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Bildung – Beruf 23 Viele Physiker ar- beiten in der Mess- technik. Gerhard Stengel (links) und Lothar Seybold vor einem Klimamodul auf dem Prüfstand. (Foto: Opel) R üsselsheim, im Oktober: orkanartige Windböen drücken gegen die Frontschei- be des kleinen Opel Corsa. Es ist schwül, das Thermometer steigt auf 40 Grad. Plötzlich Windstille. Die Temperatur fällt weit unter Null, eine dünne Eisschicht bildet sich auf den Fenstern, minus 30 Grad. Der Klimakanal auf dem Opel-Gelände ist für Gerhard Stengel, 29, und Lothar Seybold, 31, ein wichtiges Versuchslabor. Die beiden Diplom- Physiker arbeiten in der Abteilung Wärmetechnik des Internationalen Technischen Entwicklungszentrums von Opel. Stengel entwickelt elek- tronische Klimaregelungen, Seybold kümmert sich um Heizung und Luft- führung für neue Modellreihen. Mit 150 Lampen an der Decke – Wärme- lampen für die Ferkelzucht – heizen sie den Opel Corsa hinter dem Pan- zerglas auf Wüstentemperatur. Für Minusgrade steht eine Kälteanlage bereit, und auf Knopfdruck steigt die Luftfeuchtigkeit auf 100 %. Aber eine richtige Sonne können auch die Ferkelwärmer nicht ersetzen, und darum fahren die beiden Opelaner mehrere Wochen im Jahr mit Test- autos durch die heiße Wüste im Monument Valley und über ver- schneite Pisten am Polarkreis. Als Physiker gehören Stengel und Seybold in ihrem Unternehmen einer Minderheit an. Das zeigen schon die Berufsbezeichnungen quer durch die Hierarchie: Ent- wicklungsingenieur, System Lead Engineer, Gruppeningenieur, Chef- ingenieur. Unter den mehr als 8500 Angestellten im Opel-Entwick- lungszentrum sind nur rund 80 Physiker, und auch die Presse- sprecherin bestätigt: „Wir suchen in erster Linie Ingenieure.“ Dennoch finden Physiker in der Automobil- industrie die ein oder andere Nische, eine gewisse Technikbegeis- terung vorausgesetzt. „Ich habe früher schon gerne an Autos ge- bastelt“, sagt Gerhard Stengel. Vor drei Jahren, nach der Diplomarbeit in experimenteller Kernphysik und fünf Monaten Stellensuche, hat er im Entwicklungszentrum angefan- gen. Stengel ist der einzige Physiker in einem sechsköpfigen Team von Maschinenbauern, Elektro- und Wärmetechnikern. Die Kleingruppe macht sich unter anderem darüber Gedanken, wie man für Fahrer und Beifahrer getrennte Klimaregelun- gen baut und steuert: Wo sollten die Sensoren befestigt sein?, Wel- che Belüftungsdüse ist optimal?, Wie beeinflussen Sonneneinstrah- lung und Fahrzeuggeschwindigkeit die Innentemperatur? Um diese Fragen zu beantwor- ten, simuliert Stengel die Luftkon- vektion im Fahrzeug und vergleicht die Ergebnisse mit Messungen von Testfahrten. Er muss etwas von Analog-Digitalwandlern verstehen, 3D-Simulationen auswerten und Grundkenntnisse in C-Programmie- rung haben. „Für diese Position suchten wir einen Generalisten“, erinnert sich Tobias Sünner, 36, promovierter Physiker und Stengels ehemaliger Chef in der Wärmetech- nik. Dabei zählt das fachliche Know-how oft weniger als die an- deren Fähigkeiten: Teamwork, So- zialkompetenz, Kommunikation. „Man muss erst mal die Sprache des Ingenieurs verstehen“, sagt Sünner, der heute den Bereich „Systementwicklung Elektrik/Elek- tronik“ leitet. Das dauert etwa ein Jahr. Danach lebe der Physiker da- von, dass er gelernt habe, struktu- riert zu arbeiten. „Wenn er das nicht vergisst, ist er in der Industrie gut aufgehoben.“ Nur in einem Punkt brauchen sich die Physiker offenbar nicht umzustellen: In der Kantine sitzen vor allem Männer – ganz wie in der Physikvorlesung. Geforscht wird wenig Lothar Seybold empfand den Wechsel von der Grundlagenfor- schung in die „Königin der Bran- chen“ (Opel-Sprecherin) als „Kul- turschock“. Noch vor drei Jahren hatte er am Deutschen Elektronen- synchrotron in Hamburg über CP- Verletzung nachgedacht und Sili- ziummodule im Teilchendetektor Hera-B temperaturstabilisiert. Aber feste Stellen in der Wissenschaft waren rar, und so bewarb sich Sey- bold auf eine Opel-Stellenaus- schreibung im Internet. Der Auto- konzern suchte einen Physiker für die Kältetechnik – „ich habe ge- dacht: Opel ist groß, da gibt’s viele Möglichkeiten aufzusteigen“. Inzwi- schen ist er mit Begeisterung dabei. Selbst seinem Interesse an der Theorie kann er noch nachgehen, zumindest solange es dem Produkt dient. Um den Kältekreislauf der Klimaanlage zu simulieren, „füttert“ der Ex-Teilchenphysiker Algebra- Programme sowie maßgeschneider- te Software aus dem Handel mit den Grundgleichungen der Strö- mungsmechanik. „Die 1D-Simulationen sind noch zu ungenau“, sagt Seybold. Daher kann man auf Testfahrten und Prüf- stände nicht verzichten. In der Werkstatt neben dem Klimakanal hat er ein Klimamodul aufbauen lassen, das von einer Kamera beäugt wird. Das schwarze Un- getüm mit seinen Schläuchen, Düsen und Drähten ähnelt einer Kunstinstallation. Ein Werkstudent testet hier nach Seybolds Anleitung ein neues Messverfahren: Die Infra- rotkamera soll die Temperaturver- teilung des Luftstroms sichtbar ma- chen. „Für mich ist diese Kombina- tion von Theorie und Praxis ideal,“ sagt Seybold über seine Arbeit bei Opel. Bald möchte er für einige Zeit ins Ausland gehen. In die For- schung von General Motors in De- troit, dem amerikanischen Mutter- konzern und größten Automobil- hersteller der Welt. Dass Opel einem amerikani- schen Konzern gehört, ist nicht zu Quarks im Kopf, Benzin im Blut Physiker in der Automobilindustrie müssen die Sprache der Ingenieure sprechen Max Rauner Physikalische Blätter 56 (2000) Nr. 11 0031-9279/00/1111-23 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 2000

