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BerWissGesch 5 (1982): Dokumentation und Information 245 Reaktionen auf naturwissenschaftliche Konzepte und Ideen in anderen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts Bericht über den Verlauf des XX. Symposiums der Gesellschaft für Wissenschaftsge- schichte vom 20.-22.5.1982 in Aachen, zusammengestellt aufgrundder Autoreferate. Zweifellos stand die gesamte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der stürmischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Während die Physik dieser Zeit vor allem durch die sprunghafte Verbesserung mathematischer Methoden und apparativer Hilfsmittel herausragte, entwickelte die Biologie, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, deutlich monistische Züge. Sie sah sich selbst als Ausgangspunkt aller Wissenschaften, umgekehrt auch als Garant einer Erhaltung der Einheit der Wissenschaft. So entwickelte sich etwa der Evolutionsgedanke über die Biologie hinaus zu einem um- fassenden theoretischen Modell, das ganz allgemein biologisches Denken in der Ge- schichtsschreibung, in den Gesellschaftswissenschaften, in der Rechtswissenschaft, in der Staatslehre, in Philosophie und Theologie, Fuß fassen ließ. Aber nicht nur die großen Strukturen des Naturgeschehens, nicht nur die Natur des Menschen, sondern auch die Details der Morphologie, etwa die Zelle, das Gewebe, das Organ, lösten sich von ihrer biologischen Herkunft und nahmen außerhalb der Biologie - wenigstens zeitweise - paradigmatische Züge an. Trotz der charalcteristischen Entwicklung und Aufsplitterung der Fachdisziplinen bewahrte so die Wissenschaft des Zweiten Kaiserreichs- denn dies ist der politisch-historische Hintergrund - einen gewissen Zusammenhalt, ein Geflecht von Beziehungen, das durch Übertragung und Verallgemeinerung methodologischer Normen und empirischer Erkenntnis. beschrieben werden kann. Allerdings dürfen hier auch die fatalen Folgen, die etwa die Verarbeitung des Darwinismus in der Rassenlehre zeitigte, nicht übersehen werden. Diese großen Züge der Wechselwirkung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert mußten natürlich im Symposium in einzelne Aspekte aufgegliedert werden. So befaßte sich Ger- hard Rudolph zunächst mit dem "Mechanismusproblem in der Physiologie des 19. Jahr- hunderts". Demnach sind Mechanismus und Organizismus (Vitalismus) Grundpositionen im Studium der belebten Natur, die sich vereinfachend auf ein Denkschema der Linie Demokri t-Mechanismus-Kausalität und Aristoteles-Organismu s-F inali tä t zurückführen las- sen. Das mechanistische Denken der Aufldärung verlor zwar in Deutschland seinen Ein- fluß nahezu völlig unter den spekulativen Tendenzen der Naturphilosophie, in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte jedoch nach bedeutsamen Ansätzen durch die Brüder Weber (1825, 1827) ein Umschwung in Richtung einer rein physikalisch-mechanistischen For- schung ein. Die erste repräsentative Schrift der quantitativ-messenden Richtung stammt von G. G. Valentirr (1844). Entscheidend für die Entwicklung der modernen Physiologie war nun die Gleichsetzung organischer und anorganischer Vorgänge aufgrund der Ent- deckung der ersten beiden Hauptsätze der Thermodynamik (Mayer, Joule, Helmholtz, Clausius, Boltzmann). Die Umwandlung der Physiologie in eine physikalisch-mechani- stische Naturwissenschaft vollzog sich unter Du Bois-Reymond, Ludwig, Brücke und Helrnholtz. Die Verhältnisse in Frankreich (Dutrochet, Poiseuille, Claude Bernard) lassen sich parallelisieren, wobei ein gewisses Sonderinteresse hier die "Philosophie biologique" von A. Comte fordert. Durch die nachfolgende Generation (L. Herrmann, R. Heidenhain, A. Fick, J. Bernstein) wurde die moderne Physiologie konsolidiert und der jüngste natur- wissenschaftliche Zweig, die physikalische Chemie, einbezogen. Insbesondere Fick und Helmholtz bemühten sich um allgemeine erkenntnistheoretische Einsichten der mecha- nistischen Notwendigkeit. Der vom 19. Jahrhundert geleistete Beitrag zur Mechanisiemng der experimentellen Biowissenschaften hat also aus der Physiologie eine selbständige

Reaktionen auf naturwissenschaftliche Konzepte und Ideen in anderen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts

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BerWissGesch 5 (1982): Dokumentation und Information 245

Reaktionen auf naturwissenschaftliche Konzepte und Ideen in anderen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts Bericht über den Verlauf des XX. Symposiums der Gesellschaft für Wissenschaftsge­schichte vom 20.-22.5.1982 in Aachen, zusammengestellt aufgrundder Autoreferate.

