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FSU-Jena Institut für Soziologie PS Methoden III Leitung: Dr. Dorett Funcke Referenten: Florian Raßbach, Philipp Barth Probleme und Mißverständnisse in der Rezeption der „objektiven Hermeneutik“ einleitend: - nimmt ein intuitives Regelwissen in Anspruch - gekennzeichnet von einer Rekonstruktionslogik - Gegenstand: objektiven Sinnstrukturen, die durch Texte nach generativen Regeln konstituiert werden OEVERMANN beschreibt fünf Problempunkte: I. Der Status des bei der objektiv hermeneutischen Text- Interpretation in Anspruch genommenen Regelwissens und das entsprechende Verhältnis von obj. H. und explanativer Sprachtheorie werden nicht richtig gesehen. II. Der in der obj. H. im Zentrum stehende weite Textbegriff und die damit verknüpfte zentrale Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit werden in Richtung eines überkommenen, literaturwissenschaftlich engen Textbegriffs missverstanden. III. In der obj. H. wird mit einer Konzeption sozialer Interaktion gearbeitet, die sich vom üblichen Begriff von Interaktion in der Soziologie unterscheidet. Diese Differenz wird oft nicht berücksichtigt. IV. Die obj. H. stellt den Anspruch einer allgemeinen strukturalistischen Methodologie. V. Wegen Diskrepanz zwischen bewältigter Datenmenge und Interpretationszeit sowie Darstellungsraum wird die obj. H. als forschungspraktisch unbrauchbar gesehen. Aber ganz im Gegenteil kann sie ein besonders ökonomisches und effizientes Instrument sein. zu I. - unabhängig von der Fragestellung geht es in der obj. H. um die objektive Bedeutungsstruktur einzelner Handlungen oder Äußerungen oder die latente Sinnstruktur einer Sequenz von

Referat Objektive Hermeneutik

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Page 1: Referat Objektive Hermeneutik

FSU-JenaInstitut für SoziologiePS Methoden IIILeitung: Dr. Dorett FunckeReferenten: Florian Raßbach, Philipp Barth

Probleme und Mißverständnisse in der Rezeption der „objektiven Hermeneutik“

einleitend:- nimmt ein intuitives Regelwissen in Anspruch- gekennzeichnet von einer Rekonstruktionslogik- Gegenstand: objektiven Sinnstrukturen, die durch Texte nach generativen Regeln

konstituiert werden

OEVERMANN beschreibt fünf Problempunkte:I. Der Status des bei der objektiv hermeneutischen Text-Interpretation in Anspruch

genommenen Regelwissens und das entsprechende Verhältnis von obj. H. und explanativer Sprachtheorie werden nicht richtig gesehen.

II. Der in der obj. H. im Zentrum stehende weite Textbegriff und die damit verknüpfte zentrale Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit werden in Richtung eines überkommenen, literaturwissenschaftlich engen Textbegriffs missverstanden.

III. In der obj. H. wird mit einer Konzeption sozialer Interaktion gearbeitet, die sich vom üblichen Begriff von Interaktion in der Soziologie unterscheidet. Diese Differenz wird oft nicht berücksichtigt.

IV. Die obj. H. stellt den Anspruch einer allgemeinen strukturalistischen Methodologie.

V. Wegen Diskrepanz zwischen bewältigter Datenmenge und Interpretationszeit sowie Darstellungsraum wird die obj. H. als forschungspraktisch unbrauchbar gesehen. Aber ganz im Gegenteil kann sie ein besonders ökonomisches und effizientes Instrument sein.

zu I.- unabhängig von der Fragestellung geht es in der obj. H. um die objektive

Bedeutungsstruktur einzelner Handlungen oder Äußerungen oder die latente Sinnstruktur einer Sequenz von Äußerungen oder Handlungen, diese bilden den primären Gegenstand der Sinnauslegung

- Kriterium für die Gültigkeit der Auslegung der Sinnstrukturen sind jene Regeln, die in der Realität selbst an der Erzeugung der Sinnstrukturen beteiligt waren und über die der Interpret per Sozialisation in seiner gesellschaftlichen Lebenspraxis verfügt

- wichtig ist ein gesichertes Wissen von geltenden Regeln; Unterscheidung nach Graden der Reichweite der Geltung und dieses Reichweitenproblem vom Problem der Allgemeinheit der Geltung einer Regel abgrenzen

- in der Kultur haben jene Regeln die größte Reichweite, die die Regelgeleitetheit sozialen Handels als solche ausmachen

- Geltung dieser Regeln lassen sich theoretisch mit der Annahme einer universellen Strukturiertheit des Spracherwerbsapparates begründen (= universelle Regeln)

