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M. Rapport: 1848 Revolution in Europa 2012-2-054 Rapport, Mike: 1848. Revolution in Europa. Stuttgart: Theiss Verlag 2011. ISBN: 978-3- 8062-2430-6; 496 S. Rezensiert von: Sara Sophie Stern, SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“, Eberhard Karls Uni- versität Tübingen „1848. The Year of Revolutions“ 1 , „1848. Re- volution in Europa“ 2 – so oder ähnlich sind die zahlreichen Publikationen betitelt, die sich aus den unterschiedlichsten wissenschaftli- chen Perspektiven mit den Ursachen und Fol- gen der Ereignisse des Jahres 1848 in Europa beschäftigen. 3 Im Jahr 2008 gesellte sich Mi- ke Rapports Buch „1848. Year of Revolution“ 4 dazu, das nun im Konrad Theiss Verlag un- ter dem Titel „1848. Revolution in Europa“ in deutscher Übersetzung erschienen ist. Der Inhalt des Buches ergibt sich aus der Kombination des englischen und deutschen Titels. Es geht um die Revolution oder viel- mehr die Revolutionen des Jahres 1848 in Eu- ropa. Das Anliegen des Autors ist es, die Er- eignisse aus einer europäischen, transnatio- nalen Perspektive synchron darzustellen und gleichzeitig die Chronologie des Revolutions- jahres so zu erzählen, „dass sie hoffentlich mit Genuss zu lesen ist“ (S. 7). Demzufolge betrachtet Rapport in den ersten beiden Ka- piteln („Ein Wald von Bajonetten“ und „Der Zusammenbruch“) zunächst die europäische Gesamtsituation vor Ausbruch der Revolu- tion. Nachdem die Menschen 1789 „in den Strudel geschleudert [worden waren], der Eu- ropa mehr als zwei Dekaden lang erschüt- terte“, habe seit 1814 die „konservative eu- ropäische Ordnung“ (S. 15) ihr Leben be- stimmt. Für die folgenden Jahre bis zum Früh- jahr 1848 zeichnet Rapport ein Bild, in dem in verschiedenen Ländern Europas sogenann- te „Berufsrevolutionäre“ (S. 31) aufgrund der weit verbreiteten sozialen und wirtschaftli- chen Not die Unzufriedenheit der Bevölke- rung nutzten, um die tiefgreifende öffentli- che Meinung auf ihre Seite zu ziehen, welche durch das Entstehen einer mobile Massenge- sellschaft an Bedeutung gewann. Den Zusam- menbruch der alten Ordnung „erwartete fast jeder [. . . ] angesichts des Drucks [. . . ] und der Breschen, die nun in ihre Befestigungsanlagen geschlagen wurden.“ (S. 54) Anschaulich und detailreich beschreibt der Autor Ausbruch und Verlauf gewaltsamer Unruhen in Paris, Wien, Berlin, Mailand, Venedig, Budapest sowie anderen Städten und Gegenden und schließt in seine Erzäh- lung auch unbekanntere Episoden und Re- gionen – wie etwa die Darstellung verschie- dener Konflikte an den Grenzen Europas zum Osmanischen Reich – mit ein. Auch die Entwicklungen europäischer Staaten, in de- nen keine gewaltsamen Revolutionen statt- fanden, zum Beispiel Spanien, Großbritanni- en, Russland oder die skandinavischen Län- der, lässt er nicht unerwähnt und gewährt so- gar hier und da einen Blick auf den amerika- nischen Kontinent. Das Buch verschafft Hel- den, Beobachtern und Gegenspielern der Re- volution einen ganz eigenen Auftritt. So be- kommt der Leser, nicht nur malerische Por- traits des ungarischen Revolutionärs Kossuth oder des „Held[en] der Habsburgischen Ge- genrevolution: Alfred Fürst von Windisch- grätz“ (S. 246) zu sehen, sondern erfährt auch etwas über den „konservative[n] Leuteschin- der Fuad Pascha“ (S. 259) oder den „geistrei- che[n] doch etwas weltfremd-idealistische[n] Giuseppe Mazzini“ (S. 31). Wirklich gelun- gen sind die nahezu literarisch und mit ausge- sprochener Expertise erzählten Darstellungen französischer Ereignisse: Die Sicht der am Ju- niaufstand Beteiligten wird rekonstruiert und mit Quellenkritik verbunden (S. 217ff.). Lei- der sind diese Episoden relativ rar, da sich der Autor mit Ausnahme der Bestände der Archi- ves Nationales in Paris auf gedruckte Quellen und Sekundärliteratur stützt. Die Auswahl der verwendeten Forschungsliteratur ist ins- gesamt schwer nachzuvollziehen, weil dem fachlich interessierten Leser kein Literaturver- zeichnis zur Verfügung steht. Dies ist scha- 1 Peter H. Wilson (Hrsg.), 1848. The Year of Revolutions, Aldershot 2006. 2 Heiner Timmermann (Hrsg.), 1848. Revolution in Eu- ropa. Verlauf, politische Programme, Folgen und Wir- kungen, Berlin 1999. 3 Vgl. u.a.: Manfred Botzenhart, 1848/49. Europa im Umbruch, Paderborn 1994, Dieter Dowe / Heinz- Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hrsg.), Euro- pa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998; Axel Kör- ner (Hrsg.), 1848 – A European Revolution? Interna- tional Ideas and National Memories of 1848, Hound- mills 2004; Jonathan Sperber, The European Revoluti- ons, 1848-1851, Cambridge 1994. 4 Mike Rapport, 1848. Year of Revolution, London 2008. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.

