unterscheiden zu können.

Im Anschluss an Max Weber (1964) hat Alfred Schütz (1971 u. 1974) den sub-jektiv gemeinten Sinn als Grundbaustein der Handlungstheorie genommen und ihn als den das Handeln orientierenden Entwurf verstanden. Er hat diesen Ent-wurf auch als Motiv, genauer: als Um-zu-Motiv, bezeichnet. Er erläutert den Cha-rakter dieser Entwürfe am Beispiel des Postbeamten: „Ich halte es für selbstver-ständlich, dass mein Handeln (sagen wir, das Einwerfen eines frankierten und richtig adressierten Briefes in einen Postkasten) anonyme Mitmenschen (Post-beamte) veranlassen wird, typische Handlungen auszuführen (die Post zu beför-dern), und zwar in Übereinstimmung mit typischen Um-zu-Motiven (um ihre be-ruflichen Pfl ichten zu erfüllen)“ (Schütz 1971: 29). Derartige Um-zu-Motive und Entwürfe sind wesentliche Komponenten von Orientierungsschemata.

Das Modell des Handelns und der Handlungsorientierung, wie es von Alfred Schütz entworfen worden ist und auf der Konstruktion des subjektiv gemeinten Sinns basiert, stellt nicht nur eine adäquate Rekonstruktion der Th eoriekonstruk-tionen des Common Sense dar, sondern auch der Architektur des institutiona-lisierten und rollenförmigen Handelns. Oder anders formuliert, das Modell der Handlungsorientierung, wie es von Schütz entworfen worden ist, erscheint zwar dort adäquat, wo Gegenstand der Th eoriebildungen das institutionalisierte und rollenförmige Handeln ist. Die Handlungspraxis unterhalb und jenseits von Rollen beziehungen entzieht sich jedoch diesem Modell. Alfred Schütz (1971: 30) selbst hat die Grenzen dieses Modells deutlich gesehen: „Es gibt eine gewisse Chance (…), dass der Beobachter im Alltag den subjektiv gemeinten Sinn der Handlung des Handelnden erfassen kann. Diese Chance wächst mit dem Grad der Anonymisierung des beobachteten Handelns“, also mit dem Grad seiner In-stitutionalisierung und Rollenförmigkeit. In der Nachfolge von Schütz werden die Grenzen dieses auf der Basis des subjektiv gemeinten Sinns orientierten Modells der Th eoriebildung des Common Sense allerdings zumeist nicht klar gesehen.

122 Ralf Bohnsack

Demgegenüber hat Karl Mannheim jene Ebene des Wissens, wie sie für das institutionalisierte und rollenförmige Handeln konstitutiv ist, als diejenige des „kommunikativen“ Wissens und Denkens (Mannheim 1980: 289 ff.) gefasst und von derjenigen des „konjunktiven“ Wissens (ebd.: 217 ff.) unterschieden. Diejeni-gen, die über Gemeinsamkeiten des atheoretischen handlungsleitenden Erfah-rungswissens und somit über Gemeinsamkeiten des Habitus verfügen, sind durch eine fundamentale Sozialität, durch eine „konjunktive“ Erfahrung miteinander verbunden. Innerhalb derartiger „konjunktiver Erfahrungsräume“ (ebd.: 220) kommt es zu einem unmittelbaren „Verstehen“ (ebd.: 272), welches wir von der kommunikativen Verständigung unterscheiden können. Letztere sichert – auf der Ebene gesellschaft licher Institutionen – die Verständigung über die Grenzen kon-junktiver Erfahrungsräume hinweg im Modus der „Interpretation“ (ebd.: 271 ff.).

Kommunikative Verständigung und Orientierung beruhen auf Interpreta-tionen im Sinne des typisierenden Erfassens von Um-zu-Motiven auf der Basis einer „Reziprozität der Perspektiven“, also einer wechselseitigen Perspektiven-übernahme. Voraussetzung dafür ist u. a. die „Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme“ (Schütz 1971: 12 f.), also die idealisierende Unterstellung, dass es möglich sein wird, eine Kongruenz herzustellen zwischen dem ‚Orientierungs-schema‘ des Handelnden und dem ‚Analyseschema‘ des ihn interpretierenden

„Mitmenschen“ (Schütz 1971: 216). Kommunikative Verständigung erscheint in diesem Verständnis der Sozialphänomenologie als ein prekärer Prozess. In der Ethnomethodologie wurde dieser prekäre Charakter besonders deutlich her-ausgearbeitet, indem Harold Garfi nkel (1961: 205) von „pretence of agreement“ spricht, also pointiert übersetzt von einer „Vortäuschung von Übereinstimmung“. Der Unterschied zu einem unmittelbaren Verstehen, einer konjunktiven Verstän-digung also, wird hier besonders evident.

Beide Dimensionen des Wissens – die konjunktive wie die kommunikati ve – orientieren das Handeln bzw. die Verständigung über das Handeln auf unter-schiedliche Art und Weise. Im Falle des konjunktiven Wissens sprechen wir von Orientierungsrahmen und im Fall des kommunikativen Wissens von Orientie-rungsschema. In der alltäglichen Verständigung, in der Alltagskommunikation und -sprache und in den dort verwendeten Begriff lichkeiten sind beide Bedeu-tungsdimensionen – die kommunikative wie die konjunktive – impliziert, so dass „dadurch als Ergebnis faktisch eine Doppeltheit der Verhaltensweisen in jedem einzelnen, sowohl gegenüber Begriff en als auch Realitäten“ entsteht (Mannheim 1980: 296). Wenn ich bspw. von meiner „Familie“ spreche, so verweist dieser Be-griff als „Allgemeinbegriff “ (Mannheim 1980: 220), also in seiner kommunika-tiven Bedeutung, auf institutionalisierte Rollenerwartungen und die damit ver-

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 123

bundenen Orientierungsschemata. Zugleich verweist der Begriff Familie auf den konjunktiven Erfahrungsraum derjenigen, die Gemeinsamkeiten einer konkreten familialen Praxis und somit einen Orientierungsrahmen miteinander teilen.

2 Orientierungsschemata, kommunikatives Wissen und die Konstruktionsprinzipien von Common Sense-Theorien

Das Modell der kommunikativen Verständigung, wie es in der Sozialphänomeno-logie von Alfred Schütz in fundierter Weise ausgearbeitet worden ist, zeichnet sich durch folgende kritische Eigenschaft en und Grenzen aus:

■ Die Konstruktion von Th eorien des Common Sense operiert auf der Basis der Unterstellung von Orientierungsschemata und Um-zu-Motiven, also von In-tentionen, von subjektiven Entwürfen. Aus methodisch-methodologischer Perspektive muss geltend gemacht werden, dass die subjektiven Intentionen und Entwürfe von den Interpretierenden nicht beobachtet, sondern lediglich attribuiert werden können. Diese fehlende empirische Basis ist, wie bereits an-gesprochen, nur dort unproblematisch, wo wir es mit institutionalisierten und rollenförmigen Verhaltensweisen zu tun haben.

Dort, wo dies nicht der Fall ist, bleiben der Interpret oder die Interpretin auf Introspektion angewiesen. Bourdieu (1976: 153) zufolge begibt sich eine derartige Deutung, „verfügt sie über kein weiteres Hilfsmittel als die (…) ‚in-tentionale Einfühlung in den Anderen‘, in die Gefahr, nur eine besonders mus-terhaft e Form des Ethnozentrismus abzugeben“. In diesen Fällen gibt diese Art der Konstruktion von Motiven und Orientierungsschemata uns eher Auf-schlüsse über das Relevanzsystem des Interpreten als über die Relevanzen der Erforschten. Diese konstruktivistische Kritik ist auch von Seiten der Ethno-methodologie vorgebracht worden (siehe McHugh 1970 sowie Bohnsack 1983: Kap. 2).

■ Eine weitere kritische Eigenschaft der Konstruktion von Th eorien des Com-mon Sense auf der Basis der Unterstellung von Orientierungsschemata oder Um-zu-Motiven ist darin zu sehen, dass der wissenschaft liche Beobachter im Sinne von Schütz (1971: 50) sich den Zugang zum subjektiv gemeinten Sinn derart methodisch sichern muss, dass er sich an der „Modellkonstruktion von rationalen Handlungsmustern“ orientiert. Es handelt sich dabei um das zweckrationale Modell, welches auch der Architektur von Common Sense-Th eorien zugrunde liegt.

124 Ralf Bohnsack

Das Handeln wird als ein Bewirken jener Wirkungen verstanden, auf die mit dem Zweck Bezug genommen wird, wobei – wie Luhmann (1973: 44) ge-zeigt hat – selektiv jene Wirkungen im Zuge der Rekonstruktion des Handelns herausgegriff en werden, die im Dienste der Legitimation des Handelns stehen. Die Attribuierung von Motiven im Sinne zweckrationaler Um-zu-Motive jen-seits des rollenförmigen, institutionalisierten Handelns ist in ihrer Selektivi-tät damit in hohem Maße abhängig von den legitimatorischen Erfordernissen der Konstrukteure und von deren Defi nitionsmacht (genauer dazu: Bohnsack 1983: Kap. 2).

■ In der Trennung von Handlungs-Entwurf (Um-zu-Motiv), also dem Orien-tierungsschema, einerseits und dem Vollzug bzw. der Enaktierung einer an diesem Entwurf orientierten Handlung andererseits, ist eine Trennung von Erkenntnis und Handlung, von Geist und Körper sozusagen, impliziert, bei der die Erkenntnis dem Handeln vorgeordnet ist.

■ Im engen Zusammenhang mit dieser Trennung von Handlungs-Entwurf und Handlung und der Bindung der Th eoriebildungen des Common Sense an das Modell der Zweckrationalität ist – als eine weitere kritische Eigenschaft – die Bindung an die deduktive Logik zu sehen: Das Handeln ist in der Weise durch den Entwurf motiviert, dass es in seinen einzelnen Schritten aus diesem Ent-wurf deduktiv abgeleitet wird. So wie sich das Handeln aus dem Entwurf ab-leitet, so ist dieser wiederum aus einem übergreifenden Entwurf deduziert.

Dieses Modell der Handlungsorientierung auf der Grundlage der Konstruktion von Orientierungsschemata stellt also eine adäquate Rekonstruktion einerseits des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns dar und andererseits der Th eoriekonstruktionen des Common Sense mit ihren legitimatorischen Funktio-nen. Deren Architektur kann in der phänomenologischen Soziologie und den qualitativen Methoden in dieser Tradition genauestens rekonstruiert, allerdings nicht transzendiert werden. Somit gerät die in der Sozialphänomenologie fun-dierte Th eoriebildung in Probleme, wenn es darum geht, diese eigene wissen-schaft liche Th eoriebildung von den Th eorien des Common Sense zu unterschei-den (dazu genauer: Bohnsack 2001, 2006, 2010b und 2010c).

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 125

3 Orientierungsrahmen, atheoretisches und konjunktives Wissen

Im Unterschied zu jenen Analysen, die – in der Tradition der Sozialphänomeno-logie – allein auf die Rekonstruktion der Orientierungsschemata und des kommu-nikativen Wissens als eines theoretischen Wissens gerichtet sind, hat Karl Mann-heim den Charakter des handlungspraktischen oder handlungsleitenden Wissens als eines atheoretischen Wissens herausgearbeitet. Er hat dies bekanntlich am Beispiel der Herstellung eines Knotens erläutert. Das handlungsleitende Wissen, welches mir ermöglicht, einen Knoten zu knüpfen, ist ein atheoretisches Wissen. Diese Handlungspraxis vollzieht sich intuitiv und vorrefl exiv. Das, was ein Knoten ist, verstehe ich, indem ich mir jenen Bewegungsablauf (von Fingerfertigkeiten) einschließlich der motorischen Empfi ndungen vergegenwärtige, „als dessen ‚Re-sultat‘ der Knoten vor uns liegt“ (Mannheim 1980: 73). Im Sinne von Heidegger (1986: 67) geht es hier um das auf der existenziellen Ebene angesiedelte „hantie-rende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ‚Erkenntnis‘ hat“, die sich vom „theoretischen Welt-Erkennen“ erheblich unterscheidet.

Es erscheint ausgesprochen kompliziert, wenn nicht sogar unmöglich, diesen Herstellungsprozess, das genetische Prinzip also, in adäquater Weise begriff lich-theoretisch zu explizieren. Wesentlich unkomplizierter ist es, den Knoten auf dem Wege der Abbildung, also der bildlichen Demonstration des Herstellungsprozesses, zu vermitteln. Das Bild erscheint also in besonderer Weise geeignet für eine Ver-ständigung im Medium des atheoretischen oder impliziten Wissens.

3.1 Atheoretisches, implizites und inkorporiertes Wissen

Solange und soweit ich mir im Prozess des Knüpfens eines Knotens dessen Her-stellungsprozess, also die Bewegungsabläufe des Knüpfens, bildhaft – d. h. in Form von materialen (äußeren) oder mentalen (inneren) Bildern – vergegenwärtigen muss, um in der Habitualisierung der Praxis erfolgreich zu sein, habe ich den Prozess des Knüpfens eines Knotens allerdings noch nicht vollständig inkorporiert und automatisiert. Der modus operandi ist im Falle der bildhaft en, der imagi-nativen Vergegenwärtigung das Produkt impliziter Wissensbestände und menta-ler Bilder, welche wir als Orientierungsrahmen bezeichnen. In diesem Falle führt die empirische Analyse über die empirische Rekonstruktion von metaphorischen Darstellungen, von Erzählungen und Beschreibungen der Handlungspraktiken durch die Akteure, also über die Rekonstruktion ihrer eigenen mentalen Bilder.

126 Ralf Bohnsack

Der modus operandi kann aber auch das Produkt inkorporierter – gleichsam automatisierter – Praktiken sein. In diesem Falle ist der Orientierungsrahmen auf dem Wege der direkten Beobachtung der Performanz von Interaktionen und Gesprächen und in der Vergegenwärtigung von körperlichen Gebärden im Me-dium materialer Bilder, wie u. a. Fotografi en, in methodisch kontrollierter Weise zugänglich (dazu: Abschnitt 3 sowie Bohnsack 2011). Das atheoretische Wissen und der darin fundierte Orientierungsrahmen umfassen also sowohl das inkor-porierte Wissen, welches in Form materialer (Ab-)Bilder empirisch-methodisch in valider Weise zugänglich ist, wie auch das implizite oder metaphorische Wissen im Medium des Textes, für welches mentale Bilder, also Metaphern, von zentraler Bedeutung sind.

Im Sinne von Gregory und Mary Bateson ist die Metaphorik „das Haupt-charakteristikum und der organisierende Leim dieser Welt geistiger Prozesse“, und das ihr zugrunde liegende logische Prinzip ist die „Homologie“ (Bateson / Bateson 1993: 50). Das „Denken in Homologien“ ist nach Mannheim (1964: 121) „etwas Eigentümliches, das (…) nicht mit bloßer Abstraktion gemeinsamer Merkmale verwechselt werden darf “. Beeinfl usst durch Mannheim haben Erwin Panofsky (1975: 48), der hier von „synthetischer Intuition“ und in seiner Tradition wieder um Pierre Bourdieu, der von der „vernunft getragenen Intuition“ spricht, umfassende empirische Analysen im Sinne einer Rekonstruktion des Habitus vorgelegt.

Zwar verwenden wir den Begriff des Orientierungsrahmens in vieler Hinsicht synonym mit demjenigen des Habitus. Allerdings kommt dem Orientierungs-rahmen insofern eine etwas andere und in dieser Hinsicht weiter greifende Be-deutung zu, als er sowohl den Bezug zu den fundamentalen Kategorien der Wis-senssoziologie Mannheims (u. a. dem konjunktiven Erfahrungsraum) herstellt, als auch zu den Kategorien der Sozialphänomenologie (Um-zu-Motive und in-stitutionalisierte Verhaltenserwartungen), der Ethnomethodologie (Indexikalität und der prekäre Charakter alltäglicher Verständigung) und partiell der Chicagoer Schule (soziale und persönliche Identität). Die Kategorien, die in den genannten Traditionen entwickelt worden sind, wie sie auch unter dem Begriff des interpreta-tiven Paradigmas zusammengefasst werden, bezeichnen wir mit dem Oberbegriff der Orientierungsschemata. Der Begriff des Orientierungsrahmens als zentraler Begriff der praxeologischen Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode erweitert somit den Habitusbegriff um den – der empirischen Analyse zugäng-lichen – Aspekt, dass und wie der Habitus sich in der Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata, also u. a. den normativen Anforderungen und denje-nigen der Fremd- und Selbstidentifzierung, immer wieder reproduziert und kon-turiert.

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 127

Darüber hinaus erscheint der Begriff des Habitus (im Unterschied zu demje-nigen des Orientierungsrahmens) insbesondere dort angebracht, wo wir es nicht mit jener Variante des atheoretischen Wissens zu tun haben, welche als implizites Wissen u. a. in Form mentaler Bilder unser Handeln orientiert, sondern – wie dies auch der Defi nition von Bourdieu entspricht – dort, wo wir es mit einem atheore-tischen Wissen zu tun haben, welches (vollständig) inkorporiert ist.

Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten des atheoretischen handlungsleiten-den Erfahrungswissens verfügen – sei dieses nun inkorporiert oder implizit ge-geben – sind, wie bereits angesprochen, durch eine fundamentale Sozialität mit-einander verbunden, die wir im Sinne von Mannheim (1980) als „konjunktive“ Erfahrung bezeichnen. Auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten der Erlebnis-schichtung konstituieren sich konjunktive Erfahrungsräume. Dies sind nicht nur reale Gruppen, sondern auch – und hier liegt die eigentliche Bedeutung dieser Kategorie – Zugehörigkeiten und Zusammengehörigkeiten jenseits persönlicher Bekanntschaft und direkter Interaktion, wie u. a. Milieus, Generationszusammen-hänge und geschlechtsspezifi sche Erfahrungsräume.

3.2 Der methodische Zugang zum Orientierungsrahmen, konjunktiven Erfahrungsraum und habituellen Handeln: Kontextuierung und hermeneutischer Zirkel

In den Unterschieden zwischen jenen Analysen, die – in der Tradition der So-zialphänomenologie – allein auf die Rekonstruktion der Orientierungsschemata und des kommunikativen Wissens gerichtet sind, einerseits und jenen Analysen, die auf die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen und des konjunktiven Wis-sens zielen, andererseits, zeigt sich die Paradigmenabhängigkeit sozialwissen-schaft licher Handlungstheorien. Vom Standpunkt der praxeologischen Wissens-soziologie bzw. der Dokumentarischen Methode lassen sich diese beiden Aspekte oder Paradigmata integrieren, indem sie als unterschiedliche Ebenen des Falles Bedeutung gewinnen. Ihr Verhältnis ist zum einen dasjenige der Eigentheorien der Erforschten versus den Th eorien der Forschenden. Zum anderen ist dieses Verhältnis dasjenige von Norm versus Habitus, von Regelbefolgung versus Regel-haft igkeit des Handelns. Wie wir am Beispiel des Begriff es „Familie“ gesehen haben, verweist dieser Begriff einerseits auf die normative Dimension, diejenige der Rollenbeziehungen von Mutter, Vater und Kindern und des institutionalisier-ten familialen Lebenszyklus mit ihren Orientierungsschemata, und andererseits auf den je eigentümlichen Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang der spezifi -

128 Ralf Bohnsack

schen Familie mit ihrer einzigartigen Familienbiografi e, also auf deren je fallspezi-fi schen konjunktiven Erfahrungszusammenhang und Orientierungsrahmen. Dar-über hin aus formieren sich aber Gleichartigkeiten von Familienbiografi en und ihren Bedingungen des Aufwachsens auch zu fallübergreifenden, zu milieuspezifi -schen konjunktiven Erfahrungsräumen und Orientierungsrahmen.

In der empirischen Forschungspraxis im Sinne der Dokumentarischen Me-thode gehen wir mit den Auswertungsschritten der formulierenden und der re-fl ektierenden Interpretation2 durch die Rekonstruktion der expliziten Wissens-bestände der Erforschten und deren Orientierung an der Norm, also durch die Rekonstruktion der Orientierungsschemata und der Common Sense-Th eorien, hindurch, um dann zur Rekonstruktion der Praxis bzw. des die Praxis orientie-renden atheoretischen Wissens und des darin implizierten Orientierungsrahmens fortzuschreiten. Die Orientierungsschemata gewinnen immer nur vermittelt über das handlungsleitende atheoretische Wissen, also innerhalb des Orientierungs-rahmens, ihre handlungspraktische Relevanz und somit ihren spezifi schen Wirk-lichkeitscharakter.

Die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens folgt nicht dem Prinzip der Zuschreibung von Intentionen und Motiven. Die Bedeutung einer Handlung be-stimmt sich hier vielmehr von der Relation zu jenem Kontext her, wie er von den Akteuren und Akteurinnen in ihrer Handlungspraxis selbst hergestellt wird. Dies ist im Falle der Text-Interpretation die sequenzielle Relation der jeweils zu inter-pretierenden Äußerung oder Geste zu den ihr nachfolgenden. Auf diese Weise verleihen die Äußerungen oder Gesten – durchaus im Sinne von George Herbert Mead (1968) – einander wechselseitig ihre Signifi kanz. Im Falle der Bild-Interpre-tation ist dies nicht eine sequenzielle, sondern eine simultane Relation von Einzel-element und Gesamtkontext des Bildes (siehe genauer: Bohnsack 2011; vgl. auch Abschnitt 6). Die Relation von Kontext und Einzeläußerung resp. Einzelelement ist in jedem Fall eine refl exive, wie die Ethnomethodologen dies bezeichnet haben (vgl. Garfi nkel 1961 u. 1967: 7 f.).

Während Orientierungsschemata sich also nach Art von Hierarchien – also im Sinne einer hierarchischen Über- und Unterordnung von Um-zu-Motiven – kon-stituieren und somit in einer deduktiven Beziehung zueinander stehen (und die empirische Methodologie in ihrer hypothetisch-deduktiven Logik ihnen hierin folgt), entspricht die Konstitution von Orientierungsrahmen einer Logik der Re-fl exivität. Der Orientierungsrahmen und die ihn konstituierenden Komponenten stehen in einem Verhältnis von Teil und Ganzem zueinander: Die einzelnen Ele-

2 Zu den Auswertungsschritten der Dokumentarischen Methode siehe Bohnsack (2010a: Kap. 12).

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 129

mente, also bspw. Handlungen und Äußerungen, formieren sich zu Kontexten und erhalten erst durch diese Kontextuierungen, deren Teile sie darstellen, wie-der um ihre besondere Bedeutung.

Das zirkelhaft e Oszillieren zwischen den Einzelelementen und der Sinnstruk-tur des Gesamtkontextes stellt eine der Ausprägungen des klassischen hermeneu-tischen Zirkels im Sinne von Dilthey (1957: 330) dar: „Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des Einzelnen schon das Ganze voraus.“ In die-sem Sinne kann es bei der Interpretation des Orientierungsrahmens nicht darum gehen, den Zirkel zu vermeiden: „Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ‚empfi nden‘, heißt das Verstehen von Grund aus mißverste-hen (…). Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine belie-bige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist Ausdruck der existenziellen Vor-Struk-tur des Daseins selbst“ (Heidegger 1986: 153). D. h. der Zirkel entspringt nicht der Logik des „theoretischen ‚Welt‘-Erkennens“ (ebd.: 67), also einer theoretischen Beziehung zur Welt, sondern der Logik des praktischen Orientierungswissens, des habituellen Handelns und der konjunktiven Verständigung, des unmittelba-ren Verstehens.

3.3 Die Mehrdimensionalität der Orientierungsrahmen

Was den methodischen Umgang mit dem Zirkel anbetrifft , so betont Heidegger an dieser Stelle (1986: 153): „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“. Dieser Einstieg in den Zirkel stellt deshalb eine entscheidende Herausforderung in der Interpretation des Orientierungsrahmens dar, weil dieselbe Handlung oder Äußerung – je nach Zugang resp. Kontextuierung – zugleich in unterschiedlichen Orientierungsrahmen verortet werden, d. h. das Verstehen in unterschiedliche Zirkel münden kann.

Dazu ein Beispiel: In einer Gruppendiskussion mit Gymnasiasten entfalten die jungen Männer gemeinsam die Beschreibung der berufsbiografi schen Ent-wicklung eines ihnen bekannten Referendars, der sich hier vollständig in die Ab-laufmuster seiner Berufskarriere einspuren lässt und der – aus der Perspektive der Jugendlichen – dieser Orientierung an exterioren normativen Erwartungen eine individuell-authentische und angstfreie Selbstentfaltung opfert. Diese Beschrei-bung, die aufgrund ihrer interaktiven und metaphorischen Dichte den Charakter einer Fokussierungsmetapher gewinnt, steht exemplarische für die Antizipation

130 Ralf Bohnsack

des negativen Gegenhorizonts3 einer düsteren und freudlosen Zukunft der Er-wachsenenexistenz, so dass in der Einschätzung der Jugendlichen mit 25 Jahren der „schönste Teil des Lebens“ vorbei sein wird (Bohnsack 1989: 148).

In der Interpretation dieser Passage dokumentieren sich nun je nach Wahl des Vergleichshorizontes, d. h. je nach Wahl der Vergleichsfälle von Gruppendis-kussionen mit anderen Jugendlichen, jeweils unterschiedliche – geschlechts-, mi-lieu- und generationsspezifi sche – Orientierungsrahmen.4 Im Vergleich mit einer gleichaltrigen Gruppe von Gymnasiastinnen wird ein positiver Gegenhorizont (einer zukünft igen selbstbestimmten biografi schen Entwicklung) entfaltet, und es wird auf diese Weise deutlich, dass die Gymnasiasten (adoleszenzbedingt) auf den negativen Gegenhorizont reduziert sind. Obgleich auch von den jungen Frauen das Problem des Eingespurtwerdens gesehen wird, erscheint Erwachsenwerden der Tendenz nach als ein langfristiger Entwicklungsprozess in eine off ene Zukunft hinein, in der schließlich die Bedingungen der Möglichkeit dafür geschaff en wer-den können, das Potenzial biografi scher Entfaltung im Sinne individueller Au-thentizität voll ausschöpfen zu können. Es werden hier also geschlechtsspezifi sch unterschiedliche Orientierungsrahmen sichtbar wie aber auch zugleich Gemein-samkeiten hinsichtlich der Konstruktion biografi sch relevanter Orientierungs-schemata im Sinne chronologisch sequenzierter und institutionalisierter oder auch standardisierter berufsbiografi scher Ablaufmuster.

Der Vergleich mit den Auszubildenden zeigt klare Diff erenzen hinsichtlich dieses Modus der Zeitlichkeit biografi sch relevanter Orientierungen. Diese werden nicht auf dem Wege einer Antizipation zukünft iger biografi scher Ablaufmuster entfaltet. Vielmehr fi nden wir hier eine sozial-situative Selbstverortung, die ihren Ausdruck in szenisch-situativen Darstellungen fi ndet wie etwa des „Jugendtraums“ vom Leben auf der einsamen Insel als einer bedürfnislosen Lebensweise ähnlich jener der „Steinzeitmenschen“. Auf dieser Suche nach den eigentlichen, den au-thentischen Bedürfnissen werden die Jugendlichen immer wieder von ihren Kon-sumbedürfnissen eingeholt, indem sie sich in der Situation sehen, ohne Stereo-anlage und Fernseher auf der Insel nicht leben zu können.

Es zeigen sich also erhebliche bildungsmilieutypische Diff erenzen zwischen den Orientierungsrahmen der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einerseits und denjenigen der Auszubildenden anderseits. Zugleich fi ndet sich aber in allen

3 Der Horizontbegriff ist konstitutiv für die metatheoretische Bestimmung der Kategorie des Orien tierungsrahmens. Zu Ansätzen einer weiteren Diff erenzierung der ursprünglichen Defi ni-tion des Horizontbegriff s (u. a. Bohnsack 1989) siehe auch: Lamprecht 2011.

4 Zur Ermittlung der Typiken von Orientierungsrahmen siehe auch Arnd-Michael Nohl in diesem Band.

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 131

Gruppen ein starker Bezug auf eine individuell-authentische Lebensweise, ein Orientierungsrahmen, welcher sich als generationstypischer erweist, wenn wir als weiteren Vergleichshorizont Gruppendiskussionen mit der Elterngeneration der Jugendlichen heranziehen. Es ist also von den Vergleichshorizonten des Interpre-ten, d. h. von der Richtung der komparativen Analyse, abhängig, welche Dimen-sion des Orientierungsrahmens in den Blick gerät. An derselben metaphorischen Darstellung der Gymnasiasten können vor dem Vergleichshorizont der Gymna-siastinnen geschlechtsspezifi sche Orientierungsrahmen identifi ziert werden, vor dem Vergleichshorizont der Auszubildenden bildungsmilieuspezifi sche und als Gemeinsamkeit aller Jugendlicher und vor dem Vergleichshorizont älterer Er-wachsener generationsspezifi sche Orientierungsrahmen.

Indem ich in der empirischen Analyse von Texten oder Bildern unterschied-liche Vergleichshorizonte und Vergleichsfälle heranziehe, erscheinen diese in jeweils einem anderen Erfahrungsraum oder Kontext. Es wird also eine Über-lagerung oder besser: wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Orien-tierungsrahmen sichtbar. In der empirischen Analyse gilt es vor allem im Zuge der Typenbildung, d. h. auf dem Wege der Konstruktion einer Typologie, diese Mehrdimensionalität in ihrer Komplexität zu erfassen und zu explizieren (dazu u. a.: Bohnsack 2010b). Dieser Dimensionengebundenheit der Interpretation und der rekonstruierten Orientierungsrahmen wird lediglich seitens der Systemtheo-rie bzw. Kybernetik Rechnung getragen – und zwar mit dem Konzept der „Poly-kontexturalität“ (vgl. u. a. Luhmann 1992: 84 f. u. 1997: 1141; siehe auch: Vogd 2011: Kap. 3). Auch die der Dokumentarischen Methode in mancher Hinsicht verwand-ten Analysen zum Habitus von Bourdieu bleiben in bemerkenswerter Weise ein-dimensional (zur Kritik siehe auch: Bohnsack 2010a, Kap. 8.2). Ebenso dominiert in der gegenwärtigen sozialwissenschaft lichen Forschungslandschaft die Ein-dimensionalität oder Monokontexturalität. Eine Ausnahme bildet die intensive Debatte um „Intersektionalität“, wie sie im Bereich der Genderforschung ihren Ausgang genommen hat (vgl. dazu: Davis / Lutz 2009; Phoenix 2010).5

Wie wir insbesondere am Beispiel der Gymnasiasten gesehen haben, struk-turiert sich nicht nur die Interpretation der Forschenden in ihrer Dimensionen-gebundenheit je nach den von ihnen herangezogen Vergleichshorizonten. Viel-mehr konstituiert sich bereits der Orientierungsrahmen der Erforschten selbst vor dem Hintergrund negativer und / oder positiver Vergleichshorizonte. Diese sind in

5 Eine Auseinandersetzung mit der intersektionalen Analyse vor dem Hintergrund der Dokumen-tarischen Methode und ihrer Forschungspraxis der mehrdimensionalen Typenbildung fi ndet sich bei Sonja Kubisch 2008: Kap. 2.1 und 7.2.3.

132 Ralf Bohnsack

elementarer Weise konstitutiv für ihn. Er ist gleichsam aufgespannt zwischen die-sen Gegenhorizonten, und deren Rekonstruktion stellt einen der grundlegenden Schritte der Interpretation dieses Rahmens dar. Wobei sich, wie gesagt, die hier zitierte Gruppe von Gymnasiasten – im Unterschied zu den Gymnasiastinnen – in der Abgrenzung von einem negativen Gegenhorizont erschöpft .

4 Theoretisch-refl exive und praktische Bildungsprozesse: Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen in unterschiedlichen Bildungsmilieus

Wie ich bereits in den oben angeführten Beispielen skizziert habe, zeichnet sich die Logik der Orientierungsstruktur der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen durch ein gedankenexperimentelles, theoretisch-refl exives Durchspielen von zu-künft igen berufsbiografi sch relevanten Entscheidungssituationen aus, in denen fi ktive Vergleichshorizonte zum Tragen kommen. Es handelt sich also um theore-tisch-refl exive Bildungsprozesse. Ich habe hier auch von einer theoretischen Indivi-duierung gesprochen (Bohnsack 1989: 221 sowie Bohnsack 2010a: 40).

4.1 Theoretisch-refl exive Bildungsprozesse

Im Fokus von Gruppendiskussionen mit Gymnasiastinnen und Gymnasiasten steht somit die Auseinandersetzung mit chronologisch sequenzierten und institu-tionalisierten oder auch standardisierten berufsbiografi schen Ablaufmustern. So wird bspw. der an das Hochschulstudium gebundene Berufsweg theoretisch-refl e-xiv durchgespielt mit Bezug auf Überlegungen zur Absicherung der Studienfi nan-zierung (siehe Bohnsack 1989: 170 f. u. 220 f.). Die Jugendlichen wollen auf dem Wege intellektueller Spielerei sich perfekt dagegen sichern, durch ein Studium in Abhängigkeiten zu geraten. Überlegungen zur Rückzahlung des Studiums enden in einer Gedankenakrobatik bzw. einer münchhausenschen Kalkulation eines Stu-diums, welches sich selbst zurückzahlt. Die Jugendlichen werden dann zwar keine Schulden mehr haben, aber auch kein Geld, von dem sie tatsächlich leben könn-ten. Die antizipatorische Auseinandersetzung mit den Ablaufmustern ihrer Aus-bildungskarriere endet im Realitätsverlust.

Ähnliche Beobachtungen fi nden sich bei Barbara Asbrand (2009: insbeson-dere 5.3.1; siehe auch: Martens / Asbrand 2009) in einem Projekt zum globalen Ler-

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 133

nen, d. h. zur Rekonstruktion der Orientierungen und Kompetenzen von Jugend-lichen im Umgang mit weltgesellschaft licher Komplexität: Es „zeigt sich, dass die Refl exionspraxis die Jugendlichen nicht handlungsfähig macht (…). Im Gegenteil, die moralische Kommunikation, das Abwägen unterschiedlicher Handlungsmög-lichkeiten und ihrer Risiken vergrößert die Unsicherheit der Jugendlichen, was zu tun sei“ (Martens / Asbrand 2009: 205).

Neben dem bis zur Handlungsunfähigkeit sich aufschaukelnden theoretisch-refl exiven Stil gehört zu diesem Bildungsmilieu die weit voraus greifende Antizi-pation zukünft iger biografi scher Ablaufmuster resp. Orientierungsschemata. Ich erinnere an die andere – oben bereits zitierte – Gruppe von Gymnasiasten, die sich mit antizipierten normativen Anforderungen einer Berufskarriere konfron-tiert sieht, wie sie diese u. a. am Beispiel des Referendars entfaltet, der sich hier vollständig in die Ablaufmuster seiner Berufskarriere einspuren lässt und dieser eine individuell-authentische und angstfreie Selbstentfaltung opfert.

Bei den hier von den Jugendlichen diskutierten Erwartungen des Eingespurt-werdens in institutionalisierte Ablaufmuster, die von ihnen als exterior und mit Zwang ausgestattet erfahren werden, handelt es sich im Sinne von Durkheim (1961) um „Kollektivvorstellungen“. Orientierungsschemata sind als Kollektivvor-stellungen im Durkheimschen Sinne zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit derartigen kollektiv geteilten Orientierungsschemata (hier: den normativen An-forderungen der Berufskarriere) wird am Beispiel der von den Jugendlichen im Diskurs skizzierten Handlungspraxis des Referendars entfaltet.

In dieser diskursiven Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata do-kumentiert sich der Orientierungsrahmen. Auch dieser Orientierungsrahmen ist kollektiv geteilt – nun aber nicht nach Art der Kollektivvorstellungen im Sinne von Durkheim, deren Objektivität und Wirksamkeit (nach Art der „fait sociaux“) in ihrer Exteriorität begründet ist. Vielmehr setzt die hier geführte Auseinander-setzung mit einer derart exterioren Wirklichkeit einen – auf eine gemeinsam er-lebte Handlungspraxis bezogenen – Erlebnis- oder Erfahrungshintergrund, einen „konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980), bereits voraus. Die gemein-sam erlebte Handlungspraxis ist hier diejenige mit den karriereorientierten Leh-rern in der Schule und mit den Erwachsenen ganz allgemein, die für die Jugendli-chen den für ihren Orientierungsrahmen konstitutiven negativen Gegenhorizont einer inauthentischen biografi schen Selbstentfaltung bilden. Dem Orientierungs-schema der als exterior wahrgenommenen institutionalisierten Karrieremuster kommt erst innerhalb des Orientierungsrahmens des handlungspraktischen Er-fahrungsraums überhaupt ein Wirklichkeitscharakter zu.

134 Ralf Bohnsack

4.2 Praktische Bildungsprozesse und die Entwicklungsphasen der Adoleszenz

Innerhalb des Orientierungsrahmens der Auszubildenden gewinnt diese Art von Orientierungsschemata keine Realität. Hinsichtlich der Orientierung an derarti-gen chronologisch sequenzierten und institutionalisierten oder auch standardi-sierten berufsbiografi schen Ablaufmustern zeigen sich erhebliche bildungsmilieu-typische Diff erenzen zwischen den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einer-seits und den Auszubildenden anderseits. Eine Antizipation berufsbiografi scher Verläufe fanden wir bei den Auszubildenden in unserer Untersuchung nicht. In dem Alter, in dem man eine Antizipation der beruflichen Entscheidungssituatio-nen, die für die Jugendlichen von erheblicher Tragweite sind, erwarten könnte, werden entsprechende berufsbiografi sch relevante Orientierungen suspendiert (Suspendierungsphase). Nachdem am Ende der Hauptschule dann (dennoch) schließlich irgendeine Entscheidung hat fallen müssen, fi nden sich die Jugendli-chen nach einer kurzen, aber optimistischen Entscheidungsphase plötzlich in einer biografi schen Verlaufsentwicklung der ersten beruflichen Praxis wieder, die sie erst jetzt – retrospektiv – in ihrer Tragweite, in ihrer Bedeutung für das eigene Leben erkennen, während sie bereits in deren praktischer Durchführung stehen. Wir haben es also mit praktischen Bildungsprozessen zu tun. Ich habe deshalb – im Unterschied zur theoretischen Individuierung der Gymnasiastinnen und Gymna-siasten – auch von praktischer Individuierung gesprochen (Bohnsack 1989: 221). Barbara Asbrand (2009: 172) unterscheidet in analoger Weise „praktische und theoretisierende Weltbezüge“. Gemeinsam mit Matthias Martens (siehe: Martens 2010) sind auf dieser Grundlage auch mit Bezug auf die Unterrichts forschung neue Ansätze einer „qualitativen Kompetenzforschung“ entwickelt worden (Mar-tens / Asbrand 2009: 201). Karin Schittenhelm (2012) spricht auch von Bildungs-wegen, bei denen „schrittweise aufeinander aufbauend eine praktische Erkun-dung der eigenen Möglichkeiten stattgefunden hat“.

Die fehlende Antizipation der beruflichen Praxis und ihrer Probleme, die vor dem Vergleichshorizont des antizipatorischen Durchspielens von Zukunft s-szenarien bei den Gymnasiasten besondere Konturen gewinnt, führt dazu, dass die erste – retrospektive – Refl exion auf berufsbiografi sch relevante Verläufe so-gleich mit einer tief greifenden Ent-Täuschung (Ent-Täuschungsphase) verbun-den ist. Diese mündet – angesichts der fehlenden Antizipation von ernsthaft en Alternativen – in eine Negation berufsbiografi scher und schließlich ganz allge-mein biografi scher Perspektiven (Negationsphase). Diese Negationsphase ist mit Suchprozessen verbunden, welche sich – weit entfernt von Modellen zweckratio-nalen Handelns nach Art von Orientierungsschemata – in Form von Aktionismen

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 135

vollziehen, die sowohl produktiv als auch zerstörerisch oder auch beides zugleich sein können und ihren Ausdruck auch in Formen jugendlicher Devianz fi nden.

Eine derartige Entwicklungstypik, wie sie zuerst in einer fränkischen (nord-bayerischen) Kleinstadt und umliegenden Dörfern rekonstruiert wurde (Bohn-sack 1989), konnte dann hinsichtlich ihres Modus praktischer Bildungsprozesse und in ihren zentralen Entwicklungsphasen in einer Spannbreite unterschied-licher Jugendszenen aus den sog. bildungsfernen Milieus bestätigt werden: bei Hooligans, Rockbands und unauffälligen Jugendlichen im Ostteil der Metropole Berlin (u. a. Bohnsack et al. 1995; Bohnsack 1997; Schäff er 1996) ebenso wie bei unterschiedlichen Szenen von Jugendlichen türkischer Herkunft aus Berlin (u. a. Bohnsack / Nohl 1998; Nohl 2001 sowie 2006), Ankara (Nohl 2001) und schwarzen Jugendlichen aus São Paulo (Weller 2003). Die große Spannbreite der kompara-tiven Analyse ermöglicht ein hohes Maß an analytischer Abstraktion und Gene-ralisierungspotenzialen. Allerdings stehen in den Berliner Studien überwiegend männliche Jugendliche aus den sog. bildungsfernen Milieus im Zentrum. Weibli-che Jugendliche und deren Entwicklungsstadien und Aktionismen haben wir im Sinne eines Vergleichshorizonts einbezogen (Bohnsack 1989: Kap. 2.5; Bohnsack /Loos / Przyborski 2001). Zu den Aktionismen der Suche nach habitueller Überein-stimmung im Bereich intimer Beziehungen bei Mädchen sei auch verwiesen auf Breitenbach (2000).

Der Übergang von der Realschule in die berufliche Ausbildung bei jungen Frauen mit Migrationshintergrund und deren krisenhaft e Bewältigungsformen in komparativer Analyse mit einheimischen Mädchen vergleichbarer Schulbildung und sozialer Herkunft waren Gegenstand der Analyse von Karin Schittenhelm (2005a, 2005b). Abgesehen von den Unterschieden zwischen den Milieus konn-ten Gemeinsamkeiten dahingehend herausgearbeitet werden, dass – im Unter-schied zu den von uns untersuchten jungen Männern mit Haupt- und Realschul-abschluss  – die jungen Frauen (von typisierbaren Ausnahmen abgesehen) bei ihrem Einstieg in die Berufspraxis (trotz auch hier zu beobachtender Enttäu-schungen) in ausgeprägterem Maße über Antizipationen ausbildungs- und be-rufsbezogener Ablaufmuster verfügen und somit auch aktionistische Suchpro-zesse in dieser Hinsicht weniger zu beobachten sind.6

6 Zur Analyse der Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt siehe auch Karin Schittenhelm in diesem Band.

136 Ralf Bohnsack

5 Aktionismen: Bildungsprozesse jenseits der Orientierungsschemata und ihrer zweckrationalen Struktur

Die Aktionismen, die ihren Anfang in der Negationsphase als der zentralen Krise der Adoleszenzentwicklung bei den männlichen Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus nehmen (genauer dazu: Bohnsack / Nohl 2001), haben für diese zunächst einmal die Funktion, sich vom (Arbeits-)Alltag situativ zu befreien. Dies doku-mentiert sich in den Saufgelagen der in ihr dörfliches Milieus vollständig inte-grierten Jugendlichen in Franken (Nordbayern) ebenso wie bei den Hooligans aus der Metropole Berlin und türkischstämmigen Breakdancern aus Berlin. Es geht hier um eine episodale Negation der Alltagsexistenz, indem, wie es bei den Hoo-ligans heißt (Bohnsack et al. 1995: 232), die Jugendlichen versuchen, „vom Leben ab(zu)schalten“, „aus dem Rhythmus raus(zu)kommen“, sich aus dem „normalen stupiden Leben“ zumindest am Wochenende gleichsam herauszukatapultieren.

In Sinne der episodalen Negation der Alltagsexistenz haben Aktionismen also zunächst einmal grundlegend ihre Funktion im Rahmen eines „Übergangsmora-toriums“ als „Einstiegsphase in berufliche und familiale Erwachsenenlaufbahnen“ (Zinnecker 1991: 73). Diese Funktion wird dort durch eine zweite überlagert, wo die Jugendlichen sich vor das Problem gestellt sehen, sich auf Grund des Verlusts tradierter Bindungen – sei es im Kontext gesellschaft licher Desintegration oder auch der Migration – auf die Suche nach neuen Gemeinsamkeiten und Milieu-zugehörigkeiten zu begeben.

Diese Suche nach Zugehörigkeit, Gemeinsamkeit und habitueller Überein-stimmung fi ndet sich in besonders radikaler Ausprägung in der aktionistischen Herstellung einer episodalen Schicksalsgemeinschaft bei den Hooligans (Bohnsack et al. 1995): Indem die Hooligans im kollektiven Aktionismus des „fi ght“ es darauf anlegen, sich in die Handlungszwänge einer verlaufskurvenförmig sich verselbst-ständigenden Dramaturgie des Kampfes verstricken zu lassen, entfaltet sich auf dem Wege eines Aufeinander-angewiesen-Seins eine Kollektivität, eben eine epi-sodale Schicksalsgemeinschaft , deren Konstitution weder auf Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte angewiesen ist noch auf voraussetzungsvolle Formen der Perspektivenübernahme und der Anerkennung der persönlichen Identität des Anderen.

Hierin unterscheiden sich diese Aktionismen im Sinne der Herstellung einer episodalen Schicksalsgemeinschaft von den Aktionismen der Rock- und HipHop-Bands wie auch der Breakdancer, bei denen die Suche nach Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit ihren Ausgangspunkt nimmt beim Einzelnen und seiner persön-lichen Identität und individuellen Biografi e und Perspektive. Angeknüpft wird

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 137

hier an biografi sche Gemeinsamkeiten, bei denen es sich aber eben nicht – und dies ist wesentlich – um solche handelt, die aus der Einbindung in traditionsfeste Milieuzusammenhänge resultieren, sondern um Gemeinsamkeiten des Erlebens biografi scher Diskontinuitäten und des Verlusts milieuspezifi scher Integration. Die aktionistische Suche ist eine solche nach stilistischen Gemeinsamkeiten. Die für kollektive musikalisch-textliche Produktionen notwendige Abstimmung des Zuhörens und Miteinanderspielens wird erst allmählich entfaltet. Es geht nicht primär um die Inszenierung einer Selbstpräsentation, sondern um die Initiierung habitueller Übereinstimmung innerhalb der Gruppe wie auch mit dem Publikum (dazu auch Bohnsack et al. 1995 sowie Schäff er 1996).

Im Unterschied zu ihrer ersten Funktion einer episodalen Negation der All-tagsexistenz, welche die Aktionismen im Kontext des „Übergangsmoratoriums“ gewinnen, kommt ihnen darüber hinaus also eine zweite Funktion zu, diejenige einer probehaft en oder experimentellen Suche nach habitueller Übereinstimmung, nach Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Sie gewinnen damit eine Funktion im Kontext des „Bildungsmoratoriums“, wie dies mit Bezug auf Jürgen Zinnecker (1991: 73) genannt werden kann. Er versteht darunter einen zunehmend „eigen-ständigen Lebensabschnitt, in dessen Rahmen sich spezifi sche soziale Lebenswei-sen, kulturelle Formen und politisch-gesellschaft liche Orientierungsmuster aus-bilden“. Allerdings ist unser Verständnis von Bildungsmoratorium nicht daran gebunden, dass institutionalisierte Vorkehrungen und Freiräume für ein Mora-torium gegeben sind, die dieses dann ja wieder in die Nähe institutionalisierter Ablaufmuster und Orientierungsschemata rücken würden. Vielmehr werden die Bedingungen für das Moratorium von den Jugendlichen in riskanter Weise selbst geschaff en – nicht selten auf Kosten von Devianz und Kriminalisierungserfahrun-gen (siehe auch: Bohnsack 2000).

Die Evidenz der empirischen Analyse bietet uns die Grundlage für eine Erwei-terung der Leitdiff erenz von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen um eine dritte Kategorie: diejenige der Aktionismen, die ihre Bedeutung insbe-sondere im Kontext von Bildungsprozessen entfalten (genauer dazu: Bohnsack 1997 u. 2004 sowie Bohnsack / Nohl 2001). Der Struktur von Orientierungssche-mata entspricht die für das zweckrationale Handlungsmodell von Schütz (1974) konstitutive Trennung von Handlungs-Entwurf (Um-zu-Motiv) einerseits und dem Vollzug einer an diesem Entwurf (deduktiv) orientierten Handlung ande-rerseits. Im Bereich des habituellen Handlungsmodells und des Modells der kon-junktiven Verständigung wird das Handeln durch das Orientierungsmuster nicht geleitet, sondern dieses ist – als Orientierungsrahmen – in das habituelle Han-deln und dessen Kontextuierung eingelassen. Das habituelle Handeln entfaltet

138 Ralf Bohnsack

sich nicht regel geleitet, sondern regelmäßig in seiner refl exiven oder zirkelhaft en Beziehung zum Kontext. Dabei bietet dieses Modell allerdings keine Freiräume für kreatives Handeln im Sinne der Innovation von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen.

Die den Aktionismen7 zugrundeliegende Sinnstruktur lässt sich nicht als eine Orientierung, als ein Orientierungsmuster (als Oberbegriff zu Orientierungs-rahmen und Orientierungsschema), bezeichnen, da es sich hier um eine Suche nach bzw. ein experimentelles Erproben von Orientierungen und Entwicklungs-verläufen unter Bedingungen des Orientierungsverlusts handelt. Zur Logik die-ser Such- und Entwicklungsprozesse, zu der auch die Auseinandersetzung mit Fremdzuschreibungen und Fremdrahmungen gehört, fi nden sich am ehesten sys-tematische Hinweise in der Tradition der Chicagoer Schule, die als eine weitere Tradition für die Entwicklung der Dokumentarischen Methode und ihrer Hand-lungstheorie von Bedeutung ist (dazu: Bohnsack 2005). So betont Howard S. Be-cker (1963: 36) mit Bezug auf die Entwicklung von Devianz: „Nicht abweichende Motive führen zu abweichendem Verhalten, sondern genau umgekehrt: das ab-weichende Verhalten erzeugt mit der Zeit die abweichende Motivation“. Becker steht damit in der Tradition der Kategorie der „natural history“ in der Chicagoer Schule. Derartige naturwüchsige, d. h. einer zweckrationalen Betrachtung nicht zugängliche, Entwicklungsprozesse werden auch mit dem Begriff der „career“ ge-faßt. Auf die (off ensichtlich auf Robert Park zurückgehende) Kategorie der „natu-ral history“ bezieht sich auch Erving Goff man (1961: 119).

Entscheidende Fortschritte in der Analyse von Entwicklungsprozessen, die in Aktionismen fundiert sind, fi ndet sich in den empirischen Analysen und meta-theoretischen Refl exionen von Arnd-Michael Nohl (2006) im Hinblick auf die Klärung und Fundierung des Bildungsbegriff s. Er spricht von „spontanen“ Bil-dungsprozessen und nimmt in der Analyse den Ausgangspunkt bei der Rekon-struktion von Entwicklungsprozessen in der Adoleszenz mit Bezug auf die oben skizzierten Studien zu jugendlichen Aktionismen (Bohnsack et al. 1995 sowie Bohnsack / Nohl 1998 u. 2001 und Nohl 2001), bezieht dann aber Erwachsene in fortgeschrittenen Phasen des Lebenszyklus mit ein. Auch bei letzteren lassen sich aktionistische oder spontane Praktiken identifi zieren, die sich jedoch von denen der Jugendlichen u. a. dadurch unterscheiden, dass die mit ihnen verbundene

7 Aktionismen fi nden sich nicht allein im Rahmen praktischer Bildungsprozesse, also in den ‚bil-dungsfernen Milieus‘, sondern auch in theoretisch-refl exiven Bildungsprozessen, also bei Gym-nasiastInnen und Studierenden als „intellektuelle Aktionismen“ (dazu: Nohl 2001: Kap. 4.2 sowie Asbrand 2009: 173).

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 139

probe haft e bzw. experimentelle, also aktionistische, Suche selbst nicht eine kol-lektive ist, auch wenn diese Suche (zumindest teilweise) wie bei den Jugendlichen auf neue kollektive Bindungen, also Milieubildungen gerichtet ist.

Auf der Grundlage der von Arnd-Michael Nohl entfalteten empirischen Evi-denz und im Anschluss an anspruchsvolle erziehungswissenschaft liche Konzeptio-nen (u. a. Marotzki 1990) sowie an die praxeologische Wissenssoziologie und die Chicagoer Schule (vor allem in ihrer philosophischen Abteilung) konnte der Bil-dungsbegriff in der Weise präzisiert werden, dass die Genese spontaner Bildungs-prozesse in der Handlungspraxis selbst (und dort auch vielfach eingebunden in elementare kollektive Prozesse) zu suchen ist und nicht erst in der (individuellen) Refl exion auf eine Handlungspraxis. Die Konzeptionierung von Bildung bleibt nicht mehr auf die theoretisch-refl exive Ebene beschränkt.

6 Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus in Bild und Video

Die Leitdiff erenz von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen als ka-tegorialer Ausdruck der Leitdiff erenz von explizit-theoretischem oder kommu-nikativ-generalisiertem Wissen einerseits und dem implizit-atheoretischen oder konjunktiven Wissen andererseits ist auch für die Bild- und Videointerpretation von elementarer Bedeutung. Sie entspricht jener – für die Kunstgeschichte bahn-brechenden – Leitdiff erenz von Ikonografi e und Ikonologie, wie sie von Erwin Panofsky ausgearbeitet worden ist. Die ikonografi sche Interpretation, die auf das explizit-theoretische und kommunikative Wissen gerichtet ist, lässt sich im Sinne von Mannheim (1980: 276 ff.) auch als immanente Interpretation fassen und von der dokumentarischen Interpretation unterscheiden, die als ikonologische Inter-pretation im implizit-atheoretischen Wissen fundiert ist. Panofsky ist – wie er selbst explizit darlegt (1932: 115) – mit dem Wechsel der Analyseeinstellung von der Ikonografi e zur Ikonologie der „Dokumentarischen Methode“ von Mann-heim (1964) gefolgt.

Hieran anknüpfend, sowie im Anschluss an Heidegger (1986) und Luhmann (1990), lässt sich dieser Wechsel der Analyseeinstellung als derjenige vom Was zum Wie bezeichnen. Es geht um den Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaft liche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage, wie diese hergestellt werden. Im Unterschied zur ikonografi schen vollzieht die ikonologische Analyse-einstellung den „Bruch mit den Vorannahmen des common sense“, wie man mit Bourdieu (1996: 278) sagen könnte, also vor allem den Bruch mit den Unterstel-

140 Ralf Bohnsack

lungen von subjektiven Intentionen und Motiven im Sinne von Orientierungssche-mata. Sie unterscheidet sich radikal von der Frage nach dem Was und fragt nach dem Wie, nach dem modus operandi der Herstellung bzw. Entstehung einer Ge-bärde. Nach Panofsky erschließt sich auf diese Weise „die eigentliche Bedeutung“ oder der „Gehalt“ einer Gebärde (Panofsky 1975: 40), der „Wesenssinn“ oder „Do-kumentsinn“ (Panofsky 1932: 115 u. 118) oder auch der Habitus.

Den Begriff des Habitus als einer der zentralen Grundbegriff e der modernen Soziologie hat Bourdieu (vgl. 1970: 132 ff.) bekanntlich von Panofsky (vgl. 1989) übernommen. Bezogen auf den Künstler entspricht dem Begriff des Habitus bei Panofsky auch der von Alois Riegl übernommene Begriff des „Kunstwollens“. Pa-nofsky (1964: 30) grenzt sich mit seinem Verständnis von einer „missverständli-chen Deutung“ dieses Begriff es ab, welche „die künstlerische Absicht, das künst-lerische Wollen, als den psychologischen Akt des historisch greifbaren Subjektes ‚Künstler‘ betrachtet“ (ebd.: 31). Diese „künstlerische Absicht“ bewegt sich auf der Analyseebene des Orientierungsschemas, während er sich, gemäß den bisher ge-troff enen Unterscheidungen, auf die Ebene des Orientierungsrahmens bezieht.

Um im Weiteren zu klären, inwieweit den Kategorien des Orientierungssche-mas und Orientierungsrahmens auch für die Interpretation der lediglich visu-ell zugänglichen inkorporierten Bewegungen Relevanz zukommt, werde ich im Folgenden auf die Methodik der dokumentarischen Bildinterpretation eingehen, wie sie unter anderem auf der Grundlage der Ikonologie von Panofsky entwickelt worden ist.

6.1 Vor-Ikonografi e, Ikonografi e und Ikonologie

Bei Panofsky umfasst die Frage nach dem Was nur die Ebene der Ikonografi e, sondern auch die vor-ikonografi sche Ebene. Die sozialwissenschaft liche Relevanz dieser Unterscheidung wird vor allem dort deutlich, wo Panofsky (1975: 38) die von ihm entworfenen Interpretationsschritte nicht im Bereich der Kunst, sondern des „Alltagslebens“ und dort am Beispiel der Gebärde eines Bekannten erläutert. Diese Gebärde, die auf der vor-ikonografi schen Ebene zunächst als „Hutziehen“ identifi zierbar ist, kann im Sinne von Panofsky erst auf der ikonografi schen Ebene als ein „Grüßen“ analysiert werden. In sozialwissenschaft licher Fortentwicklung der Argumentation von Panofsky lässt sich dieser Schritt der Interpretation als derjenige der Unterstellung von „Um-zu-Motiven“ charakterisieren: Der Be-kannte zieht seinen Hut um zu grüßen. Dieser Schritt der Zuschreibung von sub-jektiven Intentionen ist derjenige der Konstruktion von Orientierungsschemata.

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 141

Diese Interpretation ist am Bild selbst nicht beobachtbar, basiert allerdings auf kommunikativ-generalisierten Wissensbeständen als Grundlage institutionali-sierter Handlungen.

Wie bei der Textinterpretation, so können wir auch im Bereich der sozial-wissenschaft lichen Interpretation des Bildes auf derartige Konstruktionen von Orientierungsschemata als ein Vor-Wissen in valider Weise nur insoweit zurück-greifen, als wir es mit generalisierten und weitgehend stereotypisierten, also mit institutionalisierten, d. h. kommunikativ-generalisierten Wissensbeständen zu tun haben. Am Beispiel eines Familienfotos bedeutet dies, dass wir zwar aufgrund ge-sicherter Informationen oder aufgrund von Vermutungen davon ausgehen kön-nen oder müssen, dass es sich bei den abgebildeten Personen um eine Familie handelt und wir somit unser entsprechendes Wissen um die Institution Familie mit ihren Rollenbeziehungen von Vater und Mutter, Eltern und Kindern etc., also um stereotypisierte Orientierungsschemata, aktualisieren. Sofern wir aber auch wissen oder vermuten, dass es sich um die Familie Meier handelt, sollten wir das, was wir über diese Familie mit ihrer konkreten Familienbiografi e wissen, weitest möglich suspendieren. Suspendiert wird also das konjunktive Vor-Wissen, also jenes Wissen um die je fall- oder milieuspezifi sche Besonderheit des Dargestellten, welches nicht der Analyse dieses Bildes selbst entstammt. Auf die genauere Be-gründung dieser Besonderheit der Analyseeinstellung in Anlehnung vor allem an Michel Foucault (1971), Roland Barthes (1990) und vor allem Max Imdahl (1996) kann ich hier nicht genauer eingehen (genauer dazu: u. a. Bohnsack 2011: Kap. 3.3).

Grundlage der ikonologischen oder dokumentarischen Interpretation des Bil-des sind somit vor allem die vor-ikonografi sche Ebene und im Bereich der ikono-grafi schen Ebene lediglich das kommunikativ-generalisierte Wissen. Besondere Beachtung erhält darüber hinaus die Rekonstruktion der formalen Komposition des Bildes (vgl. 6.3).

6.2 Orientierungsrahmen und Habitus der abgebildeten und abbildenden BildproduzentInnen

Die Frage nach dem ikonologischen Sinngehalt im Sinne von Panofsky zielt also auf den Habitus bzw. Orientierungsrahmen der BildproduzentInnen. Im Un-terschied zur Malerei und Grafi k wird es im Bereich der Fotografi e notwendig, grundsätzlich zwei Dimensionen oder Arten von BildproduzentInnen zu unter-scheiden: Auf der einen Seite haben wir die (wie ich es nennen möchte) abbilden-den BildproduzentInnen, also u. a. Fotografen oder Künstler sowie alle diejenigen,

142 Ralf Bohnsack

die als Akteure, als Produzenten hinter der Kamera und noch nach der fotografi -schen Aufzeichnung an der Bildproduktion beteiligt sind. Auf der anderen Seite haben wir die abgebildeten BildproduzentInnen, also die Personen, Wesen oder sozialen Szenerien, die zum Sujet des Bildes gehören bzw. vor der Kamera agieren. Dieser Diff erenzierung wurde in der sozialwissenschaft lich-empirischen Interpre-tation der Fotografi e bisher nicht Rechnung getragen.

Die sich aus der komplexen Relation dieser beiden unterschiedlichen Arten von BildproduzentInnen ergebenden methodischen Probleme sind dann leicht zu bewältigen, wenn beide zu demselben Erfahrungsraum, also u. a. zum selben Mi-lieu bzw. zur selben Epoche, gehören. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo ein Angehöriger der Familie ein Familienfoto produziert oder wenn (wie im Falle historischer Gemälde, die mir Aufschluss über eine historische Epoche zu geben vermögen) der Maler ebenso wie die Modelle oder die abgebildeten Szenerien zur selben Epoche gehören. Denn bei der ikonologischen Interpretation geht es darum, einen Zugang zum Erfahrungsraum der BildproduzentInnen zu fi nden, dessen zentrales Element der individuelle oder kollektive Habitus darstellt. Me-thodisch komplexer wird das Problem dort, wo der Habitus der abgebildeten mit demjenigen der abbildenden BildproduzentInnen, also der Fotografen oder Maler, nicht so ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen ist (als Beispiel siehe: Bohnsack 2010a: 249 – 257).

6.3 Die Gestaltungsleistungen der abbildenden BildproduzentInnen

Diese betreff en vor allem die formale Komposition des Fotos, bei deren Verständ-nis wir uns vor allem an Max Imdahl (u. a. 1996: Kap. II) orientieren, der hierin die wesentliche Grundlage für den Zugang zum Bild in seiner Eigenlogik sieht. Dazu gehört zum einen die Dimension der „planimetrischen Komposition“, d. h. der Gestaltung des Bildes in der Fläche, wie sie sich in Foto und Film wesentlich aus der Wahl des Ausschnitts ergibt, der „Kadrierung“, wie es in der Filmwis-senschaft genannt wird. Zum anderen gehört die Wahl der Perspektivität dazu, die „perspektivische Projektion“ (genauer dazu: Bohnsack 2011: Kap. 3.6). Im Be-reich der Video- und Filmanalyse betrifft dies darüber hinaus vor allem Mon-tage (Schnitt bzw. Bildmischung) und Einstellung (genauer dazu: Bohnsack 2011: Kap. 5.6 u. 6 sowie Baltruschat 2010).

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 143

6.4 Die Gestaltungsleistungen der abgebildeten BildproduzentInnen

Diese betreff en vor allem deren körpergebundenen Ausdrucksformen und die „szenische Choreographie“ (Imdahl 1996: 19), d. h. die interaktive Positionierung der abgebildeten Akteure zueinander. Während in der zeitgenössischen Filmwis-senschaft die körpergebundenen Ausdrucksformen der abgebildeten Bildprodu-zentInnen von lediglich marginaler Bedeutung sind, vermochte nach Ansicht der Klassiker der Filmwissenschaft Siegfried Kracauer (1964) und Bela Balázs (2001) das Medium Film einen bis dahin nicht gekannten Zugang zu elementaren Ebe-nen sozialer Realität zu eröff nen, nämlich zur Ebene der Gebärden, also der in-korporierten Gesten und der Mimik.

Diese elementare Ebene oder Schicht hat Erwin Panofsky, der nicht nur als Klassiker der Kunstgeschichte, sondern auch der Filmwissenschaft gilt (Panofsky 1999), auch als diejenige „primärer oder natürlicher Bedeutungen“ oder eben als vor-ikonografi sche im Unterschied zur ikonografi schen Ebene bezeichnet (Pa-nofsky 1975). Es ist diese vor-ikonografi sche oder – in der Sprache der Semiotik – die denotative Ebene (Barthes 1983 u. Eco 1994), deren genaue Beobachtung und Beschreibung die wesentliche Grundlage der ikonologischen Interpretation und der dokumentarischen Bild- und Videointerpretation darstellt, die vor allem nach dem Wie der Herstellung und Gestaltung einer Bewegung oder Handlung fragt.

Ray Birdwhistell, der Klassiker der Bewegungsanalyse, erläutert das Wie am Beispiel des militärischen Grußes. Diese Handlung – obschon hoch standardi-siert – erhält eine enorme Variabilität weitergehender Bedeutungen durch das Wie ihrer Herstellung: „Durch den Wechsel in Haltung, Gesichtsausdruck, der Geschwindigkeit oder Dauer der Bewegung des Grüßens und sogar in der Wahl ungeeigneter Kontexte für die Handlung kann der Soldat den Empfänger des Gru-ßes ehren, herabwürdigen, zu gewinnen versuchen, beleidigen oder befördern“ (Birdwhistell 1968: 380).

6.5 Die Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen: Gebärden, operative Handlungen und institutionalisierte Handlungen

Um zu klären, inwieweit die Kategorien des Orientierungsschemas und Orien-tierungsrahmens auch für die Interpretation der lediglich visuell zugänglichen inkorporierten Bewegungen Relevanz gewinnen, müssen weitere handlungstheo-retische Begriff e eingeführt werden: diejenigen der Gebärde (mit ihren Kon sti-tuentien, den Kinemen) sowie die Begriff e der operativen und der institutio-

144 Ralf Bohnsack

nalisierten Handlung. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal der operativen Handlungen gegenüber den Gebärden ist, dass erstere – und aus diesem Grund möchte ich sie bereits als Handlungen bezeichnen – mit zweckrationalen Motiv-konstruktionen, d. h. mit Konstruktionen von Um-zu-Motiven, versehen werden können, wenn auch möglicherweise nur in rudimentärer Weise. Dies geschieht bspw. derart, dass die einzelne Gebärde (bspw.: ‚Beugen des Rumpfes‘) „selbst nur Mittel im Sinnzusammenhang eines Entwurfes“ ist, wie Alfred Schütz (1974: 119) formuliert hat, bspw. des Entwurfes ‚Sich-Hinsetzen‘. Gebärden und ihre Ele-mente, die Kineme sind also nicht Träger von Orientierungsschemata bzw. nicht Gegenstand auf sie selbst bezogener Konstruktionen, vermögen uns allerdings Aufschluss über den Habitus, den Orientierungsrahmen zu geben, sind also Ge-genstand ikonologischer resp. dokumentarischer Interpretation.

Durch die Konstruktion von Orientierungsschemata, also durch die zweck-rationale Konstruktion von Um-zu-Motiven (‚sie beugt den Rumpf, um sich hin-zusetzen‘) wird die Bewegung des Rumpf-Beugens zu einer Handlung. Hier las-sen sich dann jeweils weitere Hierarchien von Um-zu-Motiven konstruieren, also bspw.: ‚Die Lehrerin setzt sich, um den Unterrichtsbeginn zu signalisieren‘. Aller-dings ist der Handlungsentwurf beim letzteren Beispiel nicht direkt am Hand-lungsverlauf beobachtbar, muss vielmehr als Entwurf, als Um-zu-Motiv auf der Grundlage institutionalisierter (normativer) Erwartungen und Rollenbeziehun-gen unterstellt oder attribuiert werden. In diesem Fall bewegen wir uns bereits auf der ikonografi schen, der kommunikativ-generalisierten Ebene.

Vor-Ikonografi e(denotative Ebene)

Beispiele Konstruktion von Motiven und Orientierungsschemata

Kineme:Elemente von Gebärden

Kopf und Schultern gehen nach vorne, Becken nach hinten etc.

Keine

Gebärden: Gestik und Mimik(Kinemorpheme)

Beugen des Rumpfes Keine

Operative Handlungen Sich-Setzen A beugt den Rumpf, um sich zu setzen (Um-zu-Motiv ist am Bewegungsverlauf beobachtbar)

Ikonografi e(konnotative Ebene)

Beispiele Konstruktion von Motiven und Orientierungsschemata

institutionalisierte Handlungen(Rollen)

Lehrerin setzt sich ans Pult A setzt sich, um den Unterricht zu beginnen (Um-zu-Motiv ist am Bewegungsverlauf nicht beobachtbar)

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 145

Die Bewegungsabläufe auf der vor-ikonografi schen Ebene möchte ich in Anleh nung an Birdwhistell (1952) diff erenzieren in Gebärden (oder auch: Kinemorphe me) ei-nerseits und operative Handlungen andererseits (siehe dazu die obige Matrix und genauer: Bohnsack 2011: Kap. 5.4). Operative Handlungen (bspw. ‚Sich-Hinsetzen‘, ‚Gehen‘, ‚Hose hochziehen‘) umfassen in der Regel mehrere Gebärden in ihrer Se-quenzialität. Träger der Gebärden können die Extremitäten sein, der Kopf, aber auch die Mimik. Die Gebärden lassen sich ihrerseits noch einmal in ihre Elemente diff erenzieren, die ich mit Birdwhistell (1952) als „Kineme“ bezeichne. Die bereits vorliegenden Videoanalysen auf der Grundlage der Dokumentarischen Methode setzen auf der vor-ikonografi schen Ebene an mit einer genauen Rekonstruktion von Gebärden und operativen Handlungen und teilweise deren Elementen, den Kinemen. Dies gilt für die Analysen von Monika Wagner-Willi (u. a. 2005) über Schülerinteraktionen im Klassenraum oder auch die Arbeit von Amelie Klambeck (2007) über Patientinnen und Patienten mit „psychogenen Bewegungsstörungen“ und deren Verhalten während der Chefarztvisite.

Die sozialwissenschaft lichen, aber auch die nicht-sozialwissenschaft lichen Disziplinen, welche auf Bild- und Filminterpretationen angewiesen sind, stehen dabei vor dem Problem, dass eine Beschreibungssprache auf der vor-ikonogra-fi schen Ebene weitgehend fehlt. Allerdings hat Ray Birdwhistell hier bereits in den 1950er und 1960er Jahren einige wegweisende Vorarbeiten geleistet. Er hat in seinen empirischen Analysen gezeigt, dass sich der Sinngehalt von Gebärden, der sog. Kinemorpheme, erst aus der genauen Rekonstruktion der sie konstitu-ierenden Elemente, der Kineme bzw. Kine, erschließen lässt. Dies gilt auch für die Mimik, bspw. für die mimische Gebärde des Augenzwinkerns („wink“), wie Birdwhistell (1952: 19) es beschreibt: „a) Das rechte Augen ist geschlossen, wäh-rend das linke geöff net bleibt. – b) Die Mundhaltung ist ‚normal‘. – c) Die Na-senspitze ist eingedrückt (Kaninchennase). – d) Der linke Augenhöhlenrand ist schräg (‚squinted‘).“

Diese Bewegungen auf der Ebene von Kinemen müssen sich gleichzeitig, syn-chron oder simultan vollziehen, um ihren Ausdruckscharakter, ihre ikonologische Bedeutung zu erhalten. Die Gebärde des „Zwinkerns“, entfaltet ihre Signifi kanz nur dann, wenn ihre Konstituentien, die elementaren Bewegungseinheiten der Ki-neme, synchron oder simultan zum Ausdruck kommen. Hiermit ist zunächst das simultane Zusammenspiel innerhalb abgegrenzter Bereiche des Körpers gemeint (vgl. Birdwhistell 1952: 17). Idealerweise umfasst die Rekonstruktion des simulta-nen Zusammenspiels aber den gesamten Körper, orientiert sich an der „‚whole body‘ conception“, wie Ray Birdwhistell (1952: 8) betont, und bezieht schließlich

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auch die räumliche Positionierung der Körper zueinander mit ein („A dreht B den Rücken zu“).

Hier wird eine für die Videointerpretation entscheidende methodische Her-ausforderung erkennbar: Die Interpretation der Semantik von Bewegungen setzt nicht nur deren Rekonstruktion im sequenziellen Ablauf voraussetzt, sondern auch in ihrer Simultaneität. Diese erschließt sich in valider Weise aber allein auf der Grundlage von ‚eingefrorenen‘ Bildern, Standbildern, Stills oder „Fotogram-men“, wie sie auch genannt werden (dazu: Barthes 1990: 64). Es war unter ande-rem die Bedeutung der Fotogramme für die Interpretation der Gebärden und der Mimik, welche den Klassiker der Semiotik, Roland Barthes, veranlasst haben, den Fotogrammen eine zentrale Bedeutung für die Semiotik des Filmes einzuräumen. Nach Barthes (1990: 64) „lässt sich in gewissem Maß (…) das Filmische parado-xerweise nicht im Film ‚am rechten Ort‘, ‚in der Bewegung‘, ‚in natura‘ erfassen, sondern bisher nur in einem wichtigen Artefakt, im Fotogramm.“

Somit stellt das Fotogramm nicht nur eine wesentliche Grundlage für die Re-konstruktion der Bewegungen und des Habitus der abgebildeten BildproduzentIn-nen dar (Kadrierung, Perspektivität und Montage), sondern auch für die Ge-staltungsleistungen der abbildenden BildproduzentInnen insbesondere auf der vor-ikonografi schen Ebene und hier vor allem auf derjenigen der Gebärden, also derjenigen Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen, die nicht Träger von Orientierungsschemata sind.

6.6 Konstruktion von Orientierungsschemata und die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens oder Habitus in Text- und Bildinterpretation

Am Beispiel der Bild- und Videointerpretation kann nun noch einmal eine Eigen-art der ikonologischen oder dokumentarischen Interpretation deutlich werden, die von elementarer Bedeutung ist: Dieselbe Bewegung, bspw. die Gebärde ‚Beu-gen des Rumpfes‘, kann immer auf zwei Sinnebenen zugleich interpretiert wer-den: zum einen mit Bezug auf die Sinnebene eines Orientierungsschemas auf der Ebene operativer Handlungen (bspw. ‚Sich-Setzen‘) und zum anderen mit Bezug auf den Orientierungsrahmen. In erster Hinsicht konstruieren wir die Gebärde zweckrational im Rahmen der Zuschreibung eines Um-zu-Motivs (‚Sich-Setzen‘), mit der wir uns auf die Suche nach dem subjektiv gemeinten Sinn begeben. Zum anderen und zugleich kann die Gebärde auch (wenn wir nach dem Wie ihrer Her-stellung fragen) als Dokument für den Orientierungsrahmen, für das Wesen oder

Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus 147

den Habitus des Akteurs (‚Unsicherheit‘, ‚Gebrechlichkeit‘) interpretiert werden. Entscheidend ist dann, wie sich jemand hinsetzt, oder dass er oder sie sich setzt: „Nicht das ‚Was‘ eines objektiven Sinns, sondern das ‚Daß‘ und das ‚Wie‘ wird von dominierender Wichtigkeit“ (Mannheim 1964: 134). Diese Analyseeinstellung der Dokumentarischen Methode lässt sich auch als die Analyseeinstellung auf das Performative bezeichnen (dazu auch: Bohnsack 2007).

Methodologisches und methodisches Prinzip der dokumentarischen Interpre-tation ist es, diese Frage nach dem Wie, nach dem Orientierungsrahmen oder dem modus operandi, dem Habitus, zugleich auf unterschiedlichen Dimensionen desselben Falles zu stellen, so dass diese unterschiedlichen Interpretationsdimen-sionen einander wechselseitig zu validieren vermögen. Im Falle der Interpreta-tion der Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen sind dies vor allem die unterschiedlichen Ebenen der Kineme, der Gebärden, der operativen Hand-lungen und der institutionalisierten Handlungen, die in der empirischen Analyse in ihrem Bezug aufeinander interpretiert werden. Im Bereich von Bild, Film und Video stellt die vor-ikonografi sche Ebene und vor allem diejenige der Gebärden, wie sie unterhalb der Konstruktion von Orientierungsschemata angesiedelt sind, allerdings die primordiale Grundlage der ikonologischen oder dokumentarischen Interpretation dar.

Im Rahmen der Bildungsmilieuforschung, aber auch darüber hinaus, erweitert die Bild- und Videointerpretation den Zugang zu den milieuspezifi schen Orien-tierungsmustern und Stilen erheblich. Schwerpunkt und besondere Leistungs-fähigkeit der Dokumentarischen Methode liegen, wie dargelegt, ganz allgemein im Bereich der Interpretation vorrefl exiver oder genauer: atheoretischer Wissens-bestände, denen handlungsleitende Qualität zukommt. Diese lassen sich (vgl. dazu insbesondere Abschnitt 3.1) diff erenzieren in implizite und inkorporierte Wissens-bestände. Erstere erschließen sich uns auf dem Wege der Analyse von Gesprächen, Gruppendiskussionen und Interviews (im Falle der Milieuforschung ist letzterer Zugang allerdings eher als Um-Weg anzusehen), also auf dem Wege der Textinter-pretation. Demgegenüber sind die inkorporierten Wissensbestände (deren hand-lungsleitende Qualität als noch elementarer gelten kann) ausschließlich auf dem Wege der Bild- und Videointerpretation, also der Analyse materialer Bilder, in valider Weise empirisch zugänglich. Für die (Bildungs-)Milieuforschung eröff net insbesondere die Triangulation von Text- und Bildinterpretation neue Perspekti-ven. Auf der Basis von Gruppendiskussionen, Tischgesprächen und selbst erstell-ten Fotos aus unterschiedlichen Familienmilieus (die Familie ist hier also zugleich abgebildete und abbildende Bildproduzentin) konnte eine derartige Triangulation

148 Ralf Bohnsack

in ersten Ansätzen ausgearbeitet werden (siehe: Bohnsack 2011: Kap. 4.3). Die Tri-angulation von Text- und Bildinterpretation steigert die Validität des empirischen Zugangs zu den unterschiedlichen milieuspezifi schen Orientierungsrahmen und Habitus und eröff net neue Perspektiven auf deren tiefer liegende Komponenten.

Literatur

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Balázs, Belá (2001): Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M.: Suhr-kamp (ursprüngl.: 1924)

Baltruschat, Astrid (2010): Die Dekoration der Institution Schule. Filminterpretationen nach der dokumentarischen Methode. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissen-schaft en

Barthes, Roland (1983): Elemente der Semiologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Original: 1964)

Barthes, Roland (1990): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

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Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und ArbeitsforschungVon der soziogenetischen zur relationalen Typenbildung

Arnd-Michael Nohl

Es ist ein besonderes Verdienst der qualitativen Ansätze in der Bildungs- und Arbeitsforschung, die (individuelle wie kollektive) Subjektivität der Akteure im Bildungs- und Wirtschaft ssystem, ihre Erfahrungen, Deutungs- und Bearbei-tungsmuster sozialer Probleme empirisch zugänglich gemacht zu haben. Ange-sichts einer immer ausgefeilteren quantitativen Forschung, die zentrale, aber von den Erlebnishorizonten der Betroff enen weitgehend abgehobene Einsichten in den Zustand der Bildungsorganisationen und des Wirtschaft slebens ermöglicht (denke man nur an PISA oder die Studien des IAB), gilt es nun auch der Perspek-tive ihrer Akteure Rechnung zu tragen. Doch darf sich die qualitative Bildungs- und Arbeitsforschung nicht in der Subjektivität der Akteure verlieren, sondern ist immer auch darauf verwiesen, diese im Zusammenhang mit gesellschaft lichen Strukturen zu untersuchen. Meine folgenden Überlegungen erörtern die Frage, wie Erfahrungen und Orientierungen im Bereich von Bildung und Arbeit in ihrem sozialen Zusammenhang rekonstruiert werden können.

Ich beziehe mich dabei auf die dokumentarische Methode als einen Ansatz der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung (Abschnitt 1). Dort werden fallüber-greifende Orientierungen in einer ‚sinngenetischen Typenbildung‘ herausgearbei-tet (Abschnitt 2), um sie dann – in einer ‚soziogenetischen Typenbildung‘ – auf die sozialen Zusammenhänge ihrer Genese (z. B. Generation, Geschlecht, Klasse) hin zu untersuchen (Abschnitt 3). Auf der Basis neuerer Forschungsarbeiten soll dann gezeigt werden, dass sich Orientierungen aber nicht nur auf etablierte so-ziale Erfahrungsstrukturen beziehen, sondern auch auf ihre Relation zu anderen, unterschiedlich dimensionierten Orientierungen hin typisieren lassen. Dieser er-

156 Arnd-Michael Nohl

gänzende Ansatz der Rekonstruktion sozialer Zusammenhänge von Bildung und Arbeit wird als ‚relationale Typenbildung‘ bezeichnet (Abschnitt 5).1

1 Zur dokumentarischen Methode

Die dokumentarische Methode, so wie sie von Ralf Bohnsack im Rahmen einer Studie zum Übergang Jugendlicher von der Schule in den Beruf entwickelt wurde (vgl. Bohnsack 1989), zielt darauf, die Art und Weise, in der Menschen mit den Th emen und Problemen ihres Lebens (zum Beispiel mit Bildung und Arbeit) um-gehen, zu rekonstruieren. Eine immanente Betrachtung dieser sozialen Prozesse würde sich in der Zusammenfassung und Systematisierung von Akteursperspekti-ven erschöpfen; daher geht es darüber hinaus um die Rekonstruktion des „Orien-tierungsrahmens“ (Bohnsack 2007a: 141), innerhalb dessen Akteure handeln. Die-ser Orientierungsrahmen muss den Akteuren selbst nicht bewusst sein; als eine implizite Ebene ihres Wissens ist er nicht so ohne Weiteres durch diese explizier-bar, sondern muss von den Forschenden aus der (beobachteten oder von den Ak-teuren erzählten) Handlungspraxis heraus rekonstruiert werden.2

Der Wissenssoziologe Karl Mannheim, auf dessen Werk sich Bohnsack in sei-ner Ausarbeitung der dokumentarischen Methode bezieht, unterstreicht, dass sol-che Orientierungsrahmen3 in ihrer „Funktionalität nach mehrfachen Richtungen hin“ erfasst werden können: „einmal als Funktion umfassender seelischer Kon-stellationen, als Funktion der Weltanschauung des jeweiligen Einzelindividuums, das andere Mal als Funktion des Strebens der Gruppen nach wirtschaft licher und gesellschaft licher Macht“ (Mannheim 1980: 89). Den letzteren, den Bezug auf den „Gesellschaft sprozeß“ (ebd.: 76), bestimmt Mannheim als die eigentliche Aufgabe

1 Anja Mensching, Karin Schittenhelm, Ralf Bohnsack, Ulrike Ofner und Franca Seuff erle haben mir zu Vorversionen dieses Aufsatzes wertvolle Ratschläge gegeben. Von diesen und der Diskus-sion meiner Überlegungen in der Forschungswerkstatt von Ralf Bohnsack und den Graduierten-kollegs von Werner Helsper, Friederike Heinzel, Heinz Sünker und Werner Th ole habe ich sehr profi tiert.

2 Zur dokumentarischen Methode siehe die Beiträge von Ralf Bohnsack und Florian von Rosen-berg in diesem Band. Vgl. darüber hinaus als Einführungen: Bohnsack 2007a, Loos / Schäff er 2001, Nohl 2009b und Przyborski / Wohlrab-Saar 2009.

3 Mannheim selbst spricht vom „Prozeß des Denkens und Erkennens“ (1980: 89).

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 157

der Soziologie. Sie versucht die „sozialen Gruppentypen“ (ebd.: 88) zu erfassen, die hinter den Kulturgebilden stehen.4

Aus diesem Grund bleibt die dokumentarische Methode nicht beim Einzel-fall (beim „Einzelindividuum“) stehen, sondern löst die Orientierungsrahmen von der Spezifi k der Einzelfälle ab und sucht nach fallübergreifenden Orientie-rungsrahmen. Auf der Basis einer umfassenden komparativen Analyse, innerhalb derer Fälle in unterschiedlicher Hinsicht miteinander verglichen werden (siehe dazu Nohl 2007 u. 2009a), werden dann Typiken gebildet. Zunächst werden in der sinngenetischen Typenbildung einzelne, fallübergreifende Orientierungsrahmen typisiert. Dann wird in der soziogenetischen Typenbildung der „Erlebnishinter-grund, der spezifi sche Erfahrungsraum, in dem die … Genese dieser spezifi schen Orientierungen zu suchen ist“, in die Typenbildung mit einbezogen (Bohnsack 2007a:  142). So verstanden, wird in der soziogenetischen Typenbildung unter-sucht, wie die Art und Weise, in der Menschen mit den Problemen ihres Lebens umgehen, wie ihre Orientierungen in kollektiven Erfahrungsräumen, in – ab-strakt zu denkenden – ‚sozialen Gruppentypen‘ (um die Wortwahl Mannheims aufzugreifen) verankert sind.5

Solche kollektiven Erfahrungsräume können im Anschluss an Mannheim (und an ihn anknüpfend an Bohnsack) als spezifi sche Ausprägungen „sozialer Lagerungen“ (Mannheim 1964b) wie jener des Geschlechts, der Generation, der Klasse oder der Migration verstanden werden. Wichtig für die dokumentarische Methode ist es, dass diese sozialen Lagerungen nur ein Potenzial an gleichartigen Erfahrungen (etwa als Arbeiter, als Frau oder als Migrant) bereithalten. Erst die empirische Analyse kann zeigen, ob Menschen derartige strukturidentische Er-fahrungen machen und in welchen (möglicherweise unterschiedlichen) kollekti-ven Orientierungsrahmen sie jene bewältigen. Die soziogenetische Typenbildung untersucht die Einbindung dieser unterschiedlichen Orientierungsrahmen in kol-lektive Erfahrungsräume.

In meinem Beitrag möchte ich nun zeigen, dass im Bereich der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung zwar durchaus kollektive Orientierungen in ihrer Soziogenese zu typisieren, also auf kollektive, geschlechts-, generations- oder z. B. schichtspezifi sche Erfahrungsräume zu beziehen sind; damit werden aber die Po-

4 Neben der hier angeführten Schrift sind vor allem Mannheims „Beiträge zur Th eorie der Welt-anschauungsinterpretation“ (1964a) für die Entwicklung der dokumentarischen Methode zentral gewesen.

5 Zur Typenbildung in der Auswertung von Gruppendiskussionen siehe Nentwig-Gesemann 2007 und Bohnsack 2007b, für die typisierende Auswertung von narrativen Interviews siehe Nohl 2009b: 57 ff.

158 Arnd-Michael Nohl

tenziale der dokumentarischen Methode noch nicht voll ausgeschöpft . Denn über den Zusammenhang von Orientierungen und kollektiven Erfahrungsräumen hin-aus kann mit dieser Methode rekonstruiert werden, in welcher Relation unter-schiedliche typisierbare Orientierungen zueinander stehen. Bevor ich diese rela-tionale Typenbildung näher erläutern kann, möchte ich zunächst die Eckpunkte der sinn- und soziogenetischen Typenbildung anhand von Forschungsbeispielen und methodologischen Überlegungen skizzieren.

2 Zur sinngenetischen Typenbildung

Der Begriff der sinngenetischen Typenbildung, wie er von Bohnsack entwickelt wurde, geht ursprünglich auf Mannheims Überlegungen zur „sinngenetischen In-terpretation“ zurück. Wie Mannheim (1980: 86) deutlich macht, sucht die sinn-genetische Interpretation „nicht die faktische Entstehung, sondern den Ursprung der in einem System enthaltenen Motive durch eine rein typologische Neben-einanderstellung der (in der betreff enden Sphäre) überhaupt möglichen Motive aufzuweisen und die für die getroff ene Wahl immanent entscheidenden Gründe darzulegen“. Der Begriff der Immanenz darf in diesem Zitat nicht missverstan-den werden. Es geht der dokumentarischen Methode gerade darum, nach dem immanenten Sinngehalt des Textes auch dessen dokumentarischen Sinngehalt zu erfassen, wie er in dem Orientierungsrahmen fundiert ist. Ein solcher Orien-tierungsrahmen wird dann in der sinngenetischen Typenbildung vom Einzelfall abstrahiert, gleichwohl aber noch nicht auf diesen Orientierungsrahmen über-greifende, jenseits von ihm liegende Prozessstrukturen bezogen. Das ist hier die Bedeutung der ‚immanent entscheidenden Gründe‘.

Der sich in einem Fall abzeichnende Orientierungsrahmen gewinnt schärfere Konturen, wenn man ihn mit dem Orientierungsrahmen eines anderen Falles ver-gleicht (vgl. Bohnsack 2007a: 65). Denn würde man einen einzelnen Fall darauf-hin untersuchen, wie in ihm eine Problemstellung bewältigt wird, wie z. B. ein Einstieg in den Arbeitsmarkt gefunden wird, könnten die Forschenden diese In-terpretation nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Normalitätsvorstellungen, Erfahrungen und (Alltags-)Th eorien zum Arbeitsmarkteinstieg anfertigen. Ihnen würde also hauptsächlich das auffallen, was ihren eigenen Erwartungen gleicht oder von ihnen stark abweicht. Wenn man jedoch zwei Fälle daraufhin vergleicht, wie sie mit ein und derselben Problemstellung auf unterschiedliche Weise umge-hen, lässt sich die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen stärker von der Vor-eingenommenheit der Forschenden mit ihren Erwartungen ablösen. Der zweite

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 159

(und der potenzielle dritte, vierte) Fall erweitert die Interpretationsfolie um em-pirische Vergleichshorizonte. Auch wenn die Einbindung des Erkenntnisprozes-ses in die Erfahrungswelt der Forschenden, auf die Mannheim (1985: 229) mit dem Begriff der „Seinsverbundenheit“ Bezug nimmt, prinzipiell nie aufzuheben ist, wird sie hier doch – soweit möglich, d. h. soweit die empirischen Vergleichs-horizonte reichen – einer methodischen Kontrolle unterworfen (vgl. Nohl 2007).

Nehmen wir für die vergleichende Rekonstruktion von Orientierungsrahmen und die an sie anknüpfende sinngenetische Typenbildung ein Beispiel aus einer Studie zu Entrepreneuren, d. h. Kleinunternehmer(inne)n (siehe Nohl / Schondel-mayer 2006). Es ging uns in dieser Untersuchung sowohl um die biografi schen Hintergründe der Existenzgründung als auch um die Erfahrungen, die sich mit ihr verknüpfen. Aus diesem Grunde haben wir mit den Gründer(inne)n narrative Interviews (im Sinne von Schütze 1983) geführt, die mit einer erzählgenerieren-den Frage zur Lebensgeschichte begannen und nach der Eingangserzählung mit Fragen zur Existenzgründung weitergeführt wurden.6 Eine dieser Fragen richtete sich auf die Arbeitsteilung im Unternehmen. In einem Interview mit einer jungen Frau namens Demir7, die mit ihrem Mann und dessen Freund – welche im Inter-view des Öft eren als „die beiden Männer“ bezeichnet werden – einen Laden für geröstete Nüsse, Sonnenblumenkerne usw. eröff net hat, fi ndet sich folgende Pas-sage (Nohl / Schondelmayer 2006: 203 f.):8

Interv.: was machen dann diese Mitarbeiter ?Demir: den Verkauf.Interv.: den Verkauf. mmh.Demir: die decken den Verkaufsbereich ab, also rösten tun immer noch die beiden

Männer, //ja// und da sie auch kennen das ist ganz sensible Ware, //mmh// die

6 Das narrative Interview wurde hier also nur zum Teil zur Erhebung der Biografi e genutzt, zum anderen Teil diente es dazu, die praktische Expertise der Existenzgründer / innen in Stegreif-erzählungen hervorzulocken, ganz im Sinne des Experteninterviews, wie es Meuser / Nagel (1994 u. 2002) konzipiert haben. Zur dokumentarischen Interpretation narrativ strukturierter Exper-ten- und biografi scher Interviews siehe Nohl 2009b.

7 Dieser wie auch alle weiteren Namen und personenbezogenen Angaben sind aus Gründen der Anonymisierung geändert.

8 Folgende Regeln fanden bei dieser und allen folgenden Transkriptionen Anwendung: (3) bzw. (.): Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert, bzw. kurze Pause; nein: betont; . : stark sinkende In-tonation; , : schwach steigende Intonation; vielleich-: Abbruch eines Wortes; nei::n: Dehnung, die Häufi gkeit von : entspricht der Länge der Dehnung; (doch): Unsicherheit bei der Transkription; ( ): unverständliche Äußerung, je nach Länge; ((stöhnt)): parasprachliche Ereignisse; @nein@: lachend gesprochen; @(.)@: kurzes Auflachen; //mmh//: Hörersignal des Interviewers; : Über-lappung der Redebeiträge; °nein°: sehr leise gesprochen.

160 Arnd-Michael Nohl

muss ja wirklich äh (.) richtig gelernt werden, //mmh// wenn überhaupt dann müsste man jemand ausbilden dafür; //mmh// richtig. //mmh// (1)

Frau Demir unterscheidet hier off enbar zwischen der Arbeitstätigkeit ihres Man-nes und dessen Freundes, denen das ‚Rösten‘ der „ganz sensiblen Ware“ vorbehal-ten bleibt, von der Verkaufstätigkeit der anderen Mitarbeiter. Der Orientierungs-rahmen, der hier der Arbeitsteilung im Unternehmen unterliegt, lässt sich dann am leichtesten identifi zieren und explizieren, wenn man ihn einem kontrastieren-den Orientierungsrahmen gegenüber hält. Dabei dient dieser Vergleich zunächst noch vornehmlich dazu, den Orientierungsrahmen (in dem ein Th ema bearbeitet wird) in dem ersten Interview dadurch besonders genau zu rekonstruieren, dass er sich von den Orientierungsrahmen in einem anderen Interview klar abgren-zen lässt.

Einen maximalen Kontrast bietet (allerdings nur in dieser Hinsicht) ein (Paar-)Interview, das ich mit zwei Grafi kdesignerinnen geführt habe, die ein kleines Büro in Ost-Berlin aufgebaut hatten. Angeregt durch eine meiner Fragen, geht Frau Scharte auf die „Arbeitsaufteilung“ ein (Nohl / Schondelmayer 2006: 188 f.):

Scharte: (1) und Arbeitsaufteilung ? (.) des hat sich irgendwie so ergeben; ham wir gar nich richtig geplant also- //mmh//

Meier: dadurch dass wir uns gut kennen, befreundet sind; (.) also s is schon klar dass wir vielleicht Layout zusammen machen oder jeder versucht ne eigene Idee zu machen und dann kucken wir was geht, oder wir bieten beide Ideen an, ähm (2) Hundertprozent läuft es immer so dass (.) so Bettina die Grafi k am Ende über-nimmt, die Reinzeichnung, die Druckbetreuung mehr als ich, das hab ich nicht gelernt; und dass ich mich um- viel um Fotos kümmer oder um (.) ja das Bild, die Farben die an sich dahin passen, in der Richtung, dass ich zweigleisig auch noch mich mehr um Fotos kümmer, als du, aber sonst ? dass wir ja Rechnung, also eigentlich machen wir v- alles gemeinsam; oder je nach dem wer gerade (.) //mmh// Lust hat. oder ?

Scharte: na ja; gut. Meier: viel machst du so Druckerei Scharte: aber solche schwierigeren Telefonate übernimmst du schon;Meier: ja.dafür musst du dich mit den Druckereien @rumprügeln@ aberScharte: @(.)@ also es gibt einfach so wenn man zusammen arbeitet, entwickelt sich des,

Zunächst einmal ist festzustellen, dass in diesem Transkriptausschnitt keine klare Trennung der Arbeitsbereiche vorliegt, sondern die beiden „alles gemeinsam“ ma-

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 161

chen. Auch wenn sich hier unterschiedliche Schwerpunkte gebildet haben – Frau Meier übernimmt die „Telefonate“, Frau Scharte die Gespräche mit der „Drucke-rei“ –, so beherrschen doch beide prinzipiell alle Arbeitsfelder. Es deutet sich hier ein ganz anderer Orientierungsrahmen als im oben zitierten Interview an. Wäh-rend bei Frau Demir die Mitarbeiter im Verkauf als Personen angesehen werden, die vornehmlich zuarbeiten, ist die Arbeit im Grafi kdesignbüro von einer Koope-ration geprägt.

In der sinngenetischen Typenbildung erhalten die kontrastierenden Orientie-rungsrahmen der Vergleichsfälle nun eine eigenständige Bedeutung. Sie werden also nicht mehr nur als ‚Nicht-A‘, sondern als B, C und D in ihrer eigenen Sinn-haft igkeit gesehen. Es geht darum, die – um ein bereits angeführtes Zitat von Karl Mannheim erneut heranzuziehen – „in einem System enthaltenen Motive [d. h. die Orientierungsrahmen; AMN] durch eine rein typologische Nebeneinander-stellung der (in der betreff enden Sphäre) überhaupt möglichen Motive aufzuwei-sen“ (1980: 86). Dies ist dadurch möglich, dass man die rekonstruierten Orien-tierungsrahmen vom Einzelfall ablöst und damit abstrahiert. Hier nun kommt der minimale Kontrast ins Spiel. Indem ich weitere Fälle heranziehe, die dem im Interview mit Frau Demir sich andeutenden Orientierungsrahmen ähneln, und solche, die dem zweiten Interview nahe kommen, kann ich Typen ausformulieren.

In Bezug auf die Arbeitsteilung im Unternehmen fi nden sich in einem In-terview mit einer Puppenbauerin Homologien zu Frau Demir. Frau Hintzer, die eine besondere Art und Weise entwickelt hat, Filzpuppen zu bauen und kunstvoll zu gestalten, hat eine Mitarbeiterin, zu der die Interviewerin im Folgenden eine Frage stellt (Nohl / Schondelmayer 2006: 199 f.):

Y: und mit der sprichst du dann auch geschäft liche Dinge ab, oder ? bist du da (.) ganz mit dir alleine ?

Hintzer: die beteiligt sich nicht daran. also die macht wirklich- es ähm also ich weiß nich ob man- wie offi ziell das is; hier ? //nich so offi ziell// gar nich offi ziell. im Prinzip arbeitet se ja im Moment wirklich schwarz. ne, //mmh// so. also sie baut Puppen, und kriecht dafür- also se im Prinzip isses n Werkvertrag; also sie kriecht baut Puppen und kriecht Stück (.) Geld dafür; //ja// und (1) und das würde auch wei-ter so bleiben; mit dem Geschäft lichen und mit der Ideenfi ndung und solchen Sachen hat se nüscht zu tun. das sind meine Puppen. (1)

Selbst hier, wo die Mitarbeiterin auch in der Produktion – also nicht nur im Ver-kauf wie bei Frau Demir – beschäft igt ist, wird der Umgang mit ihr durch einen Orientierungsrahmen geprägt, der klar zwischen der Tätigkeit der Entrepreneu-

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rin (Frau Hintzer selbst) und der Hilfe durch die Mitarbeiterin unterscheidet. Jene ist für das „Geschäft liche“ und die „Ideenfi ndung“ nicht zuständig, sodass Frau Hintzer darauf bestehen kann: „Das sind meine Puppen“.