Quarks im Kopf, Benzin im Blut: Physiker in der Automobilindustrie müssen die Sprache der Ingenieure sprechen

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Bildung – Beruf

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Viele Physiker ar-beiten in der Mess-technik. GerhardStengel (links) undLothar Seybold voreinem Klimamodulauf dem Prüfstand.(Foto: Opel)

Rüsselsheim, im Oktober:orkanartige Windböendrücken gegen die Frontschei-

be des kleinen Opel Corsa. Es istschwül, das Thermometer steigt auf40 Grad. Plötzlich Windstille. DieTemperatur fällt weit unter Null,eine dünne Eisschicht bildet sich aufden Fenstern, minus 30 Grad. DerKlimakanal auf dem Opel-Geländeist für Gerhard Stengel, 29, undLothar Seybold, 31, ein wichtigesVersuchslabor. Die beiden Diplom-Physiker arbeiten in der AbteilungWärmetechnik des InternationalenTechnischen Entwicklungszentrumsvon Opel. Stengel entwickelt elek-tronische Klimaregelungen, Seyboldkümmert sich um Heizung und Luft-führung für neue Modellreihen. Mit150 Lampen an der Decke – Wärme-lampen für die Ferkelzucht – heizensie den Opel Corsa hinter dem Pan-zerglas auf Wüstentemperatur. FürMinusgrade steht eine Kälteanlagebereit, und auf Knopfdruck steigt dieLuftfeuchtigkeit auf 100 %. Abereine richtige Sonne können auch dieFerkelwärmer nicht ersetzen, unddarum fahren die beiden Opelanermehrere Wochen im Jahr mit Test-autos durch die heiße Wüste imMonument Valley und über ver-schneite Pisten am Polarkreis.

Als Physiker gehören Stengelund Seybold in ihrem Unternehmeneiner Minderheit an. Das zeigenschon die Berufsbezeichnungenquer durch die Hierarchie: Ent-wicklungsingenieur, System LeadEngineer, Gruppeningenieur, Chef-ingenieur. Unter den mehr als 8500Angestellten im Opel-Entwick-lungszentrum sind nur rund 80Physiker, und auch die Presse-sprecherin bestätigt: „Wir suchen inerster Linie Ingenieure.“ Dennochfinden Physiker in der Automobil-industrie die ein oder andereNische, eine gewisse Technikbegeis-terung vorausgesetzt. „Ich habefrüher schon gerne an Autos ge-bastelt“, sagt Gerhard Stengel. Vordrei Jahren, nach der Diplomarbeitin experimenteller Kernphysik undfünf Monaten Stellensuche, hat erim Entwicklungszentrum angefan-gen.