Rapport, Mike: 1848. Revolution in Europahsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-054.pdf · HistLit 2012-2-054 / Sara Sophie Stern über Rapport, Mike: 1848. Revolution

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M. Rapport: 1848 Revolution in Europa 2012-2-054

Rapport, Mike: 1848. Revolution in Europa.Stuttgart: Theiss Verlag 2011. ISBN: 978-3-8062-2430-6; 496 S.

Rezensiert von: Sara Sophie Stern, SFB 923„Bedrohte Ordnungen“, Eberhard Karls Uni-versität Tübingen

„1848. The Year of Revolutions“1, „1848. Re-volution in Europa“2 – so oder ähnlich sinddie zahlreichen Publikationen betitelt, die sichaus den unterschiedlichsten wissenschaftli-chen Perspektiven mit den Ursachen und Fol-gen der Ereignisse des Jahres 1848 in Europabeschäftigen.3 Im Jahr 2008 gesellte sich Mi-ke Rapports Buch „1848. Year of Revolution“4

dazu, das nun im Konrad Theiss Verlag un-ter dem Titel „1848. Revolution in Europa“ indeutscher Übersetzung erschienen ist.

Der Inhalt des Buches ergibt sich aus derKombination des englischen und deutschenTitels. Es geht um die Revolution oder viel-mehr die Revolutionen des Jahres 1848 in Eu-ropa. Das Anliegen des Autors ist es, die Er-eignisse aus einer europäischen, transnatio-nalen Perspektive synchron darzustellen undgleichzeitig die Chronologie des Revolutions-jahres so zu erzählen, „dass sie hoffentlichmit Genuss zu lesen ist“ (S. 7). Demzufolgebetrachtet Rapport in den ersten beiden Ka-piteln („Ein Wald von Bajonetten“ und „DerZusammenbruch“) zunächst die europäischeGesamtsituation vor Ausbruch der Revolu-tion. Nachdem die Menschen 1789 „in denStrudel geschleudert [worden waren], der Eu-ropa mehr als zwei Dekaden lang erschüt-terte“, habe seit 1814 die „konservative eu-ropäische Ordnung“ (S. 15) ihr Leben be-stimmt. Für die folgenden Jahre bis zum Früh-jahr 1848 zeichnet Rapport ein Bild, in demin verschiedenen Ländern Europas sogenann-te „Berufsrevolutionäre“ (S. 31) aufgrund derweit verbreiteten sozialen und wirtschaftli-chen Not die Unzufriedenheit der Bevölke-rung nutzten, um die tiefgreifende öffentli-che Meinung auf ihre Seite zu ziehen, welchedurch das Entstehen einer mobile Massenge-sellschaft an Bedeutung gewann. Den Zusam-menbruch der alten Ordnung „erwartete fastjeder [. . . ] angesichts des Drucks [. . . ] und derBreschen, die nun in ihre Befestigungsanlagengeschlagen wurden.“ (S. 54)