Wir haben in unserer Studie diesen Orientierungsrahmen – der sich auch noch in weiteren Interviews zeigen ließ – als jenen der ‚Zuarbeit‘ bezeichnet und von einem Orientierungsrahmen der ‚Kooperation‘ abgegrenzt. Letzterer doku-mentierte sich nicht nur in dem bereits erwähnten Interview mit Frau Meier und Frau Scharte, sondern auch in den Schilderungen von Herrn Reichmann, der ein Büro zur Organisation von Bandtourneen gegründet hat (ebd.: 193):

Reichmann: ich mach den ganzen Kram- den ganzen Job jetzt halt schon seit zehn Jahren, und hab deswegen sicherlich die meiste Erfahrung, kann die Sachen besser ein-schätzen und hab die Kontakte, äh (.) meine Kollegin Missi mit der ich das äh von Anfang an zusammen mache, hat sicherlich ne vorbild- macht das jetzt aber in unserer Firma im Prinzip seitdem die ganze Zeit also s-sie lernt noch, hat aber mittlerweile sich=n großes Wissen erlangt und is einfach auch in der Lage sagen wir mal so wenn keine Ahnung ich krank bin oder so dann is sie absolut in der Lage die Firma allein zu führen; was gut is; und was auch n bisschen also äh auf gegenseitig natürlich beruht, was n bisschen beruhigt dass man sich nicht so äh völlig äh (1) wie soll ich sagen ? äh allein verantwortlich fühlt oder so //mmh// und das mit einem steht und fällt äh was ganz schön belastend sein kann natür-lich; äh das is glaub ich nich so; da ergänzen wir uns ganz gut

Während Frau Meier und Frau Scharte das Grafi kdesignbüro gemeinsam aufge-baut hatten, wird im Interview mit Herrn Reichmann deutlich, dass der Orien-tierungsrahmen der Kooperation auch den Umgang mit Mitarbeiter(inn)en strukturieren kann, die nicht am Unternehmen wirtschaft lich beteiligt sind. Die

„Kollegin Missi“ hat, so Herr Reichmann, inzwischen die zentralen Abläufe der Buchung von Bands erlernt und ist „in der Lage die Firma allein zu führen“. Der Orientierungsrahmen der Kooperation ist also nicht nur in einem Fall, sondern auch – mit einem minimalen Kontrast – in weiteren Fällen zu fi nden.

Die Abstraktion der jeweiligen Orientierungsrahmen und die hiermit ermög-lichte sinngenetische Typenbildung lassen sich also dadurch erleichtern, dass wei-tere Interviews herangezogen werden. So kann dann ein Orientierungsrahmen A, der zunächst nur in Interview A sichtbar war, nun auch in Interview Y und X her-ausgearbeitet – und auf diese Weise vom Einzelfall A abgelöst – werden. Und ein Orientierungsrahmen B, der zunächst nur in Interview B sichtbar war, kann nun

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 163

auch in Interview S und T herausgearbeitet – und auf diese Weise vom Einzelfall B abgelöst – werden; und so weiter und so fort.

Die sinngenetische Typenbildung zeigt, in welch unterschiedlichen Orientie-rungsrahmen die erforschten Personen jene Th emen und Problemstellungen be-arbeiten, die im Zentrum der Forschung stehen. Sie macht aber nicht deutlich, in welchen sozialen Zusammenhängen und Konstellationen die typisierten Orien-tierungsrahmen entstanden sind. Zum Beispiel zeigt die oben am Beispiel dar-gestellte sinngenetische Typenbildung nicht, inwiefern der Orientierungsrahmen der Kooperation möglicherweise mit einer bestimmten Form der Produktions-weise zusammenhängt. Schon in den Transkriptausschnitten fi nden sich ja Hin-weise auf solche existenziellen Hintergründe der Orientierungsrahmen, wenn z. B. das ‚Rösten‘ oder die „Ideenfi ndung“ beim Puppenbauen als eine hohe Kunst prä-sentiert werden, während das Buchen einer Band als durch Erfahrung erlernbar dargestellt wird. Diese Frage nach den sozialen Zusammenhängen und der sozia-len Genese eines Orientierungsrahmens werden in der soziogenetischen Typen-bildung bearbeitet.

3 Soziogenetische Typenbildung

Angesichts ihrer „soziogenetischen Einstellung auf die Funktionalität der Kultur-gebilde“ (Mannheim 1980: 85) richtet die dokumentarische Methode „ihr Augen-merk“ darauf, wie die Orientierungsrahmen im „Gesellschaft sprozeß“ verankert sind (ebd.: 76). Dabei ist es letztlich gleich, ob die „Kulturgebilde“, „Werke“ oder Orientierungsrahmen bei einem Individuum identifi ziert worden sind oder gleich in Gruppen bzw. bei Paaren (wie etwa bei Frau Meier und Frau Scharte). Auch individuell gemachte Erfahrungen, wie sie in biografi sch angelegten narrativen Interviews erzählt werden, können – wie Mannheim deutlich macht – „grup-penbedingt“ sein, selbst „wenn die Gruppe nicht selbst leibhaft ig gegenwärtig ist“ (ebd.: 81).

An dieser Stelle müssen zwei Diff erenzierungen eingeführt werden:9 Die Re-konstruktion unterschiedlicher Fälle zeigt zunächst, ob die involvierten Personen von einem gemeinsamen Problem oder Sachverhalt (z. B. einem historischen Er-eignis wie dem Mauerfall) betroff en sind, ob sich dieser also in ihren Erfahrun-

9 Ich beziehe mich im Folgenden auf Überlegungen aus Karl Mannheims Aufsatz zum „Problem der Generationen“ (Mannheim 1964b), ohne seine Wortwahl und den engen Bezug zum Begriff der Generation zu übernehmen.

164 Arnd-Michael Nohl

gen niederschlägt. Sodann ist davon auszugehen, dass dieser Sachverhalt in unter-schiedlicher Art und Weise erfahren und bewältigt werden kann (z. B. mögen die einen den Mauerfall als Zugewinn an Freiheit erfahren und entsprechend genutzt, die anderen aber als Einsturz ihrer biografi schen Perspektiven erlebt haben). Nur dort und insoweit Probleme und Sachverhalte in einer von der Struktur her iden-tischen Art und Weise erfahren und bewältigt werden, kann man von einem kollektiven Erfahrungsraum mit seinem entsprechenden Orientierungsrahmen sprechen. Wenn man mit der dokumentarischen Methode die Verankerung eines Orientierungsrahmens im Gesellschaft sprozess herausarbeiten möchte, gilt es daher, dessen Genese in einem spezifi schen kollektiven Erfahrungsraum zu re-konstruieren. Diese Rekonstruktion ist nur dann in valider Weise möglich, wenn man den Orientierungsrahmen von anderen Orientierungsrahmen, die in ande-ren Erfahrungsräumen eingebettet sind, empirisch abgrenzen kann (wenn man, um im Beispiel zu bleiben, zeigen kann, auf welche Art und Weise in dem einen kollektiven Erfahrungsraum der Mauerfall verarbeitet wird und wie sich dies von den entsprechenden Orientierungsrahmen in anderen Erfahrungsräumen unter-scheidet).

Es würde allerdings einen essentialistischen Fehlschluss implizieren, würde man den kollektiven Erfahrungsraum einerseits und gruppenhaft es kollektives Handeln andererseits nicht voneinander diff erenzieren. Während gruppenhaf-tes kollektives Handeln an Kopräsenz gebunden ist, basiert eine kollektive Er-fahrungsschichtung auf strukturidentischen, d. h. homologen Erfahrungen. Men-schen erleben ein bestimmtes Ereignis auf eine gleiche Art und Weise, ohne es notwendig gemeinsam zu erleben (vgl. Bohnsack 2007a: 112 f.).

Schon in der oben angeführten Entrepeneurship-Studie deutete sich an, dass der Orientierungsrahmen der Zuarbeit mit einer überindividuellen, bei unter-schiedlichen Individuen zu beobachtenden Produktionsweise (die kunstförmig ist) zusammenhängen könnte. Prägnanter ließ sich die Fundierung individuellen Handelns in kollektiven Erfahrungsräumen in einer Untersuchung zu spontanen Bildungsprozessen rekonstruieren (siehe Nohl 2006).

Ziel dieser Studie war es, anhand von biografi sch-narrativen Interviews (vgl. Schütze 1983; Nohl 2009b) herauszuarbeiten, wie Menschen, angestoßen durch ungeplante, nicht erzwungene und insofern spontane Handlungspraktiken, sich in ihren zentralen Lebensorientierungen so stark verändern und hierbei eine Subjektivierung erfahren, dass von einem Bildungsprozess gesprochen werden kann. Dieser Bildungsprozess hat sechs Phasen, auf die ich hier nicht im Einzel-nen eingehen kann. Wichtig ist dabei aber, dass diese sechs Phasen, in denen die Betroff e nen Erfahrungen machen, die sie selbst – auch in ihrer Darstellung – als

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 165

vornehmlich individuelle erleben, bei neun ganz unterschiedlichen Menschen re-konstruiert und auf diese Weise sinngenetisch typisiert werden konnten.

Genauer konnte die Einbettung dieser Bildungsphasen in kollektive Zusam-menhänge herausgearbeitet werden, indem systematisch Personen unterschied-lichen Lebensalters miteinander kontrastiert wurden. Denn obgleich die Phasen des Bildungsprozesses über alle Fälle hinweg deutlich erkennbar blieben, erhiel-ten diese doch unterschiedliche Ausprägungen, je nachdem, ob sie bei 20-Jähri-gen, 35-Jährigen oder bei Seniorinnen vorlagen. Zum Beispiel waren jene Phasen, die in besonderer Weise durch die Spontaneität des Handelns geprägt waren, bei den Jugendlichen zugleich vom Handeln der Gruppe geprägt, während die Senio-rinnen und die Erwachsenen in der Lebensmitte eher als Individuen handelten.10 Es war nun aufgrund der unterschiedlichen Lebensalter anzunehmen, dass diese Unterschiede in den Phasen durch die Einbindung in diff erente kollektive Erfah-rungsräume, jene der Lebensalter, zustande gekommen waren.

Zu Beginn der soziogenetischen Typenbildung ordnet man den Orientie-rungsrahmen einem kollektiven Erfahrungsraum vornehmlich zu. Denn soweit man an dieser Stelle nur von äußeren Plausibilitäten ausgeht (z. B. davon, dass eine Phase des Bildungsprozesses bei den 20-Jährigen eine andere Ausprägung hat als bei den Seniorinnen), ohne die „Sinnhaft igkeit“ der Orientierungsrahmen als „Fragment umfassenderer Totalitäten“ (Mannheim 1980: 88) – nämlich der kollektiven Erfahrungsräume – herauszuarbeiten, verbleibt man in einer „kausal-genetischen Erklärung“ (ebd.). Es ist also notwendig, die sinnhaft e Verbindung von Orientierungsrahmen und kollektivem Erfahrungsraum zu rekonstruieren. So war es für die o. g. Studie z. B. wichtig, die Bedeutung des spontanen Handelns in Realgruppen für die Adoleszenz zu rekonstruieren und sie von den einzeln er-lebten Handlungspraktiken in den anderen beiden Lebensaltern zu unterscheiden.

Während bei der Analyse von narrativen Interviews immer schon von dem einzelnen Fall abstrahiert werden muss, um den kollektiven Hintergrund von Orientierungsrahmen in valider Weise zu identifi zieren, bieten Realgruppen einen leichteren Zugang zur Kollektivität. Bei Karl Mannheim heißt es hierzu:

„Die Funktionalität eines geistigen Gebildes gegenüber einem gemeinschaft lichen Er-lebnisstrom war am leichtesten erfaßbar, wo ein ausgesprochenes Gruppenerlebnis so-zusagen handgreiflich vorhanden war, wo der einzelne durch die örtliche und zeitli-

10 Während bei den 20-Jährigen nur Männer und bei den 35-Jährigen Männer und Frauen in die Untersuchung einbezogen wurden, wurden nur weibliche 65-Jährige interviewt. Dies schränkt die Möglichkeit, die Grenzen der Alterstypik zu bestimmen, erheblich ein.

166 Arnd-Michael Nohl

che Simultanität des Erlebens gewissermaßen einen Teil des Erlebniszusammenhanges als nicht ausschließlich ihm angehörig zu erfassen und die aus jenem emporsteigen-den Gebilde (den gemeinsam gefaßten Beschluß, das Programm usw.) in der Funktio-nalität zur seelischen Lage der Gruppe zu erleben sozusagen gezwungen ist.“ (1980: 79; H. i. O.)

In geradezu idealer Weise wird die Funktionalität von ‚geistigen Gebilden‘, d. h. deren Orientierungsrahmen, für einen ‚gemeinschaft lichen Erlebnisstrom‘ in Gruppendiskussionen erfasst, wie sie Ralf Bohnsack als Erhebungsverfahren – ausgehend von Arbeiten Mangolds (u. a. Mangold 1973) – entwickelt hat. Wenn in Realgruppen diskutiert wird, kommen kollektive Erfahrungen und Orientie-rungen zur „Artikulation“ (Bohnsack 2007a: 63), wobei sich die Kollektivität auch in der Performanz der Gruppendiskussion niederschlägt (dazu ebd.: 121 ff. und Przyborski 2004).11

In seiner Habilitationsschrift hat Ralf Bohnsack nicht nur die Gruppendiskus-sion in diese Richtung entwickelt, sondern auch die dokumentarische Methode zu einem Auswertungsverfahren gemacht, das auf soziogenetische Typenbildung zielt. In seiner empirischen Studie ging es Bohnsack vor allem um die Adoles-zenzentwicklung von Jugendlichen. Im Zentrum steht hier u. a. eine „Bänkla“ ge-nannte Gruppe, in der sich auf die Frage des Forschers danach, wie sie die Zukunft sähen, folgender Diskurs entfaltet (Bohnsack 1989: 116):

Bm: Ja ich schätz, wir werden so, des wird (.) bei allen gleich sein, wir leben von ei-nem Tag zum andern, halt einfach (.) ohne halt da auf die nächsten Wochen oder Monate zu schaun, wir leben halt bloß von heut auf morgen so ziemlich (3) also mir geht’s auf jeden Fall so: was nächste Wochen ist, das is mir ziemlich wurscht, ne. Was halt jetzt morgen kommt, das (.) das interessiert mich a wenig mehr (.) oder was heut is

Dm: nächste Wochen fängt der Berg anBm: was, nächste Wochen ?Cm: @nächste Wochen fängt der Berg an@

Wie Bohnsack (2007a: 35) schreibt, wird hier eine „über die nächsten Tage hinaus-reichende, eine biographisch relevante Zukunft sperspektive … ganz entschieden

11 Dabei ist wiederum der Unterschied von Realgruppe und kollektiver Erfahrung zu beachten. D. h. auch Personen, die sich zuvor nicht kannten und keine gemeinsam gemachten Erlebnisse haben, können einen kollektiven Erfahrungsraum teilen.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 167

ausgeklammert“ und „biographisch Relevantes … negiert“. Dieser Orientierungs-rahmen der Negation biografi scher Zukunft wird von Bohnsack nun systematisch mit den Orientierungsrahmen anderer Jugendlicher kontrastiert.12 Dabei zeigt sich, dass zwar bei Jugendlichen ähnlichen Alters ein homologer Orientierungs-rahmen (derjenige der Negation) zu fi nden ist, sich dies aber auf Jugendliche in der Mitte der Berufsausbildung beschränkt. Denn solche Gruppen, die noch am Anfang oder bereits am Ende der Adoleszenzentwicklung stehen, thematisieren die Zukunft in anderer Weise.

Neben dieser Adoleszenztypik fi ndet Bohnsack jedoch – indem er Jugendli-che aus dem Dorf mit solchen in einer Mittelstadt vergleicht – auch ortsgesell-schaft liche typische Unterschiede: Der Orientierungsrahmen der Gruppe Bänkla ist – neben der Negation – auch dadurch geprägt, dass diese Dorfjugendlichen zumindest noch in die jahreszyklischen Feste des Dorfes (den „Berg“) integriert sind, während die städtischen Jugendlichen die Negationsphase besonders kri-senhaft und desintegrierend erleben. Wesentliche Diff erenzen kann Bohnsack dann auch gegenüber weiblichen Auszubildenden sowie zudem im Verhältnis zu Gymnasiast(inn)en herausarbeiten. Die Zukunft svorstellungen von Letzteren sind – im Gegensatz zu den Auszubildenden – wenig praktisch angelegt; vielmehr ergehen sie sich in einer „intellektuellen Spielerei“ (2007a: 41), in der sie sich Ge-danken darüber machen, wie sie durch fantastisch anmutende Sparpläne das Stu-dien-Bafög zurückzahlen können.13

Indem Bohnsack die Orientierungsrahmen von Gruppen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, ortsgesellschaft licher Einbindung und Bildungshintergrun-des rekonstruiert, kann er nicht nur diese sinngenetisch typisieren, sondern auch die Einbettung des Orientierungsrahmens eines jeden Falles in verschiedene kol-lektive Erfahrungsräume (des Geschlechts, des Bildungsmilieus, des sozialräum-lichen Milieus, der Adoleszenz) aufzeigen. Er identifi ziert sozusagen – um mit Mannheim zu sprechen – die „sozialen Gruppentypen“ (1980: 88), die hinter dem jeweiligen Orientierungsrahmen stehen. Dabei muss betont werden, dass diese Gruppentypen nichts mit Realgruppen zu tun haben, sondern auf die Mehr-dimensionalität sozialer Strukturierungen verweisen. Denn an jedem einzelnen Fall – etwa jenem der Gruppe Bänkla – wird nicht nur die Einbettung des Orien-

12 Siehe zu Orientierungsrahmen von Jugendlichen verschiedener Bildungsmilieus auch den Bei-trag von Ralf Bohnsack in diesem Band.

13 Ihre Gedankenspielereien beenden die Gymnasiast(inn)en mit dem Ausruf eines Diskussions-teilnehmers: „hey jeje (.) Gymnasium Gymnasium (.) time out time out stopp“ (zit. n. Bohnsack 1989: 220). Damit verweisen sie selbst auf den existenziellen Hintergrund ihrer eigenen Art und Weise, über die Zukunft nachzudenken.

168 Arnd-Michael Nohl

tierungsrahmens in einen Erfahrungsraum (etwa jenen des Geschlechts), son-dern in mehrere Erfahrungsräume (etwa zusätzlich des Sozialmilieus und der Adoles zenz) rekonstruiert,14 indem dieser Fall mit spezifi schen anderen Fällen kontrastiert wird. Dabei fällt die „Zuordnung eines Falles zu einer Typik, also die Interpretation des Falles als Dokument dieser Typik, … umso valider aus, je umfassender am jeweiligen Fall auch andere Bedeutungsschichten oder -dimen-sionen herausgearbeitet werden können, in denen sich andere Typiken dokumen-tieren“ (Bohnsack 2007a: 50).

Vergleich und Typenbildung erfolgen auf dem Wege des „Kontrasts in der Ge-meinsamkeit“ (Bohnsack 2007a: 38): Der Beobachter nimmt zwei Fälle in den Blick, die in mehreren Erfahrungsdimensionen Gemeinsamkeiten, in einer an-deren aber Unterschiede aufweisen. Dann wird der Vergleichsfall gewechselt und Gemeinsamkeiten und Unterschiede in weiteren Erfahrungsdimensionen identifi -ziert. Grafi sch kann man sich dies folgendermaßen vorstellen (Abbildungen 1 – 3):

Es fällt nun auf, dass diejenigen Arbeiten, in denen die soziogenetische Ty-penbildung in sehr überzeugender Weise funktioniert hat, durch Suchstrategien (bei der Identifi zierung der zu vergleichenden Fälle) geleitet wurden, die entlang gesellschaft lich etablierter Dimensionen gesellschaft licher Heterogenität verliefen. Hatte Bohnsack (1989) noch die Dimensionen Adoleszenz, Geschlecht, Bildungs- und Sozialmilieu im Fokus gehabt, ist in einer anschließenden Studie die Migra-tionslagerung als weitere Dimension herausgearbeitet worden (vgl. Nohl 2001).

Für die genannten Studien gilt, dass ihre Suchstrategien noch vornehmlich durch Annahmen aus der Alltagserfahrung bzw. -theorie und durch theoreti-sche Überlegungen geprägt waren.15 Nach Unterschieden zwischen Jugendlichen im Dorf und solchen in der Stadt zu suchen, Migranten mit Einheimischen zu

14 Terminologisch ist es in den Schrift en Bohnsacks nicht ganz klar, ob jeder Fall einen Orientie-rungsrahmen hat, der als spezifi sch für die Überlagerung unterschiedlicher kollektive Erfah-rungsräume gelten kann, oder ob es darum geht, in den einzelnen Fällen – auf dem Wege der komparativen Analyse – die Überlagerung mehrerer, jeweils für einen anderen kollektiven Erfah-rungsraum spezifi scher Orientierungsrahmen zu rekonstruieren. Ich beziehe mich hier auf die erste Möglichkeit, ohne aber die zweite Version in Abrede stellen zu wollen.

15 Diese Vorgehensweise hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was Kelle / Kluge (2010: 52) als einen „qualitativen Stichprobenplan“ bezeichnen, bei dem es nicht um die Sicherstellung von Reprä-sentativität geht, sondern um „die Abbildung der Varianz bzw. Heterogenität im Untersuchungs-feld“. Wie auch bei Kelle / Kluge ist es allerdings in der dokumentarischen Methode entscheidend, diesen ‚Stichprobenplan‘ so fl exibel einzusetzen, dass das Ziel, eine empirisch gegründete Th eo-rie (auf der Basis der Typenbildung) erst noch zu entwickeln, nicht aus den Augen gerät. Daher geht eine theorie- und erfahrungsgeleitete Suchstrategie idealerweise mit einer Rekonstruktion der Fälle einher, die so genau ist, dass auch jenseits der theoretischen Vorannahmen liegende As-pekte der Fälle auffallen und zur Typenbildung genutzt werden können.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 169

Abbildung 1 Entwicklung der Lebensalterstypik

Abbildung 2 Entwicklung der Bildungsmilieutypik

Beobachter

Männliche Gymnasiasten

im Alter von 16 Jahren

Männliche Lehrlinge

im Alter von 16 Jahren

Männliche Lehrlinge

im Alter von 18 Jahren

Lebensaltersvergleichund Adoleszenztypik

Beobachter

Männliche Gymnasiasten

im Alter von 16 Jahren

Männliche Lehrlinge

im Alter von 16 Jahren

Bildungsmilieu-vergleich und -typik

Männliche Lehrlinge

im Alter von 18 Jahren

170 Arnd-Michael Nohl

vergleichen oder Ost-Berlinerinnen von West-Berlinerinnen zu diff erenzieren impliziert, dass man sich auf etablierte Dimensionen gesellschaft licher Hetero-genität stützt, die von Karl Mannheim mit dem Begriff der „sozialen Lagerung“ (1964b) bezeichnet wurden.16 Diese Suchstrategien wurden dann, wenn sie erfolg-reich waren, in eine soziogenetische Typenbildung überführt, in der die „Sinn-haft igkeit“ der Orientierungsrahmen als „Fragment“ (Mannheim 1980: 88) der jeweiligen kollektiven Erfahrungshintergründe zur Geltung kommt. Zum Bei-spiel hat Bohnsack nicht nur gezeigt, dass die gedankenspielerische Beschäft i-gung mit der biografi schen Zukunft (als Orientierungsrahmen) regelmäßig bei Gymnasiast(inn)en, nicht aber bei Auszubildenden anzutreff en ist, er hat auch die Fundierung dieses Orientierungsrahmens in der Handlungspraxis und Er-fahrungswelt dieser Jugendlichen (wie sie wesentlich durch die Beschäft igung mit theoretischen Dingen in der Schule charakterisiert ist) rekonstruiert.

16 Soziale Lagerungen wie die Klasse oder die Generation bezeichnen eine „verwandte Lagerung der Menschen im sozialen Raume“ (Mannheim 1964b: 526), die diese „Individuen auf einen be-stimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränken und damit eine spezifi sche Art des Er-lebens und Denkens, eine spezifi sche Art des Eingreifens in den historischen Prozeß nahelegen“ (ebd.: 528). Zu den unterschiedlichen, auch geschlechts- und migrationsbezogenen sozialen La-gerungen siehe Nohl 2010, Kap. 6.1.

Abbildung 3 Entwicklung der Geschlechtertypik

Beobachter

Geschlechtervergleich und -typik

Weibliche Gymnasiastinnen

im Alter von 16 Jahren

Männliche Gymnasiasten

im Alter von 16 Jahren

Männliche Lehrlinge

im Alter von 16 Jahren

Männliche Lehrlinge

im Alter von 18 Jahren

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 171

Die Überführung einer theorie- bzw. erfahrungsgeleiteten Suchstrategie, die sich an gesellschaft lich etablierten Dimensionen von Heterogenität orientiert, in eine soziogenetische Typologie gelingt indes nicht immer. Und dies hat nicht not-wendigerweise mit der Inkompetenz der Forschenden zu tun, sondern kann auch daran liegen, dass die Annahmen, die die Suchstrategien untermauern, sich nicht auf gesellschaft lich etablierte Dimensionen sozialer Heterogenität (Geschlecht etc.) stützen können. Es gibt Forschungsgebiete, für die in der Gesellschaft noch keine (auch im öff entlichen Diskurs etablierte) Diff erenzkategorien vorhanden sind bzw. für die die etablierten binären Schematismen (Männer – Frauen, Mi-granten – Einheimische, Junge – Alte) und andere Unterscheidungen (etwa nach Bildungsmilieus) sich als (im wahrsten Sinne des Wortes) nicht sinnvoll erweisen.

4 Zur Entwicklung relationaler Typologien

Wenn sich (im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung) typisierte Orientie-rungen nicht auf bestimmte, in einer erfahrungs- und theoriegeleiteten Suchstrate-gie identifi zierte Erfahrungshintergründe (wie Geschlecht, Schicht, Generation) sinnhaft zurückführen lassen, wenn die soziogenetische Typenbildung also schei-tert, lassen sich neue Wege der Typenbildung erkunden, die ich im Folgenden als ‚relationale Typologien‘ bezeichnen möchte. Erste praktische Schritte zur Ent-wicklung relationaler Typologien haben wir in einer Studie zur Arbeitsmarktinte-gration von hochqualifi zierten Migrant(inn)en17 gemacht.18 Wir waren zu Beginn dieser internationalen Forschungsarbeit nicht – wie dies üblicherweise in der Mi-grationsforschung geschieht – davon ausgegangen, dass die ethnische Erfahrungs-dimension eine wichtige Rolle spielen würde; gleichwohl hatten wir beispielsweise angenommen, dass sich geschlechtsspezifi sche Diff erenzen in der Arbeitsmarkt-integration dieser ausländischen Akademiker / innen werden zeigen lassen. Zwar ließen sich in wenigen Fällen geschlechtsspezifi sche Besonderheiten (in Verknüp-fung etwa mit Elternschaft ) aufzeigen, eine Typisierung geschlechtsbezogener Un-terschiede bei der Arbeitsmarktintegration war jedoch nicht möglich.

Was aber tun, wenn die theorie- und erfahrungsgeleiteten Suchstrategien nicht in eine soziogenetische Typologie zu überführen sind ? Wir sind in unserem Pro-

17 Die Studie mit dem Titel „Kulturelles Kapital in der Migration“ wurde von Karin Schittenhelm, Oliver Schmidtke, Anja Weiß und dem Autor geleitet. Zu Anlage und Ergebnissen der Studie siehe Nohl / Schittenhelm / Schmidtke / Weiß 2010.

18 Die Bezeichnung „relationale Typologie“ basiert auf einer Refl exion und Systematisierung dieser Forschungserfahrungen, ging ihnen aber nicht voraus.

172 Arnd-Michael Nohl

jekt zu hochqualifi zierten Migrant(inn)en den Weg gegangen, zunächst Fälle mit-einander zu vergleichen, von denen wir nicht von vorneherein wussten, in Bezug auf welche sozialen Unterschiede bzw. „sozialen Gruppentypen“ (Mannheim) wir sie miteinander kontrastieren sollten. Ein solcher Vergleich beginnt mit dem sprichwörtlichen Stochern im Heuhaufen des empirischen Datenmaterials, bleibt aber nicht bei ihm stehen. Ich möchte dies im Folgenden anhand eines prakti-schen Beispiels aus unserer Forschungsarbeit deutlich machen.

In einem Teilprojekt19 unserer Studie, das mit hochqualifi zierten Mi gran- t(inn)en mit ausländischen Hochschulabschlüssen und einem den Einheimischen gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt befasst war, haben wir zu Beginn der empirischen Rekonstruktionen den Fall von Herrn Nazar interpretiert, indem wir ihn mit den narrativen Interviews weiterer Einwanderer, unter ihnen Frau Yan und Frau Guzman-Berg, verglichen haben. Herr Nazar schildert in dem Interview seine Kindheit, Jugend und ersten Berufsjahre, um dann auf seine Eheschließung mit einer in Deutschland lebenden Türkin zu sprechen zu kommen. Obgleich die beiden zunächst in der Türkei zu leben versucht hatten, entscheiden sie sich dann, sich in Deutschland niederzulassen:

Nazar: Und ich komme hierher. Ich hatte eigntlich keine große Vorstellungen (.) große Erwartungen ((atmet ein und aus)) ja ich bin doch (als) Arzt (1) hierhergekom-men aber äh nicht unbedingt als Arzt geboren. //mhm// Und ich kann alles tun eigntlich als gesunder Mann, und deswegn hab ich mir erstmal keine Sorge ge-macht, ja erstmal ein Familie gründen und dann (.) schaff ich, hab ich mir ge-dacht und sie war auch berufstätig, (1) 91 Heirat, ä:hm dann (.) bin ich erst 92 Juli hierher gekommen. Ähm (2) dann (3) hab ich (.) bei Goethe-Institut angefan-gen zweimal (.) nee neun Monate ungefähr (.) war ich bei Goethe-Institut. Die Grundstufe hab ich dort absolviert, in der Türkei hatte ich gar kein Deutsch ge-lernt, nur Englisch //mhm// wie üblich. (.) Ähm da:nn (2) war ich bei HSI also Hamburger Sprachinstitut hier //mhm// an der Ecke. ((atmet kurz ein)) aber dann nachdem ich hier gekommen bin 92 war ich in Verrein aktiv. Es gibt ein äh Verein Gemeinschaft türkischer Mediziner e. V., äh erstmal einfach rumzu-gucken was läuft wie läuft , (.) äh ein Jahr hat das gedauert ich war fast bei je-dem Vorstandssitzung, da. Äh aber noch nicht Mitglied. //mmh// Und dann 93 war ich Mitglied und dann ähm ja war so zehn Jahre lang als als Schrift füh-

19 An dem von mir geleiteten Teilprojekt waren Ulrike Ofner, Sarah Th omsen und Yvonne Henkel-mann beteiligt; die meisten Fälle wurden von Ulrike Ofner erhoben und einer ersten Auswertung unterzogen. Siehe hierzu u. a. Nohl / Ofner / Th omsen 2010, Th omsen 2009 und Henkelmann 2011.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 173

rer, vom Verein (.) tätig gewesen (1) und dann ähm (1) also 92 93 vo:n (.) 93:: bis 94 hab ich ä:m (.) AIDS-Beratungsstelle teils geleitet (2) deswegen musste ich diese HSI äh aufhörn //mhm// den Sprachkurs, also Mittelstufe hab ich nich ge-schafft , kein Prüfung abgelegt. (.) Ä:hm (.) neun Monate ungefähr hab ich äh (.) als Stellvertreter (und denn) ungefähr (.) Leiter von (1) damalige AIDS-Bera-tungsstelle äh ähm übernommen, (2) ähm (2) dann (.) 94 (1) November hab ich hier in der Praxis angefangen //mhm// als äh AIPler so ungefähr (.) und dann als Assistenzarzt nachdem mein Vorgänger äh ein Ermächtigung bekommen hat. (.) Und dann seit 99 äh (.) hab ich die Praxis übernommen; weil er aufhörn musste aus Altersgründen. Inzwischen in Deutschland habe ich zwei Kinder, ah der Groß=is zehn Jahre (.) alt. Die Kleine wird im November sieben, (1)

Die Art und Weise, wie Herr Nazar in diesem Interviewabschnitt seine Migration und Arbeitsmarktintegration bearbeitet, welche Orientierungen also für diesen wichtigen Abschnitt seines Lebens von zentraler Bedeutung sind, lässt sich kaum in valider Weise aus diesem einzelnen Interview herausarbeiten. Denn eine sol-che Rekonstruktion wäre vollkommen an die Normalitätserwartungen des Inter-preten gebunden, der überdies bislang kaum Erfahrungen mit hochqualifi zierten Migranten gemacht hat, der also selbst nicht in den Gegenstandsbereich einsozia-lisiert ist. Selbst wenn wir die zentralen Orientierungen rekonstruieren könnten, wüssten wir noch nicht, wofür, d. h. für welche sozialen Konstellationen sie hier stehen und welche Grenzen sie haben.

Hilfreich war in diesem Moment der Vergleich mit Frau Yan und Frau Guz-man-Berg. Während Herr Nazar, wie sich in dem Interview andeutet, nicht selbst an einer Migration interessiert, sondern eher als Konsequenz seiner Heirat mit einer in Deutschland lebenden Frau hierher gekommen ist, ist für Frau Yan die Migration ein wichtiger Karriereschritt auf dem Wege zu einer Biochemikerin. Es ist ihr biografi scher Plan, die Doktorarbeit im Ausland zu schreiben, und als sie auf eine Anzeige in der Zeitschrift „Natural Science“ stößt, bewirbt sie sich um eine Stelle an der FU Berlin, die sie auch ohne größere Umstände erhält. Dies kontrastiert maximal mit der Art und Weise, wie Herr Nazar seine Arbeitsmarkt-integration betreibt. Während er durch seine Einbindung in einen ethnisch kon-notierten Ärzteverein mehr oder weniger ohne intensive Arbeitssuche zu einer Stelle als Assistenzarzt und dann später zu einer eigenen Praxis kommt (die im übrigen vornehmlich Migranten versorgt), geht Frau Yan äußerst zielstrebig auf Arbeitssuche, stützt sich dabei aber nicht auf die sozialen Beziehungen von Kolle-gen, die aus demselben Land kommen. Hier deuten sich erste Unterschiede hin-

174 Arnd-Michael Nohl

sichtlich der Orientierungsrahmen, innerhalb derer die Arbeitsmarktintegration vorangetrieben wird, an.

Der dritte Fall, Frau Guzman-Berg, unterscheidet sich von den beiden ande-ren Fällen, hat aber auch Gemeinsamkeiten mit ihnen. Frau Guzman-Berg ist eine junge Steuerrechtsanwältin aus Brasilien, die auf einer Fortbildung in den USA einen Deutschen kennenlernt und sich dazu überreden lässt, nach Hamburg zu migrieren – anstatt eines Studienaufenthaltes in Belgien, den sie eigentlich geplant hatte. Sie fi ndet – noch vor der Auswanderung – eine Stelle als Steuerrechtsexper-tin für Lateinamerika in einem großen Consultingunternehmen in Hamburg und versucht daraufhin zielstrebig, auf dem Wege der Weiterbildung ihr Tätigkeits- und Expertisefeld zu erweitern. Sie heiratet zudem ihren Freund und bekommt ein Kind von ihm.

Wir fi nden hier nicht nur in Bezug auf die Formen der Verwertung von Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch hinsichtlich der Motive für die Migration Unterschiede zwischen Frau Yan, Frau Guzman-Berg und Herrn Nazar. Während die beiden letzteren aufgrund von Partnerschaft en nach Deutschland migriert sind, ist Frau Yan nach Deutschland gekommen, um sich weiter zu qua-lifi zieren. Erst nach einiger Zeit in Deutschland lernt sie einen Mann kennen, von dem sie dann ein Kind erwartet. Als junge Mutter bleibt sie daraufhin in Deutsch-land.

Neben den Migrationsmotiven20 deutet sich hier eine weitere Dimension in den Erfahrungen der Migrant(inn)en an: Die Gründung einer Familie ist für Frau Yan sehr wohl von hoher Bedeutung, wenn es um die Frage geht, in Deutschland zu bleiben. Doch tritt dieses Motiv in einer viel späteren Phase ihres Übergangs auf. War die Familiengründung bei Herrn Nazar im Migrationsvorlauf von zen-traler Bedeutung, so wurde bei Frau Yan das im Migrationsvorlauf noch zen trale Qualifi kationsmotiv in einer Phase der Etablierung durch die Familiengründung abgelöst. Die Phasenhaft igkeit des Übergangs in ein neues Land und seinen Ar-beitsmarkt spielt also – so unsere Annahme nach den ersten vergleichenden In-terpretationen – ebenfalls eine Rolle in den Lebensgeschichten der hochquali-fi zierten Migrant(inn)en. Wir haben in der vergleichenden Interpretation also – vorläufi g – drei Dimensionen identifi ziert, die für die Lebensgeschichten der hochqualifi zierten Migrant(inn)en von großer Bedeutung zu sein scheinen:

20 Mit Absicht spreche ich hier empirienah von Motiven, da es sich zum Teil um explizite Migra-tionsmotive mit einem Entwurfscharakter handelt, zum anderen Teil aber auch um in das Han-deln implizierte, diesem unterliegende Orientierungen. Zur Unterscheidung von Handlungs-entwürfen und Orientierungsrahmen des Handelns siehe den Beitrag von Bohnsack zu diesem Band.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 175

1. die Formen der Verwertung von Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt,2. die Migrationsmotive,3. die zeitliche Abfolge der Phasen des Übergangs in das neue Land mit seinem

Arbeitsmarkt.

Nachdem wir nun auf diese Weise aus der vergleichenden Interpretation heraus – also nicht auf der Basis einer erfahrungs- bzw. theoriegeleiteten Suchstrategie – erste Dimensionen identifi ziert hatten, in denen signifi kante Orientierungen zu fi nden waren, versuchten wir nun, die systematischen Verknüpfungen zwischen Orientierungen in der einen Dimension (z. B. der Dimension der Migrations-motive) und Orientierungen in der anderen Dimension (z. B. der Verwertung von Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt) herauszuarbeiten.

Es geht hier nicht mehr um die sozialstrukturellen Hintergründe eines Orien-tierungsrahmens, d. h. um seine Einbettung in kollektive Erfahrungsräume des Geschlechts, der Generation oder der Schicht. Vielmehr geht es um die Frage, wie in den Lebensgeschichten der Migrant(inn)en die unterschiedlichen Orientierun-gen (die ja verschiedenen Dimensionen zuzuordnen sind) miteinander relatio-niert sind.21 Es geht mithin um eine relationale Typenbildung.

Durch eine wesentliche Erweiterung unseres Samples (wir haben in dem Teil-projekt insgesamt 45 narrative Interviews erhoben) haben wir die Möglichkeit ge-habt, typische Relationen typisierter Orientierungen zu identifi zieren. Der Ansatz-punkt unserer relationalen Typenbildung bildet die – für das Forschungsprojekt insgesamt zentrale – Frage, wie es dazu kommt, dass die befragten Migrant(inn)en ihr Wissen und Können so als kulturelles Kapital verwerten (können), wie es in ihren Schilderungen deutlich wird. Die Typik zu den Verwertungsformen von Wissen und Können haben wir daher als Basistypik verwendet und danach ge-fragt, wie diese typischen Orientierungen mit Orientierungen in anderen Dimen-sionen, insbesondere den Phasen des Übergangs und den Migrationsmotiven, zusammenhängen (vgl. zum Folgenden Nohl / Ofner / Th omsen 2010). In unserer relationalen Typenbildung konnten wir dann auf diese drei Orientierungsdimen-sionen eingehen.22

21 Im Unterschied zur soziogenetischen Typenbildung, mit der letztlich die Fundierung eines Orien tierungsrahmens in unterschiedlichen kollektiven Erfahrungsräumen und deren Über-lagerung rekonstruiert werden kann (siehe FN 14), geht die relationale Typenbildung prinzipiell von einer Pluralität der Orientierungen in einem jeden Fall aus.

22 Dass wir die Verwertung von Wissen und Können als eine Art Basistypik begreifen und hiervon ausgehend erst die Überlagerungen der Basistypik durch andere typische Orientierungsdimen-sionen der Migrant(inn)en rekonstruieren, ist dem Erkenntnisinteresse des Forschungsprojekts

176 Arnd-Michael Nohl

Ich möchte im Folgenden nur zwei typische Relationen von Phasen, Moti-ven und Verwertungsformen aufzeigen. Die erste ist eng mit dem Fall von Frau Guzman-Berg (aber auch mit den Fällen von zwei weiteren Frauen) verknüpft . Hier stellt sich die Frage: Wie kommt es dazu, dass hochqualifi zierte Migrantin-nen – und interessanter Weise handelt es sich bei den in diesem Abschnitt zu behandelnden Fällen nur um Frauen23 – in Kauf nehmen, dass sie ihre ausländi-schen Bildungstitel nach der Immigration (zunächst) nur unter engem Bezug auf ihre Herkunft sregion nutzen können, und damit die Verwertung ihres Wissen und Könnens äußerst eingeschränkt ist ? Genauer gesagt: Mit welchen Orientie-rungen in anderen Dimensionen hängt diese Form der Verwertung von Wissen und Können, die ja recht eingeschränkt ist, zusammen ? Ein Blick auf die Lebens-geschichten von Frau Donato, Frau Guzman-Berg und Frau Piwarski zeigt, dass diese Damen eine prekäre Balance zwischen ihren biografi schen Orientierungen und dem Wunsch, den ausländischen Bildungstitel auf dem Arbeitsmarkt zu ver-werten, eingehen.

So wurde bei Frau Guzman-Berg der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt sicherlich dadurch erleichtert, dass sie bereits in ihrem Heimatland Brasilien eine Karriere als Steuerrechtsanwältin begonnen hatte. Frau Guzman-Berg stellt zu Beginn ihrer Migration nach Hamburg zunächst einmal ihre Qualifi kations-interessen zurück, um mit ihrem Freund zusammenzuleben. Sie nimmt eine Stelle als Steuerrechtsexpertin für Lateinamerika an und verwertet so ihr akademisches Wissen und Können unter Beschränkung auf ihre Herkunft sregion. Dass die Mi-grantin trotz ihrer Partnerschaft sorientierung in der Transitionsphase darauf in-sistiert, sich nicht auf ein Visum zur Familienzusammenführung oder Eheanbah-nung verlassen zu müssen, sondern einen eigenständigen Zugang zum deutschen Staatsgebiet zu erhalten, hat sie mit den anderen beiden Fällen dieser typischen Form, sein Wissen und Können zu verwerten, gemeinsam. Frau Guzman-Berg kommt also, trotz ihres deutschen Freundes, zunächst mit einem Spezialisten-Sondervisum nach Deutschland. Es ist auch dieser eigenständige Zugang zur rechtlichen Inklusion in Deutschland, in dem sich dokumentiert, dass die hier behandelten Fälle eine prekäre Balance zwischen der restringierten Verwertung ihres Wissen und Könnens einerseits und ihren biografi schen, hauptsächlich, aber nicht nur partnerschaft lich motivierten Orientierungen andererseits eingehen.

geschuldet. Die Migrant(inn)en selbst sind nicht in jedem Fall und auch nicht immer zu allererst an einer Verwertung ihres Wissens und Könnens orientiert, wenn sie nach Deutschland kom-men.

23 Dies war einer der äußerst wenigen Hinweise auf geschlechtsspezifi sche Unterschiede bei den in unserem Teilprojekt untersuchten Migrant(inn)en.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 177

Die drei Frauen bemühen sich dann – zum Ende der Startphase und verstärkt in der Etablierungsphase – auch alsbald, diese prekäre Balance zu verlassen bzw. ihrem Aufenthalt in Deutschland durch erweiterte Möglichkeiten zur Verwertung kulturellen Kapitals eine dauerhaft e Basis zu geben. Frau Guzman-Berg, deren Partnerschaft sorientierung in eine Familiengründung mündet, absolviert ein M. A.-Studium im europäischen Recht, mit dem sie zwar nicht als Rechts anwältin tätig werden kann, wohl aber ihre Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt erweitert. Gerade dass sie anfangs eine derartige Instabilität und den Widerspruch zwischen biografi schen Orientierungen und Arbeitsmarktchancen auszuhalten vermögen, macht das Charakteristikum dieser Überlagerung unterschiedlicher Orientie-rungsdimensionen aus und unterscheidet diese drei Fälle von der zweiten Rela-tion typischer Orientierungen, die im Folgenden kurz behandelt wird.

In der zweiten typischen Relation fi ndet sich schon im Migrationsvorlauf, spätestens aber in der Transitionsphase ein Migrationsmotiv, welches von den Migrant(inn)en in eine sowohl schnelle als auch sehr weitgehende rechtliche Inklusion in Deutschland umgesetzt wird. Herr Nazar und Herr Uslu heiraten ebenso wie Herr Singh Personen, die entweder Deutsche sind oder alsbald wer-den. Sie erhalten dadurch nicht nur einen Aufenthaltsstatus, der sie sofort auf dem Arbeitsmarkt gegenüber Deutschen gleichrangig macht. Als deutsch Verheiratete kommen sie in der Startphase auch in den Genuss einer staatlichen Anerken-nungsprozedur für ihre ausländischen Bildungstitel als Mediziner, die es ihnen ermöglicht, mit einer Berufserlaubnis als Arzt tätig zu werden. Hier wird also in der Startphase des Übergangs die Verwertung von Wissen und Können sehr weit-gehend durch eine besondere rechtliche Inklusion, die selbst wiederum eng mit einem Migrationsmotiv verknüpft ist, überformt. Diese Überformung durch die besondere rechtliche Inklusion ist nun die Bedingung der Möglichkeit, durch das Professionsrecht berufsbiografi sch prozessiert zu werden.

Wie ich hier an den zwei typischen Relationen gezeigt habe,24 geht es in der re-lationalen Typenbildung nicht nur darum, in einem Einzelfall herauszuarbeiten, wie sich Orientierungen unterschiedlicher Dimensionen miteinander verbinden (z. B. das Migrationsmotiv von Herrn Nazar mit seiner Form der Verwertung von Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt). Vielmehr ist es notwendig, einzelfall-übergreifende und insofern typische Relationen von in unterschiedlichen Dimen-sionen typisierten Orientierungen herauszuarbeiten (z. B. neben Herrn Nazar bei den Herren Uslu und Singh).

24 Es lassen sich vier weitere, hier aus Platzgründen nicht dargestellte typische Relationen von typi-sierten Orientierungen aufzeigen, siehe dazu Nohl / Ofner / Th omsen 2010.

178 Arnd-Michael Nohl

Ähnlich wie in der soziogenetischen Typenbildung genügt es nicht, diese Ver-bindung als eine sinnfreie Parallelität der Orientierungen aufzuweisen; es gilt, die Sinnhaft igkeit der typisierten Relation zu rekonstruieren (also etwa die Bedeu-tung, die ein bestimmtes Migrationsmotiv für den rechtlichen Zugang zum Ar-beitsmarkt erhält). Auf diese Weise lassen sich mit der Bildung relationaler Typi-ken die sozialen Zusammenhänge von Orientierungen herausarbeiten.

Wenn nun danach gefragt wird, welche Art von Ergebnissen diese Vorgehens-weise zeitigt, so ist dies auch eine Frage nach der metatheoretischen und metho-dologischen Verortung der relationalen Typenbildung.

Metatheoretisch gesehen erfasst die relationale Typenbildung solche sozialen Formationen, die in doppelter Weise nicht zu den gesellschaft lich etablierten Di-mensionen sozialer Heterogenität gehören: Einerseits sind sie (noch) nicht im öf-fentlichen – und nicht einmal im wissenschaft lichen – Diskurs verankert, weshalb man sie auch nicht für eine erfahrungs- bzw. theoriegeleitete Suchstrategie ver-wenden kann. Andererseits sind die Relationen, die hier in typisierender Absicht aufgezeigt worden sind, auch noch nicht derart in der gesellschaft lichen Praxis verankert, dass sie, um es mit Mannheim (1964b: 528) zu formulieren, die Men-schen auf den durch ihre soziale Lagerung strukturierten „Spielraum möglichen Geschehens beschränken“ würden. Wir haben es bei dem, was die relationale Ty-penbildung erfasst, mit sozialen Zusammenhängen (Relationen) zu tun, die noch im Entstehen begriff en sind, deren Genese also noch andauert.

In dieser Hinsicht kann man davon ausgehen, dass die relationale Typenbil-dung insbesondere dort von Nutzen ist, wo sich gesellschaft liche Strukturen wan-deln, wo also neue Relationen sozialer Orientierungen und Erfahrungen emergie-ren. Diese Relationen sind, wenngleich sie von den Individuen durchaus einzeln erlebt werden, nicht vorsozial. Vielmehr können die typisierten Relationen typi-scher Orientierungen den Keim neuer kollektiver Strukturen bilden.25 Die relatio-nale Typenbildung erfasst mithin Kollektivität im status nascendi, während die soziogenetische Typenbildung – zumindest in bisherigen Untersuchungen – eher auf gesellschaft lich etablierte Formen und Dimensionen der Kollektivität verwies.

Methodologisch gesehen stellt sich mit der relationalen Typenbildung die Frage nach der Generalisierbarkeit ihrer empirischen Ergebnisse. Bohnsack (2005: 76) zufolge haben „Generalisierungsleistungen … ihre Voraussetzungen darin, dass

25 Interessanterweise manifestieren sich die Orientierungs- und Erfahrungsstrukturen, die wir etwa bei den hochqualifi zierten Migrant(inn)en rekonstruiert haben, (noch) kaum in Realgruppen. Wir sind in Deutschland auf keine Netzwerke und auf nur eine Organisation hochqualifi zierter Migrant(inn)en mit ausländischen Bildungsabschlüssen gestoßen.

Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung 179

die Grenzen des Geltungsbereichs des Typus bestimmt werden können, indem fallspezifi sche Beobachtungen aufgewiesen werden, die anderen Typen zuzuord-nen sind. Im Fall sind somit grundsätzlich unterschiedliche Typen und Typiken, d. h. unterschiedliche Dimensionen oder ‚Erfahrungsräume‘, auf der Grundlage komparativer Analyse … aufzuweisen und deren ‚Überlagerungen‘ empirisch zu rekonstruieren“. Meines Erachtens erfüllt nicht nur die soziogenetische Typenbil-dung, sondern auch die relationale Typenbildung dieses Kriterium, lassen sich in jedem Einzelfall die unterschiedlichen Dimensionen mit ihren typisierten Orien-tierungen gerade dann voneinander diff erenzieren, wenn man ihre Überlagerung (im Sinne der Typisierung von Relationen) rekonstruiert hat.26

5 Abschließende Bemerkungen

Mit ihren unterschiedlichen Formen der Typenbildung kann die dokumentari-sche Methode einen Beitrag zu einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung leisten, der sich nicht in der (gleichwohl wichtigen) Rekonstruktion von Akteurs-perspektiven erschöpft , sondern deren Einbindung in soziale Zusammenhänge untersucht. Mit der sinngenetischen Typenbildung wird zunächst die Heteroge-

26 Zwei weitere Studien, die mit einer relationalen Typologie arbeiten, ohne dies jedoch so zu ex-plizieren, sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Heike Radvan (2010) rekonstruiert die Art und Weise, wie Pädagog(inn)en in Jugendzentren mit antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen umgehen. Aus einer vergleichenden Fallrekonstruktion schält sie zwei Dimensionen heraus, die für diesen Gegenstand relevant sind: Die Art und Weise, wie die Pädagog(inn)en die Jugend-lichen beobachten, und zweitens ihre Interventionen angesichts antisemitischer Äußerungen. In beiden Dimensionen fi nden sich unterschiedliche Orientierungen (so identifi ziert Radvan eine stereotypisierende Beobachtungsform, aber auch eine immanente; hinsichtlich der Inter-ventionsformen spricht sie z. B. von „existentieller Intervention“ oder „Orientierung am Fakten-wissen“). Kern dieser Untersuchung ist nun eine relationale Typologie, in der Radvan die fall-übergreifenden Zusammenhänge zwischen bestimmten Beobachtungsformen und spezifi schen Interventionsformen herauszuarbeiten vermag. Anne-Christin Schondelmayer (2010) hat aus ihren narrativen Interviews mit Auslandskorrespondenten und Entwicklungshelfer(inne)n in Afrika unterschiedliche Ausprägungen interkultureller Kompetenz rekonstruiert. Ebenfalls in einer intensiven komparativen Analyse fundiert, hat sie zunächst drei Dimensionen (Handeln, Refl ektieren, Darstellung des Anderen) identifi ziert, in denen sich jeweils typische Orientierun-gen aufzeigen lassen (z. B. ein existenzielles Einlassen auf den Fremden vs. Fremdverstehen durch Aneignung theoretischen Wissens). Im Ergebnis der Arbeit wird deutlich, dass bestimmte Refl e-xionsformen zwar keine spezifi sche Handlungsweise oder Darstellung des Anderen erzwingen, aber sehr wohl den Spielraum des Handelns einschränken können, dass also eine spezifi sche Refl exionsform mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten verknüpft ist. Schondelmayer hat auf diese Weise die typischen Relationen in unterschiedlichen Dimensionen liegender typisierter Orientierungen herausgearbeitet.

180 Arnd-Michael Nohl

nität und Pluralität der Orientierungen (etwa jenen zu Bildung und Arbeit) deut-lich, ohne dass diese in ihrer sozialen Funktionalität und Genese rekonstruiert werden könnten. In der soziogenetischen Typenbildung kann herausgearbeitet werden, wie (bildungs- und arbeitsbezogene) Orientierungen in unterschiedli-chen kollektiven Erfahrungsräumen, z. B. jenen der Generation, des Geschlechts, des Bildungsmilieus u. a., verankert sind. Gerade in den Funktionssystemen von Bildung und Wirtschaft , in denen nicht nur von gesellschaft licher Heterogenität, sondern von „mehrdimensionalen Ungleichheitsdimensionen“ (Weiß 2004: 219) gesprochen werden muss, ist die Rekonstruktion jener sozial ungleichen Erfah-rungshintergründe, aus denen heraus unterschiedliche Orientierungen entstehen, von hoher Bedeutung.

Wie dort, wo sich Strukturen sozialer Heterogenität noch nicht in der Ge-sellschaft etabliert haben, diese mit der dokumentarischen Methode zu erfassen sind, habe ich in diesem Aufsatz mit dem neuen Ansatz der relationalen Typen-bildung zu erläutern versucht.27 Ohne dass hier die sozial diff erenzierten Erfah-rungshintergründe von Orientierungen aufgeklärt werden können, lässt sich in dieser Form der Typenbildung zeigen, in welchem systematischen Zusammen-hang unterschiedliche Dimensionen von typischen Orientierungen stehen. Diese typisierten Relationen fi nden sich insbesondere dort, wo der soziale Wandel neue Strukturierungen, d. h. soziale Lagerungen in der Gesellschaft zeitigt, die zu wachsen beginnen, ohne schon etabliert zu sein. Aber auch wo es gilt, jenseits einer erfahrungs- und theoriegeleiteten Suchstrategie Strukturierungen zu ent-decken, die (nur) für die Forschenden neu sind (als Beispiele siehe Radvan 2010 und Schondelmayer 2010), bietet sich die relationale Typenbildung an. In dieser Hinsicht sind sozio- und relationale Typenbildung keine Gegensätze, sondern er-gänzen einander.

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27 Für eine ausführliche Darstellung der relationalen Typenbildung anhand von Forschungsbeispie-len siehe Nohl 2012.

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Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen

Andreas Wernet

Von Anfang an hat Oevermann die Objektive Hermeneutik als Methode der Re-konstruktion von Bildungsprozessen verstanden. Er hat sich dabei an einem wei-ten Bildungsbegriff orientiert. Es ging ihm weniger um den Erwerb von Bildungs-titeln („institutionalisiertes kulturelles Kapital“), es ging ihn auch nicht um die Welt der Kulturgüter („objektiviertes kulturelles Kapital“), sondern es ging ihm vor allem um Prozesse der Konstitution von Subjektivität (vgl. Oevermann 1993). Die Methode der Objektiven Hermeneutik und das sie charakterisierende Vorge-hen können als Antwort auf die Frage „Wie können Bildungsprozesse empirisch re-konstruiert werden“ angesehen werden (dazu ausführlich Sutter 1997).

1 Methodologische Grundlagen

Zum Fallbegriff

Unter methodologischer Perspektive rückt damit zunächst der Fallbegriff ins Zentrum. Oevermann hat von Anfang an die empirische Rekonstruktion als Fall-rekonstruktion konzipiert und ausgewiesen. Der Fallbegriff ist auch und gerade gegenüber den quantitativen Forschungsverfahren deshalb so wichtig, weil er darauf hinweist, dass das Forschungsinteresse individuellen Gegebenheiten und Konstellationen gilt und dort seinen Ausgangspunkt nimmt. Allerdings versteht Oevermann den Fall nicht als solitäres Ereignis – als solches wäre es ja kein so-zialwissenschaft liches Objekt – sondern als „token“ eines „type“ (vgl. Oevermann 1981). Das Besondere ist immer als Besonderung auf der Folie eines Allgemeinen zu verstehen. Der Oevermannsche Fallbegriff interessiert sich also nicht für die Besonderung als Besonderung, sondern er interessiert sich für die Besonderung als spezifi sche, subjektive Antwort auf ein allgemeines Handlungsproblem.

184 Andreas Wernet

Dieses grundlegende Modell der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem ist methodisch insofern von Interesse, als es darauf aufmerksam macht, dass sich das Allgemeine gar nicht anders als in Besonderungen artikulieren kann. Wenn wir den Begriff des Allgemeinen nicht den Modellen der statistischen Genera-lisierung, die Aussagen über Häufi gkeiten und Wahrscheinlichkeit des Auftre-tens von Phänomenen erlauben, überlassen wollen, so müssen wir akzeptieren, dass einer wirklichkeitswissenschaft lichen Forschung das Allgemeine immer nur über den Weg des Besonderen zugänglich ist. Das Allgemeine des familialen Ab-lösungsprozesses sehen wir immer nur durch seine besondere Ausformung in einer je konkreten Ablösungsgeschichte. Das Interesse an individuellen Konstella-tionen ist also genau genommen ein Interesse an der Rekonstruktion der Dia lek-tik von Allgemeinem und Besonderem. Jede objektiv-hermeneutische Fallrekon-struktion nimmt in der Rekonstruktion der konkreten Fallstruktur immer und notwendiger weise eine Strukturgeneralisierung vor, eine Formulierung allgemei-ner Strukturen, Regeln oder sozialer Problemkonstellationen, bezüglich derer der konkrete Fall eine besondere Stellung, eine besondere Antwort, eine besondere Variante darstellt.

Mit einer fallrekonstruktiven Erschließung gehen regelmäßig zwei Richtun-gen der Verallgemeinerung einher: Der Fall erscheint einmal als konkrete Ant-wort auf ein allgemeines Handlungsproblem und er erscheint darüber hinaus als typische, d. h. fallcharakteristische, aber nicht fallspezifi sche Antwort auf ein all-gemeines Handlungsproblem. Das möchte ich am Beispiel der Erwerbsbiogra-fi e, das Stefan Kutzner in seinem Beitrag in diesem Band empirisch in den Blick nimmt, erläutern. Jede Erwerbsbiografi e ist in der modernen Gesellschaft Aus-druck einer für diese Gesellschaft en in spezifi scher Weise vorliegenden Autono-misierungs-, Bewährungs- oder Bildungsanforderung. Man kann sich zu diesem Problem nicht nicht verhalten. Jeder konkrete Fall, den wir aus erwerbs- und / oder bildungs biografi scher Perspektive analysieren, stellt also eine spezifi sche Antwort auf dieses Problem dar; eine in gewissem Sinne einzigartige Bearbeitung dieses Problems.

Darüber hinaus repräsentiert jeder Fall aber auch typische Modi der Bearbei-tung dieses Problems. Wenn Kutzner in den von ihm rekonstruierten Fällen einen traditionsgebundenen Modus der Erwerbsbiografi e diagnostiziert, dann ist damit eine typische Möglichkeit einer berufsbiografi schen Selbstpositionierung be-nannt, die (in diesen Fällen) dem typischen Motiv des beruflichen Aufstiegs kon-

Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen 185

trastiv gegenübersteht. Verbleibe ich mit meiner Berufswahl1 im Herkunft smilieu oder verlasse ich dieses Milieu ?2

Fallstrukturgeneralisierung bedeutet also, auf der Folie des konkreten Falles allgemeine gesellschaft liche Handlungsprobleme und typische Antworten auf diese Probleme zu explizieren. Dieser Prozess einer material begründeten Th eo-riebildung besteht nicht in einer bloßen Subsumtion. Es geht nicht darum, die Fälle in einem vorab formulierten Begriff ssystem zu klassifi zieren. Mit jeder Fall-rekonstruktion diff erenziert sich unsere Th eoriesprache aus. Mit jeder Fallrekon-struktion müssen sich die theoretischen Modelle am Datenmaterial bewähren und entsprechend modifi ziert werden. Es geht aber auch nicht um eine theorie-lose Betrachtung der empirischen Welt. Die Objektive Hermeneutik schließt sich nicht dem im qualitativen Forschungsparadigma häufi g kultivierten, naiven Em-pirismus an, der den Gegenstand theoretisch unvoreingenommen in den Blick nehmen will, um damit der Empirie maximal zur Geltung zu verhelfen. Diese Vorstellung ist deshalb naiv, weil der vermeintliche Th eorieverzicht in Wirklich-keit in nichts anderem besteht, als den empirischen Blick, statt von expliziten und ausgewiesenen, von impliziten und verborgenen theoretischen Vorannahmen lei-ten zu lassen. Die vermeintliche Unvoreingenommenheit stellt eine Verunklarung der unvermeidlichen theoretischen Prämissen des Forschungsprozesses dar. Im Forschungsverständnis der Objektiven Hermeneutik stehen Th eorie und Empirie in einem kontinuierlichen Prozess wechselseitiger Bezogenheit.

Struktur und Habitus

Die Objektive Hermeneutik ist dezidiert ein Verfahren der Fallstrukturrekonstruk-tion. Es geht ihr weder um die gesetzeswissenschaft liche Formulierung gesell-schaft licher Regelmäßigkeiten noch um die tatsachenwissenschaft liche Feststel-lung von Sachverhalten. Sie interessiert sich für die sinnstrukturelle Verfasstheit gesellschaft licher Phänomene. Bezüglich des Fallbegriff s bedeutet das nicht nur, dass der Fall, wie oben ausgeführt, eingebettet ist in allgemeine, fallunspezifi sche Strukturen, sondern auch, dass die Besonderung des Falls selbst eine strukturierte ist: Der Fall ist wiedererkennbar, er hat ein Gesicht.

1 Das betrifft natürlich auch die Gattenwahl.2 An dieser Frage lässt sich ablesen, dass sie sich für unterschiedliche Herkunft smilieus in ganz un-

terschiedlicher Weise stellt. Aufstiegs-, Abstiegs- und Bleibebewegungen stellen von Unten, von Oben oder von der Mitte her je eigen strukturierte soziale Realitäten dar.

186 Andreas Wernet

Methodologisch ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Ausdrucksgestalt von zentraler Bedeutung. Die Annahme einer Fallstruktur setzt nämlich voraus, dass die Fallbesonderheit sich immer wieder in ihrer Besonderheit reproduziert. Dieser Reproduktionsprozess besteht aber nicht einfach in der repetitiven Wieder-holung einer Ausdrucksgestalt (die dann keine wäre), sondern in der Generierung unterschiedlicher Ausdrucksgestalten, die trotz ihrer Diff erenziertheit und „Man-nigfaltigkeit“ das Ergebnis des Operierens ein und derselben Fallstruktur sind. Der Grundgedanke des „genetischen Strukturalismus“ (vgl. Oevermann 1991)3 besteht genau in dieser Beobachtung eines dynamischen, höchst kreativen Pro-zesses der Reproduktion. Mögen die Ausdrucksgestalten, die eine Lebenspraxis generiert, einer oberfl ächlichen Betrachtung noch so unerwartet, überraschend oder „unregelmäßig“ erscheinen, bleiben sie doch Hervorbringungen eines Struk-turierungsprozesses. Um eine alte Terminologie aufzugreifen: Dieser Umstand er-möglicht das „Verstehen“ der phänomenalen Welt, die einem Plan folgt, der einem gesetzeswissenschaft lichen „Erklären“ nicht zugänglich ist.

Diese Idee einer strukturierten Praxis liegt dem Habitusbegriff zu Grunde. Auch wenn die Th eorie Bourdieus den Begriff der Ausdrucksgestalt nicht kennt, steht ihre Konzeption des Habitusbegriff s in großer Nähe zur Methodologie der Objektiven Hermeneutik. Die strukturalistische Implikation des Habitusbegriff s besteht nämlich genau darin, dass er eine strukturierte Praxis – nicht im Sinne einer regelmäßigen oder repetitiven Praxis – bezeichnet, die unter einem gene-rativen Vorzeichen steht. Die immer wieder auftauchende Formel eines „modus operandi“, einer Art und Weise des Handelns, lenkt den Blick nicht nur von dem „Was“ zum „Wie“, sondern weist auch darauf hin, dass die Identität einer sozia-len Praxis sich nicht in einer „ikonografi schen“ Reproduktion erschöpft . Es ist kein Zufall, dass Bourdieu in der Entwicklung seines Habitusbegriff s sich an dem Kunsthistoriker Panofski orientiert (vgl. Bourdieu 1974). Wer die Gotik als Epo-che klassifi zieren will, dem genügt die Kartografi e bestimmter Stilelemente. Wer die Eigenlogik dieser Epoche verstehen will, muss versuchen, die immanente Be-deutung dieser Stilelemente, also den Habitus, der diese erst hervorbringt, zu re-konstruieren (vgl. Panofsky 1978). Diese Stilelemente gelten einem strukturrekon-struktiven Zugriff als Ausdruckgestalten eben derjenigen Strukturen, die diese erzeugen.

3 Als strukuralistische Grundlagentheorien bezieht sich Oevermann vor allem auf die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, George-Herbert Mead, Jean Piaget und Noam Chomsky.

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Reproduktion und Transformation

Gerade bei der Analyse von Bildungsbiografi en ist dieser Aspekt von entschei-dender Bedeutung. Denn die bildungsbiografi sche Kontinuität kann sich ja gar nicht in der einfachen Wiederholung von biografi schen Entscheidungen zeigen. Die neuen biografi schen Situationen eröff nen neue Entscheidungsoptionen, die nicht im Modus der repetitiven Reproduktion beantwortet werden können. Erst der Umstand, dass ein Fall sich gleich bleiben kann, indem er eine bisher in-haltlich nicht vorgesehene und insofern neue Entscheidung trifft , lässt es sinn-voll und notwendig erscheinen, ein Konzept der biografi schen Identität zu for-mulieren (dazu ausführlich: Silkenbeumer / Wernet 2010). Dieses bedeutet eben nicht, dass der Fall sich schematisch reproduziert. Vielmehr muss der Vorgang der Fall reproduktion vor dem theoretischen Hintergrund des genetischen Struk-turalismus selbst als kreativer und dynamischer Prozess verstanden werden. Die Rekonstruktion von Bildungsprozessen impliziert wesentlich die Explikation der Reproduktion eines sich selbst identisch bleibenden Falles durch neue, kreative, nicht vorhersagbare Entscheidungen.

Von dieser reproduktiven Dynamik ist analytisch die Bewegung der Trans-formation zu unterscheiden. Der Begriff der Bildung verweist aus sich heraus auf solche transformatorischen Bewegungen, durch die ein Fall nicht mehr derselbe ist, der er vorher war. Es ist ein neuer Entscheidungsmodus entstanden, der dem alten nicht mehr entspricht. Während wir die kreative Dynamik der innovativen Reproduktion am Datenmaterial unmittelbar ablesen können, müssen wir dar-auf verzichten, auf die transformatorische Dynamik in derselben Weise empirisch zugreifen zu können. Sie kann empirisch lediglich als fallstrukturelle Zustands-veränderung abgegriff en werden, als Diff erenz eines Strukturzustands zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten. Aber diese Diskontinuität stellt aus fallstruktu-reller Perspektive keine unbedingte und unvermittelte Veränderung dar, sondern vielmehr eine Veränderung, die sich retrospektiv als die Bildungsgeschichte eben jenes konkreten Falles erweist. Aus der übergeordneten forschungslogischen Per-spektive erscheint die Transformation also als Fallreproduktion „neuer Ordnung“; als So-und-nicht-anders-Gewordensein (Weber). Die biografi schen Transforma-tionsprozesse sind durch jene Dialektik von Emergenz und Determination ge-kennzeichnet, die der Sozialphilosoph George Herbert Mead als allgemeines Prin-zip von Reproduktion und Transformation formuliert hat. Diese Dialektik lässt sich durch die gegenläufi gen Bewegungen der Emergenz und der nachträglichen Integration charakterisieren. Die biografi sche Zukunft soff enheit besteht darin, dass eine biografi sche Transformation zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht an-

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tizipiert werden kann. Sie vollzieht sich in eine off ene Zukunft hinein. Eine aus-führliche Fallrekonstruktion kann zwar eine Liste von ausschlussfähigen Mög-lichkeiten der folgenden biografi schen Entscheidungen formulieren. Diese Liste hat aber keinen prognostischen Wert. Die Frage, was der Fall einmal tun wird, vermag sie nicht zu beantworten. Dieser Zukunft soff enheit steht der Prozess der nachträglichen Integration des Neuen gegenüber. Die Entscheidung, die vorher im Handlungsrepertoire des Falles nicht enthalten und insofern neu und trans-formatorisch war, wird nun ex post in die Fallstruktur mit aufgenommen. Der Fall ist zwar zu etwas anderem geworden, als er vorher war, aber er bleibt sich in-sofern gleich, als das Neue zum Bestandteil des Alten geworden ist. Nachträglich lässt sich das Neue nur auf der Folie des Alten verstehen; und dieses Alte war die Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung des Neuen.

Krise

Oevermann verbindet diese methodologischen Aspekte mit einer spezifi schen Sicht auf Bildungsprozesse. Er übersetzt die Dialektik von Transformation und Reproduktion in die Dialektik von Krise und Routine. Das ist zunächst schon deshalb bemerkenswert, als der Transformationsprozess als Krise ausgewiesen wird. Es geht also nicht einfach um Systemveränderungen, sondern es geht um eine Handlungspraxis, die sich gleichsam selbst in eine Situation bringt, in der der Vollzug routinisierter Entscheidungen seine problemlösende Kraft verliert. Ohne auf Erikson Bezug zu nehmen folgt Oevermann dem Modell eines krisenerzeu-genden und krisenbearbeitenden Bildungsverlaufs. Diese Krisen sind insofern ob-jektiv, als sie nicht vermeidbar sind. In Oevermanns Typologie der Krisenformen (vgl. Oevermann 2004) – traumatische Krise, Entscheidungskrise, Krise durch Muße – trifft das systematisch vor allem auf die Entscheidungskrise zu. Die trau-matische Krise im Sinne des Hereinbrechens außergewöhnlich belastender Er-eignisse, die Oevermann in Anlehnung an Peirce (brute facts) konzipiert, stellt zwar die Extremform einer objektiv induzierten Krise dar. Aber dieser Krisen-typus ist bildungslogisch kontingent. Das hereinbrechende Ereignis muss zwar subjektiv verarbeitet werden, und es wird in je eigener Weise verarbeitet und inte-griert, aber dieses Ereignis ist kein biografi sch evoziertes. Demgegenüber stellen die Entscheidungskrisen insofern ein gesteigertes Modell der objektiv gegebenen Problemkonstellation dar, als sie biografi sch unvermeidbar sind. Oevermann ver-weist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die Frage der Gattenwahl und die Frage der Zeugung. Beide Fragen stellen sich, außergewöhnliche Umstände

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beiseite gelassen, jedem Leben und müssen von jedem Leben beantwortet werden. Insofern handelt es sich um ein objektives, allgemeines Problem. Die Bearbeitung dieses Problems ist aber insofern subjektiv, als sie nicht unter Rückgriff auf gene-ralisierte Problemlösungsstrategien erfolgen kann. Das Problem ist, wenn auch ein allgemeines, von Anfang an ein subjektives. Es kennt gar keinen anderen Aus-druck als den der Subjektivität.

Damit ist vor allem gesagt, dass Prozesse der Krisenbewältigung konstitutiv sind für biografi sche Transformationen. Ohne Krisen sind biografi sche Transfor-mationen nicht zu haben. Und da der Biografi ebegriff sich ohne Transformatio-nen gar nicht denken lässt, stellen biografi sche, auch bildungs- und berufsbiogra-fi sche Rekonstruktionen nichts anderes dar als Rekonstruktionen von Krisen und Krisenbearbeitungen.

Manifeste und latente Sinnstrukturen

Die Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen, die begriff lich an die Freudsche Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und laten-tem Traumgedanken anknüpft , ist für Methode, Forschungsverständnis und For-schungsinteresse der Objektiven Hermeneutik von grundlegender Bedeutung.4 Diese Unterscheidung basiert auf der Annahme, dass in die Verfasstheit der sinn-konstituierten Welt sowohl Sinnbezüge eingehen, die den Handelnden als Inten-tionen, Handlungsmotive oder explizite Sinnentwürfe zur Verfügung stehen, als auch Sinndimensionen, die den Handelnden verborgen bleiben und die gleichsam hinter dem Rücken ihres intentionalen Selbstverständnisses ein Eigenleben füh-ren. Nach dieser Annahme würde eine forschungslogische und methodische Be-schränkung auf manifeste Sinnzusammenhänge also eine inadäquate Reduktion des Forschungsobjekts darstellen. Erst die Rekonstruktion der sinnstrukturellen Verfasstheit einer je konkreten Wirklichkeit als Zusammenspiel manifester und la-tenter Sinnbezüge wird der Konstitution des Gegenstands der Forschung gerecht.

Eine zweite Annahme kommt hinzu: Das Zusammenspiel manifester und la-tenter Sinnstrukturen erzeugt nicht einfach eine Wirklichkeit, die sich aus unter-schiedlichen Sinnbausteinen zusammensetzt und deren Besonderheit in der Be-schreibung der jeweiligen Komposition eines Sinnmosaiks erfasst werden könnte. Manifeste und latente Sinnbezüge stehen in einem potenziellen Spannungsver-

4 Sie nimmt schon in dem initialen Gründungstext der Objektiven Hermeneutik eine zentrale Rolle ein. Vgl. Overmann et.al. 1979.

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hältnis zueinander. Dieses zeigt sich nicht schon darin, dass das Subjekt über die latenten Motive, denen es folgt, nicht intentional verfügt. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass die latente Sinnstruktur dem Subjekt fremd ist. Was auf der Ebene der latenten Sinnstrukturen zum Vorschein kommt, ist dem Subjekt und seinem Selbstverständnis potenziell unangenehm, peinlich, unverständlich oder gar unerhört.5 Forschungslogisch heißt das, dass eine Fallrekonstruktion, die sich an der Rekonstruktion manifester und latenter Sinnstrukturen orientiert, immer auch die Spannungen und Widersprüche zwischen beiden Sinnebenen zum Gegenstand hat. Die Beantwortung der Frage „Was ist der Fall ?“ geht im For-schungsverständnis der Objektiven Hermeneutik immer einher mit der Beant-wortung der Frage: „In welcher je besonderen, fallspezifi schen Weise will der Fall sein, was er in welcher besonderen, fallspezifi schen Weise nicht ist.“

2 Eine kurze, exemplarische Fallanalyse zur Verdeutlichung des methodischen Vorgehens

Nachdem die grundlegenden methodologischen Konzepte der Objektiven Her-meneutik umrissen sind, soll im Folgenden das methodische Vorgehen beleuchtet werden. In seinem Beitrag in diesem Band exemplifi ziert Stefan Kutzner an zwei Fällen das rekonstruktionsmethologische Vorgehen einer (arbeits-)biografi schen Analyse. Dort wird das typische Vorgehen der Objektiven Hermeneutik deutlich. Der eigentlichen Textanalyse ist eine Interpretation der objektiven Daten voran-gestellt. Dieses auch in anderen Forschungsmethoden praktizierte Vorgehen wird in der Objektiven Hermeneutik dezidiert in der Logik eines analytisch unabhän-gigen Vorgehens konzipiert. Die Analyse der objektiven Daten soll zu einer ersten Fallstrukturhypothese führen, die dann methodisch unabhängig in der Textana-lyse eine Überprüfung fi ndet. Es geht also in der Interviewanalyse nicht drum, die Fallstrukturhypothese, die an der Analyse der objektiven Daten gewonnen wurde, als gegeben einfach nur zu bestätigen. Es geht vielmehr darum, in der In-terviewinterpretation eine eigenständige Rekonstruktion vorzunehmen, die dann in Abgleich zur Analyse der objektiven Daten gebracht wird.

5 Deshalb kann eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion sich der kommunikativen Va-lidierung als Geltungsüberprüfung nicht bedienen. Die Zustimmung des erforschten Subjekts zu der Fallrekonstruktion ist nicht nur kein Geltungsgrund der Interpretation; es müsste den Forscher eher skeptisch stimmen, wenn seine objektiv-hermeneutische Rekonstruktion eines Falles dessen spontane Zustimmung fi nden würde.

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Wir wollen auf diese spezielle Frage der forschungslogischen Positionierung der beiden Analyseschritte hier nicht weiter eingehen, sondern vielmehr das für die Objektive Hermeneutik charakteristische Textanalyseverfahren in den Blick nehmen. Wir knüpfen also im Folgenden an die Idee der Ausdrucksgestalt an und werden in einer kleinen Beispielanalyse versuchen, die methodologischen Positio-nen der Objektiven Hermeneutik und ihre Implikationen für die textrekonstruk-tive Forschungspraxis deutlich zu machen und zu plausibilisieren.

Dabei soll eine kurze Interviewsequenz vorgestellt und interpretiert werden.6 Es geht um einen Schüler, Kai Hübner, der vor einer bedeutsamen bildungsbiogra-fi schen Transformation steht. Er hat sich in der 10. Klasse zu einem Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium entschieden. Das ist insofern ein bedeutsamer Schritt, als damit ein ursprüngliches Bildungsziel nach oben hin korrigiert wird. Wie mit jedem Übergang ist damit die Frage verbunden, ob die Entscheidung zu wechseln die richtige war. Wenn wir vorhin von Zukunft soff enheit gesprochen haben, so stehen wir nun vor einem konkreten Beispiel dieser Off enheit. Sollte der Wechsel Kai zu einer erfolgreichen Bildungskarriere verhelfen, war es im Nach-hinein eine richtige Entscheidung. Sollte er an seinen Bildungsambitionen schei-tern, wird er seine Entscheidung nachträglich als falsche Entscheidung bedauern.

Ob in diesem Sinne eine richtige Entscheidung vorliegt, können wir natürlich rekonstruktionsmethodologisch an einem Interview, das unmittelbar vor dem Schulwechsel durchgeführt wurde, nicht beantwortet. Diese Frage wird sich erst mit den zukünft igen Ereignissen klären. Was wir aber thematisieren können, ist die Frage, mit welchem Selbstverständnis Kai die Entscheidung zu wechseln trifft . Trifft er diese Entscheidung optimistisch, selbstsicher und selbstbewusst oder ist diese Entscheidung von einer Unsicherheit begleitet, eine vielleicht halbherzige oder zwanghaft e ? Dieser Frage soll die folgende Beispielinterpretation nachgehen.

I: Mm, worauf freust Du Dich am meisten ? (2) Kai: Worauf ich mich am meisten freue ?I: Mhm, jetzt so. Kai: ((lacht))I: Wenn Du an den Wechsel denkst ?Kai: Wenn ich an den Wechsel denke ? Worauf ich mich wirklich am meisten freue ist ei-

gentlich, dass ich damit fertig bin, wenn ich damit fertig () bin. Obwohl () eigentlich will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen, aber wirklich (1) halt, dass ich damit fertig bin () dass ich dann wirklich das machen kann, was ich, wozu ich wirklich Lust

6 Eine ausführliche Interpretation dieser Sequenz fi ndet sich in Silkenbeumer / Wernet 2011.

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habe (2) und fü- ansonsten halt (1) erst mal auf ’ne neue Klasse (I: mhm) (2) so (2). Ich weiß ja noch nich, wie’s da is’, was für Lehrer ich habe und ()weiß auch nicht, worauf ich mich großartig freuen sollte (I: mhm). (2)

Diese Interviewpassage beginnt mit der Frage der Interviewerin bezüglich des be-vorstehenden Schulwechsels: Worauf freust Du Dich am meisten ? An dieser Frage können die methodischen Prinzipien der Objektiven Hermeneutik gut veran-schaulicht werden. Die Sinnrekonstruktion der Objektiven Hermeneutik arbei-tet basal mit dem Instrument der „Kontextfreiheit“. Eine kontextfreie Interpreta-tion vorzunehmen heißt, den zu interpretierenden Sprechakt zunächst dadurch auszudeuten, dass wir gedankenexperimentell Kontexte entwerfen, in denen der Sprechakt eine wohlgeformte Artikulation darstellen würde. Für die vorliegende Sequenz heißt das: In welchen Situationen ist der Sprechakt: Worauf freust Du Dich am meisten ein wohlgeformter, bzw. kontrastiv: In welchen Situationen wäre der Sprechakt eindeutig unangemessen ? Schnell sehen wir, dass der Sprechakt eine mehrfach erfreuliche Situation unterstellt. Nach den Weihnachtswünschen befragt, könnte ein Kind etwa mit der Frage konfrontiert werden: Worauf freust Du Dich am meisten. Damit wäre unterstellt, es freue sich auf alle bzw. die meisten Geschenke, und es gebe welche, auf die es sich besonders freut. Umgekehrt stellte die Frage an einen Verurteilten vor seinem Haft antritt gestellt, eine off ensichtliche Unangemessenheit dar.

Ob der tatsächliche Kontext – die Konfrontation mit dem tatsächlichen Kon-text stellt den zweiten Analyseschritt dar7 – dem Sprechakt angemessen ist, lässt sich nicht so leicht bejahen oder verneinen, wie in den Beispielgeschichten. Im-merhin können wir aber zweifelsfrei festhalten, dass die Interviewerin den bevor-stehenden Schulwechsel als mehrfach freudenspendendes Erlebnis für Kai unter-stellt. Fraglich ist nicht etwa, ob der Schulwechsel eher mit Sorge oder eher mit Freude erwartet wird (freust Du Dich auf die neue Schule ?), fraglich ist nur, welche Sachverhalte mit größter Freude belegt sind.

Das scheint nun für ein Ereignis wie den Schulwechsel (und andere biogra-fi sch bedeutsame Einschnitte) eine ausgesprochen optimistische, geradezu naive Unterstellung zu sein. Selbst für jemanden, der sich ungebrochen auf die neue Schule freut (weil er schon immer ein Gymnasium besuchen wollte; weil er inner-lich an einem Beruf hängt, den er nur mit Abitur erreichen kann; usw.), stellt der Schulwechsel doch keinen Weihnachtsabend oder keine Traumreise dar.

7 Vgl. dazu Wernet 2009

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Wir können also schlussfolgern, dass die Interviewerin den bevorstehenden Schulwechsel von Kai mit überschwänglicher Positivität belegt. Es wäre überra-schend, wenn Kai die Frage eindeutig und ungebrochen beantworten würde: Am meisten freue ich mich auf einen anspruchsvollen Fremdsprachenunterricht. Viel-mehr müssten wir erwarten, dass er den Überschwang der Frage relativiert und er dabei versucht, seine Positiverwartungen zu formulieren: Was heißt hier am meis-ten ? Erst einmal freue ich mich, auf einem Gymnasium zu sein.

Kais tatsächliche Reaktion auf die Frage der Interviewerin wirkt fast ungläu-big: Worauf ich mich am meisten freue ? Jedenfalls gelingt ihm keine spontane Antwort. Allerdings kann die Nachfrage auch im Sinne eines inneren Dialogs als Ausdruck von Kais Kooperativität interpretiert werden: hm, interessante Frage, da muss ich mal genauer überlegen.

Die Erläuterung der Interviewerin: Mhm, jetzt so; wenn Du an den Wechsel denkst, begleitet er mit einem Lachen und einer Wiederholung der Frage: Wenn ich an den Wechsel denke ? Das Lachen verweist abermals auf Kooperativität. Of-fensichtlich lässt sich die Frage nicht umstandslos beantworten. Gleichwohl zeigt sich Kai eher belustigt denn „genervt“. Allerdings gelingt es ihm auch nicht, die Frage spontan umzudeuten und einfach einen Sachverhalt zu benennen, der einen möglichen Gegenstand von Freude darstellt: die tolle Turnhalle, der bequemere Schulweg, die neuen Freunde oder was auch immer. Stattdessen antwortet er:

Worauf ich mich am meisten freue ist eigentlich, dass ich damit fertig bin, wenn ich damit fertig () bin.

Fragen wir uns wieder, in welchem Kontext diese Antwort eine erwartbare ist, so kommen nur Kontexte in Frage, die als zwangsförmige oder entfremdete gelten können bzw. gedeutet werden, bei denen allerdings die Ausgangsfrage, wie ge-sehen, schon unangemessen wäre. Es könnte sich um die Antwort eines Wehr-pfl ichtigen vor seinem Dienstantritt handeln oder um die Antwort eines Bau-arbeiters frühmorgens, wenn der Arbeitstag beginnt. In diesen Situationen würde es uns nicht überraschen, wenn die Befragten antworteten: Ich freue mich darauf, dass es vorbei ist.

Als erstes Interpretationsergebnis können wir also festhalten, dass Kai auf die Frage der Interviewerin in einer Art und Weise reagiert, die den bevorstehenden Gymnasialbesuch in die Nähe einer zwangsförmigen und entfremdeten Lebens-phase rückt. Damit unterläuft er einerseits die Möglichkeit, die Gymnasialzeit als solche könne ihm etwas bieten, worauf er sich freuen könnte. Andererseits steht seine Sicht der Dinge in eigentümlicher Spannung zu der Tatsache, dass er sich

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für den Gymnasialbesuch entschieden hat. Off ensichtlich hat er sich für eine Bil-dungskarriere entschieden, die ihm äußerlich ist, die es auszuhalten gilt und deren Ende schon vor dem Anfang herbeigesehnt wird.

Schauen wir uns die Formulierung genauer an. Kai wiederholt die Frage der Interviewerin wörtlich. Er moduliert sie lediglich durch den Einschub eines ei-gentlich. Damit markiert er, dass das nun Folgende eher außerhalb des Erwar-tungshorizonts liegt. Die Freude drückt er folgendermaßen aus: dass ich damit fertig bin, wenn ich damit fertig () bin. Diese Formulierung ist bemerkenswert. Der erste Teil, dass ich damit fertig bin, operiert mit einer Verschiebung des Zeithori-zonts. Ich freue mich, dass ich damit fertig bin kann nur am Ende, nicht am Anfang der in Rede stehenden Zeitspanne gesagt werden. Kai imaginiert also das Ende der Gymnasialzeit. Er versetzt sich in die Situation, in der die Bildungsphase, vor der er gerade steht, schon beendet ist.

In der Formulierung, dass ich damit fertig bin, verschafft sich ein spezifi sches Bild der „vollendeten Zukunft “ Ausdruck. Das fertig sein stellt einen Ausdruck für das beendet sein dar, der die Subjektperspektive in besonderer Weise betont. Nicht nur kommt eine Phase zu ihrem Ende; das Ich ist fertig geworden mit die-ser Phase. Nicht die Phase ist fertig, sondern das Ich ist damit fertig. Diese For-mulierung verweist auf äußere Handlungsvollzüge, denen kein immanenter Wert zuerkannt wird. Man kann sagen: „Wenn ich mit dem Spülen fertig bin, mache ich mich ans Bügeln“; man kann aber, zumindest als Literat, nicht sagen: „Wenn ich mit dem Buch, an dem ich gerade sitze, fertig bin, schreibe ich ein neues“. Auch die-ses Gedankenexperiment verweist darauf, dass der Sprecher die bevorstehende Phase in der Logik eines bloß instrumentellen Handlungsvollzugs modelliert. Sie wird außerhalb jeglichen Eigenwerts vollständig dem Reich der Notwendigkeit zugeordnet.

Der Nachschub, wenn ich damit fertig bin, ist gleichsam die logische Folge des dass ich damit fertig bin. Denn erst durch den Nachschub wird die Zukunft zu einer vollendeten. Sonst hätte Kai sagen müssen: Dass ich damit fertig sein werde. Allerdings lässt nun die Formulierung wenn ich damit fertig bin die Möglichkeit, gar nicht fertig zu werden, off en. Sie kann auch gelesen werden im Sinne von: Sollte ich damit fertig sein. Das hieße dann: Wenn ich damit fertig bin, freue ich mich, wenn nicht, dann nicht. Zu dem Moment der Entfremdung der bevorstehen-den Bildungsphase kommt also das Moment der Unsicherheit hinzu. Kais Freude gilt nicht nur dem Ende, sondern auch der Möglichkeit, das Ende möge sich her-stellen. Implizit kommt darin eine Sorge zum Ausdruck, es nicht zu schaff en. Und anders als beim Geschirrspülen ist die Freude, damit fertig zu sein, zugleich die Freude, das Scheitern verhindert zu haben.

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Wir haben es also fallspezifi sch mit einer äußerst angespannten subjektiven Lage zu tun. Kai kann den kommenden Schuljahren lediglich instrumentell be-gegnen. Eine innere Aneignung des Schulischen kann er nicht leisten. Dieser in-strumentelle Umgang mit Schule – ich will dort eigentlich nichts, außer fertig werden – ist aber nicht von einer selbstbewussten, strategischen Erfolgsorientie-rung begleitet. Kai repräsentiert nicht jenen Typus bildungsstrategischer Clever-ness, dem das Schulische äußerlich bleibt, der sich aber höchst effi zient und er-folgsorientiert zu den schulischen Leistungsanforderungen positioniert und dem dies vielleicht gerade wegen der Unbefangenheit, die ihm die inneren Distanz zum Schulischen ermöglicht, besonders gut gelingt. Seine innere Distanz ist ge-paart mit einem mangelnden Zutrauen. Er glaubt nicht wie selbstverständlich an das Erreichen des Abiturs. Die Bedrückung seiner Bildungskarriere ist nicht nur durch eine fehlende Bindung an das Schulische, sondern auch durch ein schwa-ches Selbstbewusstsein gegeben.

Dieses deprimierte Bildungsselbst wird schließlich durch einen weiteren Um-stand zum Ausdruck gebracht. Das instrumentell-zweckrationale Verhältnis, das Kai der Schule gegenüber zum Ausdruck bringt, wäre im Sinne eines „Um-zu-Motivs“ (Alfred Schütz) dann bei sich selbst, wenn ein „Zu-etwas“ vorläge. Das Ende der Gymnasialzeit ist ja der Anfang einer durch sie eröff neten weiteren Bil-dungs- bzw. Berufskarriere. Kai, der an anderer Stelle im Interview äußert, dass er gerne zur Polizei oder zur Bundeswehr gehen würde, könnte ja auch sagen, dass er sich am meisten auf das Abitur freut, um dann endlich zur Polizei gehen zu können. Den Zusammenhang zwischen Ende und Anfang spart Kai aber aus. Der zukunft seröff nende Aspekt seiner bevorstehenden Gymnasialzeit fi ndet keine Erwähnung. Insofern liegt im eigentlichen Sinne gar kein Instrumentalismus bzw. lediglich ein abstrakter vor. Der Zweck der ungeliebten Schule, eine Zukunft au-ßerhalb ihrer selbst zu eröff nen, tritt als subjektives Motiv gar nicht in Erschei-nung. Es geht lediglich um die negative Seite (das Ende der Schule), nicht um die damit verbundene positive Seite (der Anfang eines folgenden Lebensabschnitts). Letztere kann Kai nicht mobilisieren. Ich freu mich eigentlich nur darauf, zur Po-lizei gehen zu können, im Sinne von: mehr will ich von dem Gymnasium gar nicht, kann er nicht sagen.

Das bezüglich der Lebenssituierung selbstverantwortliche Projekt des Gymna-sialbesuchs bleibt Kai eigentümlich äußerlich. Es eröff net keine positiven Hand-lungsoptionen. Es ist eigentlich nur negativ begründet durch die Abwendung von Handlungsrestriktionen, die sich durch das Fehlen des Abiturs ergeben.

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Obwohl (2) eigentlich will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen, aber wenn ich (1) halt, dass ich dann fertig bin () dass ich dann wirklich das machen kann, was ich, wozu ich wirklich Lust habe (2)

Das obwohl kündig eine Korrektur an: Eigentlich will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen heißt auch: Das Fertigsein ist doch nicht so drängend, wie der vorausgehend geäußerte Wunsch es nahegelegt hat. Im Anschluss an die obige Interpretation ist dabei besonders interessant, dass die Alternative zu lieber zur Schule gehen auch hier nicht benannt wird. Abermals bleibt das Um-zu-Motiv un-bestimmt und abstrakt. Angesichts der Herausforderungen der nachschulischen Zukunft bleibt die Schule, so ungeliebt sie auch sein mag, das kleinere Übel: „Ei-gentlich sehne ich mich nach nichts anderem, als nach dem Ende der Schulzeit. Obwohl, wenn ich daran denke, will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen.“ Es ist eine perspektivlose Off ensive, mit der Kai seinen Schulwechsel angeht. Er ist nur dazu da, eine außerschulische Zukunft zu eröff nen. Diese Zukunft steht Kai aber als Selbstentwurf genauso wenig zur Verfügung, wie eine positive Identi-fi kation mit der bevorstehenden Schulzeit. Die „Bildungsenergie“ ist stark genug, um die Schule nicht zu beenden. Aber sie reicht nur aus, um den Übergang zu bewerkstelligen (im Moment). Sie reicht nicht, um den mit dem Übergang einge-schlagenen Weg positiv auszugestalten.

Entsprechend kommt er in seiner Rede ins Straucheln:

aber wenn ich (1) halt, dass ich dann fertig bin () dass ich dann wirklich das machen kann, was ich, wozu ich wirklich Lust habe.

Das Motiv seiner Rede kann folgendermaßen umschrieben werden: „Im Moment will ich noch in der Schule bleiben, aber ich freue mich schon darauf, danach end-lich das machen zu können, wozu ich wirklich Lust habe.“

Nun füllt er gleichsam das nachschulische Dasein. Er sehnt sich nach der Zeit, in der er endlich machen kann, wozu er Lust hat. Damit konstruiert er einen ei-gentümlichen Dualismus, in dem die Schulzeit für Zwang, die nachschulische Zeit für Freiheit steht. Diese Konstruktion ist dann einleuchtend, wenn tatsächlich ein materiales Interesse gegeben ist, das sich auf eine konkrete Berufstätigkeit bezieht und dem der Zwang des schulischen Curriculums ein Dorn im Auge ist. Aber auch dieses Motiv wird bloß abstrakt zum Ausdruck gebracht. Es erscheint le-diglich in der Form des „wirklich-Lust-Habens“. Es bleibt material ungefüllt. Es scheint also nur die Idee der Möglichkeit, etwas wirklich zu wollen, auf. Der bil-

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dungs- und berufsbiografi sche Selbstentwurf enthält durchaus das Moment einer Selbstverwirklichung durch die Bildungs- und Berufskarriere. Dieses Motiv fi ndet aber keine inhaltliche Füllung. Kais Ambitionen sind nicht von einem konkreten Wollen gekennzeichnet, das sich durch das Gestrüpp formaler Qualifi kationen hindurcharbeitet, um dort anzugelangen, wo es hin will. Und sein Problem ist auch nicht, dass sich der Realisierung des Gewollten unüberwindliche Hürden in den Weg stellen. Das Problem ist vielmehr, dass der bildungsbiografi sche Selbst-entwurf einer gleichsam ziellosen Zielstrebigkeit folgt.

3 Schlussbemerkung: Qualitative Bildungsforschung und die Rekonstruktion des Bildungsselbst

Die kurze, exemplarische Analyse des vorgestellten Interviewausschnitts sollte ge-nügen, um ein elementares Verständnis des methodischen Vorgehens zu ermögli-chen. Zum Abschluss wollen wir die methodologischen und methodischen Über-legungen verlassen um einen Blick auf die materiale Seite, das empirische Objekt und die Aufgabe der Th eoriebildung zu lenken. Es sollte deutlich geworden sein, dass die methodologischen Prämissen zu weit führenden Konsequenzen bei der empirischen Arbeit am Material führen. Insbesondere die Begriff skonzepte Sub-jektivität, Krise, Zukunft soff enheit der Lebenspraxis, latente Sinnstrukturen haben an der Analyse eines konkreten Falls zur Explikation einer Problemlage beige-tragen, an der die üblichen Semantiken eines an der restriktiven Verfasstheit des Bildungs- und Beschäft igungssystems scheiternden Subjekts abprallen. Kai wird nicht vom Schulsystem „eliminiert“ (Bourdieu). Sein Problem besteht nicht darin, dass die äußeren Zwänge und Restriktionen ihn daran hindern, die selbstgesteck-ten Ziele zu erreichen. Sein Problem besteht vielmehr darin, eine angestrengte, verunsicherte, desintegrierte Selbstpositionierung im Gehäuse des institutionell Vorgegebenen und Möglichen vorzunehmen. Weder kann er auf den schulischen Aufstieg verzichten, noch kann er diesen Aufstieg als eignes Projekt positiv in seine Zukunft sperspektive integrieren. Die Krise, in der er steckt, ist keine, die auf „brute facts“ beruht (vgl. oben), sondern sie ist eine selbsterzeugte, biografi sch hervorgebrachte Krise.

Um diesen Krisentypus zu verstehen, reicht es nicht aus, Passungsprobleme zwischen objektiven Gegebenheiten und subjektiven Wünschen oder Motiven zu konstatieren. Dazu müssen wir das Subjekt in seiner konkreten Verfasstheit ver-stehen. Dazu gehört die Rekonstruktion der Krisenhaft igkeit der je aktuellen Si-

198 Andreas Wernet

tuation, dazu gehört aber auch die Rekonstruktion der Hilflosigkeit des Subjekts, die sich durch das Auseinandergehen von manifesten und latenten Sinnstruktu-ren einstellt. Wenn wir Kais Situation als die einer ziellosen Zielstrebigkeit cha-rakterisiert haben, dann können wir sagen, dass die Zielstrebigkeit seiner (mani-festen) Selbstauffassung angehört, während die Ziellosigkeit ihm nicht zugänglich ist (latent). Kai steckt in einer selbstgebauten Falle.