Stengel ist der einzige Physikerin einem sechsköpfigen Team vonMaschinenbauern, Elektro- undWärmetechnikern. Die Kleingruppemacht sich unter anderem darüberGedanken, wie man für Fahrer undBeifahrer getrennte Klimaregelun-gen baut und steuert: Wo solltendie Sensoren befestigt sein?, Wel-che Belüftungsdüse ist optimal?,Wie beeinflussen Sonneneinstrah-lung und Fahrzeuggeschwindigkeitdie Innentemperatur?

Um diese Fragen zu beantwor-ten, simuliert Stengel die Luftkon-vektion im Fahrzeug und vergleichtdie Ergebnisse mit Messungen vonTestfahrten. Er muss etwas vonAnalog-Digitalwandlern verstehen,3D-Simulationen auswerten undGrundkenntnisse in C-Programmie-rung haben. „Für diese Positionsuchten wir einen Generalisten“,erinnert sich Tobias Sünner, 36,promovierter Physiker und Stengelsehemaliger Chef in der Wärmetech-nik. Dabei zählt das fachlicheKnow-how oft weniger als die an-deren Fähigkeiten: Teamwork, So-zialkompetenz, Kommunikation.„Man muss erst mal die Sprachedes Ingenieurs verstehen“, sagtSünner, der heute den Bereich„Systementwicklung Elektrik/Elek-tronik“ leitet. Das dauert etwa einJahr. Danach lebe der Physiker da-von, dass er gelernt habe, struktu-riert zu arbeiten. „Wenn er dasnicht vergisst, ist er in der Industriegut aufgehoben.“ Nur in einemPunkt brauchen sich die Physikeroffenbar nicht umzustellen: In derKantine sitzen vor allem Männer –ganz wie in der Physikvorlesung.

Geforscht wird wenigLothar Seybold empfand den

Wechsel von der Grundlagenfor-schung in die „Königin der Bran-chen“ (Opel-Sprecherin) als „Kul-turschock“. Noch vor drei Jahrenhatte er am Deutschen Elektronen-synchrotron in Hamburg über CP-Verletzung nachgedacht und Sili-ziummodule im TeilchendetektorHera-B temperaturstabilisiert. Aberfeste Stellen in der Wissenschaftwaren rar, und so bewarb sich Sey-

bold auf eine Opel-Stellenaus-schreibung im Internet. Der Auto-konzern suchte einen Physiker fürdie Kältetechnik – „ich habe ge-dacht: Opel ist groß, da gibt’s vieleMöglichkeiten aufzusteigen“. Inzwi-schen ist er mit Begeisterung dabei.Selbst seinem Interesse an derTheorie kann er noch nachgehen,zumindest solange es dem Produkt

dient. Um den Kältekreislauf derKlimaanlage zu simulieren, „füttert“der Ex-Teilchenphysiker Algebra-Programme sowie maßgeschneider-te Software aus dem Handel mitden Grundgleichungen der Strö-mungsmechanik.

„Die 1D-Simulationen sind nochzu ungenau“, sagt Seybold. Daherkann man auf Testfahrten und Prüf-stände nicht verzichten. In derWerkstatt neben dem Klimakanalhat er ein Klimamodul aufbauenlassen, das von einer Kamerabeäugt wird. Das schwarze Un-getüm mit seinen Schläuchen,Düsen und Drähten ähnelt einerKunstinstallation. Ein Werkstudenttestet hier nach Seybolds Anleitungein neues Messverfahren: Die Infra-rotkamera soll die Temperaturver-teilung des Luftstroms sichtbar ma-chen. „Für mich ist diese Kombina-tion von Theorie und Praxis ideal,“sagt Seybold über seine Arbeit beiOpel. Bald möchte er für einigeZeit ins Ausland gehen. In die For-schung von General Motors in De-troit, dem amerikanischen Mutter-konzern und größten Automobil-hersteller der Welt.