Anschaulich und detailreich beschreibt derAutor Ausbruch und Verlauf gewaltsamerUnruhen in Paris, Wien, Berlin, Mailand,Venedig, Budapest sowie anderen Städtenund Gegenden und schließt in seine Erzäh-lung auch unbekanntere Episoden und Re-gionen – wie etwa die Darstellung verschie-dener Konflikte an den Grenzen Europaszum Osmanischen Reich – mit ein. Auch dieEntwicklungen europäischer Staaten, in de-nen keine gewaltsamen Revolutionen statt-fanden, zum Beispiel Spanien, Großbritanni-en, Russland oder die skandinavischen Län-der, lässt er nicht unerwähnt und gewährt so-gar hier und da einen Blick auf den amerika-nischen Kontinent. Das Buch verschafft Hel-den, Beobachtern und Gegenspielern der Re-volution einen ganz eigenen Auftritt. So be-kommt der Leser, nicht nur malerische Por-traits des ungarischen Revolutionärs Kossuthoder des „Held[en] der Habsburgischen Ge-genrevolution: Alfred Fürst von Windisch-grätz“ (S. 246) zu sehen, sondern erfährt auchetwas über den „konservative[n] Leuteschin-der Fuad Pascha“ (S. 259) oder den „geistrei-che[n] doch etwas weltfremd-idealistische[n]Giuseppe Mazzini“ (S. 31). Wirklich gelun-gen sind die nahezu literarisch und mit ausge-sprochener Expertise erzählten Darstellungenfranzösischer Ereignisse: Die Sicht der am Ju-niaufstand Beteiligten wird rekonstruiert undmit Quellenkritik verbunden (S. 217ff.). Lei-der sind diese Episoden relativ rar, da sich derAutor mit Ausnahme der Bestände der Archi-ves Nationales in Paris auf gedruckte Quellenund Sekundärliteratur stützt. Die Auswahlder verwendeten Forschungsliteratur ist ins-gesamt schwer nachzuvollziehen, weil demfachlich interessierten Leser kein Literaturver-zeichnis zur Verfügung steht. Dies ist scha-

1 Peter H. Wilson (Hrsg.), 1848. The Year of Revolutions,Aldershot 2006.

2 Heiner Timmermann (Hrsg.), 1848. Revolution in Eu-ropa. Verlauf, politische Programme, Folgen und Wir-kungen, Berlin 1999.

3 Vgl. u.a.: Manfred Botzenhart, 1848/49. Europa imUmbruch, Paderborn 1994, Dieter Dowe / Heinz-Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hrsg.), Euro-pa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998; Axel Kör-ner (Hrsg.), 1848 – A European Revolution? Interna-tional Ideas and National Memories of 1848, Hound-mills 2004; Jonathan Sperber, The European Revoluti-ons, 1848-1851, Cambridge 1994.

4 Mike Rapport, 1848. Year of Revolution, London 2008.

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de, weil die kenntnisreiche Darstellung zeigt,dass der Autor mit der umfangreichen For-schungsliteratur zum Thema sehr vertraut ist.

