Ray Bradbury-Das Böse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

Embed Size (px)

Citation preview

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    1/304

    Ray Bradbury

    Das Bse kommt aufleisen Sohlen

    Scan: dago33Korrektur: panic

    Version 1.0, Januar 2003

    Dieses ebook ist nicht zum Verkauf

    bestimmt

    In eine kleine Stadt in den USA kommt eines Tages einZirkus, der von den beiden 14jhrigen Jungen JimNightshade und Will Halloway natrlich freudig begrtwird. Bald aber merken sie, da mit diesem Zirkus etwasnicht stimmt, da auf merkwrdige Weise in das Lebender Karussellpassagiere eingegriffen wird. Die Besitzer

    des Karussells scheinen nur auf unglckliche Opfer zuwarten, sich regelrecht von ihren Leiden zu ernhren. Alssie merken, da Jim und Will sie durchschaut haben,beginnen sie mit einer unheimlichen Jagd auf die beidenJungen.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    2/304

    Ray Bradbury

    Das Bsekommt

    auf leisen

    SohlenRoman

    Aus dem Amerikanischen vonNorbert Wlfl

    Diogenes

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    3/304

    Titel der amerikanischen Originalausgabe:Something Wicked This Way Comes

    (Simon & Schuster, Inc., New York 1962)

    Copyright 1962 by Ray BradburyDie deutsche Erstausgabe erschien 1969im Marion von Schrder Verlag, Hamburg und

    DsseldorfUmschlagzeichnung von

    Tomi Ungerer

    Alle deutschen Rechte vorbehaltenCopyright 1981 by

    Diogenes Verlag AG Zrich40/84/36/4

    ISBN 3 257 20866 9

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    4/304

    Aus Dankbarkeitan Jennet Johnson, die mir beibrachte,wie man eine Kurzgeschichte schreibt,

    und an Snow Longley Housh, der mirvor langer Zeit an der Los Angeles High SchoolDichtung beibrachte,

    und anJack Guss,

    der mir, vor nicht so langer Zeit,bei diesem Roman geholfen hat

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    5/304

    Inhalt

    Prolog 7I Ankunft 10

    II Verfolgungen 124III Abreise 244

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    6/304

    Es liebt der Mensch, und waser liebt, entschwindet.

    W.B. Yeats

    Denn jene knnen nicht schlafen,wenn sie nicht bel getan,

    und sie ruhen nicht, wenn sie nicht Schaden getan.Sie nhren sich vom Brot

    des Frevels und trinken vomWein der Gewalttat.Sprche, 4: 16-17

    Ich kenn nicht alles, was dakommen soll, doch sei es,was es will, ich werd ihm

    lachend begegnen.Stubb in Moby-Dick

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    7/304

    Prolog

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    8/304

    Vor allem war Oktober, ein kstlicher Monat fr

    Jungen. Nicht da alle anderen Monate nicht auchkstlich wren. Doch sind bse und gute darunter, wiedie Piraten sagen. September zum Beispiel ist ein bserMonat, die Schule beginnt. Oder August, ein guterMonat; die Schule hat noch nicht wieder angefangen?Juli? Ja, der Juli ist auch schn: weit und breit keinSchulbeginn in Sicht. Der Juni aber, daran kann keinZweifel bestehen, der Juni ist der allerbeste Monat, denn

    da ffnen sich die Schultore weit und der September istnoch eine Ewigkeit entfernt.

    Aber betrachten wir einmal den Oktober. Seit einemMonat geht man wieder in die Schule, die Zgel werdenetwas lockerer gelassen, man trabt so dahin. Man hatschon wieder Zeit, an den Mll zu denken, den man demalten Prickett auf die Veranda kippen will, oder an dasAffenkostm, das man am letzten Abend des Monatszum Jugendfest tragen wird. Und wenn um denZwanzigsten ein rauchiger Duft in der Luft liegt und derHimmel in der Dmmerung orangefarben und aschgrauschimmert, dann glaubt man, die Geisternacht vorAllerheiligen wrde nie mit klappernden Besenstielenund leise um die Ecken flatternden Bettchernhereinbrechen.

    Doch in dem einen seltsam wilden dunklen langen Jahr,da kam Allerheiligen verfrht.Eines Jahres begann Allerheiligen schon am 24.

    Oktober, drei Stunden nach Mitternacht.In diesem Jahr war James Nightshade aus der Oak

    Street Nummer 97 dreizehn Jahre, elf Monate unddreiundzwanzig Tage alt. William Halloway von nebenanwar dreizehn Jahre, elf Monate und vierundzwanzig Tage

    alt. Beide streckten ihre Hnde nach dem vierzehnten

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    9/304

    Geburtstag aus und sprten ihn fast schon leise zitterndzwischen ihren Fingern.

    Das war jene Woche im Oktober, in der sie ber Nachterwachsen wurden, in der das Jungsein ihnen entglitt...

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    10/304

    IAnkunft

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    11/304

    Erstes Kapitel

    Der Blitzableiterverkufer kam kurz vor dem Gewitter.Am Sptnachmittag dieses wolkenverhangenenOktobertages ging er die Hauptstrae von Green Townentlang und warf immer wieder verstohlene Blicke berdie Schulter. Irgendwo da hinten, gar nicht weit entfernt,erbebte die Erde unter gewaltigen Blitzen. Irgendwosprte er das Gewitter, dieses riesige Ungeheuer mit den

    schrecklichen Zhnen.So ging der Vertreter von Tr zu Tr, klapperte mit

    seiner berdimensionalen Ledertasche voller seltsamereiserner Puzzles und sagte immer wieder sein Sprchleinauf, bis er an den Rasen kam. Hier stimmte etwas nicht.Er war ganz falsch gemht.

    Nein. Es war nicht der Rasen. Der Vertreter hob denBlick. Es waren die beiden Jungen, die oben auf einemkleinen Hgel im Gras lagen. Die beiden Jungen warenungefhr gleich gro und gleich krftig. Sie saen da,schnitzten Weidenpfeifen und redeten ber Vergangenesund Knftiges. Den ganzen vergangenen Sommer berwar in Green Town nichts vor ihnen sicher gewesen, wasnicht niet- und nagelfest war; jeder Weg und Pfad, jederQuadratfu Boden zwischen hier und dem See trug ihre

    Fuspuren, seit die Schule wieder begonnen hatte.Hallo, Jungs! rief der Mann im sturmfarbenenMantel. Jemand zu Hause?

    Die Jungen schttelten die Kpfe.Habt ihr etwas Geld?Die Jungen schttelten die Kpfe.Hm... Der Vertreter kam noch zwei oder drei Schritte

    nher, dann blieb er stehen und zog die Schultern ein.

    Pltzlich schienen ihn die Fenster eines Hauses

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    12/304

    anzustarren, oder vielleicht war es auch der kalte Blickeines Wolkenauges, den er im Nacken sprte. Er drehte

    sich langsam um und hob die Nase in den Wind. Derrttelte an den kahlen Bumen. Durch ein Wolkenlochbrach ein feiner Sonnenstrahl und malte die letztenEichenbltter an den Zweigen golden an. Aber dannverschwand die Sonne, der Schimmer verblich, allesverflo grau in grau. Der Vertreter lste sich von demBann.

    Langsam ging er durch das Gras den Hgel hinauf.Wie heit du denn, mein Junge?Der erste Junge, weiblond wie eine Distel, kniff ein

    Auge zu und blinzelte den Vertreter an. Sein offenesAuge schimmerte gro, hell und klar wie ein TropfenSommerregen.

    Will, antwortete er. Will Halloway.Der gewittergraue Herr wandte sich an den zweiten.

    Und du?Der zweite Junge regte sich nicht. Er lag buchlings imHerbstgras und berlegte, ob er nicht lieber einen Namenerfinden sollte. Sein wirrer, dichter Haarschopf glnztewie eine polierte Kastanie. Seine smaragdgrnschimmernden Augen blickten starr auf einen fernenPunkt irgendwo tief in seinem Innern. Schlielichschob er sich lssig einen Grashalm zwischen die Lippen.

    Jim Nightshade, murmelte er.Der Gewittermann nickte, als htte er das gleich

    gewut.Nightshade. Nachtschatten. Was fr ein Name!Sehr treffend, sagte Will Halloway. Ich bin eine

    Minute vor Mitternacht zur Welt gekommen, am 30.Oktober, er eine Minute nach Mitternacht. Also am 31.

    Oktober.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    13/304

    Ihren Stimmen war anzumerken, da sie ihr ganzesLeben lang diese Geschichte immer wieder erzhlt

    hatten, stolz auf ihre Mtter, die Tr an Tr wohnten, zurgleichen Zeit ins Krankenhaus gebracht wurden und imAbstand von wenigen Sekunden ihre Shne zur Weltbrachten. Einer hell, einer dunkel. Sie feierten immerzusammen. Jahr fr Jahr durfte Will die Kerzen auf demgemeinsamen Geburtstagskuchen eine Minute vorMitternacht anznden. Eine Minute nach Mitternacht,wenn der letzte Tag des Monats angebrochen war, bliesJim sie wieder aus.

    Das erzhlte Will begeistert, und Jim nickteschweigend. Der Vertreter las die Geschichte von ihrenGesichtern ab. Er war vor dem Gewitter hergelaufen,aber hier zgerte er.

    Halloway. Nightshade. Kein Geld in der Tasche,wie?

    Der Mann seufzte ber seine eigeneGewissenhaftigkeit, ffnete die gewaltige Ledertascheund holte ein Ding aus Eisen heraus.

    Ich schenk's euch. Warum? Weil der Blitz in eins vondiesen Husern einschlagen wird. Kein Blitzableiter peng! Feuer und Asche, verkohltes Fleisch undglimmendes Holz. Da, nimm schon!

    Der Mann lie den Blitzableiter los. Jim rhrte sich

    nicht. Aber Will griff nach dem Eisenstck undschnappte nach Luft.

    Junge, ist das schwer! So einen komischenBlitzableiter hab ich noch nie gesehen. Schau mal, Jim!

    Jim rekelte sich schlielich wie eine Katze und wandteihm den Kopf zu. Seine grnen Augen wurden erst sehrgro und dann sehr eng.

    Das Eisending war teils wie ein Halbmond, teils wie

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    14/304

    ein Kreuz geformt. An den Hauptstab waren ringsherumeigentmliche Schnrkel und Dinger nachtrglich

    aufgeschweit worden. Die ganze Oberflche des Stabeswar mit winzigen Zeichen graviert, mit Namen, an denenman sich die Zunge zerbrechen konnte, mit Zahlen, dieunfabare Gren ergaben, mit Darstellungen vonInsekten mit starrenden Borsten und Klauen.

    Das ist etwas gyptisches. Jim deutete mit der Naseauf einen Kfer, der auf das Eisen aufgeschweit war.Ein Skarabus.

    Stimmt, mein Junge.Jim blinzelte. Und das da phnizische

    Schriftzeichen.Richtig.Warum? fragte Jim.Warum? wiederholte der Mann. Warum gyptisch,

    Arabisch, Abessinisch, Tschokta? Nun, welche Sprache

    spricht der Wind? Welcher Nation gehrt ein Sturm an?Aus welchem Lande kommt der Regen? Welche Farbehat ein Blitz? Wohin verrollt der Donner, wenn ererstirbt? Jungs, ihr mt in jeder Sprache, in jedemDialekt und auf jede erdenkliche Weise bereit sein, dieElmsfeuer zu bannen, die blauen Lichtkugeln, die wiefauchende Katzen dahinschleichen. Ich habe die einzigenBlitzableiter der Welt, die hren, fhlen und wissen, die

    jedes Gewitter, gleich welcher Sprache, Form undErscheinungsweise, bezwingen. Kein fremder Donnerkann seine Stimme so laut erheben, da dieser Stab ihnnicht besnftigen wrde.

    Aber Will blickte ber den Mann hinweg.In welches Haus wird's einschlagen? fragte er.In welches? Augenblick. Wartet. Der Vertreter

    betrachtete aufmerksam, forschend ihre Gesichter.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    15/304

    Manche Leute ziehen Gewitter an. Sie saugen siefrmlich ein wie Katzen den Atem neugeborener Babys.

    Manche Menschen sind negativ gepolt, andere positiv.Einige glimmen im Dunkeln. Andere gehen aus. Ihrbeiden...

    Jim unterbrach ihn mit glitzernden Augen: Woherwollen Sie eigentlich wissen, da der Blitz berhaupt hierin der Nhe einschlagen wird?

    Der Vertreter zuckte ein wenig zurck. Nun, ich habeine Nase dafr, ein Auge, ein Ohr. Diese beiden Huser,die Balken hrt doch nur!