Um diesen Aspekt der Subjektivität von Bildungs- und Erwerbsbiografi en theo riesprachlich würdigen zu können, schlagen wir den Begriff des Bildungs-selbst vor. Dieser Begriff soll auf zwei Aspekte der Konstitution von Biografi e aufmerksam machen. Zunächst verweist er auf die konstitutive Bedeutung der Subjektivität in Bildungsprozessen. Der bildungsbiografi sche Verlauf ist nicht an-gemessen gewürdigt durch eine „Verlaufskurve“ (Schütze)8, sondern stellt eine Ei-genbewegung dar, die sich zwar in Anlehnung und Abarbeitung, aber auch in relativer Autonomie von äußerlichen, institutionellen Gegebenheiten vollzieht. Diese Eigenbewegung ist nicht hinreichend verstanden als bloßer Refl ex auf so-ziale Rahmungen. Das Subjekt der modernen Gesellschaft steht unter dem ob-jektiven Handlungsdruck, sich in der Bildungs- und Berufswelt zu positionieren (grundlegend dazu: Parsons 1965). Für diese Selbstpositionierung stellt die soziale Herkunft einen entscheidenden Parameter dar. Was auch immer das Subjekt tut, es bewegt sich vor dem Hintergrund seines Herkunft smilieus. Aber beide Aspekte, der objektive, gesellschaft liche Handlungsdruck und das „Erbe“ (Bourdieu) des sozialen Herkunft smilieus, determinieren nicht die Entscheidungen des Subjekts. Es muss sich in diesem gesellschaft lichen Rahmen selbst positionieren.

Über diesen Aspekt der Autonomie des Subjekts hinaus verweist der Begriff des Bildungsselbst auf den Umstand, dass bildungs- und berufsbiografi sche Ent-scheidungen in einer subjektiv mehr oder weniger glücklichen Relation stehen können. Die konstitutive Autonomie des Subjekts bedeutet auch, dass es sowohl problemlösende als auch problemerzeugende Entscheidungen treff en kann. Ich habe oben die Subjektivität des Krisenbegriff s im Kontext der von Oevermann so genannten Entscheidungskrise betont. Wenn wir die Entscheidungssituation auf den Krisenbegriff übertragen, dann heißt das, dass Entscheidungen aus einer Krise herausführen können, dass aber das Subjekt ebenfalls mit einer Entschei-dung eine Krise reproduzieren, sie sogar vergrößern kann.

Diese Überlegung scheint uns für die begriff liche Konzeption eines Bildungs-selbst von entscheidender Bedeutung zu sein. Gerade im Falle von Bildungs-karrieren besteht eine Tendenz, den bezüglich der Leistungsfähigkeit des Sub-

8 Zum Begriff der Verlaufskurve siehe den Beitrag von Anja Schröder-Wildhagen in diesem Band.

Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen 199

jekts höchstmöglichen Bildungsabschluss als den wünschenswerten erscheinen zu lassen. Das hängt natürlich mit der inneren Dynamik eines hierarchischen Bil-dungssystems zusammen, das mit Einkommens- und Prestigechancen eng ver-knüpft ist. Diese Eindimensionalität verkennt aber das Problem der bildungsbio-grafi schen Selbstpositionierung. Nicht schon die schulische Leistungsbereitschaft und -fähigkeit positioniert das Subjekt im Bildungssystem, es selbst muss sich in diesem System verorten, muss sich darin wiederfi nden, muss eine Selbstposi-tionierung vornehmen. An dem Beispiel von Kai konnten wir sehen, dass eine nach außen hin erfolgreiche Schulkarriere mit erheblichen Problemen der Anpas-sung für das Bildungsselbst verbunden sein kann. Obwohl ihm der Wechsel auf das Gymnasium gelungen ist und obwohl dieser Wechsel für ihn selbst in keiner Weise zur Disposition steht, bleibt ihm dieser Schritt eigentümlich äußerlich. Das Bildungsselbst erzeugt in und durch die Schulwahl eine Entfremdung und damit eine Situation der Dauerspannung. Seine Entscheidung, auf das Gymnasium zu wechseln, löst keine Krise, sondern verschärft die Krise, in der das Bildungsselbst sich befi ndet.

Es scheint mir eine große Herausforderung für die qualitative Bildungsfor-schung zu sein, solche bildungs- und berufsbiografi schen Konstellationen, die ihre immanente Dynamik in relativer Autonomie gegenüber sozialstrukturellen Gegebenheiten entfalten, zu rekonstruieren. Darin sehe ich ihren genuinen Bei-trag zur Bildungsforschung. So wichtig und erkenntnisreich statistische Relatio-nen für das Verständnis unserer Gesellschaft auch sind, über die subjektiven Pro-zesse der Formierung von Bildungskarrieren können sie keine Aussage machen. Die Analyse solcher Prozesse ist aber deshalb unverzichtbar, weil die Konstitution des Subjekts und des Bildungsselbst ihrerseits ein zentrales Moment moderner Gesellschaft darstellt.

Literatur

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Arbeit, Beruf und HabitusFallrekonstruktionen von Erwerbsbiografi en mit der Objektiven Hermeneutik1

Stefan Kutzner

1 Einleitung

Gegenstand der Objektiven Hermeneutik sind latente Sinnstrukturen. Nicht um manifeste Bedeutungen geht es ihr, also nicht um Motive, Interessen, Intentionen von Akteuren, sondern um die Strukturen, welche subjektive Bedeutungen, also Bewusstseinslagen, Werthaltungen, Zielvorstellungen erst hervorbringen. Anders formuliert: Die Objektive Hermeneutik will bei der Analyse sozialer Praxis (wie beispielsweise ein Interaktionsgeschehen) nicht die manifesten Intentionen, die Absichten und Beweggründe der beteiligten Personen ermitteln, sondern dieje-nigen Strukturen und Regeln, die gewissermaßen „hinter dem Rücken“ der Be-teiligten deren Interaktionen zugrunde liegen. Ziel einer fallspezifi schen Explika-tion dieser Strukturen und Regeln ist dann die Rekonstruktion des vorliegenden (Untersuchungs-)Falles als eines historisch gewordenen Gebildes. Die Objektive Hermeneutik geht somit davon aus, dass erstens Arbeitsbiografi en nicht Ausdruck individueller Präferenzen und Werthaltungen sind, sondern dass sie nach sozialen Regeln erzeugt werden, und dass zweitens jede Arbeitsbiografi e Teil eines Indivi-duierungsprozesses einer Lebenspraxis ist.2

Teilt man diese im weiten Sinne berechtigt als strukturalistisch zu bezeich-nende Prämisse, kann man sich fragen, was denn die Objektive Hermeneutik bei der Untersuchung von Biografi en, und hier in diesem Vorhaben bei Erwerbsbio-grafi en, zu leisten imstande ist. Worin sollen diese überindividuellen Regeln, diese objektiven Gesetzmäßigkeiten bestehen, welche Berufswahlen, Berufslaufbahnen und die mit den jeweiligen Berufsstellungen verbundenen sozialen und ökono-

1 Für eine Durchsicht und Kommentierung des Manuskriptes danke ich Jan Gellermann. 2 Zur Darstellung und Begründung der Objektiven Hermeneutik siehe Oevermann (1986, 1991 und

1993), zum methodischen Vorgehen Wernet (2006). Zum Regelbegriff siehe Durkheim ([1885] 2002).

204 Stefan Kutzner

mischen Positionen bestimmen ? Wie ergibt sich die Präferenzstruktur, aufgrund derer ein Individuum eine bestimmte berufliche Laufbahn mit allen ihren sozia-len und ökonomischen Folgen einschlägt ? Die Objektive Hermeneutik geht davon aus, dass jeder biografi sche Verlauf (und die Berufs- bzw. Erwerbsbiografi e ist ja ein Teil dieser gesamten Biografi e) Ausdruck eines Habitus ist. Als Habitus kann man sich ein Strukturgebilde vorstellen, das verschiedene Schemata enthält, die konkrete Bewusstseinsakte wie auch Handlungen eines Individuums erst ermög-lichen. Der Habitus selbst wiederum ist Resultat des Sozialisationsprozesses eines Subjekts: Er ist bestimmt durch allgemeine Zeitumstände wie durch soziale Posi-tionen, die spezifi sche Milieulage.3

Im Folgenden soll gezeigt werden, wie man mit der Objektiven Hermeneutik Habitusrekonstruktionen vornehmen kann. Dabei geht es in den beiden ausführ-lich dargestellten Fällen nicht um den gesamten Habitus, sondern um die Aspek te, welche bei der jeweiligen beruflichen Laufbahn wesentlich sind. Man kann einen Erwerbs- oder Berufshabitus nicht isoliert betrachten. Eine Arbeitsbiografi e ist Ausdruck einer gesamten Lebensführung, zu der die familiäre Biografi e und der soziale Status ebenso hinzugehören. Mit der Wahl eines bestimmten Berufes sind immer konkrete Arbeitsbedingungen gegeben, die natürlich auch das pri-vate Leben beeinfl ussen. Umgekehrt wird durch die Zugehörigkeit zu konkre-ten lebensweltlichen Gemeinschaft en (Familie und Milieu) auch die Berufswahl mitbestimmt. Beides steht also zueinander in einer Wechselwirkung. Dennoch beschränke ich mich nachfolgend weitgehend auf die beruflichen oder erwerbs-bezogenen Aspekte der beiden untersuchten Biografi en und möchte an diesen beiden Fallbeispielen verdeutlichen, was der jeweils zugrundeliegende Habitus eigentlich ist und wie man ihn auf der Basis einer Datenlage (biografi sches Inter-view und tabellarischer Lebenslauf) rekonstruieren kann.

Die Objektive Hermeneutik gilt als Kunstlehre. Sie gibt dem Interpreten und Sozialforscher allgemeine Regeln an die Hand, sie versteht sich aber nicht als Ab-laufprogramm, nach dem man standardmäßig qualitativ erhobenes Datenmate-rial auswerten kann. Die Charakterisierung der Objektiven Hermeneutik als Kunstlehre bedeutet, dass der Erfolg in der Anwendung dieser Methode bzw. Me-thodologie auch auf Erfahrung beruht. Je mehr man interpretiert, je mehr man mit der Objektiven Hermeneutik Fallrekonstruktionen vornimmt, desto sicherer wird man bei den einzelnen Interpretationsakten. Dennoch möchte ich die we-

3 Zum Habitusbegriff siehe Bourdieu (1982 [1979], 1987 [1980]), Krais / Gebauer (2002), Oever-mann (2001) sowie Vester et al. (2001). Eine eigentliche, mikrosoziologisch fundierte Habitus-Th eorie steht noch aus.

Arbeit, Beruf und Habitus 205

niger Erfahrenen (StudentInnen, DoktorandInnen, AssistentInnen) gerade auch dazu ermutigen, einfach einmal zu beginnen (gegebenenfalls unter Anleitung), indem sie sich an den nachfolgend dargestellten Schritten orientieren und auf diese Weise praktische Erfahrungen in der Auswertung mit der Objektiven Her-meneutik machen.

Zunächst werde ich einige wenige theoretische Prämissen der Objektiven Her-meneutik kurz darstellen, wobei ich mich auf diejenigen beschränke, welche für das hier zugrundeliegende Forschungsinteresse, nämlich Erwerbsbiografi en, re-levant sind (2). Es folgt dann eine Darstellung der wesentlichen Untersuchungs-schritte (3). Die beiden ausführlich dargestellten Fallrekonstruktionen, das sind hier zwei Erwerbsbiografi en, sind einerseits Exemplifi zierungen der vorangehend dargestellten Schritte, sollen aber auch verdeutlichen, zu welchen Ergebnissen man mit der Objektiven Hermeneutik gelangen kann, weswegen die Darstellung der beiden Fallrekonstruktionen recht ausführlich gerät (4). Mit einigen resümie-renden Bemerkungen beschließe ich meinen Beitrag (5).

2 Einige theoretische Grundlagen der Objektiven Hermeneutik

Das Ziel einer mit der Objektiven Hermeneutik durchgeführten Analyse ist die Rekonstruktion von Fallstrukturgesetzlichkeiten individuierter Lebenspraxen. „Unter Lebenspraxis wird von der objektiven Hermeneutik inhaltlich ein autono-mes, selbst-transformatorisches, historisch konkretes Strukturgebilde gefasst, das sich als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungs-verpfl ichtung konstituiert“ (Oevermann 1993: 178). Dieses „historisch konkrete Strukturgebilde“ ist immer ein Subjekt, sei es eine individuelle Person, sei es ein Kollektivsubjekt wie beispielsweise ein Staat, ein Wirtschaft sunternehmen oder auch eine Kirchengemeinde. Vorrausetzung ist, dass ein lokalisierbares Hand-lungszentrum vorliegt.

Lebenspraxis ist Oevermann zufolge nicht determiniert, vielmehr stehen je dem Subjekt mehr Möglichkeiten zur Wahl, als es verwirklichen kann. Lebens pra xis rea lisiert sich im Vollzug dieser Auswahl: Die Wahl einer Möglichkeit schließt an-dere aus. Lebenspraxis ist die fortwährende Selektion von Möglichkeiten. Oever-mann betont die Off enheit der Entscheidungssituation: „Ein Entscheidungszwang ergibt sich notwendig daraus, dass in bestimmten, dadurch krisenhaft en Situatio-nen angesichts entwerfbarer Alternativen oder Wahlen, ob es gewollt wird oder nicht, eine Entscheidung fallen muss, für die charakteristisch ist, dass krisen-lösende rationale oder sozial anerkannte Begründungen (noch) nicht zur Ver-

206 Stefan Kutzner

fügung stehen“ (Oevermann 1993: 178 – 179). Wenn keine rationalen oder andere sozial anerkannten Begründungen (Legitimierungen) vorliegen, ist die Entschei-dungssituation zukunft soff en, sie kann nicht prognostiziert werden. Lebenspra-xis ist gekennzeichnet durch diese fortwährende Krisenbewältigung, worunter Oevermann auch das Aufbrechen vorhandener und nicht mehr tauglicher Routi-nen versteht (Oevermann 2008).

Ein Subjekt trifft im Verlauf seines Lebens oder seiner Biografi e beständig zu-kunft soff ene Entscheidungen: Soll es A heiraten oder nicht, soll es den Beruf x oder y ergreifen, soll es als Studienort v oder w wählen usw. Für alle diese Mög-lichkeiten gibt es zum Zeitpunkt der zu treff enden Entscheidung keine Kriterien, nach denen das jeweilige Subjekt für seine Zukunft prognostizieren kann, dass sich diese Entscheidungen tatsächlich bewähren: dass mit A eine glückliche Ehe geführt wird, dass der Beruf x genügend Entfaltungschancen bietet, dass der Stu-dienort v ein gehaltvolleres Studium ermöglicht als andere Studienorte.

Generelle Muster dieser Selektionen einer Lebenspraxis zu ermitteln, ist das Ziel einer Fallrekonstruktion. Durchaus lassen sich diese Selektionsmuster als Aspekte eines Habitus verstehen. Unter Habitus versteht Oevermann die Hand-lungsprogrammierungen, die „als Automatismus außerhalb der bewussten Kon-trollierbarkeit (…) das Verhalten und Handeln von Individuen“ kennzeichnen und bestimmen (Oevermann 2001: 45). Oevermann lehnt sich mit seinem Ha-bitus-Konzept stark an das von Bourdieu an. Letzterer versteht als Habitus die generativen Strukturen, die den jeweiligen Wahrnehmungen, dem Denken und Handeln von Individuen vorgelagert sind. Der Habitus ist Bourdieu folgend das Ergebnis objektiver Lebensbedingungen (bei Bourdieu der Klassenlage) und der milieuspezifi schen Erfahrungen, wobei er wiederum diese Milieus auch schafft (Bourdieu 1987: 97 ff.). Bezogen auf das Lebenspraxis-Modell von Oevermann be-inhaltet der Habitus die vorgelagerten Strukturen, welche die jeweils bei Subjek-ten vorgenommenen lebenspraktischen Entscheidungen erzeugen.

Der Habitus selbst ist zunächst einmal Resultat eines Sozialisationsprozesses, er wird bestimmt von milieu- und familienspezifi schen Ausgangskonstellatio-nen sowie den gegebenen Zeitumständen, das sind soziale, kulturelle, politische und ökonomische Rahmenbedingungen. In diesen vorgegebenen Konstellationen vollzieht sich ein Autonomisierungsprozess, gekennzeichnet dadurch, dass das In-dividuum auf zwei Ebenen grundlegende Weichenstellungen vornimmt. Zunächst einmal auf der Ebene der Berufsfi ndung, es entscheidet sich für eine speziali-sierte Tätigkeit. Diese berufliche Tätigkeit dient zum einem zur Erwirtschaft ung

Arbeit, Beruf und Habitus 207

des eigenen Lebensunterhaltes, zum anderen ist sie auch Quelle gesellschaft licher An erkennung: Indem es arbeitet, trägt das Individuum zum Wohlstandserhalt bzw. zur Wohlstandsmehrung bei. Somit legt die Berufswahl die weitere Positio-nierung in der Gesellschaft nach Status- und Einkommenskriterien weitgehend fest. Damit geht, wir sind jetzt bei der zweiten Ebene, die Ablösung von der Her-kunft sfamilie einher: die fi nanzielle Verselbstständigung, die Gründung eines ei-genen Haushaltes sowie die persönliche Verselbstständigung, die sich darin mani-festiert, dass die Eltern ihre Autoritätsposition verlieren. Der Ablösung von der Herkunft sfamilie folgt die Gründung einer eigenen (Gattenwahl und Kinder). Die Form der privaten Lebensführung ist damit weitgehend bestimmt. Zwar be-steht im Unterschied zu früheren Zeiten keine bindende Verpfl ichtung zu Ehe-schließung und Fami liengründung, dennoch sind Lebensentwürfe als Single oder der Verzicht auf eigene Nachkommenschaft immer noch in der Minderheit und letztlich legitima tionsbedürftig. Sind die Berufsfi ndung und Familiengründung erfolgt, hat sich das Individuum zunächst erstmal in gesellschaft licher Hinsicht positioniert, es nimmt einen bestimmten Status ein, der sich unter bestimmten Umständen durchaus auch noch einmal verändern kann. Beruf, Einkommen und Familie gelten als allgemeine Quellen sozialer Wertschätzung. Zur Familiengrün-dung ist hier zu bemerken, dass Ehe (eine auf Dauer angelegte Liebesbeziehung) sowie die sich daran anschließende Familiengründung in fast allen sozialen Mi-lieus immer noch verbindliche Norm ist und auch tatsächlich in der Regel ange-strebt wird.

Auch Biografi en von Personen, und das Erwerbsleben und der Verlauf einer beruflichen Karriere sind ja wesentliche Aspekte einer Biografi e, sind für die Objektive Hermeneutik Untersuchungsfälle, und in solchen Fällen sollen die Struktur gesetzlichkeiten (oder auch Strukturmuster) einzelner Erwerbsbiografi en ermittelt werden. Dieses, was als latente Struktur das Handeln von Individuen steuert, lässt sich durchaus als Habitus begreifen: Hinter der sichtbaren Erwerbs-karriere steht aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik ein diese Erwerbs-karriere generierender Habitus, ein Generator, der Ausbildungswege, Berufswahl und Berufsverlauf steuert. Somit ist eine vorliegende Erwerbsbiografi e, der Ver-lauf einer beruflichen Karriere, aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik eine Abfolge mehrerer Entscheidungssituationen, eine Sequenz von Krisen. Be-reits die Berufswahl ist eine Krise, da zum Zeitpunkt der Festlegung ja gar nicht antizipiert werden kann, ob der gewählte Beruf auch wirklich den eigenen Be-gabungen entspricht und ob auch in der Zukunft die ökonomischen Erwerbs-

208 Stefan Kutzner

chancen in dem gewählten Beruf attraktiv sein werden. Gleichwohl lässt sich eine einmal getroff ene Berufswahl nur unter erschwerten Bedingungen korrigieren. Die Berufswahl ist eine Angelegenheit, die sich nicht routinisiert vollziehen lässt.

Der Beruf 4 ist einerseits ökonomisches Mittel zur Existenzsicherung, anderer-seits Quelle sozialer Anerkennung. Mit seiner beruflichen Tätigkeit trägt jedes Individuum zum Wohlstand einer politischen Gemeinschaft bei. Gleichwohl fi n-den sich Milieutraditionen, und zwar in dem Sinne, dass durch den Beruf auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu angezeigt wird. In dieser Hinsicht ist jede Berufswahl beeinfl usst durch die Zugehörigkeit zu einem be-stimmten sozialen Milieu: Sie kann milieukonform erfolgen, sie kann aber auch den üblichen Milieuerwartungen widersprechen. Im letzteren Fall wird das Her-kunft smilieu verlassen.

Nun ist der wirtschaft liche Strukturwandel mit zu berücksichtigen: der Nie-dergang bisheriger und der Aufstieg neuer Berufe und die damit einhergehenden Veränderungen des Arbeitsmarktes. Diese Veränderungsprozesse bewirken, dass gerade auch für die Berufswahl in der Regel keine Vorbilder zur Verfügung stehen, dass also die Festlegung auf bestimmte Tätigkeiten keineswegs routinisiert erfol-gen kann. Ob ein gewählter Beruf zwei Jahrzehnte später genügend Erwerbsmög-lichkeiten bietet, also auch zukünft ig die Basis für einen angestrebten materiellen Lebensstandard bildet, ob er weiterhin in gleichem Maße wertgeschätzt wird, ist zum Zeitpunkt der Berufwahl ebenso off en wie die Frage, ob der gewählte Beruf und die jeweilige Berufspraxis den Interessen, Talenten und Begabungen auch wirklich entspricht, also der Persönlichkeitsstruktur angemessen ist.

Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Objektive Hermeneutik ein struktura-listisches Verfahren innerhalb der rekonstruktiven Sozialforschung ist. Ihr geht es gerade nicht um den Nachvollzug subjektiver Perspektiven, vielmehr um die Er-schließung latenter Sinnstrukuren, welche dem Subjekt nicht unbedingt zugäng-lich, dennoch handlungswirksam sind (Oevermann 1993). Das unterscheidet die Objektive Hermeneutik von Konzepten, die eher aus der phänomenologischen Tradition her stammen und von Ansätzen der Biografi eforschung, wie sie gegen-

4 Da die Objektive Hermeneutik vor allem in mikrosoziologisch angelegten Untersuchungen ver-wendet wird, gehören die hier formulierten knappen Ausführungen zum Beruf und zum wirt-schaft lichen Strukturwandel nicht zu den eigentlichen theoretischen Grundlagen der Objektiven Hermeneutik. Dennoch lässt sich die Methodologie der Objektiven Hermeneutik durchaus auf makrosoziologische Fragestellungen anwenden. Hierzu müsste noch das begriff liche Instrumen-tarium in Gestalt einer Makro-Th eorie noch entwickelt werden.

Arbeit, Beruf und Habitus 209

wärtig insbesondere von Fritz Schütze und Gabriele Rosenthal vertreten werden.5 Schützes „Ablaufmodell für Verlaufskurvenprozesse“ orientiert sich an der sub-jektiven Perspektive des Erleidens von Verlusten von Gestaltungsmacht und Kon-trolle über die äußere Realität (Schütze 1996a: 129 f.). Auch Rosenthal stellt die subjektive Perspektive in den Fokus ihrer Untersuchungen:

„Der biographische Forschungsansatz ermöglicht Einsicht sowohl in die gegenwärti-gen Deutungsmuster bzw. subjektiven Perspektiven der Alltagshandelnden als auch in ihre mit der sozialen Welt verwobenen Handlungsgeschichten. Mein Anspruch ist es aufzuzeigen, wie die sozialen Konstruktionen in ihrer Wechselwirkung mit den kon-kreten Erfahrungen der Handelnden und den zu unterschiedlichen Zeitpunkten wirk-mächtigen sozialen Diskursen entstanden sind, wie sie sich immer wieder reproduzie-ren oder verändern“ (Rosenthal 2010: 198).

Dagegen zielt die Objektive Hermeneutik nicht auf das Subjekt, seine Intentionen und seine unbewussten und vorbewussten Motivlagen ab, sondern auf die tiefer liegenden Strukturen der Subjektivität, auf den Habitus, der die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität erst ist, und, wenn man hier Bourdieu folgt, allge-meine Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns beinhal tet.6 Insofern ist die grundlagentheoretische Position Oevermanns derjenigen Bour-dieus sehr nahe. Auch Bourdieu distanziert sich von phänomenologischen Posi-tionen, weil diese „Erkenntnisweisen“ nur jeweils den Sinn, den die beteiligten Akteure ihrem Handeln selbst beimessen, rekonstruieren können. Stattdessen

5 Zur Biografi eanalyse siehe die Beiträge von Anne Juhasz Liebermann und von Anja Schröder-Wildhagen in diesem Band.

6 Es sei hier betont, dass die Diff erenzen zwischen diesen beiden Positionen vor allem konsti-tutionstheoretisch begründet sind. Auch wenn bei Rosenthal und Schütze die Rekonstruktion von Subjektivität im Vordergrund steht, erschöpft sich bei ihnen Subjektivität keineswegs in be-wusster Intentionalität (was ja gleichbedeutend wäre mit einer Reduktion von Subjektivität auf Zweck- oder auch bewusster Wertrationalität). So hat beispielsweise Schütze sehr anschaulich am Beispiel der Sozialarbeit die Paradoxien professionellen Handelns herausgearbeitet, also die Ge-genläufi gkeit und Widersprüchlichkeit von Handlungsanforderungen im Vollzug professionel-ler Praxis, die jedoch vom Subjekt gegenseitig austariert werden müssen (Schütze 1996b). Und Rosenthal verdeutlicht die Komplexität subjektiver Äußerungen und den daraus resultierenden methodischen Anforderungen anhand der Diff erenz zwischen erlebter, erinnerter und erzählter Biografi e, wobei sie, dem Modell der Objektiven Hermeneutik recht vergleichbar, die objektiven Daten des Lebenslaufes mitberücksichtigt (Rosenthal 2010). – Auch wenn man letzten Endes auf einer Unterscheidung zwischen einer strukturalistischen und einer eher phänomenologischen Position festhält, muss man jedoch konstatieren, dass die Studien und Forschungsergebnisse bei-der Richtungen wechselseitig sehr gut rezipierbar sind.

210 Stefan Kutzner

müsse man mit der primären Erfahrung mit der vertrauten Welt brechen, um die „verschiedenen Praxisformen und deren Repräsentationen“ rekonstruieren zu können (Bourdieu 1976: 147). Bourdieu zufolge produziert und reproduziert sich die Gesellschaft in all ihren Dimensionen (ökonomische, soziale und kul-turelle Dimensionen) nur durch soziale Praxis, die wiederum jenseits des Ver-ständnisses ihrer Akteure zu rekonstruieren ist. Soziale Praxis ist Bourdieu zu-folge zwar durch verschiedene milieuspezifi sche Habitusformen bestimmt, jedoch nicht determiniert. Oevermanns Position stellt in gewisser Weise noch einmal eine Radikalisierung der Position Bourdieus dar. So geht es der Objektiven Her-meneutik zwar auch um die Reproduktion, aber vor allem um die Transformation sozialer Strukturen. Insofern ist der Unterschied zwischen Bourdieu und Oever-mann auf der perspektivischen Ebene zu sehen. Bourdieu will die Reproduktion immer schon vorhandener Strukturen nachweisen, wohingegen Oevermann an der Transformation, also an der „Entstehung des Neuen“ interessiert ist (hierzu vor allem Oevermann 1991).

3 Methodisches Vorgehen

3.1 Datenerhebung: Biografi sches Interview und standardisierter Fragebogen

Zentrale Datenquelle ist ein biografi sches Interview. Es empfi ehlt sich, dies in Form eines narrativen Interviews (Schütze 1983) zu erheben und dabei die zu in-terviewende Person um die Erzählung ihrer gesamten Lebensgeschichte zu bit-ten (vgl. Hermanns 1991; Hopf 1991; Rosenthal 2005). Hier ein Formulierungsvor-schlag für die Eingangsfrage:

„Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte von Geburt an, von dem Zeitpunkt an, an den Sie sich erinnern, bis heute. Erzählen Sie das, was Ihnen wichtig ist. Ich werde am Ende Ihrer Erzählung nachfragen“.

Nachfragen werden am Ende der Erzählung gestellt. Sie sollten sich in diesem Fall auf die Arbeitsmarktbiografi e bzw. auf das Erwerbsleben konzentrieren.

Am Ende des off enen Interviews werden dann noch in standardisierter Form die sogenannten objektiven Daten abgefragt, sofern sie nicht bereits in der biogra-fi schen Erzählung genannt wurden.

Die infrage kommenden objektiven Daten sind im folgenden Schaukasten auf-geführt.

Arbeit, Beruf und Habitus 211

Geburtsjahr und Geburtsort Eltern: Geburtsjahre, Geburtsorte, BerufeGeschwister: Anzahl und jetziges Alter (bzw. Geburtsjahre)Orte des AufwachsensSchulbildungBerufsausbildung (oder Studium): Auflistung der verschiedenen PhasenHeirat: HeiratsjahrEhegatte (Ehegattin) / Lebenspartner(in):

Geburtsjahr, Geburtsort, BerufFalls möglich: Berufe und Geburtsjahre der SchwiegerelternFalls möglich: Berufe und Geburtsjahre der Schwager (Schwägerinnen)

Kinder: Geburtsjahre, GeburtsorteWeitere bedeutsame Daten aus dem Lebenslauf: z. B. Trennungen / Scheidungen, bedeutsame Erkrankungen etc.

Das biografi sche Interview wird wortgetreu transkribiert. Das standardisierte In-terview zu den Lebenslaufdaten wird nicht transkribiert. Stattdessen wird ein ta-bellarischer Lebenslauf erstellt.

3.2 Datenauswertung

3.2.1 Auswertung der objektiven Daten

Die Auswertung der objektiven Daten dient zur ersten Formulierung einer Fall-strukturhypothese.

1. Zunächst werden im ersten Schritt anhand der Daten zur familiären und sozialen Herkunft , also den Daten zur Familie und den Berufen der Eltern Rückschlüsse auf das soziale Milieu, dem die interviewte Person entstammt, gezogen. Die Daten dienen also dazu, das spezifi sche soziale Milieu der Inter-viewperson zu bestimmen, darüber hinaus auch, sich ein Bild über die milieu-spezifi schen Lebensverhältnisse zu machen. Man klassifi ziert also das sozia-le Herkunft smilieu und erzeugt ein Bild über die konkreten Lebens umstände.

2. Im zweiten Schritt werden mehrere milieuspezifi sche Lebenswege gedanken-experimentell erzeugt. Diese verschiedenen Lebenswege sind idealtypische Möglichkeiten, was in einem bestimmten sozialen Milieu als angemessene Le-bensführung gilt. Berufswahl und Familiengründung sind die wesentlichen Aspekte der sozialen Etablierung. Dabei ist zu beachten, dass bei der Berufs-wahl entweder mehr materielle Interessen oder mehr Selbstverwirklichungs-ambitionen im Vordergrund stehen können. Für beide Typen gibt es in der

212 Stefan Kutzner

Regel Vorstellungen, welche Berufe milieukonform sind. Dabei sollte auch darauf geachtet werden, dass für Frauen wiederum andere milieuspezifi sche Normen hinsichtlich einer angemessenen Berufswahl existieren als für Män-ner.

3. Im anschließenden Schritt wird der tatsächliche Lebenslauf mit den vorweg konstruierten Möglichkeiten verglichen.

4. Dieser Vergleich soll ermöglichen, dass die individuelle Typik der sozialen Etablierung in Form einer Fallstrukturhypothese formuliert werden kann.

3.2.2 Auswertung des Interviewtextes

Anhand des Interviewtextes kann die Fallstrukturhypothese überprüft , modifi -ziert und teilweise auch fallspezifi sch präzisiert werden. Dabei geht man in fol-genden Schritten vor:

1. Die auf der Basis der objektiven Daten formulierte Fallstrukturhypothese wird einige off ene Aspekte enthalten, die auf der Grundlage des Interviewtextes weiter untersucht werden können. Solche Aspekte können sein: Berufswechsel, nicht milieuspezifi sche Berufswahlen, sehr früh oder auch sehr spät erfolgen-de Familiengründung, Trennungen und Scheidungen. Im ersten Schritt wer-den alle diejenigen Textstellen im Interview markiert, in denen über die aus-gewählten Aspekte berichtet wird.

2. Zusammen mit der Eröff nungssequenz des Interviews werden die ausgewähl-ten Interviewstellen nach den Regeln der Objektiven Hermeneutik interpre-tiert. Zu den grundlegenden Regeln gehören die Kontextfreiheit, das Sequen-zialitätsprinzip, die Wörtlichkeit, die Sparsamkeitsregel und die Regel der Extensivität (vgl. hierzu Wernet 2006).

3. Schließlich werden die durch den Interpretationsgang gewonnenen Erkennt-nisse zusammengetragen und in Gestalt eines Strukturmusters bezüglich des untersuchten Falles formuliert.

3.3 Zum praktischen Vorgehen bei der Interpretation

Es wird empfohlen, die Interpretationsarbeit in einer Gruppe vorzunehmen. Eine solche Interpretationsgruppe sollte nach den Erfahrungen des Autors aus etwa

Arbeit, Beruf und Habitus 213

vier bis sechs Mitgliedern bestehen. Die Aufgabe der Gruppe ist es, zum einen eine möglichst große Lesartenvielfalt zu erzeugen, zum anderen die Stichhaltig-keit von einzelnen Interpretationen wie auch von der Fallstrukturhypothese im Diskurs kritisch zu überprüfen. In der Regel beteiligt sich derjenige, der einen Fall erhoben hat (also das Interview führte), nicht an der Lesartenproduktion, sondern beschränkt sich in der Interpretationsgruppe darauf, notwendige Hin-tergrundinformationen beizusteuern. Nach der Gruppeninterpretation wird der Interpretationsgang ausführlich und anschaulich dargestellt.

3.4 Abschließende Bemerkung

Die Objektive Hermeneutik versteht sich in erster Linie als Kunstlehre. So ist die Befolgung der hier formulierten Regeln zwar notwendig, um eine Fallstruktur-hypothese zu formulieren, aber keineswegs hinreichend. Insbesondere auf die Erzeugung von Lesarten wie auch auf die Vergegenwärtigung milieuspezifi scher Lebensverhältnisse kommt es ebenso an, wie auch auf die präzise, sich auf die Da-tengrundlage stützende Formulierung von einzelnen Aspekten der Fallstruktur. Zu allem gehört Erfahrung, nicht nur strikte Regelbefolgung. So ist es sinnvoll, wenn man mit der Objektiven Hermeneutik arbeiten möchte, eine kontinuierlich arbeitende Interpretationsgruppe ins Leben zu rufen, an ihr regelmäßig teilzu-nehmen, um auf diese Weise die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit der Objektiven Hermeneutik zu erwerben.

4 Fallrekonstruktionen

Anhand von zwei Fallbeispielen soll das Vorgehen der Objektiven Hermeneutik bei der Rekonstruktion des Erwerbshabitus demonstriert werden. Das Fallmate-rial stammt aus der Studie „Working poor in der Schweiz – Wege aus der Sozial-hilfe“ (Kutzner et al. 2004). Unter anderem wurden im Rahmen dieser Studie 50  biografi sche Interviews mit Personen aus der Working poor-Population ge-führt, von denen ein kleiner Teil mit der Objektiven Hermeneutik ausgewertet wurde. Die beiden Fälle in der folgenden Darstellung wurden erneut einer Fall-analyse unterzogen. In beiden Falldarstellungen werden sowohl das methodische Vorgehen (jeweils gekennzeichnet) als auch die Interpretationsergebnisse darge-stellt.

214 Stefan Kutzner

4.1 Erste Fallrekonstruktion (Flurina Messerli)7

Wir beginnen mit den objektiven Daten.

1958 Flurina Altdorf (später Messerli)8 wird in Fribourg (Schweiz) geboren. Die Familie Alt-dorf gehört der deutschsprachigen Sprachgruppe an. Der Vater, Jg. 1931, ist Maurer, die Mutter, Jg. 1936, Hausfrau und zeitweilig Fabrikarbeiterin. Flurina ist das zweite Kind, ihre ältere Schwester wird 1955 geboren.

Zum methodischen Vorgehen: Diese Daten dienen zur Bestimmung (Klassifi kation) des sozialen Milieus, in dem Flurina aufwächst. Darüber hinaus können wir uns anhand der örtlichen und zeitlichen Rahmung – Flurina verbringt ihre Kindheit und Jugend in den 1960er und 1970er Jahren im Kanton Fribourg – ein Bild von den Lebensumständen und den Lebensperspektiven machen, die Flurina betreff en. Maurer und Fabrikarbeite-rin, die Berufe der Eltern, sind klassische Arbeiterberufe, Flurina wächst also im Arbei-termilieu auf.

Wie gelangt man an Informationen bezüglich der damaligen Lebensverhältnisse in ei-nem Schweizer Arbeitermilieu ? Man könnte „Milieu-ExpertInnen“ befragen, also Leute, welche aus diesem Milieu stammen. Auch Milieu-Charakterisierungen, wie sie in Form von Reportagen, Berichten oder eventuell breit angelegten kulturhistorischen Studien vor-liegen, sollte man nutzen. In jedem Fall sollte man versuchen, sich anhand der verfüg-baren Daten und Informationen die Lebensumstände möglichst plastisch vor Augen zu führen.

Die Altdorfs sind, das zeigen die Berufsangaben, eine klassische Arbeiterfami-lie. Der Vater übt als Maurer einen traditionellen Handwerksberuf aus. Habi-tuell hebt er sich von anderen, insbesondere un- und angelernten Arbeitern ab, durchaus eine Quelle für Berufsstolz und soziales Prestige im Arbeitermilieu. Die Mutter konzentriert sich dagegen auf den Haushalt, mit zeitweilig ausgeübter Fabrik arbeit (bestenfalls handelt es sich um angelernte Tätigkeiten) ergänzt sie das Familieneinkommen, das zu erwirtschaft en sonst dem Mann zukommt. Die Tätigkeit auf der Baustelle, die Zusammenarbeit mit anderen Handwerkern, die

7 Der Fall Flurina Messerli wurde ausgiebig im Rahmen eines Kolloquiums mit Olaf Behrend, Alexander Geschwindener, Jan Gellermann, Carsten Weiß und Benjamin Worch diskutiert.

8 Der interviewten Person wurde für die Darstellung ein anderer Namen gegeben. Das gilt selbst-verständlich auch für den folgenden Fall.

Arbeit, Beruf und Habitus 215

daraus resultierende Vergemeinschaft ung prägen den Alltag Herrn Altdorfs, wäh-rend Frau Altdorf ihre Selbstbestätigung in allererster Linie aus ihrer Betätigung als Hausfrau und Mutter ziehen dürfte. Die Lebensverhältnisse der Familie in den 1950er und 1960er Jahren dürften bescheiden gewesen sein (was für Handwerker-familien ohne eigenen Betrieb die Regel gewesen ist), das Einkommen wird für die alltägliche Lebenshaltung gereicht haben, größere Ersparnisse waren wohl kaum möglich. Als Maurer wird Herr Altdorf in seiner Wohnregion gut integriert gewesen sein, kann er doch aufgrund seiner Handwerkerfertigkeiten Verwandte, Nachbarn, Kollegen und Freunde bei Bauarbeiten unterstützen und somit sein Haupteinkommen aufbessern. Die Baubranche bot bis in die 1970er Jahre hinein, bis zur Krise im Baugewerbe, zwar keine Spitzenlöhne, immerhin aber sichere Ar-beitsplätze. Dennoch dürfte sich ein Konkurrenzdruck auch bemerkbar gemacht haben, waren Tätigkeiten auf dem Bau attraktive Arbeitsplätze für Arbeitsmigran-ten, vor allem für Italiener und Portugiesen.

Als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit im Kanton Fribourg – zwei Drittel der Einwohner geben Französisch als Muttersprache an – sind die Altdorfs benachteiligt. Das Freiburger Deutsch gilt als Sprache der unteren Schichten, der Bauern, Handwerker und Arbeiter, die Sprache der Bürger ist dagegen Franzö-sisch. Ihres Dialektes wegen werden die Deutschfreiburger von den Frankopho-nen nicht ganz ernst genommen, wegen ihres ausgeprägten Katholizismus gelten namentlich die Deutschfreiburger in der Deutschschweiz als rückständig. Beides sind Faktoren, welche der sozialen Mobilität wenig dienlich sind und den Hang fördern, unter sich zu bleiben.

Dass der Kanton Freiburg, im Gegensatz zu anderen Schweizer Regionen kein Auswanderungskanton wurde, verdankt sich auch einer geschickten Industrie-ansiedlungspolitik der Freiburger Kantonsregierungen. Freiburg ist der Schweizer Kanton mit den höchsten wirtschaft lichen Zuwachsraten seit 1945.

1965 – 74 In diesem Zeitraum wechselt die Familie insgesamt siebenmal den Wohnort. Flurina besucht die Primar- und Sekundarschule in den Kantonen Solothurn, Bern und Fri-bourg.

Zum methodischen Vorgehen: Es geht jetzt nicht mehr um das soziale Milieu, sondern um die Lebensumstände der Familie Altdorf. Wir befi nden uns immer noch beim ersten Schritt der Interpretation der objektiven Daten. Dabei fragen wir uns vor allem, was der fortdauernde Wohnsitz- und auch Schulwechsel für die vorliegende Biografi e bedeutet.

216 Stefan Kutzner

Der Grund für den dauernden Wohnortswechsel könnte sein, dass Flurinas Vater als Maurer in länger andauernden Bauprojekten beschäft igt ist und, um längere Anfahrtswege zu vermeiden, sich mit seiner Familie immer unmittelbar an der Baustelle niederlässt. Ein anderer Grund könnte ein häufi gerer Wechsel des Ar-beitgebers sein. Der andauernde Wohnortswechsel verdeutlicht, dass die Familie Altdorf regional nicht verwurzelt ist. In gewisser Weise nomadisiert sie, vermeidet intensivere Kontakte gegenüber der näheren Umwelt, was auch zu einer Verdich-tung der Beziehungen innerhalb der Familie führen dürfte. Gleichzeitig wird sich dieser häufi gere Wohnortswechsel negativ auf die Schulbildung beider Töchter niederschlagen. Den Eltern ist die Schulbildung ihrer Töchter off ensichtlich rela-tiv gleichgültig. Wäre sie das nicht, würden die Eltern nach Möglichkeit weniger häufi g einen Wohnsitzwechsel vornehmen, stattdessen die Abwesenheit des Va-ters während der Arbeitswoche in Kauf nehmen.

Aus dem häufi g stattfi ndenden Wohnortwechsel können wir schlussfolgern, dass zumindest der Status Frau Altdorfs in der Familie eher gering gewesen sein dürfte. Gerade in traditionellen Familien liegt die Absicherung des sozialen Sta-tus im Aufgabenbereich des Mannes bzw. Familienvaters, die Sorge um die Kinder, die Führung des Haushaltes aber gerade auch die Pfl ege der verwandtschaft lichen Beziehungen ist Angelegenheit der Frau. Off ensichtlich bestand Frau Althaus nicht auf einen festen Wohnort und mutete ihrem Mann während der Arbeits-woche nicht eine außerhäusliche Unterbringung zu.

Zum methodischen Vorgehen: Wir konstruieren jetzt Möglichkeiten, und damit sind wir beim zweiten Schritt der Auswertung der objektiven Daten, wie das Leben für Flu-rina weitergehen könnte. Es sollen Möglichkeiten angegeben werden, die typisch für An-gehörige dieses sozialen Milieus sind. Hier sollte also wieder auf spezifi sche Milieukennt-nisse zurückgegriff en werden.

Wenden wir uns jetzt dem Fall, also Flurina, zu. Zunächst formulieren wir, ge-wissermaßen gedankenexperimentell, einige Möglichkeiten, welche milieuspezi-fi schen Lebenswege sie einschlagen wird. Plausibel ist: (1) Flurina absolviert nach ihrem Schulabschluss (in der Schweiz wäre das der Sekundar- oder Realschul-abschluss) keine berufliche Ausbildung. Stattdessen beginnt sie, als Kellnerin in einer Gaststätte zu arbeiten oder geht wie ihre Mutter in eine Fabrik. Die Arbeit dient als Überbrückung bis zu einer Heirat. (2) Sie könnte auch einen Lehr beruf ergreifen. Typische Berufe wären die der Friseuse, der Verkäuferin oder der Arzt-helferin. Auch in diesem Falle gilt, dass mit einer nach dem Lehrabschluss er-folgenden Berufstätigkeit die Zeit bis zu einer Heirat überbrückt würde. Im Un-

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terschied zur ersten Möglichkeit hätte Flurina ein „berufliches Sicherheitsnetz“ erworben, falls sie doch später mehr als üblich zum Familieneinkommen beitra-gen müsste. (3) Flurina ergreift einen gehobenen Ausbildungsberuf. Hier käme in-frage eine Ausbildung als kaufmännische Verwalterin (KV): Anschließend stünde Flurina das Tätigkeitsspektrum von der einfachen Sachbearbeiterin bis zur Di-rektionssekretärin off en. In diesem Falle würde Flurina einen sozialen Aufstieg (einschließlich des Verlassens des Arbeitermilieus) anstreben, denn sie kommt in einem solchen Beruf mit Menschen aus anderen Milieus in Kontakt. – Man kann davon ausgehen, dass jede dieser drei Optionen mit Heirat und Familiengrün-dung für Flurina verbunden sein wird.

Der häufi ge Wohnortswechsel der Familie zeigt jedoch, dass die Eltern an einem sozialen Aufstieg ihrer Töchter, einer Statusverbesserung über das Bil-dungssystem nicht interessiert sind. Das schließt aber nicht aus, dass Flurina sich möglicherweise einen sozialen Aufstieg wünscht, sie würde dann aber nicht die Unterstützung ihrer Eltern erfahren.

1974 – 1980 Flurina ist Fabrikarbeiterin in drei verschiedenen Firmen. Die erste Firma produziert Messgeräte, die zweite Nahrungsmittel, die dritte Präzisionsinstrumente.

Flurina folgt dem Vorbild ihrer Mutter, sie geht als un- oder angelernte Arbeits-kraft in mehrere Fabriken. Die Unstetigkeit ihrer Eltern setzt sie fort, was an dem Arbeitsplatzwechsel zu sehen ist.

1980 – 1985Flurina arbeitet als Datatypistin in Bern im Bundesamt für Statistik, später Bundesamt für Informatik. Sie steigt zur stellvertretenden Gruppenleiterin auf.

Zum methodischen Vorgehen: Wir befi nden uns weiterhin in der zweiten Phase der Auswertung. Wir versuchen zunächst, die Falltypik zu erfassen. In diesem Fall ist es auf-schlussreich, sich die Anforderungen an eine Datatypistin zu vergegenwärtigen und nach der Bedeutung eines Aufstiegs zur stellvertretenden Gruppenleiterin zu fragen.

Die Tätigkeit einer Datatypistin ähnelt der ungelernten Fabrikarbeit. Flurina überträgt Daten in einen Computer. Spezialkenntnisse sind nicht erforderlich, je-doch hohe Konzentration. Flurina arbeitet bei einem renommierten Arbeitgeber und dürfte über einen sicheren Arbeitsplatz mit den entsprechenden Sozialleis-tungen im öff entlichen Dienst verfügen. Flurina führt Arbeiten aus, in denen es

218 Stefan Kutzner

auf Finger fertigkeit und Konzentrationsvermögen ankommt. Ihr bisheriges Be-rufsleben verdeutlicht, dass Flurina durchaus erfolgsorientiert ist. Zwar nicht über erworbene berufliche Kompetenzen, sondern über ihre Flexibilität und ihre Ge-schicklichkeit nutzt sie erfolgreich die Aufstiegswege, die einer ungelernten Ar-beitskraft off enstehen. – Ihre Beförderung zur stellvertretenden Gruppenleiterin bedeutet, dass man ihr durchaus irgendwann eine Leitungsposition zutraut. Als stellvertretende Gruppenleiterin ist sie zunächst erstmal die rechte Hand ihres Vorgesetzten (oder ihrer Vorgesetzten). Man attestiert ihr Loyalität, Organisa-tions geschick und auch Durchsetzungskraft .

1985 Heirat mit Herbert Messerli (*1959). Herbert arbeitet als Metzger auf dem Schlachthof eines Großverteilers.

Zum methodischen Vorgehen: Wir ziehen anhand dieser Daten Rückschlüsse über die soziale Verortung des Paares. Anhand des Alters und der Berufe der beiden überlegen wir, wie das Beziehungsgefüge des Paares strukturiert sein könnte.

Mit der Heirat ist die soziale Etablierung Flurinas abgeschlossen. Für eine Frau, die aus dem Arbeiter- bzw. Handwerkermilieu kommt, heiratet sie relativ spät, sie ist zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 27 Jahre alt. Die Gattenwahl, die Hei-rat mit einem Metzgergesellen dokumentiert, dass Flurina in ihrem Herkunft s-milieu (Arbeitermilieu) verbleibt. Den Sprung in die Informatikbranche nutzt sie nicht für einen sozialen Aufstieg.

Die Tätigkeit eines Metzgergesellen im Schlachthof eines großen Lebensmittel-verteilers ist im Prinzip monotone Fließbandarbeit: Zerlegen von Schlachtvieh. Herbert Messerli verfügt zwar über einen sicheren Arbeitsplatz, die Einkom-mensmöglichkeiten dürften jedoch eher bescheiden sein. Gegenüber ihrem Mann dürfte Flurina in beruflicher Hinsicht die fl exiblere von beiden sein. Es ist un-wahrscheinlich, dass sich Flurina ihrem Mann unterordnen wird.

1985 Geburt des Sohnes Peter

1987Geburt der Tochter Susanne

Arbeit, Beruf und Habitus 219

Sehr schnell erfolgt die Familiengründung, unmittelbar nach der Heirat. Mögli-cherweise war Flurina schon bei der Hochzeit schwanger. Für eine Frau aus dem Arbeiter- bzw. Handwerkermilieu ist sie nicht mehr ganz jung, als sie heiratet und Mutter wird. Das erste Mal mit 27, das zweite Mal mit 29 Jahren. Das lässt sich als innerer Vorbehalt gegen Heirat und Familiengründung deuten.

1993Trennung des Paares; Flurina arbeitet bereits vor der Trennung bei der Post, zunächst als Datatypistin, später als Sachbearbeiterin.

1994Scheidung des Paares; Flurina arbeitet weiterhin bei der Post, bezieht jedoch ergän-zend Sozialhilfe.

Zum methodischen Vorgehen: Wir mutmaßen, warum die Trennung gerade zu diesem Zeitpunkt erfolgte.

Der Zeitpunkt der Trennung fällt auf. Möglicherweise geht Susanne in den Kin-dergarten, ein Jahr später wird sie eingeschult. Flurina sieht vielleicht wieder Möglichkeiten zu arbeiten. Vieles spricht dafür, dass es schon lange schwelte, dass die Trennung nur der Vollzug einer bereits erfolgten „inneren Kündigung“ war. Da Flurina sich in der Arbeitswelt auch ohne Berufsausbildung bisher gut zu-rechtfand, wird sie die Folgen der Trennung weniger fürchten.

Zum methodischen Vorgehen: An dieser Stelle ist es sinnvoll, wieder typische Möglich-keiten, wie Flurinas Leben weitergehen könnte, zu konstruieren.

Wie könnte es weitergehen ? Vieles spricht dafür, das wäre die erste Möglichkeit, dass Flurina ihre nächsten Jahre als Alleinerziehende verbringt. Aufgrund ihres bisherigen Werdeganges könnte Flurina sich in der Erwerbswelt durchaus gut eta-blieren. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass Flurina die Liebe ihres Lebens kennenlernt. In diesem Fall würde sie sich wieder an dem traditionellen Lebens-modell orientieren, ihre Arbeit entweder ganz aufgeben oder sich auf die Rolle als Dazuverdienerin beschränken.

220 Stefan Kutzner

2000Flurina zieht mit ihrem Freund, Th omas Reag, zusammen. Th omas arbeitet vollzeit-lich als Laborant, Flurina halbtags als Sachbearbeiterin bei der Post. Die Sozialhilfe wird eingestellt.

Zum methodischen Vorgehen: Es zeigt sich, dass Flurina die zweite Möglichkeit ein-schlägt, sie verbleibt in dem traditionellen Lebensmodell. Wir können jetzt zum dritten Schritt übergehen und ein Muster bezüglich ihres Erwerbsverlaufes formulieren.

Flurina sieht als ihr Hauptbetätigungsfeld ihre Familie an. Für sie ist die Arbeit der Familie nachgeordnet. Arbeit ist für sie materielle Existenzsicherung, kein Selbstzweck. Insofern wird sie auch keine berufliche Identität ausgebildet haben. Sie folgt damit dem Lebensmodell ihrer Mutter. Deutlich sichtbar ist, dass sich der traditionelle Habitus erhalten hat, obwohl sich Flurinas Lebensverhältnisse, ver-glichen mit denen ihrer Eltern, bereits erheblich verändert haben. So arbeitet Flu-rina nicht mehr wie ihre Mutter in der Fabrik, sondern im Informatiksektor bzw. im öff entlichen Dienst (Post). Und im Gegensatz zu ihren Eltern ist die Eheschei-dung und anschließende Wiederverheiratung eine Option. Eigentlich müsste Flu-rina aufgrund dieses stattgefundenen sozialen Wandels, den aufgrund des tech-nologischen Fortschritts stattfi ndenden Strukturwandel in der Wirtschaft , des Wertewandels gegenüber Ehe und Familie als Institutionen eine diesen moder-neren Lebensverhältnissen entsprechende Werthaltung ausgebildet haben. Eine Fokussierung auf einen Beruf ist nicht feststellbar.

Zum methodischen Vorgehen: Die Fallstrukturhypothese, das wäre jetzt der vierte Schritt der Auswertung der objektiven Daten, soll das Falltypische formulieren.

Es lässt sich hier eine Fallstrukturhypothese bezüglich der sozialen Etablierung und des Erwerbshabitus Flurinas formulieren: Flurina bewegt sich in ihrer so-zialen Etablierung gemäß den Normen traditioneller Milieus. Arbeit hat für sie in stru mentellen Charakter, sie ist Mittel zum Zweck, sie sichert den Lebensunter-halt (oder trägt zum gemeinsamen Haushaltseinkommen bei). Trotz Wechsels des Tätigkeitsbereiches, von der Fabrikarbeit zur Informatikbranche, trotz beruflicher Aufstiegschancen reproduzierte sich ein traditioneller Habitus.

Zum methodischen Vorgehen: Diese Fallstrukturhypothese soll anhand von Interview-sequenzen überprüft werden. Hierzu werden aus dem Interview die Stellen ausgewählt,

Arbeit, Beruf und Habitus 221

in denen Flurina von ihrer Arbeit, ihrer Scheidung und ihren anschließenden Familien-verhältnissen erzählt.

Aus Raumgründen kann hier nicht dargestellt werden, wie eine vollständige se-quenzielle Deutung einer Interviewpassage erfolgt. So werden im Folgenden die Ergebnisse der Interpretation dargestellt. Wie eine vollständige Sequenzanalyse aussieht, wird jedoch anhand der Ausdeutung der ersten ausgewählten Interview-sequenz verdeutlicht. (Zur Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik siehe Wernet 2006.)

Interviewer: Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten. Sie können mir vielleicht mal erzählen, wo Sie arbeiten und …

Zum methodischen Vorgehen: Das Prinzip der Kontextfreiheit besagt, dass die vorlie-gende Frage des Interviewers ohne Berücksichtigung des Kontextes, dass es sich um eine Interview-Situation handelt, ausgedeutet wird. So werden im ersten Schritt gedanken-experimentell Kontexte formuliert, in denen sich die erste Sequenz (und auch nur der erste Satz („Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten“) sinnvoll einfügen lässt. Nach dem Extensivitätsprinzip sollen möglichst unterschiedliche Kontexte, die sich kontrastiv zueinander verhalten, formuliert werden. Nach dem Prinzip der Wörtlichkeit sollen alle Textsequenzen strikt wortgetreu aufgefasst werden. Deshalb ist eine wortgetreue Tran-skription notwendig. Nach dem Sparsamkeitsprinzip sollen alle Lesarten ausgeschlossen werden, die nur durch den Einbezug zusätzlicher Kontextinformationen formuliert wer-den können. Das wäre in diesem Beispiel die Lesart, dass es sich um die Frage in einem Th eaterstück handeln würde. In diesem Fall wäre die von einem Schauspieler vorgetra-gene Äußerung nicht authentisch, sondern gespielt.

Der erste Schritt ist die Konstruktion möglicher Kontexte, in denen der erste Satz „Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten“ sinnlogisch passend eingefügt sein kann. Der Sprecher stellt fest, dass die angesprochene Person soeben erwähnte, dass sie arbeitet. Passend wäre eine Th erapiesituation, in der der Sprecher die Patientin auffordern will, mehr zu ihrer Arbeit zu erzählen. Es könnte sich auch um einen Sachbearbeiter handeln, der im Rahmen der Sozialhilfe die Daten eines Klien ten aufnimmt und ihn seine Situation erzählen lässt. In diesem Fall würde dieser Sachbearbeiter sich für den Erwerbslohn des möglichen Klienten inter-essieren, weil davon die Höhe der möglichen Sozialhilfe abhängt. Weitere Kon-texte können hier nicht mehr angegeben werden. Beiden Situationen ist gemein-

222 Stefan Kutzner

sam, dass die jeweils angesprochene Person zuvor in einer ausführlichen Sequenz etwas von ihrer Lebenssituation erzählte. Der Sprecher interessiert sich für einen der bereits vorher genannten Aspekte, für die Arbeit. Dieser Aspekt soll im Fol-genden, so der Wunsch des Sprechers, vertieft werden.

Der zweite Satz, „Sie können mir vielleicht mal erzählen, wo Sie arbeiten und …“, verdeutlicht, dass der Sprecher die angesprochene Person nicht auffor-dert, sondern ihr nur vorschlägt, von ihrer Arbeit zu erzählen. Die Lesart, dass es sich um ein Aufnahmegespräch in der Sozialhilfe handelt, scheidet damit schon aus. Ein Sachbearbeiter in der Sozialhilfe kann die Entscheidung, weitere Infor-mationen über ein Arbeitsverhältnis zu geben, nicht der angesprochenen Person überlassen. So bleibt hier nur das therapeutische Setting übrig. Die angespro-chene Person kann über ihre Arbeit berichten oder auch nicht, ganz wie sie will. Bedeutsam ist, dass nach dem Arbeitsort gefragt wird. So könnte die befragte Per-son antworten: „Ich arbeite bei Opel“, „ich arbeite im Wald“ oder „ich arbeite überwiegend zu Hause“. Damit hat der Sprecher die Arbeitsbedingungen in den Fokus genommen.

Wir fügen jetzt den tatsächlichen Kontext ein. Es handelt sich um eine In-terviewsituation. Die befragte Person soll für ein wissenschaft liches Forschungs-projekt Auskunft über ihren Arbeitsort geben. Das „vielleicht“ des Interviewers markiert, dass er die Entscheidung, die gestellt Frage zu beantworten, der inter-viewten Person überlässt. Obwohl der Interviewer ein explizites Forschungsinter-esse verfolgt – man kann durchaus berechtigt unterstellen, dass ihn der Arbeitsort der Interviewten interessiert –, gibt er vor, dass für ihn ausschließlich das Inter-esse der Interviewten relevant ist. So könnte die interviewte Person zurückfragen:

„Interessiert Sie mein Arbeitsort ?“

Zum methodischen Vorgehen: Das Sequenzialitätsprinzip besag t, dass alle nachfolgen-den Textsequenzen im Lichte der bisher ausgedeuteten interpretiert werden. Umgekehrt heißt das aber auch, dass für die Ausdeutung von Textsequenzen die nachfolgenden Text-stellen bewusst ausgeklammert werden. Wir haben die Frage des Interviewers in vollstän-diger Unkenntnis der nun folgenden Antwort ausgedeutet.

Flurina Messerli: Ich bin bei der Post in B. bei der Daten… also angefangen habe ich bei der Datenerfassung als Datatypistin und jetzt bin ich Sachbearbeiterin bei den Nachforschungen National. Ich tu eigentlich mit denjenigen, die mit Yellownet ein-zahlen, dort kann es manchmal passieren, dass Geld am falschen Ort eingeht, wenn sie sich vertippen und so und das müssen wir eben dann suchen gehen und den Kunden nachher schreiben, Euer Geld ist dort und dort auf dem Konto so und so.

Arbeit, Beruf und Habitus 223

Anhand der Antwort lässt sich verdeutlichen, wie wichtig das Wörtlichkeitsprin-zip ist. Eigentlich müsste Flurina Messerli auf die Frage nach ihrem Arbeitsort antworten: „ich arbeite bei der Post in B.“ Stattdessen sagt sie „Ich bin bei der Post in B.“ Daraus lässt sich schlussfolgern, dass für Flurina Messerli die Post kein zufälliger Arbeitsort ist, der gegebenenfalls auch ausgetauscht werden kann, son-dern dass sie sich mit dem Betrieb und damit mit ihrem Arbeitgeber identifi ziert. Sie ist als Person Bestandteil des Betriebes Post. Flurina Messerli hat damit die vom Interviewer gestellte Frage nach dem Arbeitsort umgedeutet, und zwar in eine Frage nach einer Zugehörigkeit zu einem Betrieb.

Zum methodischen Vorgehen: Ab dieser Stelle werden nicht mehr alle möglichen Les-arten und ihre Begründungen, sondern lediglich die Ergebnisse der ausführlich erfolgten Interpretationsschritte dargestellt.

Weiterhin betont sie mit ihrer Antwort ihre Funktionen, die sie an ihrer Arbeits-stelle, der Post ausübt: Zuerst ist sie Datatypistin, anschließend Sachbearbeite-rin. Sie identifi ziert sich mit den ihr zugewiesenen Funktionen, so dass man hier durchaus von einer beruflichen Identität sprechen kann. Nur erwächst diese be-rufliche Identität nicht aus einem eigenen Werdegang über eine berufliche Aus-bildung, sondern wird von dem Arbeitgeber jeweils zugewiesen. Damit ist die berufliche Identität vom jeweiligen Arbeitgeber abhängig. So erläutert sie auch ungefragt ihre konkrete Tätigkeit als Sachbearbeiterin: Sie wirkt bei der Korrek-tur elektronisch erfolgter Geldbuchungen mit. Deutlich wird, dass sich Flurina Messerli mit dem Inhalt ihrer Arbeit identifi ziert. Indem sie ungefragt dem Inter-viewer ihren Arbeitsinhalt erläutert, stellt sie ihre Arbeit als allgemein anerken-nungswürdig dar. Mit anderen Worten: Sie sieht in ihrer Arbeit einen Gemein-wohlbezug. Loyal ist sie somit gegenüber der Post als ihrer Arbeitgeberin, loyal ist sie damit auch gegenüber dem Allgemeinwohl. Die Arbeit ist für Flurina Messerli nicht nur Mittel zum Geldverdienen, sondern sie hat auch den Zweck, dass sie dem Allgemeinwohl dient.

Flurina Messerli: Ein jedes hat seinen Dienst, wir tun dies immer aufteilen, es muss ein j edes alles können und nachher von Woche zu Woche pro Tag einfach muss diesen Dienst und diesen Dienst machen, es ist abwechslungsreich.

Das Team, dem Flurina Messerli angehört, besteht aus einander Gleichgestellten, weder fi ndet sich eine Hierarchie noch eine weitergehende Spezialisierung. Die

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Arbeit an sich ist zwar nicht gerade erfüllend, aber die dauernde Abwechslung untereinander sowie die Gleichheit im Team machen die Arbeit jedoch erträglich.

Zum methodischen Vorgehen: Wir können hier auf die bereits formulierte Fallstruktur-hypothese bezüglich des Erwerbshabitus von Flurina Messerli zurückkommen. Die aus-gedeuteten Interviewsequenzen verdeutlichen, dass die Schlussfolgerung, dass Arbeit für Flurina Messerli einen instrumentellen Charakter hat, nur Mittel zur Existenzsicherung ist, in einer Hinsicht modifi ziert werden muss.

Im Interview verdeutlichte Flurina Messerli, dass ihr der Allgemeinwohlbezug ihrer Arbeit wichtig ist. Arbeit hat für sie nicht nur einen instrumentellen Stellen-wert. Jedoch agiert sie weitgehend immer noch im Rahmen eines traditionalis-tischen Erwerbshabitus. So ist die Loyalität zum Arbeitgeber bedeutsam und sie fügt sich in vorgegebene Hierarchien wie auch Arbeitsabläufe ein.

Flurina Messerli: Ja und ich bin schon vorher einmal ein halbes Jahr dort gewesen bei der Datenerfassung als Datatypistin und dann haben wir Horrorarbeitszeiten gehabt, und dann habe ich dann sagen müssen, nein, das mache ich nicht mehr mit, ich habe meine Kinder nur noch schlafend gesehen oder auf den Fotos. Da haben wir am Mor-gen um 6 Uhr 30 angefangen bis am anderen Morgen um 1 Uhr 30, dann hatten wir das Recht gehabt, acht Stunden heimzugehen und dann ist es wieder weitergegangen.

Hier schildert Flurina Messerli einen Konfl ikt, der sich zu der Zeit abspielte, als sie als Datatypistin bei der Post arbeitete (1993): der Konfl ikt zwischen Arbeit und Familie. Die überlangen Arbeitszeiten, die zu Stoßzeiten stattfanden, belasten sie deswegen, weil sie ihre Kinder dann nicht mehr sieht. Nicht um ihretwegen, son-dern um der Kinder willen, nimmt sie diese temporär immer wiederkehrenden Arbeitszeiten nicht mehr hin.

Im Folgenden wenden wir uns nun Interviewsequenzen zu, in denen Flurina Messerli ihr familiäres Leben schildert. So erzählt sie die Geschichte mit der Ehe des Vaters ihrer Kinder.

Flurina Messerli: Also ich bin mit meinem Mann schon in die Schule. Wir haben uns miteinander schon lange gekannt und … eigentlich während der Schulzeit haben wir uns gar nicht mögen ausstehen. Und wie es sich so ergeben hat, doch, sind wir wieder zusammengekommen und haben eigentlich kurze Zeit später geheiratet und Kinder gehabt. Ich habe eigentlich danach so nach dem ersten Kind gemerkt, ehm…es geht nicht. Ich hätte eigentlich das Zweite gar nicht mehr haben sollen, aber das ist dann

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halt passiert und … ich bin es mir nicht reuig, ich habe zwei fl otte Kinder. (…) Wir haben uns eigentlich auseinandergelebt, er ist Eigenbrötler gewesen. Er hat einfach … immer so ein Einzelgänger gewesen. Er ist auch nie in die Beiz und es hätte einfach al-les nichts kosten dürfen. Und ich habe immer gearbeitet und dann habe ich einfach mal mit ihm geredet, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen, wenn die Kinder hät-ten Aufgaben machen müssen, wenn ich Schule…wenn ich gearbeitet habe, habe ich ihm gesagt, ‚schau, dass etwas gemacht wird und so‘, der hat dies nie gemacht, die Kin-der haben einfach…sie sind in die Schule, die haben Hausaufgaben nicht gemacht, er hat mir da nichts geholfen oder unterstützt, was die Kinder anbelangt. Er hat einfach seine Viecher gehabt, er hatte Vögel gehabt, er hat alles Mögliche gehabt, Schaf, Pony, er ist immer draußen gewesen, was er hätte sollen mithelfen, in Sachen Erziehung hat er sich einfach drausgehalten und … einmal hatte ich die Nase gestrichen voll gehabt.

Von einer großen Liebe zwischen Herbert und Flurina kann keine Rede sein. Viel-mehr haben beide lediglich festgestellt, dass sie sich mögen, dass für sie zusam-men eine Familiengründung off ensichtlich infrage kommt. Sie folgen damit allge-meinen Konventionen, dass man eben heiratet und Kinder bekommt. Dann aber stellt Flurina schnell fest, und zwar nach der Geburt des ersten Kindes, dass ihr Mann und sie doch nicht recht zusammenpassen. Sie liefert auch gleich die Be-gründung: Er hat sie bei der Ausübung der elterlichen Verpfl ichtungen gar nicht unterstützt, sondern ist ausschließlich seinen eigenen Interessen nachgegangen, widmete sich seinen Haustieren. Nicht als Mann, sondern als Vater versagte Her-bert in den Augen Flurinas. Sie erwartete aber nicht von ihm, dass sie beide glei-chermaßen Eltern für die gemeinsamen Kinder sind, sondern wies ihm eine mehr assistierende Funktion zu: Er sollte einspringen, wenn sie arbeiten ging.

Aufschlussreich ist, wenn man den Zeitpunkt berücksichtigt, an dem Flu-rina Messerli bemerkte, dass es für sie und ihren Mann als Paar keine Zukunft gibt, nach der schon erwähnten Geburt des ersten Kindes. Die mit der Familien-gründung angelegte Krise, die Erweiterung der Paardyade zur ödipalen Triade (Oevermann 2004: 172 – 175; Willi 1993: 85 – 99), wurde nicht erfolgreich bewältigt. Aus der Darstellung Flurina Messerlis wird deutlich, dass ab diesem Zeitpunkt ihr Mann in der familiären Gemeinschaft isoliert war: Weder agierte er als Vater für die Kinder, noch war er als Mann für seine Frau präsent. Er zog sich vielmehr zurück, indem er sein Hobby pfl egte. Strukturlogisch wurde die enge Beziehung zwischen der Mutter und ihren Kindern gefestigt.

Flurina Messerli: Aber eh, manchmal am Sonntag mal ein wenig mit den Kindern et-was unternehmen, ein wenig ausfahren, ‚nein, ja nicht‘, das hätte ja etwas kosten kön-

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nen oder ein bisschen Benzin brauchen und … und da habe ich manchmal gesagt, also das ist mir gleich, weil ich habe auch immer gearbeitet und habe auch Geld ver-dient, also ich will meinen Kindern ein wenig etwas bieten können. Für ihn war das ein Dorn im Auge, das ist einfach … es sollte einfach nichts kosten. Wenn ich ihnen manchmal am Sonntag eine Wundertüte kaufte, ist das dann losgegangen, oder. Wo-bei dann, in der Zeit, wo wir verheiratet gewesen waren, haben wir überhaupt nie fi -nanzielle Probleme gehabt.

In dieser Interviewsequenz sieht man auch, wie sehr Flurina ihre Kinder in den Mittelpunkt stellt. Sie kritisiert den Geiz ihres Mannes deswegen, weil den Kin-dern zu wenig geboten wird. Sie könnte an dem Geiz ihres Ex-Mannes ja auch kri-tisieren, dass sie sich beide als Paar zuwenig leisten würden. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang noch, dass sie von „meinen Kindern“ spricht, als seien sie nicht auch die Kinder ihres Mannes. Hier zeigt sich wieder die marginale Position Herberts in der Familie: Als Mann spielt er keine Rolle, als Vater ist er lediglich der Assistent der Mutter.

Flurina Messerli: Und nachher, wo ich meinen Partner kennengelernt habe, also das ist ein Goldschatz. Der macht jetzt für die Kinder alles. Und für sie ist eigentlich er der Papi, ja. (…) Wir haben im Sinn dann doch nochmals trotzdem zu heiraten und doch

… ich sehe es eigentlich, ich sehe eigentlich gut in die Zukunft , doch ich sehe es eigent-lich positiv in die Zukunft . Wir sind wohl, wir fühlen uns alle wohl, es geht uns eigent-lich nicht schlecht.

Diese Struktur wird auch in der zweiten Beziehung fortgesetzt. „Ein Goldschatz“ ist Th omas Reag für Flurina deswegen, weil er sich voll und ganz ihren Kindern widmet. Die Qualitäten als Vater (bzw. als Stiefvater) sind für Flurina von Bedeu-tung, weswegen sie sich für Th omas Reag entscheidet, als Mann hingegen wird er nicht erwähnt.

Interviewer: Ihre Wünsche ?Flurina Messerli: Dass ich gesund bleibe vor allem, und dass es einfach meinen Kin-dern gut geht, das ist das Wichtigste. Doch … da habe ich eigentlich nicht große Wün-sche und dass ich etwa meine Arbeitsstelle … dass ich nicht etwa sie verlieren würde, man weiß ja nie. Dass ich immer etwas arbeiten kann und vor allem gesund bin.

Interessant sind hier ihre Wünsche. Der erste ist der, dass sie ihre gute Gesundheit behält. Nicht ein langes und möglichst gesundes, damit auch beschwerdefreies

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Leben wünscht sie sich, sondern die Fortdauer der Gegenwart. So fürchtet sie sich vor Krankheiten, weil man sich dann mehr sich selbst zuwenden muss: Man muss sich selbst pfl egen, aber auch die Fragen bezüglich des eigenen Lebens und Le-benssinnes werden drängender. Flurina hofft aber, wie bisher, und also möglichst gesund, weiterhin für andere, vor allem für ihre Kinder da zu sein. Hier verdeut-licht sich wieder die Fixierung auf ihre Kinder. Schließlich erwähnt sie noch ihre Arbeitsstelle, die sie nicht verlieren will. Also auch hier geht es um eine Vermei-dung, konkret um die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Nicht weiterhin will sie eine mehr oder weniger interessante Arbeit ausführen, oder bei einem Arbeit-geber beschäft igt sein, der ein angenehmes Arbeitsklima garantiert, sondern der Arbeitsplatz ist für sie auch Existenzgrundlage, auf die sie ja auch angewiesen ist.

Die Fallstrukturhypothese, die auf der Grundlage der objektiven Daten for-muliert wurde, wurde durch die interpretierten Interviewsequenzen weitgehend bestätigt. Erwerbsarbeit hat für Flurina überwiegend einen instrumentellen Cha-rakter, ist vor allem Mittel zum Zweck der materiellen Existenzsicherung. Ihr geht es nicht darum, ihre Talente und Begabungen in der Erwerbswelt auszuleben, was aber nicht ausschließt, dass der Nutzen ihrer Tätigkeit für die Allgemeinheit für sie keine Bedeutung hat. Das Interviewmaterial verdeutlicht, dass Flurina den Zweck ihres Daseins hauptsächlich in der Fürsorge ihren Kindern gegenüber sieht. Ihnen möchte sie als Mutter eine schöne und angenehme Kindheit bieten. Die Beziehung zu einem Mann, erst zum Vater (Herbert Messerli), dann zu ihrem Le-bensgefährten (Th omas Reag) ist der Beziehung ihren Kindern gegenüber nach-geordnet. Die Ehe- oder Liebesbeziehung besteht für sie vor allem in der gemein-sam ausgeübten Elternschaft .

Nun fragt man sich an dieser Stelle, warum Flurina gerade durch einen sol-chen traditionellen Habitus geprägt ist, warum sie, trotz gegebener Aufstiegsmög-lichkeiten, habituell in ihrem Herkunft smilieu verbleibt. Bezüglich des äußeren Rahmens sieht man, dass Flurina erhebliche Anpassungsleistungen vollzog: Aus der ursprünglichen Fabrikarbeiterin wurde eine Datatypistin, schließlich eine Sachbearbeiterin. Flurina wechselte erfolgreich das Erwerbsmilieu. Und auch die familiäre Geschichte dokumentiert eine Entwicklung: War Flurinas erster Mann trotz seiner Ausbildung als Metzgergeselle letzten Endes Fabrikarbeiter, so übt ihr zweiter Mann als Laborant einen qualifi zierten manuellen Beruf aus. Flurinas Bio-grafi e verdeutlicht die erfolgreiche Anpassung an veränderte sozio-ökonomische Rahmenbedingungen, die durch den wirtschaft lichen Strukturwandel bedingt sind. Erfolgreich ist die Anpassung deswegen, weil der traditionelle Habitus des Herkunft smilieus genügend Potenzial für diese Anpassung bereithält. Man kann hypothetisch fragen, wie sich ein sozialer Aufstieg für Flurinas alltägliches Leben

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auswirken würde. Wäre Flurina an einem sozialen Aufstieg interessiert gewesen, hätte sie mit Sicherheit einen Mann aus dem sozialen Milieu, in dem sie sich hätte etablieren wollen, geheiratet. Dann aber wäre sie als Milieufremde ihrem Mann gegenüber in einer unterlegenen Position gewesen. Das Machtgefälle innerhalb der Ehe wäre zu ihren Ungunsten ausgeprägt gewesen. Mit der Entscheidung, ihr Leben mit einem Mann aus dem gleichen Herkunft smilieu zu verbringen, sichert Flurina sich wahrscheinlich eine kontrollierende Position innerhalb des Paar- und auch des Familiengefüges.

4.2 Zweite Fallrekonstruktion (Herbert Anton)

1958Herbert Anton wird in Fribourg geboren und wächst in einem Dorf im Senseland auf. Der Vater, Jahrgang 1931, ist Sägereiarbeiter, die Mutter Hausfrau. Herbert hat fünf Ge-schwister.

Zum methodischen Vorgehen: Auch hier beginnen wir wieder mit den objektiven Daten zur familiären Herkunft , um daraus das soziale Herkunft smilieu zu erschließen.

Das für den Kanton Fribourg bereits im Kontext des vorherigen Falles Gesagte, zu seiner wirtschaft lichen Entwicklung sowie der Stellung der deutschsprachigen Minderheit (Senseland ist das ländliche Deutsch-Freiburg), können wir hier ge-rade übernehmen. Allerdings entstammt Herbert Anton einem anderen sozialen Milieu als Flurina Messerli: Die Familie Anton ist situiert im einfachen ländlichen Arbeitermilieu. Das Einkommen eines Sägereiarbeiters dürfte kaum ausreichen, um die siebenköpfige Familie zu ernähren, vielleicht wird noch etwas Subsistenz-wirtschaft nebenbei betrieben, Gemüseanbau und Hühnerhaltung beispielsweise. Dass für Kinder Investitionen vorgenommen werden sollten, für die Söhne aus-bildungsbezogen, und sei es nur, um eine gewerbliche Lehre zu ermöglichen, für die Töchter eine wenn auch bescheidene Mitgift , entspricht in diesem Fall noch nicht der Vorstellungswelt, sonst hätten sich die Eltern Anton auf weniger Kin-der beschränkt. Traditionelle Schicksalsgläubigkeit oder auch die Orientierung an bäuerlichen Verhältnissen, in denen Kinder ja auch als Arbeitskräft e mitwirken, können den Hintergrund für den Kinderreichtum dieser Familie bilden. Herbert wächst jedenfalls in ärmlichen Verhältnissen auf.

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Zum methodischen Vorgehen: Im Folgenden konstruieren wir gedankenexperimentell Möglichkeiten, wie der weitere Werdegang Herberts aussehen könnte.

Nach Abschluss der Schulpfl icht, also mit 15 oder 16 Jahren, stellt sich für Herbert die Frage, wie es mit ihm weitergehen soll. Da in den 1970er Jahren die Wirtschaft eher boomt, der Kanton entwickelt sich, wie schon erwähnt wurde, besteht gar nicht die Notwendigkeit, woanders hinzugehen. Entweder ist die Fabrikarbeit als angelernte Arbeitskraft eine Möglichkeit oder eine Lehre im Handwerk, als Mau-rer, Bäcker, Dachdecker zum Beispiel.

1974 – 77Lehre als Bauschreiner bei H+G, einem kleinen Betrieb, der im Gebäudeneubau sowie in der Gebäuderenovierung tätig ist.

Herbert entscheidet sich für einen Lehrberuf. Immerhin müssen seine Eltern die drei Lehrjahre für ihn aufkommen. Als Bauschreiner profi tiert er einmal vom Bauboom im Kanton Freiburg in den 1970er Jahren, wählt also einen Beruf mit Zukunft saussichten, und verbleibt darüber hinaus beruflich im familiären Rah-men: Der Sohn eines Sägereiarbeiters wird Bauschreiner. Er ist im Gebäudebau damit zuständig für Fensterrahmen, Türen und Türrahmen sowie Holztreppen.

Wie geht es nach der Lehre weiter ? Die Frage ist, ob Herbert sich nicht für eine gewisse Mobilität entscheidet oder ob er sich von vornherein auf seinen Betrieb festlegt. Im ersten Fall würde er sich als Geselle einen anderen Arbeitgeber suchen, entweder in seiner Heimatregion, vielleicht auch einmal woanders, um Erfah-rungen zu sammeln, seien sie beruflicher, seien sie anderer Art. Das würde nicht ausschließen, dass er irgendwann auch einmal in seine Heimatregion zurückkom-men würde, um Familie zu gründen. Er könnte vielleicht aber auch woanders eine junge Frau fi nden, die ihn veranlasst, sich an einem anderen Ort niederzulassen.

1977Anschließend bis zur Gegenwart (2000) ist Herbert Anton bei H+G beschäft igt.

Lehr- und Wanderjahre fi nden gar nicht statt, Herbert bleibt seiner Region und seinem Arbeitgeber treu. Die Lehre war für ihn off ensichtlich das Eintrittsbillet in eine gesicherte Existenz in seinem Heimatkanton. So können wir auch vermuten, dass er sich familiär im deutschsprachigen Teil Fribourgs etablieren wird. Jeden-falls möchte er die ihm vertrauten Lebenswelten nicht verlassen. Wir können hier

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berechtigt vermuten, dass es sich bei Herbert Anton um einen Fall von Traditio-nalismus und Immobilismus handelt.

1981Heirat mit Elfriede Baumgartner (Jg. 1959). Elfriede übt seit 1977 angelernte Fabrik-tätigkeiten aus. Ihre Eltern betreiben ein Fuhrunternehmen in einem kleinen Ort des Kantons Bern (Ort ist nahe an Fribourg gelegen). Das Paar bekommt drei Kinder (1983, 1985 und 1988). Mit der Geburt des ersten Kindes hört Elfriede auf zu arbeiten.

Zum methodischen Vorgehen: Wir formulieren jetzt auf der Basis der bisher interpre-tierten Daten Lebensführungsmuster.

Auch hier zeigt sich wie im vorherigen Fall das Muster der Lebensführung bei Paaren in traditionellen Milieus: Die Frau ist allenfalls Dazuverdienerin, also in erster Linie auf Haushaltsführung und Kindererziehung konzentriert. Die Frage stellt sich, ob die fünfköpfige Familie von dem Einkommen, das Herbert als Bau-handwerker erzielt, leben kann. Bezüglich des Erwerbshabitus Herbert Antons lässt sich jetzt auf der Basis der objektiven Daten Folgendes formulieren: Her-bert Antons Erwerbshabitus ist als traditionalistisch zu bezeichnen. Erwerbsarbeit dient für ihn in erster Linie der Existenzsicherung. Bei seiner Berufswahl ging es ihm in erster Linie darum, sich einen in ökonomischer Hinsicht möglichst profi -tablen Arbeitsplatz zu sichern. Zum Zeitpunkt der Berufswahl (1974) schien das Baugewerbe eine krisensichere Branche zu sein. Falls das erzielte Gehalt für die Lebensführung nicht ausreichen sollte, wird die Erwerbstätigkeit ausgedehnt, sei es durch Nebenjobs als Bauschreiner, sei es durch Dazuverdienerinnentätigkeiten seiner Frau.

1998Beginn der Einkommensverwaltung durch das Sozialamt aufgrund von Schulden, die wegen nicht gezahlter Steuerrechnungen entstanden. Herbert erledigt zusätzlich als Nachbarschaft shilfe Arbeiten im Gebäudeneubau. Elfriede übernimmt in ihrem Miets-haus den Hausmeisterposten, zusätzlich arbeitet sie auf Teilzeitbasis als Raumpfl egerin.

Es zeigt sich, dass das von Herbert erzielte Einkommen als Bauhandwerker nicht ausreicht, sonst hätten die Antons ihre Steuerrechnungen bezahlt. Anders als in Deutschland muss in der Schweiz auch ein unselbstständig Erwerbstätiger sein Einkommen selbst versteuern. Die Verschuldung muss erhebliche Ausmaße an-genommen haben, sonst wäre es nicht zu einer Intervention des Sozialdienstes

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gekommen. Beide, Herbert und Elfriede, dehnen ihre Erwerbstätigkeit aus, um der Schuldensituation zu begegnen. Herbert engagiert sich mit freiberuflichen Nebenjobs (die man durchaus als Schwarzarbeit bezeichnen kann), Elfriede über-nimmt einen Hausmeisterposten und arbeitet abends für eine Raumpfl egefi rma.

Als nächstliegender Grund für die Verschuldung der Familie Anton dürfte angenommen werden, dass fortwährend mehr konsumiert wurde als durch das Einkommen gedeckt war. Vielleicht ist ein zu teurer Wagen auf Kreditbasis ange-schafft worden, vielleicht hat sich das Paar bei der Wohnungseinrichtung fi nan-ziell übernommen.

Methodisches Vorgehen: Jetzt lässt sich, nachdem alle objektiven Daten interpretiert wurden, eine Fallstrukturhypothese formulieren. Dabei sollten mögliche Motive für die Verschuldung, also für ein nicht dem Einkommen angemessenes Konsumniveau in Be-tracht genommen werden.

Die Fallstrukturhypothese lautet: Herbert Anton wählt den Weg eines traditio-nellen Bauhandwerkers und versucht, sich in seiner Herkunft sregion sozial zu etablieren. Die Verschuldung erklärt sich daraus, dass Herbert Anton einen öko-nomischen Status vorzutäuschen versucht, den er mit seinem bzw. dem gesamten Haushaltseinkommen nicht bestreiten kann, dass er also innerhalb seines Milieus einen sozialen Aufstieg anstrebte. Gerade durch seine familiäre Herkunft , sein Vater war Sägereiarbeiter, ist das Aufstiegsmotiv plausibel.

Methodisches Vorgehen: Wir überprüfen jetzt die Fallstrukturhypothese anhand ausge-wählter Interviewsequenzen.

Wenden wir uns jetzt dem Interview wieder zu. In der folgenden Sequenz be-schreibt Herbert Anton die Firma, in der er arbeitet.

Interviewer: Geht es wieder aufwärts ?Herbert Anton: Bei uns, bei uns, ich bin jetzt 27 Jahre dort, bei uns hat noch niemand eine Minute gestempelt, das gab es noch nie. In der Zwischenzeit etwa fünf Rezessio-nen hindurch, wir arbeiten immer, Vollgas, da merkt man bei uns nichts. Gut, wir sind heute nicht abhängig von Neubauten, das ist eben unser Vorteil. Wir sind ziemlich be-kannt für Renovationen, also Sanierungen von Häusern.

Zunächst, er identifi ziert sich vollumfänglich mit der Firma als einem Arbeit-geber: durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“ und „uns“ rechnet er

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sich implizit zu den Miteigentümern von H+G, was er ja tatsächlich gar nicht ist, als würde die Firma vollständig den dort Arbeitenden gehören. Weiterhin betont er, dass für H+G Rezessionen keine Bedeutung haben, „wir arbeiten immer, Voll-gas“. Herbert Anton betont den Vorzug, einer Firma anzugehören, die wegen ihres Engagements für Renovationen nicht von sinkender Nachfrage nach Gebäude-neubauten betroff en ist: Entlassung und Arbeitslosigkeit sind in dieser Firma kein Th ema.

Allerdings ist die Gebäuderenovierung für die Firma H+G weniger profi tabel als der Gebäudeneubau, was Herbert Anton in der folgenden Interviewsequenz schildert:

Herbert Anton: Wenn ich denke, was sind das, zehn Jahre her, gut ich habe noch im Akkord gearbeitet, ich bin im Stundenlohn angestellt gewesen, habe zum Beispiel bei einem ganzen Block die Fenster montiert in einer Woche, habe ich Quadratmeterpreis gehabt. Dann bin ich zum Beispiel auch auf 2 000 Franken gekommen in der Woche. Das hat es gegeben. Aber diese Zeiten sind vorbei. Das gibt es nicht mehr, Blöcke nicht mehr, wann habe ich den letzten Block gemacht ? Zehn Jahre her bald, und heute ma-chen wir nur noch 20 % Neubauten und der Rest ist Renovationen und so sind un-sere Löhne im Verhältnis immer mehr in den Keller. Also unser Geld hat immer we-niger Wert.

Bei der Montage von Fensterrahmen hat sich Herbert Anton im Akkordlohn zah-len lassen und ist damit auf einen recht ansehnlichen Lohn gekommen. Da aber H+G kaum noch im Gebäudeneubau beschäft igt ist und die Gebäuderenovierung weniger lukrativ ist, sind die Löhne gesunken.

Seit 1990 (also zehn Jahre vor dem Interview) spielt der Gebäudeneubau kei-ne nennenswerte Rolle mehr für H+G. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich Herbert Anton, der damals 32 Jahre alt war, eine andere Firma als Arbeitgeberin suchen können. Möglich wäre eine Firma in einem Kanton mit mehr Gebäudeneubau, eine Firma, die im Messeaufbau engagiert wäre oder eine Firma, die in der gesam-ten Schweiz tätig ist und ihre Mitarbeiter während der Arbeitswoche auf Montage schickt. Herbert Anton bleibt aber seiner Firma treu, die Familie Anton kürzt zwangsweise ihre Ausgaben für die Lebenshaltung und sowohl er als auch seine Frau nehmen Nebenjobs an.

Arbeit, Beruf und Habitus 233

Interviewer: Haben Sie eine billigere Wohnung ?Elfriede Anton: Jawohl. Aber vorher, als wir eine Miete gehabt haben von fast 1 700 Franken, da war es schon fast chaotisch. Da musste man alles zurückstellen und schauen, wie man diese Rechnung oder das zahlen konnte. Interviewer: Wieviel zahlen Sie hier ?Elfriede Anton: Hier zahlen wir, wir sind noch Hauswart, wir zahlen jetzt 970, aber sonst wäre sie 500 Franken mehr.

Beide, Herbert und Elfriede Anton übernehmen in dem Mietshaus mit der neuen und für sie billigeren Wohnung den Hausmeisterposten. An anderer Stelle des In-terviews sagt Elfriede Anton, dass sie neun Stunden in der Woche für eine Reini-gungsfi rma als Raumpfl egerin tätig ist.

Herbert Anton: Wenn mein Karren verreckt, irgendetwas Außergewöhnliches kommt, eine Reparatur von 400 Fr., dann bin ich schon am Arsch, dann muss ich die Ober-hosen selbst anziehen und darunterliegen. Das Material vielleicht selber kaufen, mög-lichst billig und es selber schrauben. Ich kann es nicht einer Garage geben und sagen „Du repariere mein Auto“. Von dem her ist es einfach.

Immerhin kommt die handwerkliche Begabung Herbert Anton insofern entgegen, als er Reparaturarbeiten am Auto (und wohl auch in der Wohnung) selbst ausfüh-ren kann und nicht einen Handwerker beauftragen und bezahlen muss. Dennoch erledigt er Reparaturen an seinem Auto mit Widerwillen, denn dass er seinen Wagen nicht „in eine Garage geben“ kann, ist für ihn ein Status-Verlust.

Herbert Anton: Das andere ist dann, der Büezer, der einzelne Büezer hat viel Freizeit, was macht er mit dem ? Wenn der Lohn auch nicht mehr stimmt ? Schwarzarbeit ! Das ist das Einfachste von der Welt. Wenn jeder, ich sage zum Beispiel, auf der Baubranche arbeitet, da kann jeder Schwarzarbeit machen. Am Samstag, am Abend schnell noch ein paar Stunden arbeiten, hat man einen guten Lohn, er verdient schwarz. Der, der sein Häuschen baut, baut es relativ günstig.

Nun lässt es Herbert Anton an dieser Stelle off en, ob er selbst Schwarzarbeit ver-richtet hat. Da er sich aber an keiner Stelle im Interview davon distanziert, kann man berechtigt davon ausgehen, dass er diese Möglichkeit, die sich ja jedem bietet, der „auf der Baubranche arbeitet“, ebenfalls genutzt hat.

Auf alle Fälle bestätigt sich das Muster, dass Einkommenseinbußen nicht dazu führen, sich um eine andere, besser bezahlte Position zu kümmern, sei es durch

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einen betrieblichen Aufstieg, sei es durch einen Wechsel des Arbeitgebers, son-dern dass Nebenjobs angenommen werden, also die Arbeitszeit insgesamt ausge-dehnt wird.

Herbert Anton: Der älteste Sohn, der ist in der Ausbildung, auswärts Essen jeden Tag, Zug und alles zusammen. Sein Lohn ist nicht unbedingt riesig hoch, also, ein bisschen Unterstützung von daheim hat er schon noch zugute.

Dass Herbert Anton seinem ältesten Sohn, der gerade eine Lehre absolviert, Un-terstützung in dem Sinne zuerkennt, dass er von seinem Lehrlingslohn nichts zu Hause abgeben muss, verdeutlicht, dass er sich in der Position des paternalisti-schen Ernährers sieht. Er hätte ja auch sagen können, dass der Lehrlingslohn zu gering ist, um von seinem Sohn noch einen Haushaltsbeitrag einzufordern, zumal sein Sohn sein Essen tagsüber sowie die Bahnkosten aus seinem Lehrlingslohn bestreiten muss. Eigentlich ist von dem Sohn fi nanziell nichts zu holen, aber Her-bert Anton stellt es dar, als sei es seine Entscheidung, seinen Sohn, wenn auch in geringem Maße, zu unterstützen.

Interviewer: Vielleicht können Sie mir noch ein bisschen schildern, wie dies so ist mit der Sozialhilfe. Wann Sie zu H.-U. [Sozialarbeiter, Anm. SK] gingen und aus welchen Gründen, wann dies ungefähr war, dass Sie hierzu noch etwas erzählen könnten. Elfriede Anton: Ja, der Ausschlag ist gewesen, wie waren damals in einem Einfamilien-haus, gemietet. Dann kamen einfach immer mehr Rechnungen, Heizöl, hier, da, dort, und sagte ich, weißt Du was, ich kann nicht mehr, ich weiß nicht mehr wie zahlen, weiß nicht mehr wie drehen. Wollen wir nicht zur Sozialhilfe und schauen, was man machen kann. Zuerst hat er sich ein wenig dagegen gesträubt der Mann. Dann habe ich gesagt, Du ich weiß wirklich nicht mehr, wie drehen, damit ich das zahlen, dass ich hier kann, und gehen wir doch. Und seither, ich habe dann gesagt, ich habe dann ei-nen Rückhalt, wenn etwas ist, weiß ich was machen.

Interessant ist, dass erst über die Sozialhilfe die Lebenshaltung der Familie Anton ihren tatsächlichen Einkünft en angepasst wird. Es ist Elfriede Anton, die diesen Schritt gegen den Willen ihres Mannes einleitet.

Methodisches Vorgehen: Wir vergleichen jetzt die Ergebnisse der Interpretationen der ausgewählten Interviewsequenzen mit der bereits formulierten Fallstrukturhypothese und ziehen ein Fazit.

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Wir können jetzt ein Fazit ziehen. Das Fallmaterial bringt sehr deutlich zum Aus-druck, wodurch ein traditioneller Erwerbshabitus gekennzeichnet ist, nämlich durch zwei Momente. Das erste Moment: Es besteht eine Loyalitätsverpfl ichtung dem Arbeitgeber gegenüber, denn dieser garantiert mit seinem Unternehmen die Existenz des Arbeiters. Der Erfolg, in Krisensituationen nicht arbeitslos zu wer-den, verdankt sich in erster Linie der Zugehörigkeit zu einem krisenresistenten Unternehmen, weniger dem eigenen Können. Das zweite Moment: In Krisensitua-tionen, wenn also das Einkommen nicht ausreicht, wird der Erwerbsgrad ausge-dehnt. In diesem Falle durch die Hausmeistertätigkeit des Paares, dem Raum-pfl egejob der Ehefrau und aller Wahrscheinlichkeit durch Schwarzarbeit. Letztere hängt davon ab, dass man in der Region in sozialer Hinsicht gut verankert ist und entsprechende Aufträge an Land ziehen kann. Diese Nebenjobs basieren dagegen auf dem eigenen Können und den selbst hergestellten sozialen Netzwerken. – Die Verschuldung der Familie Anton interpretieren wir durch das Interesse, einen so-zialen Status zu demonstrieren, der jedoch nicht durch das erzielte Einkommen gedeckt ist. Herbert Anton erlitt das Pech, dass sich ab den 1990er Jahren der Ge-bäudeneubau im Kanton Fribourg im Niedergang befi ndet. So muss er einerseits Lohneinbußen hinnehmen, gleichzeitig gelangt er an weniger Nebenaufträge.

Was bindet Herbert Anton derartig an seine Heimatregion und sein soziales Milieu ? Auch hier können wir nur abschließend mutmaßen, weil hier die ent-sprechenden Daten fehlen. Vieles spricht dafür, dass Herbert Anton von einem sozialen Etablierungswunsch seines Vaters getrieben wird. Sein Vater war Säge-reiarbeiter, in einem ländlichen Milieu eine sehr tief stehende soziale Position, wenn man sie mit der etablierter Handwerkern oder Bauern vergleicht. Als ge-lernter Bauhandwerker wäre für die nächstfolgende Generation, also für Herbert, die Etablierung möglich gewesen. Allerdings kam die Veränderung der Baubran-che dazwischen.

5 Resümee

Was zeigen diese beiden Fallrekonstruktionen ? Überraschend ist die Konstanz des jeweiligen Habitus, die Fortdauer traditioneller Strukturmuster, vor allem in den Aspekten, welche das Erwerbsleben betreff en. Flurina bleibt im Wesent-lichen dazu verdienende Mutter, Arbeit ist für sie überwiegend Mittel zur mate-riellen Existenzsicherung, keinesfalls sieht sie das Erwerbsleben als Möglichkeit einer Selbstverwirklichung, eines Auslebens ihrer Talente und Neigungen an. Den

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Sprung von der Fabrikarbeit in den Informatiksektor nutzt sie nicht für ein be-rufliches Fortkommen, sondern verbleibt in der Position derjenigen, die sich den gegebenen Arbeitsanforderungen geschickt anpasst. Der gleiche Sachverhalt zeigt sich in der zweiten Fallrekonstruktion: Aufgrund der sinkenden Nachfrage nach Gebäudeneubauten wird die Tätigkeit eines Bauschreiners immer weniger lukra-tiv. Herbert Anton ist jedoch so fest in seiner Heimatregion und damit in seinem Milieu verwurzelt, dass ein Stellenwechsel, der eventuell mit einem Umzug und der damit verbundenen Herauslösung aus seinen sozialen Netzwerken verbunden ist, als Möglichkeit gar nicht infrage kommt.

Der zweite Fall, Herbert Anton, ist ein Beleg für das, was Bourdieu als „hyste-resis“ bezeichnet: die Fortexistenz eines Habitus, der den gegebenen veränderten Umständen nicht mehr angemessen ist (Bourdieu 1982: 237 – 240). Zwar verdeut-lichen beide Fallrekonstruktionen, dass die jeweiligen Akteure ihr Erwerbsleben in einem Zeitraum des ökonomischen Strukturwandels verbringen: Traditionelle Branchen wie die angelernte Fabrikarbeit und das Baugewerbe befi nden sich im Niedergang und werden durch modernere Branchen allmählich ersetzt. Während Herbert Anton in dieser Zeit nichts anderes übrig bleibt, als die noch verbliebenen Nischen zu besetzen und hinzunehmende Einkommensverluste durch Ausdeh-nung der Arbeitszeit auszugleichen, indem er selbst oder seine Frau zusätzliche Jobs annehmen, gelingt Flurina Messerli erfolgreich die Anpassung an ein neues und auch zukunft strächtiges Erwerbsmilieu.