Rapport strukturiert seine Erzählung derRevolution von 1848 mit Hilfe der vier Jah-reszeiten: „Völkerfrühling“, „Glutroter Som-mer“, „Herbst der Gegenrevolution“ undschließlich „1849 – Winterzeit der Revoluti-on“. Außerdem legt er ihr drei große Themen-komplexe zugrunde: „Nationalismus“, „Ver-fassung und Demokratie“ sowie „die sozia-le Frage“ (S. 7-9). Gleichzeitig beleuchtet ereinzelne Protagonisten der Revolution undGegenrevolution, indem er sie in eine dra-matische, narrative Struktur einbindet unddurch eine gezielt subjektive Perspektivie-rung für den Leser zu Identifikationsfigurenwerden lässt. Diese Erzählstruktur erlaubt esdem Autor, sowohl die Kausalität und Kon-tinuität als auch die Synchronität und Wi-dersprüchlichkeit der Ereignisse zu erfassen.So erfährt man auch, wie Erzählen und Er-innern die Kämpfe mitbestimmte – beispiels-weise kursierten in Venedig Geschichten übereinen Mailänder Aufstand und hielten damitden Enthusiasmus für die Revolution am Le-ben (S. 105). Dass die ausschließliche Darstel-lung von Handlungsabläufen ihre Grenzenhat, zeigen Episoden, die die Widersprüch-lichkeit der Ereignisse veranschaulichen sol-len. So wird die Tatsache, dass im August1848 revolutionäre ungarische Bataillone imAuftrag der Gegenrevolution in Venedig ein-marschieren, um die dortigen Revolutionä-re zu bekämpfen, zwar als „bittere Ironie“(S. 368) bezeichnet, aber die Frage, was ge-nau an dieser Revolution eigentlich europä-isch war, wird innerhalb des Textes weder ex-plizit gestellt noch implizit beantwortet. Ei-ne analytische Textebene, auf der beispiels-weise die Tatsache klar gemacht wird, dassdie Revolutionäre von 1848 vor allem natio-nal agierten, während die monarchisch or-ganisierte Gegenrevolution europäische Al-lianzen schloss, wäre wünschenswert gewe-sen.5 Zwar lassen sich solche und ähnlicheSchlussfolgerungen im letzten Kapitel des Bu-ches finden, aber auch hier verdeckt unterdem subjektiv-polemisierenden Stil, der dengesamten Text durchzieht: „Da sich die na-tionalen Ambitionen der Liberalen eines Lan-des ausnahmslos mit denen ihrer Nachbarn

überschnitten, war das Gerede von Europaund von internationaler Brüderlichkeit allzuoft leeres Geschwätz.“ (S. 410)

Was ist das Besondere an diesem Werkmit dem vertraut klingenden Titel? Wie MikeRapport selbst erwähnt, wurde die Geschich-te von 1848 bereits viele Male erzählt. In die-sem Buch soll – so ist es im Vorwort zu lesen– dem „Problem der historischen Synchroni-sation“ begegnet werden, indem das „wahr-haft königliche Chaos“ (S. 7) von 1848 darge-stellt wird. So ist ein Text entstanden, der her-vorragend geeignet scheint, einem nichtwis-senschaftlichen Publikum die Dramatik undKomplexität der Geschichte näher zu bringen.Für eine weiterführende fachliche Auseinan-dersetzung eignet sich das Buch weniger gut.Mike Rapport stellt nicht Ursachen, Folgenund Analyse der Ereignisse des Jahres 1848 inEuropa in den Vordergrund, sondern erzähltgekonnt, was wann wo passiert ist und zeigtdamit letztlich, wie eindringlich Revolutioneneine bestimmte narrative Struktur provozie-ren.6

HistLit 2012-2-054 / Sara Sophie Stern überRapport, Mike: 1848. Revolution in Europa.Stuttgart 2011, in: H-Soz-Kult 19.04.2012.

5 Vgl.: Dieter Langewiesche, Die europäischen Revo-lutionen 1848. Erinnern für ein zusammenwachsen-des Europa, in: Beatrix Bouvier / Michael Schneider(Hrsg.), Geschichtspolitik und demokratische Kultur.Bilanz und Perspektiven, Bonn 2008, S. 13-21.

6 Vgl.: Crane Brinton, The Anatomy of Revolution, Lon-don 1953; Eric Selbin, Gerücht und Revolution. Von derMacht des Weitererzählens, Darmstadt 2010.

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