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REFLEKTOR LAURIE ANDERSON 25.–28. FEBRUAR 2019 ELBPHILHARMONIE HAMBURG

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REFLEKTOR

LAURIEANDERSON

25.–28. FEBRUAR 2019ELBPHILHARMONIEHAMBURG

Sie sieht sich selbst als »Geschichten­erzählerin« und nutzt dafür sämtliche Kanäle: Laurie Anderson ist Musikerin, Filmemacherin, Autorin, Performance­Künstlerin, Malerin und Erfinderin von elektronischen Instrumenten. Was immer diese Frau anfasst, wird zum kreativen Kunstwerk. In den 1970er Jahren sorgte sie in der New Yorker Kunstszene erst­mals für Aufsehen, seitdem ist sie ihrer Zeit stets zwei Schritte voraus. Zu ihrer Reflektor­Woche in der Elbphilharmonie hat sie nun viele langjährige Mitstreiter eingeladen. Im Geiste mit dabei ist auch ihr 2013 verstorbener Ehemann Lou Reed, Frontman der Band The Velvet Under­ground, dessen Gitarren­Drones nun die Elbphilharmonie durchwabern.

Reflektor Laurie Anderson wird gefördert durch den

WILLKOMMEN

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Mi, 27. Februar 2019 | 20 Uhr | Elbphilharmonie Großer Saal

19 Uhr | Vorkonzert »Sol« im Foyer mit Mitgliedern des Ensemble Resonanz

SCENES FROM MY RADIO PLAY LAURIE ANDERSON VOCALS, ELECTRONICS, VIOLIN ELDAR TSALIKOV SAXOPHONE, FLUTE EYVIND KANG VIOLIN RUBIN KODHELI VIOLONCELLO GREG COHEN DOUBLE BASS ELIAS STEMESEDER PIANO JOEY BARON DRUMS

Do, 28. Februar 2019 | 17:30 & 22 Uhr | Elbphilharmonie Kaistudio

Karten an der Konzertkasse Elbphilharmonie

HEART OF A DOG (FILM)

Do, 28. Februar 2019 | 20 Uhr | Elbphilharmonie Großer Saal

19 Uhr | Vorkonzert »Sol« im Foyer mit Mitgliedern des Ensemble Resonanz

HERE COMES THE OCEAN LAURIE ANDERSON VOCALS, ELECTRONICS, VIOLIN ELDAR TSALIKOV SAXOPHONE, FLUTE

EYVIND KANG VIOLIN GREG COHEN DOUBLE BASS STEWART HURWOOD GUITAR, LIVE ELECTRONICS ELIAS STEMESEDER PIANO JOEY BARON DRUMS

Mo, 25. Februar 2019 | 19:30 Uhr | Elbphilharmonie Kleiner Saal

SONGS FROM THE BARDO LAURIE ANDERSON VOCALS, ELECTRONICS TENZIN CHOEGYAL VOCALS, TIBETAN LUTE RUBIN KODHELI VIOLONCELLO GREG COHEN DOUBLE BASS & GUESTS

Di, 26. & Mi, 27. Februar 2019 | 16–20 Uhr | Elbphilharmonie Kaistudio

Eintritt jederzeit möglich / letzter Einlass 19:30 Uhr Karten an der Konzertkasse Elbphilharmonie

LISTEN BEHIND YOU STEWART HURWOOD GUITAR, LIVE ELECTRONICS

Di, 26. Februar 2019 | 19:30 Uhr | Elbphilharmonie Kleiner Saal

LOST LAURIE ANDERSON VOCALS, ELECTRONICS, VIOLIN RUBIN KODHELI VIOLONCELLO GREG COHEN DOUBLE BASS

DAS PROGRAMM

LAURIEANDERSON

WIDER DIE KRISE DER GESCHICHTEN

Hintergründe zu meiner »Reflektor«-Woche in der Elbphilharmonie. Von Laurie Anderson

Geschichten, Improvisation, Kooperationen und »Drones« (elektronische Klang­flächen) – diese vier Elemente sind für mein Schaffen zentral. Und ergo zeichnen sie auch die Konzerte meiner »Reflektor«­Woche in der Elbphilharmonie aus.