- denn: eine Sensivität für den Erwerb einer bestimmten Einzelsprache ist nicht angeboren; höchstens solche Strukturen, die den Erwerb einer Einzelsprache überhaupt gewährleisten

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- innerhalb dieser Einzelsprache kommen Individuen unabhängig variierender Bildungsinhalte zum identischen Regelwissen (der Sprache)

- dieses Regelwissen beruht auf universellen Regeln der Grammatikalität der spezifischen Einzelsprache

- folglich hätte sich das Subjekt auch jede andere Einzelsprache aneignen können, aber nachdem sein Spracherwerbsapparat sich mit dem Regelwissen einer spezifischen Einzelsprache gefüllt hat, ist jede weitere Einzelsprache eine Fremdsprache

- universelle Regeln sind nicht kritisierbar- im Gegensatz dazu Regeln historisch sozialer Normen; universell geltende Normen

sind nicht unbewusst operatives Regelwissen, das für das Handeln konstitutiv ist, sondern im Bewusstsein des handelnden Subjekts selbst als Normen typisierte Verpflichtungen, um deren Einhaltung man sich zu bemühen hat und deren Nichteinhaltung als Gefahr des Verfehlens ständig präsent ist das ist bei den universalgrammatischen Regeln nicht der Fall

- demnach unterscheidet man Regeln, die selber Praxis darstellen und Regeln, die erst als Resultat und Produktion von gesellschaftlicher Praxis anzusehen sind (letztere sind insofern in ihrem Gehalt kritisierbar)

zu II.- Protokolle sind an die Bedingung der Sprachlichkeit gebunden, damit sie analysefähig

sind ( I.); ermöglicht damit erst, dass die voll ausgebildete sinnstrukturierte soziale Handlung allererst in die Welt treten lässt

- die sinnstrukturierte Handlung ist als solche durch Sprache, eben als Sprechhandlung grundsätzlich eingerichtet, so dass das, was sie realisieren, als Struktur außerhalb ihrer selbst schon immer vorliegt

- Versprachlichung bedeutet hier nur eine andere Realisierung dessen, was als sinnstrukturierte Handlung und mit Bezug auf sie ohnehin durch Sprache konstituiert war jedes sinngenerierende Protokoll kann man als Text behandeln folglich führt dies zur Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit

- Soziale Wirklichkeit bezieht sich auf das Verhältnis von Ausdrucksgestalt und Lebenspraxis: jede Lebenspraxis findet eine gültige Ausdrucksgestalt im Protokoll ihres Handelns und Lebens. Das Protokoll was eine Abweichung festhält, ist selber immer eine gültige Ausdrucksgestalt dieser Lebenspraxis.

- können aber auch sprachlich oder nicht-sprachlich angefertigt werden- auch aus diesem Grund bedeutet methodisch, dass die Textförmigkeit sozialer

Wirklichkeit, alle Lebensäußerungen zu analysieren hat

zu III.- „face-to-face“ Interaktion als Normalform sozialer Interaktion- dennoch falsche Annahme, die Gesellschaft habe sich aus solchen Interaktionen

entwickelt; wird hier aber auf die einfachste und natürlichste Weise reproduziert- wesentlich ist die gemeinsame Situierung der miteinander interagierenden

Handlungsinstanzen (hier: Personen) Akteure an der Kooperation beteiligt gemeinsames aktuelles Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsfeld gegeben

- bei Analyse eines Protokolls wird zunächst dessen Interaktionseinbettung geklärt- für obj. H. besteht die soziale Welt aus einem ununterbrochenem Strom von

Interaktionen (mgl. individuelle Handlungen herauszulösen)- Interaktion stellt Grundform der Sozialität dar- auch Nicht-Realisierung möglicher Sequenzen zwischen Akteuren sei noch Fall von

Interaktion (auch dies sei durch Regeln strukturiert) – Bsp.: Menschenmenge auf großem öffentlichen Platz, die aneinander vorbeigehen, so ist dieses Nicht-

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Interagieren ein Fall von durch Regeln geleitete soziale Kooperation (Typisierung des Fremden)

zu IV.- obj. H. wird nur als spezifische Methode zur Auswertung von Protokollen

innerfamiliärer Interaktionen angesehen- aber: obj. H. ist die geeignete Grundlage für die Analyse aller Erscheinungsformen

sozialer Wirklichkeit- z.B. Entwicklungsprozesse eines Kindes auf Grund des Regelbewusstseins in den

verschiedenen kognitiven Bereichen- weiterer Grund: natürliche Protokolle stellen soziale Wirklichkeit dar

zu V.- Verfahren der obj. H. sei zu zeitraubend und umständlich (im Vergleich zu

quantifizierenden Verfahren)- aber: wenn man die Relation von Aufwand und Erkenntnisgewinn zum Maßstab der