    Sie lauschten. Duckten sich die Huser nicht ein wenigim Nachmittagswind? Vielleicht auch nicht.

    Blitze brauchen Kanle, in denen sie flieen wieWasser. Eine von diesen Mansarden ist einausgetrocknetes Flubett, in das im nchsten Augenblickder Blitz einbrechen kann. Heute abend.

    Heute abend? Jim setzte sich erfreut auf.Kein gewhnliches Gewitter, erklrte der Vertreter.Lat euch das von Tom Fury gesagt sein. Fury! Wut,Zorn, Furien ist das nicht ein toller Name fr einen, derBlitzableiter verkauft? Hab ich mir den Namenausgesucht? Nein! Ob der Name an meinem Beruf schuldist? Ja! Ich wuchs auf und sah umwlkte Feuer in dieErde schlagen, sah die Menschen rennen und sich

    verstecken. Da dachte ich: Zeichne sie auf, die Hurrikans,mach dir eine Karte der Gewitter, dann lauf vor ihnenher, schttle deine eisernen Keulen, deineWunderschilde! Ich hab hunderttausend Huserbeschtzt, ungezhlten gottesfrchtigen Menschensichere Heime geschaffen. Deshalb hrt auf mich, Jungs,wenn ich euch sage: euch droht Unheil! Steigt auf das

    Dach, noch vor Einbruch der Nacht. Nagelt den

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    16/304

    Blitzableiter an die hchste Stelle und verankert dieLeitung gut im Boden.

    Aber welches Haus? Welches? fragte Will.Der Vertreter ging ein paar Schritte zurck, schneuzte

    sich in ein groes Taschentuch und schlich dannlangsam, vorsichtig, als nhere er sich einer tickendenZeitbombe, ber den Rasen.

    Er berhrte einen Pfosten des Hauses, in dem Willwohnte, lie die Hand ber die Holzverkleidung gleitenund ber ein Fubodenbrett der Veranda. Dann schlo erdie Augen und lehnte sich an das Haus, um sein Gerstflstern zu hren.

    Zgernd und tastend nherte er sich daraufhin JimsHeim.

    Jim erhob sich, um den Mann besser beobachten zuknnen.

    Der Vertreter streckte die Hand aus. Er berhrte das

    Holz, streichelte es. Seine Fingerspitzen glittenvibrierend ber die alte, abbltternde Farbe.Das hier! sagte er schlielich. Das hier ist es!Darauf sah Jim stolz drein.Der Vertreter fragte, ohne sich umzusehen: Wohnst

    du hier, Jim Nightshade?Ja, antwortete Jim.Hab ich mir gedacht, murmelte der Mann.

    Und ich? fragte Will.Der Vertreter hob den Kopf und schnffelte in

    Richtung auf Wills Haus hinber. Nein, nein. Schn,vielleicht werden ein paar Funken von der Dachrinnesprhen, aber das richtige Theater findet hier bei denNightshades statt. So!

    Der Vertreter kam rasch ber den Rasen zurck und

    griff nach seiner gewaltigen Ledertasche.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    17/304

    Mu mich beeilen. Gewitter kommt bald. Wart nichtzu lange, Jim. Sonst bums! Dann finden sie dich, und

    die Mnzen, das Taschenmesser und der andere Kram inden Taschen ist zu einem Klumpenzusammengeschmolzen, das Silber luft dir dieHosenbeine runter. Und noch etwas: Wird ein Junge vomBlitz erschlagen, dann heb sein Augenlid hoch. Aufseiner Pupille kannst du die letzte Szene eingeprgtfinden, die er erblickt hat, fein und winzig wie dasVaterunser auf einem Stecknadelkopf. Ein Foto, wie derBlitz herunterpfeift und deine Seele die glhende Trepperaufholt! Beeil dich, mein Junge! Hol Hammer undNgel, sonst bist du vor dem Morgengrauen tot.

    Der Vertreter schwang seine Tasche mit denEisenstben in der Hand und lief den Weg entlang.Blinzelnd hob er den Blick zum Himmel, dem Dach, denBumen. Dann schlo er die Augen im Gehen, sog

    schnaufend die Luft durch die Nase ein und murmelte:Ja, wird schlimm. Kann's genau fhlen. Noch weit weg aber es kommt. Schnell, immer schneller...

    Dann war der Mann im gewitterdunklen Mantelverschwunden. Den wolkenfarbenen Hut hatte er tief insGesicht gezogen. In den Bumen raschelte es, derHimmel sah pltzlich sehr alt aus, und die beiden Jungenstanden da, die Nase in den Wind erhoben. Roch es

    schon nach Elektrizitt? Der Blitzableiter lag zwischenihnen am Boden.

    Jim, steh nicht so rum, sagte Will. Euer Haustrifft's, hat er gesagt. Du wirst doch den Blitzableiterannageln, wie?

    Jim lchelte. Nein. Warum soll ich uns den ganzenSpa verderben?

    Spa! Bist du bergeschnappt? Ich hol die Leiter, du

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    18/304

    suchst inzwischen Hammer, Ngel und Draht.Aber Jim regte sich nicht. Will rannte davon und kam

    gleich darauf mit der Leiter wieder.Jim, denk doch an deine Mutter. Soll sie verbrennen?Will kletterte allein an der Seite des Hauses hoch und

    schaute sich um. Langsam trat Jim an die Leiter heranund kam ihm nach.

    In der Ferne, ber den wolkenverhangenen Bergen,grollte der Donner.

    Oben auf Jim Nightshades Dach roch die Luft frischund rauh. Selbst Jim mute das zugeben.

    Zweites Kapitel

    Nichts auf der ganzen Welt kommt Bchern gleich, dievon Wasserkuren, tausendfachem Tod oderweiglhenden Lavastrmen handeln, die sich berBurgmauern auf komische Figuren und Marktschreierergieen.

    Sagte Jim Nightshade, und etwas anderes las er nicht.Seine Bcher handelten davon, wie man eine Bankberfllt, wie man Katapulte baut oder schwarzeFledermauskostme fr den Mummenschanz macht.

    Jim konnte reden.

    Und Will, der konnte zuhren.Sie hatten den Blitzableiter auf Jims Dachfirst genagelt;Will war stolz, Jim schmte sich dieses Zeichens vonFeigheit, wie er sagte. Es war jedenfalls spt gewordenund hchste Zeit fr ihren wchentlichen Gang zurBibliothek.

    Wie alle Jungen gingen sie nie irgendwohin, sondernsie machten ein Ziel aus und schossen dann darauf los,

    was-haste-was-kannste. Keiner von beiden gewann.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    19/304

    Keiner wollte gewinnen. Sie wollten nur als Freundeimmer weiter und weiter rennen, Seite an Seite, Schatten

    an Schatten. Ihre Hnde klatschten gleichzeitig gegen dieTr der Bibliothek, gleichzeitig durchrissen sieZielbnder beim Wettlauf, ihre Tennisschuhe zogenparallele Spuren ber den Rasen, durch Bsche, Bumehinauf. Keiner verlor, und gemeinsam gewannen sie undsparten sich ihre Freundschaft fr andere Zeiten undandere Verluste auf.

    So war es auch an diesem Abend; der Wind erstwarm, dann khler wehte sie am Abend um acht Uhr indie Stadt. Sie sprten Schwingen, Federn an Fingern undEllbogen, dann blies sie pltzlich eine neueLuftstrmung, ein neuer, klarer Herbstwind, geradewegsauf die Bibliothek zu.

    Die Treppe hinauf, drei, sechs, neun, zwlf Stufen!Bums! Ihre Hnde klatschten an die Tr.

    Will und Jim lachten einander an. Alles war herrlich der windgepeitschte Oktoberabend drauen und drin dieBibliothek, die mit grnbeschirmten Lampen undPapyrusstaub auf sie wartete.

    Jim lauschte. Was ist das denn?Was? Der Wind?Wie Musik... Jim blinzelte zum fernen Horizont.Hr keine Musik.

    Jim schttelte den Kopf. Ist schon wieder weg. Warvielleicht gar nichts. Komm!

    Sie stieen die Tr auf und traten ein.Dann blieben sie stehen.Die Tiefen der Bibliothek lagen wartend vor ihnen.Drauen in der Welt ereignete sich nicht viel. Doch

    hier, an diesem sonderbaren Abend, in einem aus Papier

    und Lederrcken aufgemauerten Land, da war alles

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    20/304

    mglich. Alles geschah hier. Hr nur! ZehntausendMenschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, da

    nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schlepptenKanonen, schrften Guillotinen; Chinesen marschiertenbis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos doch Jim und Will besaen die Gabe des Gehrs, desGeruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eineFabrik fr Gewrze aus fernen Lndern. Hierschlummerten fremdartige Wsteneien. Ganz vorn standder Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss dieentliehenen Bcher eintrug, doch dahinter lagen Tibet,die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, dieandere Bibliothekarin, durch die uere Mongolei undtrug schweigend Brocken von Peking und Yokohama undCelebes auf dem Arm. Weit unten hinter der drittenRegalreihe raschelte im Dstern der Besen einesalternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten

    Gewrze zusammen.Will ri die Augen auf.Es war immer wieder eine neue berraschung fr ihn

    der alte Mann, seine Arbeit, sein Name.Das ist Charles William Halloway, dachte Will; nicht

    mein Grovater, nicht ein alter, entfernter Onkel, wiemanche glaubten, sondern mein Vater.

    Erschrak Vater beim Anblick seines Sohnes, der sich in

    diese unergrndliche Tiefe wagte? Dad machte immerein betroffenes Gesicht, wenn Will pltzlich vor ihmstand, als htten sie sich ein Leben lang nicht gesehen,als sei der eine inzwischen alt geworden und der anderejung geblieben. Stand diese Tatsache zwischen ihnen?

    Der alte Mann lchelte.Vorsichtig nherten sie sich einander.

    Du, Will? Bist seit heute morgen einen ganzen Zoll

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    21/304

    gewachsen. Charles Halloway sah an seinem Sohnvorbei. Jim? Schon wieder dunklere Augen, blassere

    Wangen. Wie eine Kerze, die von beiden Seiten herverbrennt, wie?

    Hlle, sagte Jim.Findest du unter A wie Alighieri.Von Allegorie halt ich nicht viel, sagte Jim.Dad lachte. Wie dumm von mir! Ich meine natrlich

    Dante. Sieh dir das an. Bilder von Dore. Zeigen alles,was es in der Hlle zu sehen gibt. Seelen, die bis an denHals im Schlamm versinken. Einer hngt verkehrt herum,einem haben sie das Innerste nach auen gekehrt.

    Sackzement, sagte Jim und betrachtete die Seite vonoben und von unten. Dann bltterte er weiter. KeineBilder von Dinosauriern?

    Dad schttelte den Kopf.Drben in der nchsten Reihe. Er schlenderte

    hinber und griff ins Regal. Da haben wir's:Pterodaktylus, der Todesfalke! Oder wie wr's mitTrommeln des Untergangs, die Sage von denDonnerechsen?Nichts fr dich, Jim?

    Brauch ich nicht.Dad blinzelte Will zu. Will blinzelte zurck. Da

    standen sie nun, ein Junge mit maisfarbenem Haar, einMann mit mondweiem Haar, der Junge mit einem

    Gesicht wie ein Sommerapfel der Alte mit dem einesWinterapfels. Dad, Dad, dachte Will, er sieht aus wie wie ich in einem zersplitterten Spiegel!

    Pltzlich mute Will an die Nchte denken, wenn erum zwei Uhr auf die Toilette mute und ber die Huserder Stadt hinwegblickte zu dem einsamen Licht imobersten Fenster der Bibliothek und wute, Dad war

    wieder einmal lnger dageblieben und las

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    22/304

    mutterseelenallein im grnen Lampendschungel. DerAnblick dieses Lichtscheins stimmte Will traurig. Es

    stimmte Will traurig und komisch, dieses Licht zu sehenund zu wissen, da dieser alte Mann er vernderteschnell das Wort in all diesem Schatten war.

    Will, sagte der alte Mann, der Hausmeister, derzufllig sein Vater war. Will, und du?

    Wie? Will schttelte sich.Weie Hte oder schwarze Hte?Hte? fragte Will.Sie gingen weiter. Dad strich mit dem Finger ber die

    Buchrcken und erklrte: Jim trgt groe schwarze Hteund liest die entsprechenden Bcher. Bald wird er hiervon Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen weicherFilzhut, dunkel. Oder auch zu Dr. Faustus extragroerschwarzer Zauberhut. Fr dich, Will, sind die weienHte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und

    dann, auf der nchsten Stufe vielleicht Buddha.Mir egal, sagte Will. Ich nehme die GeheimnisvolleInsel.