Geschichten

Geschichten haben mich schon immer fasziniert. Nicht nur ihr Inhalt, sondern auch, wie sie gemacht und erzählt sind. Persönliche wie kollektive Geschichten bilden einen großen Teil unserer Identität. Und heute, da die Welt immer umfas­sender digitalisiert und weniger »greifbar« wird, haben Geschichten den Platz von Dingen eingenommen. Das Resultat ist oft Verunsicherung.

Die jüngsten Entwicklungen in den Vereinigten Staaten etwa zeichnen sich durch einen geradezu absurden Mangel an Realität aus. Die jüngste Phase begann vor etwa drei Jahren in den Präsidentschaftswahlen, als alle Kandida­ten ihre »Story« erzählten. Jeder Kandidat erklärte, wie die Welt aussieht, wie sie einmal aussah und wie sie in Zukunft aussehen sollte. Und die Leute stimmten einfach für den Kandidaten, dessen Geschichte ihnen am besten gefiel.

Doch dann wurden die Geschichten kürzer und kürzer. Sie schrumpften zu Zehn­Wort­Tweets. Und die Hälfte von ihnen stellte sich als »fake« heraus – alle möglichen Gerüchte aus den Tiefen des Internets, Klatsch und Tratsch, Lügen und das, was man heute »alternative Fakten« nennt. Gleichzeitig beschleunigte sich das Tempo der Berichterstattung. Die Leute verloren das Gleichgewicht. Seither herrscht auf dem Feld der Geschichten eine Krise, nein, ein Notfall. Es handelt sich nicht länger um ein politisches Problem, es ist ein existenzielles.

Um all das zu verstehen, ließen sich die Leute ihre eigenen schrägen Erklä­rungen einfallen. Für manche ist es eine Verschwörung, für manche die unver­meidliche letzte Stufe des Kapitalismus; der höchste Punkt des Pendels, bevor es zurückschwingt. Für manche ist es ein surrealer Thriller, in dem Lügner, Geizhälse und Psychopathen die Herrschaft übernommen haben. Aber niemand wusste, worauf seine Geschichte hinauslaufen würde. Nun haben wir endlich verstanden, was los ist: Wir ertrinken in unseren eigenen Geschichten.

Improvisation

Auf dem Feld der Improvisation bin ich ein relativer Neuling. 2009, als ich einige Konzerte mit John Zorn spielen sollte, hatte ich davon noch überhaupt keine Ahnung. Ich hatte zwar zugesagt, aber kurz vorher bekam ich Panik. »Wer spielt die erste Note?« fragte ich. »Lass uns einfach sehen, was passiert«, antwortete er. »Aber in welcher Tonart?« beharrte ich, und er sagte: »Lass uns einfach mit irgendwas anfangen«. In meinen Ohren klang das nach einer sehr schlechten Idee.

Aber sobald das Konzert losging, spürte ich ein Gefühl von Freiheit. Seit­her liebe ich die Improvisation. Es fühlte sich an, als würden wir gemeinsam ein großes Schiff bauen, das über uns in der Luft schwebt – ein Schiff, das wir nach Beliegen hin­ und herwenden und auf dem wir wegsegeln konnten. Es war berauschend.

Laurie Anderson

ZUM PROGRAMM

Kooperationen

Bei meinen »Reflektor«­Konzerten sind viele Musiker dabei, mit denen ich schon lange auftrete, so wie Greg Cohen und Joey Baron. Mit dem Cellisten Rubin Kodheli habe ich in den ver­gangenen drei Jahren häufig zusammengespielt. Jedes Mal hat er mich total überrascht. Bei Songs from the Bardo wirkt auch Tenzin Choegyal mit – und wir nehmen zufallsbasierte Bilder hinzu, mit denen wir wie mit einem weiteren Mitspieler inter­agieren. Bei dem Projekt geht es um das Tibetische Totenbuch Bardo Thödröl und die darin beschriebene Auflösung unserer geistigen Existenz nach dem Tod.

Drones

Zu Drones, also Feedback­Schleifen von E­Gitarren, fühle ich mich schon lange hingezogen. Sie üben einen paradoxen Ein­fluss auf mich aus: Sie leeren, entspannen und fokussieren meine Sinne gleichermaßen. Für mich sind sie pure Meditation.