Dass Opel einem amerikani-schen Konzern gehört, ist nicht zu

Quarks im Kopf, Benzin im BlutPhysiker in der Automobilindustrie müssen die Sprache der Ingenieure sprechen

Max Rauner

Physikalische Blätter56 (2000) Nr. 110031-9279/00/1111-23$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 2000

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Bildung – Beruf

Zur Forschung beiBosch gehört auchdie Herstellung ei-gener Mikrochips.Henrik Siegle(links) und Chri-stoph Treutler be-gutachten einenWafer. (Foto:Bosch)

übersehen: In den Großraumbürosdes Entwicklungszentrums steht injeder Ecke eine water fountain undin einigen Zellen des Stellwandla-byrinths hängt eine amerikanischeFlagge. Die Entwicklungsabteilungvon Opel ist dennoch relativ eigen-ständig, und wer in einem amerika-nischen Auto gesessen hat, weißwarum: Die Vorstellungen überKomfort und Qualität gehen aus-einander. Schon bei der Innentem-peratur scheiden sich die Geister.„Europäer mögen es ein bis zweiGrad wärmer“, weiß Stengel.

Geforscht wird in Rüsselsheimwenig, allenfalls die so genannteVorausentwicklung hat Forschungs-charakter. In der Produktentwick-lung von Opel sind Stengel undSeybold in die generalstabsmäßiggeplanten Modellreihen eingebun-den. Es sei die klare Aufgabe einesEinstellungsgesprächs, den Bewer-bern dies zu vermitteln, meintGruppeningenieur-Physiker TobiasSünner. „In der Projektentwicklungbin ich nicht so frei zu sagen, wasich morgen und übermorgen tunwill.“ Es gebe konkrete Ziele mitgenauen zeitlichen Angaben.

Die Projektleiter müssen sichnicht nur mit den Geschäftsberei-chen des eigenen Unternehmensabstimmen, zum Beispiel Motor,Chassis und Bremsen, sie koordi-nieren zudem die Zusammenarbeitmit der Zulieferindustrie. Bis auf

Karosserie, Motorenentwicklungund -fertigung, das Kerngeschäftder Autobauer, wird praktisch allesausgelagert. Nur 30 Prozent einesAutos werden von den Autokonzer-nen gefertigt – die so genannte Fer-tigungstiefe –, der Rest stammt ausden Fabriken der Zulieferer.

Zum Beispiel von Bosch. DasStuttgarter Unternehmen ist einerder größten Hersteller von Kraft-fahrzeugteilen weltweit. Und genauwie die Autoriesen hat die BoschGmbH ihren Gründungsmythos:

Robert Bosch erfand 1902 die„Zündkerze für Explosionskraft-maschinen“, entwickelte Autolam-pen, Hupen und Ölpumpen. In derVitrine der Besucherlobby, auf derSchillerhöhe über Stuttgart, stehenhundert Jahre Bosch-Zündkerzen inReih und Glied als Symbol fürschwäbischen Tüftlergeist. For-schung bei Bosch ist Chefsache,und der Zentralbereich Forschungund Vorausentwicklung residiertnur ein paar hundert Meter nebendem 70er-Jahre-Büroturm der Ge-schäftsführung. Um bei schlechtemWetter trocken von der Pforte zurGeschäftsführung, von der Ge-schäftsführung zur Forschung, undvon beiden Gebäuden zur Kantinezu gelangen, steht an jedem Ein-gang ein Ständer mit bunten Regen-schirmen. Deren Migration zu un-tersuchen, wäre wohl auch eineAufgabe für Physiker, aber für sol-che Spielereien hat der Abteilungs-leiter „Physikalische Technologien“,Christoph Treutler, natürlich keineZeit.

Anwendungsnähe ist einEinstellungskriteriumTreutlers 44-köpfige Abteilung

entwirft magnetische Lenkradwin-kel- und Drehzahlsensoren für daselektronische Stabilitäts-ProgrammESP, das durch den Elchtest an derMercedes A-Klasse mit einemSchlag berühmt wurde. Was trivialanmutet, kann eine verzwickte Auf-gabe sein, denn der Ausfall einesSensors könnte fatale Folgen ha-ben. Als er in der Entwicklung ei-nen „Serienhochlauf“ vorbereitete,hat Treutler gelernt, „wie wichtigQualität ist“. Weniger als einenFehler pro 100 000 Stück, „daskann man nicht mehr durch Stich-proben prüfen, daher muss man vielZeit in die vorausschauende Absi-cherung stecken.“ Für die Weiter-entwicklung der Magnetsensorenstellte der promovierte Physiker ei-nen Physiker ein: Henrik Siegle, 30,hat eine Promotion in Halbleiter-physik an der Technischen Univer-sität Berlin hinter sich, ein JahrPostdoc-Aufenthalt in Berkeley undfünfzehn Monate Trainee-Pro-gramm bei Bosch. Dass er von ei-nem anwendungsnahen Lehrstuhlkam, war für Treutler ein Einstel-lungskriterium: „Auch bei den Phy-sikern gibt es Lehrstühle, die fürspezielle Anwendungen Licht einerbestimmten Wellenlänge erzeugenwollen, und nicht nur irgendeinenneuen Quanteneffekt suchen.“