    Was soll das ganze Gerede ber weie und schwarzeHte? fragte Jim grollend.

    Dad reichte Will seinen Jules Verne. Nun, ich habmich schon vor langer Zeit fr die Farbe meines Hutesentschieden.

    Und welchen hast du genommen? fragte Jim.Dad war berrascht. Dann lachte er verlegen.Wenn du so direkt fragst, machst du mich unsicher.

    Will, sag Mom, ich bin bald zu Hause. Und dann hinausmit euch beiden!

    Miss Watriss! rief er halblaut der Bibliothekarin hinterdem Tisch zu. Da kommen Dinosaurier und

    geheimnisvolle Inseln!

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    23/304

    Die Tr krachte zu.Drauen segelten Sterne am klaren Nachthimmel.

    Hlle. Jim hob die Nase, schnupperte nach Norden,nach Sden. Wo bleibt das Gewitter? Der verdammteVerkufer hat's doch versprochen. Ich mu das einfachsehen, wenn der Blitz meine Dachrinne entlangsaust.

    Will lie sich die Kleidung, die Haut, das Haar vomWind zausen. Dann sagte er leise: Kommt noch. GegenMorgen.

    Wer sagt das?Die Gnsehaut an meinen Armen.Na, groartig!Der Wind blies Jim davon.Wie ein Zwillingsfalke folgte ihm Will.

    Drittes Kapitel

    Charles Halloway sah den beiden Jungen nach undversprte den Wunsch, alles liegen und stehen zu lassenund mit ihnen zu laufen. Er wute, was der Wind mitihnen machte, nach welchen geheimnisvollen Orten er siewehte, die nie wieder so geheimnisvoll sein wrden. Inseiner Seele stieg ein trauriger Schatten auf. Mit einersolchen Nacht mu man laufen, sonst holt einen die

    Traurigkeit ein.Sieh dir das an, dachte er. Will rannte um des Rennenswillen, Jim, weil etwas vor ihm lag.

    Seltsamerweise rennen sie aber doch gemeinsam.Woran liegt das? dachte er, whrend er durch die

    Bibliothek ging und Lichter ausschaltete, Lichterausschaltete, Lichter ausschaltete. Steht es auf denWirbeln unserer Daumen, unserer Finger geschrieben?

    Warum sind manche Menschen wie fiedelnde, kratzende

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    24/304

    Grashpfer, Kfer mit vibrierenden Fhlern, von Kopfbis Fu Ganglien, die sich ewig verknoten und wieder

    und wieder verknoten? Ihr Ofen brennt das ganze Lebenlang lichterloh, von der Wiege an steht ihnen derSchwei auf der Lippe, schimmern ihre Augen. Csarshagere und hungrige Freunde. Sie essen Dunkelheit, dieda nur stehn und atmen.

    Jim ist so wespig wie eine Brennessel.Und Will? Er ist der letzte Pfirsich, hoch droben auf

    dem sommerlichen Baum. Bei manchen Jungen mu manweinen, wenn sie nur vorbergehen. Ihnen geht's gut, siesehen gut aus, sie sind brav. Natrlich pinkeln sie aucheinmal von einer Brcke oder stehlen einen billigenBleistiftanspitzer das ist es nicht. Nur wenn man sievorbeigehen sieht, da wei man schon, wie's ihr Lebenlang sein wird: Sie stecken Schlge, Wunden, Schmer-zen, Stiche ein und fragen stets nach dem Warum.

    Warum mu das so sein? Warum gerade sie?Aber Jim sieht es kommen, er wartet darauf, da esgeschieht, er behlt die Augen offen, leckt sich dieWunden, mit denen er gerechnet hat, fragt nie nach demWarum er wei es. Er wei immer, was ist. Lange vorihm war einer, der wute es auch, einer, der Wlfe alsSchohunde und Lwen als Bettgenossen hielt. Nein, Jimwei es nicht mit seinem Verstand, aber sein Leib wei

    es. Und whrend sich Will noch die letzte Wunde verbin-det, duckt sich Jim schon beiseite und entgeht dementscheidenden Schlag.

    Da gehen sie hin. Jim luft langsamer, damit Willmitkommt, der rennt schneller, damit er bei Jim bleibt.Jim wirft zwei Fenster in einem Geisterhaus ein, weilWill dabei ist; Will wirft wenigstens eines ein, weil Jim

    ihn beobachtet. Mein Gott, wie doch jeder seine Finger

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    25/304

    im Lehm des anderen hat! Das ist Freundschaft: Jederspielt den Tpfer, weil er wissen will, welche Form er

    dem anderen geben kann.Jim, Will, dachte er, beides Fremde. Lauft nur. Ich hol

    euch schon ein, irgendwann einmal...Die Tr der Bibliothek flog auf und schlo sich wieder.Fnf Minuten spter betrat er die Eckkneipe ein Glas

    trank er jeden Abend, ein einziges nur und hrtejemanden sagen:

    Den hab ich gelesen, als der Alkohol erfunden wurde,da glaubten die Italiener, sie htten die groe Sachegefunden, nach der man seit Jahrhunderten suchte. DasLebenselixier! Hast du das nicht gewut?

    Nein. Der Barmann kehrte ihm den Rcken zu.Der Mann fuhr fort: Na klar, Branntwein. Neuntes,

    zehntes Jahrhundert. Sah wie Wasser aus. Brannte aber.Ich meine, es brannte nicht nur in der Kehle und im

    Magen, man konnte es auch richtig anznden. Soglaubten sie, es sei eine Mischung aus Feuer und Wasser.Feuerwasser, das Lebenselixier mein Gott! Vielleichthatten sie gar nicht so unrecht, wenn sie glaubten, das seiein Allheilmittel, ein Wundertrank. Noch einen?

    Ich brauche keinen, sagte Halloway. Aber in mirdrin, da ist einer, der braucht ihn.

    Wer?

    Der Junge, der ich einmal war, dachte Halloway. DerJunge, der mit den wirbelnden Blttern den Wegentlangluft.

    Doch das konnte er nicht sagen.So trank er mit geschlossenen Augen und lauschte in

    sich hinein, ob das Ding da drin sich nicht wieder regteund in den Gestrpphaufen raschelte, die zum

    Verbrennen aufgehuft waren, doch nie brannten.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    26/304

    Viertes Kapitel

    Will blieb stehen und betrachtete die Freitagabendstadt.Es war seltsam als der erste Schlag der neunten Stundevom Glockenturm des Gerichtsgebudes ertnte,brannten noch die Lichter, und in allen Geschftenherrschte emsiges Treiben. Aber als der neunte Schlagdie Plomben in den Zhnen zum Zittern brachte, da

    hatten die Friseure ihren Kunden die weien Tcherheruntergerissen, sie gepudert und hinausgeschickt. DieKaffeemaschine hrte zu zischen auf. Das riesigeGelnde des Warenhauses mit seinen zehn MilliardenNichtigkeiten aus Metall, Glas und Papier zumDurchwhlen sank in tiefe Dunkelheit. Rolldenrumpelten, Tren schlugen zu, Schlssel klapperten,Leute flohen, und ganze Horden von zerrissenenZeitungsmusen nagten an ihren Fersen.

    Bum! Weg waren sie.Junge! schrie Will. Die Leute rennen, wie wenn der

    Sturm schon da wr!Ist er auch! schrie Jim zurck. Wir sind da!Sie strmten und polterten ber eiserne Roste und

    sthlerne Falltren, an einem Dutzend finsterer Lden

    vorbei, einem Dutzend schwachbeleuchteter Lden,einem Dutzend Lden, die im Dunkel der Nacht starben.Die Stadt war tot, als sie beim Zigarrenladen um die Eckebogen und einen hlzernen Tscherokesen von allein indie Dunkelheit hinausgleiten sahen.

    He!Mr. Tetley, der Ladeninhaber, lugte dem Indianer ber

    die Schulter.

    Erschrocken, Jungs?

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    27/304

    Nein!Doch Will zitterte und fhlte, wie eiskalte

    Regenmassen gleich Ebbe und Flut ber die Prrierollten. Wenn die Blitze auf die Stadt herunterzuckten,dann wollte er sicher unter einem Dutzend warmerDecken in seinem Bett liegen.

    Mr. Tetley? fragte Will leise.Nun standen schon zwei hlzerne Indianer in der

    tabakbraunen Dunkelheit. Mr. Tetley war mitten in derBewegung erstarrt und lauschte mit offenem Mund.

    Mr. Tetley?Er hrte etwas weit entfernt mit dem Wind rauschen,

    konnte aber nicht sagen, was es war.Die Jungen traten zurck.Er sah sie nicht. Er regte sich nicht. Er lauschte nur.Sie lieen ihn stehen und rannten weg.Drei Huserblocks von der Bibliothek entfernt stieen

    die beiden auf einen dritten hlzernen Indianer.Mr. Crosetti stand vor seinem Friseurgeschft, den Tr-schlssel in den zitternden Fingern. Er sah die beidennicht kommen. Warum blieben sie stehen?

    Eine Trne war schuld daran. Sie lief glitzernd berMr. Crosettis linke Wange. Er atmete schwer.

    Crosetti, Sie sind ein Narr. Ob etwas geschieht, obnichts geschieht, Sie heulen immer! Wie ein Baby!

    Mr. Crosetti holte bebend Atem und schnupperte.Riecht ihr es denn nicht?

    Jim und Will schnupperten.Lakritzen!Teufel, nein! Zuckerwatte!So was hab ich seit Jahren nicht mehr gerochen,

    sagte Mr. Crosetti.

    Jim schnaubte. Gibt's doch berall.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    28/304

    Ja, aber wer bemerkt es? Wann? Jetzt spr ich's, unddrum mu ich weinen. Warum? Weil ich mich daran

    erinnere, wie die kleinen Jungen vor langer Zeit das Zeuggegessen haben. Warum ist mir dieser Geruch in dreiigJahren nie aufgefallen?

    Zuviel zu tun, Mr. Crosetti, sagte Will. Keine Zeit.Zeit, Zeit! Mr. Crosetti wischte sich ber die Augen.

    Woher kommt dieser Geruch? In der Stadt verkauftniemand Zuckerwatte. Die gibt's nur im Zirkus und aufder Kirmes.

    Donnerwetter, das stimmt! sagte Will.So, Crosetti hat genug geheult. Der Friseur schneuzte

    sich und drehte sich um. Er schlo den Laden ab. Dabeibetrachtete Will das Zeichen neben der Tr, die Spirale,die aus dem Nichts kam und sich ins Nichts hinaufwand.An zahllosen Mittagen hatte Will hier gestanden undversucht, den Weg des spiralfrmigen Bandes zu

    verfolgen, zu sehen, woher es kam und wohin esverschwand.Mr. Crosetti griff nach dem Lichtschalter unter dem

    Zeichen.Bitte, nicht, sagte Will. Dann fgte er leise hinzu:

    Nicht ausschalten.Mr. Crosetti betrachtete das Spiralband, als bemerke er

    jetzt erst das Wunderbare daran. Dann nickte er und sagte

    sanft, mit freundlichem Blick: Wo kommt sie her? Wogeht sie hin? Wie? Wer wei das schon? Du nicht, ernicht, ich auch nicht. berall Geheimnisse, bei Gott.Schn. Lassen wir sie an.

    Gut zu wissen, da sie bis zum Morgengrauenweiterlaufen wird, dachte Will, aus dem Nichts, insNichts, whrend wir schlafen.

    Gute Nacht!

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    29/304

    Gute Nacht.Sie lieen ihn in einer Brise zurck, die ganz schwach

    nach Lakritze und Zuckerwatte roch.

    Fnftes Kapitel

    Charles Halloway legte zgernd die Hand auf denTrknopf, als htten die grauen Haare auf seinemHandrcken wie Antennen etwas gesprt, das drauen in

    der Oktobernacht vorberglitt. Vielleicht gab esirgendwo lohende Brnde, und ihr feuriger Atem warnteihn. Oder eine neue Eiszeit kroch bers Land und decktein der Stunde eine Milliarde Menschen zu. Vielleichtrann die Zeit selbst aus dem Stundenglas der Ewigkeit,und danach folgte eine pulverisierte Finsternis, die allesbegrub.

    Vielleicht war es aber auch nur der Mann im dunklenAnzug, den er durch die Glastr der Kneipe auf deranderen Straenseite erblickt hatte. Der Mann hatte einegroe Papierrolle unter dem Arm, in der anderen HandEimer und Brste, und er pfiff leise eine Melodie.