Mein Mann Lou Reed hat sie von Anfang an in ganz unter­schiedlichen Zusammenhängen verwendet; für ihn waren sie ein wesentliches Element seines Sounds. Wie er selbst formu­lierte: »Ich lebte schon immer mit meinen Verstärkern zusam­men. Ich bewohnte ein Loft im Garment District in Manhattan, in dem viele Klamottenläden liegen. Morgens um 5 Uhr war nie­mand da, und ich konnte in Ruhe aufnehmen. Ich baute meine Gitarren so auf, dass sie ein Feedback erzeugten – und wenn sich die Soundwellen trafen, entstand ein neuer Klang … und noch einer … und noch einer … Für mich war es die reinste Ener­giemusik.«

2015 nutzte ich diese Drones zum ersten Mal in einer Instal­lation. Im Rahmen von »Reflektor« sind sie einerseits in der Ins­tallation Listen Behind You im Kaistudio zu hören, andererseits am Abschlussabend im Großen Saal. Mein zentraler Partner dabei ist Stewart Hurwood, Lous Gitarrentechniker. Und auch im Vorkonzert Sol im Foyer kommen Drones vor – allerdings auf klassischen Instrumenten, nämlich mit einem Streichquartett mit Musikern vom Ensemble Resonanz.

ÜBERSETZUNG: CLEMENS MATUSCHEK

Lou Reed (1942–2013)

ZUM PROGRAMM

Daniel BarenboimAnne-Sophie Mutter Krystian Zimerman Barbara Hannigan Pierre-Laurent Aimard Hélène Grimaud Elīna Garanča Christian Gerhaher Daniel Hardingu.v.a.

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MEHR SCHÖNHEIT! FÜR ALLE!

Laurie Anderson ist seit vier Jahrzehnten eine der interessantesten Künstlerinnen New Yorks – auch, weil sie ihr gut gelebtes Leben immer wieder zum Gegenstand ihrer Kunst macht.

Die besseren Deutschlehrer haben es ihren Oberstufenschülern immer gepre­digt: Verwechselt nie das literarische Ich eines Romans, eines Gedichts oder eines Songs mit der Person des Autors! Eine sinnvolle Grundregel, die frei­lich ihre Ausnahmen kennt. Schließlich gibt es auch Künstler, die ganz unver­hüllt prägende Erlebnisse der eigenen Biografie zum Gegenstand ihres Œuvres machen.

Das Werk der Performance­Künstlerin Laurie Anderson etwa ist auch von jenen markanten Geschichten geprägt, die sie über sich selbst erzählt: wie sie zwei ihrer sieben Geschwister im Kleinkindalter versehentlich beinahe ertränkt hätte. Oder wie sie mit zwölf Jahren wegen eines jämmerlich schiefgelaufenen Imponiersprungs im Freibad monatelang bewegungslos im Krankenhaus lag und fast im Rollstuhl gelandet wäre. Und auch das fundamental fremde Verhältnis zu ihrer Mutter hat sie wiederholt thematisiert.

Es gehört zur Kunst der 1947 geborenen US­Amerikanerin, dass man all das, wo sie Ich sagt, unbesehen für autobiografisch verbürgt hält, für wahr, für ehr­lich. Zugleich erscheint alles wirklich Private aus diesen Mitteilungen getilgt. Anderson hat die bedeutsamen Bruchstücke ihrer Biografie unter dem Mikros­kop ihrer Reflexion so lange seziert und präpariert, bis daraus ein maximal lebensähnliches Kunstwerk geworden ist: eine Geschichte. Von klein auf war sie fasziniert von Geschichten. Angefangen von biblischen Erzählungen in der Kirche hat sie, was immer als Sprache auf sie kam, abgespeichert, aufgeschrie­ben, abgeklopft, ausgehorcht, verdichtet, verarbeitet. Im Erzählen, im Schreiben hat sie ihre eigene Sprache gefunden – und ihre Stimme.