Siegle hat „Benzin im Blut“, wiees die Autobauer formulieren: „Ichgebe zu: ich mag Autos“, sagt er un-verblümt, und dass Bosch sogaramerikanische Autozeitschriftenwie „Road and Track“ in der Biblio-thek habe, das sei doch ein Plus-punkt. Für seine Arbeit hält er sichmit Applied Physics Letters und ei-nigen Fachzeitschriften auf demLaufenden. Siegle leitet eine Grup-pe von elf Ingenieuren, Technikernund Naturwissenschaftlern – meistjunge Leute, man duzt sich. Zurzeitarbeiten er und seine Kollegen da-ran, den vor rund zehn Jahren ent-deckten Riesenmagnetowiderstandfür die Mikrosensoren zu nutzen.Dazu befestigen sie kleine Magnetean Radachsen und Lenkstange. DieMagnetfeldänderung bei der Dreh-bewegung wird von einem Dünn-schichtsensor erfasst und verur-sacht eine Widerstandsänderung imSensor, die sich elektronisch aus-werten lässt. Das Signal ist beiSensoren mit Riesenmagnetowider-stand viel höher als bei herkömm-lichen Materialien. Davon verspre-chen sich die Bosch-Forscher einehöhere Genauigkeit, einfachereMontage sowie geringere Ferti-gungskosten. Siegle erprobt nichtnur die Umstellung der konventio-nellen Technologie auf den Riesen-magnetowiderstand, er denkt auchüber neue Einsatzmöglichkeitennach, etwa für Winkelmessungenim Getriebe, am Stoßdämpfer undam Gaspedal. Er stellt die Prototy-pen aus seiner Gruppe in der Ferti-gung vor und diskutiert mit den In-genieuren die Serientauglichkeit.

Dass ein Hochschulabsolventschon nach fünfzehn Bosch-Mona-ten eine Gruppe leitet, ist nicht ge-rade üblich. Aber Siegles jetzigeStelle wurde überraschend frei, undals einer von 80 Bosch-Trainees warSiegle ohnehin als potenzielleFührungskraft vorgesehen. Außer-dem hatte er im Rahmen des 15-monatigen Trainee-Programmsschon drei Stationen in Forschung,Entwicklung und Fertigung hintersich. Dabei ist er auch einigen Vor-urteilen begegnet: „In der For-schung hält man die Fertigungsleutemeist für zu konservativ, und dieFertigungsingenieure glauben umge-kehrt, dass die Forscher Hirnge-spinste haben.“ Dieses Spannungs-feld müsse man aushalten, meintauch Abteilungsleiter Treutler. Ho-hes Qualitätsbewusstsein erfordereoft einen konservativen Ansatz,aber Innovationen bräuchten auch

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ganz neue Ideen. Letztlich funktio-niere die Zusammenarbeit aber sehrgut. Schließlich muss die Forschungeinen Teil ihrer Aufträge aus denGeschäftsbereichen einwerben. Sowird gewährleistet, dass die For-scher nicht „abheben“ und am Be-darf vorbei arbeiten.

Es gebe keine Grundlagenfor-schung nach dem Motto „wollenmal sehen, was die Welt im Inners-ten zusammenhält“, sondern einezielgerichtete Forschung, sagtTreutler. „Wir müssen intern zu-mindest eine Vision für ein potenzi-elles Produkt präsentieren.“ Den-noch schätzt er an den Physikern,dass sie „den Problemen auf denGrund gehen wollen“. Wie alle Ab-teilungsleiter mit Physikabschluss

legt Treutler jedoch Wert darauf,dass er keine Physiker aus Corps-geist einstelle. Der richtige Mix ausFachleuten unterschiedlichster Dis-ziplinen sei wichtig, betont der 48-jährige Physiker, der „natürlichauch Chemiker“ einstellt, wenn esfür das Projekt sinnvoll ist.