Zweifellos stand die gesamte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der stürmischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Während die Physik dieser Zeit vor allem durch die sprunghafte Verbesserung mathematischer Methoden und apparativer Hilfsmittel herausragte, entwickelte die Biologie, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, deutlich monistische Züge. Sie sah sich selbst als Ausgangspunkt aller Wissenschaften, umgekehrt auch als Garant einer Erhaltung der Einheit der Wissenschaft. So entwickelte sich etwa der Evolutionsgedanke über die Biologie hinaus zu einem um­fassenden theoretischen Modell, das ganz allgemein biologisches Denken in der Ge­schichtsschreibung, in den Gesellschaftswissenschaften, in der Rechtswissenschaft, in der Staatslehre, in Philosophie und Theologie, Fuß fassen ließ. Aber nicht nur die großen Strukturen des Naturgeschehens, nicht nur die Natur des Menschen, sondern auch die Details der Morphologie, etwa die Zelle, das Gewebe, das Organ, lösten sich von ihrer biologischen Herkunft und nahmen außerhalb der Biologie - wenigstens zeitweise -paradigmatische Züge an. Trotz der charalcteristischen Entwicklung und Aufsplitterung der Fachdisziplinen bewahrte so die Wissenschaft des Zweiten Kaiserreichs- denn dies ist der politisch-historische Hintergrund - einen gewissen Zusammenhalt, ein Geflecht von Beziehungen, das durch Übertragung und Verallgemeinerung methodologischer Normen und empirischer Erkenntnis. beschrieben werden kann. Allerdings dürfen hier auch die fatalen Folgen, die etwa die Verarbeitung des Darwinismus in der Rassenlehre zeitigte, nicht übersehen werden.

Diese großen Züge der Wechselwirkung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert mußten natürlich im Symposium in einzelne Aspekte aufgegliedert werden. So befaßte sich Ger­hard Rudolph zunächst mit dem "Mechanismusproblem in der Physiologie des 19. Jahr­hunderts". Demnach sind Mechanismus und Organizismus (Vitalismus) Grundpositionen im Studium der belebten Natur, die sich vereinfachend auf ein Denkschema der Linie Demokri t-Mechanismus-Kausalität und Aristoteles-Organismu s-F inali tä t zurückführen las­sen. Das mechanistische Denken der Aufldärung verlor zwar in Deutschland seinen Ein­fluß nahezu völlig unter den spekulativen Tendenzen der Naturphilosophie, in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte jedoch nach bedeutsamen Ansätzen durch die Brüder Weber (1825, 1827) ein Umschwung in Richtung einer rein physikalisch-mechanistischen For­schung ein. Die erste repräsentative Schrift der quantitativ-messenden Richtung stammt von G. G. Valentirr (1844). Entscheidend für die Entwicklung der modernen Physiologie war nun die Gleichsetzung organischer und anorganischer Vorgänge aufgrund der Ent­deckung der ersten beiden Hauptsätze der Thermodynamik (Mayer, Joule, Helmholtz, Clausius, Boltzmann). Die Umwandlung der Physiologie in eine physikalisch-mechani­stische Naturwissenschaft vollzog sich unter Du Bois-Reymond, Ludwig, Brücke und Helrnholtz. Die Verhältnisse in Frankreich (Dutrochet, Poiseuille, Claude Bernard) lassen sich parallelisieren, wobei ein gewisses Sonderinteresse hier die "Philosophie biologique" von A. Comte fordert. Durch die nachfolgende Generation (L. Herrmann, R. Heidenhain, A. Fick, J. Bernstein) wurde die moderne Physiologie konsolidiert und der jüngste natur­wissenschaftliche Zweig, die physikalische Chemie, einbezogen. Insbesondere Fick und Helmholtz bemühten sich um allgemeine erkenntnistheoretische Einsichten der mecha­nistischen Notwendigkeit. Der vom 19. Jahrhundert geleistete Beitrag zur Mechanisiemng der experimentellen Biowissenschaften hat also aus der Physiologie eine selbständige

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Wissenschaft gemacht, deren Ziele nicht mehr am Gebrauch orientiert sind und die sich aus dem engen Zusammenhang der Medizin gelöst hat.