    Es war ein unzeitgemes Lied, das Charles Hallowayimmer betrbt stimmte. Es pate nicht in den Oktober,aber es war zu jeder Jahreszeit, zu jeglicher Tageszeit

    rhrend und berwltigend.

    Hell hrt' ich Weihnachtsglocken klingenUnd ihre alten Weisen singen.So s und laut,Die Worte traut:Friede auf Erden, Friede auf Erden!

    Charles Halloway rann ein Schauder ber den Rcken.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    30/304

    Da war es pltzlich wieder, dieses alte, schrecklicherhebende Gefhl, da man lachen und weinen zugleich

    mchte, wenn man am Tag vor Weihnachten dieUnschuldigen dieser Erde durch die verschneiten Straenwandern sieht, zwischen all den mden Mnnern undFrauen, deren Gesichter schmutzig vor Schuld und nichtabgewaschener Snde waren, zerschlagen wie kleineFenster, zertrmmert von den Hieben des Lebens, dasunversehens zuschlgt und zurckweicht, wiederzuschlgt und immer wieder.

    Lauter und tief die Glocke spricht:Gott ist nicht tot, noch schlft er nicht!Der Bse unterliegt,Der Gerechte siegt!Friede auf Erden, Friede auf Erden!

    Das Pfeifen verklang.Charles Halloway trat hinaus. Weiter vorn stand derMann an einem Telegrafenmast und arbeiteteschweigend. Dann verschwand er in der offenen Treines Ladens.

    Charles Halloway wute auch nicht, warum er ber dieStrae ging und dem Mann zuschaute, wie er eins seinerPlakate im Fenster des leeren, unvermieteten Ladens

    anbrachte.Dann trat der Mann mit seiner Papierrolle, seinem

    Eimer und dem Pinsel wieder aus der Tr. Sein wilder,flackernder Blick richtete sich auf Charles Halloway.Lchelnd hob er die Hand.

    Halloway ri die Augen auf.Die Handflche war mit seidenweichem schwarzem

    Haar bedeckt. Es sah aus wie...

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    31/304

    Die Hand ballte sich zur Faust. Ein Winken, dann warder Mann um die nchste Ecke. Charles Halloway stand

    benommen da, von Sommerhitze bergossen, schwankte,dann drehte er sich um und warf einen Blick in denleeren Laden.

    Unter einer einzelnen Lampe standen nebeneinanderzwei Sgebcke. Darber lag wie ein Sarg aus Schneeund Eiskristallen ein sechs Fu langer Eisblock,schimmernd wie von innen heraus, blulichgrn gefrbt.Ein groer, kalter Edelstein in der Dunkelheit.

    Auf dem kleinen weien Plakat im Fenster las er imLicht der Lampe:

    Cooger & Darks Pandmonium-SchattenspieleFantoccini, Marionettentheater, Bunter Rummelplatz!Demnchst in dieser Stadt.Mit vielen Attraktionen, unter anderem auch

    DIE SCHNSTE FRAU DER WELT!

    Halloways Blick wurde von dem Plakat an derInnenseite des Fensters magisch angezogen.

    DIE SCHNSTE FRAU DER WELT!Dann starrte er wieder auf den langen, kalten Eisblock.An einen solchen Eisblock erinnerte er sich noch aus

    Kindertagen; der Zauberer eines Wanderzirkus hatte

    Mdchen zwlf Stunden lang in einen Brocken Wintereingefroren, den die hiesige Eisfabrik geliefert hatte. Vorder Eiswand ging die Vorstellung weiter, bis schlielichschwitzende Magier die blassen Damen befreiten und sielchelnd hinter den Vorhang entfhrten.

    DIE SCHNSTE FRAU DER WELT!Dabei war dieser durchsichtige Klotz aus winterlichem

    Glas nichts weiter als gefrorenes Fluwasser.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    32/304

    Oder nicht? Nein, ganz leer war er nicht.Halloway sprte, wie sein Herz rascher klopfte.

    War da nicht ein Hohlraum in dem riesigen weienDiamant? Eine gewlbte Leere, die sich vom Scheitel biszur Sohle des Klotzes hinzog? War diese Hhlung, diedarauf wartete, mit warmem Fleisch gefllt zu werden,nicht ungefhr geformt wie ein Frauenkrper?

    Ja.Das Eis. Der Hohlraum mit den lieblichen Kurven,

    waagrechter Flu von Linien in der Leere des Eises.Liebliches Nichts. Die schnen Linien einerMeerjungfrau, die es wagte, sich vom Eisgefangennehmen zu lassen.

    Das Eis war kalt.Der Hohlraum im Eis war warm.Er wollte weg von hier.Aber Charles Halloway blieb lange Zeit in dem

    dsteren, leeren Laden stehen. Vor ihm, auf den beidenSgebcken, wartete kalt der arktische Sarg und funkelteim Dunkeln wie der Stern von Indien.

    Sechstes Kapitel

    Jim Nightshade blieb an der Ecke der Hickory und Main

    Street stehen. Sein Atem ging kaum rascher. Zrtlichwanderte sein Blick die staubbedeckte Hickory Streetentlang.

    Will...Nein! Will erschrak ber die eigene Heftigkeit.Ist doch gleich da vorn. Das fnfte Haus. Eine einzige

    Minute nur, Will, bettelte Jim leise.Minute? Will sah die Strae entlang.

    Es war die Strae des Theaters.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    33/304

    Bis zu diesem Sommer war es eine ganz gewhnlicheStrae, in der sie je nach Jahreszeit Pfirsiche, Pflaumen

    und Aprikosen stahlen. Aber dann, Ende August, als siegerade nach den sauersten pfeln in die hchsten Wipfelkletterten, da ereignete sich etwas, das die Huserverwandelte, den Geschmack der Frchte, sogar die Luftzwischen den flsternden Bumen.

    Will. Es wartet auf uns. Vielleicht passiert etwas!zischte Jim.

    Vielleicht passierte wirklich etwas. Will schluckte hartund sprte an seinem Arm den Druck von Jims Hand.

    Das war nun nicht mehr die Strae der pfel oderPflaumen oder Aprikosen; es ging nur um das eine Hausmit dem einen Fenster an der Seite. Dieses Fenster, sosagte Jim, sei eine Bhne und die hochgezogenenJalousien der Vorhang. In diesem Zimmer, auf dieserseltsamen Bhne, standen die Schauspieler und sprachen

    geheimnisvolle Texte, formten fremde Worte, lachten,murmelten, seufzten. Das meiste davon war nur Flstern,und Will verstand es nicht.

    Nur das eine Mal noch, Will!Du weit genau, es ist nicht das letzte Mal.Jims Gesicht war gertet, seine Backen glhten, seine

    Augen blitzten wie flaschengrnes Feuer. Er dachte anjene Nacht, als sie die pfel pflckten und er pltzlich

    rief: Da schau mal!Will klammerte sich aufgeregt an die ste des Baumes

    und starrte hinein auf das Theater, auf die Bhne, wo dieLeute Hemden ber die Kpfe zogen, Kleidungsstckeauf den Teppich fallen lieen und nackt wie Tieredastanden, die Hnde nacheinander ausgestreckt.

    Was treiben sie nur, berlegte Will. Warum lachen sie?

    Was fehlt ihnen, was stimmt bei ihnen nicht?

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    34/304

    Er wnschte sich nur, da das Licht ausgehen mge.Doch er klammerte sich mit pltzlich feuchten Fingern

    krampfhaft an den Ast und beobachtete das helleZimmertheater, hrte das Lachen, bis ihm schlielich dieMuskeln lahm wurden und er abglitt. Benommen lag erda, dann erhob er sich und starrte hinauf zu Jim, der sichimmer noch an seinem hohen Ast festhielt. Mitstrahlenden Augen, die Backen feuerrot, die Lippenleicht geffnet, so starrte er durch das Fenster. Jim, Jim,komm doch runter! Aber Jim hrte ihn nicht. Jim!Als Jim dann endlich herunterschaute, da stand Willunten wie ein Fremder, der die verrckte Forderungstellt, das Leben aufzugeben und zur Erdezurckzukehren. Will rannte allein davon. Er dachte zuviel, er dachte gar nichts, er wute nicht mehr, was erdenken sollte.

    Will, bitte...

    Will sah Jim an, die Bcher unter den Arm gepret.Wir waren doch in der Bibliothek, langt das nicht?Jim schttelte den Kopf. Halt mal die Bcher.Er reichte Will die Bcher und schlich dann unter den

    leise wispernden Bumen entlang. Drei Huser weiterrief er zurck: Will, weit du, was du bist? Ein blder,alter Episkopaler Baptist!

    Dann war Jim verschwunden.

    Will drckte die Bcher fester an sich. Sie wurden vonseinen Handflchen feucht.

    Nicht umsehen, dachte er.Ich tu's nicht! Nein ich tu's nicht!Er richtete den Blick dahin, wo sein Haus lag. In diese

    Richtung marschierte er.Rasch, rasch.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    35/304

    Siebentes Kapitel

    Will hatte die Hlfte des Heimwegs hinter sich, dasprte er jemanden in seinem Rcken.

    Theater geschlossen? fragte er, ohne sichumzudrehen.

    Jim ging eine Weile schweigend neben ihm her, dannsagte er: Keiner zu Hause.

    Fein.

    Jim spuckte aus. Du verdammter Baptistenprediger!Wie ein riesiger Wattebausch kam ein

    zusammengeknlltes weies Papier um die Ecke gesaustund verfing sich an Jims Fen. Will packte lachend dasPapier und lie es fliegen. Dann hrte er auf zu lachen.

    Die beiden Jungen froren pltzlich, als sie demPapierknuel nachschauten.

    Augenblick..., sagte Jim langsam.Mit einem Mal rannten sie schreiend hinterher.

    Vorsicht! Nicht zerreien!Das Papier flatterte in ihrer Hand wie das Fell einer

    Trommel.AM24. OKTOBER KOMMT COOGER & DARK...Die Lippen formten die verschnrkelten Buchstaben

    nach.

    Jahrmarkt!Am 24. Oktober! Das ist morgen!Unmglich, sagte Will. So spt im Jahr kommt kein

    Jahrmarkt mehr in die Stadt.Na und? Es geschehen immer noch Zeichen und

    Wunder! Schau mal! MEPHISTOPHELE, DERFEUERFRESSER! MR. ELEKTRIKO! RIESIGEMONTGOLFIERE!

    Eine Montgolfiere ist ein Ballon, erklrte Will.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    36/304

    MADEMOISELLE TAROT! las Jim weiter. DERSCHWEBENDE MENSCH! DMONEN-GUILLOTINE! DER

    ILLUSTRIERTE MANN! He!Das ist nichts weiter als ein ttowierter Kerl.Nein! Jims Atem schlug warm an das Papier. Er ist

    illustriert, das ist etwas Besonderes. Sieh mal mitUngeheuern bedeckt. Eine Menagerie! Jims Augenblitzten. Da das Skelett! Ist das nicht prima, Will?Kein magerer Mann, ein SKELETT! Dann hier DIESTAUBHEXE! Was ist eine Staubhexe, Will?

    Eine dreckige alte Zigeunerin.Nein! Jim blinzelte in die Ferne und sah alles

    mgliche. Eine Zigeunerin, die im Staub geborenwurde, im Staub aufgewachsen ist, eines Tages wieder zuStaub werden wird! Aber da ist noch mehr: GYPTISCHESSPIEGELLABYRINTH! SIE SEHEN SICH SELBSTZEHNTAUSENDMAL! DES HEILIGEN ANTONIUS TEMPEL DER

    VERSUCHUNG!DIE SCHNSTE..., las Will.... FRAU DER WELT! beendete Jim den Satz.Sie sahen einander an.Kann ein Jahrmarkt, ein Zirkus berhaupt die

    schnste Frau der Welt dabei haben, Will?Du kennst doch diese Jahrmarktweiber, Jim!Grizzlybren. Aber es steht doch hier...

    Ach, hr auf damit!Bse, Will?Nein, nur halt's fest!Der Wind hatte ihnen das Plakat aus den Hnden

    gerissen. Es wurde in verrckten Sprngen und Bgenber die Baumwipfel davongeweht.

    Stimmt ohnehin nicht, stie Will hervor. So spt im

    Jahr kommt kein Zirkus mehr. Alles dummes Zeug. Wer

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    37/304

    geht denn da hin?Ich. Jim stand ganz still im Dunkeln.

    Ich auch, dachte Will. Er sah vor sich das gyptischeSpiegelkabinett, die blitzende Guillotine und denschwefelgelben Mann, der flssige Lava schlrfte wieTee aus Schiepulver.