Forschungsökonomie macht, bekommt man ein anderes Bild- in der Regel genügen wenige und kurze Ausschnitte, um zu einer hinreichend

allgemeinen und expliziten Fallrekonstruktion zu gelangen- praktische Anwendung im Rahmen der klinischen Soziologie; hier reicht eine

Feinanalyse eines geringen Ausschnitts eines Protokolls aus, um für die Praxis Empfehlungs- oder Entscheidungsrahmen zu formulieren; für Therapien

- auch in der Familienhilfe, wo ein Problemkind am günstigsten unterzubringen sei- weiterer Vorteil: immer Rekonstruktion von Einzelfällen identische

Rekonstruktionsmethodologie

Gerald Schneider und seine Kritik an der objektiven Hermeneutik

- erkenntnistheoretische Spaltung der Sozialwissenschaften in Subjektivismus und Objektivismus

- unzureichendes Verständnis von Theorie und Methode- sehr begrenzte Erfassung von latenten Sinnstrukturen; somit keine befriedigende

Erklärung für die vorgefundenen Phänomene- Eindruck, dass zentrale Hypothesen außerhalb der jeweiligen Datensätze konstruiert

werden- man muss bei Kritik in zwei Ebenen unterscheiden: theoretische Argumente und

praktisches Handeln von Sozialwissenschaftlern- kurze Sequenzanalysen sind zu prototypischen Datenmaterial geworden (dieses dient

als Grundlage der Analyse und Darstellung von Fallstudien)- durch kurze Sequenzen kann man Strukturen nicht vollends sichtbar machen; es

werden auch Handlungsstrukturen unterbrochen Sinnstrukturen werden kaum erfasst gewählte Interaktionssequenz nicht wörtlich protokollieren, sondern diese als

Problemlöseepisode heuristisch erkennbar machen aufgeben von exzessiver Interpretation einzelner fortlaufender wechselseitiger

aufeinander folgender Interakte statt dessen rekonstruieren von den Akteuren wechselseitig aufeinander bezogene Handlungsketten in objektiver Bedeutung

- Problem: Verhältnis von Textbegriff und Handlungsbegriff Verhältnis von Datenprotokoll und realer Bedeutung

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- dieses Problem da, wo Differenz zwischen vollständig faktischen Handeln und dem darauf bezogenen „immer“ lückenhaften selektiven Datenprotokoll

- faktische Geschichte eines Falls wird vernachlässigt durch verfügbares Datenprotokoll wird Fall fehlidentifiziert Orientierung an der Realsequenz von Fallgeschichte

- Begriff der „latenten Sinnstruktur“, bzw. „objektiven Bedeutung“ vermittelt schon eine Erklärung zu sein ist aber nicht so

- latente Sinnstrukturen = verbesserte Beschreibungen, aber nicht auf dem Niveau von Erklärungen

- erst Kombination von Geschichte und Strukturierungsgesetzlichkeiten geben Rahmen für sozialwissenschaftliche Erklärung

- Begriff der objektiven Hermeneutik trägt zur situativen Verengung in Analyse bei- objektive Hermeneutik hat keine Möglichkeit zu klären, warum Subjekte

gegebenenfalls einen Handlungsstrang wählen, der objektiv das Gegenteil von dem bedeutet, was sie subjektiv bewusst intendieren oder behaupten

- strukturbildende Wirkungen unbewusster Motive im System geraten praktisch vollständig aus dem Blick

- um situativ verengte Analyse zu umgehen: systematisches Einbeziehen von situationsübergreifender Dispositionen, Wertevorstellungen und generalisierter Handlungsziele von individuellen und kollektiven Akteuren

- der Blick der objektive Hermeneutik soll kategorial von monistischen Einaktmodell wegkommen, um so den empirischen Nutzen zu verbessern

- Begriff der Fall ist Schwachstelle; durch diesen werden die Kategorien des Individuums und des sozialen Systems verwirrt

- Begriff des „Falls“ muss mindestens aus zwei Fällen bestehen- zentraler Kontextdifferenzierung ist System-/ Umweltdifferenzierung; dieses

entspricht in der objektiven Hermeneutik die Festlegung, was Fall sein soll- weitere Kontextebenen: Kultursystem, soziales System, Persönlichkeitsstruktur und

Verhaltensorganismus = Mindestdimensionen, um sozialwissenschaftliche Erklärungen zu formulieren