Zeitlich und thematisch teilweise noch in den Diskussionszusammenhang mit der idea­listischen Naturphilosophie gehörig, bewegt sich demgegenüber die Kritik des "objektiven Mechanismus" bei Nietzsche und Hege! auf hoher Abstraktionsebene. Reinhard Löw wies darauf hin, daß die Annahme einer durchgängig kausalmechanisch strukturierten Welt, wenn sie philosophisch reflektiert wird, eine Form des Realismus ist, nämlich der "objek­tive Mechanismus". Diese Theorie berief sich -allerdings zu Unrecht auf Kant als ihren ersten Vertreter. Nietzsches Kritik daran setzte ein am Begriff der Ursache, den er als im Subjektbegriff verankert nachwies und damit als Illusion verwarf. Auch die Physik war für Nietzsche nur eine subjektive Weltinterpretation aufgrund von Herrschaftsinteressen, keine Welterklärung. Hege! hingegen erschien die Verflechtung von Begriff und Wirklich­keit als Ausgangspunkt für unseren Prozeß des Begreifens dieser Wirklichkeit. Er konsta­tierte in allen Bereichen der Wirklichkeit zwar mechanische Verhältnisse - in der Natur, im Geist, im Recht usw. - die jedoch, absolut als objektiver Mechanismus genommen, sich in Selbstwidersprüche verwickeln. Die Wahrheit des Mechanismus besteht daher für Hege! in der Teleologie, das heißt letztlich in seinem Mittelcharakter für Handlungs­zwecke.

Auch Rudolf Malter behandelte die Wechselwirkung von Naturwissenschaft und Philo­sophie. In seinem Referat über "Schopenhauer und die Biologie: Metaphysik der Lebens­kraft auf empirischer Grundlage" befaßte er sich insbesondere mit Seilopenhauers These, die von ihm entworfene Metaphysik des Willens beruhe zwar auf einer apriorisch, das heißt ohne Rückgriff auf Empirie verfahrenden Spekulation, sie habe aber insofern eine enge Beziehung zu den Naturwissenschaften, als diese der Spekulation eine nachträgliche Bestätigung verleihen. Malter stellte zunächst die Eigenart des Verhältnisses von spekula­tiver Willenslehre und Empirie dar (rillt Schwerpunkt auf der Frage nach der Grenze empirischer Forschung und des Übergangs zur Metaphysik); er zeigte dann, wie Seilopen­hauer die "Bestätigungstheorie", die jenes Verhältnis ausdrückt, konkret auf die Biologie anwendet. Ein Ausblick auf die Aktualität der Schopenhauerschen Lebensmetaphysik, für die empirische Wissenschaft vom Leben (Physiologie, Anatomie, Botanik und anderes) einerseits und für die philosophische Reflexion des Organischen andererseits, stand am Schluß des Vortrags.

Das zögernde Eindringen naturwissenschaftlichen Gedankenguts in die Geschichts­wissenschaft im 19. Jahrhundert und die sehr viel deutlicher ausgeprägte Gegenreaktion analysierte Alexander Demandt. Er betonte zunächst, daß der Begriff ,Historia' ursprüng­lich für Erfahrungswissenschaft stand, ohne daß im Gegenstandsbereich zwischen den Phänomenen der Natur und den Tatsachen der politischen Geschichte unterschieden wor­den wäre. Erst in der Zeit um 1800 verselbständigte sich die Geschichtswissenschaft innerhalb der gesamten Erfahrungswissenschaften. Der Übergang von der Aufldärungs­historie zum Historismus ist dann gekennzeichnet durch eine fortschreitende Institutio­nalisierung und Spezialisierung der Geschichtswissenschaft. überwiegend scheinen jedoch die Historiker des 19. Jaluhunderts die Entdeckungen und Entwicldungen der Naturwis­senschaft vernachlässigt zu haben. Dennoch haben drei Schulen versucht, den Gedanken einer einheitlichen Wissenschaft unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen aufrecht zu erhalten: Die biologistische Geschichtswissenschaft im Gefolge von Gobineau und Dar­win, die sozialökonomische Historie in der Tradition von Marx, und der Positivismus unter dem Einfluß von Comte. Auf diese Tendenzen hat die herrschende Richtung des Historismus durch eine Entwicklung der hermeneutischen Methodologie reagiert (Droy­sen, Dilthey). Aus dem Streit der Meinungen ist schließlich ein positivistisch erweiterter Historismus hervorgegangen, der sozialökonomische und anthropologische Fragestellun-

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gen zuläßt, sich aber prinzipiell als eigenständige Wissenschaft neben die Naturwissen­schaft stellt.