Man hat diese magnetische Bühnenkünstlerin mit den sehr blauen Augen und der strubbligen Ananasfrisur vorzugsweise als vom Licht der eigenen Violine beschienene Musikerin vor dem geistigen Auge. Als grazile Tänzerin zu damals unerhört neuartiger Musik zwischen Punk, New Wave und Art Rock. Als visio­nären Geist aus der Flasche der Achtzigerjahre, aus der noch ganz frisch und

PORTRÄT

Wie nebenbei wird bei der Lektüre ein Zeitalter besichtigt: die vergangenen gut 40 Jahre der USA, in die Andersons Karriere als Performance­Künstlerin fällt, in Präsidentschaften gemes­sen von Ronald Reagan bis Donald Trump. Wer sich in ihre Texte versenkt, erfasst noch einmal neu und anders, wie überaus poli­tisch sie immer gedacht und ihre Kunst entwickelt hat, ohne sich für eine Position oder gar eine Partei vereinnahmen zu las­sen. Wenn sie sich konsequent für etwas eingesetzt hat, dann für ein Leben in mehr Schönheit. Für alle.

Tiefgründige Trauerrede

Am 16. Dezember 2013, exakt 50 Tage nach Lou Reeds Tod, fand im Apollo Theater in Harlem eine private Trauerfeier für den Mitbegründer, Songschreiber, Sänger und Gitarristen der Band The Velvet Underground statt. Den Zeitpunkt für dieses letzte Abschiednehmen unter Freunden und Weggefährten hatte seine Witwe Laurie Anderson mit Bedacht gewählt. Vorangegangen waren 49 Tage, jene Spanne, die nach tibetisch­buddhistischem Verständnis das Bardo umfasst – den Zwischenzeitraum für ver­storbene Wesen, ehe sie nach ihrem physischen Tod die Sphäre der Lebenden hinter sich lassen. Das Ehepaar Reed/Anderson hatte bei Lama Mingyur Rinpoche tibetischen Buddhismus stu­diert, beide praktizierten intensiv Tai­Chi, die alte chinesische Kunst der Selbstversenkung in Bewegung.

Auf YouTube ist Andersons tiefgründige, zugleich beschwingte Trauerrede zu sehen, die sie an jenem Abend auf Lou Reed hielt. Kaum ein Tag ihrer 21 Jahre währenden Beziehung sei vergan­gen, so berichtete sie, ohne dass der eine dem anderen seine Liebe versichert hätte. Anderson beklagte nicht den Verlust des geliebten Mannes, sie feierte ihren Gefährten. Eine geheimnis­volle kleine Musik im Hintergrund rückte ihre von Freude und Dankbarkeit erfüllte Ansprache in die Nähe einer Performance. Die Stimme versagte ihr selbst hier nicht, sie klang beinahe so fest und melodiös, wie man sie von ihren Aufnahmen im Ohr hat. Dass sie so gefasst blieb, schien weniger das Ergebnis einer Wil­lensanstrengung zu sein als Ausdruck ihrer spirituellen Praxis. Tränen, so sagte sie, hülfen nach buddhistischem Verständnis dem Verstorbenen nicht, im Gegenteil: Sie erschwerten ihm nur die Ablösung von der diesseitigen Welt.

verheißungsvoll das süße digitale Zukunftsgift entwich, das inzwischen unser Leben umnebelt. Zudem ist sie Malerin, Zeichnerin, Filmemacherin, Konzept­künstlerin. Vor allem aber ist Laurie Anderson ein Text­Maniac, eine Story­ Zentrifuge, die sanft ironische Kassandra von Manhattan. Eine Raunerin, Wahr­sagerin und Verführerin, deren hypnotischem Sprech­Singsang wir befremdet und gebannt unser Ohr leihen.

Spielerische Denkanregung

Was brauche ich eigentlich?, fragte sich die Sachensammlerin und Sprach­archivarin im November 2012, nachdem sie in den Fluten des Hurrikans Sandy einen Großteil der im Keller ihres New Yorker Studios gelagerten Habe verlor. Genügt es nicht, anstelle eines Dings das Wort für dieses Ding zu besitzen? 2016 veröffentlichte sie mit All the Things I Lost in the Flood einen Gedenkstein auf den für sie so lehrreichen Hurrikan Sandy. Das dickleibige Buch ist eine inspirierende autobiografische Collage, in der Anderson ihr künstlerisches Schaffen anhand von Fotos, Skizzen, Zeichnungen, Malerei und dokumentarischem Material eher assoziativ als streng chronologisch bilanziert – spielerisch, den Flaneur im Leser immer wieder neu anregend und zu (Denk­)Umwegen verführend.