Die ausgesprochene Leistungsmotivation, die in beiden Interviews zum Aus-druck kommt, führt jedoch in diesem Strukturwandel, der allmählichen Erosion traditioneller Branchen und Erwerbsstrukturen, nur noch bedingt zum (ökono-mischen) Erfolg. Insofern repräsentieren beide Fälle einen Typus, dem der tradi-tio nelle Habitus inzwischen zum Verhängnis werden könnte. Flurina Messerli und Herbert Anton stehen für diejenigen Angehörigen traditioneller Arbeiter milieus, die langfristig ihren bisherigen gesellschaft lichen Status zu verlieren und in die soziale Prekarität abzugleiten drohen. Beide reagieren aber auf diesen Struktur-wandel unterschiedlich. Gleichwohl bleibt in beiden Fällen der traditionelle Habi-tus erhalten. Dennoch, und dafür steht der Fall Flurina Messerli, enthält er so viel Entwicklungsmöglichkeiten, dass es zu einer Neuanpassung an veränderte sozio-ökonomische Rahmenbedingungen kommen kann, ohne dass sich der Habitus in seiner Grundlage entscheidend verändert.

Auch für die Objektive Hermeneutik gilt, dass mit dem Abschluss einer Aus-wertung erstmal neue Forschungsfragen entstehen. Mit diesen beiden Fallrekon-struktionen konnte die Persistenz des traditionellen Habitus nachgewiesen wer-den. Nicht aber alle Angehörigen traditioneller Arbeitermilieus verbleiben in

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dieser habituellen Traditionalität, es gibt genügend Beispiele für gelungene soziale Aufstiege in andere, modernere Milieus. Durch Fallvergleiche die entsprechenden Gründe zu ermitteln, warum es in manchen Fällen zu umfassenden Habitustrans-formationen kommt, durch welche erst der Aufstieg in andere, modernere Er-werbsbranchen möglich wird, wäre eine interessante Fortsetzung der hier darge-stellten Fallrekonstruktionen.

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Biografi sche Ressourcen – ein zentrales Konzept in der biografi schen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung

Anne Juhasz Liebermann

1 Einleitung

Der Begriff der ‚biografi schen Ressource‘ fi ndet in den letzten Jahren insbesondere in Publikationen, die auf biografi schen Studien beruhen, vermehrt Verwendung, eine besondere Bedeutung kommt ihm in der Bildungs- und Arbeitsmarktfor-schung zu. Der Begriff taucht indes in unterschiedlichen thematischen Zusam-menhängen auf. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass die Beschäft i-gung mit biografi schen Ressourcen einem Paradigmenwechsel in verschiedenen Forschungsrichtungen entspricht, die auch als „Ressourcenorientierung“ bezeich-net wird (siehe dazu z. B. Bartmann 2006 und Griese / Griesehop 2007: 100). In-tendiert ist mit diesem Paradigmenwechsel, so etwa Griese und Griesehop (ebd.), der Wechsel von einer Problem- bzw. Defi zitorientierung hin zur Entdeckung von individuell zur Verfügung stehenden Potenzialen, zur Förderung und zum Ein-satz von Stärken des Einzelnen gerade in Problemsituationen. Bartmann zufolge (2007: 82 f.) hängt das seit den 1980er Jahren gewachsene Interesse am Begriff der Ressource damit zusammen, dass infolge der Annahme zunehmender Individua-lisierung und Fragmentierung von Erfahrungen die Frage des Umgangs mit der sich zügig verändernden Gesellschaft an Relevanz gewinne und infolgedessen die jeweiligen Potenziale des Einzelnen stärker in das Blickfeld des wissenschaft lichen Interesses geraten. Damit verknüpfe sich auch ein Subjektverständnis, in dem der Einzelne als Akteur seines Lebens Berücksichtigung fi nde. Außerdem, so Bart-mann (Bartmann 2005: 25 f.) gehe es auch um die Frage des Umgangs mit Be-lastungen, um die Frage nach Ursprüngen psychischer Stabilität bzw. Instabilität. „Welche Faktoren wirken sich fördernd oder hemmend auf die Ausbildung von Widerstandskraft und Belastungsfähigkeit aus, welche Rolle spielen dabei früh-kindliche Erfahrungen sowie lebensgeschichtliche Ereignisse ?“

242 Anne Juhasz Liebermann

Insbesondere in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, aber auch in der Migrationsforschung, wird der Begriff häufi g verwendet. Eine genauere Betrach-tung zeigt jedoch, dass der Begriff ‚biografi sche Ressourcen‘ in diesen Studien sehr unterschiedlich verstanden und eingesetzt wird. Im vorliegenden Beitrag werden daher relativ ausführlich Begriff sdefi nitionen und konzeptuelle Überlegungen zu ‚biografi schen Ressourcen‘ erörtert. Zunächst werden jedoch kurz die Inhalte und Ziele biografi scher Forschung skizziert und die Frage diskutiert, was biografi sche Forschung in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung leisten kann. Darauf folgt die erwähnte Auseinandersetzung mit dem Konzept der biografi schen Ressour-cen, bevor methodische Fragen diskutiert werden, die im Hinblick auf die Rekon-struktion biografi scher Ressourcen besonders relevant sind.

2 Inhalte und Ziele biografi scher Forschung

Als ‚Biografi e‘ wird gewöhnlich der Lebensablauf eines Menschen bezeichnet, im Alltag wird der Begriff oft auch synonym zu ‚Lebensverlauf ‘ verwendet. Anders verhält es sich jedoch mit dem Konzept der Biografi e, die den Gegenstand sozial-wissenschaft licher Biografi eforschung darstellt. Biografi e bezieht sich hier nicht einfach auf einen äußeren Verlauf, die Chronologie eines Lebens, die Abfolge ‚ob-jektiver‘ biografi scher Daten. Genausowenig bezieht sich Biografi e allerdings nur auf die ‚subjektive‘, gewissermaßen innere Wahrnehmung äußerer Daten. Es geht mit anderen Worten auch nicht nur um die Frage, wie Lebensereignisse erinnert, erfahren und erzählt werden. Vielmehr richtet sich das Interesse der Biografi e-forschung1 auf die Frage, wie – in der Terminologie von Gabriele Rosenthal – er-lebte und erzählte Lebensgeschichte miteinander verschränkt sind und welche Fallstruktur in dieser Verschränkung erkennbar wird (Rosenthal 1995; Rosenthal 2010).

Es geht darüber hinaus in der sozialwissenschaft lichen Biografi eforschung auch nicht bloß darum, einen besonderen Fall in seiner Einzigartigkeit möglichst genau zu beschreiben. Sozialwissenschaft liche Biografi eforschung zielt vielmehr darauf ab, im Fall etwas Allgemeines zu erkennen und aus der Analyse einer Bio-grafi e, eines Falls also, Schlussfolgerungen zu ziehen, die über diesen Fall hinaus

1 Von ‚der‘ Biografi eforschung zu sprechen, ist eigentlich irreführend, da ganz unterschiedliche theoretische und methodologische Standpunkte sowie damit korrespondierend unterschiedli-che methodische Vorgehensweisen nebeneinander bestehen. Siehe dazu z. B. Griese (2010), Jütte-mann / Th omae (1998), Völter et al. (2005) und von Felden (2007).

Biografi sche Ressourcen 243

von Bedeutung sind. Vereinfacht formuliert kann man sagen, dass eine Biogra-fi e als Spiegel historischer, gesellschaft licher und kultureller Rahmenbedingun-gen begriff en wird (Kirchhof 2008: 45). Allerdings sind diese Rahmenbedingun-gen nicht als den Menschen äußerliche zu begreifen, denn die Sozialisation ist kein einseitiger und mechanischer Prozess (Berger / Luckmann 1980 [1966]: 142), keiner, in dem Individuen durch „äußere“ gesellschaft liche Strukturen „geprägt“ oder „geformt“ werden. Vielmehr handelt es sich bei der Sozialisation um An-eignungen der sozialen Wirklichkeit in Auseinandersetzung mit ihr. Wie Marx es einst auf den Punkt gebracht hat: „Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, son-dern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx 1960 [1851 – 1852], zit. nach Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 115). Und hier liegt auch der Grund dafür, dass wir in jedem Besonderen, in jedem Fall also, All-gemeines auffi nden können. Jede Rekonstruktion eines Falles ist zugleich eine Rekonstruktion allgemeiner Strukturen, denn nur als Besonderes, das sich am Allgemeinen gebildet hat, ist es als Besonderes auch bestimmbar. Das Allgemeine ist repräsentiert in den Handlungsmöglichkeiten, die einem Fall (einer Person, einer Familie, einer Organisation etc.) objektiv gegeben sind. Besondere wer-den diese Möglichkeiten, weil sie für einen Fall gegeben sind, der aus ihnen eine Wahl trifft , der sich also entscheidet und auf eine bestimmte Handlungsmöglich-keit festlegt. Diese Wahlen wiederum sind nicht beliebig (selbst Zufallsauswahlen beruhen auf einer Entscheidung, nämlich der Entscheidung, die Entscheidung dem Zufall zu überlassen), sondern es wird, wenn eine Entscheidung getroff en wird, soziale Ordnung zugleich produziert und reproduziert (Bergmann 1985 zit. in Hildenbrand 1999: 13). Auf diese Weise wird ein Muster ausgebildet, „das den individuellen Fall und die Geschichte seiner Entscheidungsprozesse übergreifend kennzeichnet“ (ebd.). Dieses Muster wird nach Oevermann (2000) als Fallstruk-tur bezeichnet.

Allgemein ist das Allgemeine nicht, weil es häufi g vorkommt, und es geht in der sozialwissenschaft lichen Biografi eforschung nicht um Allgemeinheit im quantitativen Sinn einer Verteilung, im Sinne von ‚Repräsentativität‘. Vielmehr geht es beim Begriff des Allgemeinen, der hier von Bedeutung ist, um soziale Regeln, die die Genese eines Falls überhaupt erst ermöglichen, aber sie darin zu-gleich beschränken (da sich einer Praxis immer nur bestimmte Möglichkeiten eröff nen). Und das Allgemeine bezieht sich auf Deutungsmuster und normative Begründungsstrukturen, auf die sich das Subjekt bezieht und mittels derer es sein Handeln rechtfertigt, die es zugleich selbst gestaltet und verändert.

244 Anne Juhasz Liebermann

Die Analyse einer Biografi e lässt daher nicht nur Rückschlüsse zu auf ein ein-zelnes Leben, sondern immer auch auf den sozialen Zusammenhang, in dem sich diese Biografi e herausgebildet hat. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt ange-sprochen: Die Rekonstruktion einer Biografi e bezieht sich auf einen zeitlichen Verlauf und umfasst die Prozesshaft igkeit von sozialen Phänomenen. Im Zentrum der Betrachtung stehen Handlungsabläufe, Entscheidungs- und Sozialisations-prozesse. Zwar scheint es naheliegend zu sein, dass eine Analyse von Biografi en impliziert, Entwicklungen und Veränderungen in den Blick zu nehmen. Dennoch ist es wichtig, diesen Aspekt hervorzuheben, da damit zum einen inhaltliche und zum anderen methodische Implikationen verbunden sind. Insbesondere für den vorliegenden thematischen Zusammenhang ist dieser Punkt bedeutsam, denn die Rekonstruktion von Biografi en ist in besonderer Weise dazu geeignet, Bildungs-prozesse und berufliche Verläufe zu untersuchen. Daher ist es naheliegend, die biografi sche Methode auch in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung einzu-setzen.

3 Was kann biografi sche Forschung in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung leisten ?

Wie ausgeführt, ist die biografi sche Methode besonders geeignet dazu, in der Bil-dungs- und Arbeitsmarktforschung eingesetzt zu werden, da sie die Rekonstruk-tion von Bildungsprozessen und Erwerbsverläufen, von sozialen Auf- und Ab-stiegsprozessen oder auch Statusübergängen2 erlaubt.

In der Bildungsforschung ist der Einsatz biografi scher Methoden heute keine Seltenheit mehr. Dass der Gegenstand der Biografi e und die Biografi eforschung mittlerweile Eingang in die Sozial- und Erziehungswissenschaft , die Erwachse-nenbildung und auch in die Soziale Arbeit gefunden haben, davon zeugen zahl-reiche Publikationen (siehe z. B. das „Handbuch erziehungswissenschaft liche Bio-graphieforschung“ Krüger / Marotzki 2006, das Th emenheft der ZBBS „Biographie und Lernen“ Dick / Marotzki 2005, aber auch Alheit / Dausien 2006, Miethe 2011 oder von Felden 2008). Die Th emen, die mithilfe biografi scher Methoden unter-sucht werden, sind vielfältig: Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwach-sener, (schulische) Sozialisationsprozesse, geschlechtsspezifi sche Unterschiede in Bezug auf Bildungsprozesse, Migration und Bildung, Schülerbiografi en, Lehrer-

2 Siehe dazu in diesem Band die Beiträge von Karin Schittenhelm, Arnd-Michael Nohl und Stefan Kutzner.

Biografi sche Ressourcen 245

biografi en, Übergänge von der Schule bzw. dem Studium in den Beruf, Erwachse-nenbildung u. v. a. Auch wenn der Begriff „Arbeitsmarktforschung“ vor allem mit quantitativer Forschung verbunden wird, sind mittlerweile auch in diesem Th e-menfeld biografi sche Studien durchgeführt worden (z. B. Apitzsch / Kontos 2003; Apitzsch / Kontos 2008; Grimm / Vogel 2010; Reißig 2010; Schaff ner 2007; Schiek 2011; Schmeiser 2003). Beispiele für Th emen, die untersucht werden, sind zum Bei-spiel: Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, Berufliche Auf- und Abstiegsprozes se, Prekarisierung von Erwerbsbiografi en und Exklusionsprozesse, (Langzeit-)Ar-beitslosigkeit, selbstständige Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten. Fragestellungen, die anhand einer biografi sch orientierten Forschung untersucht werden, sind beispielsweise: Wie bewältigen junge Erwachsene den Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt ? Wodurch zeichnen sich berufliche Auf- bzw. Ab-stiegsprozesse aus und wie lassen sie sich erklären ? Wie verlaufen Biografi en von Personen in prekärer Erwerbslage ? (Nicht nur) bei biografi schen Arbeiten las-sen sich Fragestellungen der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung oft nicht klar voneinander trennen, sind doch Bildungs- und Berufsbiografi e eng miteinander verknüpft . Und gerade diese Verknüpfung stellt selbst einen interessanten Gegen-stand biografi scher Bildungs- und Arbeitsmarktforschung dar.

Auch wenn mittlerweile viele Studien im Th emenfeld Bildung und Arbeits-markt eine biografi sch orientierte Fragestellung verfolgen, können nicht alle die-se Arbeiten eindeutig ‚der‘ biografi schen Forschung zugeordnet werden. Eine ge naue re Betrachtung der methodischen Vorgehensweisen zeigt, dass zwar oft biografi sch-narrative Interviews durchgeführt werden, diese jedoch nicht immer rekonstruktiv und sequenzanalytisch ausgewertet werden. Rekonstruktive und nicht rekonstruktive Vorgehensweisen unterscheiden sich jedoch grundlegend in ihrer Logik3. Nur ein rekonstruktives Auswertungsverfahren kann die Einbet-tung einzelner Th emen in die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte rekonstruieren. Dies wiederum ist erforderlich, um die biografi sche Bedeutung und Genese von Bildungsprozessen und Erwerbsverläufen untersuchen zu können. Ein äußerlich identischer beruflicher Verlauf (z. B. die Ausbildung zur Lehrerin) kann, im bio-grafi schen Kontext betrachtet, etwas sehr unterschiedliches bedeuten. Die eine Person mag Lehrerin geworden sein, weil sie aus einer ‚Lehrer-Familie‘ stammt und sich in ihren eigenen biografi schen Entwürfen an einem familialen Muster

3 Als nicht rekonstruktive Verfahren können Vorgehensweisen bezeichnet werden, die subsum-tions logisch vorgehen, d. h. z. B. mit vorab defi nierten Kategorien das Material auswerten. Siehe zur Unterscheidung zwischen rekonstruktiven und nicht rekonstruktiven Verfahren ausführli-cher z. B. Rosenthal 2005b: S. 56 ff.

246 Anne Juhasz Liebermann

orientiert hat, eine andere Person hat dagegen diesen Beruf gewählt, weil sie aus einem schwierigen Erlebnis in der eigenen Schulzeit heraus die Motivation ent-wickelt hat, es ‚besser zu machen‘. In diesem Fall kann die Berufswahl als Kom-pensation oder Reparatur eines traumatischen Erlebnisses gedeutet werden. Sol-che Zusammenhänge werden nur erkannt, wenn das Auswertungsverfahren einer sequenziellen und rekonstruktiven Logik folgt und vorschnelle Subsumtionen unter vermeintlich identische Kategorien vermeidet.

4 Das Konzept biografi scher Ressourcen – Begriff sklärung und konzeptionelle Überlegungen

Das Bildungs- und Erwerbssystem kann in Bourdieus (Bourdieu 1984) Termino-logie als mehrdimensionaler sozialer Raum begriff en werden, der nach bestim-men Regeln strukturiert ist und in welchem Individuen und Gruppen unter-schiedliche Positionen einnehmen. Diese Stellung einer Person im sozialen Raum bestimmt sich, so Bourdieus Annahme, über seine Ressourcenausstattung, mit anderen Worten über sein ökonomisches4, kulturelles5 und soziales6 Kapital. Die drei unterschiedlichen Kapitalsorten sowie das symbolische Kapital7 sind eng mit-einander verbunden. Dies, weil sie sich erstens unter bestimmten Bedingungen gegenseitig umwandeln lassen (Bourdieu 1983: 195 f.), und zweitens, weil in vielen Fällen erst das Vorhandensein von bestimmten Kapitalsorten die Verwertbarkeit anderer Kapitalformen ermöglicht. Dies gilt insbesondere für das soziale Kapital, das den Zugang zu bestimmten sozialen Positionen ermöglicht und erst auf diese

4 Ökonomisches Kapital (Besitz, Eigentumsrechte) bildet die dominierende und am direktesten in Geld umzuwandelnde Form von Kapital (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).

5 Kulturelles Kapital existiert in inkorporierter Form im Sinne von dauerhaft en Dispositionen (Bil-dung, Wissen, Fähigkeiten, Interessen, ein bestimmter Habitus), in objektivierter Form (materia-lisierte Erzeugnisse aus Kunst und Wissenschaft wie Bücher, Gemälde etc.) und in institutionali-sierter Form (Titel) (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).

6 Das soziale Kapital bilden jene Ressourcen, die sich aus (dauerhaft en) sozialen Beziehungen ab-leiten und damit in der Regel auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Soziales Kapital bestimmt sich zum einen nach der Anzahl von sozialen Beziehungen, zum andern danach, wie „kapitalträchtig“ diese Beziehungen sind bzw. über wie viele (ökonomische, kulturelle und sym-bolische) Ressourcen die Mitglieder jener Gruppe verfügen, welcher der oder die Einzelne ange-hört (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).

7 Das symbolische Kapital, das keine eigenständige Kapitalsorte darstellt, lässt sich aus dem Ge-samt der drei vorgenannten Kapitalien ableiten. Es wird verstanden „als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renom-mee, usw. bezeichnet)“ (Bourdieu 1985: 11, zit. nach Juhasz / Mey 2003: 64).

Biografi sche Ressourcen 247

Weise die Verwertbarkeit beispielsweise eines schulischen Titels garantiert (Bour-dieu 1983: 186). In der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung spielen diese Kapi-talformen eine zentrale Rolle, etwa wenn es darum geht, den Zugang von Perso-nen zu bestimmten Positionen zu erklären. Allerdings zeigt die Empirie, dass die Ausstattung mit den genannten Kapitalsorten den Bildungs- und Erwerbsverlauf einer Person nicht vollständig determiniert, mit anderen Worten Bildungs- und Erwerbsverläufe oft unerwartet verlaufen. Die Ausstattung einer Person mit kul-turellem, sozialem und ökonomischem Kapital alleine kann Bildungs- und Er-werbsverläufe nicht erklären. Genau hier setzt das Konzept der biografi schen Res-sourcen an, auf das insbesondere dann Bezug genommen wird, wenn unerwartete, ‚positive‘ oder ‚erfolgreiche‘ Bildungs- und Erwerbsverläufe beschrieben und er-klärt werden sollen.8 Allerdings wird der Begriff der biografi schen Ressource oft verwendet, ohne genauer defi niert zu werden. Aus diesem Grund wird im Folgen-den zunächst eine Begriff sbestimmung vorgenommen, bevor das Konzept theo-retisch verortet wird.

4.1 Zum Begriff „biografi sche Ressourcen“

Unter dem französischen Wort „ressource“ versteht man Mittel, Hilfs- und Ein-nahmequellen. Laut Pons (2006) wird das Wort heute in folgenden drei Formen gebraucht: „(1) als eine Quelle für Hilfsmittel oder Rohstoff e; (2) Geldmittel; (3) psychische Kräft e zur Bewältigung von Problemen“ (Pons 2006: 1137). Oft wird in der Literatur zwischen inneren und äußeren Ressourcen unterschieden, bzw. zwischen individuellen und sozialen Ressourcen (Bartmann 2007: 82). Darüber hinaus fi ndet sich eine Klassifi zierung in materielle, kulturelle und personale Un-terstützungsquellen, was an Bourdieus Unterscheidung (Bourdieu 1983) zwischen ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital erinnert.9 Im Kontext der Bio-grafi eforschung fi ndet sich auch ein Verständnis von Ressourcen als „Kraft quellen,

8 Bourdieus Th eorie wird denn auch vorgeworfen, zu deterministisch zu sein. 9 Griese / Griesehop (2007: 101) unterscheiden in Anlehnung an Haye und Kleve (2003: 119) zwi-

schen a) persönlichen Ressourcen; b) lebensweltlich-sozialen Ressourcen; c) sozialen Ressour-cen; d) sozioökonomischen Ressourcen. Meines Erachtens ist diese Unterscheidung wenig sinnvoll. Insbesondere die Unterscheidung zwischen lebensweltlich-sozialen („im Sinne von un-terstützenden, wertschätzenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn etc., die von Menschen hergestellt werden können“) sowie sozialen Ressourcen („im Gemeinwesen in Form von Mitgliedschaft en in Vereinen, hilfreichen Beziehungen zu Ärzten, Psychologen, Pfarrern, ko-operative Kontakte zu Schulen oder anderen Einrichtungen im Sozialraum“) erscheint willkür-lich und nicht trennscharf.

248 Anne Juhasz Liebermann

die zur Bewältigung alltäglicher Anforderungen und Lebensaufgaben von zentra-ler Bedeutung sind“ (Hölzle 2011; 2009: 43).

Doch worin besteht der Unterschied zwischen „Ressourcen“ und „Kapital“ ? Ist in der Biografi eforschung von biografi schen Ressourcen die Rede, wird der Unterschied zwischen den beiden Begriff en selten thematisiert, die beiden Be-griff e werden meist synonym verwendet. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Kontos (Kontos 2000), in welcher Ressourcen verstanden werden als „Vorrat an Werten (…), die genutzt werden können, um etwas in Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen“ (Kontos 2000: 53). Als Kapital werde dagegen ein Gegenstand, ein Wert oder eine Eigenschaft betrachtet, wenn sie auf dem Markt Erträge erzielen können. Insofern sei Kapital ein marktnaher Begriff . Ressource hingegen ist nach Kontos „eine Vorform von Kapital. Aus der Ressource kann Kapital erschlossen werden“ (ebd.).

Der Begriff der „biografi schen Ressource“ wurde von Erika Hoerning in die Biografi eforschung eingeführt (Hoerning 1987; 1989; 1995).10 Hoerning versteht unter biografi schen Ressourcen „Handlungsmittel, die zur Bewältigung der bio-grafi schen Handlungskorrektur eingesetzt werden können“ (1987: 97). In einer späteren Arbeit (Hoerning 1989: 148) bezeichnet Hoerning „Lebenserfahrungen und daraus gewonnenes biographisches Wissen“ als Ressourcen, die „zukünft ige Handlungen nicht nur steuern, sondern die als Wertanlage gesellschaft lich ge-schätzt und dadurch individuell für die Ausgestaltung zukünft iger biographischer Projekte verwendet werden können“ (ebd.). Biografi sche Ressourcen sind nach Hoerning somit Wissensbestände, die aus biografi schen Erfahrungen resultieren. Die Terminologie („eingesetzt“ bzw. „verwendet“ werden können) impliziert, dass biografi sche Ressourcen bewusst und zielgerichtet von ihrem ‚Besitzer‘ eingesetzt werden können, ganz so, wie wenn es sich dabei um ihm äußerliche Mittel wie Geld oder Rohstoff e handeln würde. Die Anlehnung an eine Begriff lichkeit, die der Ökonomie entstammt („Wertanlage“), impliziert, es gehe insbesondere darum, aus den biografi schen Ressourcen gewissermaßen Kapital zu schlagen, sie also ‚produktiv‘ und gewinnbringend einzusetzen.

Neben diesem Verständnis von biografi schen Ressourcen als „Handlungsmit-tel“ oder „Handlungsressource“, das auf kognitive Aspekte abhebt, fi ndet sich in

10 Hoerning selbst verwendet die Begriff e Ressource und Kapital synonym: „(…) Erfahrungen als biographische Kapitalstruktur (…), die nicht nur den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte steuern, sondern die gleichzeitig als biographische Ressourcen, sozusagen als soziales und kultu-relles Kapital der Biographie, zur Bewältigung von Lebensereignissen eingesetzt werden können“ (Hoerning 1995: 237).

Biografi sche Ressourcen 249

der Literatur eine Konzeption von biografi schen Ressourcen als Fähigkeit zu bio-grafi scher Artikulation bzw. Zusammenhangsbildung, die auf der Kompetenz be-ruht, Selbst- und Welt sinnvoll zu deuten (Griese / Griesehop 2007: 102 f.). Griese und Griesehop schreiben: „Der Begriff der biographischen Ressource bezeichnet im allgemeinsten Sinne also die Fähigkeit, biographische Kohärenz herzustellen und Erfahrungen (narrativ) anzuordnen“ (S. 103).

Bartmann (Bartmann 2005; 2007) zufolge beinhalten biografi sche Ressourcen beide genannten Aspekte, sie spricht von der doppelten Dimension biografi scher Ressourcen: Zum einen beziehen sich biografi sche Ressourcen auf die situative Bearbeitung von Ereignissen, zum anderen auf die refl exive Bildung von Haltun-gen zu sich selbst und der Welt (2007: 84). Mit anderen Worten können biografi -sche Ressourcen sowohl „handlungspraktisch unmittelbar wie biographisch refl e-xiv eingesetzt“ werden (Bartmann 2007: 84).

In eine andere Richtung weist dagegen ein Verständnis von biografi schen Res-sourcen, das nicht bloß die gemachten Erfahrungen umfasst, sondern auch die

„nicht- oder noch-nicht-gemachten, die potentiellen Erfahrungen“ (Kontos 2000: 49) einschließt. Apitzsch (1996: 137) spricht von latenten Potenzialen, die etwa für die Transformationen von Krisen bedeutsam sind. Ein solches Verständnis von biografi schen Ressourcen beinhaltet gerade nicht Intentionalität und rationa-les, zweckgerichtetes Handeln, denn latente Potenziale sind ihrem ‚Träger‘ nicht bewusst, können folglich von ihm auch nicht zielgerichtet als Handlungsmittel eingesetzt werden. Kontos (2000) beschreibt als ein Beispiel für so verstandene biografi sche Ressourcen die Motivation zur beruflichen Selbstständigkeit, die sich aus einem Trauma in der Kindheit und Jugend (hier des Schulabbruchs) speist. Und sie betont denn auch, dass sich Motivation als Ressource dem Akkumula-tionsprozess entziehe, mit anderen Worten nicht bewusst ‚angehäuft ‘ werden kann. Dies zum einen, weil sie in der Kindheit im unbewusst laufenden und daher nicht steuerbaren Prozess der Sozialisation und Erziehung entstehe und zum an-deren, „weil es nicht erstrebenswert sein kann, Traumata zu erzeugen, um Motiva-tion aufzubauen, zumal das Resultat einer positiven Motivation aus Traumata mit einer Vielzahl anderer Faktoren in Zusammenhang steht, welche das Aufkommen von Motivation emergent und nicht voraussagbar machen“ (Kontos 2000: 53).

Aus den vorangegangenen Ausführungen sollte deutlich werden, dass unter dem Begriff biografi sche Ressourcen sehr Unterschiedliches verstanden wird und die Verwendung des Ressourcenbegriff s im Kontext sozialer Phänomene und Sinnstrukturen umstritten ist. Eine weitere Problematik besteht darin, dass die Abgrenzung des Begriff s biografi sche Ressourcen zu anderen soziologischen Kon-

250 Anne Juhasz Liebermann

zepten nicht immer deutlich wird.11 Zahlreiche weitere kritische Fragen an die Verwendung des Konzepts biografi sche Ressourcen ließen sich stellen, die an die-ser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden sollen.12

4.2 Biografi sche Ressourcen und die Entstehung des Neuen

Trotz der genannten Diff erenzen und bisweilen auch Vagheiten der Begriff sdefi -nition ist die Tendenz erkennbar, auf biografi sche Ressourcen als sozialwissen-schaft lichem Konzept dann Bezug zu nehmen, wenn es um die Beschreibung und Erklärung von ‚gelungenen‘ biografi schen Verläufen geht. Explizit fordern etwa Griese / Griesehop (2007: 104) in Anlehnung an Hanses (2000: 372) von

„Ressourcenorientierung als Suche nach ‚Empowermentgeschichten‘, nach Epi-soden, in denen sich ‚gelungene Lebensstrategien und Erfahrungen‘ spiegeln“ (Grie se / Griese hop 2007: 104) zu sprechen. Es sei angezeigt, so Griese und Griese-hop weiter, nach Erzählpassagen Ausschau zu halten, in denen sich eine gelun-gene Umsetzung biografi scher Handlungsschemata zeige oder sich Strukturen einer Wende erkennen lassen. Auf den Kontext der Bildungs- und Arbeitsmarkt-forschung übertragen hieße das, den Blick auf erfolgreiche Bildungs- und Er-werbsverläufe zu richten. Dies wirft allerdings die Frage auf, woran ‚erfolgreiche‘ biografi sche Verläufe gemessen werden, welche (impliziten) Maßstäbe in die Be-wertung einfl ießen.13 Eine Möglichkeit besteht darin, die Nutzung und die Erwei-terung von Handlungsmöglichkeiten und die Frage nach Handlungsautonomie ins Zentrum zu stellen. Von besonderem Interesse sind in der Biografi eforschung dabei die biografi schen Prozesse, die zur Erweiterung von Handlungsmöglich-keiten führen. In Schützes Terminologie kann hier vom Durchbrechen von Ver-

11 Je nach Verständnis von biografi schen Ressourcen besteht z. B. eine sehr große Nähe zum Habitus-Konzept von Bourdieu und zum Konzept der biografi schen Gesamtgestalt nach Schütze (Schütze 1981; 1984).

12 Etwa weitere Fragen zur Begriff lichkeit, die sehr statisch wirkt. Zudem wird der Begriff nicht sel-ten als Blackbox verwendet, das heißt, darunter wird all das gefasst, was etwa bei der Interpreta-tion eines konkreten Falls nicht näher bestimmt werden kann.

13 Denkbar sind objektive Kriterien wie etwa eine soziale Aufwärtsmobilität oder das Erlangen ei-ner hohen Ausbildung bzw. einer hohen beruflichen Position. Möglich sind aber auch subjektive Kriterien, womit das Erreichte an den Maßstäben des Befragten selbst gemessen wird und sich der Erfolg letztlich an der Zufriedenheit oder auch Lebensqualität des Befragten ‚messen‘ ließe. Wird die subjektive Zufriedenheit zum Maßstab erhoben, bleibt allerdings die Frage off en, wie Anpassungsprozesse oder sogenannte Abkühlungsprozesse gedeutet werden sollen, die beispiels-weise bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufi g beobachtet werden können (siehe dazu z. B. Mey / Rorato 2010).

Biografi sche Ressourcen 251

laufskurven14 und Prozessen der Wandlung15 gesprochen werden. Auch wenn in Schützes Arbeit der Begriff der Ressource keinen prominenten Platz einnimmt, kann mit Kontos eine Verlaufskurve als der Zusammenbruch biografi scher Res-sourcen interpretiert werden (Kontos 2000: 49). In analoger Weise könnten po-sitive Veränderungsprozesse als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und Folge einer Entfaltung biografi scher Ressourcen verstanden werden. Das Inter-esse der Forschung, die sich mit biografi schen Ressourcen beschäft igt, richtet sich somit – auch wenn dies selten expliziert wird – weniger auf die erwartba-ren erfolgreichen beruflichen Karrieren oder Bildungsverläufe, als vielmehr auf die unerwarteten Verläufe, also auf jene, die aus bestimmten Gründen als wenig wahrscheinlich gelten und genau deshalb erklärungsbedürftig sind (siehe z. B. die Arbeit von Hummrich 2006). Aus diesem Grund wird das Konzept der biogra-fi schen Ressource oft auf biografi sche Erfahrungen von Personen bezogen, die wenig kulturelles, ökonomisches oder soziales Kapital haben und deren erfolgrei-cher Bildungsverlauf oder beruflicher Erfolg unerwartet scheint.

Ist von biografi schen Ressourcen die Rede, geht es jedenfalls im Kern, so die hier vertretene Th ese, um die Erklärung der Entstehung des Neuen. In Oever-manns (1991; 2004; 2008) Terminologie geht es um die Frage nach dem „Wie“, der Genese oder dem Bildungsprozess einer konkreten Fallstruktur, mit Schütze (2001) gesprochen steht die Frage nach dem Wirksamwerden von biografi schen Wandlungsprozessen im Zentrum. Mit dieser Präzisierung des Konzepts der bio-grafi schen Ressourcen soll auch vermieden werden, dass jegliche biografi sche Erfahrung unter den Begriff der biografi schen Ressourcen fällt. Denn bei den gängigen Konzeptionen biografi scher Ressourcen stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten nicht durch biografi sche Erfahrungen erworben wurden. Hier wird daher vorgeschlagen, unter biografi schen Ressourcen nur jene Erfahrungen zu fassen, die eine zentrale Dimension der Erzeugung von Neuem darstellen. Damit wird auf einen Erfahrungsbegriff Bezug genommen, der den Prozess der Konsti-tution von Erfahrung als krisenhaft versteht (vgl. Oevermann 1991; 2004; 2008).

14 Unter einer negativen Verlaufskurve versteht Schütze eine Verkettung von Ereignissen aufgrund heteronomer Bedingungen, die vom Betroff enen nicht kontrolliert werden kann und für ihn mit einer Einschränkung seines Möglichkeitsspielraums bis hin zum totalen Zusammenbruch ein-hergeht (Schütze 1981: 88 ff.).

15 „Biographische Prozesse der Wandlung sind dadurch gekennzeichnet, dass die Betroff enen in sich selbst – mehr oder weniger verwundert – neue Kräft e feststellen, mit denen sie zuvor über-haupt nicht gerechnet haben. Sie erleben zunächst mehr oder weniger undeutlich, beginnen all-mählich aufmerksam zu werden und begreifen dann anschließend abrupt, daß sie Vollzüge be-herrschen, an deren Meisterung sie vorher nicht zu denken wagten bzw. auf die sie gedanklich gar nicht gekommen wären“ (Schütze 2001: 142).

252 Anne Juhasz Liebermann

Das heißt, Erfahrungen konstituieren sich innerhalb des Prozesses einer Krisen-bewältigung: „Solange man routinisiert handelt, macht man keine Erfahrun-gen, sondern lebt von Erfahrungen, die man schon gemacht hat“ (Oevermann 2004: 165). Oder anders gesagt: Die Erzeugung von Neuem ist an die Bedingung der Krise gebunden und „Krise und Neuerung bedingen sich einander“ (ebd.). Die Herausforderung bzw. das Problem besteht darin, „den Entstehungsprozess des Neuen als solchen zu identifi zieren, die Transformation von der Reproduktion zu unterscheiden“ (Oevermann 1991: 296). Die eigentliche Schwierigkeit ist es also, im konkreten Material Bildungsprozesse zu identifi zieren und die Herausbildung von Neuem zu erkennen. Dies kann letztlich nur durch den Vergleich mit einer schon rekonstruierten Struktur oder Reproduktionsgesetzlichkeit gelingen.

5 Methodische Folgerungen: Zur Erhebung und Auswertung biografi scher Interviews

Aus den bisherigen Ausführungen kann gefolgert werden, dass biografi sche Er-fahrungen und biografi sche Ressourcen nicht unabhängig von ihrer biografi -schen Einbettung und Bedeutung betrachtet werden können. Der von außen be-trachtet ähnliche Verlauf einer Biografi e kann ganz unterschiedlich motiviert sein und ganz unterschiedliches bedeuten. Eine Beschreibung der äußeren Merkmale eines biografi schen Verlaufes sagt noch nichts über seine inneren Gesetzmäßig-keiten aus.

Genauso wenig können wir, wenn wir Fähigkeiten einer Person nur auf einer deskriptiven Ebene erfassen, bestimmen, ob sie als biografi sche Ressourcen ein-zustufen sind. Denn biografi sche Erfahrungen müssen, wie Hoerning formuliert, „in die jeweiligen Lebensabschnitte und historischen Situationen einpaßbar sein“ (Hoerning 1989: 155). Man könnte auch sagen, dass biografi sche Ressourcen ab-hängig sind vom jeweiligen Kontext (biografi sch, sozial, historisch). Dieselben Fähigkeiten können im einen Kontext eine hohe Bedeutung haben, während sie in einem anderen Kontext bedeutungslos sind. Besonders im Kontext der Bil-dungs- und Arbeitsmarktforschung ist dieser Aspekt relevant, da beispielsweise unterschiedliche Berufe unterschiedliche Fähigkeiten erfordern und das Bil-dungssystem ganz bestimmte, nämlich mittelschichtsorientierte, Fähigkeiten als bedeutungs- und förderungswürdig erachtet, während andere Fähigkeiten keine Beachtung fi nden. Für die Rekonstruktion biografi scher Verläufe lässt sich daraus folgern, dass biografi sche Ressourcen nur vor dem Hintergrund des biografi schen und sozialen Gesamtzusammenhangs angemessen interpretiert werden können.

Biografi sche Ressourcen 253

Zu den Prinzipien qualitativer Forschung und auch den Prinzipien der Erhe-bung und Auswertung biografi sch-narrativer Interviews liegt eine umfangreiche Literatur vor (Schütze 1976; Schütze 1981; Schütze 1983; Schütze 1984, Rosenthal 1995; Rosenthal 2005a; Rosenthal 2005b; Rosenthal 2010). Daher werden im Fol-genden nur die zentralen Elemente der Erhebung und Auswertung dargestellt und vor allem jene Aspekte in den Vordergrund gerückt, die für den vorliegenden the-matischen Kontext als besonders wichtig erachtet werden.

5.1 Zur Erhebung biografi sch-narrativer Interviews

Das Ziel eines biografi sch-narrativen Interviews besteht darin, eine autobiografi -sche Stegreiferzählung hervorzulocken, deren inhaltliche und formale Gestaltung der interviewten Person überlassen wird (siehe dazu insbes. Schütze 1976; Schütze 1983; Rosenthal 1995; 2005a). Entscheidend ist, dass der Befragte mit einer rela-tiv allgemein gehaltenen Erzählaufforderung um die Erzählung seiner Lebens-geschichte oder bestimmter Phasen und Bereiche seines Lebens gebeten wird und er bei der Haupterzählung nicht mit Detaillierungsfragen unterbrochen wird. Dies erfordert eine besondere Technik der Gesprächsführung, bei welcher auf die Formulierung von möglichst erzählgenerierenden Fragen und Nachfragen geach-tet wird.16 Erst auf diese Weise sind die Bedingungen dafür gegeben, dass sich die Gestalt der erzählten sowie der erlebten Lebensgeschichte wirklich entfalten kann.

Ein biografi sch-narratives Interview besteht in der Regel aus drei Teilen: einer Eingangserzählung, einem internen Nachfrageteil und einem externen Nachfrage-teil. Die Eingangserzählung wird durch eine Eingangsfrage eröff net, die erzähl-generierend und temporal off en sein soll. Ein Beispiel wäre etwa: „Ich interessiere mich für Lebensgeschichten von Frauen im Handwerk. Ich möchte Sie jetzt bit-ten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Ereignisse, die Ihnen einfallen. Sie können sich dazu soviel Zeit nehmen, wie Sie möchten, ich werde Sie erstmal nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen für Nachfragen machen“. Auf die Ein-gangsfrage folgt jeweils eine mehr oder weniger lange Eingangserzählung. Wenn die befragte Person signalisiert, dass sie die Eingangserzählung für beendet hält, wird damit begonnen, interne Nachfragen zu stellen, d. h. dort nachzufragen, wo

16 So sind bspw. „warum“-Fragen, die dem oder der Erzählenden ermöglichen bzw. ihm nahelegen, mit einem knappen „weil“-Satz zu antworten, in der Regel nicht erzählgenerierend; sinnvoller ist die Fragestellung „wie ist es dazu gekommen, dass…“, die prozesshaft ausgerichtet ist und eine Erzählung eröff nen kann.

254 Anne Juhasz Liebermann

in der Eingangserzählung etwas unklar geblieben oder nur kurz angedeutet wor-den ist. Auch hier soll möglichst versucht werden, erzählgenerierende Nachfra-gen zu stellen, etwa: „Können Sie mir noch mehr darüber erzählen, als…“ oder „Sie haben die Person x erwähnt, können Sie mir noch mehr über sie erzählen“ ?17

Im dritten Teil des Interviews werden schließlich weitere narrative Fragen zu Th emen gestellt, die von den Befragten selber nicht in das Interview eingebracht worden waren, für die Fragestellung aber dennoch wichtig sind (diese werden als externe Nachfragen bezeichnet).

Im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung mutet es möglicher-weise seltsam an, ein Interview mit einer ganz off enen Erzählaufforderung zu be-ginnen. Warum wird nicht themenbezogen gefragt oder direkt eine Frage nach institutionell vorgegebenen Bildungs- und Berufslaufbahnen gestellt ? Wozu die Frage nach der gesamten Lebensgeschichte ? Dahinter steht die Idee, dass die Bil-dungs- und Berufslaufbahn einer Person erst im Kontext ihrer gesamten Lebens-geschichte angemessen interpretiert werden kann. Wie oben ausgeführt, kann zwei äußerlich betrachtet ähnlichen Berufslaufbahnen eine vollkommen andere Struktur zugrunde liegen. Ihre Entstehungsgeschichte und ihre biografi sche Be-deutung können sich voneinander fundamental unterscheiden, obwohl sie ober-fl ächlich betrachtet ähnlich scheinen. Umgekehrt können zwei nach außen ganz unterschiedliche Bildungslaufbahnen eine ganz ähnliche Fallstruktur aufweisen, beispielsweise beide durch einen Wunsch nach sozialer Anerkennung motiviert sein. Solche Zusammenhänge können nur rekonstruiert werden, wenn möglichst viel über die Familien- und Lebensgeschichte bekannt ist.

Ein weiterer Grund, nicht bloß gezielt nach der Bildungs- und Berufslaufbahn zu fragen, liegt darin, dass biografi sch-narrative Erzählungen oft unerwartete the-matische Zusammenhänge erkennen lassen, die dem Forscher entgehen würden, wenn er im Interview nur das ihn interessierende Th ema ansteuern würde. Nicht selten liegt gerade in jenen Textstellen, die auf den ersten Blick weit vom ‚eigent-lichen‘ Th ema entfernt scheinen, der Schlüssel zum Verständnis dessen, was für die Forschungsfrage von zentraler Bedeutung ist. Darüber hinaus gilt: Je mehr der Forscher das Interview steuert und thematisch lenkt, umso geringer ist die Chance, dass er auf Phänomene stößt, die für ihn unbekannt sind. Zielt die For-schung somit nicht bloß auf die Wiederholung bereits bekannten Wissens, son-dern sollen auch neue Zusammenhänge aufgedeckt werden, ist es angezeigt, eine möglichst off ene Interviewform zu wählen.

17 Siehe zu den narrativen Nachfragen und überhaupt zu den Prinzipien der Gesprächsführung zur Gewinnung einer Lebenserzählung Rosenthal 1995: 186 ff.

Biografi sche Ressourcen 255

5.2 Zur Auswertung biografi sch-narrativer Interviews

Die soeben beschriebene off ene Interviewform ist allerdings nur dann sinnvoll, wenn auch ein Auswertungsverfahren gewählt wird, das dieser Off enheit gerecht wird.

Erstens ist damit gemeint, dass auch bei der Auswertung nicht nur die Bil-dungs- und bzw. oder Berufslaufbahn in den Blick genommen wird, sondern die gesamte Lebensgeschichte von Interesse ist.

Zweitens ist ein subsumtionslogisches Vorgehen mit dem biografi sch-narrati-ven Interview nicht kompatibel, weil es nicht in der Lage ist, die erwähnten inne-ren, oft auch latenten, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Th emen in einer Lebensgeschichte zu rekonstruieren und zu erklären. Dem Text werden bei einem subsumtionslogischen Vorgehen jene Kategorien übergestülpt, die der Forscher für wichtig erachtet, anstatt schrittweise die innere Logik und Sinnstruktur des Textes zu rekonstruieren.

Ein biografi sch-narratives Interview kann daher nur mithilfe eines rekon-struktiven, sequenziellen Vorgehens adäquat analysiert werden. Mittlerweile lie-gen verschiedene etablierte rekonstruktive Verfahren vor. Im Folgenden wird auf das fallrekonstruktive Vorgehen Bezug genommen, wie es von Rosenthal (Rosen-thal 1995; 2005b) in Anlehnung an die Vorgehensweisen von Schütze (Schütze 1983) und Oevermann (Oevermann 2000) sowie die thematische Feldanalyse nach Fischer (1982, in Rosenthal 1995) entwickelt wurde. Rosenthal schlägt fol-gende Analyseschritte vor:18

a) Die sequenzielle Analyse der biografi schen Daten: Hier werden zunächst die kaum an die Interpretation der erzählenden Person gebundenen Daten in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf analysiert. Das Ziel besteht darin, die Ausgangssituation zu bestimmen, die den Fall charakterisiert und darzulegen, welche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten damit ver-bunden waren. Dann werden schrittweise die weiteren verfügbaren Daten in-terpretiert und gedankenexperimentell Hypothesen zu diesen biografi schen Daten entwickelt. Dabei geht es darum, Situationen zu rekonstruieren, um zu verstehen, vor welche Handlungsprobleme der Befragte gestellt wurde und welche Handlungsmöglichkeiten er hatte. Hierbei ist es wichtig, auch poten-zielle Veränderungen und Wandlungen zu bedenken und nicht bloß eine Re-produktion der bestehenden Strukturen anzunehmen (Rosenthal 2005b: 176).

18 Diese sind ausführlich dargestellt in Rosenthal 1995 sowie Rosenthal 2005b.

256 Anne Juhasz Liebermann

Nacheinander werden sodann die verfügbaren biografi schen Daten ausgelegt, bis aus der Kontrastierung der objektiv gegebenen Möglichkeiten und des vom Befragten tatsächlich eingeschlagenen Wegs das besondere Muster die-ses Wegs identifi ziert werden kann.

b) Th ematische Feldanalyse des Interviews: Generelles Ziel dieses Analyseschrit-tes ist es, herauszufi nden, wie sich der Befragte selber präsentiert, welches implizite „Ziel“ der Selbstdarstellung er dabei verfolgt. Die streng sequenzi-elle Analyse der Textsegmente setzt sich zum Ziel, die Regeln und die Muster der Selbstpräsentation aufzuspüren: „Interpretationsbedürftig sind bei die-sem Analyseschritt die Art und die Funktion der Darstellung im Interview – und nicht die biografi sche Erfahrung an sich“ (Rosenthal 1995: 219). In diesem Auswertungsschritt werden insbesondere wichtige Hinweise auf die Gegen-wartsperspektive des Befragten bzw. der Befragten gewonnen. Deutlich wer-den soll, welche Th emen nicht thematisiert werden, obwohl sie unterschwellig präsent sind, und wie der Befragte seine Erlebnisse systematisch nur in spezi-fi sche Th emenfelder einbettet und mögliche andere den Erlebnissen inhärente Rahmungen vermeidet. Am Ende dieses Analyseschrittes stehen zusammen-fassende Strukturhypothesen, Strukturhypothesen zum erzählten Leben des Befragten.

c) Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte: Bei diesem Analyseschritt wird die erlebte Lebensgeschichte in ihrer Chronologie rekonstruiert. Im Un-terschied zur Analyse der biografi schen Daten, wo die Daten völlig unabhän-gig von der Erzählung des Befragten analysiert wurden, interessiert hier, ob es Hinweise im Text darauf gibt, wie der Befragte eine bestimmte Situation in der Vergangenheit erlebt hat. Im Zentrum steht hier somit die Erlebnisebene, gesucht wird gewissermaßen nach Spuren des Erlebten in der Vergangenheit.

d) Feinanalyse einzelner Textstellen des Interviews: Mit der Feinanalyse bestimm-ter Textstellen wird bezweckt, bisher entwickelte Hypothesen über die Spezifi k eines Falles an dafür besonders geeigneten Textstellen zu überprüfen. Hier-zu empfehlen sich insbesondere Sequenzen von hoher narrativer Dichte, d. h. Sequenzen, die viele Hinweise auf vergangene Erlebnisse und Erfahrungen enthalten. Mittels einer Feinanalyse werden auch jene Textstellen analysiert, deren Bedeutung bis anhin nicht erschlossen werden konnte. Bei diesem Ver-fahren orientiert sich Rosenthal an der Vorgehensweise der Objektiven Her-meneutik (Oevermann et al. 1980; Oevermann 2000).

e) Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Lebensgeschichte: In diesem Auswertungsschritt geht es darum, aus der Kontrastierung der erzählten Le-bensgeschichte mit dem (rekonstruierten) erlebten Leben zusätzliche Erkennt-

Biografi sche Ressourcen 257

nisse über die Unterschiede zwischen diesen beiden Ebenen, d. h. zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive, zu gewinnen und Erklärungen für diese Diff erenz zu fi nden. Auch hilft es besser zu verstehen, wie der oder die Befragte mit biografi schen Erlebnissen umgeht und diese verarbeitet.

f) Typenbildung: Das Ziel dieses Schrittes besteht darin, das Typische eines Falls zu benennen und auf den Punkt zu bringen. Die Typenbildung ist bezogen auf Konzepte, Th emen, die Forschungsfrage. Ausgehend von einem Fall können unterschiedliche Typen gebildet werden.

g) Verallgemeinerung: Wie bereits erwähnt, besteht das Ziel biografi scher For-schung nicht bloß darin, einen Fall möglichst genau zu beschreiben, vielmehr sollen aus der Analyse eines Falls allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden, um über den Weg der Generalisierung zur Entwicklung neuer Er-kenntnisse über soziale Zusammenhänge zu gelangen. Hat man die konstituie-renden Regeln eines Falls rekonstruiert, kann daraus gefolgert werden, dass bei einem Fall mit derselben Fallstruktur ein weiterer Repräsentant dieses Ty-pus gegeben ist. Ob dieser andere Repräsentant aber real existiert und wie ver-breitet der Typus ist, ändert an der Gültigkeit der rekonstruierten Regel nichts. Welche Schlussfolgerungen gezogen werden, hängt von der konkreten Frage-stellung ab, die untersucht wird. Wenn ich mich z. B. mit der Berufsmotiva-tion von Lehrerinnen und Lehrern beschäft ige, werde ich aus den analysierten Fällen Schlussfolgerungen ziehen, die darauf zielen, die Berufsmotivation von Lehrerinnen und Lehrern zu bestimmen. Interessiere ich mich dagegen bei-spielsweise für die Frage, welche geschlechtsspezifi schen Merkmale berufliche Verläufe aufweisen, werde ich aus genau denselben Biografi en möglicherwei-se ganz andere Schlussfolgerungen ziehen. Welche Reichweite die Schlussfol-gerungen haben, die aus einem Fall gezogen werden, hängt ebenfalls davon ab, welche Fragestellung verfolgt wird und auf welches Erkenntnisinteresse hin ein Typus gebildet wird. Oder anders gesagt: Die Reichweite der Generalisie-rung kann immer nur bezogen auf die konkrete Fragestellung bestimmt wer-den.

Bei der Auswertung eines biografi sch-narrativen Interviews werden die genann-ten Analyseschritte nacheinander vorgenommen und die ganze Lebensgeschichte rekonstruiert, ohne schon eine thematische Fokussierung vorzunehmen. Wie bei der Erhebung eines biografi sch-narrativen Interviews wird auch hier die eigent-liche Forschungsfrage zunächst eingeklammert, und es wird erst dann wieder auf sie Bezug genommen, wenn die Typenbildung vorgenommen wird. Eine vor-schnelle Fokussierung der Analyse eines Interviews auf die Frage nach biografi -

258 Anne Juhasz Liebermann

schen Ressourcen würde dazu führen, dass der Gesamtzusammenhang und die dem Fall zugrunde liegende Struktur nicht erfasst werden und die Analyse letzt-lich oberfl ächlich bleibt.

Dennoch gibt es Fragen, die hinsichtlich der Th ematik der biografi schen Res-sourcen bei einzelnen Analyseschritten von besonderer Bedeutung sind. Bei der Rekonstruktion der biografi schen Daten können u. a. folgende Fragen aufgeworfen werden: Über welche sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen ver-fügte die Herkunft sfamilie des Befragten zum Zeitpunkt seiner Geburt und wie hat sich ihr Vorhandensein im Laufe der Zeit verändert ? Gibt es Hinweise auf Krisenerfahrungen (Migration, Trennung von Eltern u. a.) und Hinweise darauf, welche Konsequenzen diese für den weiteren Lebensverlauf hatten ?

Die Analyse der erzählten Lebensgeschichte ist hinsichtlich der Frage nach bio-grafi schen Ressourcen insbesondere deshalb interessant, weil die erzählte Lebens-geschichte Hinweise gibt auf die Art und Weise, wie Erlebnisse in die eigene Bio-grafi e eingeordnet und gedeutet werden. Wie wird beispielsweise über eine Phase der Arbeitslosigkeit berichtet ? Betrachtet der Befragte im Nachhinein diese Phase als sinnvoll für sein Leben, weil er z. B. wichtige Erfahrungen sammeln konnte ? Gelingt es ihm, der Arbeitslosigkeit etwas Positives abzugewinnen und Sinn zu verleihen oder hadert der Befragte nach wie vor mit dieser Erfahrung ? Oder: Wie wird über eine berufliche Karriere gesprochen ? Tendiert die Befragte dazu, die verschiedenen Karriereschritte als gewissermaßen logische aufeinanderfolgende Schritte zu beschreiben, die sich wie von selbst ergeben haben ? Oder neigt sie eher dazu, ihren eigenen Willen zu betonen oder die Anstrengungen und Ent-behrungen in den Vordergrund zu stellen, die die berufliche Karriere ihr abver-langt haben ? Fragen wie diese geben Hinweise auf die Haltung des Befragten in der Gegenwart und seine biografi sche Gesamtsicht. Letztlich dienen sie dazu, zu analysieren, wie biografi sche Ressourcen refl exiv eingesetzt werden. Der nächste Analyseschritt, die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte, gibt uns weitere Antworten auf die Frage, wie sich die biografi schen Ressourcen ausgebildet haben, welche Erlebnisse in der Vergangenheit dazu führten, dass der Befragte heute so und nicht anders auf sein Leben blickt und diese ganz besondere Haltung sei-nem Leben gegenüber einnimmt. Die Frage nach der Erlebnisebene ist in Bezug auf die Frage nach biografi schen Ressourcen besonders wichtig, weil die objek-tiv betrachtet identische Situation von zwei Personen sehr unterschiedlich erlebt werden kann und daher in unterschiedlicher Art und Weise als biografi sche Er-fahrung abgelagert wird. Genau diese Unterschiede stehen im Zentrum, wenn es um die Frage geht, wie sich biografi sche Ressourcen ausbilden. Und es ist auch diese Frage, die bei der Typenbildung und theoretischen Verallgemeinerung wie-

Biografi sche Ressourcen 259

der in den Vordergrund rückt: Welche unterschiedlichen Formen von biografi -schen Ressourcen fi nden sich im Material ? Wie haben sich diese ausgebildet, wie kann ihre Genese erklärt werden ? Abschließend werden im folgenden Kapitel ei-nige Beispiele dafür gegeben.

6 Anstelle eines Schlusswortes: Biografi sche Ressourcen – Beispiele

Im Kontext der qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung taucht das Konzept der biografi schen Ressourcen auf, wenn unerwartete Bildungs- oder Be-rufsverläufe zu verstehen und zu erklären sind. Es geht damit nicht wie in anderen thematischen Zusammenhängen vornehmlich darum, Potenziale und Fähigkeiten von Personen zu erfassen und sie im Rahmen von Interventionen zu stärken. Viel-mehr stehen die Rekonstruktion von Bildungsprozessen und die Erklärung von Neuem im Zentrum.

Als ein Beispiel aus der qualitativen Arbeitsmarktforschung können die Arbei-ten von Kontos zur Erklärung der selbstständigen Erwerbstätigkeit von Migran-tinnen und Migranten genannt werden (Kontos 2000; 2001; 2003). Erklärungsbe-dürftig ist hier, warum sich bestimmte Migrantinnen und Migranten selbstständig machen, während andere, die über dieselben ethnischen oder sozialen Ressour-cen verfügen, eine Arbeit in abhängiger Position wählen. Die Analyse biografi -scher Interviews zeigt, dass viele dieser Selbstständigen Schulabbruch oder andere Brüche in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben, so dass sie mit vergleichsweise wenig formalen Bildungsabschlüssen ausgestattet sind. Gerade die Erfahrung die-ser biografi schen Brüche ist es aber, die Kontos als Quelle von Motivation identi-fi ziert, die letztlich zur Grundlage für das Selbstständigkeitsprojekt wird (Kontos 2000: 50).

Verschiedene Arbeiten haben sich mit ‚unerwarteten‘ Bildungsverläufen un-terschiedlicher Personengruppen beschäft igt. So haben etwa Juhasz / Mey (2003) Biografi en von Jugendlichen ausländischer Herkunft analysiert, die im Vergleich zu ihren Eltern eine soziale Mobilität vollzogen haben. Auch hier fand sich bei der Rekonstruktion der biografi schen Interviews ein Zusammenhang zwischen Kri-senerfahrungen und der Motivation, eine höhere Ausbildung zu absolvieren. Zu diesen Krisenerfahrungen gehörte beispielsweise eine (zu) frühe Übernahme von Verantwortung innerhalb der Familie. Dies zum Beispiel, weil die Eltern ganztags arbeiteten und die Kinder sich selbst überlassen waren, oder weil die Eltern, der Sprache der Aufnahmegesellschaft nicht mächtig, auf die Hilfe ihrer Kinder etwa bei Behördengängen angewiesen waren. Als weitere Krisenerfahrung kann die

260 Anne Juhasz Liebermann

Benachteiligung durch Lehrpersonen genannt werden, die die befragten Jugend-lichen auf ihre ausländische Herkunft zurückführten. Gerade daraus erwuchs oft die Motivation, eine höhere Ausbildung zu absolvieren, um zu beweisen, dass die Lehrperson mit ihrer Einschätzung der schulischen Leistungen und des Poten-zials eines Schülers falsch lag.

Als weiteres Beispiel kann auf ein aktuelles Forschungsprojekt zur Sozialisation von ‚benachteiligten‘ Jugendlichen hingewiesen werden (Zurstrassen / Juhasz 2011). In diesem Projekt soll untersucht werden, über welche biografi schen Ressourcen Jugendliche und junge Erwachsene verfügen, die gemeinhin als ‚bildungsfern‘ und ‚ressourcenarm‘ gelten. Erste Interviews zeigen, dass auch hier der Wunsch nach beruflicher Integration motiviert ist durch Krisenerfahrungen wie beispielsweise eine sehr frühe Mutterschaft und die damit verbundene frühe Übernahme von Verantwortung für andere.

Wie und unter welchen Umständen es dazu kommt, dass in einem Fall eine Krisenerfahrung einen Bildungsprozess befördert und ‚positiv‘ in die Biografi e integriert werden kann, in einem anderen Fall jedoch das genaue Gegenteil bewir-ken kann, müssen weitere Analysen zeigen.

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Anja Schröder-Wildhagen

1 Verlaufskurvenphänomene und Professionalisierung im Management

Weder die neuere wirtschaft ssoziologische Forschung noch die an Institutionen orientierte wirtschaft swissenschaft liche Forschung beziehen sich zur Erklärung des wirtschaft lichen Handelns noch ungebrochen auf das monologische Rationa-litätsmodell ökonomischen Handelns. So sind die Diskurse zu den Grenzen der vollinformierten rationalen Entscheidungsfi ndung (Simon 1979) sowie zur Unge-ordnetheit von Kommunikations- und Entscheidungsvorgängen in Organisatio-nen (Cohen / March / Olsen 1972) schon lange selbstverständlicher Bezugsrahmen. Auch wird die Bedeutung von Institutionen, verstanden als soziale Regelsysteme, für wirtschaft liche Handlungen anerkannt (Maurer 2008a). Klassische wie neuere Forschung zu kulturellen und sozialen Einbettungsstrukturen des wirtschaft lichen Handelns (Schumpeter 1987 [1934]; Polanyi 1977 [1944]; Schein 1992; Granovetter 1992; White 1992; Beckert 1997) zeigen schließlich, dass das Modell des methodo-logischen Individualismus die Bedingungen der wirtschaft lichen Handlungswirk-lichkeit nicht realistisch erfassen und erklären kann. Wirtschaft liches Handeln wird heute also unstrittig als sozial eingebettetes Handeln bzw. als „normales“ so-ziales Handeln in Institutionen verstanden (vgl. Schröder 2010: 430 – 433).

Was bisher allerdings nicht systematisch in der Th eoriebildung zu wirtschaft -lichen Aktivitäten berücksichtigt wurde, ist diejenige Seite der sozialen Reali-tät, die mit den Attributen des Unerwarteten, Widerständigen, Chaotischen und Emergenten1 zu beschreiben ist.2 Es sind die Wirklichkeitsaspekte von heterono-

1 Diesbezüglich wird auf die biografi sche Prozessstruktur der Wandlung angespielt, die ebenfalls eine chaotische Entfaltung haben kann (vgl. Schütze 1984: 92 – 95).

2 Wenige Ausnahmen sind biografi eanalytische Untersuchungen über Führungskräft e, die die so-ziobiografi sche und interaktive Konstitution des Managerhandelns sichtbar machen und damit auch seine fragilen sozialen Voraussetzungen (Nagel 2005; Schröder 2010; Domecka 2010).

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men Handlungsbedingungen und der Kreativitätsentfaltung (z. B. bei neuen Pro-duktentwicklungen), die eine intentionale Handlungssteuerung verhindern. Ins-besondere der erste Aspekt, die „dunkle“ Seite der sozialen Wirklichkeit, steht dem ökonomischen Rationalitätsmodell in seiner idealtypischen Formulierung begriff lich, aber vor allem kulturell-mental entgegen. Denn dass auch in der wirt-schaft lichen Arbeitssphäre Handlungspläne immer wieder scheitern, Störungen systematisch werden, Resignation und suboptimale Ausweichmanöver der Wirt-schaft sakteure zur Regel werden und Arbeitsprozesse lange Zeit unproduktiv ver-laufen, taucht im üblichen Sprechen und Nachdenken über das wirtschaft liche Handeln nicht auf. Diese Störphänomene scheinen auch nicht in das zweckratio-nal-strategische Handlungsmodell integrierbar zu sein. Für eine an der „ganzen“ Realität orientierte Th eoriebildung sind deshalb analytische Kategorien von nöten, die diese heteronom wirkende und chaotischere Seite der wirtschaft lichen Hand-lungs- und Arbeitswirklichkeit erfassen können. Hier kann die qualitative Sozial-forschung helfen. Denn sie hat eine Qualität sozialen Handelns ausgemacht, die nicht dem intentionalen Handlungsprinzip zugerechnet werden kann: das Er-leiden.

Die Beschäft igung mit dieser Erfahrungsqualität in der wirtschaft lichen Hand-lungssphäre steht im Zentrum des Artikels. Dazu werden zunächst die in der Bio-grafi eanalyse entwickelte theoretische Kategorie der Verlaufskurve des Erleidens sowie die zu seinem Verständnis notwendigen Elemente der interaktionistischen Th eorie, insbesondere der Professionstheorie, skizziert (1.1 bis 1.3). Sodann wird zu einer ersten Veranschaulichung von Verlaufskurvenerscheinungen im Ma-nagement ein Fallbeispiel präsentiert, das Störungen auf der Arbeitsebene und den Umgang eines Managers (des Personalmanagers Michael Richter3) mit den-selben zeigt (2.1). Anschließend werden verschiedene Verlaufskurvenphänomene und mit diesen verbundene professionelle Aufgabenstellungen konturiert, mit denen Führungskräft e in Großunternehmen heute konfrontiert sind (2.2). Hier-nach wird die gesamte berufsbiografi sche Entfaltung des Personalleiters Michael Richter nachgezeichnet (2.3). Dazu werden zentrale Stellen des autobiografi sch-narrativen Interviews mit dem Personalmanager sequenziell analysiert. Das Me-thodeninstrumentarium wie auch das Erkenntnispotenzial der Biografi eanalyse für die Untersuchung von Professionalisierungsprozessen und Verlaufskurven-erscheinungen bei Führungskräft en wird so sichtbar gemacht. Auf einer allgemei-neren Aussageebene werden alsdann zwei verschiedene Erscheinungsformen der Verlaufskurvenprozessstruktur in Managerbiografi en gezeigt (3). Zum Schluss des

3 Aus Gründen der Anonymisierung sind Namen im vorliegenden Beitrag geändert.

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Artikels folgt ein abschließendes Fazit zum Erkenntnispotenzial der Biografi e-analyse (4).

1.1 Verlaufskurven des Erleidens im Management

Wie erwähnt, kennt die qualitative Sozialforschung, die soziale Prozesse in ihrer sequenziellen Entfaltung untersucht, eine Erfahrungsqualität des Erleidens (vgl. Strauss / Corbin 1978; Schütze 1999a, 2001). Erleiden stellt das Gegenprinzip zum intentionalen Handeln dar. Letzteres wird in der Regel als Grundmodus des sozia-len Handelns angenommen. Mit der theoretischen Kategorie der „Verlaufskurve des Erleidens“, die in der Biografi eforschung zur analytischen Beschreibung von spezifi schen biografi schen Prozessen entwickelt wurde, wird ein Modus nur noch konditionellen Reagierens erfasst. In diesen Reaktionsmodus geraten Menschen, wenn sie aufgrund strukturell widriger (äußerer) sozialer und (innerer) biogra-fi scher Bedingungen in einen Zustand des Getrieben-Seins geraten (vgl. zu die-ser Kategorie: Riemann / Schütze 1991; Schütze 1999a). Beispielsweise kann die Fä-higkeit, intentional und gestaltend zu agieren, bei einer Personalmanagerin zum Erliegen kommen, wenn Belegschaft seinheiten aus zwei verschmolzenen Unter-nehmen gegeneinander arbeiten und die Versuche der Personalleiterin, die Kon-fl iktparteien zur Kooperation zu bewegen, fortlaufend fehlschlagen. Noch widriger wird die Lage der Personalmanagerin, wenn zugleich Vorgesetzte unnachgiebig Handlungserfolg anmahnen. Infolgedessen kann die unter Druck geratene Per-sonalmanagerin, die Arbeitserfolge vorweisen soll, kaum mehr ein besonnenes, perspektivenvermittelndes Vorgehen in der Konfl iktbearbeitung durchhalten. Dadurch aber werden die Widerstände bei den Konfl iktparteien erneut befeuert. Eine solche brisante soziale Situation, in der betriebliche Konfl iktparteien wech-selseitig Blockadehaltungen einnehmen und schuldzuweisende Interpretations-linien entwickeln, wirkt stark entmutigend auf die Personalmanage rin. Sie erfährt sich zunehmend als gestaltungsohnmächtig und wird zur Getriebenen in einem kaum mehr zu kontrollierenden Konfl ikt.

In Bezug auf die Arbeit von Managern und Managerinnen, denen Mitarbei-ter und Mitarbeiterinnen anbefohlen sind, sind Phänomene des Erleidens auf verschiedenen Ebenen feststellbar: Auf einer ersten Ebene wird die Mitarbeiter-schaft von Verlaufskurven des Erleidens betroff en. Insbesondere bei betriebli-chen Strukturveränderungen, die sich auf die Organisation und Defi nition von Arbeitsprozessen auswirken, werden leicht biografi sche und kollektive Relevan-zen der veränderungsbetroff enen Mitarbeiterschaft (z. B. im Arbeitsvorgehen, der

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thematischen Ausrichtung, der beruflichen Orientierung, u. Ä.) verletzt. Solche Verletzungs- und damit verbundene Enttäuschungserfahrungen können die Mit-arbeiter und Mitarbeiterinnen tiefgehend in ihrer berufsbiografi schen Orientie-rung erschüttern und sie auf Arbeitsanforderungen kritisch-ablehnend, resigniert oder gar demoralisiert-unzugänglich reagieren lassen. Auf einer zweiten Ebene

– der Ebene des Arbeitsbogens4 – verlieren die personal- und entscheidungsver-antwortlichen Führungskräft e einen kontrollierenden Zugriff auf die Arbeitsstö-rungen, die auf den Ebenen der Dynamik von sozialen Beziehungen und bio-grafi schen Entwicklungen anwachsen. Interventionen der Führungskräft e, die die Fallbedingungen verkennen, verstärken dann die Erleidensprozesse und Arbeits-störungen. Verbunden mit der so beförderten Konfl ikteskalation baut sich drit-tens – auf der Ebene der biografi schen Entfaltung – auch bei den verantwortlichen Managern und Managerinnen ein Verlaufskurvenpotenzial auf. Denn angesichts des Kontrollverlusts kann bei den leitenden Wirtschaft sakteuren das psychisch belastende Gefühl anwachsen, an den Ansprüchen eines gestaltenden Manage-ments zu versagen. Daraus kann bei ihnen Resignation gegenüber den mit sozia-ler Verantwortung verbundenen beruflichen Aufgaben oder gar kühle Indiff erenz gegenüber erleidensbetroff enen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hervorgehen.

Genereller gesagt, können prinzipiell alle biografi sch relevanten Erfahrun-gen mit Irritations-, Verletzungs- und Enttäuschungsgehalten, die die Erwartun-gen des Individuums konterkarieren, Verlaufskurven des Erleidens befördern. Wird das Erleiden im Leben eines Menschen dominant, fühlt er sich angesichts fehlschlagender Kontroll- und Stabilisierungsversuche zunehmend handlungs-unfähig. Verlaufskurvenfördernd wirkt sich dabei insbesondere der Umstand aus, dass die Problemlösungsversuche die ursächlichen und aufgeschichteten Fallbe-dingungen nicht tangieren (z. B. im obigen Beispiel das Fehlen von Aushandlun-gen bei einer betrieblichen Neustrukturierung und das Schweigen über damit einhergehende Veränderungen von Entscheidungsmacht). Haben die verantwort-lichen Führungskräft e kein Wissen von den fallspezifi schen Entstehungs- und

4 Mit dem Arbeitsbogenkonzept („arc of work“) wurden von Anselm Strauss und seinen Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern verschiedene Arbeitsdimensionen (Artikulationsarbeit, Gefühls-arbeit, Inhalts- und Evaluationsarbeit) entwickelt, die wesentliche Voraussetzungen der pro-fessionellen, am Klientenwohl orientierten Arbeit sind (vgl. Strauss et al. 1985: 151 ff.). So zeigt beispielsweise die Einrichtungskomponente des Arbeitsbogens bzw. die Artikulationsarbeit, dass Arbeitsschritte an sich verändernde Situationsbedingungen in der Fallbearbeitung anzupassen sind. Insbesondere wird auch die soziale Komponente der Arbeit, z. B. die Herstellung von Ver-trauen zwischen Klient und Professionellem, als konstitutiv für professionelle Tätigkeiten her-vorgehoben. Siehe zum ‚arc of work‘ auch den Beitrag von Kirstin Bromberg in diesem Band.

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Dynamisierungsbedingungen solcher Verlaufskurvenerscheinungen, sind sie den Eskalations- und Niedergangsbewegungen solcher Arbeitsstörungen wie auch ei-genen Arbeitsschwierigkeiten hilflos ausgeliefert.

1.2 Der biografi eanalytische Zugang zu Verlaufskurvenphänomenen

Die Biografi eforschung ermöglicht es, Phänomene des Erleidens in Arbeitsprozes-sen und den Biografi en von Managerinnen und Managern analytisch zu erfassen. Zu diesem Zweck sind insbesondere autobiografi sch-narrative Stegreiferzählun-gen als empirische Grundlage geeignet, denn sie umfassen dichte Beschreibungen von Ereignissen, die für die Entfaltung von Lebensgeschichten und Arbeitspro-zessen relevant sind. Grundsätzlich kennzeichnend für das autobiografi sche Steg-reiferzählen ist, dass ein Erzähler bzw. eine Erzählerin die Ereignisse in einer se-quenziellen Geordnetheit präsentiert. Diese Geordnetheit ist zum einen Ausdruck der früheren Entfaltungshistorie des Geschehens; sie ist zum anderen Ausdruck der Erzähllogik der autobiografi schen Rekonstruktion, denn der Erzähler bzw. die Erzählerin orientiert sich beim Schildern seiner bzw. ihrer Lebensgeschichte oder eines länger gespannten Arbeitsprozesses an konkreten Elementen, genannt „ko-gnitive Orientierungsfi guren“ (Schütze 1984). Sie geben der Stegreiferzählung eine formale Ordnung und machen damit die Erzählung auf systematische Weise ana-lysierbar (vgl. zum Aufbau von Stegreiferzählungen und zu den nachfolgenden Ausführungen zu Erzählsegmenten: Schütze 2008, Teil 1: 225 – 239).

Eine erste Orientierungsfi gur für den Erzähler bzw. die Erzählerin ist die Kette von Erfahrungen und Ereignissen, die geschildert wird. In dieser verkettenden Darstellung wird deutlich, welche Ereignisse für nachfolgende konditionell rele-vant sind. Ereignisse, die eine eigenständige Erfahrungsqualität für den Erzäh-ler bzw. die Erzählerin (oder einen anderen Ereignisträger, über den berichtet wird) besitzen, werden in einem Erzählsegment, der narrativen Einheit, präsen-tiert. Eingeleitet wird ein Erzählsegment durch ein so genanntes Rahmenschalt-element: Dabei handelt es sich in der Regel um eine Markierung wie „und dann“. Die Erzähleinheit besteht dann aus mindestens einem Erzählgerüstsatz mit bi-nomischem Charakter, d. h. der Erzähler bzw. die Erzählerin berichtet von einem äußeren Ereignis (z. B. einer betrieblichen Umstrukturierung) im Zusammenhang mit einem sozialen oder biografi schen Prozess (z. B. seinem Berufseinstieg), der einen Zeitraum von „vorher“ und „nachher“ umfasst. Dabei drückt der Erzähler bzw. die Erzählerin in Verbindung mit dem geschilderten Ereignis auch eine Ver-änderung seines bzw. ihres inneren Zustands aus.

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Jede elaborierte Erzähleinheit enthält detaillierende Textpassagen (erzählende, beschreibende oder argumentative). In diesen schildert der bzw. die Erzählende zentrale Episoden, die den angekündigten Sachverhalt weiter erhellen. Eine wich-tige formale Figur in den narrativen Einheiten sind dabei so genannte „Hinter-grundskonstruktionen“ (Schütze 1984: 97). In ihnen werden belastende, mitunter auch traumatische Erfahrungen präsentiert, die er bzw. sie in vorangegangenen Ereignissen auszublenden versucht hat. Ihre Analyse ist oft mals besonders auf-schlussreich für das Prozessverständnis. Schließlich endet eine entwickelte Erzähl-einheit mit einem argumentativen biografi schen Kommentar, in dem der Erzähler bzw. die Erzählerin biografi sche Entwicklungen plausibel macht, (selbst-)kritisch betrachtet oder legitimiert. Auch fi nden sich dort Zusammenfassungen, abstrakte Kategorisierungen der Ergebnisse, refl ektierende Einschätzungen sowie Bewer-tungen der jeweiligen sozialen Prozesse.

Über der Ebene der einzelnen Erzähleinheit ist die Erzählung durch sogenann-te supra-segmentale Einheiten strukturiert: durch die biografi schen Prozessstruk-turen. Auf der Grundlage einer Vielzahl empirischer Analysen von Biografi en wurden vier biografi sche Prozessstrukturen festgestellt: die (bereits dargestellte) Verlaufskurvenprozessstruktur des Erleidens, die Wandlungsprozessstruktur, das Handlungsschema und die Prozessstruktur der Orientierung an institutionellen Ablaufmustern. Auch diese vier biografi schen Prozessstrukturen stellen als „ge-nerelle Erfahrungsprinzipien“ (Schütze 1984: 92) Ordnungsgesichtspunkte für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte dar. Während das Handlungsschema und die Wandlungsprozessstruktur ihren Ausgangspunkt in Impulsen der Ich-Identität haben und mit einem Kreativ-Werden der Selbstidentitäten der Prozess-betroff enen verbunden sind, wirkt die Prozessstruktur der Orientierung an in-stitutionellen Ablaufmustern zunächst neutral auf das Identitätserleben. Gleich-wohl kann dann, wenn die institutionellen Erwartungen nicht erfüllt werden, bei dem betroff enen Menschen eine Verlaufskurve des Erleidens ausgelöst werden (vgl. ebd.). Das Wirksamwerden einer Prozessstruktur der Verlaufskurve des Er-leidens wird in einem autobiografi sch-narrativen Interview etwa wie folgt einge-leitet: „Bis dahin lief alles noch ganz gut, aber in der neuen Position fühlte ich mich plötzlich überfordert …“. Auch in den ergebnissichernden Passagen der übergrei-fenden Segmente wird die spezifi sche biografi sche Prozessstruktur, z. B. der Er-leidenscharakter, noch einmal semantisch deutlich (z. B. „Das war wirklich eine freudlose Zeit …“). Ein weiteres Element, an dem sich der oder die Erzählende in der Rekonstruktion der eigenen Geschichte orientiert, sind die sozialen Rahmen, in denen sich die Lebens- bzw. Arbeitsprozesse entfalten, z. B. in Interaktionssitua-tionen, sozialen Beziehungen, sozialen Netzwerken, sozialen Welten, u. Ä. (vgl.

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ausführlich: Schütze 1984; Schröder 2010: 122 – 131). Die Analyse der sozialen Rah-men ist von Bedeutung für das Verständnis der Reaktions- und Handlungsbedin-gungen des Erzählers bzw. der Erzählerin. Schließlich ist deren autobiografi sche Selbst-Th ematisierung, d. h. die selbsttheoretische Sicht auf die Ereignisse des ei-genen Lebens, eine wichtige kognitive Figur.

Die autobiografi sche Stegreiferzählung weist also konkrete formale und in-haltliche Strukturen der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion auf. Dass die bio-grafi sch relevanten Ereignisse überhaupt ausreichend geschildert werden, liegt am Wirken von Zugzwängen im Stegreiferzählen. Sie veranlassen den Erzähler bzw. die Erzählerin dazu, seine bzw. ihre Lebensgeschichte oder einen Arbeitsprozess in seiner ganzen Gestalt zu entfalten. Es sind dies die Zwänge zur Kondensierung der relevanten Ereignisse, zum Schließen von eröff neten Erzählgestalten und zur ausreichenden Detaillierung und Plausibilisierung von Ereignissen. All diese Er-zeugungsregeln, die beim autobiografi schen Stegreiferzählen wirksam werden, er-möglichen auf Forscherseite die Identifi zierung der strukturellen Merkmale der Aktivitäten und Reaktionen der Erzählenden. Sie umfassen auch die eigene Th eo-riebildung in Bezug auf das Verhalten und die biografi sche Entfaltung sowie die sozialen Kontexte, die jemanden motivieren oder auch zwingen zu (re-)agieren. Verlaufskurven des Erleidens können so detailliert in ihren jeweiligen Phasen und konstitutiven Bedingungen rekonstruiert werden.

1.3 Interaktionistische Professionssoziologie und wirtschaftliches Handeln

Die interaktionistische Soziologie hat insbesondere bei der Erforschung von Ar-beitsprozessen durch Angehörige der Professionen (z. B. im Medizinbereich) ei-nen Fokus auf die „chaotische“ Seite des sozialen Handelns gelegt. Sie hat das Emergente, Fehlerhaft e und generell das eher Hintergründige in sozialen Prozes-sen in den Blick genommen, das die „gute“ Handlungsplanung ruiniert und Ar-beitsprozesse chaotisch werden lässt (vgl. Hughes 1965; Strauss 1985). Während Professionalisierung in einem alltagssprachlichen Verständnis zumeist als routi-nierte Expertenhaft igkeit gilt, werden in der Chicagoer Soziologietradition vor allem die interaktionale Dimension der professionellen Arbeit und die Verant-wortung des Professionellen gegenüber dem Klienten als Defi nitionsgrundlage und Analysefokus bestimmt (z. B. Hughes 1965; Strauss et. al. 1985; Schütze 1999b). Es wird in der interaktionistischen Th eoriebildung davon ausgegangen, dass das professionelle Handeln auf den Schutz wertvoller gesellschaft licher Güter ausge-richtet ist. In der unmittelbaren Interaktion ist das Handeln der Professionellen

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– zumindest dem Prinzip nach – am Wohl ihrer Klienten orientiert (vgl. Schütze 1999b: 190 – 192).

Deshalb ist die Analyse von professionellen Arbeitsabläufen wie auch von Professionalisierungsprozessen in der interaktionistischen Th eorie auch von der Einsicht motiviert, dass die Klienten die von den Professionellen vorgenomme-nen Aktivitäten oft mals als existenziell bedeutsam erleben (so der Patient eines Herzchirurgen; die auf ihren Anwalt angewiesene Mandantin; der bei einem So-zialarbeiter Hilfe suchende suchtabhängige Mensch, u. Ä.). Dazu nimmt die in-teraktionistische Professionstheorie in der Analyse die soziale und interaktive Konstitution von professionellen Arbeitsprozessen und Professionalisierungspro-zessen zu ihrem Ausgangspunkt. Es geht um die Untersuchung von Entfaltungs-qualitäten, Kreativitäts- und Kompetenzentwicklungen, aber auch von Störungen und Arbeitsschwierigkeiten in der professionellen Praxis und der biografi schen Professionalisierung.

Ein solches existenzweltlich-altruistisches Verständnis von professionellem Handeln scheint zunächst in einem deutlichen Widerspruch zu dem in der Welt der Wirtschaft institutionalisierten strategischen Handlungsmodell individuel-ler Nutzenmaximierung zu stehen. Aber: Analysen von Managerbiografi en und Falldarstellungen zeigen, dass das Management sicherlich nicht als eine „echte“ Profession wie diejenige der Medizin oder wie die der juristischen Berufe (z. B. Parsons 1968; Oevermann 1999) verstanden werden kann. Denn anders als in die-sen Professionen ist ein Hilfe-Auftrag der Manager und Managerinnen gegenüber einer spezifi schen Klientel nicht – im Sinne Parsons (1964: 166 – 168) – der institu-tionell geprägte Kern ihrer Arbeitsleistungen. Dies darf aber den Blick nicht dafür verschließen, dass im Management „quasi-professionelle“ Leistungen erbracht werden, die am Wohl einer „Quasi-Klientel“, den anbefohlenen Mitarbeitern, aus-gerichtet sind: etwa dann, wenn sich eine Personalmanagerin auch gegen Wider-stände von hierarchisch hochgestellten Führungskräft en für den Verbleib eines Mitarbeiters im Unternehmen engagiert, der aus dem Betrieb gedrängt werden soll. Oder wenn es einem Produktmanager gelingt, dass ein demoralisierter Ar-beitsbereich, den Führungskräft e über mehrere Jahre nur als Karrieresprungbrett benutzt und dessen Leistungspotenziale sie ausgepresst haben, wieder auf den Führungszirkel zu vertrauen beginnt. In diesem Sinne sozial orientierte, quasi-professionelle Leistungen, die auf einen individuellen oder auch einen kollektiven Quasi-Klienten ausgerichtet sind, erweisen sich vielfach als konstitutiv für wirt-schaft liche Arbeits- und Handlungsprozesse (vgl. Beckert 1997; Schröder 2010).

Fallanalysen von Managern und Managerinnen machen deutlich, dass das wirtschaft liche Handeln wie jedes andere soziale Handeln in Institutionen an

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grundlegende Prinzipien bzw. Basisregeln der Interaktion gebunden ist: an Ko-operationsleistungen, Interaktionspostulate und Idealisierungen der Beziehungs-reziprozität (vgl. grundlagentheoretisch: Schütz 2003: 152 f.; Mead 1998 [1934]: insbes. 177 – 186; Schütze 2001: 156 – 172; vgl. in Bezug auf Management: Schröder-Wildhagen 2011). Generell gesagt, gehört zu diesen Basisregeln sozialen Handelns beispielsweise, dass Interaktionspartner Perspektiven und Bedeutungszuschrei-bungen hinsichtlich des Interaktionsgegenstands als miteinander gemeinsam teilbar annehmen und dies ggf. auch explizit thematisieren, selbst wenn deren Gemeinsamkeit empirisch-faktisch (noch) nicht erwiesen ist. Von Bedeutung für das Gelingen der Interaktion ist deshalb, dass durch die Aktivitäten, die die Interak tionspartner wechselseitig aneinander ausrichten, die Kooperationsbasis zwischen ihnen aufgebaut und erhalten wird. Erst auf dieser sozialen Grundlage können Handlungsschemata kooperativ und Schritt für Schritt umgesetzt werden. Nach diesen allgemeineren Darstellungen möchte ich nun mit einem Beispiel-fall die Verlaufskurvenproblematik auf Arbeitsebene und sequenzielle Analyse-schritte zeigen.

2 Der Fall des Personalmanagers Michael Richter: Ein Beispiel für Verlaufskurvenphänomene

Dynamische Umbauten in Unternehmen, die im Kontext des globalisierten Mark-tes und seiner enormen Konkurrenz-, Flexibilisierungs- und Erfolgsdrücke, ver-stärkt durch den Einfl uss von Finanzmärkten (z. B. Dobbin / Zorn 2005; Windolf 2005), seit den 90er Jahren fortlaufend stattfi nden, wirken sich immer wieder kri-senhaft auf Arbeitsprozesse in Unternehmen wie auch auf Karriereentwicklungen bei Belegschaft smitgliedern und Führungskräft en aus (z. B. Faust 2002; Dörre /Neubert 1995; Dörre 2003; Schröder 2010: insbes. Kap. F). Besonders augenf ällig ist ein Erratisch-Werden von organisationalen Prozessen. So werden Investitions-vorhaben mit langfristig angelegten Projekten bei Produkten, die mehrjährige Innovationszyklen haben, wie auch über viele Jahre gewachsene Betreuungsver-hältnisse zwischen Belegschaft und Führungskräft en durch Umbrüche in Unter-nehmen strukturell gefährdet. Der Verlaufskurvencharakter dieser Entwicklun-gen zeigt sich in schleichend wie eskalativ verlaufenden Arbeitsstörungen, die für die Betroff enen (meist Belegschaft smitglieder, aber auch Führungskräft e) mit Verlusterfahrungen verbunden sind. Verloren gehen Identifi kationsgrundlagen wie traditionelle Arbeitsauffassungen und Th emenbezüge, verlässliche und ver-trauensbegründete Arbeits- und Betreuungsbeziehungen, gewachsene Entschei-

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dungsstrukturen und Motivationsgrundlagen; Erwartungs- und Planungssicher-heit brechen weg.

Die professionellen Aufgabendimensionen in verschiedenen Management-bereichen (insbesondere in den interaktionsintensiven Managementbereichen Personalwesen und Produktentwicklung5) umfassen deshalb zunehmend die Be-arbeitung von gestörten Handlungs-, Interaktions- und Biografi eprozessen, die wieder produktiv werden sollen. Am folgenden Fallbeispiel des Personalmanagers Michael Richter soll dies nun veranschaulicht werden.

2.1 Verlaufskurvenphänomene im Arbeitsprozess

Der Werkspersonalleiter Michael Richter6 ist zum Zeitpunkt des Interviews in einem Unternehmen in der Kraft fahrzeugindustrie (in Deutschland mit über 10 000 Mitarbeitern) tätig und 40 Jahre alt. Er berichtet von einem Fall aus seiner beruflichen Praxis,7 bei dem es im Kern darum geht, einen langjährigen Mitarbei-ter des Unternehmens zur Kooperation zu bewegen. Michael Richter (im Folgen-den „E“) beginnt mit der Schilderung dieses Falls bzw. Arbeitsprozesses8 wie folgt:

I: [Stimulus zur Falldarstellung] Könnten Sie da mal so einen Fall erzählen (?)E: (4 Sek.) [Erzählgerüstsatz] Ja es gibt / hier zum Beispiel in der Abteilung gibt es Refe-

renten, die inzwischen schon- ich sag mal, es gab einen / es gibt andere, da ist das nicht so stark ausgeprägt, es gab einen .. der inzwischen nicht mehr da ist / inzwischen er-setzt ist. /

5 In beiden Managementbereichen sind zentrale Aufgaben wie die Kreativitätserzeugung und Be-ziehungsgestaltung ihrer strukturellen Verfasstheit und Zielstellung nach – wie dies für professio-nelle Berufe charakteristisch ist – auf andere Menschen gerichtet. Deshalb sind sie für die Unter-suchung des professionellen Managerhandelns besonders geeignet (vgl. Schröder 2010: 329 – 423)

6 Das Interview mit dem Werkspersonalleiter Michael Richter führte ich im Rahmen meiner Dis-sertationsforschung (Schröder 2010). Im Anschluss an das autobiografi sch-narrative Interview, in dem Michael Richter seine Lebensgeschichte erzählte, schilderte der Personalmanager diesen Fall aus seiner Personalbetreuungspraxis.

7 Das Interview wurde nach folgenden Transkriptionsregeln verschrift licht: I:Interviewerin, E:Erzähler / in, / kurze Pause, .. 2 Sek. Pause, … 3 Sek. Pause, (x Sek.) x Sek. Pause, ( ) unverständ-licher Wortlaut, (abc) Versuch, Wortlaut wiederzugeben, - Satz- bzw. Wortabbruch, Selbstkor-rektur, ((fl üsternd)) parasprachliche Merkmale des Erzählens. In der Transkription wurden zur besseren Lesbarkeit Satzzeichen eingefügt. Ansonsten wurde versucht, den Erzählduktus des In-formanten beizubehalten.

8 Weitere methodische Ausführungen zu den Schritten der sequenziellen Analyse erfolgen bei der anschließenden Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählung.

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[Narrative Detaillierung, 1. Teil] Der nen stark, ich sag mal, nen unheimlich routinier-ten und strukturierten Arbeitsstil hatte. / Was aber zur Folge hatte, dass Kundenorien-tierung oder Dienstleistungsorientierung bei ihm ((länger einatmend)) ich sag mal, sehr gering ausgeprägt war. / Der hat unheimlich viel bewegt. / Aber immer nur, ich sag mal / in den Bahnen ehm die er kannte. .. Und er war nicht nicht bereit, jetzt seit zweieinhalb Jahren da in irgendeiner Form hinzuzulernen und (daran) bin nicht nur ich gescheitert, da ist mein Vorgänger dran gescheitert ((stark einatmend)). / Ne ziem-lich starke Persönlichkeit. / Der sagt: Ich arbeite / weil das halt dazu gehört. Ich brauch es fi nanziell eigentlich nicht. / Und ich arbeite so, dass ich nach 35 Stunden hier raus-gehe / meinen Job gemacht habe und dann kümmer ich mich um die Dinge, die mich interessieren.

I: [Frage, Unterbrechung der Narration] Das hat er auch so eh präsentiert(?)E: [Fremdausgelöste weitere argumentative Detaillierung, 2. Teil] Ehm / der ist mit Vorge-

setzten umgegangen, da hat man hinterher dagesessen und (gedacht): So nicht. I: hmE: [Weitere narrative Detaillierung] Aus den und den Gründen, und ich erwarte, dass das

in Zukunft anders läuft . .. Ja haben wir auch Konsens gefunden. / Beim nächsten Mal lief das auch nen bisschen besser und beim übernächsten Mal lief das wieder anders. / So das wir irgendwann gesagt haben: ‚Also komm, jetzt fi nden wir ne vernünft ige Re-gelung.‘ Und dann- / es hat ihm auch zum Schluss keinen Spaß mehr gemacht / weil er auch gemerkt hat, dass er dass er immer wieder / ehm Gegenwind bekommt.

I: hm E: [Ergebnissicherung, Argumentation] So ehm ich hätte ihn gerne bewegt .. dass er sich

ändert und dass er hier bleibt. / Weil er auch unheimlich Erfahrung hat .. Mitarbeiter kennt und und und / jetzt hab ich ne andere Lösung, mit der ich mindestens genauso zufrieden, als wenn ich ihn bewegt hätte. [Abschließender biografi scher Kommentar] / Nur / bezogen auf die Person .. bin ich halt gescheitert.

I: [Nachfrage] hm … Und was heißt das jetzt, dass er sich so in seinen Feldern bewegt hat. / Also ich kann mir das nicht so vorstellen.

E: [Argumentative Detaillierung] Eh gut wenn Sie sich vorstellen, dass Mitarbeiter auf auf meine Mitarbeiter zukommen / dann erwart ich, dass (sich) meine Leute in einem, ich sag mal, einigermaßen akzeptablen Ton mit denen umgehen. / Dass sie irgendwo sicht-bar machen, dass sie bereit sind, sich mit dem Anliegen der Leute beschäft igen, dass sie sich damit beschäft igen / dass sie ne Lösung fi nden. […] Alles was aus seiner Rou-tine rauslief, ihm zusätzliche Arbeit gemacht hätte, das hat er versucht abzubügeln. […] Ehm / und / wir leben ich sag mal ja in so nem Spannungsfeld / zwischen auf der ei-nen Seite hoheitlichen Aufgaben. / Ich muss auf bestimmte Dinge achten. Ob das Ein-haltung von Arbeitszeitgesetz ist, ob das Betriebsvereinbarungen sind, ob das / ehm /

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Dinge sind, die im disziplinarischen Bereich oder was auch immer liegen. / Irgendwo haben wir- hat die Personalabteilung da ne hoheitliche Funktion. .. Auf der anderen Seite haben wir ne Dienstleistungsfunktion. / Und ne Balance zu fi nden zwischen die-sen beiden / die sich durchaus manchmal ins Gehege kommen, die Funktionen. / Das ist nicht einfach. Und für ihn war das ganz klar. / Da war der Schwerpunkt auf der ho-heitlichen Seite. Und damit kann ich keine Personalbetreuung machen. / Da hat sich dann die Katze irgendwo in Schwanz gebissen / ne (?)(Interview Michael Richter, im Originaldokument: 22:10 – 23:18)

Mit Blick auf die Art und Weise, in der der Personalmanager das Fallproblem skizziert, ist Folgendes festzustellen: Zu Beginn des Erzählsegments (Z. 2 – 5) kün-digt Michael Richter die Schwere des Fallgeschehens implizit an. Er erklärt, dass der betreff ende Mitarbeiter, um den es in dem Arbeitskonfl ikt ginge, „inzwi-schen ersetzt“ (Z. 4 f.) worden sei. An dieser Stelle ist bereits inhaltlich der ten-denziell technizistische Ausdruck „ersetzt“ auffällig. Durch diesen Wortgebrauch de fokussiert Michael Richter sprachlich die existenzweltliche Bedeutung des Arbeitsplatzverlustes für den betroff enen Arbeitnehmer. Zudem fällt an der ein-führenden Fall beschreibung Michael Richters erzählformal auf, dass der Erzähl-modus gerafft ist, d. h. es werden kaum und erst auf Nachfrage Details des Falls geschildert. Dieser Erzählmodus zeigt an, dass sich der Personalmanager zwar prinzipiell darauf einlässt, von einem Fall aus seiner Arbeitspraxis zu berichten. Zugleich aber versucht er, einer am damaligen konkreten Ablauf der Ereignisse orientierte Erzählung auszuweichen. Dieser Umgehungsversuch ist auch inhalt-lich zu erkennen, als Michael Richter die Fallproblematik bereits zu Beginn der detaillierenden Darstellung (Z. 6 f.) ursächlich zu erklären versucht. So meint der Werkspersonalleiter, dass der „routinierte“ und „strukturierte“ Arbeitsstil des in Rede stehenden Personalreferenten Grund für die Konfl iktentfaltung gewesen sei. Widersprüchlich zu dieser Kategorisierung ist allerdings, dass Michael Richter zwar einen Mangel an Lern- und Veränderungsbereitschaft auf Seiten des Ar-beitnehmers feststellt, andererseits aber erklärt er fast euphorisch, dass der Ar-beitnehmer besonders leistungsfähig und kreativ gewesen sei. Hier stellt sich die Frage, was die Gründe dafür sind, dass ein nach Aussage des Personalmanagers erfahrener und leistungsfähiger Mitarbeiter plötzlich extrem widerständig re-agiert und schließlich sogar seinen Arbeitsplatz verliert.

Festzuhalten ist bis hierhin, dass der Personalmanager zunächst keine fall-adäquate Betrachtung vornimmt, in der er das Fallgeschehen mit Blick auf den sozialen Kontext des Arbeitsumfelds analysieren und präsentieren würde. Die Nachfrage der Interviewerin macht deutlich, dass Michael Richter die Wider-

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standsreaktionen seines Mitarbeiters in dessen Person begründet und einem Ver-halten geschuldet sieht, nicht von der Routine ablassen zu können und Mehrarbeit vermeiden zu wollen. Der Personalmanager setzt das Verhalten seines Mitarbei-ters also nicht in den von ihm selbst – wenn auch implizit – erwähnten Zusam-menhang einer grundlegend veränderten Aufgabenstruktur in der Personalabtei-lung, die ihre frühere quasi-hoheitliche Entscheidungsmacht verloren und sich nun als eine am „Kunden“, den Betriebsangehörigen, dienstleistungsorientierte Abteilung zu präsentieren hat. Dass mit diesem Aufgaben- und Mentalitäts wandel im Personalwesen auch das berufliche Selbstverständnis der Personalfachleute grundlegend berührt wird, thematisiert der Personalmanager nicht (dazu im Fol-genden mehr).