Demgegenüber haben gewisse in Anlehnung an die Naturwissenschaften formulierte Wissenschaftskriterien die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts in ihrem Selbstverständnis empfindlich berührt. Maximilian Herberger führte aus, daß sich zu Beginn des 19. Jahr­hunderts zahlreiche Juristen in der Debatte um die Wisseilschaftlichkeit ihres Faches an den Überlegungen Kants (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft) orien­tieren. Mit Blick auf die dort formulierten Maßstäbe sahen einige Juristen die Möglichlceit einer Wissenschaft vom Recht (so Feuerbach), während andere die wissenschaftliche Be­handlung des Rechts (im strengen Sinne) für unmöglich hielten (so Hugo). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen Denkmodelle einzelner Naturwissenschaften Einfluß in der Jurisprudenz. Besondere Bedeutung hatte hier die Physiologie. Für Savignys System­entwurf etwa läßt sich zeigen, daß Carl Chr. E. Schmids "Physiologie" methodischen Einfluß ausgeübt hat. Zum Programm wurde die Orientierung an der Naturwissenschaft bei Kuntze, der die in der organischen Natur anzutreffenden "Gestalten" und ,,Prozesse" als gedanldiche Muster für juristisches Konstruieren empfiehlt. Im Hintergrund stand hier der Kontakt Kuntzes mit Fechner. Auch die Juristen, die der Meinung waren, daß sich ihr Gegenstand der wissenschaftlichen Erfassung entzieht, begründeten dies zu einem nicht unerheblichen Teil in einer auf die Naturwissenschaften abstellenden vergleichenden Be­trachtungsweise. Zusammenfassend konstatierte Herberger, daß die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Jurisprudenz im 19. Jahrhundert dadurch bestimmt waren, daß sich die Jurisprudenz in ihrem methodologischen Selbstverständnis durch die als "eigent­liche" Wissenschaft auftretenden Naturwissenschaften herausgefordert fühlte und mit An­näherung oder Distanzierung reagierte.

Mit dem "Modell der Naturwissenschaft in der Psychiatrie im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert" setzte sich Wolfram Schmitt auseinander. Das Modell der Naturwissen­schaft, das sich in der Psychiatrie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als hirnorga­nisch zu begründendes, medizinisches Krankheitskonzept im Sinne der Krankheitseinheit etablierte und sich methodisch zwischen den Ebenen des Erklärens und Beschreibens bewegte, geriet offenbar um die Jahrhundertwende bis in die beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein in eine Krise. Diese führte zu einer Begrenzung des naturwissen­schaftlichen Anspruchs auf eine somatapathologische Erklärung psychopathalogischer Tatbestände. Die Begrenzung ergab sich durch eine Verschiebung des Krankheitskonzepts von einer somatologisch-erldärenden zu einer psychologisch-beschreibenden, klinisch­beobachtenden Ebene. In der Folge kam es zur Auflösung der Krankheitseinheiten und zur Erstellung von Symptomenkomplexen, Syndromen oder Typen psychischer Störun­gen unter Aufgabe einer engen ätiologisch-pathogenetischen Bindung der Symptomatolo­gie an ein hirnorganisches Substrat. Eine Einschränkung des naturwissenschaftlichen Gel­tungsbereichs erfolgte darüber hinaus durch die Aufnahme phänomenologisch-verste­hender und tiefenpsychologisch-hermeneutischer Ansätze in die Psychiatrie nach der Jalu­hundertwende. Die weitere Entwicklung ging im wesentlichen über das naturwissenschaft­liche Paradigma hinweg zu phänomenologisch-deskriptiven, hermeneutischen, ganzheits­und strukturpsychologischen und schließlich auch soziogenetischen Konzepten, die in ihren mannigfachen Verflechtungen auf ein pluralistisches Wissenschaftsmodell der Psy­chiatrie verweisen.