Von Bosch auf der Schillerhöhezur DaimlerChrysler-Zentrale inStuttgart fährt man zwanzig Minu-ten. Aber die Fahrt fällt aus. DiePresseabteilung von DaimlerChrys-ler möchte keinen Kontakt zu jun-gen Physikern vermitteln: „Die ar-beiten in sensiblen Bereichen“.Auch die Abteilungsleiter sähen dasnicht gerne. Bei der Kooperationmit einer Universität führt diese Po-litik oft in die Zwickmühle. Wäh-rend die Autokonzerne ihre Be-triebsgeheimnisse wahren möchten,sind die Hochschulen auf offenenErfahrungsaustausch bedacht. Wasden einen die Patentschrift, ist denanderen die Veröffentlichung in ei-ner Fachzeitschrift. Den Physik-Doktoranden der Universität Ulm,die im Daimler-Forschungszentrumin Ulm eine externe Doktorarbeitanfertigen, gewährt der Fachbereichauf Antrag eine sechsmonatige Ver-

zögerung zwischen Abgabe derDoktorarbeit und deren Veröffent-lichung, damit das UnternehmenPatentschutz anmelden kann.

Eine längere Geheimhaltunglässt sich für den Ulmer Physikpro-fessor Otmar Marti indes nichtrechtfertigen, zumal die Firmenohnehin schon von der billigen Ar-beitskraft der Doktoranden profitie-ren: Wenn eine Firma nicht publi-zieren wolle, könne sie einen Physi-ker ja zu den üblichen Konditioneninklusive Schweigepflicht fest an-stellen. „Der Fachbereich muss zu-erst die Rechte der Doktorandenwahren und die im Gesetz veran-kerte Publikationspflicht für Dok-torarbeiten durchsetzen.“

Die Diplomanden und Dokto-

randen geraten dabei mitunter zwi-schen die Fronten. Bernd Block, 31,arbeitet seit sechs Jahren in derForschung von Volkswagen und er-innert sich noch gut daran, dasszwei Physik-Fakultäten seinenWunsch ablehnten, eine externe Di-plomarbeit bei Volkswagen anzufer-tigen. Begründung: die wissen-schaftliche Qualität der Arbeit seinicht gewährleistet. „Da war ichschon enttäuscht“, sagt Block rück-blickend, „auf der einen Seite sollman flexibel sein, auf der anderenwird man ausgebremst.“ Stattdessenging er als externer Diplomand andie Physikalisch-Technische Bun-desanstalt in Braunschweig undmeldete sich dann als Diplom-Phy-siker erneut bei VW. Volkswagenbot ihm eine Promotion über Spek-trometrie am gläsernen Motor an,und diesmal fand sich auch einDoktorvater.

Blocks Telefonnummer ist sechs-stellig: die 9 für Volkswagen undfünf Ziffern als interne Anschluss-kennung. Sie lässt die Dimensiondes Unternehmens erahnen: Volks-wagen in Wolfsburg, das sind55 000 Menschen auf acht Quadrat-kilometern Werksgelände. Allein in

Forschung und Entwicklung, dieauch Audi, Seat und Skoda bedient,arbeiten knapp 10 000 Angestellteund Facharbeiter, darunter etwa3500 Akademiker, überwiegend In-genieure. Physiker werden von derPersonalabteilung nicht gesonderterfasst. Sie gehören zu den 250„sonstigen Akademikern“ in F&E.

Die Forschung und Entwicklungliegt auf dem Werksgelände, ist aberdurch eine eigene „Wache“, Schran-ken und Zäune vom übrigen Arealgetrennt. Und wenn Besuch kommt,sind einige Modelle im Prototypen-bau mit großen Planen vor neugie-rigen Blicken geschützt. Der gläser-ne Dieselmotor ist nicht ganz so ge-heim, schließlich gehört er seitJahren zur Grundausrüstung jedesHerstellers. Der Motorblock stehtin einem kleinen Maschinenraumund ist mit Spiegeln, Kameras undStativstangen bestückt. Ein Plastik-rohr ragt aus der Wand und führteinen Laserstrahl aus dem Nach-barraum an den Zylinder heran.Von einem „gläsernen Motor“ kannman nur im übertragenen Sinnesprechen. Allein Teile des Kolbensund der Zylinderwand wurdendurch Glas ersetzt, damit die Kame-ras einen Blick in das Innere desBrennraums werfen können.