Zudem fällt auf, dass Michael Richter keine persönliche Verantwortung für das Scheitern in dem Konfl ikt übernimmt. Obwohl es ihm nicht gelingt, den Ar-beitnehmer zur Mitarbeit zu bewegen und ihm wieder eine Identifi kationsbasis mit dem Unternehmen zu ermöglichen – das formuliert Michael Richter als ei-genen professionellen Anspruch –, fehlt professionelle Selbstrefl exion, insbeson-dere die Fehlersuche im eigenen Handeln. Das zeigt sich auch in der Ergebnis-sicherung des Erzählsegments. Dort stellt Michael Richter sein Scheitern am Fall mit dem Scheitern seines früheren Vorgesetzten in einen Erklärungszusammen-hang. Dadurch weist der Personalmanager die Verantwortung für den widrigen Verlauf des Konfl ikts dem aus seiner Sicht unkooperativen Arbeitnehmer zu. Zu erwähnen ist schließlich auch, dass der Personalmanager in der Bearbeitung des Konfl ikts an der Vorstellung orientiert handelt, ein konformes Verhalten des Per-sonalreferenten mit den Erwartungen der Unternehmensleitung (die eine dienst-leistungsorientierte Personalabteilung haben will) zu befördern.

Verallgemeinernd kann man sagen, dass der Konfl ikt des Personalmanagers mit seinem Mitarbeiter auf einer Mikroebene zeigt, wie die moderne Dienstleis-tungsorientierung in Unternehmen das Personalwesen unter erheblichen Recht-fertigungsdruck setzt. Personalreferenten sehen sich demnach zunehmend in die Rolle eines (unkritischen) Dienstleisters gezwungen, in der ihre unabhängige Ex-pertise kaum mehr gefragt ist. Ein solcher Veränderungs- und Legitimationsdruck lastet nicht nur auf dem betreff enden Mitarbeiter, sondern zweifelsohne auch auf Michael Richter selbst. Er macht es ihm schwer, in dem Arbeitskonfl ikt eine re-fl exive Distanz zu seiner Rolle als hochgestellter Personalmanager einzunehmen, der die Arbeitgeberseite des Unternehmens repräsentiert und neue Richtlinien umsetzen muss. Michael Richter ist in dieser Situation in der Paradoxie des Ad-ressatendilemmas gefangen: Er muss sich bei der Betreuung des Personals einer-seits an den Organisationshandlungsschemata des Unternehmens orientieren und

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eine Dienstleistungsorientierung durchsetzen; auf der anderen Seite – und diese Anforderung blendet Michael Richter tendenziell aus – besteht die Anforderung an ihn, die Legitimität der neuen Arbeitsanforderungen an den Personalbereich zu durchdenken, Gestaltungsmöglichkeiten zu eruieren und die Betreuungs- und Vertrauensverhältnisse zu den Mitarbeitern im Personalbereich zum Erhalt pro-duktiver Arbeitsbeziehungen zu schützen (vgl. Schröder-Wildhagen 2011). Dies gilt zumindest dann, wenn die Identifi kation der betrieblichen Mitarbeiter mit ihren Aufgaben und dem Betrieb erhalten werden soll.

Der zweite Teil des Erzählsegments (Z. 18 – 32) wird durch eine Nachfrage der Interviewerin zum Verhalten des Mitarbeiters ausgelöst, woraufhin der Personal-manager von einer off en-widerständigen Verhaltensweise des Mitarbeiters berich-tet. Hier macht nun der Erzählablauf deutlich, dass die Strategie Michael Richters, den Arbeitnehmer zu engagierter Mitarbeit und zur Anpassung an die Unterneh-mensmaximen aufzufordern, an den dynamischen Bedingungen der Fallentfal-tung vorbeigeht. So verweigert sich der zur Raison gerufene Mitarbeiter erneut den Anforderungen. Diese soziale Eskalation ist Ausdruck einer Verlaufskurven-entwicklung auf Seiten des Mitarbeiters, der sich nun Änderungsaufforderungen entzieht. Auf diese Fallkomplikation fi ndet der Personalmanager mit seinen ratio-nalistischen Appellen keinen Zugriff . Erzählformal fällt dabei auf, dass die Schil-derung des Problemgeschehens an dieser Stelle wieder stark gerafft und das da-malige Gespräch zwischen Michael Richter und dem betroff enen Arbeitnehmer auf wenige Erzählgerüstsätze reduziert ist. Grund dafür ist, dass die Darstellung des Konfl ikthergangs nur aus der Deutungsperspektive des Managers entwickelt wird, während die Perspektive des Mitarbeiters und dessen bedrängte Situation vom Personalmanager nicht präsentiert werden.

Als der Konfl ikt ein weiteres Mal auflodert, macht der Personalmanager dem Arbeitnehmer schließlich das „Angebot“, eine „vernünft ige Regelung“ fi nden zu wollen. Dass Michael Richter damit in tendenziell euphemistischer Rede die von ihm avisierte Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschreibt, aber nicht aus-spricht, erfährt man erst am Ende des Segments. Dort wird die Dramatik der Fall-entwicklung noch einmal sichtbar: Der Mitarbeiter wird von Seiten des Personal-managers unter Druck gesetzt. Man kann annehmen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits disziplinarische Verfahren gegen ihn eingeleitet wurden. Bezeichnender Weise verschwindet in der Erzähldarstellung nun auch das handelnde Subjekt. Dieses Erzählphänomen zeigt an, dass der Personalmanager seine Handlungs-verantwortung zu verschleiern beginnt, weil er Aktivitäten zu einer kooperati-ven Lösung einstellt. Dementsprechend wird in der Konfl iktbearbeitung auch ein Modus des Drohens dominant; Machtasymmetrien werden von Michael Richter

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zur Durchsetzung seiner Ziele bewusst genutzt. Bei Anlegung von professionel-len Standards der Fallbearbeitung ist defi zitär, dass Michael Richter eine Orien-tierung am Wohl des Mitarbeiters nun aufgibt. Das kann der Werkspersonalleiter auch nicht in der abschließenden Ergebnissicherung des Segments kaschieren. So bemüht sich Michael Richter zwar zu erklären, wie erfahren und leistungsfähig der Mitarbeiter angesichts seiner umfassenden Personalkenntnis gewesen sei, und dass er ihn deshalb gerne im Unternehmen gehalten hätte. Wenig plausibel in Bezug auf diese Äußerung klingt dann aber die Einschätzung des Managers, mit der Entlassung des Mitarbeiters „mindestens genauso zufrieden“ zu sein. Obwohl der Personalmanager am Ende zugibt, gescheitert zu sein, hebt die vorherige Ein-schätzung den selbstkritischen Gehalt dieser letzten Aussage wieder weitgehend auf. Das abstrakt formulierte Eingeständnis, „nur“ an der Person gescheitert zu sein, erscheint formelhaft . – Soweit zum Fallbeispiel.

In dem Konfl iktgeschehen zeigen sich auf drei Ebenen Verlaufskurvenphäno-mene des Erleidens: zunächst auf der Ebene des Klienten-Problems, das der Mit-arbeiter als Quasi-Klient von Michael Richter symptomatisch durch seine Ver-weigerungshaltung präsentiert; sodann auf der Ebene des Arbeitsbogens der Fallbearbeitung, auf der sich die Frage nach der situativen Adäquatheit der Inter-ventionen des Personalmanagers stellt; und schließlich auf der Ebene der biogra-fi schen Entfaltung der fallverantwortlichen Führungskraft . Denn Michael Richter scheitert in seiner Position als Werkspersonalleiter an der ihm zugedachten und auch von ihm selbst formulierten professionellen Aufgabe, einen qualifi zierten Mitarbeiter im Unternehmen zu halten. Weil der Personalmanager sein partiel-les Versagen nicht selbstkritisch durchdenkt und eigene Handlungsanteile an der Falleskalation ausblendet, ist er nicht in der Lage, aus diesem partiellen Scheitern zu lernen. Infolgedessen können sich – auf lange Sicht gesehen – auch berufsbio-grafi sche Entwicklungsmöglichkeiten für ihn reduzieren.

Mit dem Fallbeispiel wird anschaulich, dass ein Wissen von Managern und Managerinnen über Verlaufskurven des Erleidens für ihr professionelles Han-deln zentral ist. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Wissens ist, dass die Verlaufs-kurven realität der Struktur des einfachen zweckrationalen Handelns entgegen-steht. Professionelles Vorgehen, so zeigt sich, erfordert umsichtiges, eher zykli-sches denn lineares, die Handlungswiderstände ergründendes Vorgehen.

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2.2 Die mit Verlaufskurvenstrukturen des Erleidens verbundenen professionellen Aufgabenaspekte im Management

Auf einer allgemeineren Ebene können auf der Grundlage einer Vielzahl von In-terviews mit Managern und Managerinnen (im Personal- und Produktentwick-lungsmanagement) die folgenden professionellen Anforderungen im Zusammen-hang mit Erleidenserfahrungen genannt werden:9

■ Im Bereich des Personalmanagements – das zeigt auch das zuvor präsentierte Fallproblem – treten Verlaufskurvenentwicklungen des Erleidens auf der Ebene individueller oder kollektiver Problementwicklungen auf. Sie können als Widerstands- und Demoralisierungserscheinungen beim Personal angesichts neuer, nicht mit ihm ausgehandelter Arbeitsanforderungen und Rationalitäten sichtbar werden. Das Personalmanagement sieht sich mit symptomatischen Verweigerungshaltungen bis hin zu Sabotage- und Racheakten konfrontiert. Es ist gefordert, diese ernst zu nehmen, ihre Hintergründe zu erkunden und Wege zu fi nden, stabilisierend, ermutigend und aufklärend die Betreuung des Personals gerade auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.10 Um die teils dra-matisch ablaufenden sozialen Prozesse verstehen und umsichtig auf die In-teraktionsabläufe einwirken zu können, braucht das Personalmanage ment so-zialanalytische Fähigkeiten. Denn kann es die komplexen Entstehungs- und Dynamisierungsbedingungen in der Ereignishistorie erfassen, wird es mög-lich, an der entstandenen Interaktions- und Arbeitsstörung ansetzende, per-spektiven- und situationssensible Handlungsstrategien zu entwickeln.

■ Angesichts fortlaufender Umbrüche in Großunternehmen ist die Arbeit am Aufbau von Vertrauensbeziehungen („Vertrauensarbeit“) zwischen Personal und Personalmanagement von zentraler Bedeutung. Um Vertrauen erlangen zu können, sind Personalmanagement und Personalfachleute aufgefordert, die Perspektive problembetroff enen Personals (eines einzelnen Mitarbeiters, eines betroff enen Bereiches oder eines Tochterunternehmens) zu übernehmen. Da-durch können sie subjektive Bedeutungszuschreibungen der Betroff enen und deren Gründe für Abwehrreaktionen und Resignation erfahren. Erst dann können sie Handlungsstrategien zur Deeskalation, zum Aufbau von Koopera-tionsplattformen, zum Schutz von (individuellen und kollektiven) Identitäts-

9 Die im Folgenden präsentierten professionellen Aufgabendimensionen sind in Teilen bereits ent-wickelt worden in Schröder 2010, Teil E.

10 Vgl. hierzu ausführlicher Schröder 2004: 218 – 221.

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grundlagen wie auch zur De-Stigmatisierung (von einzelnen Arbeitnehmern oder größeren Bereichen) entwickeln. Gewachsene Betreuungsbeziehungen, die ‚Insider-Know-how‘ von Bereichshistorien, Bereichskompetenzen, Lern-erfordernissen, Arbeitsweisen wie auch von Konfl iktpotenzialen hervorbrin-gen, sind Grundlage einer solchen Vertrauensarbeit. Sie werden durch Stan-dardisierungs- und Zentralisierungsdruck in den Unternehmen gefährdet. Eine weitere damit verbundene Verlaufskurvenproblematik ist, dass betreuen-den Personalfachleuten und dem Personalmanagement angesichts eines sol-chen Standardisierungsdrucks Sinnquellen ihres Berufs und dadurch eigene professionelle Identifi kationsgrundlagen verloren gehen können.

■ Mit Blick auf die eigene Handlungs- und Interaktionspraxis ist eine Per-sonalmanagerin oder ein Personalmanager stets gefordert, Selbstkritik- und Selbstvergewisserungsarbeit zu leisten, um eigene Handlungsanteile an pro-blematischen, eskalativen Prozessen auszumachen. Insbesondere müssen sich selbstrefl exive Leistungen auf Fragen einer gestörten und wiederherzustellen-den Beziehungsreziprozität richten. Leitungsakteuren, die auf diese Weise re-fl ektieren, fällt es leichter, sich über identitäts-, vertrauens- und kooperations-gefährdende Wirkungen vorangegangener Aktivitäten zu vergewissern und diesen kommunikativ-symbolisch und handlungspraktisch entgegenzusteu-ern.

■ Der Flexibilisierungs- und Innovationsdruck macht das Finden und die För-derung von kreativem Personal erforderlich. Personalfachleute und Perso-nalleitende brauchen biografi sche Sensibilität, in der sie fähigkeitsspezifi sche und erfahrungsbezogene Voraussetzungen der ihnen anbefohlenen Mitarbei-ter-Klienten oder auch Führungskräft e-Klienten erkennen. Professionalisierte Personalfachleute entwickeln in Bewerbungs- und Personalentwicklungs-gesprächen eine Aufmerksamkeit für die zumeist eher im Hintergrund von Erzähldarstellungen aufscheinenden Lern- und Wandlungsgehalte beruflicher und außerberuflicher Erfahrungen. Sie wissen, dass beispielsweise Führungs-kräft e, die längere Zeit im Ausland gearbeitet haben und mit anderen kultu-rellen Orientierungen vertraut sind, oft mals besondere Vermittlungskompe-tenzen entwickelt haben; und dass für Manager und Managerinnen mit der Überwindung von schweren berufsbiografi schen Erleidensprozessen (neue) ethische Orientierungen in ihrem Beruf handlungsleitend werden können.

■ Das Management in Produktentwicklungsabteilungen steht vor der professio-nellen Aufgabe, Innovationen zu ermöglichen, und zwar unter der widri gen Bedingung von organisatorischer Instabilität. Diese Konstellation setzt das Management insbesondere bei langfristig angelegten Projekten extremen, der

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Logik der Kreativitätsentfaltung entgegenstehenden, Planungszwängen und einem hohen Rechtfertigungsdruck aus. So werden die Erkundung von neu-artigen Anwendungsbereichen sowie ein zeitintensives, experimentierendes Vorgehen stark erschwert. Auch können spezifi sche Arbeitsbereiche durch be-triebliche Umbrüche an den Rand des Produktportfolios gedrängt und von Auflösung bedroht werden. Produktentwicklungsmanager und -managerin-nen brauchen deshalb ein quasi-seismografi sches Gespür für Veränderungs-dynamiken in Unternehmen, die zu veränderten Relevanzen in Bezug auf Projekte, Produkte und fachliche Schwerpunktsetzungen führen. Sie stehen oft mals vor der kommunikativ und fachlich anspruchsvollen Aufgabe, inte-grierende Aspekte von „Kernproduktstätigkeit“ und peripheren Bereichsakti-vitäten aus- und sichtbar zu machen, um diese Aktivitätsbereiche zu schützen.

■ Professionalisiert handelnde Produktentwicklungsmanager und -managerin-nen sehen sich in der Betreuung der technischen Entwicklungsarbeit vor der schwierigen Aufgabe, trotz einem auf ihnen lastenden Planungs-, Kontroll- und Erfolgsdruck Freiheitsräume für die Entwicklungsingenieure und -inge-nieurinnen zu schaff en und diese zur Suche nach dem noch Unbekannten zu ermutigen. Dafür ist es erforderlich, Binnenzeit im Projekt ablauf zu entstruk-turieren und diskursorientierte Arbeitsarrangements zur Fehlersuche zu schaf-fen. Ein professionelles Bewusstsein der Führungskräft e für Antinomien (z. B. zwischen wirtschaft licher Erfolgsorientierung und Kreativitäts orientierung) und Paradoxien in ihrer Arbeit (wie z. B. zwischen den widerstreitenden Orien tierungen, einerseits Anregungen zu Neuentwicklungen durch Erkun-dung fremdartiger Anwendungsbereiche zu ermöglichen und andererseits Desorientierung durch das Verlassen bestehender Pfade zu vermeiden) ver-setzt sie in die Lage, verlaufskurvenfest zu werden. Sie können sich dann leichter bei (unvermeidbaren) Rückschlägen im Projektablauf von drücken-den institutionellen Erwartungshaltungen refl exiv distanzieren und bemühen sich, innovative Projektlinien zu schützen (vgl. zu Paradoxien Schröder 2010: 390 – 422; vgl. zu Antinomien auch Kalkowski / Mickler 2009; Schröder-Wild-hagen 2011).

2.3 Verlaufskurvenphänomene in der biografi schen Entfaltung

Es soll nun wieder am Beispiel des Personalmanagers Michael Richter gezeigt werden, dass ein Verlaufskurvenprozess des Erleidens auf der Ebene der Biogra-fi e abträglich für die biografi sche Professionalisierung ist. Auch wenn Karrieren

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von Managerinnen und Managern oft mals auf den ersten Blick als biografi sche Erfolgsgeschichten erscheinen und auch so präsentiert werden, lassen sich in vie-len Fällen Verlaufskurvenerfahrungen des Erleidens in diesen Lebensgeschichten fi nden (vgl. Schröder 2010: 239 f.). Im vorliegenden Beispiel wird nun der Pro-zessstruktur-Verlaufstyp einer negativen Steigverlaufskurve mit Kompetenzver-lust (Schröder 2010: 296 – 298) analytisch beschrieben. Um die Analyse in ihrem Textvolumen zu begrenzen, werden nur die letzten Segmente des autobiografi sch-narrativen Interviews mit dem zum Interviewzeitpunkt 40-jährigen Personal leiter analysiert. Zur Einbettung der jeweiligen Erzählabschnitte wird zunächst der bio-grafi sche Hintergrund umrissen:

Die Eltern von Michael Richter sind beide in kaufmännischen Berufen ausge-bildet, der Vater arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews als selbstständiger Han-delsvertreter, die Mutter ist nach ihrer kaufmännischen Ausbildung und nach Fa-miliengründung auf Wunsch des Vaters nicht mehr berufstätig. Mit fünfeinhalb Jahren eingeschult, absolviert Michael Richter mit bereits knapp 18 Jahren sein Abitur. Er spricht im Interview von „Irrwegen“, die er bezüglich seiner Berufswahl zunächst gegangen sei und erklärt (sich) diese mit seinem jungen Alter zum Zeit-punkt des Schulabschlusses. So zerschlägt sich für Michael Richter unmittelbar im Anschluss an die Schule die Hoff nung, eine zwölfjährige Offi zierslaufbahn, durch die ein Studium fi nanziert würde, könnte der für ihn passende Karriereweg sein. Denn schon kurz nach seinem Eintritt in die Bundeswehr erkennt Michael Rich-ter, dass er sich mit der hierarchischen Organisation der Bundeswehr und einem auf den russischen Feind bezogenen imaginierten Kampfauftrag (in der Zeit des Kalten Krieges) nicht identifi zieren kann. Michael Richter sucht nach einer alter-nativen beruflichen Perspektive und entscheidet sich schließlich – ohne durch seine Familie oder andere Berater Anregungen zu erhalten – für eine kaufmänni-sche Ausbildung.

Eine besonders angesehene Ausbildungsform ist eine auf Fachholschul niveau angesiedelte Ausbildung zum Industriekaufmann, bei der die Auszubildenden neben der betrieblichen Praxis Betriebswirtschaft slehre studieren. Michael Rich-ter erhält eine solche Ausbildungsstelle und stellt bald fest, dass er den Anfor-derungen im Th eorieunterricht ohne Probleme nachkommen kann. Das gibt ihm das nötige Selbstvertrauen, um sich nach Abschluss seiner Ausbildung für ein Studium der Wirtschaft spädagogik zu entscheiden. Allerdings kann Michael Richter auch während dieses Studiums keine tragende berufliche Perspektive für sich entwickeln. Er erkennt, dass ihm zur Umsetzung seines Berufswunsches, spä-ter einmal als Trainer in der Wirtschaft tätig zu sein, fachliches und erfahrungs-begründetes Wissen fehlt. In dieser Phase partieller berufsbiografi scher Desorien-

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tiertheit bemüht sich der Wirtschaft spädagoge im Anschluss an sein Studium um eine Promotionsstelle. Die Zusage an seinen Doktorvater zieht Michael Richter allerdings zurück, als ihm nach einem Unternehmensplanspiel in einem orts-ansässigen Unternehmen aus der Fahrzeugindustrie unerwartet eine Stelle als Trainee im Personalbereich angeboten wird. Diese nimmt er an.

Nach zwei Jahren erhält Michael Richter seine erste eigenständige Betreuungs-aufgabe und wird für die Betreuung des männlichen kaufmännischen Personals im Unternehmen verantwortlich. Es beginnt eine Phase des beruflichen Substanzauf-baus, da Michael Richter nun Betreuungsverantwortung übernehmen kann und grundlegende Arbeitsabläufe im Personalbereich kennenlernt. Andererseits aber erlebt der junge Personalreferent insbesondere bei Fragen der Personalauswahl Arbeitsschwierigkeiten. Es fällt ihm schwer, gegenüber Fachvorgesetzten deutlich zu machen, welche Gründe für die Einstellung oder für die Ablehnung von Be-werbern sprechen. Michael Richter argumentiert mit weitgehend abstrakten Ei-genschaft s- und Persönlichkeitskategorien, die er bezeichnenderweise zum Inter-viewzeitpunkt auch nicht diff erenzierter darstellen kann: „Wir wollen / wir wollen Leute haben, die Potenzial haben, sich weiterzuentwickeln, […] die engagieren sich, die bringen was, sind kreativ / eh die bringen das Th ema irgendwo, für das sie ein-gesetzt werden, voran, eben auch das Potenzial, da weiterzukommen“ (S. 10: 35 – 39). Michael Richter gelingt es in dieser beruflichen Phase nicht, eine professionali-sierte Betrachtungsweise zu entwickeln, in der er die Kompetenzen eines Bewer-bers mit Blick auf dessen Erfahrungshintergründe individuell-fallbezogen erfas-sen und vermitteln kann. Dieses Kompetenz- und Präsentationsdefi zit nährt eine im Selbsterleben des Personalreferenten schon während der Schulzeit und dann im Studium begonnene Selbstverunsicherung. Eine der Verunsicherung zum Teil entgegenwirkende Bedingung in dieser frühen beruflichen Phase ist die persön-liche Beziehung Michael Richters zu seinem Vorgesetzten. Der erfahrene Vorge-setzte ermöglicht seinem „Novizen“ in gemeinsamen Gesprächen, über Werte der Personalarbeit und professionelle Aufgabenstellungen im Personal wesen nachzu-denken. Der Vorgesetzte hinterfragt die abstrakten und idealistischen Vorstellun-gen Michael Richters und hält ihn zu kritischer Selbstrefl exion an.

Im nun folgenden Erzählsegment zeigt sich, wie für Michael Richter im An-schluss an diese weitgehend produktive Phase neue Schwierigkeiten bei der Ar-beit anwachsen. Michael Richter schildert, dass er nach einem dreiviertel Jahr durch eine betriebliche Umorganisation seinen Betreuungsbereich verliert und ein neues Betreuungsgebiet erhält. Das Erzählsegment besteht aus zwei kleineren Teilsegmenten und lautet wie folgt:

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[Erzählgerüstsatz 1] Nach nem dreiviertel Jahr kam das,[Argumentation] wo ich heute sage ,eigentlich Quatsch‘ eh man muss Personalreferen-ten eigentlich längere Zeit auf nem Aufgabengebiet belassen, weil ein Pfund, mit dem man wuchern kann, ist / Vertrauen, das Mitarbeiter zu einem haben. / Das ergibt sich nur über Zusammenarbeit. / Und die braucht Zeit. (I: hm) Und das andere ist Perso-nenkenntnis. / Beides konnte in der Zeit, in der ich diese Aufgabe gemacht habe, nicht wachsen.[Fortführung des Erzählgerüstsatzes 1] Dennoch gab’s ne Umorganisation, [Ergebnissicherung 1] die Sinn machte. [Beschreibende Detaillierung 1] Nämlich sich kundenorientiert aufzustellen und zu sa-gen: Eh / es gibt, jetzt mal, orientiert an Bereichen, einen Personalreferent (der) immer für einen bestimmten Bereich zuständig ist. /[Erzählgerüstsatz 2] Ich kriegte daraufhin einen eh kleineren Geschäft sbereich mit da-mals phh sieben, achthundert Leuten zur Betreuung,[Ergebnissicherung 2] und das war ne absolut runde Aufgabe. / [Beschreibende Detaillierung 2] Als einzelner für diesen Geschäft sbereich in der Per-sonalabteilung zuständig zu sein: / die Geschäft sleitung, Produktbereichsleitung, Ab-teilungsleitung. / In der Kommunikation zu sein, irgendwo die Geschicke dieses Ge-schäft sbereichs auch mit zu begleiten und nach Möglichkeit mit zu unterstützen. (Interview Michael Richter, S. 13:2 – 16)

Formal leicht feststellbar, fi ndet sich zu Beginn des ersten Teilsegments (Z. 2 – 7) eine argumentative Passage, die einen Verlaufskurven-Markierer aufweist. So er-klärt Michael Richter, indem er das folgende Ereignisgeschehen vorgreifend ein-schätzt, es sei „eigentlich Quatsch“ (Z. 2) gewesen, was „man“ getan habe. Mit dieser Kategorisierung weist der Personalmanager auf eine problematische Ent-wicklung hin und – übernimmt man seine Perspektive – lässt die nun anschlie-ßende Karriereepisode im Lichte einer berufsbiografi schen Fehlentscheidung er-scheinen. So spricht Michael Richter von dem Problem, dass es auf Seiten seiner Vorgesetzten im Kontext einer Betriebsrestrukturierung hingenommen worden sei, ihn nach einer nur sehr kurzen Arbeitsperiode für einen anderen Betreuungs-bereich abzustellen. An dieser Stelle ist formal auffällig, dass der Informant den Erzählgerüstsatz durch seine retrospektiv vorgenommene Kritik des Stellenwech-sels unterbricht. Das zeigt an, dass sich Michael Richter während des Erzählens argumentativ mit der früheren Entscheidung auseinandersetzt und rückblickend mit den berufsbiografi schen Kosten hadert, die der damalige Stellenwechsel für ihn bedeutet hat. So erklärt Michael Richter, er habe durch den Stellenwechsel weder Personenkenntnis noch Vertrauensbeziehungen aufbauen können. Beides

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aber seien zentrale Ressourcen einer professionellen Personalarbeit. Indirekt the-matisiert Michael Richter damit ein sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Berufskar-riere zeigendes Kompetenzdefi zit, über das er allerdings nicht weiter nachdenkt. Auch die strukturellen Zwänge, die vom Umbau des Unternehmens ausgehen, sind nicht Gegenstand seiner retrospektiven Refl exion.

Diese Refl exionsgrenze festigt sich, als der Personalmanager nach einem drei-viertel Jahr einen weiteren Karriereschritt unternimmt. Michael Richter wird Gruppenleiter eines neu organisierten Betreuungsbereichs und wiederholt damit den gleichen Fehler eines Stellenwechsels nach nur sehr kurzer Zeit. Er entwickelt also kein Bewusstsein – auch nicht retrospektiv zum Zeitpunkt des Interviews – für die Gefahr, durch den schnellen Aufstieg kein ausreichendes fach- und perso-nenbezogenes Erfahrungswissen aufbauen und vertiefen zu können. Im zweiten Erzählsegment zeigt sich nun, welche Probleme für Michael Richter mit diesem neuen Karriereschritt entstehen:

[Erzählgerüstsatz ] Das währte auch etwa ein dreiviertel Jahr. Dann kriegte ich das An-gebot, ne Gruppenleitung innerhalb dieser Personalabteilung zu übernehmen. /[Detaillierung, narrativ] Das heißt, wir haben, weil das in ner Wachstumsphase zu dem Zeitpunkt war / wir gesagt haben, wir müssen Personalarbeit intensivieren. / Wir müs-sen- haben zusätzliche Leute da rein gebracht. / Eh Stellen geschaff en. / Und gesagt, die Struktur ist jetzt so, dass wir- sie gleichzeitig auch das Th ema Angestellten- und Lohn-empfängerbetreuung zusammengeführt / auch in Person zusammengeführt. / Haben gesagt, da müssen wir … eh Struktur einziehen. / Das kann einer alleine nicht mehr führen. / Deswegen gab’s Gruppen. / Eine Gruppenleitung kriegte ich dann. (4 Sek.).[Argumentation] Eigentlich war das das, was ich mir so auch immer vorgestellt hatte, Führungsverantwortung zu übernehmen, aber .. zu dem Zeitpunkt, das ist ähnlich wie in der Schule / aus nem gut strukturierten Bereich heraus, hast jetzt ne neue Funk-tion +was war+ ((geheimnisvoll fl üsternd)) Führung (?) wie, woran machte sich das bemerkbar. /[weitere narrative Detaillierung] Ich war der jüngste in meiner Gruppe / altersmäßig und von der Berufserfahrung. / Hatte da so’n paar alte Hasen, die mich also mühelos hätten jederzeit also aufs Kreuz legen können. .. Musste dann gucken, dass ich irgendwo so ne Basis der Zusammenarbeit mit denen fi nde, die sich durchaus auch hätten vorstel-len können so was zu machen so ne Aufgabe. .. Die Basis der Zusammenarbeit zu fi nden wo-‚Na gut, komm. / w- wir müssen zusammenarbeiten. / Ich bin’s jetzt halt. / Jetzt lass uns so organisieren, dass wir- dass ihr Eure Freiheit behaltet, ich trotzdem einigermaßen informiert bin eh und wir Dinge, die, sag ich mal, übergeordnet in der Gruppe zu ent-scheiden sind, auch übergeordnet entscheiden / bei (mir) am Tisch.‘ …

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[Ergebnissicherung] Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob ich das hingekriegt hab. .. Ehm / das war .. war nicht ganz einfach, weil ich (zusätzlich) (I: hm) ich hatte zusätz-lich mein Betreuungsgebiet. / Das haben wir zwar verkleinert / aber ich hatte eigent-lich gar nicht groß die Zeit / ehm / mich mit der Führung so auseinander zu setzen wie das erforderlich gewesen wär. (Interview Michael Richter, S. 13:17 – 41)

Inhaltlich fällt auf, dass Michael Richter den Karriereaufstieg in die Position eines Gruppenleiters in einer Erwählungsrhetorik formuliert: „Dann kriegte ich das An-gebot …“ (Z. 1 – 2). Unklar bleibt, was die genaueren Umstände des Karriereange-bots waren. Mit Blick auf die sich abzeichnende Verhaltensstruktur des Informan-ten ist es empirisch begründet zu vermuten, dass der spätere Personal manager Michael Richter sich selbst stark um diese Leitungsposition bemühte. Für diese Vermutung spricht, dass der Erzähler in einer anschließenden Argumentation er-klärt, sich sehr einen Karriereschritt mit Personalverantwortung gewünscht zu haben. Zudem zeigen spätere Karriereschritte des Personalmanagers, dass er sich immer wieder bemühte, Vorgesetzte zu Förderern seiner Karriere zu machen (dazu im Folgenden mehr).

In der narrativen wie auch argumentativen Detaillierung des Erzählsegments fi nden sich dann Hinweise auf das Wirksam-Werden einer Steigverlaufskurve. Sie zeigt sich darin, dass der aufgestiegene junge Personalmanager erhebliche Ak-zeptanzprobleme in seiner Führungsposition erfährt. Bezeichnenderweise deutet Michael Richter diese Probleme aber nur an (in der argumentativen Passage des Segmentabschnitts, Z. 10 – 14), wenn er auf einer allgemeineren Ebene über Merk-male von guter Führung nachdenkt. Dass die Lage für Michael Richter in seiner ersten Leitungsposition durchaus brisant war, zeigt sich allerdings auf semanti-scher Ebene. So spricht der Personalmanager davon, dass seine früheren Kollegen („alte Hasen“), die ihm nun hierarchisch unterstellt sind, ihn hätten „aufs Kreuz legen können“ (Z. 17). Michael Richter präsentiert an dieser Stelle, wenn auch auf halb verdeckte Weise, erhebliche Durchsetzungs- und Führungsschwierigkeiten. Grund dafür ist, dass der Aufstiegsschritt von Michael Richter mit einer Verlet-zung von Reziprozitätsstrukturen einherging, weil Michael Richter die informelle, auf Erfahrungswissen und Betriebszugehörigkeit begründete Hierarchie in der Abteilung ignorierte und damit Irritationen sowie Abwehr bei seinen früheren Kollegen erzeugte. Zur Festigung seiner Führungsprobleme trägt bei, dass Mi-chael Richter diese strukturelle Problematik nicht erkennt. Stattdessen rationali-siert der Personalmanager die Akzeptanzprobleme als Ausdruck von generellen Schwierigkeiten in Führungspositionen. Er gesteht sich nicht selbstehrlich die ne-

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gativen Wirkungen seines Karriereschritts ein. Der junge Personalmanager kann in seiner ersten Leitungsposition deshalb keine ausreichende Autorität als Füh-rungskraft entwickeln und wird von seinen Mitarbeitern aus Informationsfl üssen ausgeschlossen. Um in dieser karrieregefährdenden und unproduktiven Manage-mentsituation nicht zu kapitulieren, versucht Michael Richter, eine Zusammen-arbeit mit seinen früheren Kollegen herzustellen, indem er ihnen vorschlägt, auf fremdbestimmende Führung und Kontrolle zu verzichten, wenn er im Gegenzug Informationen erhielte. Mit diesem ängstlichen Kompromiss baut sich ein Ver-laufskurvenpotenzial bei Michael Richter auf. Denn der Gruppenleiter verliert nun sichtbar Führungsautorität und Entscheidungsmacht. Zudem wird sein be-rufliches Selbstverständnis als Führungskraft unterminiert. Der Verlaufskurven-charakter dieser biografi schen Entwicklung wird auch in der Ergebnissicherung sichtbar. Dort äußert der Personalmanager Zweifel am Führungserfolg in seiner damaligen Position (Z. 24).

Auch das nächste Textsegment zeigt die Instabilität der beruflichen Position Michael Richters. In einer rezessiven Phase der Unternehmensentwicklung wer-den weitere Strukturveränderungen beschlossen, die mit Bereichsverschmelzun-gen und Personalabbau einhergehen. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer dramatischen Entwicklung in der Karriere von Michael Richter.

[Erzählgerüstsatz] Nach nem / knappen Jahr .. nach nem knappen Jahr / das war dann 91 Ende 91 .. ehm / kam die Phase, wo der Rotstift angesetzt wurde. (I: hm) [Beschreibende Detaillierung] Und das heißt immer, man spart. / Man guckt sich vor al-lem auch Strukturen an. / Und wir hatten uns sicherlich für die Größe diese Abteilung mit vier Gruppenleitern nen bisschen dick eingedeckt. ..[Narrative Detaillierung] Ja und dann kam die Aufgabe / jetzt macht euch mal Gedan-ken, wie ihr die Personalabteilung in Zukunft strukturiert / mit so und so viel Prozent weniger. .. und dann hab ich mich nach einem Jahr selber wegrationalisiert. ((leichtes Lachen)) .. Ehm / weil denn aufgrund von, ich sag mal, auch Zusammenschmelzen in den Bereichen / die ich mit meiner Gruppe betreut habe / einfach, die Frage war, macht das überhaupt noch Sinn diese Gruppe aufrechtzuerhalten. (I: hm) ..[Ergebnissicherung] War auch mal ne interessante Erfahrung, sich selbst wegzuratio-nalisieren.(Interview Michael Richter, S. 13:41 – 14:4)

Nun erklärt Michael Richter anekdotenhaft , sich selbst „wegrationalisiert“ zu haben (Z. 8), denn die Gruppenleitungsposition in dem von ihm betreuten Perso-nalbereich sei organisatorisch nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Dieser kriti-

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sche Karrieremoment wird von Michael Richter aber nicht als hochproblematisch evaluiert. Im Gegenteil: Der Informant verschleiert den Krisencharak ter seiner beruflichen Situation, indem er den Vorschlag zur Kürzung seiner eigenen Stelle als eine im Sinne des Unternehmens getroff ene Managementinitiative präsentiert. Damit umgeht er erneut – auch noch zum Zeitpunkt des Interviews – biografi sche Arbeit, die ihm abverlangen würde, eine zeitweilige berufliche Instabi lität mit sei-nem zuvor unternommenen legitimationsproblematischen Karriereschritt im Zu-sammenhang zu sehen.11 Taktisch geschickt kommt Michael Richter mit diesem Schritt aber wohl einer ihm drohenden Absetzung als Gruppenleiter zuvor. Zuvor sondiert er die Möglichkeit, nach seinem Stellenverzicht einen unter Beschuss ge-ratenen Personalfachmann im Bereich der Führungskräft ebetreuung ersetzen zu können. Auf Nachfrage der Interviewerin schildert Michael Richter diese Situa-tion im Anschluss an die Haupterzählung:

Ehm ich wusste zu dem Zeitpunkt, dass der / Führungskräft ebetreuer / nicht so das Standing hatte, / dass nen Interesse sag ich mal unsererseits da war / betrieblicherseits, dass er was anderes macht. / Und sein Interesse auch da war, was anderes zu machen. ..Und insofern / hab ich gesagt: Na gut im Zweifel kannst du wahrscheinlich das ma-chen. (I: hm) Und / ich hab dann gesagt: ‚Aus meiner Sicht ist das meine Aufgabe, die da wegfällt und wir müssen meine Gruppe rationalisieren / aufteilen und dann müssen wir natürlich darüber reden, was ich tue. / Ich hab versucht das off ensiv anzupacken. / Ja und dann eh ging das, sag ich mal, relativ schnell. (Interview Michael Richter: S. 21:19 – 28)

Mit einem Gespür, problematisch werdenden Berufssituationen rechtzeitig zu entkommen – dies wird auch bei weiteren Karriereschritten sichtbar –, gelingt es Michael Richter, trotz der Krise seine Karriere weiterzuentwickeln. Begleitet wird sein Karriereaufstieg allerdings von den Auswirkungen der Verhinderung seines beruflichen Substanzaufbaus infolge der schnellen Stellenwechsel. Damit wächst auch seine Abhängigkeit von Vorgesetzten, deren Unterstützung er sich immer wieder ängstlich vergewissert.

Die Berufskarriere entwickelt sich wie folgt bis zur Interviewgegenwart: Im Anschluss an die aufgegebene Gruppenleitungsposition erhält Michael Richter

11 Vgl. zur Kategorie „biografi sche Arbeit“ Schütze 1999c: 327 f.; Detka 2010; Schröder 2010: 358 – 368 und 416 – 419. Biografi sche Arbeit als selbsthistorische Vergegenwärtigungsleistung trägt zu ei-nem Bewusstsein für abträgliche wie auch unterstützende Bedingungen der eigenen biografi -schen Entfaltung bei.

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die von ihm anvisierte Arbeitsstelle als Betreuer für Führungskräft e. Bei einem neuerlichen Betriebsumbau nutzt der Personalfachmann dann die Chance, einen weiteren Aufstiegsschritt zum Bereichskoordinator zu unternehmen. Auch dazu verhilft ihm ein Vorgesetzter. Inhaltlich ist an der Ereignisdarstellung auffällig, dass der Informant in beiden Textpassagen, in denen diese Arbeitsstellen evaluiert werden, wieder auf Arbeitsschwierigkeiten hinweist. So deutet Michael Richter auf versteckte Weise auf Probleme in seiner beruflichen Position als Führungs-kräft ebetreuer hin, wenn er erklärt: „Also war … war eh war schon zunächst mal auch ne Herausforderung.“ (Interview Michel Richter, S. 14: 29 f.). In der zweiten ergebnissichernden Passage, die sich auf darauf folgende Tätigkeit als Koordinator eines neu strukturierten Personalbereichs bezieht, spricht Michael Richter andeu-tungsweise von neuerlichen Akzeptanzschwierigkeiten: „Und das war die Chance, ich sag mal, so nen großen Laden ehm quasi zu führen, ohne dafür nen Mandat zu haben, was die Sache nicht einfacher macht.“ (ebd., S. 15: 19 f.).

Immer mehr verliert sich eine handlungsschematische Prozessstruktur und Abhängigkeitsverhältnisse werden zum charakteristischen Merkmal in der Kar-riere Michael Richters. Dass der Personalmanager sein berufliches Schicksal in die Hände machtvollerer Vorgesetzter legt, die ihn protegieren sollen, hat auch biografi sche Kosten. Das zeigt sich zum Beispiel, als Michael Richter nach kur-zer Zeit unerwartet von seinem Vorgesetzten eine Stelle als Personalleiter eines kleineren Tochterunternehmens angeboten wird. Der Personalmanager möchte das Angebot annehmen, aber seine Ehefrau votiert, nur drei Monate nach der Ge-burt des gemeinsamen zweiten Kindes, dagegen. Zwar kann Michael Richter seine Frau schließlich zum Umzug bewegen, dennoch wird nun – über die Perspek-tive der Ehefrau – eine Bedingung von Heteronomie der privaten Lebenssituation deutlich. Denn die plötzliche Veränderung der privaten Wohnsituation gefährdet das soziale Beziehungsnetzwerk des Ehepaares. An einer späteren Stelle im Inter-view wird die private Situation durch einen weiteren Wohnortwechsel noch ein-mal auf eine ganz ähnliche Weise belastet.

Die neue berufliche Situation als Personalleiter entwickelt sich für Michael Richter dabei zunächst günstig. Der Personalmanager kann in dieser Position Substanz aufbauen, als er mit seinem Team in der Personalentwicklungsabteilung innovative Feedback-Systeme entwickelt und als verantwortlicher Vorgesetzter implementiert. Als das Geschäft sfeld aber im Zuge starker Marktveränderungen aufgegeben wird, nimmt Michael Richter eine neue Arbeitsstelle als Werksperso-nalleiter an, so dass auch diese erstmals produktive berufsbiografi sche Entwick-lungslinie wieder abbricht. Im Personalmanagement des Werks übernimmt er Aufgaben, die er als „pragmatisch operativ“ beschreibt, aber innerlich als fremd

Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management 293

empfi ndet. Denn für die Leitungstätigkeit im Werk muss sich der Personalmana-ger stark mit arbeitspolitischen Th emen beschäft igen, und damit kann sich Mi-chael Richter nicht biografi sch identifi zieren. Ein weiterer semantischer Hinweis auf Erleiden fi ndet sich auch in der abschließenden Evaluation des entsprechen-den Erzählsegments, in dem Michael Richter Zweifel auch an dieser Karriereent-scheidung ausdrückt:

„Ehm das hat von der Einarbeitung hier eigentlich am längsten gedauert, weil die Fra-gen am detailliertesten waren / die hier zu klären waren. / Hier habe ich mich zu Anfang manchmal gefragt, ob das denn so die richtige Entscheidung war, hierherzukommen […]“ (Interview Michael Richter, S. 19: 34 – 36)

Schließlich bestätigt auch die – im nachfolgenden Interviewzitat präsentierte – autobiografi sche Selbstthematisierung Michael Richters die empirisch entwickelte Th ese, dass der Personalmanager keine ausreichende biografi sche Arbeit leistet, um die verlaufskurvenhaft e Entfaltungsqualität seiner Berufsbiografi e erfassen und bearbeiten zu können. So bezieht sich der Personalmanager, ohne von Seiten der Forscherin dazu aufgefordert zu sein, auf die Forschungsfrage nach Profes-sio nalisierung im Personalmanagement. Bezeichnenderweise spricht er an dieser Stelle keine Schwierigkeiten in seiner Karriere an, obgleich er zuvor, wenngleich verdeckt-symptomatisch, von Führungsproblemen, dem Fehlen von thematischer Spezialisierung und tief verankerten Selbstzweifeln berichtet hat, die als wieder-kehrende Erleidensphänomene seine Lebensgeschichte mitprägen. Mit der selbst-theoretischen Vorstellung Michael Richters, Karriere und Professionalisierung über Lernprozesse realisiert zu haben, verschleiert er vor sich selbst die leidvolle und auch professionsabträgliche Verlaufskurvenqualität, die seine Karriere mit kennzeichnet.

Wenn sie über Professionalisierung reden, dann eh kann man sicherlich zusammen-fassend sagen .. was ich jetzt zwischendurch immer wieder reingestreut hab, das hat irgendwas mit Lernen von anderen zu tun. / Das hat mit Erfahrungsbreite in unter-schiedlichen Umfelden- feldern, sagen wir mal / also eh unterschiedlichem Umfeld, bleiben wir mal beim Singular (I: ja) Ehm / das hat mit Selbstrefl exion zu tun / Klam-mer auf, für die man (immer) Zeit fi nden muss, Klammer zu. / Was nicht ganz einfach ist. […] Auch das ist etwas, was, ich sag mal, was mit Beharrlichkeit / ehm wie insge-samt in der Personalarbeit, mein ich, zu tun hab. / Irgendwo nen Ziel vor Augen zu ha-ben / in kleinen Schritten, dann mal links rum, mal rechts rum, ein paar Schleifen zu ziehen. / Und irgendwann trotzdem dann zum Ziel zu kommen ((5 Sek.) Ja das jetzt

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294 Anja Schröder-Wildhagen

mal so in der- jetzt hab ich doch ne ganze Weile geredet. / Ehm … der Versuch das so darzustellen, dass Sie hoff entlich davon profi tieren können.(Interview Michael Richter, S. 19:45 – 20:21)

Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Personalmanager in Führungssituatio-nen mehrfach Akzeptanzschwierigkeiten erlebt und keine langfristig tragfähigen Gestaltungsvorstellungen entwickelt und verfolgt. Auch fi nden sich keine belast-baren Hinweise, dass Michael Richter Wissensbestände (z. B. das Wissen, dass für Personalführung die Herstellung von Konsens wichtig ist; oder das Wissen, dass das betriebliche Personal Chancen zur kreativen Entwicklung braucht) si-tuativ sensibel erfolgreich anwenden kann. Charakteristischer Weise ist auch die abschließende theoretische Einschätzung Michael Richters zur Personalarbeit, die wie bereits seine Äußerungen zuvor im Vorkoda-Kommentar12 erschien, von Vag-heitsmarkierern wie „irgendwo“ oder „irgendwann“ durchzogen. Sie bleibt un-konkret, von Zweifeln gekennzeichnet und beinhaltet keine Aussagen über kon-krete Gestaltungsprozesse und -absichten.

3 Entfaltungsvarianten von Verlaufskurven im Management

Allgemeiner gesprochen, zeigen sich Professionalisierungsprozesse von Mana-gern und Managerinnen als verbunden mit kreativen biografi schen Prozessen, in denen die Führungskräft e Fähigkeiten zur Beziehungsgestaltung, sozial-und fall-analytische Kompetenzen sowie generell eine hohe Interaktionssensibilität entwi-ckeln (vgl. Schröder 2010: 272 – 294). Gelingende biografi sche Professionalisierung kann zum Beispiel mit einem Handlungsschema der Identitätsarbeit verbunden sein. In ihm bilden Manager und Managerinnen eine Handlungsaufmerksam-keit für psychische Belastungen der ihnen anbefohlenen Mitarbeiter-Klientel aus. Andere professionalisierungsrelevante Prozessstrukturen sind das Handlungs-schema der Gestaltung von sozialen Beziehungen im Betrieb und biografi sche Wandlungsprozesse. Im Verlauf dieser biografi schen Prozesse werden Manager und Managerinnen wahrnehmungssensibel für die vielschichtigen sozialen Auf-gabendimensionen und die zum Teil extrem widersprüchlichen Anforderungen

12 Das Ende einer autobiografi schen Stegreiferzählung wird vom Erzähler formal und inhaltlich mit einer Koda angezeigt. Zum Beispiel sagt ein Erzähler: „Hier mache ich eine Zäsur. Fragen Sie !“ Generell gesagt, nimmt der Erzähler bzw. die Erzählerin im Erzählabschnitt vor der Koda, im so genannten „Vorkoda-Kommentar“, selbsttheoretisch Bezug auf die von ihm / ihr zuvor präsen-tierten Lebensereignisse.

1112

Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management 295

in ihrer Arbeit, entwickeln sozialanalytisches Verständnis, Umsicht und kreative Gestaltungsideen.

Der hier präsentierte Fall des Michael Richter zeigt eine andere Seite: dass näm-lich solchen biografi schen Lern-, Wandlungs- und off enen Handlungsschema-prozessstrukturen im Management professionalisierungsabträgliche Prozessstruk-turen mit Erleidenscharakter entgegenstehen. Letztere sind wegen des Aufstiegs-erfolgs von Managern und Managerinnen nur schwer als Erleidensprozesse zu erkennen. Zur Gegenüberstellung sollen abschließend zwei professionalisierungs-abträgliche Entfaltungsvarianten im Management dargestellt werden13:

Im Fall Michael Richter dominiert die Prozessstruktur einer negativen Steigver-laufskurve mit Kompetenzverlust. Generell gesagt nimmt der Prozess des Kar riere-aufstiegs einen Fallencharakter an, wenn in der Managementkarriere Reifungs- und Lernvoraussetzungen umgangen werden. Professionalisierungsabträgliche strukturelle Merkmale der negativen Steigverlaufskurve mit Kompetenzverlust sind:

■ eine fehlende Handlungsaufmerksamkeit für die Gestaltung der sozialen Be-ziehungen im Betreuungsbereich;

■ die Erosion von tragenden und lernförderlichen Beziehungsgefl echten im Be-trieb;

■ Fluchthandlungsschemata zu (Leitungs-)Positionen und damit verbunden das Ausblenden von sozialer Verantwortung für anbefohlene Mitarbeiter sowie ein geringes Bewusstsein für Paradoxien in der Managerarbeit;

■ die Dynamisierung und das Erratisch-Werden einer thematischen berufsbio-grafi schen Linie durch den schnellen Aufstieg im Kontext von Abhängigkeits-strukturen von Vorgesetzten;

■ mangelnde Innovationsfähigkeit infolge fehlender fachlich-bereichsbezogener Wissenstiefe und – damit verbunden – fehlender analytischer Vergleichskom-petenzen zur Analyse von Arbeitsprozessen, sowie

■ eine schleichende Desensibilisierung für die Bedeutung biografi scher Erfah-rungshintergründe in der Karriere infolge des (weitgehenden) Fehlens der ei-genen biografi schen Identifi kations- und Entwicklungsbasis im Beruf.

Eine zweite professionalisierungsabträgliche Prozessstruktur ist das Aufstiegs-handlungsschema mit Verführungscharakter. In dessen Verlauf stellen die Füh-

13 Vgl. ausführlich zu den allen Prozessstrukturvarianten gelingender und misslingender Profes-sionalisierung im Management Schröder 2010, Teil D.

296 Anja Schröder-Wildhagen

rungskräft e – zunächst ähnlich wie bei der Entfaltungsvariante der zuvor genann-ten einfachen Steigverlaufskurvenentwicklung – in ihrer Berufskarriere die Frage hintan, was für sie tragfähige biografi sche Handlungsschemata und was Sinn-quellen ihrer Berufstätigkeit sind, die eine Entfaltung ihres Kreativitätspotenzials unterstützen könnten. Das Aufstiegshandlungsschema hat folgende strukturelle Merkmale:

■ Durch die Fokussierung von Aufstiegsmöglichkeiten wird die Bedeutung von vertrauensvollen Beziehungen zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie der Zeit- und Energiebedarf zum Aufbau und zur Pfl ege der Beziehun-gen systematisch unterschätzt.

■ In der Betreuung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wird keine ausrei-chende Sensibilität für die der Aufstiegsrationalität entgegenstehenden bio-grafi schen Lern- und Wandlungspotenziale entwickelt.

■ Durch die Verführbarkeit und das Geködert-Werden mit Aufstiegsinsignien (z. B. eine höhere Stellung, neue Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse, eine höhere Vergütung, symbolische Aufstiegsinsignien wie ein größeres Büro, einen Dienstwagen, ein eigenes Sekretariat), legitimationsproblemati-sche oder besonders problematische Managementaufgaben zu übernehmen, wird ein Abbruch von kreativen biografi sche Entfaltungslinien in der Berufs-karriere wahrscheinlich.

■ Schließlich verliert sich bei den auf den Karriereaufstieg überfokussierten Ma-nagern und Managerinnen zunehmend ein Bewusstsein für ihre eigene Ver-führbarkeit zum Aufstieg und für die mit diesem verbundenen biografi schen Kosten.

Das Aufstiegshandlungsschema kann zu einer komplexeren Variante der Steigver-laufskurve führen, wenn eine Entmoralisierungstransformation einsetzt. Der zen-trale Prozessstrukturmechanismus ist dann eine zunehmende Degeneration der ethischen Orientierung der betroff enen Führungskräft e, die willfährig die Orga-nisationshandlungsschemata der Konzernführung übernehmen und umsetzen. In diesem Verlauf werden die Führungskräft e zu Getriebenen, die ihr betriebliches Mandat zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und -organisation Stück für Stück verspielen.

Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management 297

4 Schlussdiskussion

Die Prozessstrukturen mit Verlaufskurvencharakter in der Karriere wirken sich systematisch abträglich auf die biografi sche Professionalisierung von Managern und Managerinnen aus. Es wurde gezeigt, dass diese Prozessmechanismen eine reduzierte soziale Handlungsaufmerksamkeit und situationsinadäquate Bearbei-tungsstrategien mit sich bringen. Chaotisch-eskalative Entwicklungen auf der Ebene der sozialen Beziehungen im Betrieb sowie anwachsende Probleme auf der Ebene der Biografi ekonstruktion können von den verlaufskurvenbetroff enen Führungskräft en immer schlechter unter Kontrolle gebracht, geschweige denn auf eine produktive, perspektiveneröff nende Weise bearbeitet werden. Für die biogra-fi sche Professionalisierung von Managern und Managerinnen ist es deshalb von besonderer Bedeutung, Verlaufskurvenerfahrungen des Erleidens als einen Teil der sozialen Wirklichkeit zu kennen und anzuerkennen. Erst dann können sie diese im Unternehmens- und Berufsalltag als soziale Prozesse mit einer eigenen Entfaltungslogik wahrnehmen und adäquat intervenieren.

Die Biografi eanalyse macht mit ihrem Methoden- und Th eorieinstrumenta-rium die strukturellen Merkmale von Verlaufskurvenprozessen des Erleidens auf der Ebene der Entfaltung von Biografi en und Arbeitsbögen sichtbar. Sie ermög-licht es, fördernde wie auch abträgliche Bedingungen der biografi schen Professio-nalisierung und der professionellen Arbeit im Management zu erarbeiten.

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Teil IIITheoretische Konzepte

und Forschungsstrategien

„Arc of Work“ – als ‚sensitizing concept‘ für den Zusammenhang von beruflicher Arbeit und Organisationskulturen1

Kirstin Bromberg

1 Einführende Bemerkungen

Anliegen dieses Beitrages ist es, eines der analytischen Konzepte des Symboli-schen Interaktionismus (S. I.), nämlich das sogenannte ‚arc of work‘-Konzept vor-zustellen. Hierbei greife ich in erster Linie auf diejenigen Publikationen zurück, die stärker auf den S. I. als empirische Forschungstradition denn als theoretische Position abstellen. Damit ist einerseits gesagt, dass es sich beim S. I. um eine so-wohl theoretische als auch methodische Richtung zunächst der amerikanischen und später der europäischen Soziologie handelt, wobei andererseits die Perspek-tive auf dieselbe verschieden gewichtet werden kann. Und noch eine weitere Dif-ferenzierung möchte ich gleich eingangs vornehmen: Die Formulierung „der Symbolische Interaktionismus“ oder auch „die Chicago School“ (C. S.) impliziert, dass es sich dabei um eine homogene Gruppe von Wissenschaft lern und Wissen-schaft lerinnen handelt. Dem ist jedoch weder im einen noch anderen Fall so.2 Der Begriff „Symbolischer Interaktionismus“ geht auf auf Herbert Blumer und das Jahr 1938 zurück,3 der dieser soziologischen Richtung allerdings auch eine spezifi -

1 Auszüge dieses Beitrages wurden am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie des Instituts für So-ziologie an der Universität Wien im April 2010 in einem Vortrag zur Diskussion gestellt. Für die Anregungen, die in den erweiterten Artikel in der vorliegenden Form eingefl ossen sind, danke ich im Besonderen Sighard Neckel.

2 „[…] practitioners of symbolic interaction research and thinking oft en have little in common beyond their common possession of certain ,sensitizing concepts‘, their inductive approach to empirical research, and their adherence to the faith that the proper object of that research is ,the natural of every-day experience‘ […]“ (Becker / McCall 1990: 2).

3 Folgende theoretische Annahmen liegen nach Blumer dem S. I. zugrunde: Jedes menschliche Er-eignis kann als durch die beteiligten Personen hervorgebrachtes Resultat verstanden werden, in-dem sie ihre Handlungen fortlaufend daran ausrichten, wie sie selbst im Lichte dessen handeln, was andere tun. Daraus ergibt sich eine individuelle Handlungskette, die zu den Handlungen des bzw. der jeweils anderen passt. Das allerdings nur dann, wenn man davon ausgeht, dass Men-schen typischerweise nicht mechanisch handeln, sondern die Reaktionen Anderer in ihre eige-

304 Kirstin Bromberg

sche Fassung gab, die, sowohl durch jüngere Forschungsarbeiten als auch Forscher und Forscherinnen beeinfl usst, eine Modifi zierung erfahren sollte. Wenn ich also im Folgenden vom S. I. spreche, stelle ich auf diejenigen Symbolischen Interaktio-nisten ab, deren Tradition es ist, Th eorien an den jeweiligen empirisch untersuch-ten Gegenstand zu binden, und eben gerade nicht Konzepte entlang festgelegter Th eorien zu entwickeln. Das trifft , und damit komme ich auf jene bereits ange-sprochenen Modifi kationen des S. I. zurück, jedenfalls explizit auf die sogenannte zweite und stärker noch auf die dritte Generation der Chicagoer Soziologie zu, also insbesondere auf Everett C. Hughes4, Anselm Strauss und Howard S. Becker (vgl. Chapoulie 2004). Studierende des Departments für Soziologie der Chicagoer Universität wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren nicht auf einzelne soziolo-gische Großtheorien hin orientiert, sondern vielmehr in einen spezifi schen For-schungsstil einsozialisiert. Insofern wird es nachfolgend darum gehen, das analy-tische Konzept des ‚arc of work‘ im Kontext dieser jüngeren Entwicklungen des Symbolischen Interaktionismus in der Traditionslinie von Park über Hughes zu Strauss und Becker in seiner komplexen Struktur vor- und darzustellen. Ferner werden die mit diesem Konzept verbundenen Optionen zur Erkenntnisgenerie-rung herausgearbeitet und an aktuellen forschungspraktischen Beispielen nach-vollzogen.

nen Handlungen aufnehmen und auf diese Weise antizipieren, was vermutlich passieren wird. Das „Symbolische“ am S. I. ist auf die Betonung der Art und Weise, wie Menschen die Bedeutung der Handlungen Anderer konstruieren, zurückzuführen. Im Zentrum steht das Interesse an der „Bedeutung“, und die große Stärke des symbolisch interaktionistischen Zugangs zur Bedeutung liegt darin, dass er empirisch ist: Der S. I. betrachtet die konkrete, empirische Welt gelebter Er-fahrungen als seinen Untersuchungsgegenstand und behandelt die Th eorie als etwas, das mit der empirischen Welt zusammengebracht werden muss (Blumer 1969: 1 – 60).

4 Denn eine allgemeingültige theoretische Position, die soziale Phänomene erklären würde, neh-men Interaktionisten in der Tat nicht für sich in Anspruch. Wenn diese nämlich eine Position inne haben, dann ist es gerade nicht das Vertreten einer allgemeingültigen, abstrakten Th eorie, wie es Everett C. Hughes, Schüler von Robert E. Park, Gründer der sogenannten ‚Chicago School of Sociology‘, aus Sicht seiner Studenten wohl am eindrücklichsten vermitteln konnte. Auf die Frage seiner Studierenden, was er denn über „Th eorie“ denke, antwortete er denn auch eher rup-pig: „Th eory of what ?“ „He thought that there were theories about specifi c things, like race and ethnicity or of the organization of work, but that there wasn’t any such animal as Th eory in gene-ral“ (Becker 1998: 1).

„Arc of Work“ 305

2 Der Symbolische Interaktionismus in der deutschsprachigen Rezeption

Über den S. I. ist kontinuierlich und diff erenziert geschrieben worden. Wie kann jedoch die besondere Prominenz, zu der es einzelne Protagonisten der Chica-goer Universität in verschiedenen Zeiten, wie Dewey und Mead, Strauss und Becker es hierzulande gebracht haben, mit der verbreiteten Meinung in Verbin-dung gebracht werden, dass der Interaktionismus in der deutschsprachigen So-ziologie, insbesondere in der Arbeits- und Berufssoziologie sowie in der Wissen-schaft s- und Techniksoziologie, kaum Beachtung gefunden habe (vgl. Strübing 1997) ? Diese Ansicht könnte jedenfalls als Hinweis auf Defi zite bei der deutsch-sprachigen Rezeption des S. I. gedeutet werden, dem ich im Folgenden nachgehen möchte.

Die Beschäft igung mit dem S. I. umfasst ein breites inhaltliches Spektrum von eher theorie- und traditionsbezogenen Beiträgen, angefangen beim Beitrag von Brumlik, der 1973 erschien, und dem von Joas aus dem Jahr 1988 über den von Neckel von 1997 hin zu Garz, der 2006 über die Integrationsversuche von struk-turalistischer Th eorie und S. I. schreibt, die er bei Strauss ausgemacht hat. Unter anderem auch auf seine zentralen Akteure Bezug nehmend, verfasst Strübing mit Fokus auf Strauss und Glaser drei Beiträge zwischen 1997 und 2007 (Strübing 1997, 2005, 2007). Einige jüngere Beiträge, die zwischen 2002 und 2009 erschienen sind, beziehen sich auf die empirische Anwendung der theoretischen Konzepte des S. I., wie der von Ackermann (2005), Bräu (2002), Th räne (2003), Feindt und Broszio (2008), die allerdings mehr Anwendung denn theoriegenerierend sind. Ich werde später noch einmal ausführlicher auf sie zu sprechen kommen, denn an ihnen scheint dennoch das erkenntnisgenerierende Potenzial des ‚arc of work‘ auf. Nur gelegentlich widmen sich Beiträge explizit dem mit dem S. I. verbundenen For-schungsstil. Bohnsack stellt hier mit seinem Aufsatz aus dem Jahr 2005, in dem er am Beispiel zweier klassischer Studien der Chicagoer Soziologie den charak-teristischen Forschungsstil rekonstruiert, eine solche Ausnahme dar. Ebensolche Ausnahmen bilden jene wenige Publikationen, die all jenen soeben genannten Aspekten auf einmal gerecht werden: die also sowohl auf den Forschungsstil bezo-gen sind als auch auf die Potenziale zur empirischen Anwendung sowie zur Th eo-riebildung Aussagen treff en, wie die Aufsätze von Schütze (1987, 2002), aber auch von Strübing (1997, 2005, 2007).Während sich also die Beiträge mit einer eher theo retischen Ausrichtung mit denjenigen einer überwiegend forschungsprakti-schen noch gerade die Waage halten, fällt die Ausbeute mit Blick auf die Diskus-sion der theoretischen Konzepte des S. I. und ihr theoriebildendes Potenzial eher

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gering aus. Auch wenn, so kann abschließend festgehalten werden, einige Auf-sätze sowohl theorie- als auch forschungspraktische Bezüge herstellen, so möchte ich auf die Tendenz der deutschsprachigen Rezeption hinweisen, die methodolo-gischen Implikationen der theoretischen Kategorien und des Forschungsstils der C. S. und des S. I. bislang nur ansatzweise rekonstruiert zu haben. Zu eben jenem theoriebildenden Potenzial insbesondere für die Arbeits- und Berufssoziologie werde ich mich nun äußern und hoff e, hiermit dem Rezeptionsdefi zit etwas ent-gegensetzen zu können.

3 Zum ,arc of work‘ als ‚sensitizing concept‘ für den Zusammenhang von beruflicher Arbeit und Organisationskulturen

Das Konzept des ‚arc of work‘ wird zu den „Grundbegriff lichkeiten“ (Bohnsack 2005: 105) oder auch „grundlagentheoretischen Zentralkategorien“ (Schütze 1987) des S. I. gerechnet.5 Wie weit die Forschungstraditionen zu theoriebildenden Konzepten zurückreichen, wird unterschiedlich eingeschätzt. Bohnsack (2005) erkennt sie bereits in den zu Klassikern gewordenen Studien des sogenannten

„golden age“ der Chicagoer School, also in den 1920er- bis 1930er-Jahren, an-dere stellen konkrete Bezüge erst zu einer späteren Zeit her, die sich mit der For-schungs- und Lehrtätigkeit von Everett C. Hughes an der Chicagoer Universität verbinden (Schein 2004; Chapoulie 2001; Corbin / Strauss 1993). Der ‚arc of work‘ gehört zu den theoretischen Konzepten zu Berufen und Professionen (Schütze 1987) und verbindet sich mit dem Konzept der ,social worlds‘ und dem der ‚tra-jectories‘. Diese wären daher auch sinnvollerweise in ihrem Zusammenhang zu diskutieren, was jedoch den hier möglichen Rahmen sprengen würde.6 Die inter-aktionistischen Konzepte dienen seit den 1950er-Jahren insbesondere zur Erfor-schung der Einsozialisierung in das Sinnsystem von Berufen sowie zur Untersu-chung der jeweiligen Arbeitsabläufe im Beruf. Hughes, auf den die Tradition zur Untersuchung beruflicher Arbeit zurückgeht, fi el im Verlauf seiner Forschungs-

5 Zum allgemeinen theoretischen Orientierungsbestand des S. I. gehören bspw. so prominent ge-wordene theoretische Kategorien wie die „natural histories“, das „signifi kante Symbol“, die des „signifi kanten anderen“ oder des „verallgemeinerten anderen“, die sich mit dem Namen George Herbert Mead verbinden (Joas 2003: 98 f.) .

6 Zum Einsatz der Konzepte der ‚social worlds‘ und ‚arenas‘ bei der Untersuchung von Orga-nisationen empfehle ich Clarkes (1991) Aufsatz oder den Beitrag von Wiener (1991), alterna-tiv auch Schützes (2002) Ausführungen hierzu. Zur Kategorie der ,trajectories‘ siehe Strauss (1991: 149 – 176) oder Grathoff (1991: 373 – 381).

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arbeiten auf, „[…] dass die Berufe, insbesondere die professionellen, eine je für sie charakteristische moralische Kollektivität oder soziale Welt ausbilden“ (Schütze 1987: 536). Dieser Befund stellt also den Ausgangspunkt einer zunehmend sys-tematischen und forschungsmethodisch versierten Untersuchung zur Organisa-tions- und Berufswelt dar, die sich stärker in die Traditionslinie von Robert E. Park über Everett C. Hughes zu Anselm Strauss und Howard S. Becker stellen lässt.7 Um zu einer klaren Vorstellung zu kommen, auf welche analytische Haltung sich diese Studien gründen, greife ich auf ein Zitat von Hughes zurück:

„Work is the central theme of sociological and social psychological study of work. Certainly not all students of work would agree that ‚work as interaction‘ is the cen-tral theme of their specialization, but probably everyone does assume that work rests on interaction even if theirs analyse or description do not focus on interaction itself “ (Hughes 1971: 304 zitiert nach Corbin & Strauss 1993: 81 f.).

Man wäre allerdings einem Irrtum erlegen, Hughes Aussage „work rests on interaction“8 so zu verstehen, dass die Symbolischen Interaktionisten ihre Un-tersuchungen auf die mikroanalytische Dimension von beruflicher Arbeit be-schränkten. Ihre Konzepte bieten vielmehr den Vorzug, nicht nur mikroanaly-tische Aspekte zu erfassen, sondern diese darüber hinaus in ihren meso- und makroanalytischen Dimensionen und Bezügen verorten zu können. Wenn man verstehen will, was es mit dem Konzept des ‚arc of work‘ auf sich hat, sollte man zunächst wissen, welchen Begriff des Handelns Strauss hier zugrunde legt und ferner wie er Organisationen hierauf gründend defi niert. Strauss geht es, „[…] um die Fundierung von Sozialität im Handeln, ohne dabei die Struktur sozialer Orga-nisation und gesellschaft licher Institutionen als bloße Handlungsfolgen“ zu den-ken (Strübing 2007: 10). Seine Untersuchungen basieren auf der Grund annahme eines Wechselverhältnisses von unhintergehbaren Strukturen, die im Handeln je-doch stets neu erfahren werden, und dem Handeln selbst, durch das die Handeln-den sich mit ihrer als strukturiert erlebten Umwelt ins Verhältnis setzen. Handeln

7 In Ergänzung der Traditionslinie von Mead, Dewey zu Blumer (Interview mit Howard S. Becker am 25. 08. 2010).

8 Chapoulie (2001) macht auf die häufi g missverstandene Implikation des Begriff es „Interaktion“ aufmerksam und hält fest: „[…] I must insist, against the most frequent interpretation, that the term ,interaction‘ was used neither by Park, nor later in the Chicago tradition, to mean only face-to-face interactions among individuals. According to the terminology in the Park and Burgess textbook, it fi rst referred to relations of competitions among groups that did not imply actual contact“ (ebd.: 179).

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stellt sich für Strauss als ein in erster Linie fortgesetzter Strom von Routinen dar, weshalb er seine Untersuchungen konsequent im beruflichen Alltag der Akteure verankert. Hierbei richtet er allerdings sein Augenmerk auf die Kontingenzen und Brüche der Routinen, an denen sich Charakteristisches des jeweiligen Untersu-chungsbereiches zeigen lässt. Diese Haltung hat Konsequenzen: auch für das Ver-ständnis von Organisationen als sich ständig verändernde Einheiten, die sich ihm als Prozess darstellen.

Das von Anselm Strauss entwickelte Konzept des ‚arc of work‘ selbst nimmt, darauf hatte ich bereits hingewiesen, insbesondere Anschluss an die Arbeiten von Hughes zu Professionen (1951, 1971). Daher verwundert es nicht, dass es vornehm-lich aus medizinsoziologischen Studien hervorgegangen ist.9 Strauss’ Überlegun-gen zu den in und durch Interaktion artikulierten Strukturen beruflicher Arbeit im Allgemeinen und sein Konzept des ‚arc of work‘ im Besonderen entstehen also im Kontext von intensiven Feldstudien zur medizinischen Arbeit in Krankenhäu-sern. Strauss interessierte sich neben der Entwicklung von Projekten insbeson-dere für Erleidensprozesse. Auf der Basis langjähriger Feldforschungen erkennt er Abschnitte eines Arbeitsprozesses und segmentiert diesen analytisch. Ein Seg-ment, das sich prozesshaft auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausrichtet, defi niert er als ‚project‘.10 Im Kontrast hierzu stehen größere Einheiten oder Seg-mente des Arbeitsprozesses wie bspw. ‚lines of work‘ (Strauss 1991: 116). Er fi ndet heraus, dass mit einem Projekt eine gewisse Anzahl von Aufgaben verbunden ist, die über eine bestimmte Zeit getan werden müssen und nach spezifi schen Krite-rien auf verschiedene handelnde Personen oder auch auf Gruppen von Personen verteilt werden. Ein ‚project‘ ist in einen Aktionsverlauf eingebunden und bringt eine Arbeitsteilung hervor. Strauss’ Konzeption zielt dabei weniger auf die han-delnden Personen als vielmehr auf die Handlungen selbst ab.

Die Gesamtheit der Aufgaben, ‚tasks‘, die zu einem ‚projekt‘ gehören, hat Strauss the arc of work genannt und die hierin eingeschlossenen Arbeitsformen – ‚work types‘.11 Seine Studien zielen darauf herauszufi nden, wie Organisationen das

9 Diese sind allerdings auch biografi sch motiviert, denn Strauss hat aufgrund eigener Erkrankun-gen selbst einige Zeit seines Lebens in Krankenhäusern verbracht. Verallgemeinernd können wir dazu bei Chapoulie (2001: 185) Folgendes nachlesen: „Some of these empirical studies – maybe the majority, if one believes certain suggestions by Hughes – were done by researchers already familiar, by virtue of their own biographies and even before beginning their research, with the occupations or institutions they studied.“

10 Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Strauss 1991: 71 – 98.11 Das Modell geht davon aus, dass jede umfassende Arbeit, jedes Projekt, durch einen übergreifen-

den, weitgespannten ‚arc of work‘ (Arbeitsbogen) defi niert ist, der die einzelnen Tätigkeiten und Aufgaben umfasst. Dabei sind sowohl intendierte Handlungen als auch sich zufällig ergebende

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für sie charakteristische Niveau von Artikulation (‚articulation work‘) erreichen und wie es von deren Mitgliedern aufrechterhalten wird (Strauss 1991: 117). Mit der nachstehenden Abbildung sollen die bisher genannten zentralen Elemente des ‚arc of work‘ visualisiert und mit einem Blick erfassbar dargestellt werden.

In den bisherigen Ausführungen ging es darum, das Konzept des ‚arc of work‘ einzuführen, d. h. jene Perspektive von Strauss deutlich werden zu lassen, die ihre Aufmerksamkeit auf Interaktionsprozesse legt, durch die sich Arbeitsprozesse grundsätzlich entwickeln. Ich komme nun auf eine übergeordnete Arbeitsform – die ‚sentimental work‘ – zu sprechen, die in der deutschsprachigen Rezeption bislang eine marginale Position einnimmt. Sie kann sich jedoch insbesondere für den Zusammenhang zwischen beruflicher Alltagspraxis und Organisationskultu-

und unerwartete Zwischenfälle eingebunden. Bei umfassenden, komplexen Projekten oder Ver-änderungsprozessen kann der ‚arc of work‘ daher stets erst rückblickend rekonstruiert werden, da er nicht in allen Details antizipiert werden kann. Die Metapher eines arc (Bogen) suggeriert zwar einen Beginn und ein Ende der Gesamtgestalt, das Modell geht aber gerade nicht von einem festgelegten Verlauf an Arbeitsschritten und Tätigkeiten aus. Der arc als geschlossene Form zeigt vielmehr an, dass mit ihm eine retrospektive Strukturierung und somit eine Vereinfachung des gesamten Prozessverlaufs und -geschehens mit dem Ziel des Verstehens möglich wird.

Eigene Darstellung zum ‚arc of work‘

310 Kirstin Bromberg

ren, und damit für die Beziehungen zwischen mikroperspektivischen Befunden und mesostrukturellen Einsichten, als analytischer Schlüssel erweisen (Bromberg 2009, 2010).

3.1 ‚Sentimental work‘ als übergeordnete Arbeitsform im Kontext des ‚arc of work‘

Bei der Gefühlsarbeit, so die Übertragung ins Deutsche,12 handelt es sich um einen prozessbegleitend auftretenden Arbeitstypus, der seinen „Ursprung in der elementaren Tatsache [hat], daß jede Arbeit mit oder an menschlichen Wesen deren Antworten auf diese instrumentelle Arbeit in Rechnung stellen sollte“ (Strauss et al. 1980: 629). Somit sei leicht zu sehen, „daß jede ‚Servicearbeit‘, die Agenten und deren Klienten umfaßt, die Möglichkeit und geradezu Wahrschein-lichkeit von Gefühlsarbeit beinhaltet“ (ebd.: 629). Obgleich es sich bei diesem Arbeitstypus um einen „bereitwillig und geradezu universell wahrgenommenen Aspekt beruflicher Arbeit handelt, sei Gefühlsarbeit weder per se analysiert noch in Verbindung zu anderen Arbeitsformen gebracht worden, so schreiben Strauss et al. bereits 1980.

Wenn ich nun über das „sentimental work“ als übergeordneten Arbeits typus spreche, beziehe ich mich in einem ersten Gedankenschritt auf meine eigene Stu-die zu Gewerkschaft en (Bromberg 2009), um verständlich zu machen, was es damit auf sich hat. Nach einem knappen Fazit zu meinen Ausführungen werde ich in einem zweiten Gedankenschritt die oben bereits erwähnten forschungs-praktischen Anwendungen des ‚arc of work‘ einbeziehen (Ackermann 2005; Bräu 2002; Th räne 2003; Feindt / Broszio 2008), um die Implikationen und Potenziale dieser Analyseeinstellung an weiteren Beispielen herauszuarbeiten. Was versteht man nun unter ‚sentimental work‘ ? Gefühlsarbeit ist

„Arbeit, die speziell unter der Berücksichtigung der Antworten der bearbeiteten Per-son oder Personen geleistet wird und die im Dienst des Hauptarbeitsverlaufs erfolgt“ (Strauss et al. 1980: 629).

Bei der Übersetzung des Begriff es ‚sentimental work‘ in „Gefühlsarbeit“ kön-nen Irritationen auftreten. Strauss et al. (1980: 650) weisen darauf hin, dass bei

12 Strauss, Anselm et al. (1980): Gefühlsarbeit. Ein Beitrag zur Arbeits- und Berufssoziologie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 32. 629 – 651.

„Arc of Work“ 311

dem Wort ‚sentimental‘ mitnichten auf den im deutschen Sprachgebrauch exis-tenten Sinn von „rührselig“ oder „sentimental“ abgestellt wird, sondern dass es sich um eine Anlehnung an den Begriff ‚sentiments‘ handle, der sich auf Emotio-nen und Leidenschaft en beziehe. Hierbei räumen die Autoren ein, dass der von ihnen gewählte Ausdruck durchaus eine altmodische Formulierung sei (Strauss et al. 1980: 650). Gefühlsarbeit hat nun ihren Ursprung in der elementaren Tatsa-che, dass jede Arbeit mit oder an menschlichen Wesen deren Antworten auf diese Arbeit in Rechnung stellen sollte; ihre Antworten können in der Tat ein zentraler Bestandteil dieser Arbeit sein. Allerdings wird die ‚sentimental work‘ häufi g ge-rade nicht zur institutionell ausweisbaren Arbeit gerechnet. Ältere Anwendungen zur Gefühlsarbeit stellten heraus, dass ‚sentimental work‘ entweder ideologisch fundiert ist (Jackall 1978) oder einer Handlungsorientierung entspringt, die auf das Erreichen eines speziellen Zieles hin angelegt ist. Ein solcher sogenannter „Si-tuationstypus“ ist in einer Untersuchung von Glaser (1976) zum Interaktionspro-zess zwischen dem zukünft igen Eigentümer eines Hauses und den dieses Haus bauenden kommerziellen Bauhandwerkern zutage getreten. Während ein großer Teil der Arbeit technischer Natur sei und in enger Beziehung zur Konstruktion des Hauses selbst stehe, betreff e ein anderer, minder großer Teil gefühlsbezogene Arbeit. Zwischen beiden Akteursgruppen bestehe ein maximal kontrastierendes Verhältnis, das sich auf ihr persönliches Engagement beim Bau des Hauses bezieht. So bezögen sich die Gefühlsaufgaben des künft igen Hauseigentümers darauf, die Handwerker zu maximalen Leistungen beim Hausbau zu motivieren – während die Handwerker sich darauf konzentrierten, zu verhindern, dass der Hauseigen-tümer außer Fassung gerät, wenn sie weit unterhalb dieser anvisierten Leistungen blieben. Gefühlsbezogene Arbeit sei es auch, ihn zügig aus diesem Zustand wieder herauszuholen (Strauss et al. 1980: 649).

In meiner Studie zu Gewerkschaft en (Bromberg 2009) nutzte ich ‚sentimen-tal work‘ bspw. als analytisch sensibilisierendes Instrument zur Rekonstruktion beruflicher Arbeit bei Gewerkschaft en. Hierdurch wurden auf der mikroanalyti-schen Ebene Einsichten in die gewerkschaft skulturelle Rekrutierungs- und Bin-dungsarbeit befördert, die zugleich Voraussetzung für Erkenntnisse auf einer meso analytischen Ebene, hier zur sozialen Welt der Gewerkschaft en, gewesen sind. Strauss und seine Mitforscherinnen haben in ihren Untersuchungen ‚sen-timental work‘ nicht nur im Allgemeinen im Blick,13 sondern fragen nach den verschiedenen Arten der Gefühlsarbeit, unter welchen Bedingungen sie auftau-

13 Das Konzept des ‚sentimental work‘ lässt sich bis zu den frühen medizinsoziologischen Studien von Glaser und Strauss zurückverfolgen (bspw. 1965, 1968).

312 Kirstin Bromberg

chen, wie und von wem Gefühlsaufgaben erledigt werden, in welcher Verbindung solche Gefühlsaufgaben zu Nichtgefühlsaufgaben stehen sowie welche Konse-quenzen sich aus der vollzogenen bzw. nicht oder nicht erfolgreich vollzogenen Gefühlsarbeit ergeben. Diese Fragen erlangten auch für die Übertragung des Kon-zeptes auf meine Analyse zur beruflichen Arbeit von Akteuren bei der Gewerk-schaft zentrale Bedeutung, wie ich im Weiteren noch ausführen werde. Nicht nur die Einzelfallanalysen, sondern auch die angeschlossenen komparativen Analysen konnten hierdurch im Grad ihrer Präzision deutlich erhöht werden.

Strauss et al. können im Zuge ihrer Studien sieben Dimensionen der ‚sentimental work‘ identifi zieren und genauer untersuchen (ebd.: 635 ff.).14 Von diesen waren vier Dimensionen für meine Untersuchung im engeren Sinne relevant. Erstens das ,interactional work and moral rules‘: Es handelt sich hierbei um die elementarste Form interaktionsbezogener Arbeit. Sie ist stets von Regeln des gewöhnlichen Umgangs und daher moralisch geprägt. Ein Beispiel für gewerkschaft skulturelle Moral, hier als Ermunterung zu politischer Partizipation im Bereich der Jugend-arbeit, stellt die folgende Aussage eines Gewerkschaft sakteurs dar:

14 Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Strauss et al. 1980: 635 ff.

Eigene Darstellung zum ‚sentimental work‘

„Arc of Work“ 313

„ich seh meinen Job nich als unbedingt als Dienstleistung //hm// muss ich sagen also ich möchte was anderes transportieren //hm// auch so ’n gewissen Idealismus (.) der den kann man manchmal entdecken in Menschen die schon einige schlechte Erfah-rungen gemacht haben und sagen //hm// also irgendwie kann das nicht sein aber die fühlten sich nie befähigt was zu machen weil //hm// sie nich wussten wie //hm// und wenn man da den Punkt kriegt dann kann man da sehr viel Interesse wecken“. (Auszug aus dem Interview mit Regine Bauer15, s. a. Bromberg 2009: 226).

Zweitens zeigt sich die ,trust work‘, die Vertrauensarbeit, als relevante Dimension gewerkschaft licher Rekrutierungsarbeit. Strauss et al. beobachteten ihre Notwen-digkeit beispielsweise in Situationen, in denen es darum geht, die medizinische Versorgung (Versorgung von Wunden, chirurgische Eingriff e etc.) zu gewährleis-ten. Das Begründen und Erhalten von Vertrauen als eine herausragende Gefühls-aufgabe erlangt insbesondere im Kontext der Bindung von aktiven Mitgliedern an Gewerkschaft en eine zentrale Bedeutung:

„aber im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rüh-ren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zu-sammenhalten würden wär das ’ne (easy)*Geschichte* ((*lachend gesprochen)) //hm// das wäre wunderbar //mhm// aber sie tun’s halt nich obwohl sie zum Teil auch in der Gewerkschaft sind //hm// die machen das nich und manche die kriegst du rucki zu-cki rum und die wenn die einmal Erfolg hatten dann machen die das auch weiter ne //hm// ohne Rücksicht auf Verluste und die bleiben meistens auch am *längsten* ((*la-chend gesprochen)) //hm// in so ’m Laden“.(Auszug aus dem Interview mit Regine Bauer, s. a. Bromberg 2009: 227).

Die Aspekte der ‚biographical work‘16 und der ‚identity work‘, deren Übergänge sich als fl ießend darstellen, erwiesen sich ebenfalls als für meine Untersuchung re-

15 Aus Gründen der Anonymisierung handelt es sich hier, wie auch im Folgenden, um codierte Na-men.

16 Als ein Beispiel für biografi sche Arbeit führt Strauss die amnesistische und diagnostische Befra-gung zu Beginn der medizinischen Behandlung an. Diese könne als Form der biografi schen Ar-beit mit oder ohne Augenmerk für deren gefühlsbezogenen Aspekte getan werden. Das Personal könne diese Befragung demnach als ein Abfragen von Fakten hinter sich bringen oder aber als ein Gespräch, das neben den Informationen zur Krankengeschichte zudem die Art und Weise zu leben, soziale Beziehungen zu nahen Verwandten und Freunden des Patienten zutage fördert.

314 Kirstin Bromberg

levant. Der nachfolgende Interviewauszug dokumentiert den Aspekt der biogra-fi e- und identitätsbezogenen Arbeit an den Adressaten der Gewerkschaft sarbeit:

„es gibt äh von uns dieses Planspiel ready steady go //mhm// das ist ein autobiografi -sches Planspiel ((holt es vom Schrank)) //aha// wo wir versuchen gemeinsam äh mit Kooperationspartnern Bewerbertraining zu machen //mhm// hier hab ich in den letz-ten halben dreiviertel Jahr also Ende 2005 glaub siebenhundert oder achthundert Ju-gendliche erreicht in der Region S-Stadt //mhm// über dieses Planspiel //ist ja ’ne Menge// das isch halt auch noch ’ne Arbeit wo viel Aufwand bedeutet viel Kontakt-pfl ege von Betriebsräten“.(Auszug aus dem Interview mit Jürgen Teschner, s. a. Brom-berg 2009: 216).

Dass diese Form der biografi schen Arbeit nicht nur an den Adressaten, sondern auch von den Gewerkschaft sakteuren an sich selbst verrichtet werden kann, zeigt der nachfolgende Auszug, in dem sich Regine Bauer die Frage stellt, ob ihre beruf-liche Entscheidung, Gewerkschaft ssekretärin zu werden, die richtige gewesen ist:

„also wenn ich das äh wieder rückg- gängig machen könnte ich würde auch wieder gern als Verwaltungsangestellte arbeiten weil das is einfach einfacher //mhm// und ich ähm kann hab man hat das Gefühl man kann mehr für die Mitglieder tun //mhm// weil man ein Ergebnis sieht … ja du machst halt wieder Kasse Buchhaltung und hast immer Kontaktzeit bestimmte Dinge aus (.) schreibst Einladungen und du kümmerst dich immer du hast immer direkten Kontakt mit den Mitgliedern es geht immer über dich //mhm// und während Sekretäre ja äh mh oft nur ein sozusagen direkten Kon-takt draußen haben aber alles andere was Mitgliedschaft angeht läuft indirekt ab also man gibt mal was weiter also wenn man sagt die Kontonummer hat sich geändert oder (.) ähm //mhm// dadurch ist die Betreuung eigentlich oder der Kontakt letzten Endes fast noch intensiver //mhm// sehr wertvoll also //mhm// und ganz wichtig //mhm// und das man Bescheid weiß und sacht das kann man für d- das kannst du kriegen und die Ansprüche hast du meinetwegen //mhm// auch bei uns wenn man sechs Wochen krankes Geld kriegt //mhm// ne Zuschuss zum Krankengeld oder Freizeitunfallver-sicherung halt solche Sachen bearbeitet man dann auch //mhm// und du hast’n Er-

Um die Th erapie für chronisch erkrankte Patienten planen zu können, sei es ferner wichtig, den Überlebenswillen einschätzen zu können, wozu eine sensible Gesprächsführung, ausreichend Zeit und Ruhe beim Personal nötig ist. Identitätsarbeit beispielsweise könne jedoch vom Personal auch an sich selbst verrichtet werden, indem es sich die emotionale Teilnahme am Krankheits-verlauf eines Patienten nicht anmerken lässt, folglich Fassung bewahrt, oder indem es sich mit persönlichen Problemen ihrer Patienten auseinandersetzt (Strauss et al. 1980: 640).

„Arc of Work“ 315

gebnis du hast abends siehst du was du getan hast und das siehst in dem Job draußen kaum //mhm// wann kriegste mal nen Meldebogen das nen neuer Betriebsrat gewählt is //mhm// wenn de Glück hast zweimal im Jahr //mhm// *als Erfolgserlebnis* ((*la-chend gesprochen) oder mal //mh// das se zu dir sagn Mensch das hat das war klasse wir haben was erreicht und so //mhm// das ist auch äußerst selten ne //mhm// das die Leute dann mal positiv //mhm// da mit solchen Sachen rüberkommen“ (Auszug aus dem Interview mit Regine Bauer, s. a. Bromberg 2009: 177).

Als weniger übertragbar erschien mir die ,composure work‘, womit die Arbeit an-gesprochen wird, die im medizinischen Kontext darauf abzielt, die mentale Fas-sung der Patienten und ihrer Angehörigen oder die eigene auch dann aufrechtzu-erhalten, wenn der Krankheitsverlauf eine ungünstige Entwicklung nimmt oder gar zum Tode des Patienten oder der Patientin führt. Ebenso wenig wie der As-pekt des Fassung Bewahrens waren diejenigen Formen von Gefühlsarbeit, die Strauss als ,awareness context work‘ und ,rectifi cation work‘ bezeichnet, für meine Studie von Bedeutung.

Um meine Ausführungen zum angekündigten knappen Fazit zusammenzu-binden, möchte ich explizit erwähnen, dass sich das ‚arc of work‘-Konzept nicht nur für eine tiefere Analyse von beruflicher Arbeit im Kontext von Medizin eig-net, sondern letztlich zur Untersuchung jeder auf Interaktionen basierender be-ruflichen Arbeit erkenntnisfördernd eingesetzt werden kann. Exemplarisch kann hier auf aktuelle Anwendungen in der Berufs- und Professionsforschung verwie-sen werden. Allerdings hat Strauss das selbst auch schon so eingeschätzt, wenn er sagt:

„Th e arc concept – with its implicated phases, types of work, clusters of tasks, and ar-ticulation of tasks – can be central for a deeper analysis of medical work in relation to division of labor issues, and possibly for work in other settings“ (Strauss 1991: 76).

Bei der Anwendung dieses Analyseinstrumentes sollte indes sorgfältig darauf ge-achtet werden, in welchen Bereichen es vergleichbare Aspekte zur jeweils unter-suchten beruflichen Arbeit gibt und wo eine Erweiterung und Ausdiff erenzierung des ‚arc of work‘-Konzeptes nötig ist. In welcher Weise dies bislang forschungs-praktisch umgesetzt und mit welchen analytischen Einsichten diese Anwendun-gen verbunden werden konnten, soll Gegenstand meiner nachfolgenden Ausfüh-rungen sein.

316 Kirstin Bromberg

3.2 Beispielstudien zur Anwendung des ‚arc of work‘

Das ‚arc of work‘-Konzept ist dasjenige der interaktionistischen Konzepte, wel-ches am häufi gsten Anwendung auf aktuelle Studien fi ndet. Die nachfolgend refe-rierten Studien nutzen sein theoriebildendes Potenzial insofern, als sie sich nicht in mikroanalytischen Aspekten und Prozessen beruflichen Handelns erschöpfen. Vielmehr sind die Forscher und Forscherinnen daran interessiert, ihre empiri-schen Befunde auch auf abstraktere Ebenen wissenschaft licher Erkenntnisse zu transferieren und auf dieser Grundlage unter Umständen auch Empfehlungen für die Praxis zu entwickeln. Beispielsweise fi ndet sich eine Reihe von Studien, die Erkenntnisse zur beruflichen Handlungspraxis zu den Inhalten der jeweili-gen Ausbildungsphase in Beziehung setzen und Vorschläge zu ihrer Weiterent-wicklung unterbreiten (Th räne 2003; Bräu 2002; Feindt / Broszio 2008). Wenn man sich den inhaltlichen Bezügen aktueller Anwendungen des ‚arc of work‘-Konzeptes widmet, so beziehen sich zwei der insgesamt fünf Studien auf den Un-tersuchungsbereich Schule (Bräu 2002; Feindt / Broszio 2008 mit Bezug auf die Ausbildungsphase zum Lehramt) und drei Studien untersuchen eine konkrete be-rufliche Handlungspraxis (Bromberg 2009 zur beruflichen Arbeit bei Gewerk-schaft en; Ackermann 2005 zur psychologischen Beratungsarbeit; Th räne 2003 zum beruflichen Handeln von Fahrlehrern). Allen Studien gemeinsam ist, dass sie das ‚arc of work‘-Konzept zur Datenanalyse heranziehen. Hierbei generiert lediglich die Studie von Bräu Feldforschungsdaten, während die anderen das ‚arc of work‘-Konzept zur Analyse von Interviewdaten, die überwiegend in Form von biografi sch-narrativen Interviews nach Schütze (1983) generiert wurden, einset-zen. Forschungsmethodisch muss darauf hingewiesen werden, dass sich Strauss und seine Mitarbeiter stets eines Feldforschungsdesigns bedienten.17 Es handelt sich damit um unmittelbar im relevanten Untersuchungsbereich durchgeführte Datenerhebungen, mit der sich die Möglichkeit zu einer prozessualen Perspek-

17 Zu den personellen, zeitlichen und technischen Ressourcen des Forschungsprojektes, welches der Publikation von 1980 zugrunde liegt, ist hervorzuheben, dass es sich hierbei um vier Feldfor-scher handelte, die über einen Zeitraum von zwei Jahren zahlreiche Stationen in sechs Kranken-häusern in Kalifornien beobachtet haben (Strauss et al. 1980: 630). Jüngere Klassifi kationen von qualitativen Methoden der Datenerhebung, die auf die Trennung sogenannter reaktiver Verfah-ren (Interviewverfahren, Gruppendiskussionen, Ethnografi sche Verfahren teilnehmende Beob-achtung) von nicht-reaktiven (Tagebücher, archivierte Dokumente und Materialien etc.) abheben (z. B. Marotzki 1999: 112 ff.), lassen sich nicht ohne Weiteres auf den Forschungsstil der Symbo-lischen Interaktionisten und das von ihnen bevorzugte Feldforschungsdesign übertragen. Die-ses konstituiert sich sowohl durch explorative Beobachtungsverfahren als auch durch Interviews und den Einbezug von schrift lichen Dokumenten (Chapoulie 2001: 179).

„Arc of Work“ 317

tive auf berufliche Arbeitskontexte eröff net. Eine Prozessperspektive eröff net sich bspw. in der von mir durchgeführten Studie (Bromberg 2009) lediglich durch die narrative Grammatik, also aufgrund der Struktur meiner Interviewdaten. Feindt und Broszio (2008) geht es beim Einsatz des ‚arc of work‘-Konzepts zur Ana-lyse ihrer Interviewdaten zum einen um die Rekonstruktion der studienbiogra-fi schen Perspektive auf Lehramtsstudierende und zum anderen um deren For-schungspraxis (ebd.: 5).18 Zwischen meiner hier vorgestellten Studie und der von Feindt und Broszio bestehen daher sowohl mit Blick auf die Verwendungsweise des Konzeptes im Sinne Blumers als „sensitizing concept“ (1969: 147 – 151) als auch in ihrem Erkenntnisinteresse an berufsbiografi schen Verläufen und beruflicher Handlungspraxis deutliche Parallelen. Feindt und Broszio (2008: 11 – 15) disku-tieren zudem auf anspruchsvolle Weise Entstehung und Konzeptualisierung des ‚arc of work‘ durch die Forschungsarbeiten von Strauss und seinen Mitforschern (1991) als auch seine theoretische Schärfung durch Schütze (1984, 1987) und hier-bei zutage tretende Diff erenzen. Bräu, Ackermann und Th räne beziehen sich hin-gegen in der Anwendung des Konzeptes zur Datenanalyse am konsequentesten auf den systematischen Ordnungs- und Weiterentwicklungsversuch, den das Konzept durch die Arbeiten von Schütze (1984, 1987) erfahren hat. Dabei geht es ihnen weniger um die Einführung und Kontextualisierung des ‚arc of work‘-Konzeptes selbst, sondern vielmehr um das gezielte Aufgreifen von Aspekten des Strauss’schen Konzeptes. So fokussiert beispielsweise Th räne (2003) auf Schwie-rigkeiten in der beruflichen Handlungspraxis von Fahrlehrern und identifi ziert konkrete Problemstellen in der Fahrlehrerausbildung, im Berufseintritt sowie in den Bedingungen des beruflichen Handelns selbst. Er arbeitet mit Bezug auf pro-fessionstheoretische Fragestellungen heraus, dass die Ausbildung zum Fahrlehrer bzw. zur Fahrlehrerin überwiegend auf technische Aspekte bezogen ist, woraus Schwierigkeiten auf der interaktiven und kommunikativen Ebene des „fahren leh-rens“ entstehen können. Weiterhin rekonstruiert er eine überwiegend „dienstleis-tungsorientierte“ Berufseinstellung der Fahrlehrer, d. h. eine innere Haltung zur beruflichen Arbeit, die auf nur wenigen Sinnquellen beruht und im Verein mit den fremdbestimmten Arbeitsbedingungen – vor allem den Arbeitszeiten – häufi -ger zu einem beruflichen Ausbrennen führt (ebd.: 286). Dabei gehören die berufs-biografi schen Aspekte, die in den referierten Studien überwiegend thematisiert werden, nicht im engeren Sinn zum ‚arc of work‘-Konzept selbst. Vielmehr han-delt es sich hierbei um weitergehende empirische Erträge, die auf seiner Grund-

18 Die Studie von Feindt und Broszio (2008) untersucht den Umgang mit und die Refl exion von Forschungsaufgaben im Lehramtsstudium.

318 Kirstin Bromberg

lage, insbesondere mit Bezug auf die „Evaluationskomponente“ (Schütze 1984: 16), generiert werden können, was einmal mehr auf den sensibilisierenden Charakter des Konzeptes aufmerksam macht.

Professionstheoretische Fragen fundieren auch die Studien von Ackermann, Bräu sowie die von Feindt und Broszio. Ackermann (2005) widmet sich in ihrer qualitativen Studie beispielsweise dem Schnittfeld von Professionssoziologie und Beratungsforschung, einem Forschungskontext, der ebenso zu Strauss’ Untersu-chungsinteressen zählte. Gemeint ist die professionelle Bewältigung von Prozes-sen des Erleidens, hier im Kontext unerwünschter Kinderlosigkeit. Ackermann bezieht sich insoweit auf die Ebene des ‚arc of work‘ bei Strauss, als sie die psy-chosoziale Fallarbeit als ‚project‘ defi niert. Sie erhebt auf der Grundlage biogra-fi sch-narrativer Interviews (Schütze 1983) Informationen zur biografi schen und handlungspraktischen Dimension psychosozialer Beratung und bezieht diese aus-wertungsmethodisch auf das ‚arc of work‘-Konzept. Die Arbeit von Ackermann (2005) ist hierbei konsequent an dem von Schütze (1984) erarbeiteten Ordnungs-versuch orientiert, in welchem er Strauss’ auf eine Vielzahl von Texten „verteilte“ theoretische Überlegungen zum ‚arc of work‘ analytisch ordnet und zu überge-ordneten Komponenten zusammenführt. Die auf dieser Grundlage rekonstruier-ten und für die Beratung im Kontext pränataler Diagnostik als zentral identi-fi zierten Tätigkeiten kennzeichnen die berufliche Praxis der Beraterinnen und beschreiben die für diese Bedeutung sich entfaltenden Bedingungsfaktoren vor-wiegend auf einer mikroanalytischen Ebene.