    Die Musik, flsterte Jim. Jahrmarktsorgel. Siemssen heute nacht schon kommen!

    Ein Zirkus kommt immer bei Sonnenaufgang an.Und der Geruch nach Lakritze und Zuckerwatte heute

    abend?Will dachte an die Dfte und Klnge, die mit dem

    Strom des Windes ber die Hausdcher hergewehtkamen, an Mr. Tetley, der lauschend neben seinemhlzernen Indianer stand, Mr. Crosetti mit der einenTrne auf der Wange, und das erleuchtete, unendlicheBand vor dem Friseurladen, das seine rote Zunge aus

    dem Nichts ins Nichts wand.Er klapperte mit den Zhnen.La uns nach Hause gehen.Aber wir sind schon zu Hause! rief Jim berrascht.Ohne es zu merken, waren sie angekommen. Jeder ging

    seinen Weg zu seinem Haus.Auf der Veranda drehte Jim sich um und rief halblaut:

    Will, du bist mir nicht bse?

    Aber nein.Wir gehen einen Monat lang nicht mehr in diese

    Strae, zu diesem Haus, zum Theater. Ichschwr's dir!Schon gut, Jim.Ihre Hnde ruhten schon auf den Trknpfen ihrer

    Huser, da wanderte Wills Blick hinauf zu Jims Dach,wo der Blitzableiter gegen den sternklaren Himmel

    glnzte.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    38/304

    Das Gewitter kam. Oder es kam nicht...Auf jeden Fall war er froh, da Jim das groartige Ding

    auf dem Dach hatte.Nacht!Nacht.Die beiden Tren schlugen zu.

    Achtes Kapitel

    Will machte die Tr noch einmal auf und schlo siewieder diesmal leise.Schon besser, sagte seine Mutter.Durch den Trrahmen erblickte Will das einzige

    Theater, an dem ihm etwas lag, die vertraute Bhne, aufder sein Vater mit einem Buch in der Hand sa undzwischen den Zeilen las. (Er war schon zu Hause! Siemuten vorhin doch einen ziemlichen Umweg gemachthaben!) In dem Sessel neben dem Kamin sa seineMutter, strickte und summte dabei wie ein Teekessel.

    Er wollte ihnen nahe sein und doch fern, er sah sie ausder Nhe, und zwischen ihnen war ein gewaltigerAbstand. Pltzlich sahen sie schrecklich klein in einemviel zu groen Zimmer aus, in einer zu groen Stadt, ineiner viel zu riesigen Welt. In diesem unverschlossenen

    Haus schienen sie allem ausgeliefert zu sein, was aus derNacht drauen einbrechen konnte.Das gilt auch fr mich, dachte Will, auch fr mich.Pltzlich liebte er sie, weil sie so klein waren, noch viel

    mehr als zu Zeiten, wo sie ihm gro erschienen waren.Die Finger seiner Mutter regten sich, ihre Lippen

    zhlten lautlos Maschen die zufriedenste Frau, die er jegesehen hatte. Er erinnerte sich, wie er an einem

    Wintertag in einem Gewchshaus ein Dickicht grner

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    39/304

    Bltter beiseite geschoben hatte, um darunter eineeinzelne, pastellfarbene Rose zu finden. Das war Mutter

    sie roch nach frischer Milch, war sich in diesemZimmer selbst genug, immer zufrieden.

    Zufrieden? Wie nur? Warum? Gleich neben ihr sa derHausmeister, der Mann aus der Bibliothek, der Fremde.Seine Uniform hatte er abgelegt, doch sein Gesicht trugimmer noch den Ausdruck des Mannes, der nachts in denmarmornen Tiefen zugiger Korridore, allein mit seinenBesen, viel glcklicher ist.

    Will betrachtete die beiden und fragte sich, warumdiese Frau so zufrieden und dieser Mann so traurig war.

    Sein Vater starrte tiefsinnig ins Feuer. In der einenHand hielt er lose ein Papierknuel.

    Will blinzelte.Das Plakat fiel ihm ein, das der Wind ihnen vor die

    Fe und davongeweht hatte. Das Papier hier hatte

    dieselbe Farbe, dieselben verschnrkelten Buchstaben.He!Will trat ein.Auf Mutters Gesicht leuchtete sofort ein Lcheln auf,

    das warm wie ein zweites Kaminfeuer war.Dad blickte erschrocken auf, als fhlte er sich bei etwas

    Verbotenem ertappt. Will wollte fragen: He, was machstdu mit dem Zettel?

    Aber Dad schob das zusammengeknllte Papier tief indie Polsterung des Sessels.

    Mutter bltterte die Bcher aus der Bibliothek durch.Hbsche Bcher, Will!Will stand da, schluckte Cooger & Dark wieder

    hinunter und sagte: Junge, der Wind hat uns richtigheimgeweht! In den Straen fliegt berall Papier

    herum!

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    40/304

    Dad zuckte nicht mit der Wimper.Gibt's was Neues, Dad?

    Dads Hand steckte immer noch in der Polsterung desSessels. Er hob seinen grauen, etwas besorgten, sehrmden Blick zu seinem Sohn: Hat einen steinernenLwen vor der Bibliothek weggeweht. Der macht jetztdie Stadt unsicher und sucht nach Christen, die er fressenkann. Findet aber keine. Die einzige Christin der Stadthalte ich hier gefangen, und sie ist eine gute Kchin.

    Unsinn! sagte Mom.Als Will die Treppe hinaufging, hrte er, womit er halb

    gerechnet hatte.Erst ein leises Zischen, als legte jemand einen neuen

    Holzklotz aufs Feuer. Er stellte sich Dad vor, wie er vordem Kamin stand und zuschaute, wie das Papierknuelverbrannte.

    Cooger... Dark... Zirkus... Hexe... Wunder...

    Er wre am liebsten wieder hinuntergegangen und httesich neben Dad gestellt, die Hnde zum wrmendenFeuer hin ausgestreckt.

    Statt dessen ging er langsam hinauf und schlo die Trzu seinem Zimmer.

    An manchen Abenden prete Will, wenn er schon imBett lag, sein Ohr an die Wand und lauschte derUnterhaltung seiner Eltern. Sprachen sie von etwas

    Interessantem, hrte er zu, sonst schlief er ein. Wenn esum die Zeiten und die verstreichenden Jahre oder ihnselbst oder die Stadt ging, um die willkrliche Art undWeise, mit der Gott die Welt lenkte, dann hrte er gernund dankbar zu, mit einer warmen Freude im Herzen,denn dann redete meistens Dad. Mit Dad konnte er nichtoft reden, nicht in seiner Welt und nicht drauen, doch

    das war etwas anderes. In Dads Stimme lag etwas

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    41/304

    Beschwingtes, leicht wie eine Handbewegung in derLuft, wie ein weier Vogel hoch droben am Himmel; das

    Ohr hrte gern zu, und die Gedanken folgten mhelosden Worten.

    Das Seltsame an Dads Stimme war wohl, da alles sowahr klang. Der Klang der Wahrheit inmitten einer Weltvon Lgen fesselt einen Jungen immer. An vielenAbenden schlummerte Will so ein. Sein Verstand glicheiner stehengebliebenen Uhr, lange bevor Dads halbsingende Stimme verklang. Dads Stimme war eineAbendschule, in der tiefe, letzte Wahrheiten gelehrtwurden Wahrheiten ber das Leben.

    So war es auch an diesem Abend. Mit geschlossenenAugen hielt Will sein Ohr an den Putz der Wand. Zuerstdrhnte Dads Stimme sanft wie eine Negertrommel imUrwald, viele Meilen entfernt. Mutter sang mit ihremwasserhellen Sopran im Kirchenchor der

    Baptistengemeinde; sie sang ihre Antworten zurck. Willsah Dad auf dem Rcken liegen und zur Zimmerdeckehinaufreden.

    Will... komm mir immer so alt vor... Vater sollte mitseinem Sohn Ball spielen...

    Nicht unbedingt, sagte die Frauenstimme freundlich.Du bist ein guter Mensch, ein guter Vater.

    ... schlechte Zeit. Gott, ich war schon vierzig, als er

    zur Welt kam! Und du. Ist das Ihre Tochter? fragen dieLeute. Gott, wenn man sich hinlegt, dann laufen einemdie Gedanken fort.

    Will hrte etwas knacken und knistern Dad drehtesich um. Ein Streichholz wurde angerissen, die Pfeifeangezndet. Der Wind rttelte an den Fensterlden.

    ... Mann mit Plakaten unterm Arm...

    ... Zirkus..., sagte die Stimme seiner Mutter. So spt

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    42/304

    im Jahr?Will wollte sich abwenden, brachte es aber nicht fertig.

    Die schnste Frau der Welt, murmelte Dads Stimme.Mutter lachte leise. Du weit genau, da ich das nicht

    bin.Nein, dachte Will. Das steht doch auf dem Plakat!

    Warum sagt Dad es ihr denn nicht?Deshalb, gab er sich zur Antwort. Weil da etwas vor

    sich geht. Ja irgendwas ging da vor sich...Will sah das weie Papier flatternd in den Bumen ver-

    schwinden, mit den Worten: DIE SCHNSTE FRAU DERWELT. Seine Wangen glhten fiebrig. Er mute denken:Jim, die Strae mit dem Theater, die Nackten im Fensterdes Theaters, auf der Bhne, verrckt wie einechinesische Oper, seltsam und total verrckt wie eine altechinesische Oper, Judo, Jiu-Jitsu, indianischeGeheimnisse, und nun Dads vertrumte Stimme, traurig,

    trauriger, am traurigsten zu viel, um das alles zuverstehen. Pltzlich bekam er Angst, weil Dad nicht berden Zettel reden wollte, den er gerade verbrannt hatte.Heimlich. Will starrte aus dem Fenster. Da! Wie Samenvom Lwenzahn tanzte weies Papier durch die Luft.

    Nein, flsterte er. So spt kommt kein Zirkus mehr.Das ist unmglich! Er verkroch sich unter derBettdecke, knipste die Taschenlampe an und schlug ein

    Buch auf. Das erste Bild, auf das sein Blick fiel, zeigteein prhistorisches Reptil, das mit seinen weitenSchwingen durch eine Nacht flatterte, die seitJahrmillionen vergessen und verloren war.

    Teufel, dachte er. In der Eile haben wir die Bcher ver-tauscht. Das sind Jims Bcher, und er hat jetzt meine.

    Aber es war doch ein recht hbsches Reptil.

    Er sank schon in Schlummer, da glaubte er noch, unten

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    43/304

    seinen Vater rastlos auf und ab gehen zu hren. DieHaustr klappte zu. Dad ging also noch einmal zur

    Arbeit, spt, grundlos, mit seinen Besen, zurck zuseinen Bchern, in die Stadt, fort. Fort...

    Und Mutter schlief friedlich. Sie wute nicht, da ernoch einmal weggegangen war.

    Neuntes Kapitel

    Niemand auf der ganzen Welt hatte einen Namen, der soglatt ber die Zunge ging.Jim Nightshade. Ich!Jim war gro, wenn er stand, lang, wenn er im Bett lag.

    Die Muskeln umspielten seine Knochen, die Knochensteckten locker in den Muskeln. Die Bcher lagengeschlossen neben seiner rechten Hand.

    Er wartete. Seine Augen waren Zwielichtdunkel, mitSchatten darunter. Die stammten, so sagte seine Mutter,noch von einer Krankheit, an der er mit drei Jahrenbeinahe gestorben wre. Er erinnerte sich immer nochdaran. Sein Haar hatte das dunkle Braun herbstlicherKastanien, und die Adern an Stirn und Schlfen, am Halsund an den Gelenken sahen alle blau aus. Er war dunkelmarmoriert, dieser Jim Nightshade ein Junge, der mit

    zunehmendem Alter immer weniger redete und immerseltener lachte.Bei Jim war es so, da er stets die Welt vor Augen

    hatte und nie den Blick abwenden konnte. Wenn mansein ganzes Leben lang niemals wegsieht, dann hat manmit dreizehn schon soviel gesehen wie andere mitzwanzig.

    Will Halloway war jung und blickte immer darber

    hinweg oder daran vorbei. Er hatte mit dreizehn erst

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    44/304

    sechs Jahre Schauen hinter sich gebracht.Jim kannte jeden Zentimeter seines Schattens so genau,

    da er ihn aus Dachpappe ausschneiden und als seinBanner an einem Mast hissen konnte.

    Will bemerkte manchmal berrascht, da sein Schattenihm folgte, doch das war schon alles.