Mit Walter Müller-Seidels für das Rahmenthema exemplarischem Vortrag über "Natur­wissenschaft und moderne Literatur. Zum Bewußtseinswandel am Ende des 19. J ahrhun­derts" wandte sich die Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte an eine größere Aachener Öffentlichkeit. Dabei suchte der Vortrag zu begründen, daß in der Literatur zu Beginn der neunziger Jahre im allgemeinen Bewußtseinswandel ein Bruch erfolgte, eine Art Paradig-

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mawechsel: die bisherige Einheit von Literatur und traditioneller Naturwissenschaft im Zeichen des mechanistischen Weltbildes wurde aufgebrochen. Dadurch, daß die moderne Literatur sich kritisch gegenüber diesem Weltbild verhielt, unterscheidet sie sich grund­sätzlich von den mit der Naturwissenschaft konformen Einstellungen von Arno Holz, Gerhart Hauptmann und den meisten Naturalisten. Auch das sozialdarwinistische Syn­drom gehört ganz in die oben bezeichnete Einheit, das von der Moderne weiterhin kritisch betrachtet wurde. Die neuartige Wissenschaftskritik äußerte sich unter anderem als Sprachkritik, als Kritik an überlieferten Begriffen wie Kausalität, Einheit (im Sinne Haeckels) und vor allem in der Rechtfertigung von Krankheit, hier insbesondere im psy­chischen (und psychiatrischen} Gebiet. - Solch kritischen Einstellungen entsprechen offenkundig Wandlungen im Gebiete der überlieferten Wissenschaft selbst. Drei Natur­forscher wurden hier vor allem einbezogen, deren Wirkungen auf die Literatur der Mo­derne erwiesen sind: Emil Du Bois-Reymond, Ernst Mach und Sigmund Freud. Die Ent­stehung der modernen Literatur ist demnach im engsten Zusammenhang mit solchen Wandlungen im Gebiet der Naturwissenschaft zu sehen, wobei sich "neue Wissenschaft" und moderne Literatur wieder annähern.

Theoretische Physik, zeitgenössische Biologie und philosophische Gedanken zur Wis­senschaft berührten sich im Werk Ludwig Boltzmanns. Boltzmann war eben nicht nur einer der bedeutendsten theoretischen Physiker der klassischen Epoche, sondern er war auch stark philosophisch interessiert und verfocht einen realistischen Standpunkt gegen­über positivistischen und idealistischen Strömungen. überdies war er nach Auffassung Engelbert Brodas ein geradezu leidenschaftlicher Darwinist. Auf Grundlage der Abstam­mungslehre leistete Boltzmann demnach wichtige Beiträge zu Problemen der. Lebensent­stehung, der Bioenergetik und der Ausbildung von Nerven- und Gehirnprozessen, von Gedächtnis und Bewußtsein. Broda vertrat die Ansicht, daß Boltzmanns Interesse an der Abstammungslehre philosophisch begründet war: Die letzten Kategorien und Begriffe der Wissenschaft sowie die Denkgesetze wurden vom Menschen aufgrundvon Ansätzen bei seinen Vorfahren derart geformt, daß sie den Bedürfnissen der Praxis, dem Sich-Behaup­ten in der Natur entsprachen. Boltzmanns überlegungengehören also unverkennbar in den Rahmen der heute sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie.

Von einer etwas breiteren historischen Basis ausgehend und stärker die Übertragung der Evolutionsidee betonend, stellte Franz M. Wuketits "Evolutionsmodelle in der Erklärung menschlicher Denkstrukturen im 19. Jahrhundert" vor. Offenbar wurde die Evolutions­theorie bereits im 19. Jahrhundert vielfach auch auf die Erklärung psychischer und geisti­ger Phänomene des Menschen ausgedehnt. Naturforscher wie Ch. Darwin, E. Haeckel und T. Huxley sowie Philosophen wie H. Sperrcer haben diese Phänomene auf das Plateau der Evolution des Lebenden gestellt. Die so etablierten Evolutionsmodelle sind vor allem selektiv-eliminative Modelle, wonach letztlich das menschliche Denken und Erkennen als Produkt der natürlichen Selektion erklärt wird. Das 19. Jahrhundert wurde mithin rich­tungsweisend ftir die erst heute in ldaren Konturen sichtbar werdende evolutionäre Erkenntnistheorie (K. Lorenz, K. R. Popper, R. Riedl und andere}. Wuketits referierte hierzu einige der zentralen Ideen aus dem 19. Jahrhundert; darüber hinaus machte er den Versuch, die Verbindungen zwischen der evolutionären Denkweise des 19. Jahrhunderts und der modernen evolutionären Erkenntnistheorie aufzuzeigen, womit sowohl Unter­schiede als auch Ähnlichkeiten zwischen ,alten' und ,neuen' Konzepten hervortreten soll­ten.