Feindt und Broszio (2008) hingegen sind stärker an einer mesoanalytischen Diskussion ihrer Befunde zu einer forschungsbasierten Lehramtsausbildung in-ter essiert. Ihre Vorschläge zur curricularen Platzierung und Durchführung schul-bezogener Forschungsprojekte basieren auf Interviewdaten, die sie im Zuge der akademischen Lehramtsausbildung erhoben haben. Sie ziehen das ‚arc of work‘-Konzept heran, um die Bedingungen schul- und unterrichtsbezogener Hand-lungspraxis aus professionstheoretischer Perspektive zu untersuchen. Hierzu greifen sie den Diskurs zur ‚research-based teacher education‘ auf: Zwar sei die Bedeutung des forschenden Lernens in der Ausbildung von Lehramtskandidaten an sich unbestritten, indes sei sie nicht durch empirische Daten belegt (ebd.: 3). Sie befragen daher, ebenfalls auf der Grundlage des biografi sch-narrativen Interviews, Lehramtsstudierende zu ihren Erfahrungen mit schul- und unterrichtsbezogenen Forschungsarbeiten und generieren auf diese Weise Daten zu deren studienbio-grafi scher Perspektive einerseits sowie zur Forschungspraxis der Studierenden andererseits. Der Refl exivität als professionstheoretische Schlüssel kategorie gilt dabei ihr besonderes Forschungsinteresse. Feindt und Broszio rekonstruieren mit

„Arc of Work“ 319

Bezug auf die Dokumentarische Methode (Bohnsack 2010, 2003) Arbeitsbögen studentischer Forschungspraxis, an denen sich die Kategorie „Refl exivität“ auf zwei Ebenen zeigen lässt:

„[…] zum einen als Refl exivität erster Ordnung, die originär an die unmittelbare in-haltliche Fragestellung des jeweiligen Forschungsvorhabens gebunden ist, und zum anderen als Refl exivität zweiter Ordnung, die sich als Refl exion über die eigene For-schungspraxis zeigt“ (Feindt / Broszio 2008: 1).

Am Beispiel eines ausführlich dargestellten Arbeitsbogens zur studentischen For-schungspraxis zeigen die Autoren, wie sie zu einer aus professionstheoretischer Sicht zentralen Erkenntnis gelangen (ebd.: 17 – 30): Diese besteht in der Einsicht, dass sich die Refl exion zur eigenen Forschungspraxis in den Darstellungen der Lehramtsstudierenden als dominante Kategorie dokumentiert. In ihrem Schatten steht demnach die als „Refl exion erster Ordnung“ beschriebene Kategorie, die das Handlungsfeld Schule im Kontext von Forschung refl ektiert. Sie führen die Do-minanz von Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozessen im Rahmen der studentischen Forschungsarbeit auf die fehlende Routine forschungspraktischer Aktivitäten im Zuge der Lehramtsausbildung zurück. In der Diskussion ihrer Er-gebnisse empfehlen sie daher die curriculare Ausbalancierung von Settings, Pro-zessen und Methoden einer forschungsbasierten Lehrerausbildung einerseits und ihren Inhalten andererseits.

Auch Bräus Studie (2002) unterbreitet auf der Ergebnisebene Vorschläge zur Schulentwicklung und zu Schulprogrammen für die gymnasiale Oberstufe, aller-dings auf der Basis einer forschungsmethodisch anderen Strategie. Ihre Ergebnisse basieren, im Gegensatz zu den bisher genannten Studien, auf Feldforschungsdaten, womit sie der Strauss’schen Forschungsstrategie forschungsmethodisch am ähn-lichsten ist. Bräu benutzt Strauss’ Konzept zur Analyse von Gruppentätigkeiten bei einer Projektarbeit in der gymnasialen Oberstufe. Die qualitative Fallstudie zum gymnasialen Oberstufenunterricht verfolgt das Anliegen, die Komplexität der Praxis dieser Lernform zu erfassen und zu verstehen, indem sie die Projekt-arbeit auf Prozessabläufe untersucht. Hierdurch sollten die besonderen Anforde-rungen identifi ziert werden, die selbstständiges Lernen in der gymnasialen Ober-stufe sowohl an die in Gruppen aufgeteilten Lernenden als auch an die Lehrenden stellt. Die Ergebnisse der von Bräu beobachteten Arbeitsprozesse fl ießen zunächst in eine Darstellung der Gruppenaktivitäten der Schülerinnen ein, die von einer Analyse der Tätigkeiten der Lehrerin gefolgt wird. Bräu diskutiert abschließend Konsequenzen, die sich aus der Analyse der Projektpraxis ergeben im Hinblick auf

320 Kirstin Bromberg

Anforderungen, die sich mit einer solchen Unterrichtsform verbinden. Hierbei fo-kussiert sie auf die von der Lehrerin im Kontext dieser Lernform zu leistende Be-treuungsarbeit (‚sentimental work‘, vgl. Bräu 2002: 222 ff.). Um zu diesen Einsich-ten zu gelangen, bedient sich Bräu bei ihrer komparativen Analyse, an Schützes (1984) Vorschlag orientiert, folgender Vergleichskriterien: der „Einrichtungstätig-keiten“, der „Inhaltlichen Arbeit“, der „Sozialen Dimension“, wie zum Beispiel der Bildung und Zusammensetzung der Gruppen, der Arbeitsteilung sowie schließ-lich der „Refl exionsprozesse“ (Bräu 2002: 146 – 221). Bräu legt diese Vergleichskri-terien sowohl auf die Gruppentätigkeiten als auch auf die analytisch abgeleiteten Anforderungen für gymnasiale Lernformen an (ebd.: 146 – 221). Hierbei fokussiert sie die mikroanalytische Dimension und bezieht die sozialen Beziehungen auf der Ebene der Schülerinnen sowie zwischen Lehrer, Lehrerin und Schülerinnen ein. Im Zuge ihrer abschließenden Analyse zu den Konsequenzen ihrer Feldfor-schungsergebnisse erweitert sie schließlich diesen mikroperspektivischen Ansatz um die mesoanalytische Dimension, indem sie Vorschläge zur Schulentwicklung und zu Schulprogrammen für die gymnasiale Oberstufe unterbreitet.

4 Abschließende Bemerkungen

Am Beispiel der in diesem Beitrag vorgestellten Studien zu verschiedenen Kon-texten beruflicher Arbeit bestätigt sich Strauss’ oben gegebene Einschätzung, dass sich das ‚arc of work‘-Konzept nicht nur für eine tiefere Analyse von beruflicher Arbeit im Kontext von Medizin eigne, sondern letztlich zur Untersuchung jeder auf Interaktionen basierenden beruflichen Arbeit erkenntnisfördernd eingesetzt werden kann.

Was bedeutet es also, um zum Ende meines Beitrages zu kommen, in der Tra-dition des S. I. bzw. mit Bezugnahme auf seine grundlagentheoretischen Konzepte zu Organisationen, ihren Konzepten und Kulturen zu forschen ? Worin dokumen-tieren sich die zentralen Merkmale jenes prominent gewordenen Forschungsstils, wie wir sie auch bei Strauss entdecken ? Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen bediene ich mich zunächst der Aussagen prominenter Vertreter Symboli-scher Interaktionisten.

„For Strauss, understanding organizational phenomena centers on viewing environ-ments, organizations, industries, and sectors as structured arenas of action. Th rough simultaneous attention to collective commitments, tasks at hand, concrete work, in-stitutional settings, structural conditions, and social processes, social worlds / arenas

„Arc of Work“ 321

theory dissolves the confounding ‚split‘ between organizations and environments“ (Clarke 1991: 146).

Forschen bedeutet in diesem Sinne, die eigentümliche, aufgeteilte Perspektive zwi-schen Organisationen und deren Umgebungen zu überwinden. An ihre Stelle tritt die gleichzeitige Aufmerksamkeit für kollektive Verpfl ichtungen, konkrete beruf-liche Arbeit, institutionelle Settings sowie für strukturelle Rahmen und soziale Prozesse. Der Begriff Prozess ist dabei nicht nur eine theoretische Zierde, sondern impliziert die Überzeugung, dass soziale Prozesse Abläufe sind, die durch aufein-ander folgende Schritte konstituiert sind, sich also gerade nicht „in einem Rutsch“ ereignen (Becker / McCall 1990: 6). Die besondere Stärke des ‚arc of work‘-Kon-zeptes liegt hierbei darin, auf empirischem Weg zeigen zu können, dass berufli-ches Handeln häufi g projektförmig verläuft und sich regelmäßig durch sowohl simultan als auch sequenziell auftretende Segmente und Einheiten konstituiert.

Zudem zeigt sich die theoretische Stärke interaktionistischer Konzepte, hier am Beispiel des ‚arc of work‘-Konzeptes, deutlich an ihrer methodischen Flexibili-tät und ihrem Augenmerk auf das Kontingente an sozialen Prozessen. Mit diesem Forschungsstil verbinden sich demnach keine Vorgaben, spezielle Phänomene zu untersuchen oder wie Becker (1992: 19 f.) dies formuliert:

„Symbolic interactionist theory lacks a body of substantive propositions that would have directed our attention to particular phenomena in the way that, for instance, a psychoanalytically based theory might do. […] Th e areas we found ourselves concen-trating on were consistent with our general theoretical assumptions but did not fl ow logically and inevitably from them“.

Schließlich verbindet sich der hier referierte interaktionistische Forschungsstil mit einer konsequent empirischen und komparativen Forschungspraxis, die in ihrer Komplexität und forschungsmethodischen Versiertheit nichts an ihrer bei-spielgebenden Bedeutung für aktuelle Studien der Arbeits- und Organisations-soziologie der Gegenwart eingebüßt hat.

322 Kirstin Bromberg

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Komparative Verfahren und Grounded Theory

Uta Liebeskind

1 Einleitung

Zieht man auf dem „Warentisch“ empirischer sozialwissenschaft licher Forschung an dem Zipfel, auf dem „Vergleich“ geschrieben steht, dann entfaltet sich nach sehr ergiebigem Ziehen ein überaus buntes Tuch. Dieses Tuch weist vielschich-tige Facetten und Verweise in alle Richtungen sozialwissenschaft licher Forschung auf. Das Th ema rührt an sehr grundsätzliche Fragen wie etwa: Was heißt eigent-lich „wissenschaft liches Erkennen“ ? Was ist unter dem Begriff „Th eorie“ zu ver-stehen ? Welches ist die eigene Position als Forscher1 im Forschungsfeld ? Diese Fragen werden in diesem Artikel nicht systematisch beantwortet, vielmehr durch-misst der Artikel das bunte Tuch anhand eines einzelnen Fadens und berührt die genannten Fragen dabei am Rande. Dieser durchgehende Faden besteht in einem Vorschlag, wie Grounded Th eory2 gen utzt werden kann, um inhaltlich ver-gleichende empirische Forschungsprojekte anzugehen. Als illustrierendes Beispiel dient ein empirisches Projekt der Autorin, das in französisch-deutscher Perspek-tive die soziologische Betrachtung der Lehre an der Universität zum Inhalt hatte (Liebeskind 2011).

1 Die Autorin hat sich bemüht, den Text in geschlechtergerechter Sprache zu verfassen. Im Text werden deshalb aleatorisch mal weibliche, mal männliche Formen zur Bezeichnungen von Per-sonen verwendet. Vor allem im Plural ist das mitunter eine irritierende Lösung, weswegen auch auf die Schreibweise mit Binnen-I zurückgegriff en wird.

2 Der Ausdruck „Grounded Th eory“ bezeichnet sowohl das spezifi sche Set an Forschungsmethoden, die den gesamten Forschungsprozess strukturieren, als auch das Ergebnis des Forschungsprozes-ses selbst, der nämlich zur Entwicklung einer „grounded“, meint: gegenstandsbezogenen Th eorie führen soll. In der Fachliteratur ist deswegen zur Unterscheidung zwischen Methode und Ergeb-nis oft von „Grounded Th eory Methode“ bzw. -„Methodologie“ („grounded theory methods“ bzw. „grounded theory methodology“) die Rede (s. z. B. Charmaz 2005; Mey / Mruck 2011a). In diesem Artikel geht es, sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, um die Diskussion der Methode, weswegen der ursprüngliche, auch von den Vätern der Methode so eingeführte Begriff „Groun-ded Th eory“ benutzt wird.

326 Uta Liebeskind

Ziel des Artikels ist es zum einen, die Leserin im Hinblick auf ihre eigenen empirischen Projekte für die Vielschichtigkeit des sozialwissenschaft lichen Ver-gleichens zu sensibilisieren. Zum anderen möchte der Beitrag aufzeigen, welche Chancen konkret Grounded Th eory für vergleichende Projekte bietet. Der Beitrag richtet sich damit nicht nur an diejenigen, die nach Grounded Th eory arbeiten wollen. Die Überlegungen zum Vergleichen, die im Zusammenhang mit Groun-ded Th eory angestellt werden, markieren wichtige Anhaltspunkte, die die Refl e-xion und Auswahl konkreter Forschungsschritte in vergleichenden empirischen Projekten generell systematisieren helfen, – und so mag der Beitrag all denjenigen Anregungen bieten, die an inhaltlich vergleichenden Projekten interessiert sind.

Es wird nun zunächst dargelegt, was es bedeutet, in der Soziologie über ver-schiedene soziale und kulturelle Kontexte hinweg inhaltlich vergleichend zu ar-beiten.3 In einem zweiten Schritt folgt dann eine kurze Vorstellung der Grounded Th eory unter dem Blickwinkel der zuvor entwickelten Überlegungen zum Ver-gleichen.4 Daraufhin wi rd zur Illustration ein Beispiel aus einem konkreten For-schungsprojekt entfaltet: Es wird ein deutsch-französischer Vergleich auf dem Feld soziologischer Hochschulforschung erarbeitet. Im Fazit werden dann die wichtigsten Punkte noch einmal zusammengetragen. Zudem wird dort auch noch einmal aus allgemeiner Perspektive auf Grounded Th eory in der vergleichenden Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung zu blicken sein.

2 Was heißt „Vergleichen“ in der empirischen Sozialforschung ?

Explizit auf Vergleiche abstellende Arbeiten nehmen immer mehr Raum in der sozialwissenschaft lich-empirischen Forschungslandschaft ein: So, wie die Lebens-verhältnisse der Menschen überall auf der Welt längst nicht mehr innerhalb nur nationaler Bezugsrahmen verankert sind, haben aktuelle sozialwissenschaft liche Fragestellungen mehr und mehr einen interkulturellen bzw. internationalen und

3 Der Artikel stützt sich allerdings nicht auf einen wohl bestimmten Begriff von Kultur, der zu-nächst systematisch zu entwickeln wäre. Für eine Einführung in die Kultursoziologie und ihre Begriff sbildung s. z. B. Wohlrab-Sahr (2010).

4 Als allgemeine Einführung in den Forschungsstil ist dieser Artikel nicht geeignet. Wer eine me-thodologisch fundierte und zugleich praktisch orientierte Einführung zu Grounded Th eory er-halten möchte, sollte z. B. in Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008: Kap. 9.1) nachlesen oder, falls man sich für die (jeweils auch debattierten) Weiterentwicklungen der Grounded Th eory interes-siert, in Strauss und Corbin (1996) oder Charmaz (2006) nachschauen. Für eine Darstellung, die sowohl in das praktische Vorgehen nach Grounded Th eory als auch in die wissenschaft shistori-sche Herkunft und die erkenntnistheoretischen Grundlagen einführt, s. Strübing (2008).

Komparative Verfahren und Grounded Theory 327

damit vergleichenden Aspekt. Es liegt also nahe, beispielsweise Bildungs- und Er-werbsbiografi en nicht mehr aus dem Kontext nur eines Landes heraus verstehen zu wollen, sondern vielmehr Biografi en eingebettet in internationale Perspektiven zu betrachten, um übergreifende Zusammenhänge zu erkennen oder eben na-tionale Besonderheiten von Bildungs- und Arbeitsmarktsystemen herauszuarbei-ten (s. z. B. Allmendinger 1989 oder den ebenfalls als Klassiker zu bezeichnenden Sammelband von Müller und Shavit 1998, für ein neueres Beispiel aus der quali-tativen Arbeitsmarktforschung s. Nohl et al. 2010, darin insbesondere die Einlei-tung). Einige Forschungsfelder sind geradezu dadurch defi niert, dass in irgend-einer Form Vergleiche zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen angestellt werden. Dies trifft z. B. auf die Migrationsforschung zu, die – wie auch immer ein Projekt konkret ausgerichtet sein mag – mit unterschiedlichen kulturell geprägten Orientierungen zentral umgehen muss. Was aber heißt eigentlich „Vergleichen“ ?

Vergleichen an sich ist ein völlig alltäglicher Vorgang in der wissenschaft li-chen Praxis; der Vergleich ist eine der fundamentalen Methoden des Erkenntnis-gewinns: Er ist der Schlüssel zum induktiven und deduktiven Schließen, weil die Gleichartigkeit von Objekten bzw. die Übereinstimmung von Gesetz und Rand-bedingungen nur auf Basis von Vergleichen möglich ist.5 Vergleichbarkeit hängt dabei an einer wichtigen Bedingung: Die zu vergleichenden Objekte müssen Trä-ger eines gemeinsamen Merkmals sein. Verschiedene Äpfel kann man nur des-wegen miteinander vergleichen, weil sie sämtlich ein den Äpfeln typisches Farb-spektrum, Säurespektrum, eine den Äpfeln typische Form aufweisen. Birnen kann man deswegen nicht mit Äpfeln vergleichen, weil sie diese gemeinsamen Merk-male eben sämtlich nicht mit den Äpfeln teilen. Dieser von den Vergleichsobjek-ten zu teilende Maßstab wird auch das tertium comparationis, das Dritte des Ver-gleichens, genannt.6

5 Damit ist auch Messen, ein in der quantitativen Sozialforschung zentrales Element, nichts ande-res als Vergleichen: Ein empirisches Relativ ist qua Vergleich adäquat in ein numerisches Relativ zu übersetzen. Wie das Messen, also genau diese vergleichende Übertragungsleistung, im Falle kulturübergreifender Forschung zu geschehen hat, wird in der quantitativen Forschung inten-siv diskutiert, allerdings orientiert sich die Diskussion eher an der Harmonisierung der kulturell geprägten Begriff lichkeiten: Das Problem, das beim Messen mit standardisierten Erhebungs-instrumenten entsteht, ist, dass alle Beteiligten, also sowohl die Forscherin als auch jeder ein-zelne Befragte, potenziell jeweils etwas anderes unter den benutzten Indikatoren verstehen. Werden z. B. alle Befragten in einer in verschiedenen Ländern ausgeführten Studie das Gleiche verstehen unter „gerechtem Einkommen“ oder unter „einer der Ausbildung adäquaten Beschäf-tigung“ ? S. dazu z. B. Harkness et al. (2003), auch Hoff meyer-Zlotnik und Wolf (2003).

6 Zur Verdeutlichung: Selbstverständlich lässt sich einwenden, dass man Äpfel und Birnen sehr wohl miteinander vergleichen kann. Das gilt aber nur dann, wenn man sie in ihrer gemeinsamen Eigenschaft als Kernobst betrachtet. Dann ist aber das Ziel des Vergleiches, etwas über die Eigen-

328 Uta Liebeskind

In der Soziologie spielte der Vergleich von Beginn an eine bedeutende Rolle. Sowohl Max Weber als auch Emile Durkheim nutzten den Vergleich zur Th eorie-bildung; Durkheim setzte gar das Vergleichen als die einzige zulässige Methode der Soziologie ein (Durkheim 1984). Später ist die Art und Weise, wie Emile Durk heim das soziologische Vergleichen dachte, als kulturblind kritisiert wor-den (Matthes 1992a: 79 ff.). In jedem Fall aber zeigt die Durkheimsche Einsetzung des Vergleichs als Kardinalmethode der Soziologie ganz klar, dass das Vergleichen keineswegs nur abzielt auf das Verstehen unterschiedlicher gesellschaft licher Phä-nomene oder Einheiten, sondern dass dem Vergleich vielmehr erhebliche metho-dologische7 Bedeutung zukommt: Der Vergleich wird nicht als l’art pour l’art, als das nebeneinanderstellende Betrachten zweier Vergleichsgegenstände ausgeführt, sondern er kann aufgefasst werden als ein Mittel zum Erkenntnisgewinn, zur so-ziologischen Th eoriebildung schlechthin (vgl. Kohn 1987).8 Max Weber nutzte im Gegensatz zu Emile Durkheim den Kulturvergleich in seiner Th eoriebildung auch dazu, seinen eigenen Standpunkt zu relativieren, er erkannte also, dass die eigene Begriff sbildung der eigenen Kultur verhaft et ist. Damit ist in seinem Den-ken schon angelegt, was als das Wesentliche des soziologischen Vergleiches gel-ten kann.

Obwohl nun dem Vergleich in der sozialwissenschaft lichen Th eoriebildung eine wichtige Rolle zukommt, wird er methodologisch, also hinsichtlich seiner Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Th eoriebildung, nur selten refl ektiert.9

schaft en von Kernobst zu erfahren, und nicht, Erkenntnisse jeweils über Äpfel und / oder Birnen zu erhalten.

7 Oft werden die Begriff e „methodologisch“ und „methodisch“ synonym verwendet, was nicht ganz richtig ist. Methodologie ist die Lehre davon, auf welche Weise Erkenntnis überhaupt ge-wonnen werden kann. Der Begriff gehört also in den Bereich der Wissenschaft stheorie. Me-thoden hingegen sind die sehr konkreten Werkzeuge, mit denen dann wissenschaft liche Er-kenntnisse konkret hervorgebracht werden. Methodologische Entscheidungen sind immer mit theoretischen Entscheidungen verknüpft . Das ist der Grund, warum gerade in der qualitativen Sozialforschung die Begriff e „Methode“ und „Methodologie“ ineinander verschwimmend ge-braucht werden: Eine jede Methode (z. B. also die Dokumentarische Methode, die Objektive Her-meneutik oder eben die Grounded Th eory) hat einen methodologisch-theoretischen Hintergrund, mit dem grundsätzliche theoretische Fragen, etwa das Akteurs- oder Strukturverständnis, oft schon festgelegt sind.

8 Für ein Beispiel in der Soziologie s. Richard Münchs „Kultur der Moderne“, wo in der Einleitung zu lesen ist: „Ich erzähle hier keine Geschichte einzelner Gesellschaft en. Meine Absicht ist eine andere: ein zusammenhängendes und nach einzelnen Gesellschaft en diff erenziertes Verständnis der Kultur der Moderne zu gewinnen“ (Münch 1986: 34).

9 Das wird im Übrigen der Vergleichenden Politikwissenschaft oft vorgeworfen, die ihre Erkennt-nisse allein auf den Vergleich stützt, denselben aber kaum methodologisch diskutiert oder me-thodisch näher fi xiert (Nohlen 1995a: 833 f.).

Komparative Verfahren und Grounded Theory 329

Eine bedeutende Schneise in das Nachdenken über das Vergleichen in der So-ziologie schlug einst Joachim Matthes mit seinen Ausführungen zur „Opera-tion called ‚Vergleichen‘“ (Matthes 1992a). Matthes, der zuletzt selbst hauptsäch-lich kulturvergleichend arbeitete, kondensiert in diesem Aufsatz seine Kritik am Ethno zentrismus der westlich geprägten Soziologie: Th eoriebildung würde häufi g (nicht zuletzt in Fortsetzung Durkheimscher Tradition) faktisch mit einem An-spruch auf Universalität betrieben, der von kulturellen Kontexten der Th eoriebil-dung vollkommen absieht. Er bezeichnet dieses Vorgehen als „Nostrifi zierung“ (Matthes 1992a: 84), also als Vereinnahmung des Fremden durch die Begriff lich-keiten des Eigenen. Dies geschieht selbst dann, wenn sich die Th eoriebildung aus-drücklich auf Vergleiche mit anderen Gesellschaft en stützt. Am Beispiel des Kon-zepts der westlichen Kleinfamilie, das in ethnologischen Studien unrefl ektiert an andere, außereuropäische Gesellschaft en herangetragen wurde, illustriert er sei-nen Gedankengang. Auf diese Weise zu „vergleichen“ heißt, sich stillschweigend von der Suche nach einem tertium comparationis zu verabschieden. Das tertium comparationis, das beides zu Vergleichende eint und dessen gemeinsame Qualität darstellt, ist dann kein gemeinsames Drittes mehr, sondern nur noch eine Projek-tion aus dem eigenen Standpunkt heraus, die auf den Vergleichsfall angewendet wird. Äpfel werden dann mit Birnen verglichen, aber letztere werden dann mit den nur den Äpfeln typischen Eigenschaft en beschrieben.

Einen wichtigen Anteil an dieser „nostrifi zierenden“ Art des Vergleichens hat die Vorstellung von Gesellschaft en und / oder Kulturen als gegeneinander abge-schlossene Einheiten. Matthes spricht vom meist räumlich abgrenzbaren „Ge-bilde charakter“ (1992a: 86), der der Gesamtheit aller Angehörigen einer Kultur oder Nation unterschwellig attribuiert wird. Hinter dieser Attribuierung verbirgt sich letztlich der spezifi sche Gesellschaft sbegriff der westlichen Welt, der von der Vorstellung von nach außen abgegrenzten Nationen bestimmt ist. Dass dem nicht so ist, dass also „Gesellschaft en“ oder „Kulturen“ sich immer durch Wechselwir-kungen defi nieren, durch Austausch mit Angehörigen aus „anderen“ Gesellschaf-ten, hat Friedrich Tenbruck (1992) gezeigt, auf den sich Matthes an der Stelle auch bezieht. Nicht nur das Projizieren der eigenen Kategorien auf fremde Gesellschaf-ten, sondern auch das vorgefertigte Denken in Kategorien von „eigener“ Gesell-schaft und davon scharf abgrenzbarer „anderer“ Gesellschaft ist also dem tatsäch-lichen Vergleichen in der Soziologie abträglich.

Matthes schlägt als Remedium nun vor, einen „gemeinsamen Denkraum“ beim Vergleichen zweier Kulturen zu eröff nen, in dem zwei oder mehr unvermeidbar jeweils „nostrifi zierend“ zu entwickelnde Standpunkte miteinander in Kommuni-kation treten. Im Dialog können die Anhänger beider Standpunkte einander auf

330 Uta Liebeskind

der Suche nach dem tertium comparationis korrigieren. Vergleichen wird damit, so Matthes, zu einem letztlich nicht abschließbaren Prozess, der nicht mit endgül-tigen Befunden aufwarten kann, sondern der, nimmt man das Vergleichen ernst, einen off enen Kommunikationsprozess abbildet.

Matthes’ Kritik richtete sich nun vor allem an das eher ethnologische Verglei-chen von „modernen“ und „vormodernen“ Gesellschaft en. Sein Gedankengang zu „Nostrifi zierung“ und zur impliziten Vorstellung vom „Gebildecharakter“ so-zialer Gruppen ist aber unbedingt auf jeden anderen soziologischen Vergleich zu übertragen: Im soziologischen Vergleich sollte immer die Idee des sozialen Aus-tauschs über abstrakt festgesetzte Grenzen hinweg mitschwingen. Nur so ist die Off enheit dafür vorhanden, dass soziale Mechanismen möglicherweise unabhän-gig oder nur graduell abhängig von nationalen oder kulturellen Zugehörigkeiten wirken. In den Ergebnissen empirischer Forschungsarbeiten ist das schon deutlich herausgearbeitet worden. Beispielsweise kommt so Karin Schittenhelm (2005) zu dem Schluss, dass für junge Frauen im Übergang von Schule zur Berufsausbil-dung nicht eine bestimmte regionale oder kulturelle Zugehörigkeit das entschei-dende Kriterium für den Verlauf des Übergangs ist, sondern hier andere, erst im Forschungsprozess hervorgetretene Kriterien über alle betrachteten Gruppen hin-weg in ähnlicher Weise wirken.

Was ist nun also, synthetisierend und ein erstes Fazit ziehend, das Spezifi kum soziologischen Vergleichens ? Wir lernen aus den Matthesschen Ausführungen, dass sozialwissenschaft liches Vergleichen immer darum bemüht sein sollte, den eigenen, notwendig „nostrifi zierenden“ Standpunkt zu relativieren. Dabei sollte die Forscherin möglichst versuchen, das „Eigene“ und das „Fremde“ nicht als gegeneinander abgeschlossene Einheiten zu denken. Vergleichs„objekte“ in der Soziologie sind der vergleichenden Forscherin nicht völlig äußerliche Einheiten (weswegen hier auch Anführungszeichen gesetzt worden sind). Gelingt diese Re-lativierung, so gerät das Verhältnis zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ zu etwas Graduellem, und der Vergleich oszilliert zwischen den Polen des dem verglei-chenden Forscher Vertrauten und des ihm eher Fremden. Dieses immer graduelle Maß von Fremdheit und Vertrautheit lässt sich auch mit dem von Karl Mann-heim geprägten Begriff der Standortgebundenheit des eigenen Denkens beschrei-ben (Mannheim 1964).Und genau dieses ist auch der zentrale Unterschied zu Ver-gleichsvorgängen etwa in der Naturwissenschaft oder im Alltag: Der Ausgang des Vergleichs hängt von der Position des Vergleichenden ab, Subjekt und Objekt des Vergleichens, also derjenige, der vergleicht und dasjenige, was er vergleicht, sind gar nicht ganz eindeutig voneinander zu trennen.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 331

3 Vergleich und Grounded Theory

Grounded Th eory nun bietet gute Möglichkeiten, diesen Überlegungen zur Rela-tivierung des eigenen, kulturell geprägten Standpunkts in empirisch-vergleichen-den Forschungsprojekten gerecht zu werden. Im Folgenden geht es darum, die Eignung von Grounded Th eory für inhaltlich-vergleichende soziologische Arbei-ten aufzuzeigen.

3.1 Die methodologische Perspektive

Schon das Nachdenken über den Namen „Grounded Th eory“ führt auf das Th ema des Artikels, auf den Vergleich hin. Zunächst einmal deutet nämlich der Name selbst nicht auf eine Methode hin, sondern auf eine bestimmte Art von Th eorie, eben eine „grounded“, also eine in Daten begründete Th eorie (s. FN 2). Damit ist das angestrebte Ergebnis des Forschungsprozesses zum Namen für eine Me-thode geworden. Grounded Th eory ist von ihren Vätern, Barney Glaser und An-selm Strauss, aus einer Kritik an der bestehenden Art, Gesellschaft theoretisch zu denken, entwickelt worden. Die Entwicklung von Grounded Th eory war eine Antwort auf die empirisch kaum überprüfbaren „grand theories“, die in den 60er-Jahren die soziologische Debatte in den USA bestimmten. Glaser und Strauss wollten gegenstandsbezogene Th eorien von mittlerer Reichweite entwickeln. Sie hatten dabei auch ein Erkenntnisziel – und das bleibt in den neueren Diskussio-nen um die Methode oft unerwähnt –, das über eine bloße gegenstands bezogene Th eorie hinausgeht: Die im Forschungsprozess A entstehende Grounded Th eory soll später in Beziehung gesetzt werden zu „grounded theories“ aus anderen Ge-genstandsbereichen, die in Forschungsprozessen B, C und D entstanden sind (s. Glaser / Strauss 1967: 251 ff.). Auf diese Weise soll sich eine gegenstandsbezo-gene Th eorie in das übergreifende Gebäude einer soziologischen Th eorie einord-nen, die dann eben nicht mehr eine empirisch nicht gut prüfbare „grand theory“ ist, sondern die „tatsächlich zu dem passt, was in alltäglichen Situationen ‚los ist‘“ (Glaser / Strauss 1967: 97, Übersetzung UL). Ein wichtiger methodologischer As-pekt, der sich mit Grounded Th eory verbindet, ist also u. a. in der Frage zu sehen, welchen Stellenwert das Forschen nach Grounded Th eory in der Generierung einer

332 Uta Liebeskind

zwar empirisch gebundenen, aber nicht nur einen einzelnen Gegenstand betref-fenden, allgemeinen soziologischen Th eorie einnimmt.10

An dieser Stelle kreuzt nun der Faden auf unserem bunten Tuch ein fast ufer-loses Muster, die Frage nämlich, was eigentlich sozi ologische Th eorie heißt. Funk-tionalistisch-systemtheoretische Th eorien treff en auf mikrosoziologisch orien-tierte Handlungstheorien, kritische Th eorie auf positivistisches Denken. Diesen fundamentalen Fragen wird an dieser Stelle allerdings nicht weiter nachgegan-gen.11 Im Hinblick auf die hier leitende Fragestellung ist an dieser Stelle ledig-lich festzuhalten, dass das Ergebnis eines Grounded Th eory-Forschungsprozesses selbst idealerweise wieder Gegenstand eines Vergleiches ist, nämlich eines struk-turellen Vergleichs der erarbeiteten Th eorie mit auf die gleiche Weise erarbeiteten Th eorien aus anderen Forschungsprojekten. Nimmt man diesen Anspruch ernst, ist ihm bereits eine Chance auf den von Matthes eingeforderten gemeinsamen Denkraum inhärent, wenn auch noch auf sehr abstrakte Weise: Der Nutzen einer grounded theory zeigt sich dann, wenn sie mit anderen Th eorien, die ihrerseits ebenfalls gebunden sind an den sozialen Standort ihrer Autoren, konfrontiert wird.

3.2 Zur Methode

Die Parameter, die ein Forschungsvorhaben zu einem nach Grounded Th eory ge-leiteten Vorhaben qualifi zieren, benannte Anselm Strauss in einem Rückblick auf sein Schaff en wie folgt: Grounded Th eory heißt immer: 1) kodieren, 2) theore-tisch basiert Fälle auswählen und 3) ständig vergleichen (Strauss 2011: 74). Im Fol-genden wird es nun darum gehen, die Eignung dieser zentralen methodischen

10 In einem anderen Sinne liegt der methodologische Aspekt der Grounded Th eory darin begrün-det, welches Verständnis von Akteur und Struktur diejenige hat, die nach Grounded Th eory arbei-tet. In der Grundlegung von Glaser und Strauss (1967) war das nicht klar ausgeführt, allerdings entfacht sich später am von Anselm Strauss eingeführten Kodierparadigma (s. Strauss 1994) ein Streit um genau diese Frage. Spätere Weiterentwicklungen, z. B. die von Kathy Charmaz (2006), nehmen auf die methodologische Einbettung der Methode eindeutig Bezug. Sie teilen damit mit anderen etablierten Forschungsmethoden der qualitativen Sozialforschung die Überzeugung, dass eine derartige Positionierung zu grundsätzlichen theoretischen Annahmen für die Gene-ralisierung der empirischen Ergebnisse notwendig ist. Diese eindeutige Positionierung hinsicht-lich des Verhältnisses von Akteur und Struktur bleibt bei den unzähligen Arbeiten, die sich auf Grounded Th eory beziehen, allerdings meistens aus.

11 Allerdings sollte jede empirisch Forschende sich in ihrem Projekt zu Fragen grundsätzlicher theoretischer Einbettung positionieren, s. FNen 7 und 10.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 333

Elemente der Grounded Th eory für inhaltliche Vergleiche aufzuzeigen. Dazu ist zunächst sehr kurz aufzuführen, was die drei von Strauss genannten Punkte im Rahmen der Grounded Th eory bedeuten.

Insbesondere das ständige Vergleichen, die constant comparative method, wie Glaser und Strauss das den gesamten Forschungsprozess prägende Vergleichen nannten (1967: 101 ff.), ist als zentrales Kennzeichen der Grounded Th eory aufge-nommen worden und als starker Impuls in die qualitative Methodenentwicklung ganz allgemein eingegangen. Es wäre allerdings zu kurz gedacht, nur auf den der Methode inhärenten Vergleichsanspruch hinzuweisen, um die Methode auch für inhaltliche Vergleiche verschiedener „Gesellschaft en“ oder „Kulturen“ zu qualifi -zieren.12 Deswegen wird nun näher ausbuchstabiert, wie genau die methodolo-gischen Überlegungen zum Vergleich und die constant comparative method im Zusammenhang mit den anderen beiden von Strauss genannten Punkten zusam-mengehen.

Anselm Strauss nannte zunächst das Kodieren als eines der drei Charakteris-tika der Grounded Th eory. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Versionen der Methode hinsichtlich der genauen Vorgehensweise und der Auffassungen vom Kodieren voneinander,13 aber gemeinsam ist allen, dass das Kodieren als der re-levante interpretative Schritt bezeichnet wird. Über das off ene Kodieren zu Be-ginn des Auswertungsprozesses sind sich alle AutorInnen zur Grounded Th eory einig, und dieser Arbeitsschritt enthält viel vom „Geist“ der Grounded Th eory. In dieser allerersten Phase des Auswertungsprozesses werden Textstellen (bzw. Aus-schnitten aus anderen Formen von Auswertungsmaterial, z. B. Beobachtungspro-tokollen aus nicht standardisierten Beobachtungssituationen) Codes zugeordnet. Dabei besteht von Anfang an der Anspruch, theoretisch gehaltvoll zu arbeiten, also einzelnen Materialstellen eine theoretische Dimension zu geben. Daten wer-den mit theoretischem Denken konfrontiert, allerdings in einer ungebundenen Weise, ohne also sogleich theoretisches Vorwissen direkt zur Kodierung zu be-nutzen. Auf das off ene Kodieren folgen, und auch darüber sind sich die verschie-denen AutorInnen der Grounded Th eory-Methoden im Grunde einig, (in irgend-

12 So interpretieren etwa Stern und Pyles (1985) die Vorzüge der Grounded Th eory für inhaltliche Vergleiche.

13 Während das axiale Kodieren ein Begriff aus Straussschem bzw. Strauss-Corbinschem Repertoire ist und von Barney Glaser heft ig angegriff en wurde, ist der Begriff des fokussierten Kodierens der Version der Grounded Th eory (Strauss 1994; Strauss / Corbin 1996) entlehnt, die Kathy Charmaz (2006: 42 ff.) vorgeschlagen hat.

334 Uta Liebeskind

einer Form) weitere, fortführende Kodiervorgänge.14 Dieser Schritt ist allerdings ohne die constant comparative method nicht denkbar. Codes werden in fort-geschrittenen Kodierphasen vor allem auf Basis von internen und externen Ver-gleichen gefunden und vergeben: Interviewstelle a wird mit einer weiteren Inter-viewstelle b zum gleichen Th ema verglichen. Dies geschieht sowohl innerhalb ein und desselben Falls (Interview oder Beobachtung oder Gruppendiskussion oder Dokument etc.), als auch über verschiedene Fälle hinweg. Auf diese Weise werden Codes verfeinert, zu Kategorien verdichtet, dieselben dimensionalisiert und Be-ziehungen zwischen Codes und / oder Kategorien hergestellt.

Das ständige Vergleichen schließt alle zum Projekt gehörigen Textformen ein: Daten, Codes, daraus entstehende Kategorien und letztendlich die elaborierten theoretischen Konzepte werden in allen relevant erscheinenden Kombinationen miteinander verglichen – also z. B. Daten mit Kategorien, Konzepte (meint: z. B. neu gebildete Hypothesen über Zusammenhänge) mit Daten, Codes mit Kon-zepten und so weiter. In diesen Prozess eingeschlossen ist explizit auch der Ver-gleich von empirischem Material und Forschungsliteratur zum Th ema. Th eoreti-sche Konzepte in dieser Weise nur als „sensitizing concepts“, also als Ideenbringer zu verwenden, entspricht dem Prinzip der Off enheit, das die theorieorientierte qualitative Sozialforschung insgesamt leitet.

Im ständigen Vergleichsprozess bildet sich nach und nach die so genannte core category, die Kernkategorie, heraus, um die herum sich die Konzepte gruppieren, die die entstehende Th eorie ausmachen. Für die Interpretation des Materials ist also das Gegenüberstellen von Daten und Befunden sehr wichtig, die constant comparative method wird damit zur eigentlichen heuristischen Technik: Codes, Kategorien, Konzepte und letztlich die entstehende Th eorie sind Ergebnisse aus Vergleichen. Unter welchen Umständen aber trägt die constant comparative method tatsächlich zur Etablierung eines von Joachim Matthes so genannten „gemein-samen Denkraums“ in kultur- oder gesellschaft svergleichenden Arbeiten bei ?

14 Zu den unterschiedlichen Versionen und damit zusammenhängenden Kodiervorschlägen möge man z. B. die in FN 4 bereits genannten Lehrbücher konsultieren und auch die Strausssche (1994) vs. Glasersche (1992) Variante zur Kenntnis nehmen.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 335

Die constant comparative method und das tertium comparationis

Der inhaltliche Vergleich über verschiedene kulturelle Kontexte hinweg ist letzt-lich durch Annahmen zu Unterschieden zwischen den betrachteten Gesellschaf-ten motiviert – sei es durch die nähere Untersuchung tatsächlich bestehender Un-terschiede oder durch das Hinterfragen unterstellter Unterschiede, sei es durch die Frage, ob einst manifeste Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaf-ten tatsächlich noch bestehen oder ob sie vielmehr in Auflösung oder Verände-rung begriff en sind. Derlei Vorannahmen sind sehr dominant, denn sie haben letztlich das gesamte Forschungsvorhaben motiviert. Hätte man nicht die begrün-dete Idee, dass zwei Gruppen, Länder, Systeme, Kulturen sich in den interessie-renden Punkten unterscheiden oder ihnen gemeinhin ein Unterschied in diesen Punkten unterstellt wird, der näher zu hinterfragen ist, wäre die Wahl nicht auf diese zu vergleichenden „Einheiten“ gefallen.

Ein adäquates Studiendesign, das die oben referierte Kritik am „Denken in abgrenzbaren Gebilden“ ernst nimmt, sollte nun aber in der Auswertung des Ma-terials das Ziel haben, diese Annahmen zunächst so gut wie möglich auszublen-den. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem gesamten Forschungsdesign und dem Auswertungsprozess: In der Festlegung des Forschungsdesigns muss stets klar im Bewusstsein bleiben, dass implizit oder explizit die Annahme zur Un-terschiedlichkeit der involvierten Gruppen mitschwingt. Jeder Schritt im For-schungsdesign sollte in dieser Hinsicht refl ektiert werden, was ganz besonders bei der Sammlung des Materials zu beherzigen ist. Im Auswertungsprozess aller-dings sollten die forschungsleitenden Vorannahmen zur Unterschiedlichkeit der betrachteten Gruppen zunächst suspendiert werden bzw. off en und sehr fl exibel als sensitizing concepts benutzt werden.

In diesem Sinne ist der auszuwertende Materialkorpus für die Auswertung nicht gemäß der inhaltlich vergleichenden Fragestellung vorab aufzuspalten. Codes und Kategorien sollten im off enen Kodierverfahren simultan über das ge-samte Material hinweg gesucht werden. Die fortführenden Kodierschritte sind nun für den inhaltlichen Vergleich entscheidend. Hier zeichnen sich nun durch den expliziten Vergleich von Materialstellen, Codes und aus der Literatur bekann-ten Konzepten Kategorien der zu formulierenden grounded theory ab. Die Verglei-che sollten hier nicht entlang der qua Forschungsfrage eingeführten Vergleichs-linien erfolgen, vielmehr ist über das gesamte Material hinweg nach minimalen und maximalen Kontrasten zu suchen. Im ständigen Vergleichen zeichnet sich die core category ab, anhand derer sich das interessierende Phänomen beschreiben

336 Uta Liebeskind

und darstellen lässt. Die core category ist die Kategorie, mit der alle Fälle etwas zu tun haben, unabhängig davon, zu welcher Vergleichsgruppe der Fall gehört.

Für das inhaltliche Vergleichen gewinnt die Kernkategorie eine ganz beson-dere Bedeutung: Material im Modus ständigen Vergleichens zu analysieren, ist nichts anderes als die Suche nach dem tertium comparationis. Die Forschungshal-tung, die sich im ständigen Vergleichen zeigt, ist genau die, die zur unvoreinge-nommenen Suche nach dem gemeinsamen Maßstab notwendig ist.

Allerdings ist die constant comparative method selbst noch kein Garant dafür, dass tatsächlich ein Auswertungsprozess gelingt, der so wenig wie möglich „nos-trifi ziert“, der also nach Möglichkeit das Material des Vergleichsfalls nicht nur in den Begriff en der eigenen, kulturell geprägten Vorstellungen fasst. Einen gemein-samen Oberbegriff über Codes und etablierte Kategorien zu fi nden, ist keine Ga-rantie dafür, dass die Forscherin den Blickwinkel des Eigenen verlassen hat. Es ist deswegen wichtig, neben der nicht vorab nach den Vergleichsgruppen zu tren-nenden Materialanalyse bewusst nach weiteren Möglichkeiten zu suchen, die den eigenen Standpunkt im Auswertungsprozess korrigieren und relativieren.

Der Königsweg zur Relativierung des eigenen Standpunktes ist sicherlich, die üblichen Formen der intersubjektiven Kontrolle in der qualitativen Sozialfor-schung auszunutzen: Die beste Möglichkeit, die Materialinterpretation tatsäch-lich in einem „gemeinsamen Denkraum“ stattfi nden zu lassen ist wohl, das Mate-rial ganz oder in Teilen in einer Forschergruppe auszuwerten, die in international vergleichenden Projekten kulturell gemischt besetzt sein sollte. Hier besteht eine gute Chance, Sichtweisen einzufangen, die man allein oder in einer nur der eige-nen Kultur angehörigen Gruppe nicht hätte entwickeln können.

Eine kulturell gemischte, regelmäßig zusammen arbeitende Forschergruppe zu etablieren, ist sicherlich nur in den wenigsten Forschungskontexten möglich. Es stehen aber viele weitere Wege zur interkulturellen Kontrolle des Auswertungs-prozesses off en. Um gezielt Unterschiede zwischen kulturell geprägten Deutungen „anzufärben“, kann der Forscher auch vor oder während der Feldphase Gesprä-che mit Expertinnen aus dem jeweils anderen kulturellen Kontext führen, wobei der Begriff des „Experten“ hier sehr weit zu fassen ist. Im Projekt, aus dem das Forschungsbeispiel stammt, waren Experten etwa Menschen, die ausschließlich oder längere Zeit an einer französischen Universität studiert hatten, aber auch Franzosen bzw. Französinnen ganz allgemein, da jedes Gesellschaft smitglied ge-sellschaft lich geteilte Deutungen zu den Institutionen des Bildungssystems unter-hält. „Experten“ sind weiterhin natürlich auch ExpertInnen im engeren Sinne, im vorliegenden Fall also etwa französische Forscherinnen, die sich selbst mit dem Gegenstand befassen.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 337

Auch die üblichen wissenschaft lichen Gepfl ogenheiten können, wenn sie be-wusst im interkulturellen Kontext des Projekts gestaltet werden, zur Relativierung des von der eigenen Kultur geprägten Standpunkts beitragen: (Zwischen-)Ergeb-nisse der Forschungsarbeit etwa auf internationalen Konferenzen zu präsentieren oder mit KollegInnen aus dem oder den jeweils anderen Ländern zu diskutieren, wird erhellende Impulse zu den eigenen Interpretationen bieten.15

Eine sehr wichtige, weil in der Regel stets zugängliche Möglichkeit zur inter-kulturellen Kontrolle ist es, die Forschungsliteratur aus dem anderen Land bzw. den anderen Ländern in besonderer Weise zur Auswertung heranzuziehen. Ver-abschiedet man sich nämlich von der meist implizit waltenden Annahme, dass pu-blizierte Forschungsergebnisse kulturell „neutral“ sind, meint: unbeeinfl usst von den sozialen, historischen und kulturellen Gegebenheiten, in die die Forschung eingebettet war, betrachtet man also Forschungsliteratur aus einem diskursana-lytischen Blickwinkel, dann wird man von ihr nicht nur in ihrer Eigenschaft als „Faktenlieferantin“ profi tieren, sondern man wird gleichzeitig eine weitere Daten-quelle zur Verfügung haben: Forschung geschieht niemals im sozial und kulturell neutralen Raum,16 und so lassen sich allein z. B. aus einer Analyse der Schwer-punkte, die in der wissenschaft lichen Debatte um den Forschungsgegenstand her-vortreten, Hypothesen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen bei-den Kulturen formulieren.

Theoretical Sampling und vergleichende Fragestellungen

Auch theoretical sampling, der dritte im Bunde der von Strauss genannten Punkte zur Charakterisierung von Grounded Th eory, kann bewusst genutzt werden, um die forschungsleitenden Vorannahmen zur Unterschiedlichkeit der Vergleichs-objekte zu relativieren. Die grundsätzliche Idee des theoretical sampling ist, in Ab-hängigkeit von den ersten Auswertungsbefunden sukzessive weiter Fälle auszu-

15 Das schlägt im Prinzip auch Matthes selbst vor, für den der „gemeinsame Denkraum“ überhaupt erst dann eröff net ist, wenn refl ektierende Begegnungen zwischen der Forscherin und Angehöri-gen der jeweils anderen Kultur stattfi nden (Matthes 1992: 96).

16 Das ist nicht nur im Kontext von Nation und Kultur, sondern z. B. auch im Vergleich akademi-scher Disziplinen sichtbar (Becher / Trowler 2001, auch Knorr Cetina 2002). Sehr deutlich wird die soziale Beeinfl ussung der Art, wie geforscht wird, im Kontext sich wandelnder Beziehun-gen von Forschung und Gesellschaft sichtbar: Die „Wissensgesellschaft “ und mit ihr neue Strö-mungen in der Steuerung von Wissenschaft und Forschung verändern wissenschaft liche Arbeits-weisen, hierin ausdrücklich inbegriff en die Th emenwahl und das Kooperationsverhalten von Wissenschaft lerInnen (Braun 1999; Gibbons et al. 1994).

338 Uta Liebeskind

wählen, um über Phänomene, die sich bis dahin als relevant erwiesen haben, mehr erfahren zu können. Das Material ist also idealerweise nicht auf einen Schlag in nur einer Feldphase zu erheben, vielmehr wird das Sample erst nach und nach zusammengestellt, je nachdem, welche Erkenntnisse sich aus den bisherigen Aus-wertungsgängen ergaben.

Zwar haben Glaser und Strauss einst theoretical sampling nicht speziell im Hinblick auf vergleichende Forschungsprojekte vorgeschlagen, aber das Kon-zept passt sich nahtlos ein in die hier entfalteten Überlegungen zum Vergleichen, denn es geht eine Symbiose ein mit der Tenbruckschen Idee der Kulturbegegnung: Mög licherweise zeigt sich, dass sich Menschen aus zu vergleichenden Ländern oder aus anderweitig unterschiedenen sozialen Kollektiven hinsichtlich der inter-essierenden Forschungsfrage gar nicht unterscheiden, sondern dass die Unter-scheidungen in anderen Kriterien begründet liegen, z. B. im Bildungsniveau, im Geschlecht oder im Zusammenspiel verschiedener Kriterien. Konsequentes theo-retical sampling würde nun bedeuten, nicht vornehmlich nach Ländern weiter-zusamplen, sondern Fälle vor allem nach den Kriterien auszuwählen, die sich bis-lang als relevant erwiesen haben.17

In Projekten, in denen theoretical sampling im ursprünglichen Sinne aus for-schungspraktischen oder inhaltlichen Erwägungen heraus nicht möglich ist, kann die Forscherin bezüglich des Samples vorab eine hilfreiche, auf einen gemeinsa-men Denkraum hin abstellende Refl exion anstellen und im Sampling berücksich-tigen: Welche Chancen bestehen im angestrebten Sample auf Diff undierung ge-sellschaft licher Grenzen ? Im Fall des vergleichenden Projekts der Hochschullehre, das nun im Folgenden zur Illustration herangezogen wird, sind diese Chancen sehr groß: Universitätswissenschaft lerInnen sind eine international hoch mobile Gruppe, die mit großer Wahrscheinlichkeit Erfahrungen in anderen Universitäts- und Wissenschaft ssystemen gesammelt haben. Diese besondere Eigenschaft der Angehörigen des untersuchten Feldes mag die Wahrscheinlichkeit erhöhen, be-deutsame Gemeinsamkeiten in den Deutungen universitärer Lehre zu fi nden.

17 Je stärker allerdings das Erkenntnisinteresse sich auf geteilte Wissensbestände und weniger auf Handlungen und ihre Kontexte bezieht, desto weniger lässt sich in diesem ursprünglich gemein-ten Sinn theoretisch samplen (s. Liebeskind 2011: 111 f.).

Komparative Verfahren und Grounded Theory 339

4 Ein Beispiel: Lehre an der Universität

Ein konkretes Beispiel aus der empirischen Forschung wird nun das soeben Ent-wickelte in einigen Punkten illustrieren. Die Darstellung ist notwendigerweise beschränkt, nicht nur, weil es unmöglich ist, auf wenigen Seiten alle zum stän-digen Vergleichen herangezogenen Materialstellen, Literaturauszüge und Aus-wertungstexte (also Codes und Memos) gemeinsam mit der Entwicklung der entsprechenden Interpretationen zu präsentieren, sondern auch, weil die Arbeit nach Grounded Th eory immer den gesamten Forschungsprozess umfasst und zir-kulär zwischen Materialsammlung und -auswertung hin- und herzuspringen ist, je nachdem, welche Erkenntnisse der bisherige Auswertungsgang hervorgebracht hat. Eine gewisse Spur des mäandernden Auswertungsvorgangs hinterlassen le-diglich Memos, die chronologisch und thematisch gut zu organisieren sich im Sinne der „Verwaltbarkeit“ des Auswertungsprozesses sehr anbietet. Weil der Aus-wertungsgang nachträglich kaum linearisiert und Schritt um Schritt transparent gemacht werden kann, wird nun (allerdings schon im Lichte der Ergebnisse) ver-sucht, den Auswertungsgang ex post nachzuzeichnen, ihn also anhand der vier Materialstellen zu „simulieren“. Ziel dieses Textabschnittes ist es damit, an Hand eines kleinen Materialauszugs insbesondere einige zentrale Punkte im Auswer-tungsprozess zu markieren, den Weg zur Interpretation so gut wie möglich nach-zuzeichnen und dabei einige Techniken zu benennen, die den inhaltlichen Ver-gleichsprozess unterstützen.

4.1 Zur inhaltlichen Einbettung des Forschungsbeispiels

Das Forschungsprojekt zur Lehre an der Universität (Liebeskind 2011) war moti-viert durch die tief greifenden Veränderungen, die die Universitäten in den letz-ten 20 Jahren erfahren hatten und noch immer erfahren. Insbesondere die Lehre ist stark betroff en: In Deutschland und allen anderen Staaten der EU ist unter dem Label „Bologna-Prozess“ mittlerweile fl ächendeckend das Bachelor- / Master-Studium etabliert worden, die Studienleistungen sind kleinteiliger, die Menge der beizubringenden Leistungsnachweise ist größer geworden. Zudem werden die Ansprüche an die Universitäten direkter. AbsolventInnen sollen qua Hochschul-bildung optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden.

Das Forschungsprojekt nun fragte danach, wie es inmitten dieser Veränderun-gen eigentlich um die Sicht der Akteure auf die universitäre Lehre steht. Es sollte rekonstruiert werden, welches die sozial geteilten Muster sind, nach denen Profes-

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sorinnen und Professoren die Lehre deuten und gestalten. Weil die bildungspoliti-schen Trends, die den Bologna-Prozess ermöglichten, nicht nur für Deutschland gelten, sondern auch für Europa (und darüber hinaus), lag es nahe, das Th ema in ländervergleichender Perspektive zu bearbeiten. Die Wahl fi el auf Deutschland und Frankreich als Vergleichsobjekte, weil beide Länder maßgeblich an der Eta-blierung des Bologna-Prozesses beteiligt waren und sie gleichzeitig sehr unter-schiedliche Hochschulsysteme aufwiesen. Im Vergleich der Deutungsmuster von Lehrenden aus zwei unterschiedlichen Systemen lässt sich besser erkennen, auf welchen Boden die Hochschulreformen eigentlich gefallen sind.

Neben dieser französisch-deutschen Vergleichslinie wurde ferner vor dem Hintergrund sehr verschiedener Fachkulturen (s. Becher / Trowler 2001, auch Knorr Cetina 2002) die Studie bewusst auf zwei Disziplinen18 beschränkt: Ge-sprächspartner in den Interviews, die die zentrale Datenquelle des Projekts bil-den, waren ProfessorInnen der Chemie und der Literaturwissenschaft bzw. den lettres, wie das Fach in Frankreich genannt wird. Insgesamt wurden 26 Interviews ausgewertet.

Eine zentrale Frage im Auswertungsverlauf der Interviewmaterials war die nach den Zielen der Lehre: Welchen Sinn, welche Bedeutung messen die Profes-sorInnen den Zielen ihrer Lehre bei ? Geht es ihnen um möglichst direkte An-schlussfähigkeit an das, was auf dem Arbeitsmarkt später nachgefragt werden wird, oder stehen andere Ziele, etwa die Persönlichkeitsbildung der Studierenden, die Verfolgung eigener oder allgemeiner Forschungsinteressen im Vordergrund ? Eine der Fragen zur Lehrpraxis, auf deren Antworten hernach die Rekonstruk-tion der Ziele der Lehre hauptsächlich zurückging, war die Frage, was die Leh-renden ihren Studierenden jenseits des bloßen Lehrstoff es mitgeben wollen.19 Die folgende Darstellung stützt sich auf eine kleine Auswahl aus den Antworten auf diese Interview-Frage.

Die hier verwendeten Interview-Passagen stammen aus Interviews mit deut-schen und französischen ProfessorInnen beider Fächer. Frau Sanden20 ist deutsche

18 Genau genommen sind es Angehörige jeweils gleicher Subdisziplinen beider ausgewählter Fä-cher. Die Subdisziplinen werden aus Gründen der Anonymisierung allerdings nicht genauer be-nannt.

19 Die Leitlinie in der Konstruktion des Leitfadens war, die Fragen so eng wie möglich an der kon-kreten Lehrpraxis und den konkreten Erfahrungen im Lehralltag zu orientieren (vgl. Helff erich 2005: 158 ff.). Allgemeine Refl exionen über die Situation der universitären Lehre waren in den Gesprächen weniger von Belang.

20 Der Name ist wie alle folgenden ein Pseudonym; den InterviewpartnerInnen des Projekts ist An-onymität zugesichert worden.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 341

Literaturwissenschaft lerin, M. Guidon ist ebenso wie M. Tanguy französischer lettres-Professor. Herr Kazmarek ist deutscher Chemiker. Die Interviewauszüge sind sämtlich (mehr oder weniger) unmittelbare Antworten auf die Frage danach, was den Studierenden jenseits der bloßen Lehrinhalte mitzugeben sei. Dort, wo die Frage in etwas anderer Variante gestellt wurde, ist die Frage mit aufgeführt.

4.2 Material und Codes

Zunächst einmal werden die Materialstellen21 selbst und das Ergebnis des Kodie-rens dieser Materialstellen aufgeführt. Neben den Materialstellen und Codes sind auch einige Code-Kommentare direkt im Anschluss an die Materialstellen fest-gehalten.22 Die hier aufgeführten Codes sind diejenigen, die zu Ende des Projekts an den Materialstellen zu fi nden waren. Hier sind also Codes aus dem off enen Ko-dieren und aus selektiven Kodierschritten vermengt, ohne dass es im Nachhinein möglich wäre, initiale Codes von veränderten oder auf immer selektiveres Kodie-ren hin vergebenen Codes und Kommentaren unterscheiden zu können.

Frau Sanden, Abs. 106:Und ähm, was ich, was ich tatsächlich vermitteln will=Interesse is zu zu schwach gesagt. Also, ich möchte, dass die ihre aff ektiven Reaktionen auf diesen Gegenstand kultivieren. ((kurze Un-terbrechung)) dass die, also dass sie ihre, äh (sozusagen) ihre Interessen und ihre- ihr’n Lei-denschaft en auch zuhören lernen. Natürlich soll’n sie auch, das he- schließt ein, kritische Refl e-xion darauf, aber soviel in diesem Fach is oft so:::: trocken und die trau- Also, (sozusagen) sich zu verlassen auf das was einen fasziniert und da weiterzumachen, ja ? Ich glaub, das is so’n biss-chen meine- Ja, ja, nee, nee, das mach ich.

Dieser Materialstelle wurden folgende Codes zugeordnet: „aff ektive Reaktionen kultivieren“, „Interesse“ und „Literatur und Aff ekt“ vergeben.

21 Zur Transkription: Unterstreichungen geben die besondere Betonung des Wortes oder Wortteiles wieder, aufeinanderfolgende Doppelpunkte das Langziehen einzelner Silben, Wörter in einfachen Klammern nicht eindeutig Verständliches, Bindestriche abgebrochene Sätze oder Satzteile, Zah-len in Klammern die in Sekunden ungefähr gemessene Länge von Sprechpausen.

22 Die Codes und Kommentare sind teilweise nur einzelnen Sequenzen aus den zitierten Passagen zugeordnet. Auf den genauen Beleg der entsprechenden Sequenz wurde hier verzichtet, weil der Beleg an dieser Stelle nicht zum Argument beitragen würde.

342 Uta Liebeskind

M. Guidon, Abs. 41 – 42:

Die Codes, die diesem Interview-Auszug23 mit M. Guidon zugeordnet worden sind, lauten wie folgt: „echte Lektüre“, „Ziel von Lehre: ganz in der Sache sein“. Außerdem wurden dieser Stelle mehrere Code-Kommentare und Memos hinzu-gefügt, einer der Kommentare – bewusst in seinem originalen Wortlaut wieder-gegeben, um den fl üchtigen, assoziativen, kreativen Charakter des Interpretierens zu illustrieren – wird hier mit aufgeführt, da er für spätere Ausführungen noch relevant sein wird: „Hier ist die Frage umgekehrt: Es liegt nicht mehr in seiner [M. Guidons, Anm. UL] Hand, nichts mehr von transmettre [also „vermitteln, weiter geben“, Anm. UL]. Ein guter Leser muss man schon selbst werden.“

23 Die fremdsprachigen Zitate werden zur besseren intersubjektiven Kontrolle ihrer Interpretation sowohl im französischen Original als auch in der (von der Autorin vorgenommenen) Überset-zung aufgeführt. So wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch schon das Übersetzen selbst Interpretation ist.

I: Hm. D’accord. Vous avez dit que vous transmettiez quelque chose. Vous pourriez expliquer ça ? Qu’est-ce que vous transmettez à vos étudiants ? P: O ui, c’est pas facile, c’est pas facile à défi ni::r. Euh, j’essaie d::e leur apprendre à lire.(2) A lire bien, d’essayer de, quand on est de-vant un texte, n’importe quel texte, de de le lire vraiment. C’est très, très rare. Une vraie lecture, c’est une chose de extrêmement rare. Moi, je connais un écrivain français qui dit que des bons écrivains, il y en a des tas, mais il y a très peu de bons lecteurs. C’est beaucoup plus rare qu’un bon écrivain, un bon lecteur. Donc, si on peut essayer de devenir un bon lecteur, c’est bien, c’est bien.

I: Hm. Gut. (.) Sie sagten, Sie übermitteln et-was. Könnten Sie das erklären ? Was vermit-teln Sie Ihren Studierenden ?

P: Ja, das ist nicht einfach, das ist nicht ein-fach zu defi nieren. Ähm, ich versuche, ihnen das Lesen zu lehren. (2) Gut zu lesen, zu ver-suchen, wenn man einen beliebigen Text vor sich hat, diesen wahrhaft ig zu lesen. So et-was gibt es nicht oft . Echte Lektüre ist etwas höchst Seltenes. Ich kenne einen französi-schen Schrift steller, der sagt, es gibt unzählige gute Schrift steller, aber es gibt nur sehr we-nige gute Leser. Ein guter Leser ist viel selte-ner als ein guter Schrift steller. Wenn man also versuchen kann, ein guter Leser zu werden, ist das schon sehr gut.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 343

M Tanguy, Abs. 34

Die Codes zu dieser Stelle: „Lehre als Gemeinschaft sunternehmen“, „echte Lek-türe“, „Verhältnis zu Studis: hinführen“, „Verhältnis zu Studis: distanziert beleh-rend“, „Analysefähigkeit“, „Ausdruck“. Die beiden Codes zum Verhältnis zu den Studierenden sind noch mit Code-Kommentaren versehen, auf die später zurück-zukommen sein wird.

Herr Kazmarek, Abs. 163So wenn Sie mich noch fragen, was man denen mitgeben will, ja wwweiß ich nich, also erst-mal möchte ich dass das gute Wissenschaft ler werden, klar; und ähm::: da müssen wer sehen wie die auch integre Persönlichkeiten werden fi nd ich; und das dürfen nich solche falschen Fuff ziger werden. Sollte sie- Da denk ich immer dran, wenn ich an meine Doktoranden denke.

An dieser Materialstelle wurde nun nur ein Code vergeben, „Doktoranden als Ad-ressaten von Lehre“, der zusätzlich noch mit einem Kommentar versehen wurde: „Es scheint eine Fächerunterscheidung zu geben zwischen Chemie und LiWi: Die Doktoranden werden hier viel häufi ger genannt, oft bei den mitgeben-Fragen. Sie sind ganz natürliche eine Zielgruppe von Lehre. Fertig sind die Studierenden die-ser Fächer erst mit der Promotion.“

Es geht nun im Folgenden weniger darum, die Diff erenzierungen der Inter-pretationen zu den Lehrzielen vollständig zu entfalten (s. dazu Liebeskind 2011: 131 ff.), als vielmehr darum, den Weg vom Kodieren zur Kernkategorie der Lehr-ziele und damit zum gesuchten tertium comparationis zu skizzieren. Daraufhin wird zu sehen sein, wie sich – vor allem gestützt auf die constant comparative me-thod – Aussagen zum Ländervergleich gewinnen lassen.

Alors, on on apprend- On essaye d’abord de les amener à lire des textes. Alors, ((5 Silben unverständlich)). On essaye de les amener à les lire de manière intelligente, c’est-à-dire à être capables d’articuler un point de vue ana-lytique sur les textes qu’ils lisent, de leur don-ner, d’ailleurs, des outils intellectuels pour ça, des outils qui sont très variables suivant le type de texte qu’on leur propose d’analyser.

Also, wir, wir ler- wir versuchen zunächst sie dazu zu bringen, Texte zu lesen. Das heißt, wir versuchen, sie zu einer intelligenten Lek-türe hinzuführen, sie also dazu zu befähigen, einen analytischen Standpunkt zu den gele-senen Texten zu artikulieren. Wir versuchen weiterhin, ihnen die dazu benötigten intel-lektuellen Werkzeuge an die Hand zu geben, Werkzeuge, die sehr verschieden sind abhän-gig von den Texten, die zu analysieren wir ih-nen vorschlagen.

344 Uta Liebeskind

4.3 Ständig vergleichen: Hin zum tertium comparationis

Die oben aufgeführten Codes sind recht heterogen. Sie zeigen, dass das Kodieren, wenngleich ein wichtiger interpretativer Schritt, nicht hinreichend ist zur Inter-pretation des Materials. Das Interpretieren muss über das Kodieren hinausgehen, wobei sich (in dieser Arbeit) die letztliche Interpretation nicht mehr in Codes aus-drückt.24 Im über die Codes hinausgehenden Interpretieren rückte nun im Projekt die constant comparative method in den Vordergrund, deren Zwischenergebnisse hin zur Th eoriebildung sich überwiegend in Form von (oft nicht mehr an Mate-rial stellen gebundenen) Memos materialisieren.

Im Ergebnis dieses in alle Richtungen gerichteten Vergleichens hat sich nun mehr und mehr abgezeichnet, dass das, was die Lehrenden den Studierenden jen-seits der Lehrinhalte mitgeben wollen, stets in Bezug auf den disziplinären Gegen-stand formuliert wird. Das ist erstaunlich. Denn obwohl nach dem gefragt wurde, was „jenseits der bloßen Stoff vermittlung“ angestrebt wird, ist die Defi nition der sozialisatorischen Ziele, und als solche lassen sich die Lehrziele sämtlich bezeich-nen, off enbar nicht ohne Rekurs auf die eigene Disziplin möglich. Das markiert einen wichtigen Unterschied zwischen universitären und schulischen Bildungs-vorgängen.

Dass die Lehrenden in der Formulierung ihrer Ziele immer auf den Gegen-stand der eigenen Disziplin rekurrieren, lässt sich nun wie folgt im Rahmen der hier präsentierten kurzen Materialauszüge nachvollziehen: Frau Sanden nennt den disziplinären „Gegenstand“ direkt und stellt ihn mit dem persönlichen „Af-fekt“ der Studierenden zusammen. Sie kennzeichnet die Kultivierung sehr per-sönlicher Reaktionen auf den Gegenstand als Voraussetzung dafür, sich über-haupt adäquat mit dem disziplinären Gegenstand auseinandersetzen zu können. Der französische lettres-Professor M. Guidon verweist ganz anders auf den Ge-genstand, der zweite vergebene Code und der Kommentar zu dieser Textstelle machen hier zusammen das Wesentliche der Interpretation aus: M. Guidon for-muliert ein Ziel in sich, nämlich das, ein guter Leser zu werden. Während Frau Sanden noch einen um-zu-Zusammenhang eröff net (persönliche Reaktionen kultivieren, um den Gegenstand überhaupt erst adäquat erschließen zu können [„Also sich zu verlassen auf das, was einen fasziniert und da weiterzumachen“]),

24 Anselm Strauss wollte Grounded Th eory nicht als starres Regelwerk verstanden wissen, und er wies darauf hin, dass (jenseits einiger nicht verhandelbarer Konstanten des Arbeitens, s. o.)

„[j]eder Forscher […] auch seinen eigenen Arbeitsstil [hat]“ (Strauss 1994: 32). So ist das in die-sem Projekt gewählte Verhältnis von Codes, Interpretationen und Ergebnisdarstellung zu verste-hen.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 345

erhebt M. Guidon durch den Vergleich mit dem Schreiben das Lesen selbst zur höchst individuellen Kunstform, die ihr Ziel in sich hat. Er nimmt auch eine Rol-lenverschiebung vor: Er richtet dieses Ziel nicht mehr nur an Studierende, son-dern er verallgemeinert es auf alle, die sich mit Literatur beschäft igen. Dies ist bereits ein Indiz für ein ganz anderes Verständnis der eigenen Disziplin zwischen beiden Interview-Partnern, auf das etwas später zurückzukommen sein wird. Bei M. Guidons Kollegen M. Tanguy wiederum geht es auf den ersten Blick off enbar um Ähnliches wie bei Frau Sanden: Auch hier wird das Erschließen von Literatur thematisiert, Ziel ist deren „intelligente Lektüre“. Allerdings, und hier liegt der be-deutende Unterschied zu Frau Sanden, ist M. Tanguys Ziel weniger, dass die Stu-dierenden als Startpunkt für eine sich anschließende wissenschaft liche Analyse des Textes zunächst einmal in eine persönliche Beziehung zum disziplinären Ge-genstand treten, sondern vielmehr möchte er allen Studierenden gleichermaßen ein Instrumentarium mitgeben, das „intelligente Lektüre“ ermöglicht. Es wird er-kennbar, dass der letzte Zweck einer solchen adäquaten Beschäft igung mit dem Gegenstand darin besteht, sich analytisch zu diesem Text zu äußern („articuler un point de vue analytique“), was durch die Gleichsetzung „intelligenter Lektüre“, M. Tanguys Ziel, mit qualifi zierter Äußerung zum Text deutlich wird. Die Beto-nung des Ziels, sich kohärent zu einem Text bzw. allgemein: zu den Gegenstän-den, mit denen sich die lettres beschäft igen, äußern zu können, wird durch die hier nicht mehr abgedruckte Fortsetzung der Passage untermauert. In Überein-stimmung mit Interpretationen, die sich auf den Vergleich vieler weiterer Inter-viewstellen aus dem empirischen Material beziehen, wird damit ein Aspekt von Beschäft igung mit dem disziplinären Gegenstand in den Vordergrund gerückt, der Literatur weniger als Objekt von Forschung und Analyse, sondern viel eher als Fokus eines analytischen Diskurses konzipiert. Herr Kazmarek schließlich, der deutsche Chemiker, bezieht sich in der Formulierung des Ziels seiner Lehre eben-falls auf den disziplinären Gegenstand, und dies insofern, als er eine bestimmte Form der Persönlichkeitsbildung in Zusammenhang bringt mit seiner bzw. der Wissenschaft ganz allgemein. Damit seine Doktoranden, auf die hin er seine Ant-wort auf die Frage hauptsächlich formuliert,25 später gute Wissenschaft ler sind,

25 Dass die Doktoranden ausdrücklich unter die Studierenden subsumiert werden, ja, dass die Lehrziele ausdrücklich erst im Hinblick auf diese Gruppe hin formuliert wird, ist ein typisches Phänomen in der deutschen Chemie, in der die Mehrheit der Studierenden noch immer mit der Promotion das Studium beendet. Der besondere Fokus auf die Doktorandinnen lässt sich einge-denk des starken Forschungsbezugs der Chemie auch außerhalb der Universität verstehen: Auch im späteren Arbeitsfeld der Chemie-AbsolventInnen, in der chemischen Industrie, spielt For-schung eine zentrale Rolle, so dass universitäre Grundlagenforschung und arbeitsmarkttaugli-

346 Uta Liebeskind

müssen sie „integre Persönlichkeiten“ werden. In diesem Zusammendenken von Person und adäquatem Gegenstandsbezug zeigen sich vor allem Parallelen zur Literaturwissenschaft lerin Frau Sanden, auch wenn beide aus völlig verschiede-nen Fächern kommen: Frau Sanden hatte das Einbringen der eigenen Person, bei ihr durch die „Kultivierung persönlicher Aff ekte“, als Voraussetzung für die for-schende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand genannt, und so – nämlich als die notwendige Einbringung der eigenen Person in die wissenschaft liche Beschäf-tigung mit dem Gegenstand – lässt sich letztlich auch Herrn Kazmareks Antwort verstehen.

Im Zuge des ständigen Vergleichens, in welchem Codes verfeinert, revidiert, zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt wurden, hat sich also schließlich ein gemeinsamer Bezugspunkt, die core category, herausgebildet. Die Kategorie „Gegenstandsbezug der Lehrziele“ kann gleichzeitig – so ist es weiter oben eingeführt worden – als das gesuchte tertium comparationis gelten, also als der gemeinsame Maßstab, um den sich in der Rekonstruktion des Phänomens alles dreht. Er kann nun in weiteren Schritten als Basis für die inhaltlichen Ver-gleiche herangezogen werden, weil er Zugang bietet zu einem „gemeinsamen Denkraum“.

In der Benennung der Kernkategorie spielte die kultursensible Beschäft igung mit der Forschungsliteratur zum Th ema eine besondere Rolle. Das Th emenfeld „Universität und Lehre“ wird in Deutschland und Frankreich nicht aus deckungs-gleichen Blickwinkeln betrachtet: Speziell zur Bestimmung universitärer Lehre lassen sich sehr eindeutig zum einen der Aspekt persönlicher Bildung (Mittel-straß 1994; Renaut 1995, 2002), zum anderen der Wissenschaft sbezug universitä-rer Lehre (Kopetz 2002), zum dritten deren Wechselverhältnis zueinander (Kop-petsch 2000; Schimank 1995) als bedeutende Faktoren in der Deutung der Lehre identifi zieren. Dabei ist sehr klar eine unterschiedliche Gewichtung zwischen französischer und deutscher Literatur zu erkennen: Die französische Forschungs-literatur stellt Fragen von Bildung und Ausbildung in den Vordergrund. Hier wird die Universität eher in ihrer Eigenschaft als Bildungsinstitution diskutiert, etwa anhand der Frage, welchen Beitrag die Universität zur Demokratisierung und zum Ausgleich von sozialer Ungleichheit leistet (Renaut 1995, 2002). In der deut-schen Debatte um die Universität geht es hingegen eher darum, unter welchen Bedingungen die Universität nach wie vor simultan Bildungs- und Forschungs-einrichtung sein kann (Schimank 1995) und in welcher Weise Lehre tatsächlich an

cher Anwendungsbezug in der Chemie eher ineinander verschwimmen als in anderen Wissen-schaft en.

Komparative Verfahren und Grounded Theory 347

die Wissenschaft gebunden ist (Huber 2004; Klüver 1983) oder sein sollte (Kopetz 2002; Mittelstraß 1994). In der französischen Literatur tritt also der Aspekt von Bildung und Ausbildung, von Wissensvermittlung und allgemeiner Sozialisation viel deutlicher hervor als das für die deutsche Diskussion typische Th ema der Ver-bindung von Lehre und Wissenschaft .

Für die Benennung der Kernkategorie heißt das nun, dass es falsch gewesen wäre, die Kernkategorie etwa als „Wissenschaft s-“ oder „Forschungsbezug der Lehre“ zu bezeichnen. Das hätte bedeutet, die in der deutschen Debatte deut-lich hervortretenden Aspekte in der Bestimmung der Kernkategorie einfach zu übernehmen. Diese Aspekte mussten, ebenso wie diejenigen der (Bürger-)Bil-dung, die in der französischen Debatte besonders wichtig erscheinen, im Einklang mit dem Interview-Material in die Interpretation eingewoben werden. Auf diese Weise entstand also eine Bezeichnung für die Kernkategorie, die nicht „Wissen-schaft “ / „Forschung“ im Namen führte, sondern die allgemeiner auf den „diszipli-nären Gegenstand“ verweist und damit das Verhältnis von Forschung und Lehre an der Universität in einen weiteren Kontext stellt.

4.4 Inhaltlich vergleichen

Bereits zu Ende des letzten Abschnitts zeigte sich, dass das ständige Vergleichen den inhaltlichen Vergleich immer schon mitführt. Die Arbeitsweise, die nun zum expliziten inhaltlichen Vergleichen „deutscher“ oder „französischer“ Muster in der Deutung der universitären Lehre führt, bleibt nun genau dieselbe wie die zur Suche nach dem gemeinsamen Vergleichsmaßstab: Weiterhin ist es das ständige Vergleichen von Material, Auswertungstexten und Forschungsliteratur, welches den Schlüssel bildet zum Länder- und (hier nicht weiter verfolgten) Fächerver-gleich. Unterhalb des gemeinsamen Nenners, also hier: unterhalb der gemeinsa-men Ebene der Gegenstandsbindung der Lehrziele, ist nun nach Diff erenzierun-gen und weiterhin auch nach Gemeinsamkeiten zu suchen, um weitere zentrale Kategorien, die sich um die core category ranken, zu identifi zieren. Als Leitlinien dienen zunächst vor allem die in der qualitativen Forschung üblichen generischen Heuristiken: Welche Materialstelle bietet zur gerade analysierten Materialstelle einen minimalen, welche einen maximalen Kontrast ?

Auch in diesem Auswertungsschritt ist es jedoch unbedingt zu vermeiden, ex ante die Diff erenzierungslinien auf die Ländergrenze (bzw. eine der anderen vorab durchs Sampling festgelegten Vergleichslinien) festzusetzen. Die Forscherin sollte gleichsam „blind“ sein für die qua Sampling oder qua Fragestellung eingeführten

348 Uta Liebeskind

Vergleichslinien. Sie sollte eine Analysehaltung entwickeln, die für Unterschiede ebenso off en ist wie für eine überraschende Feststellung von Unterschiedslosig-keit zwischen den Objekten des Vergleichs. Erst nachdem sich Diff erenzierungen entfaltet haben, ist nun zu rekonstruieren, wie sich die Sampling-Gruppen dazu verhalten. So wird das inhaltliche Vergleichen, also die Bewertung der eingangs gestellten vergleichenden Forschungsfrage, übertrieben ausgedrückt, zu einem Nebenprodukt der Kategorienbildung zum Forschungsgegenstand.

In der vergleichenden Beschäft igung mit dem Material ist nun also nicht nach einer „Gegenstandsbindung Frankreich“ vs. „Gegenstandsbindung Deutschland“ gesucht worden. Vielmehr wurde in der Auswertung ex post betrachtet, wie sich die beiden Gruppen von GesprächspartnerInnen, französische und deutsche Lehrende, zu den diff erenzierten Zielen verhalten. Und obwohl sich meistens GesprächspartnerInnen jeweils beider Länder einzelnen Spielarten der Kern-kategorie zuordnen ließen (s. dazu Liebeskind 2011: 131 ff.), hoben sich in der Re-konstruktion der Lehrziele doch elementare Unterschiede zwischen den Ländern ab. Die Unterschiede lassen sich vor allem auf zwei weiteren, sehr zentralen Kate-gorien abbilden: Es sind dies a) das Verständnis, das Lehrende von der Beschäf-tigung mit der eigenen Disziplin haben – das ist allerdings in erster Linie in der Literaturwissenschaft / den lettres eine relevante Kategorie – und b) die Frage, wie sich das Verhältnis zu den Studierenden gestaltet bzw. welche Selbst- und Studie-rendenbilder die Lehrenden unterhalten. Diese Kategorien erwiesen sich als die Kriterien, anhand derer sich französische und deutsche Deutungs muster univer-sitärer Lehre unterscheiden ließen.26

Der Nutzen, den die se beiden sich anschließenden Kategorien für den Ver-gleich haben, lässt sich auch an den wenigen hier zitierten Materialstellen nach-vollziehen. Zunächst zum Selbstverständnis der wissenschaft lichen Disziplin, hier zum Selbstverständnis der lettres und der Literaturwissenschaft : Vor allem Frau Sanden und M. Guidon bilden in der Formulierung ihrer Ziele einen großen Kon-trast. Frau Sanden hatte die aff ektiven „Reaktionen auf den Gegenstand“, also den ganz persönlichen Zugang zur Literatur als Ausgangspunkt gekennzeichnet für Weiteres. Dieses Weitere, so geht es tendenziell aus der Materialstelle selbst („Das schließt kritische Refl exion nicht aus, aber […].“), deutlicher aus anderen Stellen

26 Die Trennkraft für beide Kategorien, was die Unterscheidung französischer vs. deutscher Deu-tungsmuster universitärer Lehre angeht, ist allerdings im Falle der Literaturwissenschaft / lettres eindeutig größer als im Falle der Chemie. Das wiederum ist inhaltlich ein wichtiger Befund: Dis-ziplinäre Kultur kann so gegen nationale Kultur abgewägt werden, welche in der Literatur zur Profession der UniversitätsprofessorInnen beide als wichtige Einfl ussgrößen auf deren Sichtwei-sen und Überzeugungen markiert werden (Clark 1983).

Komparative Verfahren und Grounded Theory 349

im Interview mit Frau Sanden (und auch mit anderen GesprächspartnerInnen aus der deutschen Literaturwissenschaft ) hervor, besteht in einer gemeinsamen analytischen Rekonstruktion des fraglichen Textes. M. Guidon hingegen defi niert das Ziel seiner Lehre ganz anders. Sein Ziel ist die „echte Lektüre“ selbst. Er for-muliert also in der persönlichen Verbindung von Gegenstand und Literatur ein Ziel an sich. Nicht Analyse und Rekonstruktion, nicht wissenschaft lich motivier-tes Verstehen stehen hier im Vordergrund, sondern die Kultivierung eines ganz individuellen Zugangs zur Literatur. Damit ist die Individualität des Lesers das eigentliche Ziel M. Guidons. Auf diese Weise wird – und das ist das Spannende an dieser Interviewstelle und gleichsam die Untermauerung des Unterschieds zu Frau Sanden – die Universität als Forschungs- und Bildungsinstitution transzen-diert: M. Guidons Ziel ist von generellem Charakter, es ist nicht speziell an Wis-senschaft lichkeit und / oder an besondere inhaltliche Vermittlungsziele, sprich: an institutionelle Bildungsziele gebunden, sondern es könnte auch für Situationen und für ein Publikum außerhalb der Universität gelten, in denen bzw. vor dem M. Guidon als homme des lettres, also als ein mit Literatur befasster Intellektuel-ler auftritt.

Damit ist auch die akademische Beschäft igung mit Literatur in ein anderes Licht gerückt: Nicht die wissenschaft lich nachvollziehbare, reliable Analyse – die deutschen Literaturwissenschaft lerInnen kennzeichnen die universitäre Beschäf-tigung mit Literatur sämtlich so, nämlich: (idealerweise) als ein Gemeinschaft s-produkt einer ideal verlaufenden Seminarsitzung (s. dazu Liebeskind 2011: 222 ff.), deren Ergebnis Bestand haben muss vor wissenschaft lichen Argumenten Ande-rer – ist Fokus der Beschäft igung mit Literatur, vielmehr wird ein ganz individu-eller, eigener Zugang zu letzterer angestrebt. Im Vergleich mit dem Auszug aus dem Gespräch mit M. Tanguy bestätigt sich dieser andere Fokus: M. Tanguy teilt das Merkmal der Transzendenz der Universität als Institution nicht – sein Lehr-ziel bleibt ganz in der Bildungsinstitution Universität verortet, wie sogleich noch etwas auszuführen sein wird. Aber auch M. Tanguys Ziel in der Lehre ist es in ers-ter Linie, die Studierenden zu einem individuellen Standpunkt zu einem Text zu befähigen. Das ist M. Guidons Ziel ähnlich, auch wenn M. Tanguy sein Ziel viel normierter, viel schulischer formuliert als sein Kollege.

Ohne, dass das eine das andere ausschließt, ohne also, dass französische lettres-Lehrende die wissenschaft liche Analyse von Texten und deutsche Litera-tur-Lehrende die Entwicklung eines individuellen Standpunkts zum Text ableh-nen würden, ist zusammenfassend doch zu konstatieren, dass der Fokus in der Beschäft igung mit Literatur ein anderer ist: wissenschaft liche Analyse hie, Origi-nalität und die Entfaltung von individuellem esprit dort (vgl. dazu auch Münch

350 Uta Liebeskind

1986: 719 ff. bzw. 533 ff.). Daran lässt sich auch erkennen, dass Universität – zumin-dest was die lettres und einige verwandte Fächer angeht (zur Chemie allerdings s. FN 29) – von den französischen GesprächspartnerInnen eher als Bildungsinsti-tution gedeutet, während die Lehrenden in Deutschland die Bildungsfunktion tat-sächlich immer an das Streben nach wissenschaft licher Erkenntnis binden und also hier viel eindeutiger von der Universität als einem „Überschneidungsbereich von Wissenschaft s- und Erziehungssystems“ zu sprechen ist, wie es die (deutsche) Systemtheorie einst formulierte (Luhmann / Schorr 1979: 53 ff.). Auch die weiter oben angestellte Refl exion zu den thematischen Schwerpunkten der Forschungs-literatur zum Gegenstand der Studie dient als argumentative Stütze für diese Un-terscheidung: Während die deutschen KommentatorInnen der Situation der Uni-versitäten sich prominent mit der Frage beschäft igen, ob und wie Wissenschaft mit Lehre zu vereinbaren ist, wird in der französischen Literatur zur universitä-ren Lehre vor allem die Bildungsfunktion der Universität, auch zu fassen als die Frage nach der individuellen (politischen, persönlichen, fachlichen) Reifung der Studierenden, diskutiert.

Vor allem die zweite, durch ständiges Vergleichen etablierte Anschlusskatego-rie „Selbst- und Studierendenbild“ bzw. „Verhältnis zu den Studierenden“ ist es, die dieses Muster weiter plausibilisiert. Zwar ist sowohl in den Deutungen der deutschen als auch in denen der französischen ProfessorInnen stets erkennbar, dass das Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden als ein hierarchisches gedeu-tet wird, was als ein Charakteristikum von Lehrenden-Lernenden-Beziehungen gelten kann und also typischerweise zu institutionalisierten Bildungsprozessen gehört. Doch zeigt sich auch, dass sich in der Deutung der deutschen Lehrenden Hierarchie tendenziell auflöst, und zwar genau in dem Maß, in dem die Inter-aktion zwischen Lehrenden und Studierenden wissenschaft lich motiviert ist und also den Charakter von Einweisung in die Disziplin und von Vermittlung verliert. Im Rahmen des hier präsentierten sehr reduzierten Materialausschnitts ist es vor allem der Vergleich zwischen Frau Sanden und M. Tanguy, der dieser Interpreta-tion zu Grunde liegt. Der Indikator für den Unterschied ist die Art und Weise, in der über die Studierenden gesprochen wird: Während Frau Sanden die Studieren-den zwar als Subjekte von Erziehung („Reaktionen kultivieren“), in dieser Eigen-schaft aber vor allem als Aktive, zu eigenem Tun zu Ermunternde darstellt („sich darauf verlassen, was einen fasziniert und da weitermachen“), weist M. Tanguy den Studierenden eine Rolle zu, die sich ganz klar als Schülerrolle bezeichnen lässt: M. Tanguy spricht von „uns“, also dem Lehrkörper, vs. „ihnen“, also den Stu-dierenden, zudem ist die Richtung der Impulse in der Formulierung des Lehrziels immer klar: „wir […] führen sie hin“, „wir versuchen […] sie zu befähigen“, „wir

Komparative Verfahren und Grounded Theory 351

schlagen ihnen vor“. In Frau Sandens Äußerung hingegen ist die gemeinsame wis-senschaft liche Diskussion bereits absehbar, die sich anschließt an den Punkt, an dem die „aff ektiven Reaktionen“ der Studierenden „kultiviert“ sind und also ein adäquater Zugang zum Gegenstand gefunden ist.

Kulturell geprägte Muster scheinen sich also vor allem für die Literaturwis-senschaft lerInnen / lettres-Lehrenden eindeutig abzuzeichnen. Die Zuweisungen von empirischen Befunden zu qua Studiendesign festgelegten Sampling-Gruppen – hier also jeweils zu den durch Land- und Fachzugehörigkeit gebildeten vier Un-tergruppen des Samples – sollten allerdings nicht vorschnell vorgenommen oder als endgültig akzeptiert werden. Auf der Suche nach Diff erenzierungen im Ma-terial ist es ratsam, auch konträr zu den sich abzeichnenden Unterschieden zu suchen. Hier lassen sich neben den oben genannten Möglichkeiten zur intersub-jektiven Kontrolle verschiedene heuristische Techniken nutzen, um vorschnel-les, möglicherweise sehr aus dem eigenen Standpunkt heraus verfasstes Zuord-nen von Sampling-Gruppen zu Befunden zu vermeiden. Im Forschungsprojekt, aus dem das Beispiel stammt, wurde etwa ein absichtsvoll „paradox“ konzipierter Auswertungsgang eingeschaltet, der zum Ziel hatte, genau im deutschen Material das französische Muster zu fi nden und umgekehrt. Also: Wer von den deutschen Gesprächspartnerinnen äußert sich zu den Lehrzielen in einer Weise, die den als französisches Muster identifi zierten Deutungen ähneln ? Dieser Analyseschritt hat nicht nur zur Revision der getroff enen Zuordnungen von Franzosen und Deut-schen zu den identifi zierten Mustern (und zur Identifi kation von Ausnahmen) geführt, sondern auch zur Revision der Kategorienbildung selbst. Im Beispiel: Ist es wirklich ein Unterschied im Wissenschaft sverständnis, wenn Frau Sanden „af-fektive Reaktionen“ der Studierenden kultivieren will und M. Guidon zu „wahrer Leserschaft “ verhelfen will ? Geht es M. Tanguy tatsächlich eher um Bildung denn um wissenschaft liche Forschung, und besteht hier wirklich ein Unterschied zu Frau Sanden ? Die Fragen sind im Kontext weiteren, hier nicht berichteten Mate-rials aus den Interviews mit den drei GesprächspartnerInnen mit „Ja“ beantwortet worden. (Immerhin speist sich das Forschungsbeispiel aus einem abgeschlossenen Projekt mit fertigen Ergebnissen.) In der Auswertung des gesamten Materials ist diese Technik aber immer wieder genutzt worden, um inhaltliche Vergleiche zu validieren. Auf diese Weise sind Diff erenzierungen und die Kennzeichnung von Ausnahmen vom jeweiligen Muster zustande gekommen (s. Liebeskind 2011).

352 Uta Liebeskind

4.5 Schlussbetrachtung zum Forschungsbeispiel

Das Ziel qualitativer Forschung ist in der Regel, einen Beitrag zur Th eoriebildung zum untersuchten Gegenstand zu leisten. Was kann also nun der Ertrag sein, den ein qualitatives, empirisch-vergleichendes Forschungsprojekt einbringen kann ?

Die Bedeutung, die im hier vorliegenden Fall der Vergleich einnahm, bewegt sich zwischen zwei Positionen: Zum einen ging es darum, Aussagen zu zwei un-terschiedlichen Universitätssystemen zu gewinnen; es ging also darum – damit kehren wir zum eingangs verwendeten Analogon aus dem Alltag zurück –, zwei unterschiedlich benannte Apfelsorten näher zu beschreiben und dabei herauszu-fi nden, ob sich die beiden tatsächlich hinsichtlich relevanter Dimensionen von-einander unterscheiden und wenn ja: wie die Diff erenzen gelagert sind. Zum anderen ging es allerdings darüber hinaus um soziologische Th eoriebildung: Wel-chen Beitrag leistet die Studie auf dem Gebiet der Wissenschaft ssoziologie, welche ihrerseits an viele weitere Felder, etwa die Professionssoziologie anschließt ? Im Alltagsanalogon ausgedrückt heißt das: Was bringt der Vergleich für die nähere Beschreibung von Äpfeln allgemein ? Der Vergleich hatte also im Projekt eine in-haltlich-gegenstandsbezogene und eine methodologische Bedeutung.

Inhaltlich brachte das Projekt hervor, dass die Deutungen zur Lehre an der Universität in der Tat sehr stark davon abhängen, welcher Gesellschaft die Lehren-den angehören. Während in Frankreich die Deutung überwiegt, dass die universi-täre Lehre ein Baustein des Bildungssystems ist, schlägt sich in Deutschland sehr deutlich nieder, dass sich gleichwohl ebenfalls als solche beschreibbare univer-sitäre Bildung ganz eindeutig auf eigenständige Beschäft igung mit Wissenschaft stützt. Es zeigte sich zudem, dass das disziplinäre Selbstverständnis der Literatur-wissenschaft / der lettres Traditionen des Bildungs- und Wissenschaft ssystems sehr stark widerspiegelt: Während in den französischen Deutungen Originalität und die Entfaltung individuellen Esprits im Vordergrund stehen, während also die Be-schäft igung mit Literatur einen besonderen Fokus auf Persönlichkeitsbildung hat, schlägt sich in der deutschen Literaturwissenschaft nieder, was sich historisch als Szientifi zierung der akademischen Disziplinen bezeichnen lässt (vgl. dazu Kop-petsch 2000: 141 ff.).

Fragt man nun, was sich hinsichtlich soziologischer Th eoriebildung aus dem angestellten Vergleich ziehen lässt, dann fi nden sich zahlreiche Anknüpfungs-punkte. Blickt man etwa aus der Richtung der Professionssoziologie27 auf die Er-

27 Für eine Einführung in die verschiedenen Ansätze der Professionssoziologie s. z. B. Mieg und Pfadenhauer (2003).

Komparative Verfahren und Grounded Theory 353

gebnisse, dann lassen sich interessante Schlüsse für die Art und Weise formulie-ren, in der universitäre Lehre in beiden Ländern gesellschaft lich prozessiert wird: Aus der Rekonstruktion dessen, welche Ziele die Lehrenden mit ihrer Lehre ver-binden, lässt sich erkennen, dass die Ziele autonom auf der Basis disziplinären Er-messens formuliert werden, ohne dabei auf die deutlicher werdenden Ansprüche zu reagieren, die von außen an die Universität herangetragen werden. Die Univer-sitätsprofessorInnen teilen damit auch in ihrer Eigenschaft als Lehrende eine zen-trale Eigenschaft von Professionen, was a) angesichts erstarkender externer An-sprüche an die Universität und damit verbundener Organisationsreformen nicht als Selbstverständlich betrachtet werden kann28 und was b) auch nicht einfach aus dem Professionellen-Status, den die Professorinnen als Wissenschaft ler und For-scherinnen aus professionssoziologischer Sicht zweifelsohne haben, auf die Rolle als Lehrende extrapoliert werden kann.

Im Lichte des deutsch-französischen Vergleichs werden allerdings auch stark generalisierende systemtheoretische Aussagen zur Universität relativiert, die zur soziologisch-theoretischen Defi nition der Universität aufgestellt worden sind: Wenn von der „Universität als Überschneidungsbereich von Wissenschaft s- und Erziehungssystem“ die Rede ist, dann sollte dies nicht allgemeingültig für „die“ Universität formuliert werden, wie es etwa Luhmann und Schorr (1979) in ihrer systemtheoretischen Betrachtung des Erziehungssystems taten, sondern eine sol-che Aussage sollte mit notwendigen Einschränkungen für diejenigen Gesellschaf-ten / Kulturen und auch historischen Zeitpunkte versehen werden, auf die sie zu-trifft .

5 Fazit: Das Vergleichen „vergessen machen“

Der wichtigste Unterschied zwischen dem sozialwissenschaft lichen Vergleich und Vergleichsvorgängen etwa in den Naturwissenschaft en ist, dass die Vergleichs-objekte dem Vergleichenden nicht äußerlich sind, dass also ein Vergleich immer von einem bestimmten, sozial gebundenen Standpunkt aus angestellt wird. Wird dieser Umstand nicht refl ektiert und sodann in der Forschungspraxis nach Mög-lichkeit ausgeglichen, dann besteht die Gefahr, so hatte es Joachim Matthes ge-

28 Angesichts der neuen Steuerungsformen der Universitäten werden vielerorts Befürchtungen ge-äußert, dass der Professionsstatus der ProfessorInnen gerade hinsichtlich ihrer Autonomie in der Gestaltung von Lehre und auch Forschung erodiert (Beaud 2009; Schimank 2005; Stock / Wernet 2005).

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nannt, „nostrifi zierend“ zu arbeiten, also den Vergleich von Beginn an nur durch die Brille kulturell geprägter, eigener Begriff sbildung anzustellen.

Nostrifi zierung zu vermeiden oder zu mildern heißt, das inhaltliche Verglei-chen in entscheidenden Phasen des Forschungsprozesses „vergessen zu machen“. Grounded Th eory ermöglicht dieses „Vergessen-Machen“ besonders gut. „Ver-gessen machen“ ist nicht ganz wörtlich zu nehmen und auch nicht auf jeden Schritt des gesamten Forschungsprozesses zu übertragen. Hier ist zwischen der Forschungsmotivation, die durch Annahmen zu Gemeinsamkeiten und Unter-schieden zwischen den Vergleichsobjekten bestimmt ist, und der Planung des Forschungsprozesses zu unterscheiden. Den Vergleich „vergessen machen“ soll heißen, im Moment der Auswertung die Annahmen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Vergleichsobjekte genauso zu behandeln, wie sonstiges theore-tisches Vorwissen in der qualitativen Forschung auch: Wenn die Unterscheidungs-linien, die sich aus der bereits vorhanden Th eorie ableiten lassen, die Materialaus-wertung nicht bestimmen, sondern allenfalls die Rolle von sensitizing concepts einnehmen, wenn es also gelingt, diese Annahmen so off en zu behandeln, dass sie grundsätzlich im Zuge der Auswertung adaptiert oder zurückgewiesen werden können, dann ist ein wichtiger Schritt getan, um sich vom Denken in Begriff en des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu lösen. Vergleichende Forschungsprojekte, in denen dieses Ziel bewusst verfolgt wird, sind dem einst von Jürgen Matthes ein-geforderten „gemeinsamen Denkraum“ im Vergleichen ein großes Stück näher.