    Jim? Noch wach?Ja, Mom.Eine Tr ffnete und schlo sich. Dann fhlte er ihr

    Gewicht auf der Bettkante.Jim, deine Hnde sind wieder wie Eis. Du solltest das

    Fenster nicht so weit aufmachen. Wirst dich nocherklten.

    Sicher, Mom.Sag das nicht immer so. Wie das ist, weit du erst,

    wenn du auch drei Kinder verloren hast.Ich werd nie welche haben.

    Das sagst du nur so.Ich wei es. Ich wei immer alles.Sie wartete einen Augenblick. Was weit du?Hat keinen Sinn, noch mehr Menschen in die Welt zu

    setzen. Sie sterben doch.Seine Stimme klang sehr ruhig und fast traurig. So ist

    es.Das ist nicht alles. Du bist da, Jim. Wenn du nicht

    wrst, htte ich lngst aufgegeben.Mom. Langes Schweigen. Mom kannst du dir

    Dads Gesicht vorstellen? Bin ich wie er?An dem Tag, wo du weggehst, wird er fr immer

    weggehen.Wer geht weg?Jim, auch wenn du so daliegst, rennst du. Ich habe

    noch nie jemanden gesehen, der sich im Schlaf so viel

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    45/304

    bewegt. Versprich mir eines, Jim. Wenn du einmalweggehst und wiederkommst, dann bring mir eine Menge

    Enkelkinder mit. La sie wild aufwachsen. Ich mchtesie eines Tages verwhnen.

    Ich werde niemals etwas besitzen, was mir weh tunkann.

    Willst du nur Steine um dich sammeln, Jim? Nein,eines Tages wird's dich auch treffen.

    Nein, gewi nicht.Er blickte sie an. Ihr hatte man schon vor langer Zeit

    weh getan. Die Spuren der Schlge waren immer nochum die Augen herum zu sehen.

    Du lebst, also wird man auch dir weh tun, sagte sieim Dunkeln. Aber sag's mir, wenn's so weit ist. Sag mirLebewohl. Sonst lasse ich dich vielleicht nicht gehen.Wre das nicht schrecklich wenn ich dich ganz einfachfesthalte?

    Sie stand pltzlich auf und schlo das Fenster.Warum haben Jungen nur ihr Fenster immer so weitoffen?

    Heies Blut.Heies Blut. Sie stand ganz still und allein da.

    Davon kommen all unsere Sorgen. Frag mich nicht,warum!

    Die Tr fiel ins Schlo.

    Sobald Jim allein war, ffnete er wieder das Fensterund beugte sich weit hinaus in die vollkommen klareSternennacht... Gewitter, bist du da? dachte er.

    Ja.Er sprte es. Im Westen. Ein Mordsding. Es raste

    daher.Der Blitzableiter warf einen Schatten unten auf die

    Einfahrt.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    46/304

    Jim sog die khle Nachtluft ein und atmete mitungeheurer Erleichterung die Hitze aus.

    Warum steige ich nicht da hinauf, reie denBlitzableiter vom Dach und werfe ihn weg, berlegte er.

    Mal sehen, was dann geschieht.Ja. Sehen, was dann geschieht.

    Zehntes Kapitel

    Kurz nach Mitternacht.Schleppende Schritte.Der Blitzableiterverkufer kam mit zufriedener Miene

    die menschenleere Strae entlang, die Ledertasche fastleer. An der Ecke blieb er stehen.

    Weiche weie Nachtfalter klopften leise an ein Fensterund schauten hinein.

    Im Schaufenster lag wie ein Totenschiff aussternenfarbenem Glas auf zwei Sgebcken ein Eisklotz,gro genug, um dem Ring eines Riesen als Edelstein zudienen.

    In diesen Eisblock war die schnste Frau der Welteingeschlossen.

    Das Lcheln wich vom Gesicht desBlitzableiterverkufers.

    Da lag diese Frau in der traumhaften Klte des Eises,wie jemand, der vor Jahrtausenden in einer Lawineentschlafen ist, ewig jung. Sie war schn wie der Morgenund frisch wie Blumen, lieblich wie ein Mdchen, wennein Mann die Augen schliet und es in dervollkommenen Schnheit einer Gemme festhlt.

    Erst jetzt wurde dem Blitzableiterverkufer bewut,da er den Atem angehalten hatte.

    Vor langer, langer Zeit, in der marmornen Pracht von

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    47/304

    Rom und Florenz, da hatte er solche Frauen gesehen,gebannt in Stein und nicht in Eis. Vor langer Zeit

    wanderte er einmal durch den Louvre und fand solcheFrauen, in sommerlichem Licht gebadet, in Farbenverewigt. Vor langer Zeit, er war damals noch ein Junge,hatte er sich einmal in einem Kino durch die khlenGnge hinter der Leinwand gezwngt und den Blickgehoben. Turmhoch ber sich hatte er auf der Leinwanddas Antlitz einer Frau erblickt, wie er noch nie einesgesehen hatte, riesig und schn, milchwei undmondklar, und er war erstarrt hinter der Bhnestehengeblieben, im Schatten der Lippen, der vogelgleichflatternden Wimpern, bergossen von der schneeigenTodesblsse der Wangen.

    Aus vergangenen Jahren flossen Bilder zusammen undfanden ihre Verkrperung da in diesem Eisblock.

    Welche Farbe hatte ihr Haar?

    Es schimmerte weiblond, aber es konnte jede Farbeannehmen, wenn es vom Eise befreit war.Wie gro war sie?Gut mglich, da die Lichtbrechung des Eises sie

    grer oder kleiner erscheinen lie, je nachdem, ob manvor dem Fenster des leeren Ladens einen Schritt nachdieser oder jener Seite machte. Samtweich pochten dieNachtfalter ans Glas.

    Nicht wichtig.Der Blitzableiterverkufer erbebte. Er wute etwas

    ganz Ungewhnliches: Wenn sich ihre Lider durch einWunder in dem Saphir ffnen sollten und sie ihn ansah,dann kannte er die Farbe ihrer Augen.

    Er kannte die Farbe ihrer Augen.Wenn nun jemand den leerstehenden Laden betrat...

    Wenn jemand die Hand ausstreckte, wrde die Wrme

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    48/304

    das Eis schmelzen?Der Blitzableiterverkufer blieb eine Weile regungslos

    stehen, dann schlo er rasch die Augen.Er stie die aufgestaute Luft aus.Sie schmeckte warm wie der Sommer auf seinen

    Lippen.Seine Hand berhrte die Tr. Sie lie sich ffnen.

    Arktischkalte Luft umwehte ihn. Er trat ein.Die Tr fiel zu.Helle Nachtfalter tappten gleich Schneeflocken ans

    Fenster.

    Elftes Kapitel

    Mitternacht. Von den Trmen der Stadt schlug es zwlfund eins und zwei und dann drei. Die hartenGlockenschlge lieen den Staub von alten Spielsachenhoch oben in den Dachspeichern auffliegen und dasSilber von noch lteren Spiegeln in anderen Speichernabbrckeln. Sie weckten Trume von Uhren bei allenschlafenden Kindern.

    Will hrte es.Gedmpft, weit drauen in der Prrie, war das

    Stampfen einer Lokomotive und das langsame Rollen des

    Zuges.Will setzte sich im Bett auf.Auf der anderen Straenseite setzte sich wie ein

    Spiegelbild Jim in seinem Bett auf.Eine Jahrmarktsorgel begann wundersam weich und

    leise zu spielen, so unsagbar traurig, Millionen Meilenentfernt.

    Mit einem Ruck war Will aus dem Bett und beugte sich

    weit aus dem Fenster genau wie Jim drben. Wortlos

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    49/304

    starrten sie ber die Baumwipfel hinweg.Ihre Zimmer lagen hoch, wie die Zimmer von echten

    Jungen liegen sollen. Von ihren Fenstern aus hatten ihreBlicke freies Schufeld ber Bibliothek und Stadthaus,ber Feuerwehrdepot, Scheunen und Farmhuser hinwegbis in die unendliche Weite der leeren Prrie.

    Dort, am Ende der Welt, krochen wie glitzerndeSchlangen die Eisenbahnschienen dahin, dort recktensich gestikulierend grne und rote Signale den Sternenentgegen. Dort, am Rande der Erde, erhob sich einFederwlkchen wie der Vorbote eines Gewitters.

    Glied fr Glied tauchte der Zug auf: Lokomotive,Kohlentender, viele schlafende Wagen, die demFunkenregen folgten, summend, grollend wie einKaminfeuer im Herbst. Selbst aus dieser Entfernungkonnte man sich starke Arme vorstellen, diemeteorschwarze Kohlen in den feurigen Schlund der

    Dampfmaschine schaufelten.Die Lokomotive!Beide Jungen verschwanden und kamen mit

    Feldstechern zurck.Die Lok!Uralt! Gibt's mindestens seit 1900 nicht mehr!Auch der brige Zug ist uralt!Die Fahnen! Die Kfige! Es ist der Zirkus!

    Sie lauschten. Erst dachte Will seinen eigenen Atem zuhren, aber es war der Zug, die Orgel, die leise sang undsthnte.

    Klingt wie Kirchenmusik.Hlle. Warum soll ein Zirkus Kirchenmusik spielen?Sag nicht immer Hlle, zischte Will.Hlle. Jim beugte sich vor. Hab's den ganzen Tag

    nicht sagen drfen. Jetzt schlafen sie alle. Hlle!

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    50/304

    Die Klnge schwebten an den Fenstern vorbei. Willsprte die Gnsehaut auf seinen Armen.

    Wirklich, das ist Kirchenmusik!Mir ist kalt. Los, gehen wir hin, schauen wir ihnen

    zu!Um drei Uhr am Morgen?Um drei am Morgen.Jim verschwand. Will sah ihn drben umhertanzen,

    Hemd und Hose berziehen, whrend der totenschwarzeZug bers Land keuchte, schwarz alle Wagen,lakritzschwarz. Eine alte Orgel spielte drei Hymnendurcheinander. Aber vielleicht war es auch nichts.

    Jim glitt die Dachrinne hinab auf den schlafendenRasen.

    Jim! Warte!Will schlpfte blitzschnell in die Kleider.Jim, geh doch nicht allein hin!

    Und er rannte ihm nach.

    Zwlftes Kapitel

    Manchmal sieht man hoch oben am Himmel einenPapierdrachen, so weise, da er den Wind kennt. Erfliegt, dann strzt er auf einen bestimmten Fleck zu. Man

    kann an der Schnur ziehen, da sie fast reit, es istzwecklos, man kann rennen, der Drache sucht sich dochseinen Landeplatz.

    Jim! Wart auf mich!Jim war jetzt dieser Drache, und die Schnur war

    durchschnitten. Sein Wissen um den Wind trug ihn vonWill hinweg. Der konnte nur rennen, erdgebunden,wohin der andere flog, hoch, dunkel, still und pltzlich so

    fremd.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    51/304

    Jim! Ich komme!Im Laufen dachte Will: Es ist immer dasselbe. Er rennt.

    Ich rede. Ich drehe Steine um. Jim greift in den kaltenSchlick darunter. Ich erklimme Hgel. Jim schreit vonder hchsten Kirchturmspitze herab. Ich habe einSparkonto. Jim hat nur das Haar auf seinem Kopf, denSchrei auf seinen Lippen, das Hemd am Leibe und dieTennisschuhe an den Fen. Warum erscheint er mirreicher? Weil ich auf einem Stein in der Sonne sitze,dachte Will, whrend Jims Haare auf den Armen imMondschein knistern und er mit Krten tanzt. Ich hteKhe. Jim zhmt Ungeheuer. Narr, schreie ich Jim an.Feigling, schreit er zurck. Und wir rennen!

    Sie rannten aus der Stadt, ber die Felder und bliebendann regungslos unter der Eisenbahnbrcke stehen. DerMond lauerte hinter den Hgeln, die Wiesen erbebtenunter einem Gespinst von Tau.

    Dann donnerte der Zug ber die Brcke. DieZirkusorgel wimmerte. Aber es spielt sie dochkeiner! Jim starrte hinauf.

    Jim, la die blen Spe!Ganz ehrlich sieh doch selbst!Die blanken Pfeifen der Zirkusorgel glitten im

    Sternenlicht dahin, immer weiter, aber niemand sa amSpieltisch. Der Wind spielte mit eisigem Hauch in den

    Orgelpfeifen.Die Jungen rannten. Der Zug kurvte davon. Wie aus

    tiefer See, verrostet, mit grnem Moos berwachsen,lutete die Glocke zum Begrbnis, lutete, lutete. Dannstie die Dampfpfeife eine groe weie Wolke aus, undWill sprte eiskalte Perlen auf der Stirn.