Keine Uni-GeborgenheitIn seiner Doktorarbeit unter-

suchte Block das Selbstleuchten derFlamme im Brennraum eines di-rekteinspritzenden Dieselmotors.Daraus berechnete er die Flammen-temperatur und die Rußverteilungim Zylinder. Die Motorenbauer op-timieren mit diesen Informationendie Kolbenform und die Positionder Einspritzdüse (Hersteller:Bosch). Ihr Ziel ist es, in wenigenMillisekunden eine möglichstgleichmäßige Verteilung des Kraft-stoffs zu erreichen.

„Ich hatte viele Freiheiten“, sagtBernd Block über seine Dokto-randenzeit. Nur zweimal musste erbei einer mehrwöchigen „Messkam-pagne“ helfen. Man sollte in derLage sein, selbstständig zu arbeiten,denn die Betreuer stecken selbst imTagesgeschäft. „Die Geborgenheiteiner Uni-Arbeitsgruppe fehlt hier.“Dafür fällt der Einstieg in die Indu-strie umso leichter: „Ich hatte kei-nen Praxisschock,“ sagt Block, „daswar smooth.“ Im Alltag halfen ihmGrundkenntnisse aus Optik undLaserphysik, und „ansonsten istman als VW-Physiker in einerDaueringenieursausbildung.“

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Zu seiner öffentlichen Doktor-prüfung kam auch der Abteilungs-leiter der Messtechnik, Bernd Stoff-regen. Beim anschließenden Steh-empfang gratulierte dieser auf seineArt: mit einem Stellenangebot. „EinPhysiker, der bei uns Karrieremacht, arbeitet nicht mehr als Phy-siker; er muss sich mental halbwegszum Ingenieur weiterentwickeln“,sagt Stoffregen. Er kennt die Defizi-te nur zu gut: „Die Physiker verste-hen im Allgemeinen wenig von Me-chanik, sie können keine Zeich-nung lesen und am Computer keineerstellen, und sie kennen keineWerkstoffe.“ Stoffregen ist 48 Jahrealt und seit 21 Jahren bei Volkswa-gen. Auch er hat einmal in Physikpromoviert.

Ein potenzieller Nachfolger fürBlocks ehemalige Doktorandenstel-le hat sich noch nicht gemeldet. DieAbteilung verzichtet auf eine Aus-schreibung, denn nur wer Eigen-initiative ergreift, so die Überle-gung, sei ein geeigneter Kandidat.Außerdem wolle man den Univer-sitäten keine offene Konkurrenzmachen. Immerhin verdient einVW-Doktorand 3600 Mark im Mo-nat. Wer sich jedoch erst nach derPromotion bei Volkswagen meldet,hat kaum eine Chance. Neue Stel-len gibt es selten und die Fluktuati-on in der Forschung und Entwick-lung ist verschwindend gering. Dasliegt auch daran, dass es außerVolkswagen nicht viel gibt, inWolfsburg und Umgebung. Wer derBranche treu bleiben will, muss um-ziehen: nach Süddeutschland.

Eine norddeutsche Eigenheit istauch die Arbeitszeit: Bei Volkswa-gen gilt offiziell die 30-Stunden-Woche. In der Regel wird sie jedochin Forschung und Entwicklungnicht eingehalten. Die durchschnitt-liche Arbeitszeit liegt deutlich darü-ber, und mit den bezahlten Über-stunden können promovierte Physi-ker ihr Gehalt gehörig aufstocken.

Bernd Block hat einen 16 Mo-nate alten Sohn, „das zweite Kindkommt im Februar“. Könnte er sichmit dem Gedanken anfreunden, fürimmer bei VW zu bleiben? „Dashabe ich schon“, antwortet er so-fort. „Absolut kein erschreckenderGedanke, bis zur Rente hier zu ar-beiten.“ Im Gegenteil: welchen Vor-teil sollte es haben, dauernd hinund herzuwechseln? „Jeder Menschlebt mit einem Rest an Sicherheits-bedürfnis.“ Und Sicherheit wird inder Autobranche bekanntlich ganzgroß geschrieben.

�Warten und Glück habenInterview mit Harald Koch, Perso-nalkoordinator Forschung und Ent-wicklung bei Volkswagen

Muss man ein Autofan sein, umbei Volkswagen zu arbeiten?

Wenn jemand „Benzin im Blut“hat, wie wir sagen, ist das schonvon Vorteil. Denn davon gibt eshier eine Menge. Jemand, dergrundsätzlich eine kritische Einstel-lung zum Auto hat, ist bei uns si-cherlich fehl am Platz.

Für welche Aufgaben stelltVolkswagen Physiker ein?