Die vorgeschlagenen konkreten Techniken, etwa die kultursensible Rezeption der Forschungsliteratur aus verschiedenen kulturellen Kontexten, die Diskussion von Zwischenergebnissen mit Expertinnen aus der jeweils anderen Kultur, die hier in Bezug auf das Vorgehen nach Grounded Th eory zusammengetragen worden sind, lassen sich problemlos auch auf andere Verfahren der qualitativen Sozial-forschung übertragen. Wichtig ist – und das gilt eben unabhängig vom gewählten Forschungsvorgehen in qualitativ-empirischen Forschungsprojekten –, dass die Standortgebundenheit der Forscherin an jedem Schritt des Forschungsprozesses eine Rolle spielt, dass also an jedem Schritt eines vergleichenden Projekts refl ek-tiert werden sollte, inwieweit die eigene soziokulturelle Prägung den Verlauf des Materialsammelns und -auswertens beeinfl usst.

Das zur Illustration genutzte Forschungsbeispiel zu Deutungsmustern der uni-versitären Lehre in Deutschland und Frankreich ist thematisch günstig gelagert, entstammt es doch einem Th emenfeld, das mit Bildung und (Geistes-)Wissen-schaft in prominenter Weise einige sehr stark kulturell geprägte gesellschaft liche

Komparative Verfahren und Grounded Theory 355

Teilbereiche behandelt.29 Verallgemeinert betrachtet, lässt das Forschungsbeispiel erkennen, dass die qualitativ-empirische Sozialforschung dank ihrer rekonstruk-tiven Verfahrensweise Entscheidendes zur Th eoriebildung in kulturell stark ge-prägten gesellschaft lichen Bereichen beitragen kann. Davon kann insbesondere die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung profi tieren, die ihren derzeitig nicht nur in Deutschland zu beobachtenden starken Auftrieb vor allem dem Interesse am internationalen Vergleich messbarer Bildungsoutcomes verdankt. Die qualita-tive Sozialforschung kann demgegenüber Vergleiche von Bildungssystemen30 und -vorgängen relativieren, die auf harmonisierten Indikatoren basieren. Kulturelle Einfl üsse auf Bildungsverläufe werden hier schließlich nicht vor der Erhebung von empirischem Material so gut wie möglich neutralisiert, um Messergebnisse vergleichbar zu machen, wie es in indikatorenbasierten Vergleichen gängige und auch notwendige Praxis ist. Kulturellen Einfl üssen auf Bildungs- und Erwerbsver-läufe wird vielmehr durch geeignete, systematisch vergleichende Methoden in der empirischen Analyse angemessen Raum gegeben. Das ist letztendlich nicht nur dem Zweck dienlich, Unterschiede und Gemeinsamkeiten möglichst umfassend zusammenzutragen und abzubilden, sondern es ermöglicht auch und in erster Linie eine adäquate Begriff s- und Th eoriebildung.

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Zur Rekonstruktion von GesellschaftRekonstruktive Sozialforschung zwischen Habitus- und Feldanalyse

Florian von Rosenberg

1 Einleitung

Wenn man davon ausgeht, dass Lern- und Bildungsprozesse und noch eindeu-tiger berufsbiografi sche Laufbahnen in gesellschaft liche Strukturen eingefasst sind, stellt sich für eine rekonstruktive Sozialforschung1 die Frage, wie diese zu untersuchen sind. Der folgende Beitrag geht davon aus, dass sich gesellschaft li-che Strukturen aus zwei Blickwinkeln rekonstruieren lassen: Einerseits können gesellschaft liche Strukturen aus der Perspektive von Akteuren untersucht wer-den, wobei dann Prozesse der Aneignung und des Umgangs mit gesellschaft lichen Strukturen im Fokus der Analyse stehen, anderseits können jedoch auch gesell-schaft liche Eigenlogiken untersucht werden, die sich jenseits von Akteursintentio-nen tradieren und transformieren.

Ein Th eorieansatz, der beiden Perspektiven Rechnung trägt, fi ndet sich in der Th eorie der Praxis von Pierre Bourdieu und seiner Unterscheidung zwischen Ha-bitus und Feld. In der Folge möchte ich zunächst einige Linien einer Th eorie der Praxis im Zusammenhang mit der rekonstruktiven Sozialforschung und der Un-tersuchung von Biografi en skizzieren (2), um dann methodologische Möglich-keiten von Habitus- und Feldrekonstruktionen aufzuzeigen (3, 4). Anschließend möchte ich beispielhaft auf empirische Umsetzungen eingehen (5).

1 Statt von qualitativer und quantitativer Forschung möchte ich im Weiteren von einer rekonstruk-tiven Sozialforschung sprechen, welche ich von hypothesenprüfenden Verfahren unterscheide (hierzu ausführlich Bohnsack 2010: 13 ff.). Eine rekonstruktive Sozialforschung arbeitet vom em-pirischen Material ausgehend theoriegenerierend, wohingegen hypothesenprüfende Verfahren empirische Materialien stärker zur Verifi kation bzw. Falsifi kation theoretischer Überlegungen heranziehen.

360 Florian von Rosenberg

2 Rekonstruktive Sozialforschung und eine Theorie der Praxis

Der gemeinsame Nenner zwischen einer rekonstruktiven Sozialforschung und einer Th eorie der Praxis kann in dem Anspruch einer empirisch fundierten und nicht-dualistisch operierenden Th eoriebildung gesehen werden. Sowohl bei der ohnehin empirisch ausgelegten rekonstruktiven Sozialforschung (vgl. Bohnsack /Nentwig-Gesemann / Nohl 2007) als auch in den Ausarbeitungen von Bourdieu (vgl. z. B. 1987) ist Th eoriebildung nicht als ein Gegenstand rein philosophischer Refl exion zu verstehen, sondern die Generierung einer Th eorie beruht immer auf einem Wechselspiel zwischen empirischer Rekonstruktion und sozialwissen-schaft licher Refl exion. Hiervon ausgehend kann man auch von einer „theoreti-schen Empirie“ (Kalthoff / Hirschhauer / Lindemann 2008) beziehungsweise em-pirisch fundierten Th eorie sprechen.

Ein Anliegen von Bourdieus Th eoriemodell, welches von der rekonstruktiven Sozialforschung geteilt wird, ist es, „der Zwangsalternative von Subjektivismus und Objektivismus zu entkommen“ (Bourdieu 1989: 72). Hierfür entwirft Bour-dieu (1979) eine Th eorie der Praxis. Subjektivistische Erkenntnisformen, zu denen Bourdieu vornehmlich die Phänomenologie und die Ethnomethodologie der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, kritisiert er wegen ihres fehlenden Bruchs gegenüber den primären Erfahrungen von sozialen Akteuren. Die subjektivisti-sche Erkenntnisform nimmt hier nur das „krud Gegebene“ (Bourdieu 1979: 150) in den Blick, die gesellschaft lichen Bedingungen der Möglichkeit von Erkennt-nis werden jedoch weitestgehend vernachlässigt. Anders Bourdieus Kritik an den objektivistischen Erkenntnisformen, zu denen er vor allem die Soziologie Durk-heims und den Strukturalismus Leví Strauss’ zählt (vgl. Bourdieu 1979: 158 ff.). Der Objektivismus vollzieht zwar den Bruch mit den primären Erfahrungen der Akteure, dabei werden jedoch die Konstruktionsarbeiten der Akteure derart ver-nachlässigt, dass Handlungen nur noch als determinierte Ableitung aus gesell-schaft lichen Strukturen erscheinen.

Der subjektivistischen und der objektivistischen Erkenntnisform stellt Bour-dieu nun eine praxeologische gegenüber. Die praxeologische Erkenntnisweise soll die Defi zite und Einseitigkeiten der subjektivistischen und objektivistischen Er-kenntnisweise überwinden und trotzdem ihre Errungenschaft en bewahren. Ge-schehen soll dies durch einen doppelten Bruch. Aus phänomenologischer Per-spektive soll mit der primären Erfahrung gebrochen werden, um eine notwendige Distanz zum Objekt zu erhalten und der Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis zu entgehen. Aus objektivistischer Perspektive soll die primäre Erfahrung wieder

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 361

eingeführt werden, um damit die eigenständige Konstruktionsarbeit der Akteure berücksichtigen zu können.

Um beiden Ansprüchen gerecht zu werden, entwirft Bourdieu auf der meta-theoretischen Ebene die analytische Unterscheidung von Habitus und Feld. Wäh-rend der Habitus gesellschaft liche Strukturen vor allem auf der Ebene von Ak-teuren und Akteursgruppen beschreibt, nimmt der Feldbegriff gesellschaft liche Eigenlogiken in den Blick, die sich jenseits von Akteursintentionen reproduzieren und transformieren. In der Folge möchte ich die Rekonstruktion dieser beiden Forschungslinien als zwei Möglichkeiten der empirischen Analyse von Gesell-schaft thematisieren, um anschließend auf unterschiedliche Formen der empiri-schen Umsetzung einzugehen. Beginnen möchte ich mit der Habitusrekonstruk-tion.

3 Habitusrekonstruktion

Ein gängiger Weg, die gesellschaft liche Fundierung von biografi schen Materia-lien aus einer bildungstheoretischen Perspektive in den Blick zu nehmen, wird im Habituskonzept Pierre Bourdieus gefunden (Alheit 1992; Herzberg 2004; Koller 2002, 2009; Rosenberg 2011a). Der Habitus stellt hier ein gesellschaft lich konsti-tuiertes Generierungsprinzip für Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstruk-turen dar (Bourdieu 1993: 101). In diesem Sinne kann der Habitus als ein Ver-mittlungsmodus zwischen Subjekt und Gesellschaft verstanden werden. Auf einer methodologischen Ebene haben sich vor allem die Arbeiten um eine praxeolo-gische Wissenssoziologie (Bohnsack 2010; Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl 2007; Nohl 2006a) für eine Habitusrekonstruktion als anschlussfähig erwiesen (vgl. auch Meuser 2007). Gegenüber intentionalen Handlungstheorien betont die dokumentarische Methode wie auch die Habitustheorie Bourdieus den kollekti-ven und routinisierten Charakter der a-theoretischen Wissensbestände von Ak-teuren und Akteursgruppen. Damit zielen sowohl die Habitustheorie als auch der primäre Zugang der praxeologischen Wissenssoziologie zunächst auf kollektive Strukturen, die sich in Akteuren und Akteursgruppen abbilden. Gesellschaft li-che Phänomene, die sich jenseits von Akteursintentionen vollziehen, kommen nur dann vermittelt in den Blick, wenn es darum geht, wie Akteure mit diesen Strukturen einen Umgang fi nden. Aus diesem Grund möchte ich die Habitus-rekonstruktion als die Analyse einer akteursgebundenen Perspektive kennzeich-nen, deren primärer Zugang auf die Aneignung, Reproduktion und Transforma-tion gesellschaft licher Strukturen zielt.

362 Florian von Rosenberg

Methodologisch entscheidend für den Zugang zu den habitualisierten Wis-sensbeständen ist für die praxeologische Wissenssoziologie ein Wechsel in der Analyseeinstellung von den Was- zu den Wie-Fragen. Es wird in der empirischen Rekonstruktion nicht der Frage nachgegangen, was die gesellschaft liche Realität in der Perspektive der Akteure ist, sondern wie die gesellschaft liche Realität in der Praxis der Akteure hergestellt wird (vgl. Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl 2007: 12). Damit zielt die empirische Rekonstruktion auf das dem Habitus zu-grunde liegende Generierungsprinzip, auf seinen modus operandi. Es wird davon ausgegangen, dass der aus einem Interview oder aus einer Gruppendiskussion entstehende Text selbst ein Produkt einer oder mehrerer Habitusdimensionen ist. In diesem Sinne zielt die empirische Rekonstruktion dieser Dokumente auf über-greifende Muster – zunächst innerhalb eines Falles – ab, die sich an unterschied-lichen Textstellen belegen lassen müssen.

Bei der Rekonstruktion des Habitus muss zweierlei beachtet werden. Zum einen wird der Geltungscharakter von Akteursaussagen eingeklammert. Das heißt, es wird nicht bewertet, ob die Aussagen eines Akteurs oder einer Akteurs-gruppe wahr oder falsch, moralisch gut oder schlecht oder ästhetisch ge- oder misslungen sind.2 Die Aussagen eines Akteurs werden durch die Einklammerung ihres Geltungscharakters in erster Linie hinsichtlich eines sich darin zeigenden Generierungsprinzips untersucht (vgl. Bohnsack 2010: 64 ff.). Zum anderen ver-bleibt die Habitusrekonstruktion nicht beim Einzelfall, sondern durch kompara-tive Analysen werden fallübergreifende Muster in den Blick genommen.

Die komparative Analyse stellt damit die Schlüsselstelle innerhalb der Ha-bitusrekonstruktion dar. In ihr geht es darum, durch empirische Fallvergleiche das zu interpretierende Dokument mit empirischen Gegenhorizonten zu kon-trastieren und zu diff erenzieren. Dies geschieht aus zwei Gründen: Zum einen wird das Material so nicht ausschließlich mit dem interpretativen Gegenhori-zont des Forschers konfrontiert, sondern es werden empirische Gegenhorizonte von Vergleichsfällen in die Interpretation mit aufgenommen, wodurch die ei-gene Standortgebundenheit der Forschenden methodologisch und forschungs-praktisch relationiert wird (vgl. Nohl 2007). Zum anderen kann durch die kom-parative Analyse ein empirischer Zugang zur Mehrdimensionalität des Habitus geschaff en werden. Durch das Heranziehen von empirischen Vergleichshorizon-ten beispielsweise hinsichtlich der Dimensionen von Generation, Milieu oder Geschlecht kann man den rekonstruierten Habitus dann aus unterschiedlichen

2 Zur Illustrierung der Einklammerung des Geltungscharakters und des Wechsels von den Was- zu den Wie-Fragen vgl. auch das Forschungsbeispiel in Abschnitt 4.

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 363

Blickwinkeln beleuchten. Bei der Rekonstruktion von Habitusformen muss dabei immer von Überlappungsphänomenen ausgegangen werden; Habitusrekonstruk-tionen als Typenbildungen sind demnach konstitutiv mehrdimensional. Mit den zusammenhängenden Begriff lichkeiten der Einklammerung des Geltungscharak-ters, der komparativen Analyse und der mehrdimensionalen Typenbildung zeigt die dokumentarische Methode elaborierte und methodologisch refl ektierte For-schungsinstrumentarien auf, um eine Habitusrekonstruktion gangbar zu machen (vgl. Bohnsack 2010; Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl 2007).

Bei der Rekonstruktion von Prozessverläufen zeigt sich insbesondere die Bio-grafi eforschung für den Versuch, Subjektivismen und Objektivismen zu unterlau-fen, als anschlussfähig. Die Biografi eforschung möchte nicht nur Aussagen über die Orientierungswechsel Einzelner machen, sondern, gerade wenn sie Biogra-fi en erforscht, ist sie „strukturell auf der Schnittstelle zwischen Subjektivität und gesellschaft licher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt und er-öff net somit die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld zwi-schen subjektiver und objektiver Analyse zu erfassen“ (Krüger / Marotzki 2006: 8). In diesem Zusammenhang wird unter dem Stichwort der „Weltvergessenheit“ insbesondere in der bildungstheoretisch orientierten Biografi eforschung gerade die fehlende Anbindung biografi scher Analysen an die Rekonstruktion gesell-schaft licher Bedingungen der Möglichkeit von Biografi zität kritisiert (vgl. hierzu Nohl / Koller 2010; Wigger 2010; Stojanov 2010; Rosenberg 2010). Als Manko er-scheint, dass eine empirisch fundierte Bildungstheorie an die Problemlagen einer Rekonstruktion von gesellschaft licher Objektivität nicht heranreicht, „wenn sie sich auf die akribische Bearbeitung der Frage beschränkt, wie Subjekte mit ihren Erfahrungen umgehen oder sich in der Welt orientieren“ (Wigger 2004: 490). Ge-fordert wird hier, biografi sche Rekonstruktionen durch die Analysen der gesell-schaft lichen Bedingungen der Möglichkeit von Biografi zität zu ergänzen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bietet sich neben dem Habitusbegriff der Feld-begriff an,3 insofern er nochmal eine andere Perspektive auf gesellschaft liche Strukturen einnimmt.

3 Insofern der Habitusbegriff die Strukturiertheit und Voraussetzungen von biografi schen Orien-tierungen in den Blick nimmt, stellt er selbst schon eine Analysekategorie für die Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit von Biografi zität dar. In der Folge wird deutlich werden, inwie-fern der Feldbegriff andere, beziehungsweise zu ergänzende Optionen bereitstellt.

364 Florian von Rosenberg

4 Feld als Diskursrekonstruktion

Betrachtet man die Th eorie der Praxis Pierre Bourdieus, zeigt sich, dass das Habi-tuskonzept nur einen Teil der Rekonstruktion von gesellschaft lichen Strukturen darstellt. Programmatisch fasst Bourdieu (1987: 175) seinen Praxisbegriff in der Formel „Habitus (Kapital) + Feld = Praxis“ zusammen. Die Habitusrekonstruk-tion als eine empirische Analyse auf der Ebene von Akteuren und Akteursgrup-pen muss demnach um eine Feldrekonstruktion, welche gesellschaft liche Struktu-ren jenseits von Akteursintentionen in den Blick nimmt, ergänzt werden.

Bezogen auf gesellschaft liche Eigenlogiken können mit dem Feldbegriff unter-schiedliche Aspekte der Reproduktion und Transformation von Gesellschaft fo-kussiert werden. Während der Habitusbegriff als ein Vermittlungsmodus gesehen werden kann, der sich auf „inkorporierte Strukturen“ von Akteuren und Akteurs-gruppen bezieht, ist der Feldbegriff auch auf die Analyse gesellschaft licher Eigen-logiken gerichtet, die Bourdieu (1998: 7) als „objektive Strukturen“ kennzeichnet. Dass der Feldbegriff gegenüber dem Habitusbegriff eine eigenständige Analyse-kategorie darstellt, verdeutlicht Bourdieu in seinem doppelten Geschichtskonzept. Einerseits geht Bourdieu von einer sich reproduzierenden Geschichte der inkor-porierten sozialen Strukturierung aus, die sich auf den Habitus und damit auf Akteure und Akteursgruppen bezieht, andererseits diff erenziert Bourdieu von der inkorporierten und habitualisierten Geschichte eine Geschichte, welche sich jen-seits der Akteursintentionen eigenlogisch reproduziert. Bourdieu und Wacquant führen hierzu aus: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure“ (Bourdieu / Wacquant 1996: 161).

In bisherigen Debatten zu Bourdieus Feldtheorie sind häufi g durch seine Ana-lysen zu unterschiedlichen Verteilungen von ökonomischem, kulturellem, sozia-lem und symbolischem Kapital rezipiert worden.4 Dahingegen werden Bourdieus Analysen zum Begriff der Illusio, mit dem ich mich in der Folge im Kontext von Feldrekonstruktion beschäft igen möchte, weit weniger häufi g in den Fokus ge-rückt.

Der Illusiobegriff thematisiert den grundlegenden Glauben an ein Spiel (vgl. Bourdieu 2001: 122 f.). Stärker als der Kapitalbegriff , welcher vornehmlich auf der

4 Vgl. hierzu beispielhaft Kneers (2004: 39 ff.) Ausführungen zum Diff erenzierungsbegriff bei Bourdieus Th eorie sozialer Felder .

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 365

Ebene von Habitusverhältnissen argumentiert,5 kann man mit dem Begriff der Illu sio symbolische Eigenlogiken eines Feldes analysieren, die sich nicht direkt auf Akteure beziehen (vgl. Bourdieu 2001: 122 f. u. 210 ff.). Die Untersuchung der Illu-sio thematisiert stärker die konstituierenden Regeln eines Feldes. Welchen Kom-plexen von Praktiken müssen sich die Akteure und Akteursgruppen unterwerfen, wenn sie in ein Feld eintreten und agieren wollen ? Wie unterscheiden sich die konstituierenden Regeln eines Feldes von denen eines anderen ?

Zur forschungspraktischen Beantwortung dieser Fragen lässt sich methodo-logisch passend für eine Feldrekonstruktion die Diskursanalyse anschließen. Die Diskursanalyse, die sich – wie im Weiteren noch ausgeführt wird – mit gesell-schaft lichen Sinnproduktionen befasst, stellt ein geeignetes methodologisches In-strumentarium zur Rekonstruktion der konstitutiven Eigenlogiken von Feldern dar.6

Einer Th eorie der Praxis verbunden, stellt der Diskurs im Anschluss an die Ar-beiten von Michel Foucault ein Ensemble von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken dar.7 Hieran anschließend, wird ein Diskurs nicht als eine bloße Kon-struktion von Common-Sense-Annahmen verstanden, sondern als ein Ausdruck von Praktiken. In diesem Sinne können Diskursanalysen nicht nur als sprachliche oder linguistische Analysen verstanden werden, vielmehr zielen auch sie auf die Rekonstruktion von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ab.

Ernesto Laclau (1981: 176, zitiert nach Jäger 2001: 92) führt aus: „Unter dem ,Diskursiven‘ verstehe ich nichts, was sich im engen Sinne auf Texte bezieht, son-dern das Ensemble der Phänomene gesellschaft licher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet. Hier geht es nicht darum, das Diskursive als eine Ebene oder eine Dimension des Sozialen aufzufassen, sondern als gleichbe-deutend mit dem Sozialen als solchem (…). Folglich steht nicht das Nicht-Dis-kursive dem Diskursiven gegenüber, als handelte es sich um zwei verschiedene Ebenen, denn es gibt nichts Gesellschaft liches, das außerhalb des Diskursiven be-stimmt ist. Die Geschichte und die Gesellschaft sind also ein unabgeschlossener

5 Vgl. hierzu auch Bourdieus (1987: 175) schon angeführte Formel „Habitus (Kapital) + Feld = Pra-xis“, bei der der Kapitalbegriff auf der Seite der Habitusverhältnisse verortet wird.

6 Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass die Diskursanalyse nicht als eine einheitliche Me-thode gesehen werden kann (vgl. Keller 2007). Im Folgenden möchte ich deshalb eine Perspek-tive für eine dokumentarische Interpretation von Diskursen andeuten. Dabei geht es mir weni-ger darum, eine systematische Ausarbeitung einer einheitlichen Forschungsrichtung vorzustellen (vgl. hierzu auch Rosenberg 2011a: 106 – 115).

7 Vgl. zur Einordnung Michel Foucaults Diskurstheorie in den Rahmen einer Th eorie der Praxis Reckwitz 2000: 262 – 307.

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Text.“ Diskurse können so als „regelgeleitete Praktiken“ (Schwab-Trapp 2006: 35) gesehen werden, in denen diskursive und nicht-diskursive Elemente untrennbar zusammenhängen. Der Diskursbegriff verweist damit, vor allem in den Arbeiten von Michel Foucault (vgl. 1974, 1981), auf gesellschaft liche Eigenlogiken die sich jenseits von Akteursintentionen reproduzieren und transformieren.

Anders als andere Formen der Gesellschaft sdiagnose bilden Methoden der Diskursanalyse die Möglichkeit, den modus operandi und damit die Herstellungs-weise einer gesellschaft lichen Eigenlogik nicht nur zu postulieren, sondern sie auch empirisch zu rekonstruieren. Im Unterschied zu Habitusrekonstruk tionen zielt die Diskursanalyse weniger auf die Aneignungs- und Verarbeitungsmodi von Akteuren, sondern auf gesellschaft liche Eigenlogiken. Die Methoden der Dis-kursanalyse können so theoretische und methodische Anregungen geben, wie eine empirische Erforschung der modi operandi von Feldern angegangen werden kann. Methodologischer Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen ist die schon im Zusammenhang mit der Habitusrekonstruktion angeführte rekonstruk-tive Sozialforschung (vgl. Bohnsack 2010).

Der von der rekonstruktiven Sozialforschung mit anderen Th eorien und Me-thodologien der Praxis geteilte Th eorieanspruch, „Subjektivismus“ und „Objekti-vismus“ relational zu überwinden, kann mit der Hinzunahme der Untersuchung von gesellschaft lichen Eigenlogiken in seinem Komplexitätsgrad weiter gesteigert werden. Wie bei der Habitusrekonstruktion steht auch bei einer rekonstruktiven Interpretation von Diskursen mit Hilfe der dokumentarischen Methode der Per-spektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen und die damit verbundene Einklammerung von Geltungscharakteren sowie die komparative Analyse und die Typenbildung im Vordergrund.

Ähnlich der Habitusrekonstruktion fokussiert eine in diesem Sinne dokumen-tarische Diskursanalyse nicht das Was, sondern das Wie eines Diskurses. Einher-gehend mit diesem Perspektivenwechsel ist auch die Diskursanalyse ein rekon-struktives Verfahren.

Neben der Einklammerung von normativen, ästhetischen und propositiona-len Geltungscharakteren unterscheidet sich die Interpretation von Diskursen ge-genüber der Analyse von Habitusverhältnissen jedoch dadurch, dass hier zusätz-lich die Einklammerung des Geltungscharakters von subjektiven oder kollektiven Aneignungsformen vorgenommen wird. Nicht das Wie eines Habitus, sondern das Wie eines Diskurses steht im Mittelpunkt der Analyse von Feldern. Es geht also nicht um die Aneignung von und den Umgang mit gesellschaft lichen Struk-turen seitens konkreter Personen bzw. Gruppen, sondern um die Rekonstruktion

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 367

von gesellschaft lichen Eigenlogiken, welche sich jenseits von Akteurskonstruktio-nen, beispielsweise in der Illusio von Feldern, reproduzieren und transformieren.

Dokumente werden so in der Diskursanalyse „als Produkte eines anonymen, aber regelhaft en Geschehens“ begriff en (Lüders 2007: 171). Der Begriff des An-onymen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass die Akteure oder Ak-teursgruppen eines Diskurses nicht bekannt wären oder dass sie keine struktu-rellen Voraussetzungen für einen Diskurs darstellen, vielmehr macht der Verweis auf das Anonyme die Einklammerung des Aneignungscharakters bei der Rekon-struktion deutlich.

Mit Koller und Lüders geht es so um „übersubjektive Regeln der gesellschaft -lichen Produktion von Wissen, Wahrheits- und Wirklichkeitskonstruktionen“ (Koller / Lüders 2004: 58). Der Diskurs wird in diesem Sinne als „eine spezifi sche Beobachterkategorie“ (Reckwitz 2008: 203) verstanden, welche sich eben von der des Habitus unterscheidet. Um die spezifi schen Codes eines Diskurses und damit die spezifi sche gesellschaft liche Eigenlogik eines oder mehrerer Felder rekonstru-ieren zu können, bedarf es entsprechend der dokumentarischen Interpretation einer komparativen Analyse.

Bezogen auf die Notwendigkeit einer komparativen Analyse für Diskurse führt Michael Schwab-Trapp (2006: 38) aus: „Zur Diskursanalyse wird die Analyse dis-kursiver Beiträge nur dort, wo diese Analyse Vergleichshorizonte einbindet und die Beiträge, die sie untersucht, in Beziehung zu anderen Diskursbeiträgen und Diskursen setzt.“ In der Forschungspraxis werden, dem Anspruch der kompara-tiven Analyse folgend, für eine Diskursrekonstruktion größere Dokumentsamm-lungen komparativ analysiert, um damit den modus operandi, das Wie eines Dis-kurses / Feldes, rekonstruieren zu können.

Ähnlich der Habitusrekonstruktion zielt auch die dokumentarische Diskurs-analyse auf Typenbildungen ab. In der Regel geht es hier bei einer Diskursanalyse nicht darum, einen Diskursbeginn exakt zu datieren oder ihn in Gänze zu erfas-sen, vielmehr wird der Herstellungsprozess eines Diskurses fokussiert. Je mehr empirische Vergleichshorizonte mit einbezogen werden können, als desto höher gilt der Generalisierungs- und Diff erenzierungsgrad der Typenbildung einer Dis-kursrekonstruktion. Es geht weniger darum, einen Diskurs in seiner Vollständig-keit zu erkennen, als vielmehr darum, typische Funktionsmodi, Abgrenzungen und Überlappungen zu bestimmen.

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5 Empirische Rekonstruktion von berufsbiografi schen Lern- und Bildungsprozessen zwischen Habitus und Feld

Abschließend möchte ich auf empirische Beispiele eingehen, um Verknüpfungs-möglichkeiten von Habitus- und Feldrekonstruktionen aufzuzeigen. Im Fokus steht hierfür zunächst eine Habitusrekonstruktion (5.1), welche dann durch eine Feldrekonstruktion (5.2) ergänzt wird.

5.1 Rekonstruktion von Akteursperspektiven: Antagonistische und nonkonforme Habitusformen

In unterschiedlichen Studien konnte ich über verschiedene Lebensphasen hinweg neben anderen Habitusformen auch eine rekonstruieren, die ich bei Jugendlichen als antagonistische beziehungsweise bei Erwachsenen als nonkonforme Habitus-form gekennzeichnet habe (vgl. Rosenberg 2008, 2011a).

In der Jugendphase sind die Handlungspraktiken des antagonistischen Habi-tus durch Aktionismen geprägt, also durch Handlungsformen, die spontan und ungeplant verlaufen (vgl. Bohnsack / Nohl 2001) und deren Funktion in der Suche nach und der Bildung von adoleszenter Gemeinschaft besteht (vgl. Bohnsack et al. 1995). Anhand von ethnografi schen Beobachtungen und Gruppendiskussionen konnte in meiner Untersuchung rekonstruieren werden, wie sich die antago-nistische Habitusform durch einen spezifi schen Umgang mit sozialen Räumen gegenüber der Institution Schule in Position bringt (vgl. Rosenberg 2011b). Die antagonistisch orientierten Jugendlichen versuchen, die institutionellen Ablauf-muster der Schule zu konterkarieren, indem sie die Regeln und Erwartungshal-tungen der Schule durch die der Peergroup ersetzen (vgl. Rosenberg 2008). Wie sich in einer Untersuchung zum Zusammenhang von Entwicklungsphasen und Berufsorientierung zeigt, besteht ein Problem der antagonistisch orientierten Ha-bitusdisposition in der Negation berufsbiografi scher Zukunft sentwürfe (vgl. Ro-senberg / Schröder / Gerull 2006). Vor diesem Hintergrund möchte ich Lern- und Bildungsprozesse von Erwachsenen fokussieren, die in ihrer Jugendphase ant-agonistisch orientiert waren und denen im Erwachsenenalter trotz oder gerade wegen ihrer nonkonformen Habitusdisposition Einstiege in spezifi sche Berufs-felder gelingen. Dabei wird sich in Diskursrekonstruktionen zeigen, dass das Pas-sungsverhältnis zwischen den nonkonformen Habitusformen und den gewählten Berufsfeldern kein zufälliges, sondern ein historisch gewachsenes ist.

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 369

Ich beziehe mich in der Folge auf die fallübergreifende Analyse von drei bio-grafi schen Interviews, bei denen sich Bildungsprozesse im Sinne einer Habitus-wandlung rekonstruieren ließen (vgl. hierzu auch Rosenberg 2011a: 117 ff.). Die drei Interviews wurden im Zuge einer Untersuchung zu berufsbiografi schen Orien tierungen und Arbeitstechniken im Internet geführt. Herr Christophsen, Herr Behrend und Herr Walters sind zwischen 30 und 40 Jahre alt und arbei-ten gemeinsam an Netzkunstprojekten, welche sie zeitweise zu kommerzialisieren versucht haben. Bei der Netzkunst geht es ihnen weniger darum, das Internet als bloßen Raum für die Speicherung oder Verbreitung von analoger Kunst zu nutz-ten, sondern das Internet und seine technischen Möglichkeiten werden für die Netzkünstler selbst ein ästhetisches Medium und damit zum Gegenstand einer ästhetischen Praxis. In der komparativen Analyse der drei Interviews zeigt sich in allen drei Fällen ein nonkonformer Habitus, dessen modus operandi, wie schon beschrieben, in einer Verschiebung und Umwidmung von Rahmungen sozialer Räume liegt. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem Fall von Herrn Christophsen angeführt werden, welcher sein Interview folgen-dermaßen beginnt:8

„Äh ich soll mein Leben erzählen. tja vorne anfangen. naja also ich bin in Berlin gebo-ren, und äh man muss heute sagen in Ostberlin, //Interviewer: hmhm// und äh dann ja die frühesten Erinnerungen sind dass ich äh schon sehr früh irgendwie sehr wider-standsf- äh äh widers- widerständig sozusagen war und da haben wir noch in so ner Siedlung gewohnt da so ne kleine wie ist es wie heißt das Wohnbausiedlung, und ich weiß noch eine Szene da mochte ich irgendwie das Essen nicht und bin einfach aus dem Fenster gesprungen um abzuhauen als meine Mutter in der Küche war und das war halt zum Glück Parterre gewesen. und dann ist sie aber außen um das Haus rum-gerannt und hat mir dann ne Tracht Prügel verabreicht und ich glaube das ist so ganz typisch sozusagen. meine Mutter ist ja relativ streng. und äh ja und ich bin eben halt äh äh relativ durchgeknallt könnte man sagen“

In der Passage dokumentiert sich, dass sich Herr Christophsen gegenüber der mütterlichen Autorität durch Entzug auf Distanz setzt. Er bricht die vorgegebe-nen Regeln (das Essen zu essen, den Raum durch die Tür zu verlassen, auf die An-

8 Im folgenden Interviewauszug wird entsprechend den Transkriptionsregeln nach Satzzeichen klein weiter geschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt werden. Ein Komma zeigt dabei eine schwach steigende, ein Punkt eine stark sinkende Intonation an.

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weisungen der Mutter zu hören) und stellt selbst neue Regeln auf, beispielsweise, wann und wie der Essenstisch zu verlassen ist.9 In der fallinternen Analyse wird deutlich, dass das Brechen und Verschieben von Regeln nicht nur in einer, son-dern in mehreren Passagen und in verschiedenen Kontexten die Erzählungen von Herrn Christophsen strukturieren. In der fallübergreifenden komparativen Ana-lyse dokumentieren die biografi schen Interviews von Herrn Walters und Herrn Behrend eine homologe Struktur. Bei ihnen wiederholt sich in den Erzählungen ein modus operandi, indem das Brechen und Verschieben von Regeln im Vorder-grund steht (vgl. Rosenberg 2011a: 117 ff.).

Im Zuge von berufsbiografi schen Suchprozessen kommt es innerhalb der Bio-grafi en in Bezug auf den Habitus der Nonkonformität zu Bildungsprozessen im Sinne der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen.10 Analysiert man fallübergreifend die Struktur der Transformationen von Welt- und Selbstverhält-nissen, zeigen sich in den Vorgeschichten der Bildungsprozesse milieuspezifi sche Desintegrationserfahrungen. Zwischen den Habitusdispositionen und den für sie relevanten sozialen Räumen entstehen Passungsschwierigkeiten. Die hier auftre-tenden Störungen bieten Anlass dafür, dass die Habitusdispositionen überhaupt fraglich werden und dass Veränderungsprozesse eingeleitet werden. In der sich anschließenden Phase des Bildungsprozesses suchen die Akteure – teilweise über Jahre hinweg – nach Anschlüssen an neue soziale Räume. Entsprechend ihrem modus operandi des nonkonformen Habitus spielen dabei immer wieder Prozesse der Brechung, Umwidmung und Verschiebung von gegebenen sozialen Räumen eine Rolle. Beispielsweise versucht Herr Christophsen, sich entgegen der Ausbil-dungspfl icht in der DDR seiner Lehre als Schlosser zu entziehen und siedelt sich im Punkermilieu an. Herr Behrend fi ndet Anschluss in der Technoszene und reist „von Stadt zu Stadt, um Party zu machen“ und Drogen zu konsumieren. Herr Wal-ters entschließt sich nach seinem Zivildienst zunächst Sozialhilfeleistungen zu

9 Vor dem Hintergrund des biografi schen Dokumentes kann die Einklammerung des Geltungs-charakters und der damit verbundene Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen nochmals ver-deutlicht werden. Es geht nicht darum, ob Herr Christophsens Erzählungen über seine Kindheit wahr oder falsch sind oder ob sein Handeln oder das der Mutter moralisch richtig oder falsch ist, vielmehr wird die Analyse auf den modus operandi gelenkt, auf die Art und Weise wie Handlung hier hergestellt wird.

10 Für die Ausarbeitung eines Bildungsbegriff es, der sich in unterschiedlicher Art und Weise an der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen orientiert vgl. Marotzki 1990; Koller 1999; Nohl 2006b; Rosenberg 2011a. Konstitutiv für diese Ansätze ist eine Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen. Während sich Lernprozesse auf einen Wissens- und Könnenszuwachs innerhalb einer Habitusorientierung beziehen, zielt Bildung immer auf die Transformation der-selben ab.

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beziehen, um Zeit zu haben sich seinen eigenen Interessen widmen zu können. Entsprechend einer für antagonistische und nonkonformen Habitusformen nicht ungewöhnlichen Handlungsweise, die auch schon bei den Jugendlichen der oben genannten Studien rekonstruiert werden konnte, werden hier biografi sche Zu-kunft sentwürfe zugunsten einer aktionistisch gestalteten Gegenwart negiert. In den biografi schen Erzählungen der Fälle zeigen sich dahingehend Gemeinsam-keiten, dass alle Akteure immer wieder mit den an sie gestellten Erwartungen brechen, um teilweise off en teilweise verdeckt neue Regeln zu produzieren und zu installieren. Für die Erzählungen aus der Jugend und des frühen Erwachsenen-alters ist in diesen Fällen typisch, dass sich die Verschiebung und Umwidmung insbesondere der familiären und institutionellen Erwartungshorizonte weitest-gehend spontan und ungeplant vollziehen.11 Für die Akteure geht es in diesen Kontexten vornehmlich um ein experimentelles Generieren von neuen Erfah-rungshorizonten, jenseits von Familie und Bildungsinstitution. Dabei zeigt sich im Zusammenhang mit der Nonkonformität bei den Akteuren in der Partizipa-tion an der Techno- oder Punkerszene oder auch im selbst gewählten Moratorium eine Orien tierung, welche die Vergangenheit und Zukunft zugunsten einer gegen-wartsbezogenen Erfahrungssuche einzuklammern versucht.

Aus unterschiedlichen Gründen kommt es in allen drei Biografi en im weiteren Verlauf zu einem Bruch mit einer an der Gegenwart orientierten Nonkonformität, wodurch bei den Akteuren neue berufsbiografi sche Suchprozesse initiiert werden. Herr Behrend wird von der Polizei wegen Drogenbesitzes verhaft et, was bei ihm eine familiäre Krise und eine Distanzierung gegenüber der Technoszene auslöst, Herr Walters scheitert an seinem Ausbildungswunsch, Fotograf zu werden, was ihn nach anderen Ausbildungsmöglichkeiten suchen lässt, und Herr Christoph-sen bekommt mit seiner Freundin ein Kind, wodurch er sich verpfl ichtet fühlt, für seine Familie Verantwortung zu übernehmen.

Alle drei Akteure beginnen nun in und abseits von Arbeitskontexten, eine Orien tierung an Zukünft igkeit auszubilden. Wie in den Erzählungen über ihr frü-hes Erwachsenenalter deutlich wird, versuchen sie nicht nur in den Räumen ihrer Szene kulturelles, symbolisches und soziales Kapital zu akkumulieren, sondern sie suchen jetzt auch intensiv nach Strategien, ihre Kapitalakkumulation in andere soziale Räume und vor allem in ökonomisches Kapital zu transferieren. In diesem Zusammenhang setzen sich die Akteure mit den Praktiken der Netzkunst ausein-ander, wodurch in der Folge die nonkonforme Orientierung eine neue, ästhe-tisch-ökonomische Einbindung erfährt. Die Akteure sehen in der Netzkunst eine

11 Vgl. zu aktionistischen Handlungen von Jugendlichen auch Bohnsack / Nohl 2001.

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Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken, durch die sie sich in einen expe-rimentellen Selbstbezug setzen können. Gleichzeitig verlaufen die nonkonformen Distanzierungs- und Neuerfi ndungsprozesse innerhalb der Szene der Netzkunst jetzt nicht mehr, wie in der Jugend, aktionistisch und ungeplant mit einer Orien-tierung an der Gegenwärtigkeit, sondern sie beziehen sich nun vornehmlich auf eine an Zukünft igkeit orientierte Kapitalakkumulation, wodurch auch eine öko-nomische Einbindung hinzukommt. In einer Amalgamierung von Berufs-, Privat- und Freizeitinteressen durch eine Netzkunst-Firmengründung verdichten sich die beiden Orientierungen einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrun-gen und einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung in Prozessen der ökono-mischen Selbstmobilisierung.

5.2 Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken: Entstehungshintergründe postbürokratischer Arbeitstechniken

Wechselt man nun auf die Ebene der Feldrekonstruktion, dokumentiert sich in unterschiedlichen diskursanalytischen Arbeiten, dass die Anschlussmöglichkeit für die nonkonform orientierten Akteuren an das berufsbiografi sche Feld des In-ternets und der Netzkunst durch gesellschaft liche Wandlungsprozesse begünstigt wird, die in ihrer Entstehungsgeschichte weit über die biografi schen Verhältnisse der Akteure hinausreichen.

Vor dem Hintergrund von Organisationspraktiken der Koordinierung und Disziplinierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Fraser 2003), die ihren Ausgang im 18. Jahrhundert nehmen (vgl. Foucault 1977), zeigen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert soziale Wandlungsprozesse, die einen Gegen-horizont zu unterschiedlichen Formen von Autorität markieren (vgl. Sennett 2008). Auch vor dem Hintergrund von nonkonformen Kritikprozessen unter-schiedlicher sozialer Bewegungen (vgl. Sennett 2008) kommt es Ende der 1960er-Jahre in den westeuropäischen und nordamerikanischen Nationen zu gesellschaft -lichen Wandlungsprozessen, welche oft unter dem Signum der Post moderne diskutiert werden (vgl. Reckwitz 2006).

Bezogen auf die auch für die Netzkunstbiografi en wichtigen Praktiken der Ar-beit entstehen hier zunächst in den Führungsetagen global agierender Industrie-konzerne postbürokratische Arbeitstechniken (vgl. Boltanski / Chiapello 2006). Die Stichwörter der hier entstehenden Organisationskulturen heißen „Projekt-arbeit“, „Selbstorganisation“, „Kreativität“, „Mobilität“ und „Flexibilität“. Hier-mit vollzieht sich ein Wandel von einem „Angestelltensubjekt zum kreativ-unter-

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 373

nehmerischen Subjekt“ (vgl. Reckwitz 2006: 501 ff.). Es kommt unter anderem zu einer „Ästhetisierung (…) gegen die Normalisierung“ (Reckwitz 2006: 556).

In der hier angezeigten „ästhetisch-ökonomischen Dublette“ (Reckwitz 2006: 460), welche dadurch gekennzeichnet ist, dass die Akteure in ihrer Arbeit einer-seits Möglichkeiten der persönlichen Selbstverwirklichung fi nden und die ande-rerseits für die Akteure auch ein größeres Maß von Risikobewältigung verlangt, lässt sich auch die Netzkunst verorten. Durch Prozesse der Selbstmobilisierung, beispielsweise in der Gründung einer eigenen Netzkunst GmbH, versuchen die Akteure eine berufsbiografi sche Zukunft zu entwickeln. In Strukturen von fl achen Hierarchisierungen und einer Orientierung an selbstverwalteten Arbeiten pro-duzieren die Netzkünstler Arbeitskontexte, in denen Freundschaft s- und Berufs-beziehungen ebenso zusammenfl ießen wie Arbeit und Freizeit. In diesem Sinne schreiben Holm Friebe und Sascha Lobo (2006) in ihrem Buch „Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Fest anstellung“ über ihre Arbeitsbedingungen, bei denen Prozesse der Synthetisierung von Ar-beit und Freizeit im Vordergrund stehen. In postbürokratisch organisierten Pro-jektarbeiten, die sie als „Produzentennetzwerke zwischen Kommerz und Kunst, Wirtschaft und Leidenschaft “ (Friebe / Lobo 2006: 19) beschreiben, fi nden sie Möglichkeiten, das für sie positiv besetzte „Prinzip des Unsteten, Spontanen und Ungewissen“ (Friebe / Lobo 2006: 28) sozial zu verankern. Die digitale Bohème, in deren Umkreis sich auch viele Arbeits- und Organisationspraktiken der Netz-kunst wiederfi nden lassen, setzt auf Attribute wie Flexibilität, Mobilität und Kreativität; dabei legt sie nach eigenen Angaben „Wert auf Selbstprogrammie-rung“ (Friebe / Lobo 2006: 28 f.), die mit Formen der individuellen Selbstbestim-mung in Bezug gesetzt wird. Gouvernementale Selbstformierungen (vgl. Bröck-ling / Lemke / Krasmann 2007) werden hier zu leitenden Attraktoren.12

Die digitale Bohème und auch die im Zusammenhang mit der Netzkunst re-konstruierten Biografi en des nonkonformen Habitus präsentieren sich als Aus-druck von postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen. Dabei zeigt sich ein modus operandi, der an einem binären Code von Flexibilität und Ri-gidität orientiert ist und der sich beispielsweise bis in den „kreativen Umgang“ (Friebe / Lobo 2006: 34) mit den (auch immer wieder in den Interviews meiner Untersuchung angesprochenen) prekären ökonomischen und berufsbiografi schen

12 Mit dem Begriff der Gouvernementalität wird im Anschluss an Michel Foucault eine Machttech-nologie beschrieben, deren Aufkommen im 17. Jahrhundert verortet wird. Die Gouvernementa-lität stellt eine Kunst des Regierens dar, welche Voraussetzungen zu schaff en sucht, Individuen Anreize zu geben, sich selbst zu führen.

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Verhältnissen hinzieht. Die Projektarbeiten der digitalen Bohème und der Netz-kunst folgen damit Subjektivierungsformen, die Ulrich Bröckling (2007) als ein „unternehmerisches Selbst“ bezeichnet. Dabei können sich die Praktiken einer kritischen und an Ästhetik orientierten Nonkonformität in ein Passungsverhält-nis zu den Praktiken postbürokratischer Arbeits- und Organisationsformen stellen, auf deren Programmatik bezogen Bröckling (2007: 285) ausführt: „Die Programme fordern Distinktion statt Konformität, Überschreitung statt Regel-befolgung, kurzum: sie fordern anders zu sein.“ Die Netzkunst erscheint hier als ein Ausdruck eines postbürokratisch organisierten Berufslebens, in dem die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeitbeziehungen verschwimmen. Herr Chris-tophsen, Herr Walters und Herr Behrend fi nden in diesen Subjektivierungspro-grammen eine Form, von den in der Jugend ausgebildeten aktionistischen Prak-tiken der Nonkonformität Abstand zu nehmen, um einen nonkonform-fl exiblen Habitus zu entwickeln, der sich für das berufsbiografi sches Feld der Netzkunst als anschlussfähig erweist.13 Bildungsprozesse über die Lebensspanne korrespondie-ren in diesen Fällen mit berufsbiografi schen Einfi ndungsprozessen und sozialen Wandlungsprozessen innerhalb der Felder von Arbeit.

6 Schlussbemerkungen

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Kombination von Habitus- und Feldrekon-struktion Forschungsperspektiven eröff net, in denen sich die Rekonstruktionen von Akteursperspektiven mit den Rekonstruktionen von gesellschaft lichen Eigen-logiken spiegeln können. Über die methodologischen Instrumente der kompa-rativen Analyse, der Einklammerung des Geltungscharakters und der Generie-rung von Typen konnte aus der Perspektive der dokumentarischen Methode ein Weg aufgezeigt werden, der sowohl für die Rekonstruktion von Habitus- als auch von Diskurs- und Feldstrukturen genutzt werden kann. Soziale Praktiken können damit aus zwei Perspektiven beleuchtet werden: Einerseits aus der Perspektive von Akteuren und Akteursgruppen und andererseits aus der Perspektive von ge-sellschaft lichen Eigenlogiken, die sich jenseits von Akteursintentionen tradieren und transformieren. Untersucht wird in diesem Sinne eine doppelte Geschichte

13 Dass die Aufhebung der Trennlinien zwischen beruflichen und privaten Handlungspraktiken und die sich dadurch ergebenden neuen Ökonomisierungsprozesse moderner Subjektivität auch kritisch betrachtet werden kann, soll an dieser Stelle angemerkt, jedoch nicht weiter diskutiert werden (vgl. Masschelein / Ricken 2003; Bröckling 2007; Rosenberg 2011a: 218 ff.).

Zur Rekonstruktion von Gesellschaft 375

von sozialen Praktiken, in der es zu einem Changieren zwischen einer akteurs-gebundenen und einer akteursgelösten Perspektive kommt. Methodisch beruht die aufgezeigte Methoden- und Perspektivenkombination auf einer Verbindung von Biografi e- und Diskursanalyse, wodurch sich Möglichkeiten ergeben, biogra-fi sche Rekonstruktionen an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaft sanalyse an-zuschließen.

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Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfi ndung

Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Die Entscheidung für einen Beruf bzw. ein Studienfach zählt neben der Ablö-sung vom Elternhaus oder dem Aufbau geschlechtlicher Beziehungen und von Partnerschaft en zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben am Ende der Jugend-phase – und kennzeichnet damit einen wesentlichen Schritt innerhalb des globa-len Übergangs in das Erwachsenenleben (vgl. Göppel 2005). Die Heranwachsen-den werden mit Blick auf die Berufswahl spätestens zum Ende ihrer Schulzeit mit biografi sch weit reichenden Fragen konfrontiert: Was kann ich oder traue ich mir zu ? Wo liegen meine Stärken und Interessen ? Wie will ich später einmal leben ? Welcher Beruf oder welches Studium passt zu mir ?

Die Entscheidungsfi ndung, als Teil dieses Übergangs, ist dabei zunehmen-den Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten ausgesetzt. Wie Zinn (2000) ausführt, ist der Glaube von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an „Norma-litäten […] des Lebenslaufs“ (ebd.: 31) brüchig geworden, den Übergängen im Lebensverlauf ist ihre „institutionell verbürgte Kontinuität“ (Heinz 2000: 5) ent-zogen. Nach Stauber (2007: 131) werden mit der Verlängerung von Bildungs- und Ausbildungswegen nicht nur die Übergänge länger, sie verlieren auch ihren „li-nearen Charakter“ und werden „komplizierter“. Dies verdeutlicht, wie schwie-rig es für den Einzelnen sein kann, eine eindeutige (und biografi sch folgenrei-che) berufliche Entscheidung zu treff en. Als Hintergrund für den zunehmenden Verlust der Linearität führen Hillebrandt, Kneer und Kraemer (1998) an, dass in modernen Gesellschaft en in allen Bereichen verstärkt neue Optionen für indivi-duelle Wahlentscheidungen entstehen. Der dadurch sich vergrößernde Entschei-dungsspielraum zwingt den Einzelnen zugleich zur refl exiven Auseinanderset-zung mit seinen Übergangsentscheidungen, zur Eigeninitiative und schließlich auch zur Verantwortungsübernahme für ein mögliches Scheitern. Übergänge und Entscheidungen sind damit nicht nur als optionaler Wahlprozess zu fassen, son-dern sie implizieren gleichzeitig einen sozialen Handlungszwang (vgl. Schitten-helm 2005).

380 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Dies bedeutet in methodisch-methodologischer Konsequenz, dass sich mit zunehmender Individualisierung auch die Entscheidungsstrategien1 individuali-sieren; bei quantitativ orientierten Forschungsvorhaben führt dies, so Kelle und Kluge, zunehmend zu einer „sinkenden Erklärungskraft statistischer Modelle“ (2001: 20).

Die Optionen-Off enheit und die De-Institutionalisierung biografi scher Be-rufsübergänge haben insgesamt zugenommen. Trotzdem hängt die Einmündung in einen bestimmten Beruf nicht nur von den Überlegungen, Wünschen und der individuellen Entscheidungsarbeit der Heranwachsenden ab. Vielmehr ist die Einmündung nach wie vor eng an die objektiven und strukturellen Gegebenhei-ten gebunden, wie sie durch den Arbeitsmarkt (der, wie die jüngste Wirtschaft s-krise gezeigt hat, teils gravierenden Veränderungen unterliegt), den schulischen Erfolg bzw. die gesellschaft lichen Bildungszugangschancen oder durch die sozia-len, kulturellen und ökonomischen Ressourcen, über die der Einzelne verfügen kann, defi niert werden (vgl. Herzog / Neuenschwander / Wannack 2006: 184 ff.). Zu diesen objektiven Rahmenbedingungen gehören mit zunehmendem Lebensalter auch die zeitlich vorgängig getroff enen Entscheidungen. Diese früheren Entschei-dungen selbst strukturieren – im Sinne eines „kausalen Einfl usses“ (Kelle / Kluge 2001: 13) – den objektiven Rahmen des Möglichen als zunehmende biografi sche Einengung bzw. Festlegung (vgl. Mayer 1990b: 11).

In der Berufswahlforschung wurden verschiedene Modelle zur Erklärung beruflicher Entscheidungen entwickelt, die die beiden skizzierten Perspektiven dabei je unterschiedlich gewichten. So unterscheidet Dimbath (2003: 126) einer-seits Erklärungsmodelle, die sich auf die strukturellen, objektiven Rahmenbedin-gungen und Beschränkungen der Entscheidungsfi ndung beziehen. Hierzu zählt er ökonomisch-allokationstheoretische und sozialstrukturell orientierte Modelle. Demgegenüber erklären subjektorientierte Modelle die Berufswahl vornehmlich aus der Perspektive des Individuums. Hierzu gehören nach Dimbath entschei-dungstheoretische, soziologisch-entwicklungstheoretische und psychologische

1 Strategien sind in diesem Kontext als ‚Strategien des Habitus‘ zu verstehen, als das Produkt grundlegender Dispositionen, die das Handeln des Einzelnen anleiten, „in Bewegung bringen und steuern“ (Ecarius / Köbel / Wahl 2011: 89). Dabei impliziert der Begriff Strategie „nicht die Vorstellung eines bewußten rationalen Kalküls“ (Raphael 1991: 241); vielmehr handelt es sich um eine Art „Paradoxon vom objektiven Sinn ohne subjektive Absicht“ (Bourdieu 1981, zit. n. Wag-ner 2003: 207). Strategien sind eingewoben „in ein Gefl echt von Vorstellungen, Einsichten, Er-fahrungen, Erinnerungen, Zielen und Erwartungen und daher […] nur schwer zu identifi zieren, geschweige denn direkt […] zu erfragen“ (Brake / Büchner 2006: 71).

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 381

sowie biografi eanalytisch orientierte Ansätze (vgl. hierzu auch Müller 1986: 68 ff.; Bäumer 2005).

Die Unterscheidung zwischen struktur- und subjektorientierten Perspektiven gründet letztlich im Einbezug handlungsbezogener Th eorieelemente. Während dieser Bezug in den strukturorientierten Ansätzen weitgehend ausgeblendet wird, zielen die subjektorientierten Ansätze gerade auf die Frage, warum ein Subjekt in welcher gegebenen Situation sich wie verhält. Letztlich spiegelt sich in beiden For-schungsansätzen damit, folgen wir Mayer (1990b: 7), die Dichotomie zwischen der

„Makroebene gesellschaft licher Entwicklung“ und der „Mikroebene individuellen Handelns“ wider bzw. das grundlegende paradigmatische Problem des Makro-Mikro-Makro-Übergangs (vgl. Coleman 1995).

Neben der Einteilung in struktur- und subjektorientierte Modelle lassen sich die Ansätze in der Berufswahlforschung auch mit Blick auf ihr methodologisch-methodisches Vorgehen unterscheiden. Einerseits fi nden sich Ansätze, die vor-nehmlich quantitative Methoden einsetzen, andererseits solche, die einen qualita-tiven Zugang in den Forschungsmittelpunkt rücken. Dabei zeigen sich Affi nitäten zwischen grundlegendem Th eoriemodell und dem jeweiligen methodologischen Forschungszugang. Diese sind exemplarisch in Tabelle 1 zusammengestellt.

Die Konzepte und auch die Notwendigkeiten integrativen Forschungshan-delns und integrativer Forschungsstrategien, die sich um die Kombination und Vereinbarkeit quantitativer und qualitativer Methoden und -ergebnisse bemühen, werden zunehmend in der Forschung betont (vgl. u. a. Erzberger 1998; Kelle / Erz-berger 1999; Kluge / Kelle 2001; Seipel / Rieker 2003; Kelle 2007; Brake 2011). Zu Beginn des Jahrzehnts sind im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Arbei-ten entstanden, die die Integration qualitativer und quantitativer Verfahren im Rahmen der Lebenslauf- und Biografi eforschung in den Blick nehmen: Zu nen-nen ist hier insbesondere der DFG-Sonderforschungbereich 186 in Bremen zum Forschungsfeld „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf “ (Sackmann /Wingens 2001; Leisering / Müller / Schumann 2001; Born / Krüger 2001; Kluge / Kelle 2001), außerdem in jüngerer Zeit u. a. die Studie von v. Felden und Schiener (2010).

Allerdings ist der Umsetzungsprozess integrativer Vorgehensweisen in der Forschungspraxis als recht zäh zu bezeichnen. Wie beispielsweise Kelle und Kluge (2001: 12) betonen, wird die methodologische Debatte nach wie vor von zwei „Lager[n]“ geprägt, „zwischen denen oft nur wenig ernsthaft er Austausch von Argumenten und Positionen stattfi ndet.“ So haben die quantitativ und qua-litativ Forschenden ihre je spezifi schen Strukturen geschaff en, beispielsweise in Form von Sektionen, eigenen Tagungen und Publikationen, die stärker auf eine spezifi sche Profi lierung zielen als auf Durchlässigkeit (vgl. ebd.).

382 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Im Folgenden werden die verschiedenen konzeptionellen und methodologischen Ansätze aus quantitativer und qualitativer Perspektive vorgestellt (Kapitel 1). Mög-lichkeiten einer kombinierten Perspektive bzw. integrativer Forschungsstrategien werden im Rahmen von Triangulation und Mixed Methods sowie im Kontext eines Studienbeispiels diskutiert (Kapitel 2).

Tabelle 1 Konzeptionelle und methodologische Ansätze in der Berufswahlforschung

Konzeptioneller Ansatz / Modelle

Methodologi-scher Ansatz

Strukturorientiert Subjektorientiert

Quantitativ Theoriemodelle z. B. sozialstrukturelle Modelle z. B. entscheidungstheo-retische Modelle; lern theo-retische oder motivations-psychologische Modelle

Forschungsansätze z. B. Lebenslaufforschung; Lebensverlaufsforschung

z. B. Rational-Choice-Ansatz; SEU-Modelle, spieltheoreti-sche Ansätze

Analyseverfahren z. B. Verlaufsanalyse bzw. Ereignisdatenanalyse; Sequenzanalyse; Kohortenanalyse

z. B. probabilistische Modelle, logistische Regression

Qualitativ Theoriemodelle z. B. Modelle zu kollektiven Chancen und Rahmenbedin-gungen

z. B. individualbiografi sche Modelle

Forschungsansätze z. B. Kollektive (Bewältigungs-)Strategien

z. B. Biografi eforschung

Analyseverfahren z. B. dokumentarische Me-thode (Gruppendiskussion)

z. B. Narratives Interview,Narrationsanalyse

Quelle: Erweitert und ergänzt in Anlehnung an Dimbath 2003.

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 383

1 Konzeptionelle und methodologische Ansätze in der Berufswahlforschung

Die folgende Skizzierung der unterschiedlichen konzeptuellen und methodolo-gischen Ansätze erhebt nicht den Anspruch, diese umfassend und in ihrer Kom-plexität detailliert wiederzugeben. Die Darstellung dient der Grundlegung unse-rer Argumentation für ein integratives Forschungsdesign (siehe Kapitel 2). Dabei werden neben der Beschreibung der grundlegenden Perspektive der jeweiligen Modelle auch deren forschungsmethodische Grenzen thematisiert.

1.1 Die quantitativ-strukturelle Perspektive

Zu dieser Perspektive zählen etwa die Lebenslauf- bzw. die Lebensverlaufsfor-schung.2 Die Lebenslaufforschung konzeptualisiert den Lebenslauf als eine gesell-schaft liche Institution „im Sinn eines Regelsystems, das einen zentralen Bereich oder eine zentrale Dimension des Lebens ordnet“; diese zentrale Dimension ist die Zeit bzw. die zeitliche Abfolge von lebensrelevanten Ereignissen und Aktivi-täten (Kohli 1985: 1). Die grundsätzliche Analyseperspektive der Lebenslauffor-schung konzentriert sich dabei „auf den Durchstrom von Gesamt- oder Teilbevöl-kerungen durch institutionell defi nierte Ereignisse (wie etwa Ausbildungsabschluß, Heirat, Geburt der Kinder, Beginn und Ende von Erwerbstätigkeiten) beziehungs-weise auf die relative Verweildauer in bestimmten Aktivitäten und kollektiven Mitgliedschaft en (Partnerschaft en, Haushalte, Familien, Firmen, regionale Zuge-hörigkeiten und Kontexte).“ (Mayer 1990b: 9 f.; Hervorhebung, d. V.)

„Durchstrom“ bzw. „Verweildauer“ werden dabei in der Regel mittels quan-titativer Forschungsmethoden erhoben (vgl. Mayer 1990a). Zu den angewand-ten Methoden zählen dabei etwa die Ereignisdatenanalyse (Verlaufsdatenanalyse, Survivalanalyse) oder die Sequenzmusteranalyse (siehe Sackmann 2007). Zu den typischen Fragestellungen der Ereignisdatenanalyse gehört, wie lange etwa Perso-nen in einem bestimmten Zustand verweilen bzw. zu welchem Zeitpunkt im Le-bensverlauf eine Zustandsveränderung eintritt – bezogen auf unser Beispiel also etwa die Frage, mit welchem Alter Jugendliche bzw. junge Erwachsene die erste Erwerbstätigkeit aufnehmen und wie lange diese ohne Arbeitsplatzwechsel an-dauert. Die Ereignisdatenanalyse ermöglicht nicht nur, die Unterschiede in den

2 Wir verwenden im Folgenden beide Begriff e synonym (zu einer möglichen Unterscheidung bei-der Begriff e siehe Mayer 1990b: 8, Fußnote 4).

384 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

jeweiligen Zeitpunkten bzw. deren unterschiedliche Dauer zu erfassen und diese auf statische, das heißt zeitunveränderliche, Hintergrundmerkmale wie etwa Ge-schlecht oder Schulabschluss zurückzuführen, sondern es lassen sich ebenso zeit-veränderliche Kovariaten mit einbeziehen, die die Berufswahl beeinfl ussen wie z. B. familienzyklische Merkmale. Klassische Auswertungsverfahren wie Lineare oder Logistische Regression sind hier nur bedingt einsetzbar (vgl. Ludwig-Mayer-hofer 1994: 117 f.). Die Sequenzmusteranalyse erweitert die Ereignisdatenanalyse von der Betrachtung eines einzelnen Übergangs hin zur Analyse multipler zeit-bezogener Zustandsveränderungen (vgl. Böpple 2010).

Kritisiert wird an der Lebenslaufforschung, dass sie zwar modale Verlaufsmus-ter spezifi scher Lebensphasen und -ereignisse für unterschiedliche Gruppen von Personen – beispielsweise Frauen vs. Männer, jüngere vs. ältere Geburtskohor-ten – nachzuzeichnen in der Lage ist, jedoch jenseits mehr oder weniger plausibler Zusatzannahmen über das typische Handeln der Akteure keine Antwort auf die Frage hat, aus welchen Gründen die Mitglieder der jeweils miteinander vergliche-nen Gruppen so oder so gehandelt haben und wie sich damit die gefundenen Un-terschiede erklären lassen (Kelle / Kluge 2001: 18). Im Sinne unserer einleitenden Gedanken mangelt es der Lebenslaufforschung an einer handlungstheoretischen Grundlegung, das heißt sie vernachlässigt die Perspektive der Subjekte, ihre Situa-tionsdeutungen sowie die Bestimmungsgründe für ihr Handeln. Sie vereinseitigt das Makro-Mikro-Problem zugunsten der Makroperspektive.

1.2 Die quantitativ-subjektive Perspektive

In der quantitativen Forschung lässt sich eine Th eorietradition ausmachen, die das Makro-Mikro-Problem durch Einbeziehung individueller Handlungsprämis-sen lösen will. Hierzu zählen Ansätze, die sich auf das Paradigma der rationalen Wahlhandlung bzw. die Rational-Choice-Th eorie beziehen.

Wenngleich es unterschiedliche Ansätze innerhalb des Paradigmas der ratio-nalen Wahl gibt, lässt sich die gemeinsame Sichtweise dieser Ansätze mittels dreier Komponenten beschreiben: sie fokussieren auf den Ausführenden einer Hand-lung, den Akteur; sie konzeptualisieren den Akteur als mit spezifi schen Ressour-cen ausgestattet bzw. spezifi schen Restriktionen unterliegend und sie formulieren eine modale Entscheidungsregel, nach der sich das (Wahl-)Verhalten des Akteurs prognostizieren bzw. simulieren lässt (vgl. Coleman 1995). Die verschiedenen An-sätze innerhalb des Rational-Choice-Paradigmas unterscheiden sich zum einen darin, inwieweit sie den Fokus auf die Ressourcen oder die Restriktionen des

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 385

Akteurs legen und vor allem darin, wie sie die handlungstheoretische Entschei-dungsregel formulieren. Während, wie Diekmann und Voss dies beschreiben (vgl. 2004: 19 f.), so genannte ‚harte‘ Rational-Choice-Ansätze auf der Nutzenmaximie-rung als zentrale Entscheidungsregel aufbauen, erweitern ‚weiche‘ Ansätze diese Regel um weitere Argumente für individuelles Handeln wie soziale Normen oder altruistische Handlungsmotive.

Das Rational-Choice-Paradigma zielt unabhängig der konkreten Ausformu-lierung der Entscheidungsregel auf die mikrotheoretische Frage, welche Motive jeweils den den Lebenslauf strukturienden Entscheidungen zu Grunde liegen. In diesem Sinne wird der Lebenslauf zu einer Kette unterschiedlicher mehr oder we-niger miteinander zusammenhängender Einzelentscheidungen, die alle zusam-men und jede für sich einer bestimmten Handlungsmaxime folgen. Damit ist die Rational-Choice-Th eorie in der Lage, „kollektive Eff ekte aus Annahmen über individuelles Handeln“ abzuleiten (Diekmann / Voss 2004: 14), also das Mikro-Makro-Aggregationsproblem, das von den strukturellen Ansätzen (aber auch von den qualitativ arbeitenden Ansätzen, siehe unten) weitgehend ausgeblendet wird, zu bearbeiten.

Zu den Axiomen der Rational-Choice-Th eorie gehört die Ordnungsfunktion der Präferenzen des Akteurs (Diekmann / Voss 2004: 17). Das heißt, die Alterna-tiven, aus denen der Akteur auswählen kann, müssen sich entsprechend der ver-wendeten Entscheidungsregel hinsichtlich ihrer Erwünschtheit durch den Akteur unterscheiden und in eine ordinale Reihe bringen lassen. Und darüber hinaus muss die Entscheidungsregel zeitliche Kohärenz und inhaltliche Konsistenz auf-weisen. Wie die Arbeit von Maschke (2012) zur Berufs- bzw. Studien(fach)wahl von Lehramtsstudierenden zeigt, können aus der Sicht der Akteure mit Blick auf die Berufswahl jedoch zum einen gleichwertige Alternativen auftreten, anderer-seits sich Entscheidungsregeln im Laufe des Entscheidungsprozesses verändern, das heißt Entscheidungsinkohärenzen und -inkonsistenzen auftreten.

Ein weiterer Kritikpunkt, der sich an viele entscheidungsorientierte Konzepte der Berufswahl richten lässt, berührt die grundlegende Frage, inwieweit bei Be-rufsentscheidungen tatsächlich von Entscheidungen im eigentlichen Wortsinn ge-sprochen werden kann. Dies betrifft zunächst einmal die Tatsache, dass von einer Entscheidung nur dort die Rede sein kann, wo zwischen mehreren real vorhande-nen Handlungsalternativen gewählt werden kann bzw. wo von einem Individuum unterschiedliche Handlungsalternativen wahrgenommen werden (vgl. Dimbath 2003: 71). Ries bezeichnet dies als „Multivalenz“ realer Entscheidungssituationen (1970: 122 f.). Entscheidungen beruhen aber nicht nur auf (der Wahrnehmung von) Handlungsalternativen, sondern setzen in der Regel darüber hinaus, so die

386 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Annahme in der Rational-Choice-Th eorie, einen mehr oder weniger bewussten refl exiven Prozess des Abwägens dieser Alternativen voraus. Dabei werden die in-dividuellen Entscheidungsmöglichkeiten und -fähigkeiten betont.3 Dem steht die Einschätzung gegenüber, die zugespitzt von Bourdieu zum Ausdruck gebracht wird, es gebe keine Entscheidung, zum Beispiel für einen Beruf oder Studiengang, die einen ‚freiwilligen Entschluss‘ darstellt, keine „theoretische Wahl zwischen als solchen konstituierten theoretischen Möglichkeiten“ (Bourdieu 2001: 176; siehe ähnlich von Isenberg / Santos-Dodt 2000; Knauf / Oechsle 2007: 146). Einer sol-chen Wahl müssten „zwei Denkoperationen“ vorangehen: „erstens das Aufstellen der vollständigen Liste der Wahlmöglichkeiten; zweitens das Feststellen und ver-gleichende Bewerten der unterschiedlichen Strategien im Hinblick auf ihre Fol-gen.“ Dies bezeichnet Bourdieu als eine „völlig unrealistische Vorstellung vom gewöhnlichen Handeln“ (2001: 177). Bourdieu beantwortet die Frage nach der subjektiven Entscheidungsmöglichkeit bzw. -fähigkeit dahinge hend, dass zwar ei-nerseits das Subjekt seine Handlungspraxis auf der Basis seiner habituellen Dis-positionen frei und kreativ gestaltet, gleichzeitig dem Habitus im Prozess der So-zialisation aber bestimmte Grenzen auferlegt werden, die kaum oder nur schwer zu überschreiten sind. Entscheidungen unterliegen damit habituellen Beschrän-kungen.

Der Rational-Choice-Th eorie fehlt eine solche sozialisationstheoretische Per-spektive (vgl. Dimbath 2003: 71) oder, wie es Burkart (1995: 67) formuliert, der

„Vergangenheitsaspekt“. Bourdieus Th eorie der Praxis genügt es nicht, Handlungs-entscheidungen über den Einbezug spezifi scher (modaler) Motive und Entschei-dungsregeln zu beschreiben, sondern angeschlossen werden muss ebenso die Frage, wie diese Motive und Regeln im Subjekt entstehen und sich entwickeln. Dies ist eine der zentralen Fragen mit der sich die qualitative (biografi sche) For-schung beschäft igt.

1.3 Die qualitativ-subjektive Perspektive

Anders als die quantitativ orientierten Forschungsansätze bemüht sich die quali-tative Biografi eforschung um die Rekonstruktion der individuellen Biografi e4 aus

3 Die Studie von Maschke (2012) verweist darauf, dass Berufswahlentscheidungen häufi g nicht im Sinne einer Positivauswahl aus verschiedenen Alternativen, sondern eher im Gegenteil im Sinne eines Ausschlussverfahrens getroff en werden.

4 Für Biografi en gilt, dass, wie in der Einleitung angedeutet, institutionelle und gesellschaft liche Lebenslauf-Marker mehr und mehr wegfallen. Damit ergibt sich zum einen der Zwang, sich

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 387

der Perspektive des Individuums. Auf der Grundlage von biografi sch-narrativem Material können zum einen die Gründe und Motive extrahiert werden, die zu be-stimmten Entscheidungen führen und zum anderen die Frage beantwortet wer-den, wie sich diese im Rahmen sozialisatorischer Aneignungsprozesse entwickeln.

Die qualitative Forschung unterscheidet hierbei zwischen den so genannten Um-zu- und den Weil-Motiven (vgl. Burkart 1995; Morel et al. 2007).5 ‚Um-zu-Motive‘ beziehen sich vor allem auf Zukünft iges und vermitteln einen Eindruck autonomer vorwärtsgerichteter Entscheidungen. (Diese Motive bilden den Kern in den Rational-Choice-Ansätzen.) ‚Weil-Motive‘ sind demgegenüber ein „Nie-derschlag der Vergangenheit, der Lebensgeschichte eines Handelnden, die zur Herausbildung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltendispositio-nen geführt hat, die nun das Handeln (mit-)bestimmen“ (Morel et al. 2007: 76). ‚Weil-Motive‘ werden von biografi schen Erfahrungen bestimmt, z. B. familiären beruflichen ‚Aufträgen‘ über die Generationen etc. Insgesamt, so Burkart (1995), schränken sie die Autonomie der Entscheidung ein. Hier sind Verdichtungen zu

„biographischen Zwangsläufi gkeiten“ (ebd.: 84) denkbar. Oder in Anlehnung an Schütze (1995) und Nittel (1992) (Anpassungs-)Verlaufskurven, die für ein Ge-trieben werden stehen und nicht für freie Entscheidungen.

Diese Motive beschreiben zugleich das Verhältnis und den Übergang vom Was zum Wie und geben unterschiedliche Analyseebenen vor. Auf der Ebene des Was steht im Mittelpunkt, „was die gesellschaft liche Realität in der Perspektive der Akteure ist“ (Common Sense) und auf der Ebene des Wie, „wie diese in der Praxis hergestellt wird“ (Bohnsack 2003b: 42). In diesem Sinne konstituieren die ‚Weil-Motive‘ das ‚Um-zu-Motiv‘, gehen dem Handlungsentwurf also voraus (vgl. Bohnsack 2003a: 145).

Im Rahmen der dokumentarischen Typenbildung führt Bohnsack (2003a: 145 f.) hierzu aus: „Es geht also nicht nur darum, das Handeln im Zusammen-

entscheiden zu müssen, zum anderen aber auch eine Erweiterung des optionalen Raums. Dar-aus erwächst die Chance und die Notwendigkeit, neue Kompetenzen zu entwickeln, um diesen Freiraum biografi sch nutzen zu können. Alheit und Dausien (2000: 277) sprechen von „Biogra-phizität“ im Sinne der „prinzipielle[n] Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung zu nutzen, also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen‘ Sinn) zu lernen.“ Das Subjekt wird durch die Vielfalt der Optionen also nicht nur gefordert oder gegebenenfalls überfordert, als handelndes Subjekt wird es zu individuellen Gestaltungen auch herausgefordert. Schittenhelm (2005: 256) beispielsweise spricht von der Erschließung „neue[r] Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten“ während der Berufsfi ndung, von „optionenerweiternden Strate-gien“, die den „Gestaltungsspielraum“ zu erweitern suchen.

5 Siehe zu dieser Unterscheidung und ihren theoretischen Grundlagen in den Arbeiten von Alfred Schütz den Beitrag von Ralf Bohnsack in diesem Band.

388 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

hang von Um-zu-Motiven (z. B. biographischen Entwürfen) als dem intentiona-len Prinzip des Handelns zu erfassen, sondern die Um-zu-Motive wiederum im Zusammenhang ihrer Konstitutionsbedingungen, d. h. jener Erlebniszusammen-hänge, aus denen sie entstanden sind, also den Weil-Motiven zu erfassen.“ Im Zu-sammenspiel beider Motive können die Prozesse der Genese von Orientierungen nachvollzogen werden; in den Fokus rückt die Interdependenz von Subjekt und Struktur, und zwar in doppelter Weise: Gefragt wird nicht nur, welchen struktu-rellen Restriktionen der Einzelne ausgesetzt ist und wie er mit ihnen umgeht, son-dern auch danach, wie die Strukturen6 den Einzelnen prägen.

Insgesamt bedarf die Analyse einer solchen Prozessstruktur, „mit der zu-gleich die Bedingungen der Konstitution, Reproduktion und Veränderung von biographischen Entwürfen als interaktive Prozesse erfasst [werden können; d. V.]“ (Bohnsack 2003a: 146), einer methodischen Kombination, die die Zirkularität von Um-zu- und Weil-Motiven, von Was und Wie in unterschiedlichen Erhebungs- und Analyseebenen ‚über die Zeit‘ dynamisch zu erfassen vermag.

Die Grenzen der qualitativ-biografi schen Forschung liegen darin, dass sie den Übergang von der Mikro- auf die Makro-Ebene (die Aggregationsebene) nicht hinreichend erfassen kann. Es lassen sich auf der Basis der in der Regel – notwen-digerweise – kleinen Stichproben kaum belastbare Aussagen auf der Makroebene der sozialen Handlungskonsequenzen ableiten. Dies hatten wir als einen der we-sentlichen Vorteile der quantitativ-subjektiven Modelle betrachtet.

1.4 Die qualitativ-strukturelle Perspektive

Die subjektive Perspektive erkennt dem Individuum einen Handlungsspielraum für seine Entscheidungen zu. Allerdings haben wir bereits betont, dass dem un-terschiedlichen Grad an Nutzung dieses Spielraums subjektive Einstellungen und Dispositionen hinsichtlich der Gestaltbarkeit vorausgehen, die ihren Ursprung in den sozialisatorisch-biografi schen Erfahrungen des Individuums haben und in-ternalisiert wurden. In dem Maße, in dem sich in diesen sozialisatorischen Erfah-rungen jedoch nicht nur individuelle Lebenswege, sondern auch für bestimmte soziale Gruppen gemeinsame Lebensbedingungen widerspiegeln (Bourdieu 1993), geraten über die individuelle biografi sche Perspektive hinausgehend „kollektive

6 Für Bourdieu (vgl. 1974) sind die grundlegenden unsere Handlungen leitenden Prinzipien dem-entsprechend nicht nur strukturierende Struktur, sondern selbst das Ergebnis gesellschaft licher Praxis, das heißt ‚strukturierte Struktur‘.

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 389

Erfahrungskontexte und soziale Bezugsgruppen“ (Schittenhelm 2005: 12) hin-sichtlich ihrer Bedeutung für die Berufswahl in den Blick. Methodisch ist dem Rechnung zu tragen, indem beispielsweise gefragt wird, wie sich Strategien der Bewältigung innerhalb der sozialen Bezugsgruppen wie Eltern und Peers „inter-aktiv“ und mehr oder weniger homogen entwickeln (vgl. ebd.: 42). Eine Möglich-keit, dies zu erfassen, liegt in der Anwendung der Gruppendiskussion im Kontext der dokumentarischen Methode. Die dokumentarische Methode bietet innerhalb des qualitativen Forschungsparadigmas ein verbindendes Glied zwischen sub-jektivistischen und objektivistischen Vorgehensweisen, zwischen Handeln und Struktur, da sie „Ursprung und Wirkung sozialer Struktur in das Handeln selbst [verlagert d. V.]“ (Przyborski / Wohlrab-Sahr 2010: 275). Das Verfahren der Grup-pendiskussion als rekonstruktives Verfahren setzt einen Rahmen, der besonders geeignet ist, „kollektive Phänomene“ (vgl. Loos / Schäff er 2001) zu erfassen.7

Ein direkter und valider Zugang zu milieuspezifi schen Bedeutungsmus-tern wird über die Rekonstruktion der Diskurse möglich, in denen die Beteilig-ten wechselseitig milieuspezifi sche „signifi kante andere“ füreinander darstellen (Bohnsack 2003a: 115). Das Verfahren der Gruppendiskussion stellt dabei, so Schittenhelm (2005: 289 f.), „in gewisser Weise eine öff entliche Situation her. Es begünstigt Th emen, die von kollektiver Bedeutung sind, und schließt andere eher aus. Dabei bietet die Gruppe jedoch die besondere Gelegenheit, die interaktive Aushandlung von Th emen zu beobachten und darüber Einblicke in die soziale Wirklichkeit der Befragten zu gewinnen“.

Vor dem Hintergrund der in der Einleitung beschriebenen gesellschaft lichen Veränderungen von Übergangsbedingungen ist jedoch zu bedenken, dass trotz der Kombination von Subjekt- und Strukturperspektive in der qualitativ-kollek-tiven Vorgehensweise durch die Begrenzung der Fallzahlen verallgemeinerbare Aussagen beispielsweise über eine damit verbundene wachsende „Kontingenz von biografi schen Handlungsmustern“ (Kelle / Kluge 2001: 22) kaum möglich ist. Dies auch deshalb, weil gerade das qualitative Sampling auf stark kontrastierende bzw.

7 Die Basis dieser Sichtweise liefert der „konjunktive Erfahrungsraum“, der bei Karl Mannheim ein grundlagentheoretisches Konzept von Kollektivität darstellt. „Dieser Erfahrungsraum ver-bindet diejenigen, die an den in ihm gegebenen Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben“ (Przyborski / Wohlrab-Sahr 2010: 58). In der Forschungspraxis werden oft mals auch dann, wenn kollektive Sachverhalte empirisch erfasst werden sollen, „individualisierende Zugriff sweisen“ (Loos / Schäff er 2001: 9), beispielsweise Einzelinterviews, favorisiert. Kollektives kann natürlich auch über qualitative Interviews fokussiert werden, allerdings bedarf es dazu eines Zwischen-schrittes, um vom „primären Erfahrungsrahmen“ oder der biografi schen Gesamtformung hin zur Analyse kollektiver Erfahrungsräume zu gelangen (vgl. Bohnsack 2003a: 120). Der primäre Erfahrungsrahmen in Gruppendiskussionen ist demgegenüber bereits ein kollektiver.

390 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

heterogene (Einzel-)Fälle abzielt und nicht auf repräsentative Muster. Wie auch in der qualitativ-subjektorientierten Perspektive bleibt das Mikro-Makro-Über-gangsproblem bestehen.

2 Die kombinierte Perspektive

Wie wir in den Abschnitten 1.1 bis 1.4 zeigen konnten, besitzt jede der dargestell-ten Perspektiven gewisse Forschungs- und Analyseschwerpunkte und damit aber auch spezifi sche ‚blinde Flecken‘ bzw. Grenzen.

Ein Schwerpunkt der quantitativ-strukturellen Forschungsmodelle liegt darin, die Variabilität der Übergänge, der Entscheidungswege und ihrer Erfolge, aufzu-zeigen und einige sozialstatistische Hintergründe aufzuklären. Allerdings ist sie kaum in der Lage zu erklären, wie die Entscheidungen zu Stande kommen. Dies deshalb, da der quantitativen Lebenslaufforschung eine handlungstheoretische Perspektive auf die reale Entscheidungsfi ndung des Akteurs fehlt.

Die quantitativ-subjektorientierten Modelle ermöglichen diesen handlungs-theoretischen Blick, indem sie den subjektiven Entscheidungsprozess als Aus-gangspunkt der Analyse setzen, opfern aber die Selbstreferenzialität und bio-grafi sche Bedingtheit dieser Entscheidungsfi ndung zugunsten eines modalen, ahistorischen, rationalen Akteurs.

Diese Perspektive nimmt die qualitative Forschung – sei sie auf das Subjekt gerichtet oder auf kollektive Erfahrungsräume und Strukturen – auf. Allerdings wirft in Handlungsfeldern, „die empirisch durch eine starke Pluralisierung ge-kennzeichnet sind, […] die Ziehung kleiner qualitativer Stichproben stets die Frage auf, ob die bei den Befragten gefundenen Situationswahrnehmungen und Handlungsorientierungen relevant für die betrachtete Untersuchungspopulation oder aber ideosynkratisch sind“ (Kelle / Kluge 2001: 20). Die qualitative Forschung stößt somit hinsichtlich der Aggregation der Befunde an ihre Grenzen; sie läuft Gefahr, im Lichte vielfältiger Einzelbefunde die Gesamtstruktur aus den Augen zu verlieren (‚Strukturblindheit‘) (vgl. ebd.: 22).

Festzuhalten ist, dass die berufliche Entscheidungsfi ndung im Rahmen des Übergangs als Teil eines langfristig angelegten Projektes verstanden werden muss, das sowohl durch soziale Strukturen als auch durch die Aneignung und indivi-duelle Ausgestaltung des Subjekts seine Form erhält. Struktur und Subjekt gilt es gleichermaßen zu berücksichtigen. Nötig ist dafür eine, so Stauber und Walther (2007: 42), „pendelnde Forschungsaufmerksamkeit“, der ständige „Blickwechsel“, zwischen handelndem Subjekt und Struktur sowie zwischen Intention und Kon-

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 391

stitution des Handelns (Was und Wie). Und zwar sowohl innerhalb der Biografi e- und Lebenslaufforschung als auch zwischen beiden. Methodologisch umsetzen lässt sich dies nur durch den Einsatz sowohl quantitativer als auch qualitativer Forschungsstrategien.

Das Verhältnis von Biografi e und Lebenslauf ist eines „relationaler Art“ (Hof /Kade / Fischer 2010: 332). Unsere Überlegungen zu integrativen Forschungsstra-tegien richten deshalb den Fokus gerade auf die Gelenkstellen zwischen gesell-schaft lichen bzw. institutionalisierten Kontexten und biografi scher Individuali-tät, indem sie auf die übergangsbezogenen „Aushandlungsprozesse“ (Friebel et al. 1996: 76) zwischen Erfahrungen, Zielsetzungen und Motivationen des Einzelnen einerseits und den gesellschaft lichen Bedingungen bzw. objektiven Gegebenhei-ten und Handlungsspielräumen andererseits rekurrieren. In diesem Sinne gehen wir mit Kelle und Kluge davon aus, dass Lebenslaufforschung und Biografi efor-schung mit ihren jeweiligen quantitativen wie qualitativen Ansätzen verschiedene Versuche sind, „ein bestimmtes Grundlagenproblem des Gegenstandsbereichs – nämlich die soziokulturelle Kontingenz der Strukturen des Lebenslaufs – metho-dologisch in den Griff zu bekommen“ (2001: 14).

2.1 Triangulation und Mixed Methods

Eine methodologische Brücke hin zu einem integrativen Forschungshandeln schlägt die Triangulation. Der Begriff der Triangulation bedeutet, dass „ein For-schungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus betrachtet – oder kon-struktivistisch formuliert: konstituiert – wird“ (Flick 2004: 11). Die Lesarten des Begriff s und Konzepts der Triangulation in den Sozialwissenschaft en sind vielfäl-tig: Triangulation kann sich auf verschiedene Zugänge innerhalb der qualitativen Forschung beziehen wie auch auf solche, die innerhalb der quantitativen sowie zwischen beiden, also in der Kombination von qualitativer und quantitativer For-schung liegen (vgl. Flick 2009: 226 f.). Interessant mit Blick auf den integrativen Forschungsgedanken ist dabei die „Across-methods-Variante“ (Denzin), in der die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Logiken und Methoden in einer Studie gemeinsam zum Einsatz kommen. Ziel dabei ist ein „Erkenntnis-zuwachs“, der weiter reicht als wenn nur ein Forschungszugang gewählt würde (Flick 2009: 226).

Die Across-methods-Variante führte jedoch nicht zur gewünschten „Entpara-digmatisierung der Methodendebatte“; laut Brake (2011: 43) wurde das Konzept insbesondere von qualitativ orientierten Sozialforschern scharf kritisiert. Viel

392 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

versprechender scheint demgegenüber „das Projekt einer ‚third methodological movement‘“ (ebd.: 45), das die unfruchtbaren Streitigkeiten zwischen qualitativer und quantitativer Methodologie hinter sich lassen will. Auf den Begriff der Trian-gulation wird darin, auch aus strategischen Überlegungen, verzichtet. Prominente Vertreter der „Mixed Methods“ (MM), die überwiegend aus dem angloamerikani-schen Raum stammen, sind u. a. Bergman (2008), Greene (2008), Creswell (2009), Teddlie und Tashakkori (2009) sowie Creswell und Plano Clark (2011). Im Vor-dergrund steht die pragmatische Verknüpfung von qualitativer und quantitativer Forschung; die VertreterInnen des MM-Ansatzes grenzen sich, so Brake (2011: 45), „dezidiert von der Vorstellung ab, dass qualitative und quantitative Zugänge un-vereinbar seien und betonen im Gegensatz dazu die vielfältigen Möglichkeiten der Kombination […] und ihrer zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten.“ Vor eini-gen Jahren noch standen insbesondere Design- und Anwendungsfragen von For-schungszusammenhängen im Vordergrund. Ausgeführt wurde in diesem Zusam-menhang von einigen Autoren, dass Mixed Methods von einer „Pragmatischen Hemdsärmeligkeit“ (Brake 2011: 46) bestimmt wurden. Teddlie und Ta shakkori (2009: 7) führen hierzu aus: „Th e philosophical orientation most oft en associated with MM is pragmatism“. Wobei sie ,pragmatism‘ defi nieren „as a deconstructive paradigm that debunks concepts such as ,truth‘ and ,reality‘ and focuses instead on ,what works‘ as the truth regarding the research questions under investigation“ (ebd.). Zu konstatieren ist mit Brake (2011: 46), dass mittlerweile eine Vielzahl an veröff entlichten Arbeiten über Fragen zur praktischen Umsetzung hinausweisen. Das bedeutet auch, dass die Debatte um die Integration qualitativer und quanti-tativer Methoden derzeit erheblich von der Weiterentwicklung des Mixed-Me-thods-Ansatzes lernen kann.

Ob nun das Mixed-Methods-Vorgehen, oder der Anspruch der integrativen Forschung zur „Überwindung der spezifi schen Grenzen einer Methode (oder einer Richtung)“ (Flick 2009: 236) verhelfen kann, ist im Rahmen dieses Beitrags nicht abschließend zu beantworten. Zu bedenken ist jedoch, wie beispielsweise Erzberger ausführt, dass die methodologische Diskussion über die Ziele der Me-thodenintegration einerseits „oft an einer Überfrachtung durch abstrakte metho-dologische und empirische Argumente [krankt]“ (2001: 103) und andererseits im MM-Ansatz Modelle vorgeschlagen werden, die durchaus den Ansprüchen inte-grativer Forschung genügen (siehe Abbildung 1).

Während an den äußeren Polen (Bereich A und E) des Kontinuums jeweils Studien mit ausschließlich qualitativer bzw. ausschließlich quantitativer For-schungsstrategie einzuordnen sind („purist“ QUAL oder QUANT), fi nden wir, je näher wir dem Zentrum in Abbildung 1, das heißt Bereich C kommen, Studien,

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 393

die qualitative und quantitative Strategien einsetzen. Die Bereiche B, C und D kennzeichnen den Forschungsbereich der Mixed Methods (siehe Teddlie / Ta-shakkori 2009: Kap. 7). Studien im Bereich B (QUAL-QUANT) arbeiten schwer-punktmäßig mit qualitativen Forschungsmethoden und zusätzlich mit quan-titativen Elementen. Denkbar ist hier der Einbezug repräsentativer Daten, wie beispielsweise des Mikro-Zensus, des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) oder der National Educational Panel Study (NEPS), die als zusätzliche Dateninforma-tion zum besseren Verstehen des Forschungsgegenstandes oder der „thematic analysis“ (ebd.: 95) beitragen, etwa im Sinne von Hammersley (1992, zit. n. Tedd-lie / Tashakkori 2009: 79): „in all research we move from ideas to data as well as from data to ideas“. Zu Bereich D (QUANT-QUAL) gehören umgekehrt Studien, die vornehmlich quantitativ arbeiten, aber qualitative Elemente mit einbeziehen. Hier kann als Beispiel die Shell-Jugendstudie angeführt werden, die vornehmlich quantitativ orientiert ist, jedoch auch qualitativ-biografi sche Porträts (s. etwa in der 12. Shell-Jugendstudie) erstellt, die „skizzieren, warum der Jugendliche das tut, was er tut“ (Jugendwerk der Deutschen Shell 1997: 81). Im Mittelpunkt stehen ver-tiefende Einblicke über den Einzelfall. Die Bereiche B und D folgen dabei unter-schiedlichen ‚Mischungskonzentrationen‘, legen jedoch jeweils eine Basis, QUAL oder QUANT, schwerpunktmäßig zu Grunde. In den Bereich C fallen Studien, die z. B. quantitative und qualitative methodologische Konzepte, Numerisches und Normatives, Deduktion und Induktion sowie konkrete Erhebungs- und Auswer-tungsmethoden verbinden und in etwa gleichberechtigt gewichten. Der Bereich C kommt damit dem Anspruch des integrativen Forschungshandelns am nächsten.

Abbildung 1 Das Kontinuum zwischen Qualitativen und Quantitativen Forschungsstrategien (Teddlie / Tashakkori 2009: 28)

A E D C B

QUAL MIXED QUANT

394 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

2.2 Integrative Forschungsstrategien

Udo Kelle (2007: 262) stellt ein integratives methodologisches Programm vor, das „die Stärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Verfahren klar benennt und zeigt, in welchen Gegenstandsbereichen und zur Beantwortung welcher Fragestellungen welche Methoden am besten geeignet sind.“ Seipel und Rieker (2003: 79) erarbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den quanti-tativen und qualitativen Vorgehensweisen und Logiken, z. B. zwischen dem kri-tischen Rationalismus und der hermeneutischen Position, in dem Bemühen um einen intermethodologischen Diskurs.8 Favorisiert wird als integratives Vorgehen insbesondere „die Kombination verschiedener Forschungsmethoden zu einander ergänzenden Erkenntnissen und zu neuen, weiterführenden Fragen“ (ebd.: 252). Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich um eine ‚echte‘ Integration oder eine Quasi-Integration handelt, spielen verschiedene Gütekrite-rien, die sich beispielsweise auf die ‚Gleichrangigkeit der Forschungszugänge‘ be-ziehen oder danach fragen, inwieweit die verschiedenen Forschungszugänge über den gesamten Forschungsprozess hindurch wechselseitig aufeinander bezogen werden können (vgl. Brake 2011: 53). Kelle und Erzberger (2000: 304) diskutieren vor allem die Art der Ergebnisse, die in der Kombination von quantitativen und qualitativen Zugängen und Verfahren entstehen, und unterscheiden dabei zwi-schen drei möglichen Ausgängen qualitativer und quantitativer Forschungsergeb-nisse: Sie können konvergieren, also übereinstimmen, sie können sich komplemen-tär zueinander verhalten, sich also gegenseitig ergänzen und sie können divergent sein, sich also widersprechen. Der letztgenannte ‚Ausgang‘ zieht eine theoretische und / oder empirische Klärung der Gründe für die sich ergebenden Divergenzen nach sich. Dies ist, Kelle und Erzberger (2000: 307) folgend, kein seltenes Ergeb-nis: So deuten in qualitativen Interviews Befragte ihre eigene Biografi e bzw. ihren eigenen Lebensverlauf anders, als sie auf der Ebene der „statistischen Aggregat-betrachtung“ (ebd.) erscheinen. Solche Divergenzen bedeuten zum einen, dass methodisch Fehler unterlaufen sein können oder dass die theoretischen Konzepte unzulänglich sind und diese überarbeitet und erweitert werden müssen. Solche Widersprüche können, positiv gedeutet, „Anlass geben zur Revision und Modi-

8 Die Forschungslogik der „Mixed methodologists“ (Teddlie / Tashakkori 2009: 79) besagt „that much if not most research is inherently mixed.“ Ein Beispiel: „Glaser and Strauss believe that each form of data (QUANT, QUAL) is useful for both the generation and verifi cation of groun-ded theory. In many instances, they felt that both forms of data are necessary.“ (Ebd.)

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 395

fi kation theoretischer Vorannahmen oder sogar die Entwicklung neuer theoreti-scher Konzepte anregen“ (ebd.).

Nachfolgend einige Basis-Vorgehensweisen integrativer Sozialforschung (Mi-les / Huberman zit. n. Flick 2009: 233; vergleichbare Vorgehensweisen beschreiben auch Teddlie / Tashakkori 2009: Kap. 7):

Bei der ersten Vorgehensweise werden die qualitativen und quantitativen Daten-erhebungen parallel verfolgt (Teddlie und Tashakkori (2009: 151) sprechen hier von „parallel mixed design“). Im zweiten Design legt die durchgängige Feldbeob-achtung die Basis für verschiedene standardisierte Befragungswellen. Das dritte Design beginnt mit einer explorativen qualitativen Erhebung, gefolgt von einer Fragebogenstudie als Zwischenschritt; in einer zweiten qualitativen Phase werden die Ergebnisse aus beiden vorgängigen Schritten vertieft und überprüft (Teddlie und Tashakkori (2009: 151) bezeichnen dies als „sequential mixed design“). Die vierte Vorgehensweise basiert auf einer standardisierten Umfrage, die von einer qualitativen Feldstudie ergänzt und vertieft wird; eine „experimentelle Inter-vention in das Feld“ überprüft die Ergebnisse aus den beiden vorangegangenen Schritten (vgl. Flick 2009: 233). Mit all diesen Vorgehensweisen verknüpfen sich

Abbildung 2 Integrierte Forschungsdesigns (nach Miles / Huberman, zit. n. Flick 2009: 233)

1. QUAL (kontinuierliche Sammlung beider Datensorten)

QUANT

2. QUANT Welle1 Welle2 Welle3

QUAL kontinuierliche Feldforschung

3. QUAL QUANT QUAL (Exploration) (Feldstudie) (Vertiefung u. Überprüfung von Ergebnissen)

4. QUANT QUAL QUANT (Umfrage) (Feldstudie) (Experiment)

396 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

unterschiedliche zeitliche Perspektiven. Deutlich wird, dass in diesen integrierten Verfahren grundsätzlich weniger ‚Momentaufnahmen‘ zum Ausdruck kommen, wie sie sich beispielsweise mit einer Einstellungsmessung zu einem einzigen Zeit-punkt verbinden. Vielmehr beinhaltet die Anlage eines kombinierten und inte-grativen Designs, sofern Prozessverläufe im Mittelpunkt stehen, oft mals mehrere zeitliche Ebenen. Gemeint sind damit nicht nur mehrere Messzeitpunkte (Längs-schnitt vs. Querschnitt), sondern verstärkt auch die Kombination von retrospek-tiven und prospektiven Fragestellungen.

Hof, Kade und Fischer (2010: 328) sprechen in diesem Zusammenhang von „Temporalität“, die sowohl „individuell-biographische Zeitverläufe“ als auch bei-spielsweise die „zeittypische Ausprägung des soziokulturellen Umfeldes“ betrifft . Daraus ergibt sich die Aufgabe, „stärker als bisher die Prozessualität und Zeitlich-keit […] zu fokussieren“ (ebd.). Über eine solche Prozessualität können z. B. Bil-dungsprozesse in den Blick genommen werden, deren diskontinuierliche Verläufe u. a. über Veränderungen in den Strategien des Habitus oder über Entscheidungs-fi ndungen sichtbar werden. Einem kritischen Blick zu unterziehen sind in die-sem Zusammenhang beispielsweise Annahmen von Entscheidungskohärenz und -konsistenz in der Rational-Choice-Th eorie (siehe Abschnitt 1.2). Verstärkt rich-tet sich der Forschungsfokus auf Wandlungs- und Veränderungsmöglichkeiten in Bildungsbiografi en, die sich in besonderer Weise in der Verbindung von qualita-tiven und quantitativen Längsschnitt- bzw. Panelverfahren analysieren lassen. In integrativer Forschungsabsicht wird eine dynamische Forschungsperspektive an-geregt, die „den Zusammenhang von mikrosozialen Prozessen und makrostruk-turellen Gesellschaft sveränderungen untersucht“ (Sackmann / Wingens 2001: 17). Um eine solche Forschungsperspektive umzusetzen, bedarf es eines integrativen längsschnittlichen Designs.