    Wie oft hatte Will mitten in der Nacht den Zug pfeifen

    gehrt? Die Dampfpfeife stt weie Wolken aus, die

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    52/304

    den Schlaf sumen, verloren, allein und fern, und sei derZug noch so nahe. Manchmal wachte er mit Trnen auf

    der Wange auf und fragte sich: Warum? Er legte sichwieder ins Kissen zurck und dachte: Ja, sie bringenmich zum Weinen, wenn sie nach Osten fahren, nachWesten fahren, so tief im Land sich verlieren, da sie imTraum versinken.

    Diese Zge und ihr Klagelaut gingen auf ewigzwischen den Bahnhfen verloren. Sie wuten nicht,woher sie kamen, hatten keine Ahnung, wohin siegingen, hauchten ihren letzten weien Atem am Horizontaus, waren fort. So geht es mit allen Zgen, immer undimmer.

    Doch der Pfiff dieses Zuges...Das Heulen und Klagen eines ganzen Lebens lag darin,

    gesammelt aus anderen Nchten, anderenschlummernden Jahren; das Heulen der Hunde in

    Vollmondnchten, das Brausen kalter Winde, die imJanuar vom Flu her durch das Gelnder der Verandapfeifen, bis das Blut in den Adern stockt; tausendejammernde Feuersirenen, schlimmer noch: letzteAtemzge einer Milliarde Menschen, tot oder sterbend,die leben wollten, ihr Sthnen, ihr Seufzen das tntehier ber die Erde!

    Wills Augen fllten sich mit Trnen. Er stolperte. Er

    kniete sich hin und tat so, als msse er sich einSchuhband schnren.

    Doch dann sah er, wie auch Jim sich an die Ohren griff,wie auch seine Augen na wurden. Die Dampfpfeifebrllte Jim brllte mit ihr um die Wette. Die Pfeifeschrillte Jim schrie gegen sie an.

    Dann verstummten pltzlich die Milliarden Stimmen,

    als ob der Zug in einem feurigen Wirbelsturm von der

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    53/304

    Erde verschwunden sei.Leise glitt der Zug weiter. Schwarze Transparente

    flatterten, schwarzes Konfetti schwebte im slichenWind den Hgel herab. Die Jungen liefen hinterher, undder Nachtwind war so kalt, da sie mit jedem AtemzugEiskrem aen.

    Sie erklommen die letzte Anhhe.Junge! flsterte Jim.Der Zug war auf Rolfes Mondwiese abgebogen. Sie

    hie so, weil die jungen Prchen der Gegendhierherkamen, um den Mond ber einem weiten,unendlichen Land stehen zu sehen, ber einemBinnenmeer, das im Frhjahr voller Gras und im Herbstvoller Heu und voller knirschenden Schnees im Winterwar. Es war ein schner Spazierweg, am Ufer desgeheimnisvollen Binnenmeers entlang, wenn der Mondsich zitternd ber das Gewoge erhob.

    Der Zug jedenfalls duckte sich nun auf dem altenBahngleis ins hohe Gras, drben am Waldrand, und dieJungen kauerten wartend hinter einem Busch.

    Es ist so still, flsterte Will.Der Zug stand mitten auf der gemhten Herbstwiese.

    Niemand auf der Lokomotive, niemand auf dem Tender,niemand in den Wagen dahinter, alle schwarz im Scheindes Mondes. Metall khlte sich klickend ab.

    Psst! machte Jim. Ich spre sie, wie sie sich dortbewegen.

    Will sprte die Gnsehaut tausendfach am ganzenKrper.

    Glaubst du, sie haben etwas dagegen, da wir ihnenzusehen?

    Mglich, gab Jim frhlich zurck.

    Warum dann der Lrm der Zirkusorgel?

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    54/304

    Wenn mir das einfllt, sag ich's dir. Jim lchelte.Sieh mal!Flstern.

    Ein riesiger, moosgrner Ballon berhrte den Mond, alskme er geradewegs vom Himmel.

    Zweihundert Meter entfernt, zweihundert Meter hochverhielt er und schwankte lautlos in der Luftstrmung.

    Der Korb unter dem Ballon da ist jemand drin!Aber dann stieg ein hochgewachsener Mann vom

    Fhrerstand des Zuges, wie ein Kapitn, der die Untiefendieses Binnenmeeres ausloten will. Er war ganz inSchwarz gekleidet. Sein Gesicht lag im Schatten. Sowatete er bis zur Mitte der Wiese. Sein Hemd war soschwarz wie die Handschuhe an den Hnden, die er zumHimmel emporstreckte.

    Er machte eine Handbewegung. Einmal nur.Der Zug erwachte zum Leben.Ein Kopf tauchte an einem Fenster auf, dann ein Arm,

    dann noch ein Kopf wie Marionetten auf der Bhne.Pltzlich trugen zwei schwarzgekleidete Mnner einendunklen Zeltmast durch das raschelnde Gras.

    Die Stille war es, die Will zurckschrecken lie,whrend Jim sich mit mondhellen Augen gespanntvorbeugte.

    In einem Zirkus sollte man Knurren und Brllen hrenwie im tiefen Wald und ganze Wolken von Staub sehen,

    aufgewirbelt von den Lwen; Mnner mssen geschftigherumrennen, Flaschen klirren, Futtereimer klappern,Maschinen und Elefanten stampfen, Zebras seufzen,eingeschlossen in doppelten Kfigen.

    Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarz-weie Bhne voller Geister, die ihre Lippen bewegten;mondwei stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle

    Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille,

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    55/304

    da man den Wind in den Hrchen auf der Backe flsternhrte.

    Weitere Schatten entstiegen dem Zug und huschten anden Kfigen vorbei, in denen die Finsternis mitblicklosen Augen lauerte. Auch die Zirkusorgel schwieg,bis auf die Andeutung eines verrckten Liedes, das derWind den Orgelpfeifen entlockte.

    Der Zirkusdirektor stand mitten auf dem freien Feld.Der Ballon hing wie ein riesiger, grnverschimmelterKse regungslos am Himmel. Dann senkte sich dieDunkelheit ber alles herab.

    Als die Wolken den Mond verhllten, sah Will geradenoch, wie der Ballon herabschwebte.

    In der schwarzen Nacht sprte er, wie die Mnner sichunsichtbar an die Arbeit machten. Der unsichtbare Ballonkam ihm vor wie eine fette Spinne im Netz. Er machtesich an Masten und Tauen zu schaffen und zog Stoff in

    die Hhe.Die Wolken lichteten sich. Der Ballon stieg auf.Auf der Wiese ragten die Masten auf, das Skelett des

    Hauptzeltes, das nur noch auf die Zeltbahnen wartete.Wieder schoben sich Wolken vor den weien Mond.

    Will erschauderte im Schatten. Er hrte Jim wegkriechen,packte seinen Fu und sprte, wie seine Muskelnerstarrten.

    Warte! raunte Will. Sie ziehen gerade dieZeltbahnen auf.

    Nein, sagte Jim. O nein...Auf geheimnisvolle Weise wuten es beide: Die Drhte

    und Taue hoch droben an den Masten fingen dievorbeifliegenden Wolken ein, entrissen dem Wind ganzeBahnen von ihnen; ein groes Schattenungeheuer nhte

    sie aneinander, eine neben die andere, bis das Zelt Gestalt

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    56/304

    annahm. Endlich vernahmen sie das klatschendeGerusch der im Wind flatternden riesigen Fahnen.

    Die Bewegung hrte auf. Dunkelheit ruhte wiederregungslos in der Dunkelheit.

    Will lag mit geschlossenen Augen da und lauschte demSchlag der gewaltigen pechschwarzen Schwingen, als seiein riesiger Urvogel zum Leben erwacht, hier, auf dernachtschwarzen Wiese.

    Die Wolken flogen davon. Der Ballon warverschwunden.

    Die Mnner waren fort.Der Wind lie Wellen wie schwarzen Regen ber das

    fertige Zelt rinnen.Pltzlich erschien der Weg zurck zur Stadt unendlich

    weit.Will blickte instinktiv ber die Schulter. Nichts als

    Gras und leises Flstern.

    Langsam wandte er den Blick wieder demschweigenden, dunklen, scheinbar leeren Zelt zu.Das gefllt mir nicht, sagte er.Jim konnte seinen Blick nicht abwenden. Ja, flsterte

    er nur. Ja!Will stand auf. Jim lag noch flach am Boden.Jim! rief Will.Jims Kopf flog herum, als htte er eine Ohrfeige

    bekommen. Er kniete und raffte sich schwankend auf.Sein Krper drehte sich um, doch sein Blick war immernoch auf diese schwarzen Fahnen geheftet, die groenBanner und Transparente, die mit ungeahntenSchwingen, mit Hrnern und dmonenhaftem Grinsensich regten.

    Ein Vogel schrie auf. Jim erschrak.

    Wolkenschatten jagten sie in blinder Flucht bis an den

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    57/304

    Stadtrand. Von da aus rannten die beiden Jungen vonganz allein weiter.

    Dreizehntes Kapitel

    Kalter Wind blies durch das weitgeffnete Fenster indie Bibliothek.

    Charles Halloway stand schon seit einer ganzen Weilehier. Nun zuckte er zusammen.

    Unten flogen zwei Schatten die Strae entlang, Schrittum Schritt begleiteten sie ihre greren Schatten. Leisemalten sie Fuspuren in die Nachtluft.

    Jim! rief der alte Mann. Will!Doch seine Stimme klang nicht sehr laut.Die Jungen rannten weiter, nach Hause.Charles Halloway blickte ber das Land.Er war allein durch die Gnge der Bibliothek

    gewandelt, und sein Besen hatte ihm Dinge zugeflstert,die kein anderer hrte; da hatte er den Zug und dasdisharmonische Klingen der Zirkusorgel vernommen.

    Drei Uhr, murmelte er. Drei Uhr morgens...Drauen auf der Wiese wartete das Zelt, wartete der

    Zirkus. Sie warteten auf jemanden, der die Brandung desGrasmeeres entlangkommen sollte. Die groen Zelte

    blhten sich wie Blaseblge. Dann atmeten sie ganz leiseeine Luft aus, die nach urtmlichen gelben Ungeheuernroch.

    Doch nur der Mond blickte in das dunkle Loch, dietiefen Hhlen. Drauen verharrten am Karussell die Tiereder Nacht mitten im Sprung, Dahinter lagen die Tiefendes Irrgartens mit vielfltigen Trugbildern, einesberlagerte das andere, still, erhaben, silbern vom Alter,

    wei vom Schnee der Zeit. Jeder Schatten am Eingang

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    58/304

    konnte Farben der Angst erzittern lassen und tiefvergrabene Monde enthllen.

    Wenn dort ein Mensch stnde wrde er sich dannmillionenmal sehen knnen, eine endlose Kette bis hinzur Ewigkeit? Wrden ihn eine Million Abbilderanstarren, eines hinter dem anderen, eines lter als dasandere? Wrde er dort in feinem Staub versinken, tiefdrin, nicht fnfzig, sechzig, siebzig Jahre alt, sondernneunzig, neunundneunzig Jahre?

    Die Spiegel stellten keine Frage. Sie gaben keineAntwort.

    Sie standen nur einfach da wie ein riesiges arktischesEisfeld.

    Drei Uhr...Charles Halloway fror. Seine Haut fhlte sich pltzlich

    an wie die eines Reptils. Das Blut in seinem Magenverwandelte sich in Rost. Er schmeckte die feuchte Khle

    der Nacht.Aber er konnte sich nicht vom Fenster abwenden.Weit drauen glitzerte etwas auf der Wiese.Es war der Mond, der sich in einem groen Glas

    spiegelte. Vielleicht wollte das Licht etwas sagen,geheimnisvoll, verschlsselt.

    Ich gehe hin, dachte Charles Halloway. Ich gehe nichthin.

    Schn ist es, dachte er weiter. Nein, es gefllt mirnicht.

    Einen Augenblick spter schlug die Tr der Bibliothekzu. Auf dem Heimweg kam er an dem leerenSchaufenster vorbei. Drin standen verlassen zweiSgebcke. Dazwischen eine Wasserpftze, in der einpaar Eisstckchen schwammen. Lange blonde Haare im

    Eis...

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    59/304

    Charles Halloway sah es, wollte es aber nicht sehen. Erwandte sich ab und ging. Bald war die Strae wieder so

    leer wie das Fenster des Ladens.Weit drauen auf der Wiese zuckten Schatten durch

    das Spiegelkabinett, als ob ungeborenes Leben dort derErrettung harrte.

    So wartete der Irrgarten, kalt starrend, da wenigstensein Vogel kme und nach kurzem Blick aufkreischenddavonflge.