Ebenfalls in den großen Zusammenhang der Rezeption Darwirrscher Gedanken gehö­rend, beschäftigte sich das abschließende Referat Ralf Winaus mit einem historischen Detail, nämlich mit der Frage "Natur und Staat oder: Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetz-

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gebung der Staaten?" Mit diesem Thema zitierte Wirrau eine Preisfrage, die 1900 von den Professoren Haeckel, Fraas und Conrad gestellt und von Friedrich Krupp finanziert wurde. Die Analyse der ausgezeichneten und in der Reihe "Natur und Staat" veröffent­lichten Arbeiten zeigt, daß sozialdarwinistische Ansätze ganz unterschiedlicher Art disku­tiert wurden. Sie reichen von rassenhygienischen Versuchen über ethische und philoso­phische Entwürfe, über Versuche, das Staatswesen abstrakt evolutionistisch zu begründen, bis zu konkreten machtpolitischen und imperialistischen Ansprüchen. Gemeinsam ist allen Beiträgen der Vorrang der Gemeinschaft, des Staats, vor dem Einzelnen, die Erwar­tung, daß naturwissenschaftliche Kenntnisse den Einzelnen dazu führen, die sich aus der Naturwissenschaft ergebenden Zwangsmaßnahmen einzusehen und gegebenenfalls zu er­tragen; in fast allen Entwürfen wird davon ausgegangen, daß die Erbsubstanz des Volkes gefährdet sei und daß Maßnahmen ergriffen werden müssen, einem weiteren Zerfall ent­gegenzuwirken; aus sämtlichen Entwürfen spricht eine ungebrochene Fortschrittsgläubig­keit. Vor allem wird hier auch die einleitend angesprochene enorme Gefahr sichtbar, die die übertragungbiologischer Gedanken für die politische Entwicklung bedeutete.

Dr. Walter Kaiser Johannes Gutenberg-Universität Fachbereich Mathematik Arbeitsgruppe ftir Geschichte der Naturwissenschaften Saarstraße 21 D-6500 Mainz

Welllcome Symposium in the History of Medicine: Romanti.cism and Medi­cine- London 28.5.1982

Das Interesse an der Epoche des Deutschen Idealismus und der Romantik ist in den vergangeneu Jahren in der Wissenschaftsgeschichte zunehmend angewachsen. Aufsätze, Monographien und Symposien lenken die Aufmerksamkeit auf diese Phase der neuzeit· liehen Wissenschaftsentwicklung und suchen in ideologischer Unvoreingenommenheit, die für die vergangene Historiographie keineswegs selbstverständlich gewesen ist, die Vielfalt der Positionen zu unterscheiden, in ihrer Beziehung zur Philosophie der Zeit zu begreifen, ihre Herkunft aus der Vergangenheit und ihr Weiterwirken im 19. und 20. Jahrhundert zu bestimmen.

Das Wellcome Institute for the History of Medicine lud zum 28. Mai dieses Jahres unter der organisatorischen Leitung von Michael Neve, Roy Porter und W. F. Bynum zu einem Romantiktag nach London ein. Die Vorträge und Diskussionen bezogen sich auf die folgenden Themen: "What on Earth is Romanticism? " (M. Neve); "The Concept of History in the Medicine of the Romantic Ea~" (D. v. Engelhardt); "Kleist's Indebtedness to Contemporary Romantic Psychology and Medicine" (N. Reeves); "An Apothecary­Surgeon's Prescription? - Davy and the Nature of Science" (D. Knight); "S. T. Coleridge and Philosophical Medicine" (T. Levere); "A Frustrated Reform: Brownian Medical Theo­ry and Practice in Romantic Germany" (G. B. Risse).

Prof. Dr. Dietrich von Enge!hardt Ruprecht· Karls· Universität Heidelberg Institut für Geschichte der Medizin Im Neuenheimer Feld 305 D - 6900 Heidelberg 1