2.3 Das Beispiel HauptschülerInnen-Studie

Das integrative Forschungshandeln möchten wir an einem Forschungsbeispiel9, einer Panel-Untersuchung mit zwei (zeitlich lang gestreckten) Erhebungsphasen

9 Von 1973 bis 1978 führte ein Forschungsteam um Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker als Teil der Projektgruppe Jugendbüro und Hauptschülerarbeit die Studie zur Lebenswelt von Haupt-schülerInnen durch (Projektgruppe Jugendbüro 1977). Bei dieser Studie wurden 130 Hauptschü-lerInnen einer städtischen Hauptschule über fünf Jahre auf der Basis von qualitativen und quan-titativen Datenerhebungen wissenschaft lich begleitet; anfangs vier 8. Klassen, später wurde dann (ermöglicht durch weitere fi nanzielle Förderungen der DFG) der Untersuchungszeitraum über

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 397

(1. Phase Mitte / Ende der 1970er-Jahre, 2. Phase 2010 / 11), erläutern. Diese Studie war von ihrem Design her ursprünglich (das heißt in den 1970er-Jahren) nicht auf mehrere Erhebungsphasen angelegt, sondern als kurzschrittige Panelstudie mit 5 Erhebungszeitpunkten. Die Fortsetzung der Studie 2010 / 11 bietet den Anlass bzw. die Möglichkeit, die Konstruktion eines zweiten Messzeitpunktes und die In-tegration verschiedener qualitativer und quantitativer Verfahren und Ergebnisse zu diskutieren. Hierzu sollen zunächst beide Studienphasen mit ihren einzelnen Qual- / Quant-Forschungsschritten dargestellt werden.

Die erste Studien-Phase in den 70er-Jahren (Forschungsschritte):

1. QUAL: Die Wohnregion wurde erkundet und (off en strukturierte) Gespräche mit ExpertInnen aus der Jugendarbeit geführt.

2. QUAL: Es folgte eine „beteiligte Beobachtung“ in Form eines refl ektierten Mit-handelns (Feldtagebücher wurden geführt) im Rahmen einer zehntägigen Klas-senreise. Angeboten wurde im Rahmen der Klassenreise eine Beschäft igung mit Fragen der Berufswahl.

3. QUAL: Zudem wurde eine teilnehmende Beobachtung von Schülertreff punkten (Freizeitorte) durchgeführt.

4. QUAL: Außerdem fanden Elternbesuche und Stammtischgespräche mit den El-tern statt; auch hier standen Th emen der Berufsfi ndung im Vordergrund.

5. QUANT: Daran schloss sich eine auf der Basis der qualitativen Erhebungs-schritte konzipierte schrift liche Befragung in den Schulklassen an (136 SchülerIn-nen; Vollerhebung eines Schülerjahrgangs).

die Schulzeit hinaus auf den Abschluss der Lehre und den Berufseintritt erweitert. Befragt wur-den auch die Eltern der SchülerInnen, das pädagogische Fachpersonal sowie die LehrerInnen. (Eine spätere Weiterführung war nicht geplant.) Daran schließt sich 35 Jahre später, beginnend im Jahr 2010, die zweite Forschungsphase an. Durch eine intensive Adress-Recherche konnten die Adressen von etwa 60 Prozent der ehemals befragten Personen ermittelt werden. Die ‚Ehemali-gen‘ sind nun um die 50 Jahre alt, und die Studie trägt den Titel „In der Lebensmitte – Bildungs-biografi sche Wege ehemaliger HauptschülerInnen“ (Maschke et al. 2012). Das Forschungsteam (Imbke Behnken, Fritz Gürge, Peter Held, Sabine Maschke (Leitung), Ludwig Stecher, Kerstin Th eilen) initiierte Ehemaligen-Treff en, führte narrative Interviews, standardisierte schrift liche Befragungen und Gruppendiskussionen durch (siehe ausführlich Maschke et al. 2012).

398 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Aus der Analyse dieser Schritte ergab sich eine Grundtypologie: Herausgear-beitet wurden u. a. zwei jugendliche Orientierungstypen, der jugend- und der fa-milienzentrierte Typus (siehe unten).

6. QUAL: Auf der Grundlage dieser Kontrastgruppen wurden Diskussionsgrup-pen zusammengestellt; die Auswertung der Gruppendiskussionen diente der (er-klärenden) Vertiefung.

Unabhängig von der theoretischen Begründung dieser Typologie (die es aktu-ell unter erweiterten theoretischen Gesichtspunkten und den Verfahren der Ty-penbildung, insbesondere der Soziogenese nach Bohnsack (2003a), zu reanalysie-ren gilt), zeigte sich beispielsweise:

■ dass mit der Einnahme einer der beiden Orientierungen eine „bestimmte Identitätsmodellierung der Jugendlichen eng verknüpft “ (Projektgruppe Ju-gendbüro 1977: 57) ist. Unterstellt wird, dass die ausgeprägt Jugendzentrierten eine vergleichsweise off ene und suchende Identität zeigen, während die Fa-milienzentrierten sich durch Stabilität und eine gewisse Entscheidungs-‚Enge‘ auszeichnen.

■ Bezogen auf die berufliche Entscheidungssituation wurde deutlich, dass der Problemgehalt der Laufbahnentscheidung für SchülerInnen mit jugendzen-trierter Orientierung größer ist als für Familienzentrierte. Die Jugendzentrier-ten erfahren eine stärkere Verunsicherung des Berufswunsches (sie ändern diesen zu einem großen Anteil innerhalb des letzten halben Schuljahres); ge-deutet wurde dies als ausgeprägte „Identitätssuche“ (ebd.: 77).

■ Zudem defi nieren die jugendzentriert orientierten SchülerInnen die Berufs-wahlsituation stärker als Problem, die Familienzentrierten sehen hierin „al-lenfalls durchschnittliche Probleme“ (ebd.: 78).

Eine zentrale Forschungsfrage, die sich daraus für die zweite Studienphase ergibt, ist die Frage inwieweit Jugendorientierung und Familienorientierung aussage-kräft ige Prädiktoren für den weiteren Lebensweg, z. B. bezogen auf nachfolgende (berufliche) Übergänge und Entscheidungen sind.

Die zweite Studien-Phase ab 2010 (Forschungsschritte):

1. QUAL: Auf der Grundlage der recherchierten Adressen der TeilnehmerInnen der ersten Studienphase wurde ein Jahrgangstreff en an der alten Schule initiiert (teilnehmende Beobachtung, Fotos / Selbstinszenierungen).

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 399

2. QUANT / in Ansätzen QUAL (off ene Fragen): Teilstandarisierte Fragebögen wurden im Anschluss an das Jahrgangstreff en verschickt. Die Bögen schließen teils an einzelne Fragen aus dem Fragebogen der ersten Studienphase an, um-fassen aber auch Fragen, die sich aus den veränderten Lebensbedingungen und -phasen ergeben (Familiengründung etc.). Variiert wurden voll standardisierte Frageinstru mente mit off enen Antwortmöglichkeiten. In einem ersten Analyse-schritt konnten Fälle identifi ziert werden, die mit Blick auf die Prognosen aus den 1970er-Jahren abweichend bzw. sichtlich unerwartet erscheinen.

3. QUAL: Die abweichenden Fällen werden in narrativen Interviews näher unter-sucht. Diese Erhebungsphase ist, ebenso wie die Erhebung mittels Gruppendis-kussion, derzeit noch nicht abgeschlossen.

Abbildung 3 zeigt die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Design-elemente der HauptschülerInnen-Studie. Entsprechend des in Abschnitt 2.1 vor-gestellten QUAL-QUANT-Kontinuums lässt sich die Studie entsprechend der Einteilung von Teddlie und Tashakkori (2009) den Bereichen B und C zuordnen (teils qualitativer Schwerpunkt mit quantitativen Anteilen, teils Gleichgewicht von QUANT- und QUAL-Anteilen) und ist weitgehend als integrativ zu bezeichnen.

Abbildung 3 Mixed-Method-Design der HauptschülerInnen-Studie

QUAL QUANT QUAL (Beobachtungen; (stand. Befragung) (Gruppendiskussionen; Gespräche) Vertiefung)

QUANT/QUAL (Ergebnisse 1. Phase) QUANT/QUAL QUAL QUAL (teilstand. Befragung) (narr. Interviews; (Beobachtung; Gespräche) Gruppendiskuss.)

1. Phase

2. Phase

Phasen 1 u. 2.: Zusammenführung der Ergebnisse, Reanalyse der ersten Phase

Konzeption Fragebogen Kontrastgruppen

Konzeption Fragebogen Kontrastfälle

400 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

Die Fragen in der aktuellen Forschungsphase konzentrieren sich darauf, welche biografi schen (Bewältigungs-)Strategien zur Anwendung kommen, z. B. wie die ehemaligen HauptschülerInnen den Übergang in das berufliche Leben bewältigt haben, und ob die dabei gezeigten habituellen Strategien vergleichbare oder ver-änderte Strukturen zu den früheren während der Schulzeit / Lehrzeit aufweisen. Identifi ziert wurden auf der Basis der Daten der zweiten Studienphase zwei all-gemeine Strategien, die sich in defensive und off ensive (Entscheidungs-)Strate-gien unterscheiden lassen (s. Ziehe 2005a, b; Maschke 2012). Inwieweit, so eine Anschlussfrage, lassen sich diese strategischen Merkmale (z. B. Off enheit vs. Ge-schlossenheit, Suche vs. Vermeidung von neuen Erfahrungen) noch auf den fami-lien- und jugendzentrierten Typus beziehen ?

In den Blick geraten Prozesse und Ereignisse, die eine (Bildungs-)Biografi e prägen und verändern – sichtbar über Veränderungen der Strategien. Nach Hof, Kade und Fischer (2010: 336) verlaufen Bildungsbiografi en nicht linear, sondern diskontinuierlich.

Nachfolgend ein Beispiel für eine solche Veränderung ‚über die Zeit‘. Th eo konnte in der ersten Untersuchungsphase im Rahmen der quantitativen Erhe-bung (Faktorenanalyse) keinem Orientierungstyp eindeutig zugeordnet werden. Mit Blick auf die damaligen Daten und sonstigen Aufzeichnungen wird jedoch die (negative) Distanzierung zur Ursprungsfamilie deutlich und ist eine (den da-maligen Kriterien entsprechende) ‚jugendzentrierte‘ Orientierung naheliegend. Er blickt auf das Ende seiner Hauptschulzeit in den 70er-Jahren und den Übergang in die Berufswelt zurück:

„[…] ich hab mir nie Gedanken gemacht warum geh ich in die Schule, warum mach ich das […], ich hab einfach irgendwie aus dem Bauch heraus irgendwas gemacht. Ich weiß noch ganz genau, dass meine Fehltage in der Schule enorm waren. Also wirklich, ich glaub ich hab manchmal mehr gefehlt als dass ich anwesend war. […] Irgendwie (.) es kommt so ne ,Iss-doch-egal-Stimmung‘. (hustet) Trotzdem hab ich die Haupt-schule irgendwie geschafft […] Ähm, und wusste dann eigentlich immer noch nicht was mach ich jetzt nach der Schule. So dass ich erst mal nix gemacht hab. Rumgehan-gen […].“

In Anlehnung an die Charakteristika des Typus „Jugendzentriert“ zeigen sich bei Th eo starke Verunsicherungen hinsichtlich des Berufswunsches; es erfolgt keine Entscheidung für eine Ausbildung oder einen Beruf – vielmehr wird der Über-gang in die Ausbildung hinausgezögert. Auch die semantischen Diff erenziale

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 401

(zum Betriebspraktikum und zur schulischen Situation) aus dieser Zeit zeugen von Vermeidung und Zurückhaltung in neuen Situationen.

Diese Haltung ändert sich jedoch und führt zu einem eher unerwarteten Ver-lauf. Th eo berichtet im Alter von 50 Jahren rückblickend über seine Tätigkeit in einem Fast-Food-Unternehmen:

„Irgendjemandem muss ich da wohl auch positiv aufgefallen sein, der hat dann ge-meint, er hat vor in [Großstadt] das erste Restaurant auf zu machen, ob ich nicht Lust hätte da mit hoch zu gehen und ihm die Schulung zu übernehmen und da halt mit-helfen. Klar, sofort ja gesagt, […] ich glaub das war so der erste Weg wo es so drum ging wo ich selber entscheide, selber sage „ja das mach ich“. […] Aber die ersten be-wussten Entscheidungen, „ja, ich gehe nach [Großstadt] […]“, das iss so was mir, ja, als richtig erste bewusste Entscheidung was in meinem Leben noch passieren soll be-wusst iss, klar iss.“

Die Veränderung beginnt nach der Schulzeit und hat mit von außen an ihn her-angetragenen Herausforderungen im Übergang zu tun, die ihm weit reichende Entscheidungen (neuer Job und Ortswechsel) abverlangen. Handlungsleitend wird ‚über die Zeit‘ das herausfordernd Neue; Th eo selbst konstatiert eine bedeut-same biografi sche Veränderung, die von einer defensiv-vermeidenden Haltung und Strategie zu einer mehr und mehr off ensiven und selbstbestimmten Strategie hinführt.

Dieser Befund weist auf die Notwendigkeit hin, die Daten der ersten Studien-phase (QUAL und QUANT) im Lichte der Befunde der zweiten Studienphase zu reanalysieren (s. Abb. 4). Das Ziel liegt in einer Neumodellierung unter veränder-ten theoretischen und / oder statistischen Bedingungen; notwendig ist der Einbe-zug der Daten aus beiden Studienphasen.

Die rekursive Analyse erfasst Wandlungs- und Veränderungsmöglichkeiten in Bildungsbiografi en ‚über die Zeit‘, insbesondere in der Verbindung von qualitati-ven und quantitativen Längsschnitt- bzw. Panelverfahren. Eine Neumodellierung berücksichtigt alle qualitativen und quantitativen Daten, die zu den verschiede-nen Messzeitpunkten erhoben wurden. Auf der Grundlage der Merkmale der da-maligen Typologie werden die neu analysierten Dimensionen, Übereinstimmun-gen, Abweichungen und Veränderungen in ein Gesamtbild integriert. In unserem Beispiel, das in der ersten Untersuchungsphase von der Unterscheidung in einen familien- und einen jugendzentriertem Typus getragen wurde, wird das Gesamt-bild nun bestimmt durch eine mehrdimensionale Typologie unterschiedlicher Strategien und damit Bildungsbiografi en.

402 Sabine Maschke und Ludwig Stecher

3 Schluss

Im ersten Teil des Beitrags haben wir eine Einteilung verschiedener Modelle zur Erklärung von Berufswahlentscheidungen vorgenommen, die wir einmal, ent-sprechend der vorwiegenden Schwerpunktsetzung, auf die strukturelle bzw. sub-jektorientierte Perspektive und zum anderen auf deren vorwiegenden Methoden-einsatz – quantitativ vs. qualitativ – aufteilten. Die Diskussion der verschiedenen Ansätze und ihrer Forschungsperspektiven verweisen auf spezifi sche Schwer-punkte und Begrenzungen. Bei vielschichtigen und komplexen Forschungsfragen zur Übergangs- und Berufswahlentscheidung sind deshalb auf forschungsmetho-dologischer Ebene eine Koppelung der theoretischen Ansätze sowie der wechsel-seitige Einsatz qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden anzustreben.

Hervorgehoben wurde, dass sowohl die Triangulation als auch die ‚Mixed Me-thods‘ gute Ansatzpunkte für ein integratives Forschungshandeln bieten. Aller-dings stellt keiner dieser Ansätze ein Standard-Rezept oder ein universales Design zur Verfügung. Der Anspruch des integrativen Vorgehens liegt gerade darin, das Verhältnis von Subjekt und Struktur, von Mikro- und Makroebene dynamisch auf die Forschungsfrage und den Gegenstand der Untersuchung auszurichten. In An-betracht komplexer Designs und sich daraus ergebender hoher Ansprüche an die fi nanzielle wie personelle Ausstattung ist die Frage nach den zur Verfügung ste-henden Ressourcen einer Untersuchung allerdings mit zu berücksichtigen.

Abbildung 4 Rekursive Analysestrategien

1. Phase 2. Phase xy Phase

Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der berufl ichen Entscheidungsfi ndung 403

Literatur

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Sampling und die Suche nach fallübergreifender GültigkeitVergleichende Analysen von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt1

Karin Schittenhelm

1 Einleitung

Wie wird in Untersuchungen der qualitativen Sozialforschung eine fallübergrei-fende Gültigkeit von Ergebnissen ermittelt und begründet ? Gilt eine solche Über-tragbarkeit für andere (Einzel-)Fälle oder für ganze Fallgruppen ? Inwiefern kann auch von einer ‚Generalisierung‘ gesprochen werden, die mehr beansprucht als eine bloße Übertragbarkeit auf weitere Fälle ? Mit Fragen einer Geltungsbegrün-dung der Ergebnisse qualitativer Untersuchungen befasst sich der folgende Bei-trag, wobei er seine Aufmerksamkeit auf die Fallauswahl während der Erhebung und Auswertung richtet. Mit anderen Worten: Er behandelt Kriterien und Stra-tegien eines qualitativen Samplings. Von Interesse ist, welchen Geltungsanspruch Forschende für ihre Untersuchungsergebnisse erheben, wie sie dies tun und nicht zuletzt, wie sie dies begründen. Im Weiteren skizziere ich ausgewählte methodo-logische Debatten zu Kriterien, Strategien und Begründungen qualitativer Sam-plings (Becker 1998; Gobo 2007; Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 173 f.; Rosenthal 2005: 85 f., Glaser / Strauss 1967: 45 – 77; Strauss / Corbin 1996: 148 – 165; Strübing 2003),2 um anschließend am Beispiel vergleichender Untersuchungen von Sta-tuspassagen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt mögliche Strategien einer Fallauswahl infolge einer theoretischen Fokussierung darzustellen.3

1 Für Anregungen und Kritik zum vorliegenden Beitrag danke ich Julia Küchel, Arnd-Michael Nohl und Anna Mayer zu Schwabedissen.

2 Zu einer ausführlicheren Darstellung verschiedener Strategien eines qualitativen Samplings siehe Schittenhelm (2009).

3 Dabei beziehe ich mich auf zwei Untersuchungen: „Soziale Lagen, Lebensstile und Orientierun-gen junger Frauen zwischen Schule und Beruf in interkulturell vergleichender Forschungsper-spektive“ (Schittenhelm 2005a) und „Kulturelles Kapital in der Migration“ (Nohl / Schittenhelm /

408 Karin Schittenhelm

Die Auseinandersetzung mit den eingangs genannten Fragen auf der Grund-lage konkreter Forschungsbeispiele ist nicht allein den notwendigen Vorgaben eines Buchbeitrags in einem Band zu qualitativer Bildungs- und Arbeitsmarkt-forschung geschuldet. Strategien und Geltungsansprüche der Befunde einer qua-litativen Untersuchung sind auch im Verhältnis zu einem Untersuchungsfeld bzw. zu den jeweiligen Voraussetzungen eines Feldzugangs zu sehen. Zwar gibt es sehr wohl prinzipielle Fragen qualitativer Samplings (vgl. Schittenhelm 2009:  4 f.), doch sind je nach Beschaff enheit eines Untersuchungsfeldes auch spezielle Her-ausforderungen und Möglichkeiten einer Fallauswahl zu bedenken. Um beim o. g. Th ema zu bleiben: Handelt es sich um eine breiter angelegte Untersuchung, wie z. B. zum Übergang junger Realschulabgängerinnen in eine Berufsausbildung, ist durch ein Sampling eine verhältnismäßig hohe Varianz der jeweiligen Statusüber-gänge zu beachten – sofern die Fragestellung nicht auf weitere Besonderheiten, wie z. B. auf junge Frauen in (geschlechts-)untypischen Berufen, ausgerichtet ist. Werden andererseits Personen befragt, die für eine sozialwissenschaft liche Unter-suchung schwer erreichbar sind, ist ein eingeschränkter Feldzugang zu bedenken und die Fallauswahl beruht nicht unbedingt auf bewussten Entscheidungen. Die Qualität eines Samplings ist insofern nicht ungeachtet der Beschaff enheit eines Untersuchungsfeldes und der dort vorhandenen Zugangsvoraussetzungen zu sehen.

Der folgende Beitrag beginnt mit methodologischen Überlegungen zu Prinzi-pien und Strategien qualitativer Samplings (Abschnitt 2), ehe ich theoretische Per-spektiven einer Analyse von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt auf der Grundlage rekonstruktiver Verfahren vorstelle (Abschnitt 3). Ansprüche qualitativer Samplings und mögliche Schwierigkeiten ihrer Umsetzung in der Forschungspraxis kommen schließlich anhand von Forschungsbeispielen zur Sprache (Abschnitt 4). Der Beitrag endet mit Überlegungen zu Anforderun-gen und möglichen Strategien qualitativer Samplings sowie zu Strategien einer theoretischen Fokussierung in komplexen Untersuchungsanlagen (Abschnitt 5).

Schmidtke / Weiß 2006, 2010), wobei ich im letzteren Fall das Teilprojekt zu BildungsinländerIn-nen (Schittenhelm 2011, 2012) berücksichtige.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 409

2 Qualitatives Sampling: Strategien einer Suche nach fallübergreifender Gültigkeit

In seinen methodologischen Überlegungen zu qualitativen Samplings unter-scheidet Gobo zum einen die Generalisierung von Ergebnissen mit Blick auf ihre potenzielle Gültigkeit für eine Population als Ganzes, zum anderen eine Gene-ralisierung von theoretischen Aussagen über die Struktur und Entstehung sozia-ler Prozesse (Gobo 2007: 405 f.).4 Beide Formen einer möglichen Übertragbar-keit kommen in Debatten zur Geltungsbegründung der Ergebnisse qualitativer Sozial forschung wiederholt zur Sprache.5 Sie dienen mir im Weiteren als Aus-gangspunkt meiner Überlegungen zu möglichen Strategien und Begründungen qualitativer Samplings, ehe ich Anforderungen und Verfahren einer Fallauswahl anhand von Forschungsbeispielen zur Diskussion stelle.

2.1 Formen der Übertragbarkeit

Die zunächst genannte Möglichkeit einer Generalisierung im Sinne einer Über-tragbarkeit auf soziale Populationen wird in Debatten der qualitativen Sozialfor-schung immer wieder kritisch betrachtet (Gobo 2007; Williams 2003). Zunächst wäre zu fragen, was unter einer solchen ‚Übertragbarkeit‘ auf Populationen eigent-lich zu verstehen ist. Hoch ausdiff erenzierte Gesellschaft en gelten als zu heterogen, als dass beispielsweise Befunde zu Orientierungen und biografi schen Verläufen ohne weiteres auf soziale Populationen als Ganzes übertragbar wären (vgl. Schit-tenhelm 2005a: 276). Selbst wenn qualitative Untersuchungen spezielle oder auch „seltene“ Populationen erforschen, wie z. B. Frauen in Ingenieursberufen oder teil-zeitarbeitende Väter, ist von einem Spektrum variierender biografi scher Verläufe und beruflicher Orientierungen auszugehen. Nicht der eine oder andere Verlauf und nicht die eine oder andere der ermittelten Orientierung gelten als verallge-meinerbar für die jeweilige Untersuchungspopulation. Die Frage ist vielmehr, in-wiefern sich innerhalb derselben Population ein spezifi sches Variantenspek trum oder ein Möglichkeitsraum von beruflichen Orientierungen und biografi schen Verläufen ermitteln lässt.

4 Gobo spricht von ‚generalizability‘, was in wörtlicher Übersetzung ‚Generalisierbarkeit‘ bedeu-tet. Doch nimmt er Einschränkungen hinsichtlich des Geltungsanspruchs qualitativer Untersu-chungsergebnisse vor und spricht auch von ‚transferability‘ oder eingeschränkten Formen einer Generalisierbarkeit (Gobo 2007: 406 f.).

5 Siehe auch Przyborski / Wohlrab-Sahr (2008: 320) sowie Willliams (2003).

410 Karin Schittenhelm

Howard Becker spricht von „the full range of variation“ (Becker 1998: 71), d. h. vom gesamten Spektrum möglicher Varianten, das Forschende in ihrer Feldfor-schung anstreben, um nicht dem Irrtum zu erliegen, dass sie lediglich Merkmale einer spezifi schen (Unter-)Gruppe als charakteristisch für eine Population ins-gesamt annehmen.6 Stattdessen soll nach einem solchen Verständnis das Varian-tenspektrum, das für eine untersuchte Population potenziell möglich ist, in einer Fallauswahl repräsentiert sein. Eine vergleichbare Position diskutiert Williams in seinen Überlegungen zu „moderatum generalizations“ (Williams 2003: 131 f.) d. h. zu einer begrenzten oder ‚gemäßigten Generalisierbarkeit‘:

Yet if it is accepted that generalization from interpretative data is a legitimate goal, then presumably interpretivists need a sample which will refl ect the relevant characteristics of the wider group to which they wish to generalize (Williams 2003: 132).

In seinen Überlegungen geht er zwar davon aus, dass eine Suche nach Genera-lisierbarkeit qualitativer Ergebnisse – auch mit Rückschlüssen auf die Untersu-chungspopulation – ein legitimes Ziel qualitativer Forschung ist. Doch setzt er prinzipielle Einschränkungen dieses Anspruchs voraus – was bereits in seiner Begriff lichkeit ‚moderatum generalization‘ (Williams 2003: 131 f.) zum Ausdruck kommt. Weiterhin befasst sich auch Williams mit der o. g. Variante einer Über-tragbarkeit im Sinne einer Suche nach theoretischen Aussagen über die Beschaf-fenheit sozialer Phänomene (Williams 2003: 135). In bisherigen Debatten quali-tativer Sozialforschung ist in diesem Zusammenhang von einer ‚theoretischen‘ oder ‚analytischen Generalisierung‘ die Rede (vgl. Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008:  320). D. h. die anhand vorliegender Befunde beobachtete Regelhaft igkeit (z. B. eines Verhaltens, eines Prozesses) wird ermittelt, um hypothetisch generali-sierbare Aussagen zu den jeweiligen Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßig-keiten eines Phänomens zu formulieren. Was sind beispielsweise die sich wieder-holenden Muster eines Übergangs zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt und unter welchen Bedingungen treten sie auf ? Auch hier kommt einem Varian-tenspektrum im vorliegenden Untersuchungsmaterial eine Bedeutung zu. Das Er-kenntnisinteresse ist jedoch nicht vorweg auf eine Gültigkeit für eine Population als Ganzes gerichtet. Wie sich im Folgenden zeigen wird, beruht der Anspruch,

6 Becker (1998) selbst spricht sich für eine fl exible und – je nach Th emenstellung – variierende Umgangsweise mit dieser Frage aus und stellt Vorgehensweisen in den Sozialwissenschaft en mit Blick auf Fallstricke und mögliche Herausforderungen in der Forschungspraxis dar.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 411

das Untersuchungsfeld hinsichtlich möglicher Varianten zu erkunden, im Falle einer ‚theoretischen Generalisierung‘ auf anderen Prämissen.

2.2 Übertragbarkeit theoretischer Aussagen und off ene Suchstrategien

Geht es um eine ‚theoretische Generalisierung‘ im o. g. Sinne, ist die Art der Über-tragbarkeit vorliegender Befunde nicht vorweg festgelegt, sondern zunächst un-gewiss. In der Anfangsphase ihrer Untersuchung wissen Forschende noch nicht, welche Gesetzmäßigkeit vorliegen könnte, wenn sie nach der Reichweite und Gül-tigkeit bisheriger Ergebnisse fragen. Eine soziale Regelmäßigkeit und die konsti-tutiven Bedingungen eines untersuchten Phänomens sind erst noch zu entdecken und zu verstehen.7 Ihre Suche nach einer fallübergreifenden Gültigkeit qualita-tiver Untersuchungsergebnisse geht von konkreten Befunden aus, ohne dass die potenziell mögliche Reichweite bzw. die Art der Übertragbarkeit im Vorfeld be-kannt ist.

Wie entsteht beispielsweise ein Rückzugs- und Verweigerungsverhalten von Jugendlichen während des Übergangs in eine Ausbildung, falls es sich in vorlie-genden Fällen beobachten lässt ? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit sich dieses Phänomen entwickelt ? Ist es typisch für eine spezifi sche Gruppe der untersuchten Jugendlichen und deren soziale Lage – z. B. als kollektive Be-wältigungsform von besonders nachteiligen Lebensverhältnissen ? Oder resultiert eine solche Haltung aus einem spezifi schen Verlauf der bisherigen Übergangs-biografi e, der besonders entmutigend ist, potenziell aber bei Personen mit unter-schiedlicher sozialer Lage und Herkunft auftreten kann ? Die Frage nach der Re-gelhaft igkeit eines Phänomens bzw. danach, wie und unter welchen Umständen es zustande kommt, wird in der qualitativen Sozialforschung in Debatten über eine Typenbildung verhandelt (Bohnsack 2007, 2010a, b; Brose / Wohlrab-Sahr / Corsten 1993: 72 f.; Kelle / Kluge 2010; Nentwig-Gesemann 2007; Rosenthal 1995: 211). Um welche soziale Typik es sich handelt, ist dabei eine Frage der schrittweisen theo-retisch-konzeptionellen Erfassung des Gegenstandes. Die Suche nach den Vor-aussetzungen für eine fallübergreifende Gültigkeit beruht in vielen Verfahren auf

7 Dies schließt nicht aus, dass beobachtungsleitende Annahmen vorliegen (vgl. Kalthoff 2008: 12) oder dass eine theoretische Auseinandersetzung nicht auch sensibilisierend für bestimmte Phä-nomene wirken kann.

412 Karin Schittenhelm

systematischen Fallvergleichen (Bohnsack 2007, 2010b; Kelle / Kluge 2010).8 Mit Hilfe komparativer Fallanalysen wird Schritt für Schritt erkundet, welche Regel-mäßigkeiten potenziell vorliegen und unter welchen Kontextbedingungen die Er-gebnisse eines Falles gültig sind bzw. unter welchen Bedingungen sie nicht mehr gelten. Ausgehend von den jeweiligen Befunden, interessiert sich die Analyse für immer neue Varianten und Kontrastfälle, um die Reichweite der vorliegenden Er-gebnisse zu überprüfen und die Entstehungsbedingungen eines Phänomens zu verstehen. Nicht nur dessen Auftreten, auch der negative Fall, der aufzeigt, unter welchen Bedingungen es ausgeschlossen ist, wird für den Erkenntnisvorgang in-teressant. Die homologen und die kontrastierenden Fälle sind also für die Er-mittlung der Reichweite und Gültigkeit eines Befundes ausschlaggebend, und die Suche nach Gegenbeispielen ist durch inhaltliche wie durch methodologische As-pekte der Erkenntnisfi ndung bestimmt.

Geht es um die Übertragbarkeit qualitativer Forschungsergebnisse, gewinnt ein Sample nicht einfach durch die Größe der Fallzahl an Qualität. Vielmehr ist entscheidend, welche Fallvergleiche und Fallkontrastierungen auf der Grundlage eines Auswahlverfahrens möglich sind (Schittenhelm 2009: 16). Welche Varianz beinhaltet das gegebene Sample, um bestimmte Faktoren zu kontrollieren und die fallübergreifende Gültigkeit der empirischen Befunde anhand unterschiedlicher Kontextbedingungen zu überprüfen ? Die Suche nach dem kontrastierenden Fall gilt insofern als Auswertungsstrategie, um die gegenstandsbezogene Th eorie unter inhaltlichen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln und die Gültigkeit der bisheri-gen Befunde zu überprüfen. Auch hier ist also das Variantenspektrum eines Un-tersuchungsfeldes von Interesse. Ist ein Sample entsprechend zusammengestellt, ermöglichen komparative Fallanalysen begründete Aussagen dazu, unter welchen Bedingungen die bisher ermittelten Befunde auftreten oder auch nicht (vgl. Schit-tenhelm 2009: 15). Insofern geht es nicht notwendigerweise darum, Rückschlüsse auf eine spezifi sche Untersuchungspopulation zu ziehen, stattdessen ist die Art der fallübergreifenden Übertragbarkeit zu Beginn eher off en und im Rahmen einer Hypothesen- und Th eoriebildung erst noch zu klären. Mit Blick auf das Th ema der Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt stellt sich z. B. die Frage nach Mustern und Regelmäßigkeiten der Übergänge sowie nach deren Entstehungsbedingungen. Die Suche nach einer fallübergreifenden Über-

8 Es gibt auch Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung, die eine Generalisierung durch die Rekonstruktion der Fallstruktur mit Hilfe gedankenexperimenteller Gegenhorizonte anstreben (siehe u. a. Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 258).

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 413

tragbarkeit betrifft hier die Frage, unter welchen Bedingungen ein empirisch be-obachteter Verlaufsprozess des Statusübergangs reproduzierbar ist.9

Nun könnte man anmerken, ob dies nicht ebenfalls eine Frage der Übertrag-barkeit auf spezielle Populationen ist. Wenn beispielsweise eine Geschlechterzu-gehörigkeit den Übergang zwischen Schule und Ausbildungsberuf prägt, müsste dies doch auch für andere Frauen mit dem betreff enden Bildungsabschluss gelten. Die Generalisierung der Art, wie sich eine Geschlechterzugehörigkeit bemerk-bar macht, ist jedoch nicht zwingend gegeben. Wenn sich beispielsweise für eine junge Mutter der Übergang in den Beruf zeitlich verlängert, weil sie in ihrer Le-benspartnerschaft den Hauptteil der Verantwortung für die gemeinsamen Kinder übernimmt, hat diese Art der Elternschaft Folgen für den Berufseinstieg. Aller-dings wäre es nur eine unter anderen Möglichkeiten, wie sich ‚Geschlecht‘ bzw. in diesem Fall eine spezifi sche Aufteilung der Verantwortung für die Kindererzie-hung auf den Bildungs- und Berufsverlauf auswirkt. Eine fallübergreifende Gül-tigkeit könnte zwar durchaus vorliegen, indem die Ergebnisse auf andere Fälle eines Samplings übertragbar sind. Gleichzeitig könnte eine weitere Auswahl ent-sprechender Fälle aber auch zeigen, dass geschlechterrelevante Umstände wäh-rend des Übergangs zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt in ganz unter-schiedlicher Weise zu beobachten sind. Die – im Verhältnis zum Vater – höhere Verantwortlichkeit für die Kindererziehung wäre dann lediglich eine unter an-deren Möglichkeiten, wie sich Geschlechterunterschiede auf den Berufseinstieg auswirken. Dies gilt auch für die naheliegende Frage, inwiefern es sich dann um eine Variante des Übergangs von Eltern handelt, nämlich um diejenige, die beim Elternteil mit der Hauptverantwortung für die Kindererziehung auftritt. Es wäre aber sowohl für Eltern als auch für Frauen eine unter anderen Varianten, warum eine Generalisierung mit Blick auf eine spezielle Population nur angesichts eines Möglichkeitsraumes gelten könnte. Insofern wäre für die jeweilige Population, d. h. für Eltern oder für Frauen mit je vergleichbaren Abschlüssen, ein Spektrum möglicher Übergangsverläufe zwischen Schule und Beruf zu beachten sowie die Frage, unter welchen Bedingungen diese auftreten.

Eine Übertragbarkeit theoretischer Aussagen über soziale Regelmäßigkeiten und Entstehungsbedingungen eines Übergangs in den Arbeitsmarkt setzt voraus, dass Forschende das Spektrum an Verläufen, das sie ermittelt haben, auf die po-tenziell möglichen Voraussetzungen hin überprüfen. Um die Geltung der empi-rischen Befunde zu verstehen, ist weniger die Anzahl der jeweiligen Fälle aus-

9 Zur Typenbildung als Frage einer Reproduktionsgesetzlichkeit siehe auch Brose / Wohlrab-Sahr /Corsten 1993: 72 f.

414 Karin Schittenhelm

schlaggebend, sondern die mögliche Varianz, anhand derer sich die Reichweite und die Art der jeweiligen Gültigkeit ermitteln lässt. Bei einer solchen Suche han-delt es sich nicht immer um einen linearen Prozess. Es können Richtungswechsel erforderlich sein und ein zunächst eingeschlagener Weg kann sich als irrelevant erweisen. Die Suche nach den Voraussetzungen für eine Übertragbarkeit kann die Frage nach Konzepten und Bedingungen für eine Verallgemeinerbarkeit noch-mals neu aufwerfen. Es sind nicht unbedingt die bereits vorhandenen Katego-rien einer möglichen Unterscheidbarkeit von Erforschten, die sich hier als rele-vant erweisen. Wenn das Ziel, d. h. die Art der Übertragbarkeit zunächst off en ist, wäre zu fragen, wie sich Forschende auf die Suche nach einer fallübergreifenden Gültigkeit ihrer Ergebnisse begeben. Dabei interessiert im Weiteren, mit welchen Strategien sie eine Fallauswahl im Verlauf der Feldforschung und der späteren Auswertung vornehmen.

2.3 Theoretisch begründete Samplings

Das in Verbindung mit der ‚Grounded Th eory‘10 entwickelte ‚theoretical sampling‘ (Glaser / Strauss 1967: 45 – 78; Strübing 2003) gehört heute zum bekanntesten Ver-fahren einer Fallauswahl in qualitativen Untersuchungen. Es verfolgt das Ziel, die Varianzbreite eines Feldes zu erkunden. Zugleich handelt es sich um eine Strate-gie, die eine Ergebnisoff enheit im Auge hat. Die Fallauswahl folgt theoretisch re-levanten Gesichtspunkten, wobei die Kriterien dafür nicht im Vorfeld endgültig feststehen, sondern noch im Verlauf des Forschungsprozesses ausgearbeitet und modifi ziert werden. Ein ‚theoretical sampling‘ gilt als Möglichkeit, die von der ‚Grounded Th eory‘ (Glaser / Strauss 1967; Strübing 2008) in die Diskussion einge-brachte ‚empirisch fundierte Th eoriebildung‘ zu praktizieren: Indem Forschende immer neue Vergleichsfälle heranziehen, zeigen sie auf, unter welchen Voraus-setzungen die im Forschungsprozess entdeckten Befunde gelten und übertragbar sind und ob sich die dazu entwickelten Hypothesen bestätigen lassen oder abzu-ändern sind. Hier geht es insofern um eine Forschungsstrategie, die eine Suche nach fallübergreifender Gültigkeit fortlaufend praktiziert und durchläuft bis sich keine neuen Erkenntnisse mehr zeigen bzw. bis eine theoretische Sättigung ein-

10 Siehe zur ‚Grounded Th eory‘ den Beitrag von Uta Liebeskind in diesem Band.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 415

tritt. 11 Forschende haben dabei nicht eine spezielle Zielvorstellung im Auge – wie z. B. die Idee einer Übertragbarkeit auf eine soziale Untersuchungspopulation – sondern praktizieren ein Verfahren, mit dem sie sich schrittweise eine Zielvorstel-lung erarbeiten, die sie zugleich immer wieder von neuem hinterfragen.12

Auch wenn eine konsequente Umsetzung eines ‚theoretical samplings‘ eher selten ist, kommen seine Prinzipien auch über ‚Grounded-Th eory‘-basierte Un-tersuchungen hinaus zur Anwendung. Ich verwende den Begriff ‚theoretical samp ling‘ auf Arbeiten der ‚Grounded Th eory‘ im engeren Sinne, und spreche von ‚theoretisch begründeten Samplings‘, wenn ich mich auf Untersuchungen be-ziehe, die sich an dem von Glaser und Strauss ursprünglich zur Diskussion gestell-ten Verfahren im weiteren Sinne orientieren.13 Die Fallauswahl eines theoretisch begründeten Samplings fi ndet während der Datenerhebung und auch noch in der späteren Phase der Auswertung statt (Strauss / Corbin 1996: 148 f.), wobei in vie-len Verfahren qualitativer Sozialforschung Datenerhebung und Auswertung nicht völlig voneinander zu trennen sind. 14 Beide Arbeitsschritte fi nden zeitweilig auch parallel zueinander statt. Anhand erster Auswertungen werden für die weitere Feldforschung modifi zierte Auswahlkriterien festgelegt, die eine Suche nach wei-teren Fällen und Zugangsmöglichkeiten bestimmen. Suchstrategien der Fallaus-wahl erstrecken sich potenziell auch noch nach Abschluss der Feldforschung auf die Phase der Datenauswertung, indem noch währenddessen ein weiteres Aus-wahlverfahren stattfi nden kann. Auf der Basis eines bereits erhobenen Daten-bestandes sind noch spätere Entscheidungen darüber möglich, welche der vor-liegenden Fälle in die Intensivanalyse einbezogen werden und welche nicht. In der bisherigen Literatur ist hier auch von einem ‚ersten‘ und ‚zweiten Sampling‘ (Rosenthal 1995: 215 f.) oder von einem ‚mehrstufi gen Auswahlverfahren‘ (Schit-tenhelm 2009: 22 f.) die Rede.

11 Th eoretische Sättigung bzw. ‚theoretical saturation‘ (Glaser / Strauss 1967: 61 f.) bezeichnet in der ‚Grounded Th eory‘ den Stand einer Untersuchung, zu dem keine weiteren Fälle gefunden werden, aus denen Forschende neue Einsichten gewinnen würden.

12 Hans-Georg Soeff ner (1991) stellte in Auseinandersetzung mit dem Konzept ‚trajectory‘ von An-selm Strauss die Ergebnisoff enheit sowie die Unabgeschlossenheit und Prozesshaft igkeit eines sich immer wieder neu anhand empirischer Befunde hinterfragenden Denkens dar.

13 Dabei spreche ich hier von theoretisch begründeten Samplings im Rahmen rekonstruktiver Ver-fahren, bei denen die Samplingkriterien noch im Verlauf einer Untersuchung modifi ziert und ergänzt werden. Der Vollständigkeit halber sei hier jedoch auf qualitative Samplings auf Basis ei-nes Stichprobenplans hingewiesen; auch diese sind vom Prinzip her theoretisch begründet, doch beinhalten sie andere Strategien eines Samplings. Siehe Schittenhelm (2009: 9 f.).

14 Dies gilt z. B. in der ‚Grounded Th eory‘ oder in Arbeiten der rekonstruktiven Sozialforschung

416 Karin Schittenhelm

Orientiert sich qualitative Sozialforschung an der Strategie einer empirisch fundierten Th eoriebildung, bestimmt der nach und nach ausgewählte Datenbe-stand auch den ‚Denkraum‘15 oder, im vorliegenden Th emengebiet, das Spektrum der Verlaufsprozesse von Übergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeits-markt, die in Betracht gezogen werden. Suchstrategien und Auswahlentscheidun-gen werden dabei sowohl im Verlauf der Datenerhebung relevant – welche Fälle werden überhaupt erhoben – als auch im Verlauf der Auswertung – welche Fälle werden in die Datenanalyse einbezogen ? Meine folgenden Forschungsbeispiele beruhen auf einem mehrstufi gen Sampling und systematischen Fallvergleichen auf Basis der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2010a) mit dem Ziel einer Typenbildung. Kontinuierliche Fallvergleiche, die bereits Bestandteil der ‚Groun-ded Th eory‘ (Glaser / Strauss 1967) waren, fi nden auch in weiteren Verfahren der Typenbildung statt.16 Entscheidend für Ansätze der rekonstruktiven Sozialfor-schung ist, dass eine Typenbildung auch die Sinnmuster und Sinnwelten der so-zial Handelnden einbezieht (Bohnsack 2010b; Rosenthal 2005: 210). Ein Über-gang zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt wird beispielsweise nicht allein anhand der faktischen Abfolge von Phasen und Stationen typisiert, son-dern auch mit Blick auf die Such- und Orientierungsprozesse der betreff enden Personen (Schittenhelm 2005a, b). D. h. eine Typenbildung, von der hier die Rede ist, würde bei einer Analyse von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt die Sinnmuster auf Seiten der Erforschten beachten. Die kom-parative Analyse bedeutet zugleich, dass nicht allein Fälle gesucht werden, die das jeweilige Phänomen hinsichtlich seiner Beschaff enheit erhellen. Darüber hinaus geht es auch darum, die Grenzen seiner Reichweite und die sozialen Entstehungs-bedingungen zu verstehen.

Die Fälle eines solchen Samplings gelten nicht als eine Abbildung des Untersu-chungsgegenstandes und seiner Varianten im Kleinformat. Vielmehr ermöglichen die aufgrund der Fallauswahl vorliegenden Varianten analytische Perspektiven auf das Phänomen, indem sie anhand bewusst gewählter Dimensionen und Kri-terien Vergleiche ermöglichen. Das bedeutet unter Umständen auch, im Verlauf einer Untersuchung solche Fälle mit einzubeziehen, die nicht im engeren Sinne zur Untersuchung gehören, sondern als Vergleichs- oder Kontrollfälle dienen, um die Reichweite vorliegender Ergebnisse zu erkunden. Eine solche Zusammenstel-

15 Ich beziehe mich hier auf einen Begriff von Matthes (1992a), wobei dieser vom ‚gemeinsamen Denkraum‘ im Rahmen eines Vergleichs spricht.

16 Zur Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode siehe Bohnsack (2010a, b) so-wie im Rahmen sonstiger, auf kontinuierlichen Fallvergleichen beruhenden Verfahren vgl. Kelle /Kluge (2010).

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 417

lung von Fallvarianten beruht dann auf Suchstrategien und Erkenntnisinteressen der Forschenden. Die Dimensionen und Kriterien, hinsichtlich derer Varianten möglich sind, werden erst durch die Vergleiche und die hierfür erforderlichen Suchstrategien in einem zunächst off enen, dann mehr und mehr festgelegten Ver-fahren bestimmt.17 Dies bedeutet auch, dass die Qualität eines Samplings daran zu bemessen ist, welche Vergleichsmöglichkeiten die jeweilige Fallauswahl bietet. Die komparativen Analysen dienen letztlich der theoretisch-konzeptionellen Er-fassung des Untersuchungsgegenstandes. Mögliche Perspektiven qualitativer So-zialforschung auf Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt kom-men in den folgenden Abschnitten zur Sprache.

3 Statusübergänge als Verlaufsprozesse

Statusübergänge bringen nicht allein neue Orientierungsanforderungen mit sich, sie sind auch mit einer erneuten Statusverteilung im Lebenslauf verbunden. Ihr Ausgang ist maßgeblich für die soziale Positionierung einer Person in ihrer weite-ren Biografi e. Jugendliche besuchen beispielsweise über einen längeren Zeitraum ein- und dieselbe Schule. Selbst wenn ihnen anschließend die Übergänge in eine Ausbildung und in eine spätere Berufsausübung gelingen, können sie nach dem Verlassen der Schule deutlich unterschiedliche Statuspositionen einnehmen. Ge-lingt nur einer dieser weiteren Übergänge nicht, hat dies weitreichende Folgen für den zukünft igen biografi schen Verlauf. Die Sozialforschung interessiert sich dafür, wie Jugendliche bzw. junge Erwachsene ihre zuvor erworbenen Bildungstitel auf dem Arbeitsmarkt umsetzen und welche sozialen Ungleichheiten sich im Verlauf der jeweiligen Statusübergänge beobachten lassen. Geht eine Untersuchung mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden vor, betrachtet sie dabei nicht allein den faktischen Statuswechsel, sondern soziale Prozesse einschließlich der Orientie-rungen und Deutungen der betreff enden Personen (Hoerning 1978; Heinz 1995).

Sofern sie lebensaltersspezifi sch sind, stellen Statusübergänge auch ein Grup-penphänomen dar, wenn z. B. Schulabgängerinnen eines Jahrgangs zeitlich paral-lel einen Übergang beschreiten. In diesem Fall ist auch von Interesse, welche kol-lektiven Bewältigungsformen im Kreis der Gleichaltrigen verhandelt werden und welche Deutungsangebote das jeweilige Umfeld vermittelt (Schittenhelm 2005a).

17 Hier ist anzumerken, dass diese Suchstrategien für solche Verfahren erforderlich sind, deren komparative Analyse auf empirischen Vergleichsfällen beruht und nicht in erster Linie gedanken-experimentell am Einzelfall durchgeführt wird.

418 Karin Schittenhelm

Selbst wenn Übergänge eher vereinzelt, z. B. auf indirekten Wegen in den aka-demischen Beruf (vgl. Schittenhelm 2012) vollzogen werden, sind Personen in sozia le Beziehungen eingebunden, die potenziell für ihre beruflichen Orientie-rungen von Einfl uss werden. Ein Bildungstitel verwertet sich also nicht per se, sondern erst vermittelt über das soziale Handeln der jeweiligen Personen, die überdies in vielfältige Beziehungen eingebunden sind. Von Interesse sind daher die biografi schen Erfahrungen und sozialen Lagen im Verlauf eines solchen Über-gangs einschließlich der währenddessen erfahrenen sozialen Interaktionen.

3.1 Trajectories – ein Konzept zur Analyse der Verlaufsdynamik von Übergangsprozessen

Meine bisherigen Überlegungen zu Statusübergängen als Gegenstand einer qua-litativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung beinhalten eine akteurszentrierte Perspektive. Der Blick richtet sich auf das Handeln und das jeweilige Umfeld der Trägerinnen und Träger von Bildungstiteln. Wie nehmen sie die Anforderungen eines Statusübergangs wahr und wie suchen sie diese zu bewältigen ? Insofern zäh-len deren Erfahrungs- und Bewältigungsmodi zwar zu den als relevant erach-teten Voraussetzungen für den Verlauf eines Statusübergangs, dennoch wäre es eine Illusion,18 von einer absichtsvollen Planung desselben auszugehen. Ein Blick auf die Akteure kann nicht per se eine Gestaltbarkeit der jeweiligen Übergangs-prozesse voraussetzen, noch können die Intentionen einer Person als ursächlich für ihren später übernommenen Status gelten. Selbst wenn der jeweilige Status-übergang, z. B. der Berufseinstieg nach dem Abschluss einer Ausbildung, mit den Orientierungen und Strategien einer Person in Verbindung steht, sind die Über-gänge und insbesondere deren langfristige Wirkungen nicht notwendigerweise intendiert und insofern nicht lediglich als Resultat eines absichtsvollen Handelns zu verstehen.19

In Debatten der qualitativen Sozialforschung diente das Konzept ‚trajectories‘ dazu, Prozessverläufe in der Lebensgeschichte zu verstehen, die eine soziale Ei-genlogik aufweisen (Strübing 2007: 118 f.). Von Anselm Strauss (1991: 149 – 174) wurde es wiederholt dafür verwendet, Prozesse des Erleidens und des Kontroll-verlusts dazustellen (vgl. Riemann / Schütze 1991). Selbst wenn soziale Prozesse

18 Siehe hierzu die Kritik Bourdieus (1986) an Vorstellungen zu einer vermeintlichen Gestaltbarkeit solcher Prozesse.

19 Vgl. hierzu und zum Konzept ‚trajectory‘ auch Schittenhelm (2011).

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 419

keine dramatischen Folgen haben, können sie sich jedoch den Kontrollmöglich-keiten Einzelner entziehen. Wie Glaser und Strauss (1971) hervorhoben, ist allein schon die Ergebnisoff enheit von Statuspassagen ein Grund dafür, dass sie nicht nur zu unerwarteten, sondern auch zu unerwünschten Ergebnissen führen (Gla-ser / Strauss 1971: 106). Wenn es nicht möglich ist, eine anschließende Karriere im Vorfeld zu kennen, kann ein Statusübergang auch unerwünschte Folgen haben und das Ausbrechen aus einem einmal eingeschlagenen Weg durchaus schwie-rig sein. In dieser Hinsicht ist ‚trajectories‘ als Konzept hilfreich, um Bildungs- und Berufsverläufe in ihrer Prozesshaft igkeit zu verstehen (Grathoff 1991). In der deutschsprachigen Biografi eforschung wurde es von Schütze (1999) zur Analyse von Prozessstrukturen in der Lebensgeschichte verwendet, die sich durch Kon-trollverlust und ein Erleiden des jeweiligen Verlaufs auszeichnen.20 In theoreti-schen Debatten der Lebenslaufforschung bezeichnet es dagegen weniger eine spe-zifi sche Verlaufsform als eine Sequenz von Übergängen und Lebensereignissen sowie deren wechselseitige Einfl ussnahme im zeitlichen Verlauf (Sackmann / Win-gens 2001a). Insofern ist es hier nicht an Prozesse des Erleidens gebunden. Statt-dessen bezieht es sich auf das Verhältnis zwischen einzelnen Übergängen und diversen Ereignissen in der Lebensgeschichte einer Person und weist auf eine Struktur und Genese sozialer Prozesse hin. Über die ausgeführten Unterschiede hinweg zeichnen sich die genannten Debatten jedoch dadurch aus, dass auch die Verlaufsdynamik biografi scher Prozesse und die nicht intendierten Folgen von Statusübergängen ins Blickfeld der Analyse geraten.

Eine Verlaufsdynamik von Übergangsprozessen beinhaltet, dass die Art und Weise, wie vorherige Phasen ablaufen, zur Voraussetzung für den weiteren Werde-gang der betreff enden Person wird. Neben Analysen der für eine Person erreich-baren Statuspositionen und der im jeweiligen sozialen Umfeld der Familie und Gleichaltrigen vermittelten Wissensbestände geht es in der Übergangsforschung daher auch um die zeitliche Abfolge einzelner Phasen und Stationen sowie um die Dynamik der damit einhergehenden sozialen Prozesse. Wie verliefen bishe-rige Phasen und welche biografi schen Wissensbestände wurden dabei erworben ? Welches sind die jeweiligen Folgen einer vorhergehenden Phase und inwiefern werden sie zur Voraussetzung für den weiteren Verlauf eines Statusübergangs ?

20 In der Biografi eforschung wurden Prozessstrukturen des Lebenslaufs von Schütze (1983) als übertragbar dargestellt; er spricht dabei auch von ‚Verlaufskurven‘, wenn sich ein Kontrollverlust herstellt (Schütze 1999). Siehe auch den Beitrag von Schröder-Wildhagen in diesem Band.

420 Karin Schittenhelm

3.2 Soziale Typiken der Verlaufsprozesse

Was kann nun das Erkenntnisziel einer Analyse solcher Übergangsprozesse sein ? In welcher Hinsicht sind die Ergebnisse über den je einzelnen Fall hinaus von Bedeutung ? Eine Aussage über eine solche Übertragbarkeit kann soziale Regel-mäßigkeiten der unterschiedlichsten Art bezeichnen, etwa typische Abfolgen von Phasen, Stationen und Bewältigungsmustern oder auch Bewältigungsstrategien, die spezifi sche Orientierungsrahmen aufweisen und auf der Grundlage sozialer Lagen entstehen. Qualitative Untersuchungen haben diverse Bewältigungsstrate-gien von Schulabgängerinnen im Verlauf ihrer Berufsfi ndung ermittelt, die fall-übergreifend zu beobachten waren (vgl. Schittenhelm 2005a, b). Ein Verlaufspro-zess zeichnete sich beispielsweise dadurch aus, dass sich die Schulabgängerinnen anhand der Erfahrung von Chancenlosigkeit im ursprünglich anvisierten Beruf nochmals umorientieren, bestehende Aspirationen nicht weiter verfolgen und sich lediglich auf noch erreichbare Optionen zurückziehen.21 Die Erkenntnis einer Regelmäßigkeit, d. h. eines wiederholten Auftretens ein- und derselben Abläufe von Phasen und Bewältigungsformen, ist ein erster Schritt, um das poten ziell Übertragbare eines Falles zu erkennen. Er verhilft zu einem Verständnis davon, in welcher Hinsicht von den Besonderheiten eines Falls abstrahiert werden kann, und welche der vorliegenden Befunde über den einzelnen Fall hinaus von Bedeu-tung sind (vgl. Soeff ner 2006: 61 – 62). Der nächste Schritt wäre die Erkenntnis, unter welchen Bedingungen die Befunde übertragbar sind, d. h. auf welche Kon-textbedingungen beispielsweise ein vorliegendes Verlaufsmuster zutrifft und an-hand welcher weiteren Fälle es sich ebenfalls zeigt. Eine solche Suche dient dazu, die jeweiligen Entstehungsbedingungen zu ermitteln, die gegeben sein müssen, damit der betreff ende Ablauf eines Übergangs in eine berufliche Ausbildung mit den beobachteten Bewältigungsformen und Handlungsstrategien reproduziert wird.22 Geht es um eine soziale Regelhaft igkeit der Befunde, etwa um wiederkeh-rende Sinnmuster und Handlungsstrategien, zeichnet sich diese in der qualita-tiven Sozialforschung nicht unbedingt dadurch aus, dass ein Phänomen beson-ders häufi g vorkommt (vgl. Brose / Wohlrab-Sahr / Corsten 1993: 72 f.; Rosenthal 1995: 211). Das Interesse gilt vielmehr der Beschaff enheit des Phänomens und sei-

21 In der bekannten Studie von Heinz et al. wurde ein vergleichbares Bewältigungsmuster bereits früh aufgezeigt, das Autoren-Team spricht hier von einer ‚Optionslogik‘ (Heinz et al. 1987).

22 In der dokumentarischen Methode ist bei dem ersten Schritt von einer sinngenetischen Typen-bildung und beim zweiten Schritt von einer soziogenetischen Typenbildung die Rede (Bohnsack 2007), siehe zur Typenbildung der dokumentarischen Methode auch den Beitrag von Arnd-Mi-chael Nohl in diesem Band.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 421

nen Entstehungsbedingungen, d. h. z. B. den Bedingungen, unter denen die jewei-ligen Verlaufsprozesse eines Statusübergangs entstehen.

Die Frage, inwiefern sich eine Geschlechtstypik beobachten lässt, kann bei-spielsweise dahingehend betrachtet werden, wie und unter welchen Vorausset-zungen sich Geschlechterunterschiede im Verlauf eines Übergangs herstellen. Auf diese Weise wird nach Herstellungsmodi von „Geschlecht“ gefragt, z. B. nach den Voraussetzungen dafür, warum junge Frauen in ‚feminisierte‘ Ausbildungsberufe einmünden, d. h. in Berufe, die wie derjenige der Arzthelferin oder der Erzieherin mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden. Dies entspricht einem sozialkonstruk-tivistischen Ansatz in der Geschlechterforschung, wonach die Herstellung von Geschlechterunterschieden zum Gegenstand der Analyse wird, statt in sozialwis-senschaft lichen Analysen Frauen oder Männer vorweg als verschieden voraus-zusetzen.23 Wer nach einer Herstellung von Geschlechterunterschieden während des Übergangs in einen Beruf fragt, fi ndet beispielsweise den Befund vor, wonach ein solcher Einstieg auf dem o. g. Verlaufsprozess beruht. Dies würde bedeuten, dass die betreff ende Schulabgängerin ursprünglich einen ganz anderen Berufs-wunsch im Auge hat, nach vielen Absagen aber schließlich ihre Erfahrung einer Chancenlosigkeit durch einen Rückzug auf noch erreichbare Optionen zu bewäl-tigen sucht und beispielsweise eine Ausbildung zur Erzieherin beginnt. Zu fragen wäre dann, inwiefern es noch weitere Übergänge gibt, die in „feminisierte“ Be-rufe führen, aber auf andere Weise zustande kommen – beispielsweise aufgrund eigener Berufswünsche oder indem sich Schulabgängerinnen an jungen Frauen ihres sozialen Umfeldes (z. B. Schwestern, Freundinnen) orientieren. Es wäre also nach verschiedenen ‚Herstellungsmodi von Geschlecht‘ zu fragen wie auch da-nach, unter welchen Bedingungen sie zu beobachten sind oder auch nicht.24 Eine geschlechterbezogene Fragestellung richtet sich hier also nicht in erster Linie dar-auf, ob Befunde jeweils bei Frauen oder Männern zu beobachten sind. Stattdessen interessieren Herstellungsmodi von Geschlechterunterschieden und damit ein-hergehende Regelmäßigkeiten der Übergänge in den Arbeitsmarkt. Je nach Un-tersuchungsfeld ist dabei ein mögliches Zusammenwirken der Herstellung von ,Geschlecht‘ und anderer ungleichheitsrelevanter Unterscheidungen ein Gegen-stand der Analyse.

23 Exemplarisch hierzu Lorber (2004) sowie unter Beachtung weiterer Diff erenzierungen bzw. ei-ner Intersektion mehrerer ungleichheitsrelevanter Kategorien, wie etwa Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Glenn (1999).

24 Entsprechende Ansätze fi nden sich auch in der ethnografi schen Forschung, die nach einer inter-aktiven Herstellung von Geschlechterunterschieden fragt – exemplarisch hierzu Kelle (1999).

422 Karin Schittenhelm

4 Forschungsbeispiele: Vergleichende Analysen von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt

Wie bisher dargestellt, ermöglichen komparative Analysen, hoch ausdiff erenzierte Bildungs- und Berufslaufbahnen mit Blick auf weiterreichende Übergangs- und Verlaufsmuster und deren soziale Voraussetzungen zu untersuchen. Angesichts von Europäisierung und internationaler Migration bieten interkulturell und län-derübergreifend angelegte Untersuchungen die Gelegenheit, damit einhergehende Folgen, wie beispielsweise eine transnationale Mobilität oder Versuche einer An-gleichung europäischer Bildungssysteme, zu analysieren.25 Die damit einherge-henden komplexen Untersuchungsanlagen stellen besondere Anforderungen an qualitative Samplings. Nach den bisherigen Überlegungen zielen Strategien einer Fallauswahl darauf ab, ein durch die Forschungsfrage eröff netes Untersuchungs-feld mit seinen theoretisch relevanten Varianten zu erfassen. Was prinzipiell für qualitative Samplings gilt, gewinnt bei vergleichenden Untersuchungen nochmals eine besondere Bedeutung: In qualitativen Untersuchungen werden nicht in erster Linie die gesamten Samples der jeweiligen Vergleichseinheiten gegenübergestellt. In einem deutsch-britischen Vergleich von Bildungs- und Berufsbiografi en Er-wachsener mit Migrationshintergrund werden also beispielsweise nicht alle Fälle des einen oder des anderen Länderkontextes in ihrer Gesamtheit verglichen. Es werden ausgewählte Fälle und Fallgruppen des jeweiligen Kontextes gegenüber-gestellt. Die Fallauswahl in der Erhebung und Auswertung entscheidet jedoch dar über, inwiefern für die jeweiligen Vergleichseinheiten auch äquivalente Fälle vorliegen. Auf diese Weise kann die komparative Analyse die je unterschiedlichen Rahmenbedingungen, z. B. von Selektionsvorgängen innerhalb der Bildungs-einrichtungen des einen wie des anderen Landes, anhand einer Gegenüberstel-lung von ausgewählten Fällen betrachten.

Der ‚gemeinsame Denkraum‘ (Matthes 1992a), den ein solcher Vergleich eröff -net, beruht darauf, inwiefern die in den Vergleich einbezogenen Untersuchungs-einheiten durch eine geeignete Fallauswahl ‚erschlossen‘ wurden. Inwieweit es gelingt, Varianten im Binnenraum der berücksichtigten Untersuchungs- und Ver-gleichseinheiten systematisch zu ermitteln, ist entscheidend dafür, ob die jewei-lige Fallauswahl in äquivalenter Weise die eine wie die andere Vergleichs einheit abdecken kann. Die folgenden Beispiele zeigen Möglichkeiten dafür auf, wie Stra-tegien der Fallauswahl in komplexen Untersuchungsanlagen mit einer theoreti-

25 Siehe zu Vergleichen in qualitativen Untersuchungsanlagen auch den Beitrag von Uta Liebeskind in diesem Band.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 423

schen Fokussierung einhergehen, auf die sich im weiteren Verlauf einer Unter-suchung die Auswahlentscheidungen eines Samplings konzentrierten.

4.1 Fokussierte Vergleiche durch Auswahl und Gewichtung der Vergleichseinheiten

Mein erstes Beispiel bezieht sich auf eine Untersuchung zum Statusübergang junger Frauen zwischen Schule und Berufsausbildung im interkulturellen Ver-gleich (Schittenhelm 2005a, b), die deren soziale Lagen, Lebensstile und Orien-tierungen mit Hilfe von Gruppendiskussionen und qualitativen Einzelinterviews unter suchte.26 Die interkulturell vergleichende Untersuchungsanlage sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass die betreff ende Bildungslaufbahn von einhei-mischen Schulabgängerinnen wie auch von solchen mit Migrationshintergrund absolviert wird. Eine zentrale Frage war, wie sich ‚Geschlecht‘ in Verbindung mit weiteren Merkmalen sozialer Lagen auf den Verlauf von Bildungs- und Berufsbio-grafi en auswirkte. Während der Statusübergänge zeigt sich, wie es dazu kommt, dass junge Frauen nur wenige Ausbildungsberufe erlernen, die zudem nach vor-liegenden Erkenntnissen (vgl. Granato / Schittenhelm 2004) – im Verhältnis zu den von jungen Männern bevorzugten Berufen – eher geringe Chancen auf eine spätere Beschäft igung eröff nen. Das Interesse galt auf Basis eines sozialkonstruk-tivistischen Ansatzes einer Herstellung oder Auflösung von Geschlechtergrenzen im Verlauf der Statuspassage sowie dem Zusammenwirken von ‚Geschlecht‘ mit weiteren ungleichheitsrelevanten Dimensionen.

Die Auswertung mit der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2010a) und der damit einhergehenden komparativen Analyse verfolgte in der interkulturell angelegten Untersuchung neben einer Typenbildung auch eine Kontroll-Funk-tion: Die Berufsfi ndung junger Frauen mit Migrationshintergrund sollte nicht lediglich vor dem alltagsweltlichen Horizont der – in diesem Fall – ‚einheimi-schen‘ Forscherin interpretiert werden, sondern im Verhältnis zu empirischen Vergleichsfällen (Schittenhelm 2005a). Es galt zu vermeiden, dass Bildungs- und Berufsbiografi en von Jugendlichen mit Migrationshintergrund implizit mit Blick auf vermeintlich gut integrierte Einheimische interpretiert werden, ohne dass sol-che Konstruktionen refl ektiert oder gar empirisch abgesichert wären. Ein Ver-gleich ermöglicht hier also, die biografi schen Erfahrungen junger Migrantinnen mit Blick auf sonstige, empirisch zu beobachtende Optionen und Risiken wäh-

26 Zu weiteren Details siehe Schittenhelm 2005a: 273 f.

424 Karin Schittenhelm

rend des Statusübergangs zu verstehen. Eine Standortbezogenheit der Forschen-den lässt sich damit nicht auflösen, aber es ist eine unter anderen Möglichkeiten, diese im Verlauf der Untersuchung zu refl ektieren (s. a. Nohl 2007).

Es war zu Beginn eine off ene Frage, ob und inwieweit sich die jungen Frauen der jeweiligen Vergleichsgruppen hinsichtlich ihres Such- und Orientierungsver-haltens während des Übergangs unterscheiden. Im Berlin der ausgehenden 1990er Jahre fanden Schulabgängerinnen ost- und westdeutscher Herkunft denselben lo-kalen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt vor.27 Die Teilnehmerinnen waren zu dieser Zeit durch das Aufsuchen von Anlaufstellen in Stadtteilen des ehemaligen Ost- und Westberlins anzutreff en. Zudem ist anzumerken, dass die Schulabgängerin-nen mit Migrationshintergrund in Deutschland aufgewachsen waren. Es handelte sich um so genannte „Bildungsinländerinnen“, die über einen formal gleichbe-rechtigten Zugang zum Ausbildungsmarkt verfügten und durch ihr Aufwachsen im Ankunft sland an jugend- und geschlechterbezogene Entwicklungen desselben teilhatten. Die Vergleichsgruppen hatten insofern denselben Bildungstitel, den mittleren Schulabschluss,28 und waren dabei, diesen im selben lokalen Arbeits-markt umzusetzen. Die Frage war, wie sie die Anforderungen des Statusübergangs zu bewältigen suchten und ob sich im interkulturellen Vergleich Gemeinsamkei-ten oder Unterschiede aufzeigen lassen. Unter diesen Voraussetzungen strebte das Sampling an, im Verhältnis zwischen den Vergleichsgruppen auf eine Äquiva-lenz29 der erhobenen Fälle zu achten sowie Varianten innerhalb derselben zu be-rücksichtigen (Schittenhelm 2005a: 292).

Die Ansprüche an das Sampling stellten sich im Verlauf der Feldforschung als Schwierigkeit heraus. Der Kontakt wurde zunächst über Jugendfreizeiteinrichtun-gen oder Beratungsstellen aufgenommen. Junge Frauen waren im Verhältnis zu jungen Männern aber wesentlich seltener in der Öff entlichkeit von Jugendfrei-zeiteinrichtungen anzutreff en, was den Feldzugang insgesamt erschwerte. Dar-

27 Es ging insofern nicht um einen Ost-West-Vergleich, der die beiden ehemaligen deutschen Staa-ten bzw. Regionen innerhalb derselben gegenüberstellt.

28 Das Sampling bezog sich auf junge Frauen, die von der Realschule bzw. mit einem vergleichbaren Abschluss von den Berliner Gesamtschulen den Übergang in den Ausbildungsmarkt anstrebten bzw. bereits vollzogen hatten. Da sich die Gruppendiskussionen an den Gesellungsformen der jungen Frauen orientierten, waren in diesem Erhebungsschritt noch vereinzelt junge Frauen mit Hauptschulabschluss beteiligt, sofern sie von einer anderen Teilnehmerin mitgebracht wurden (siehe zur Untersuchungsanlage Schittenhelm 2005a: 273 ff.).

29 ‚Äquivalenz‘ bezog sich nicht auf dieselbe Fallzahl; die Aufmerksamkeit richtete sich darauf, einheimische Teilnehmerinnen und solche mit Migrationshintergrund einzubeziehen, die mit Blick auf sonstige Bedingungen über äquivalente Voraussetzungen verfügten (vgl. Schittenhelm 2005a: 292 f.).

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 425

über hinaus waren die Vergleichsgruppen nicht in ebenbürtiger Weise erreichbar. Jugendfreizeitheime in den Stadtteilen des ehemaligen Ost-Berlins waren noch Treff punkt von ortsansässigen einheimischen Heranwachsenden, womit sich der Kontakt zu Schulabgängerinnen ostdeutscher Herkunft gut herstellen ließ. In den Stadtteilen des ehemaligen West-Berlins waren Jugendfreizeitheime bevor-zugter Treff punkt von jungen Männern mit Migrationshintergrund. Dort waren junge Frauen mit Migrationshintergrund, insbesondere über spezielle Angebote für Mädchen, ebenfalls gut ansprechbar, nicht jedoch junge Frauen westdeutscher Herkunft . Die Vergleichsgruppen waren also nicht über dieselben Zugangswege erreichbar, weshalb zusätzliche Clubs – z. B. kirchliche Angebote und Sportclubs – aufgesucht wurden, um junge Frauen westdeutscher Herkunft anzusprechen. Die Erhebung erforderte daher einen hohen zeitlichen Aufwand, ohne wirklich zum erwünschten Ziel zu kommen.30

Angesichts der Erfahrungen während der Feldforschung, erschien es im wei-teren Verlauf ratsam, einen fokussierten Vergleich durchzuführen, nämlich eine Vergleichsgruppe schwerpunktmäßig zu untersuchen und dazu relevante Fälle aus anderen Gruppen heranzuziehen. Nachdem der Schwerpunkt auf junge Frauen mit Migrationshintergrund gelegt war, ging es in der Auswertung zunächst darum, deren Orientierungen und Bewältigungsformen zu ermitteln und mit Blick auf ihre Voraussetzungen zu refl ektieren. In einem weiteren Schritt ließ sich über-prüfen, ob Übergangswege und Bewältigungsformen als spezifi sch für diese eine Gruppe oder als übergreifend gültig für junge Frauen dieser Bildungslaufbahn zu verstehen sind. D. h. sind deren Lebensverhältnisse konstitutiv für einen Werde-gang oder – im Umkehrschluss – zeigt sich dieser auch bei den übrigen jungen Frauen, womit sich übergreifende Bedingungen, z. B. eine gemeinsame Klassen-lage innerhalb des sozialen Feldes der Ausbildungsberufe, als ausschlaggebend erweisen würden. Dabei ließ sich zeigen, dass die während der Untersuchung ermittelten vier typischen Verlaufsprozesse der Statusübergänge bei den jungen Frauen mit Migrationshintergrund wie auch bei den weiteren Vergleichsgruppen zu fi nden waren (Schittenhelm 2005a, b). Für die Teilnehmerinnen mit Migra-tionshintergrund ließen sich weiterhin spezifi sche Statusdiskontinuitäten im Ver-hältnis zum Elternhaus wie auch erfahrene Fremdzuschreibungen aufzeigen.

30 Insbesondere in den Stadtteilen des ehemaligen West-Berlins stellten die an den unterschiedli-chen Orten angetroff enen jungen Frauen westdeutscher Herkunft keine äquivalente Auswahl zu den auch zahlenmäßig weit besser einbezogenen Teilnehmerinnen mit Migrationshintergrund dar, siehe ausführlicher Schittenhelm (2005a: 278 – 279)

426 Karin Schittenhelm

Mit einem fokussierten Vergleich wurde jedoch zugleich der Anspruch aufge-geben, innerhalb aller Vergleichsgruppen die Binnenvarianz möglicher Orientie-rungen und Bewältigungsformen in dieser Lebensphase zu ermitteln. Die Sam-pling-Strategie konnte sich dann aber darauf konzentrieren, für die fokussierte Vergleichsgruppe das Spektrum möglichst umfassend abzudecken und die hier als theoretisch interessant erachteten Fälle systematisch zu erfassen. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf verschiedene Vergleichsgruppen gleichermaßen, wird es da-gegen schwierig, für alle eine theoretische Sättigung zu erreichen bzw. das jewei-lige Spektrum an Varianten, die ein Forschungsfeld hergibt, gleichermaßen abzu-decken. Der fokussierte Vergleich hatte zur Folge, dass sich die Fallauswahl zwar auf ein eingeschränktes Spektrum bezog, für dieses konnte die Gültigkeit und Reichweite der vorliegenden Befunde jedoch systematischer überprüft werden.

4.2 Fokussierte Vergleiche anhand ausgewählter Fallgruppen

Eine weitere Möglichkeit der Fokussierung ist die Bildung von Fallgruppen in-nerhalb oder auch quer zu komplexen Untersuchungseinheiten. Auf diese Weise werden z. B. Länderkontexte weder anhand des jeweiligen Samples insgesamt ver-glichen, noch beschränkt sich die Analyse lediglich auf eine Gegenüberstellung von Einzelfällen. Stattdessen erlauben Fallgruppen, die Vergleiche anhand äquiva-lenter ‚Ausschnitte‘ des jeweiligen Länderkontextes vorzunehmen. Komparative Analysen auf der Grundlage von Fallgruppen fi nden sich bereits in den Über-legungen von Glaser und Strauss (1967: 47 – 48). Strategien des kontinuierlichen Vergleichs und die Suche nach relevanten Fällen in der Feldforschung beziehen sich demnach auch auf Fallgruppen.31 Im Rahmen off ener oder auch rekonstruk-tiver Forschungsstrategien können sich Forschende anhand von Merkmalen, die sich im Verlauf einer Erhebung als relevant erweisen, während ihrer Erhebung und Auswertung über die Bildung von Fallgruppen verständigen.

So ließen sich bei der Analyse des Ausbildungseinstiegs junger Frauen inner-halb der jeweiligen Vergleichsgruppen solche Teilnehmerinnen unterscheiden, die eher bildungs- und berufsorientiert waren, wie auch solche, die eine Freizeit-orientierung vorwiesen. Um die Relevanz des Herkunft smilieus zu verstehen, wurden junge Migrantinnen und Einheimische entsprechend der je äquivalenten Fallgruppen verglichen (Schittenhelm 2005a: 134 f.). Die Bildung von Fallgruppen diente hier einer Diskussion von Merkmalen, die sich während der Auswertung

31 Glaser und Strauss sprechen von ‚comparison groups‘ (Glaser / Strauss 1967: 47).

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 427

als relevant herausstellten, und verhalf dazu, ihre Verteilung im vorhandenen Sample zu berücksichtigen.32 Insbesondere bei komplexen Untersuchungsein-heiten ermöglicht es die Bildung von Fallgruppen, während der Feldforschung eine äquivalente Fokussierung für die jeweilige Fallauswahl vorzunehmen. Eine Äquivalenz des Samplings in vergleichenden Untersuchungen bedeutet, die je-weilige Fallauswahl entlang der Prinzipien eines qualitativen Samplings nicht nur mit Blick auf eine Vergleichseinheit für sich genommen zu refl ektieren. Dar über hinaus ist ein Sampling für die relevanten Vergleichseinheiten so aufeinander ab-zustimmen, dass eine äquivalente Fallauswahl im einen wie im anderen Kontext gewährleistet ist. Dies kann auch geschehen, indem ein länderübergreifendes Falluniversum mit Erhebungen an unterschiedlichen Untersuchungsstandorten angestrebt wird und der jeweilige Länderkontext nicht vorweg zu Teil-Samples führt.33 Sind die Auswahlkriterien an den unterschiedlichen Erhebungsstand-orten nicht systematisch aufeinander abgestimmt, können sich die zu verglei-chenden Einheiten allein schon durch die Verschiedenheit der – beabsichtigten und nicht intendierten – Auswahlprozesse unterschiedlich darstellen, was dann jedoch wenig aussagekräft ig ist, sondern lediglich das Resultat der Auswahlpraxis im Verlauf der Erhebung darstellt.

In einer Untersuchung zur Berufsfi ndung von hochqualifi zierten Angehöri-gen der zweiten Migrantengeneration in Deutschland und Großbritannien (Schit-tenhelm / Hatzidimitriadou 2010) wurden die o. g. methodologischen Prinzipien in der Weise umgesetzt, dass die Untersuchungseinheiten – d. h. die Länderkon-texte – mit Blick auf ihre möglichen Varianten untergliedert wurden. Das Sam-pling zog dafür erste Befunde in Betracht, wonach die Berufsfi ndung durch lo-kale Unterschiede – z. B. Metropolen einerseits oder kleinstädtische Regionen mit ihren lokalen Gelegenheitsstrukturen andererseits – beeinfl usst wird. Dafür wur-den Kriterien zur Unterscheidung lokaler Unterschiede im Binnenraum der Län-derkontexte vereinbart, die in beiden Teil-Samples zu berücksichtigen waren. Die Forschungsteams in Großbritannien und in Deutschland beachteten Metropolen mit einer hohen Konzentration von Zugewanderten und spezifi schen Standort-faktoren für lokale Arbeitsmärkte wie auch kleinstädtische Regionen mit einer geringeren Konzentration zugewanderter Populationen. In den jeweiligen Sam-

32 Im weiteren Verlauf entwickelte sich daraus auch eine Typenbildung (Schittenhelm 2005a: 296 f.).33 Dies hängt auch davon ab, wie eine Untersuchung organisiert wird, z. B. durch Forschungsteams

in den jeweiligen Ländern oder über ein Team bzw. eine Person und deren Forschungsaufent-halte an verschiedenen Standorten der Erhebung. An der Befragung waren Forschungsteams an der Universität Siegen sowie an der University of Kent in Canterbury beteiligt (vgl. Schittenhelm /Hatzidimitriadou 2010).

428 Karin Schittenhelm

ples wurden also Auswahlkriterien in aufeinander abgestimmter Weise beachtet, um zu gewährleisten, dass sie jeweils ein äquivalentes Variantenspektrum in Bin-nenraum der Länderkontexte umfassen.34 Jenseits potenzieller Unterschiede zwi-schen den Einwanderungsländern tragen die zuletzt genannten Faktoren jeweils innerhalb der Länderkontexte bereits zu einer Berücksichtigung einer Varianz bei.

Eine vergleichende Untersuchung bringt insofern zusätzliche Fallstricke mit sich, indem Einschränkungen der Fallauswahl von ihren Folgen her gravierender werden: Fragwürdige Auswahlprozesse haben hier nicht nur die Folge, dass sie eine Untersuchungseinheit unzulänglich oder in unbeabsichtigter Weise selektiv abbilden, sondern darüber hinaus im Vergleich zwischen Untersuchungseinhei-ten zu Fehlschlüssen führen. In der o. g. Untersuchung sollte vermieden werden, dass für die Befragung Personen so rekrutiert werden, dass sie eine verschiedene Auswahl im jeweiligen Länderkontext abdecken. Falls erste Ansprechpersonen z. B. ein je unterschiedliches Spektrum möglicher Arbeitsmarktzugänge verkör-pern und die Auswahl über diese Erstkontakte verlief, kann eine solche Rekrutie-rung zu Samples führen, die beispielsweise im einen Land eher die erfolgreichen, im anderen Land eher die ausgegrenzten Personen umfasst. Ähnliche Schwierig-keiten treten auf, wenn Zugangswege oder die sich unter der Hand durchsetzen-den Auswahlkriterien nicht refl ektiert und somit in den Untersuchungseinheiten auch nicht aufeinander abgestimmt werden.35 Die Auswahlkriterien des Sam-plings sind bei vergleichenden Untersuchungen in zweierlei Richtung zu refl ek-tieren: inwiefern sie ausreichend eine Binnenvarianz der Untersuchungseinheiten beachten und ob es sich im Vergleich der jeweiligen Einheiten um eine äquiva-lente Auswahl von Fällen handelt.

Zu bedenken ist auch, dass im Verlauf einer vergleichenden Untersuchung eine Neubewertung der in den Vergleich einbezogenen Untersuchungseinheiten erfolgen kann – insbesondere, wenn sie auf rekonstruktiven Forschungsperspek-tiven beruht, die Revisionen der zunächst vorhandenen Auffassungen vorsehen. Wenn eine Untersuchung mit einer solch off enen Forschungsstrategie vorgeht, gewinnen unter Umständen einzelne Dimensionen, die zunächst noch weni-ger beachtet wurden, im weiteren Verlauf an Bedeutung und können die Bewer-tung der Untersuchungsanlage und des bisherigen Samples verändern. Um auf das zunächst genannte Forschungsbeispiel zurückzukommen: Bei der Planung

34 Zudem wurde durch weitere Faktoren, wie z. B. Berufsgruppen, Geschlecht oder verschiedene Zugangswege eine breite Varianz gewährleistet.

35 Zu nicht intendierten Selektionen der Fallauswahl im Verlauf der Feldforschung siehe Schitten-helm (2009: 20 f.)

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 429

der Untersuchung war davon auszugehen, dass die jungen Frauen aus einheimi-schen und eingewanderten Milieus die Statuspassage unter vergleichbaren Be-dingungen absolvieren würden. Neben den Bildungstiteln und demselben loka-len Arbeitsmarkt hatten jedoch im Verlauf der Untersuchung weitere Umstände eine Beachtung gefunden: Die Eltern der einheimischen Teilnehmerinnen waren nahe zu ausschließlich in Facharbeiter-, Handwerks- oder Dienstleistungsberufen tätig, die eine berufspraktische Ausbildung voraussetzen. An diesem Punkt wie-sen die einheimischen Teilnehmerinnen ost- und westdeutscher Herkunft Paral-lelen auf und unterschieden sich von den eingewanderten jungen Frauen, die das soziale Feld der praktischen Ausbildungsberufe als „Neuankömmlinge“ betraten (Schittenhelm 2005a: 215). In ihrem Fall waren die Eltern als ungelernte Indus-triearbeiter oder im prekären Sektor der Dienstleistungsbranche tätig.36 Damit spiegelten die in den Vergleich einbezogenen Gruppen eine je unterschiedliche Auswahl innerhalb ihres Herkunft smilieus wider: Die jungen Migrantinnen in der beruflichen Bildung gehörten zu den sozial Mobilen innerhalb ihres Herkunft s-milieus, die dabei waren, im Verhältnis zur Elterngeneration eine verbesserte Sta-tusposition zu übernehmen. Sie betraten das Feld der sozialen Ausbildungsberufe im Einwanderungsland in der ersten Generation, während die befragten Einhei-mischen die Stellung bereits über die Eltern vermittelt bekamen und die sozial Mobilen ihres Herkunft smilieus diese Bildungslaufbahn bereits wieder verlassen haben. Mit Blick auf bestimmte Dimensionen konnten die Vergleichsgruppen in-sofern nicht als Pendant gelten. Eine mögliche Beschränkung des Vergleichs auf ausgewählte Dimensionen und als äquivalent erachtete Fallgruppen beruht inso-fern auch auf einer Neubewertung von Ausgangsbedingungen der komparativen Untersuchung.

Die Bildung von Fallgruppen kann zu unterschiedlichen Phasen eines Unter-suchungsablaufes stattfi nden und auch revidiert werden. Bildung und Auswahl von Fallgruppen, auf die sich der Vergleich zunehmend fokussiert, sind auch möglich, nachdem die Erhebung bereits abgeschlossen wurde und bereits eine Ty-penbildung vorliegt. Arnd-Michel Nohl schlägt für vergleichende Untersuchun-gen ein mehrstufi ges Verfahren der Typenbildung vor, das eine Typik innerhalb der beteiligten Versuchseinheiten ermittelt, um auf dieser Grundlage in weite-ren Vergleichseinheiten nach äquivalenten, „typologisch situierten Fallgruppen“ (Nohl 2009) zu suchen. Im Rahmen eines Mehrebenen-Vergleichs werden dabei jeweils komparative Analysen auf Basis von Fallgruppen durchgeführt.

36 Dies schließt nicht aus, dass sie auch über eine berufliche Ausbildung verfügten, diese aber im Zuwanderungsland nicht realisieren konnten.

430 Karin Schittenhelm

Prinzipiell ermöglicht die Bildung von Fallgruppen, die Untersuchungsein-heiten auf der Grundlage einer theoretischen Fokussierung zu vergleichen. Ein solches Vorgehen bietet sich insbesondere an, wenn die für den Vergleich aus-gewählten Untersuchungseinheiten komplex sind und eine hohe Binnenvarianz aufweisen, wie beispielsweise bei interkulturellen oder länderübergreifenden Ver-gleichen. Verglichen werden jeweils äquivalente Fallgruppen und nicht die Un-tersuchungseinheit anhand des gesamten Samples. Der Vergleich richtet sich stattdessen – entsprechend der schrittweise erarbeiteten theoretischen Fokussie-rung – auf ausgewählte Dimensionen und Teilbereiche, die sich anhand vorlie-gender Befunde als relevant herausgestellt haben.

5 Schlussdiskussion: Theoretische Fokussierung und Sampling

Qualitative Samplings sind nach den bisherigen Überlegungen weder durch eine besonders hohe Fallzahl bestimmt, noch geht es darum, Befunde durch eine häu-fi g wiederholte Beobachtung zu belegen. Wichtig ist vielmehr das Variantenspek-trum, das mit einer Fallauswahl abgedeckt ist, um den Geltungsbereich vorlie-gender Ergebnisse durch systematische komparative Analysen zu überprüfen. In komplexen Untersuchungsanlagen, in denen das jeweilige Untersuchungsfeld eine hohe Varianz aufweist, stellen sich besondere Anforderungen an qualita-tive Samplings. Diese bilden, wie eingangs dargestellt, die als theoretisch relevant erachteten Varianten eines Untersuchungsfeldes ab. In meinen abschließenden Überlegungen kommen Strategien einer theoretischen Fokussierung und syste-matischen Fallauswahl zunächst in vergleichenden Untersuchungen und abschlie-ßend mit Blick auf allgemeine Prinzipien zur Sprache.

5.1 Fokussierte Vergleiche

Je nach Untersuchungsanlage ist der Anspruch auf eine theoretische Sättigung nicht immer für alle Vergleichseinheiten realisierbar. Gehen Forschende dazu über, einen fokussierten Vergleich durchzuführen, indem sie eine im Zentrum stehende Untersuchungseinheit schwerpunktmäßig untersuchen, kann diese sys-tematisch erschlossen werden, ohne dass für alle weiteren eine theoretische Sät-tigung erreicht sein muss. Ein solches Vorgehen führt zu Ergebnissen für die je-weils fokussierte Untersuchungseinheit, die sich anhand komparativer Analysen hinsichtlich ihrer Reichweite und ihrer Entstehungsbedingungen beurteilen las-

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 431

sen. Der Vergleich dient dann einer Überprüfung der Frage, inwiefern Ergebnisse als spezifi sch für die fokussierte Vergleichseinheit gelten und welche der Befunde im Unterschied dazu übergreifend zu beobachten sind. Die Sampling-Strategie kann sich in einem solchen Fall darauf konzentrieren, lediglich für eine fokus-sierte Vergleichseinheit beispielsweise das Spektrum der Verläufe und die damit einhergehenden Voraussetzungen einer Berufsfi ndung möglichst umfassend zu ermitteln. Vergleichende Untersuchungen, die mit komplexen Vergleichseinhei-ten vorgehen – wie z. B. mit komparativen Analysen auf einer interkulturellen oder internationalen Ebene – werfen insofern auch Fragen nach einer modifi zier-ten Anwendung der Strategien qualitativer Samplings auf.

Eine weitere Form der Fokussierung besteht darin, dass Forschende Fall-gruppen bilden, um die komparative Analyse komplexer Untersuchungseinhei-ten auf empirisch ermittelte Teil-Gebiete derselben zu konzentrieren. Alternativ dazu sind auch solche Vergleichsuntersuchungen denkbar, die sich bereits vor-weg auf kleinere Untersuchungseinheiten beziehen, die dann auf größere Zusam-menhänge verweisen. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Ländervergleich anhand von Städten (Zuberi 2006) oder von ausgewählten Schulen (Schiff auer et al. 2002) durchgeführt wird. Auf diese Weise wird schon durch die Untersuchungsanlage eine Einheit für den Vergleich ausgewählt, die einen größeren Kontext, d. h. in diesem Falle einen Länderkontext, einer Analyse zugänglich macht. Allerdings ist hier zu bedenken, dass komplexe Vergleichseinheiten eine beachtliche Bin-nenvarianz aufweisen. Es lassen sich z. B. Fallbeispiele für Schulen fi nden, die be-reits innerhalb des jeweiligen Landes eine hohe Varianz aufweisen. Wenn aus-gewählte Schulen aus verschiedenen Ländern verglichen werden, kann insofern nicht immer als gesichert gelten, dass die entdeckten Unterschiede mit den je-weiligen Ländern zu tun haben (Nohl 2009: 96). Die im vorliegenden Beitrag zur Diskussion gestellten Verfahren bieten sich an, wenn ein Interesse daran be-steht, auf der Grundlage empirischer Befunde die relevanten Analyseeinheiten für den Vergleich erst noch zu entdecken und zu bestimmen. Die aufgezeigten Verfahren gehen dann jeweils mit einer theoretischen Fokussierung einher, die sich Forschende schrittweise erarbeiten. Anhand der theoretischen Fokussierung bekommen Suchstrategien der Fallauswahl sozusagen eine Richtung, die sich For-schende im Verlauf ihrer Untersuchung erst noch erschließen.

432 Karin Schittenhelm

5.2 Schlussbemerkungen

Der vorliegende Beitrag zu Strategien eines qualitativen Samplings beabsichtigt, die Verfahren qualitativer Forschungsmethoden im Rahmen der ihr zur Verfü-gung stehenden Möglichkeiten zu optimieren. Doch soll nicht in Abrede stehen, diese mit standardisierten Methoden zu verbinden, um mit Hilfe einer Triangu-lation die Möglichkeiten empirischer Sozialforschung insgesamt zu erweitern.37 Die Anforderung bleibt in jedem Fall, das Erkenntnispotenzial qualitativer Ver-fahren bestmöglich auszuschöpfen. In dieser Hinsicht verfolgt der Beitrag das Ziel, zu einer Präzisierung und Konkretisierung der Debatten über theoretisch begründete Samplings und deren Umsetzung in der Forschungspraxis beizutra-gen. Versteht man Samplings als Suche nach einer fallübergreifenden Gültigkeit, beinhalten solche Debatten auch eine Verständigung über den Geltungsanspruch qualitativer Sozialforschung. Dabei kann es nach dem hier vorliegenden Ver-ständnis potenziell um den ‚Möglichkeitsraum‘ einer speziellen Untersuchungs-population gehen wie auch um die Struktur und Beschaff enheit sozialer Prozesse.

Eng verbunden mit einer Geltungsbegründung ist die Frage der Gegenstands-konzeption qualitativer Untersuchungen und der anhand ihrer Befunde erarbeite-ten theoretischen Perspektiven. Je nachdem, für welche theoretische Fokussierung sich Forschende entscheiden, kann ihre Fallauswahl einer komparativen Analyse der jeweils relevanten Varianten dienen. Ein qualitatives Sampling ist insofern eine Folge aufeinander aufbauender Entscheidungen (s. a. Strübing 2003), die Forschende im Verlauf einer Untersuchung anhand einer zunehmenden theore-tischen Fokussierung treff en. Es geht nach dem hier vorliegenden Verständnis weniger um ein vorgegebenes Modell, wie ein Sampling oder ein entsprechendes Verfahren auszusehen hat, sondern um Prinzipien einer Forschungsstrategie, die eine Überprüfung der fallübergreifenden Gültigkeit und der Reichweite der je-weiligen Ergebnisse ermöglicht. Wie diese umzusetzen ist, liegt auch im Ermessen von Forschenden, die sich dabei nicht zuletzt den Bedingungen ihres Forschungs-feldes stellen müssen. Der mit einem Datenbestand erschlossene ‚Denkraum‘ ist das Resultat des eigenen Forschungshandelns und im Rahmen der in einem Un-tersuchungsfeld gegebenen Möglichkeiten auch zu gestalten.

37 Siehe dazu den Beitrag von Sabine Maschke und Ludwig Stecher in diesem Band.

Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit 433

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Die Autorinnen und Autoren

Bohnsack, Ralf, Dr. rer. soc., Dr. phil. habil., Soziologe, ist Professor und Leiter des Arbeitsbereichs für „Qualitative Bildungsforschung“ an der Freien Univer-sität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Rekonstruktive Sozialforschung, Dokumentarische Methode, Wissenssoziologie, Gesprächsanalyse und Bild- und Video interpretation sowie Bildungs-, Milieu-, Jugend- und Evaluationsforschung.

Bromberg, Kirstin, Dr. phil., Erziehungswissenschaft lerin, ist Professorin für So-zia le Arbeit an der Hochschule Lausitz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Beruf liche Sozialisation im tertiären Bildungssektor, Lehr-Lern-Forschung, Organisations-soziologie und Organisationskulturen, Methoden Qualitativer Sozialforschung.

Juhasz Liebermann, Anne, Dr. phil., Soziologin, ist Juniorprofessorin für Quali-tative Methoden der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Interpretative Sozialforschung, Biografi eforschung, Migra tion, Bildungsprozesse, Soziale Ungleichheit, Staatsbürgerschaft .

Kalthoff , Herbert, Dr. rer. soc. habil., ist Professor für Soziologie an der Johan-nes-Gutenberg Universität Mainz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungsfor-schung, Wissenssoziologie, Methoden der Qualitativen Sozialforschung. Wirt-schaft s- und Finanzsoziologie.

Kleemann, Frank, Dr. phil., Soziologe, ist wissenschaft licher Mitarbeiter der Pro-fessur Industrie- und Techniksoziologie am Institut für Soziologie der Techni-schen Universität Chemnitz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Arbeits- und In-dustriesoziologie, qualitative Sozialforschung, soziologische Handlungs- und Praxistheorie; Arbeit und Subjektivität, Informatisierung der Arbeit.

Kutzner, Stefan, Dr. phil. habil., ist Professor für Soziologie an der Universität Sie-gen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Kulturen der Sozialpolitik, Armut, Familie, Migration und Integration, Methoden der qualitativen Sozialforschung.

440 Die Autorinnen und Autoren

Liebeskind, Uta, Dr. phil., Soziologin, ist wissenschaft liche Mitarbeiterin an der Otto-Friedrich Universität Bamberg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung.

Maschke, Sabine, Dr. phil. habil., Erziehungswissenschaft lerin, vertritt die Pro-fessur für Pädagogik des Jugendalters am Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kindheits- und Jugendforschung, Außerschulische Bildung, Biografi e und Bildung, Integrative Bildungsforschung.

Matuschek, Ingo, Dr. rer. soc., Soziologe, ist wissenschaft licher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaft ssoziologie am Institut für So-ziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Arbeits- und Industriesoziologie, qualitative Sozialforschung, Soziologie politi-schen Handelns, Arbeit und Subjektivität, fl exibilisierte Arbeit, Praxis politischen Handelns.

Nohl, Arnd-Michael, Dr. phil. habil., ist Professor für Erziehungswissenschaft , insbesondere systematische Pädagogik an der Helmut-Schmidt-Universität Ham-burg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Qualitative Bildungs-, Lern- und Migra-tionsforschung, Allgemeine und Interkulturelle Erziehungswissenschaft , Metho-den und Methodologie Rekonstruktiver Sozialforschung.

Rosenberg, Florian von, Dr. phil., wissenschaft licher Mitarbeiter am Arbeitsbe-reich der Professur für Erziehungswissenschaft , insbesondere systematische Päd-agogik an der Helmut-Schmidt Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungstheorie und Bildungsforschung, Jugend- und Schulforschung, Me-thoden der rekonstruktiven Sozialforschung.

Schittenhelm, Karin, Dr. phil. habil., ist Professorin für Soziologie an der Univer-sität Siegen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildung und Arbeit im Lebenslauf, Migration, Geschlechterforschung, Wissenssoziologie, Kollektives Gedächtnis, Methoden und Methodologie qualitativer Sozialforschung.

Schröder-Wildhagen, Anja, Dr. phil., Soziologin, ist wissenschaft liche Mitarbeite-rin und Lehrbeauftragte an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Qualitative Sozialforschung, Biografi eanalyse, Profes-sionelles Handeln und biografi sche Professionalisierung, Managementforschung.

Die Autorinnen und Autoren 441

Stecher, Ludwig, Dr. phil. habil., ist Professor für Empirische Bildungsforschung am Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungsprozesse im Bereich von Extended Education (non-formale und informelle Bildungskontexte), Bildung im Lebens-lauf, Bildung und soziale Ungleichheit, Kindheit, Jugend, Familie und Bildung; Ganztagsschulen.

Wernet, Andreas, Dr. phil. habil., ist Professor für Schulpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft en der Leibnitz Universität Hannover. Seine Arbeits-schwerpunkte sind: Rekonstruktive Bildungsforschung, Schul- und Unterrichts-forschung, Professionalisierungstheorie, hermeneutisch-fallrekonstruktive Me-thodologie.

Wittel, Andreas, Dr. phil., Sozial- und Kulturwissenschaft ler, ist Senior Lectu-rer an der School of Arts and Humanities an der Nottingham Trent University in Großbritannien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: digitale Medien, politische Ökonomie, Industriekulturen, ethnografi sche Arbeitsmarktforschung, theoreti-sche und methodologische Aspekte ethnografi scher Forschung.