    Doch kein Vogel kam.

    Vierzehntes Kapitel

    Drei Uhr, sagte eine Stimme.Will lauschte. Allmhlich wich die Klte aus seinen

    Gliedern. Er war froh, ein Dach ber dem Kopf, einenBoden unter den Fen, vier Wnde um sich zu haben,eine Tr zwischen sich und der Gefahr, der Freiheit, derNacht.

    Drei...Dads Stimme. Er war wieder zu Hause und sprach mit

    sich selbst, whrend er den Flur entlangging.Drei Uhr...Drei Uhr, berlegte Will. Da war doch der Zug

    gekommen!Hatte Dad ihn gehrt? War er ihm nachgegangen?Nein, das darf nicht sein! Will rollte sich zusammen.

    Warum nicht? Er zitterte. Was hatte er zu frchten?Den Zirkus, der wie von einem Schwall schwarzer

    Sturmwogen auf das Gestade da drauen gesplt wurde?Da er es wute, er und Jim und Dad? Da dieschlafende Stadt ahnungslos war hatte er davor Angst?

    Ja. Will vergrub sich in den Kissen. Ja...

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    60/304

    Drei Uhr...Drei Uhr morgens, dachte Charles Halloway und

    hockte sich auf die Bettkante. Warum kam der Zug zudieser Stunde an?

    Das ist eine ganz besondere Stunde, dachte er weiter.Um diese Zeit sind Frauen nie wach. Sie schlafen denSchlaf der Kinder. Aber Mnner in mittleren Jahren? Siekennen diese Stunde gut. Gott im Himmel, Mitternachtist nicht weiter schlimm, man wacht auf und schlftwieder ein; ein Uhr, zwei Uhr geht auch noch, man wlztsich eine Weile unruhig hin und her, doch man schlftwieder ein. Fnf oder sechs Uhr morgens eine hoff-nungsvolle Stunde, die Morgendmmerung lauert bereitsunter dem Horizont. Aber drei Uhr groer Gott! Dierzte sagen, da der Krper dann den Tiefpunkt erreichthat. Die Seele ist frei. Das Blut strmt nur langsam. Niewieder ist man dem Tod nher, bis zur Stunde des Todes

    selbst. Schlaf ist ein Stck des Todes, aber drei Uhrmorgens, offenen Auges erlebt, das ist der lebende Tod!Man trumt mit offenen Augen. Gott, wenn man dieKraft aufbrchte, sich zu erheben, man wrde die eigenenTrume mit einer Schrotflinte niederschieen! Aber nein,man liegt machtlos auf dem Grunde eines tiefen,ausgedrrten Brunnens. Der Mond rollt vorbei und grinsteinen mit seinem idiotischen Gesicht da unten an. Der

    Weg zurck zum Sonnenuntergang ist weit, weit ist esnoch bis zur Morgendmmerung. Alle Dummheiten desLebens fallen einem wieder ein, all die herrlich dummenErlebnisse mit Menschen, die man so gut gekannt hat unddie nun tot sind, tot...

    Und stimmte das nicht hatte er nicht irgendwogelesen, da in den Krankenhusern um drei Uhr

    morgens mehr Leute sterben als zu jeder anderen Tages-

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    61/304

    und Nachtzeit?Halt! schrie er lautlos.

    Charlie? fragte seine Frau im Schlaf. Behutsam zoger den anderen Schuh aus.

    Seine Frau lchelte im Schlaf.Warum?Sie ist unsterblich. Sie hat einen Sohn.Er ist auch dein Sohn!Aber welcher Vater glaubt das jemals wirklich? Er

    trgt keine Brde, leidet keine Schmerzen. WelcherMann kann sich wie eine Frau in der Dunkelheithinlegen und mit einem Kind wieder erheben? DieSanften, die Lchelnden hten das zarte Geheimnis.Welch seltsame, wunderbare Uhren die Frauen doch sind.Sie ruhen in der Zeit selbst. Aus ihnen wird das Fleisch,das die Ewigkeit bindet und festhlt. Sie leben begnadet,wissen um ihre Macht, halten sie fest und brauchen nicht

    davon zu reden. Wer spricht schon von der Zeit, wenn erselbst die Zeit ist und die flchtigen Augenblicke imUniversum in Wrme und Tat umformt, ehe sieentschwinden? Wie Mnner diese warmen Uhrenbeneiden und oft sogar hassen, diese Frauen, die wissen,da sie unsterblich sind. Was tun wir also? Wir Mnnerwerden schrecklich und bse, weil wir die Welt nichtfesthalten knnen, nicht uns selbst nichts. Blind stehen

    wir vor dem Bestndigen, alles bricht zusammen, strztein, schmilzt, hrt auf, verrottet oder entgleitet uns.Wenn wir also die Zeit nicht formen knnen was bleibtuns dann noch? Schlaflosigkeit. Hilfloses Starren.

    Drei Uhr morgens. Das ist unser Lohn. Drei Uhrmorgens. Mitternacht der Seele. Die Flut fliet ab. Ebbein der Seele. Und in dieser Stunde der Verzweiflung

    kommt ein Zug an.

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    62/304

    Warum?Charlie?

    Die Hand seiner Frau berhrt die seine.Du Charlie alles in Ordnung?Sie schlft schon wieder.Er schweigt.Er kann ihre Frage einfach nicht beantworten.

    Fnfzehntes Kapitel

    Die Sonne ging gelb wie eine Zitrone auf.Der Himmel erstrahlte rund und blau.Die Vgel trllerten wasserhelle Melodien in die Luft.Will und Jim beugten sich aus ihren Fenstern.Nichts hatte sich verndert.Bis auf den Blick in Jims Augen.Letzte Nacht..., begann Will. War es wirklich oder

    nicht?Beide blickten auf die fernen Wiesen hinaus.Die Luft roch s wie Sirup. Nirgends Schatten, nicht

    einmal unter den Bumen.Sechs Minuten! rief Jim.Fnf!Vier Minuten spter schwappte das hastig

    hinuntergeschlungene Frhstck in ihren Mgen. Sierannten zur Stadt hinaus, zertraten braune Bltter unterihren Sohlen zu Staub.

    Rasch atmend hoben sie den Blick vom Boden, den siezertrampelten.

    Da war er der Zirkus!He...Jetzt waren die Zelte gelb wie die Sonne,

    messingfarben wie die Weizenfelder vor wenigen

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    63/304

    Wochen. Fahnen und Transparente, farbig wieBuntspechte, knatterten ber den lwenfarbenen Zelten.

    Von den bonbonbunt gestrichenen Buden ging einherrlicher Samstaggeruch aus, nach Schinken und Eiern,Wrstchen und Pfannkuchen. berall rannten Jungen hinund her. berall folgten ihnen verschlafen die Vter.

    Ein ganz simpler alter Zirkus! stellte Will fest.Quatsch! Wir waren letzte Nacht doch nicht blind!Sie marschierten hundert Schritte geradeaus, genau in

    den Mittelgang des Zirkus hinein. Je tiefer sievordrangen, um so klarer wurde ihnen, da sie hier keinenchtlichen Gestalten finden wrden, keinen leisetappenden Ballonschatten, unter dem sich fremdartigeZelte wie Gewitterwolken drohend blhten. Aus derNhe sah der Zirkus nur nach zerschlissenen Tauen, nachvermotteter Zeltleinwand, nach regenverwaschenem, aus-gebleichtem Gewebe aus. Die Schilder, auf denen die

    Attraktionen angekndigt wurden, hingen wie mdeAlbatrosse an ihren Pfhlen und lieen ab und zu Flockenuralter Farbe abbrckeln. Zitternd gaben sie dieentzauberten Wunder eines zu dnn geratenen Mannes,eines Dicken, eines spitzkpfigen Ttowierten, einerHulatnzerin preis...

    Sie strichen weiter durch Zelte und Buden, entdecktenaber keine geheimnisvollen mitternachtsschwarzen

    Kugeln voller Giftgas, mit einem orientalischenGeheimknoten an den in die Erde gestoenen Dolchgefesselt, keine rasenden Wilden, die Eintrittskartenkontrollierten und dabei auf finstere Rache sannen. DieZirkusorgel neben der Kasse gab weder Todesschreie vonsich, noch summte sie idiotische Melodien vor sich hin.Der Zug? Der stand auf einem Abstellgleis im

    sonnenwarmen Gras. Alt sah er aus, zusammengehalten

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    64/304

    vom Rost, wie ein riesiger Magnet, der aus denLokomotivfriedhfen dreier Kontinente alte

    Kurbelstangen, Schwungrder, Ofenrohre undgebrauchte, minderwertige Alptrume angezogen hatte.Das war keine schwarze, drohende Silhouette. Der Zugbettelte um die Erlaubnis, sich tot ins herbstliche Heusinken zu lassen, so mde war er davon, ewig Dampf undrostige Eisenspne in die Luft blasen zu mssen.

    Jim! Will!Miss Foley, die Lehrerin ihrer 7. Klasse, kam lchelnd

    auf die beiden zu.Na, ihr beiden? fragte sie. Stimmt etwas nicht? Ihr

    seht aus, als httet ihr etwas verloren.Na ja, antwortete Will. Haben Sie auch letzte Nacht

    die Zirkusorgel gehrt?Zirkusorgel? Nein.Warum sind Sie dann so frh hier, Miss Foley?

    fragte Jim.Ich liebe eben den Zirkus. Miss Foley, eine kleineFrau, die sich in ihren grauen Fnfzigern verloren hatte,sah sich strahlend um. Ich kauf euch Wrstchen, dannsuche ich meinen dummen kleinen Neffen. Habt ihr ihnirgendwo gesehen?

    Ihren Neffen?Robert. Er wohnt fr ein paar Wochen bei mir. Sein

    Vater ist tot, die Mutter liegt im Krankenhaus. Da hab ichihn zu mir genommen. Er ist schon frh hierherausgelaufen, wir wollten uns treffen. Aber wie Jungennun einmal sind... Gott, ihr seht aber traurig aus! Sieschob ihnen Wrstchen zu. Lat es euch schmecken!Lacht! In zehn Minuten machen die Karussells auf.Vorher will ich mir einmal das Spiegelkabinett an-

    schauen...

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    65/304

    Nein, sagte Will.Wieso nein? fragte Miss Foley.

    Nicht den Irrgarten. Will schluckte und starrte diegrundlosen Tiefen der Spiegel an. Dort kommt manniemals auf den Grund. Das war wie ein Polarwinter, dernur darauf lauert, dich mit einem Streich zu tten.Schlielich sagte er: Miss Foley, gehen Sie da nichthinein. Er wunderte sich ber seine eigene Stimme.

    Warum denn nicht?Jim blickte Will gebannt an. Ja, sag's uns. Warum

    nicht?Man kann sich verirren, antwortete Will unsicher.Dann erst recht! Vielleicht luft Robert da drin herum

    und findet den Ausgang nicht mehr. Wenn ich ihn beimOhr erwische...

    Man kann nie wissen. Will konnte den Blick nichtvon den Millionen Meilen blinden Glases wenden.

    Keiner kann sagen, was da drin herumschwimmt...Schwimmt! Miss Foley lachte. Du hast eineherrliche Phantasie, Will. Aber ich bin ein alter Fisch.Deshalb...

    Miss Foley!Miss Foley zgerte, gab sich einen Ruck, tat einen

    Schritt und verschwand im Meer von Spiegeln. Sie sahenihr nach, wie sie kleiner wurde, tiefer versank, immer

    tiefer, bis sie sich schlielich auflste, grau in einemOzean von Silber. Jim packte Wills Arm. Was solldas?

    Gott, Jim die Spiegel sind's! Das einzige, was ichnicht leiden kann. Ich meine die Spiegel sind daseinzige, was wirklich noch so aussieht wie letzte Nacht.

    Junge, Junge, du warst zu lange in der Sonne! sagte

    Jim verchtlich. Das Spiegelkabinett da ist doch... Er

  • 7/24/2019 Ray Bradbury-Das Bse Kommt Auf Leisen Sohlen-Diogenes (2008)

    66/304

    verstummte. Er hob die Nase in die kalte Luft, die ihnenaus den hohen Spiegeln wie aus einem Eiskeller

    entgegendrang.Jim? Was wolltest du sagen?Doch Jim sagte nichts. Nach einer Weile fuhr er sich

    mit der Hand ber den Nacken. Es tut's wirklich! riefer leicht bestrzt aus.

    Was tut was?Das Haar! Ich hab's immer wieder gelesen. In den

    Gruselgeschichten, da steht den Leuten dauernd das Haarzu Berge. Jetzt spr ich's auch bei mir!