Es gibt im Wesentlichen drei Be-reiche, in denen Physiker bei unsarbeiten: Messtechnik, Berechnung,Simulationen. In der Berechnungs-abteilung geht es darum, bestimmteKenngrößen zu berechnen, von derKarosseriesteifigkeit über die Aero-dynamik bis hin zur Abgasnachbe-handlung. Im Simulationsbereichsetzen wir immer mehr auf virtuelleSysteme. Wir wollen Crash-Testsund Fahrdynamik so weit es gehtam Computer simulieren.

Wie viele Physiker arbeiten inForschung und Entwicklung?

Vor 30 Jahren waren 10 Prozentder F&E-Angestellten Physiker.Zum Beispiel bestand die gesamteAkustikabteilung – 10 bis 12 Mitar-beiter – aus Physikern. Aber ihr An-teil nimmt ab. Heute haben wir5500 Angestellte in F&E, und derAnteil der Physiker ist kleiner als5 %. In der Akustik arbeiten nunvor allem Fahrzeugtechniker mitder entsprechenden Spezialisierung.

Sind die Physiker so schlecht ge-worden oder die Ingenieure so gut?

Der Ingenieur war früher Kon-strukteur oder Versuchsingenieur.Heute gehört viel mehr zum Ingeni-eursstudium, zum Beispiel Berech-nung, Modellierung und physikali-sche Grundlagen. Absolventen mitdiesem Hintergrund sind für unsattraktiver, wenn es um die konkre-te Fahrzeugentwicklung geht.

Sind die Physiker nur Lücken-büßer für fehlende Ingenieure?

Nein, das auf keinen Fall. Gera-de im Simulationsbereich sind Phy-siker gefragt.

Suchen Sie vor allem solche, diespezielle Vorkenntnisse haben?

Das ist sicherlich hilfreich, mussaber nicht sein. Was zählt sind Per-sönlichkeit und Flexibilität. Wir ha-ben inzwischen Entwicklungszyklenvon drei Jahren für ein neues Mo-dell. Damit einher gehen neue Ma-

terialien, neue Fertigungsmethoden,neue Organisationsformen. Da isteine gewisse Lebendigkeit gefragt.

Wie kommt man an eine Stellebei VW?

Wir schreiben nur wenige Stellengezielt aus. Es gibt viele Absolven-ten, die sich auf eigene Initiativebewerben, und auf diese könnenwir zurückgreifen. Viele finden überein Praktikum, eine Diplom- oderDoktorarbeit zu uns. Außerdem ge-hen wir zu den einschlägigen Ab-solventenmessen, zum Beispiel inBraunschweig, Aachen, Hannover,Köln und Berlin.

Haben Sie denn zurzeit nochgenügend Spontanbewerbungen vonPhysikern?

Ja. Aber wir machen uns natür-lich Gedanken über die rückläufi-gen Studentenzahlen. Die einzelnenBereiche haben inzwischen dieMöglichkeit, über das Internet Stel-len auszuschreiben. Auch Diplom-und Promotionsstellen.

Wie viele Promotionsstellen bie-ten Sie an?

Wir haben 80 Promotionsstellenmit dreijähriger Laufzeit, 70 vondiesen sind mit Ingenieuren besetzt.Ob wir in ein bis zwei Jahren – we-gen des Rückgangs der Studenten-zahlen – noch alle Stellen besetzenkönnen, muss abgewartet werden.

Wie hoch ist das Einstiegsge-halt?

Für promovierte Physiker 7400Mark im Monat, bei einer 30-Stun-den-Woche. Durch bezahlte Über-stunden kann sich das Entgelt je-doch deutlich steigern. Diplomphy-siker steigen bei 5900 Mark ein, wiedie Ingenieure. Diplomanden be-kommen bei uns 800 bis 1000Mark, Doktoranden 3600 Mark.

Wie kann man bei VW Karrieremachen?

Wir haben pro Jahr 35 Traineesfür alle Werke. Sie durchlaufen ein15-monatiges Programm. An-schließend arbeitet man zwei Jahrein einem Bereich und geht dann inein dreitägiges „Assessment-Cen-ter“. Direkteinsteiger müssen min-destens drei Jahre dabei sein, bevorsie für das Assessment-Center vor-geschlagen werden können. Werdas positiv besteht, kommt in einfünfjähriges Programm mit Job-Rotation und Weiterbildung.Anschließend muss man warten –und Glück haben. Zur rechten Zeitan der rechten Stelle sein. Danngehört man als „Experte“, Gruppen-leiter, Unterabteilungsleiter oderAbteilungsleiter zum Management.