Ich bin neugierig auf die Welt wie ein Kind, das herausfinden will, wie sie funktioniert. Man kann als Mensch manchmal ziemlich ein­ sam sein. Man kann sich verrennen und den Blick völlig verengen. Ich dagegen versuche, Fragen zu stellen: Warum macht man das? Was ist das? Die Antworten, die ich finde, gelten immer nur für einen Tag. Was ich am wenigsten will, ist zu funktionieren wie ein Automat.

– Laurie Anderson

Songs from the Bardo

PORTRÄT

Mit Liedern aus dieser Zeit des Bardo eröffnet Laurie Anderson nun ihre »Reflektor«­Woche in der Elbphilharmonie. Und die­selbe buddhistische Totenwache wie ihrem verstorbenen Ehe­mann ließ sie auch einem Tier angedeihen: der von Lou Reed und ihr selbst innig geliebten Hündin Lolabelle, die es in Klavier­ spiel und Malerei zu einigem typisch New Yorker Ruhm brachte. Sie ist der anrührende Star in Andersons klugem, manchmal etwas rätselhaftem Film Heart of a Dog (2015), der zweimal im Kaistudio 1 läuft. So ausdauernd Anderson Lolabelles Ende begleitete, so bizarr imaginiert sie deren Eintritt ins Leben: In einer Art filmischer Graphic Novel bebildert sie einen Traum, in dem ihr Ärzte die bereits quicklebendige Lolabelle in den Bauch einnähen, auf dass sie selbst sie gebäre. Was sie dann auch glückstrahlend tut.

Ihr Credo: Mut, Wachheit, Mitgefühl

Bei der Trauerfeier im Apollo Theater erzählte Anderson auch, nach welchen Maximen sie und Lou Reed ihr Leben ausgerich­tet hatten. Die erste: Hab vor niemandem Angst. Die zweite: Entwickle einen zuverlässigen Bullshit detector und wende ihn richtig an. Die dritte: Sei ganz zart; sei offen gegenüber der Welt und in Liebe mit allem und jedem darin. Nicht nur die letzte der drei Maximen ließe sich auch auf einen einzigen (buddhis­tischen) Begriff bringen: Lebe in Mitgefühl.

Laurie Anderson hat in ihrer künstlerischen Arbeit sehr früh avancierte Technologien eingesetzt, sie hat neue Instrumente erfunden und die Grenzen des Machbaren stets als Einladung aufgefasst, diese hinter sich zu lassen. Als Technik­Geek war sie den männlichen Kollegen oft mehr als nur eine Nasenlänge voraus. Und sie besitzt einen eminent wachen, kritischen Geist. Doch was ihre Kunst so unverwechselbar und kostbar macht, ist vor allem die Radikalität ihres Mitgefühls.

Und hier sind wir wieder bei den prägenden Erlebnissen ihrer eigenen Biografie, die sie zum Gegenstand ihres Werks macht: Ihre Krankenhausgeschichte nach dem missglückten Sprung im Freibad, berichtet Anderson, habe sie immer als eine leidige Angelegenheit erzählt, deren nervigster Teil die alber­nen Gute­Nacht­Geschichten gewesen seien, die ihr die Pfle­ger vorgelesen hätten – ihr, der Zwölfjährigen, die doch schon

Dostojewski las. Erst spät habe sie begrif­fen, dass dieser Geschichte immer das Ent­scheidende gefehlt hat: das Eingeständnis, dass der größte Horror dieser Krankenh­auswochen in dem Schrecken lag, den die Schmerzensschreie der Mitpatienten ihr einflößten, besonders nachts. Diesen das Gefühl am vehementesten aufwühlenden Teil ihrer Erfahrung hatte Laurie Anderson jahr­zehntelang komplett von ihrer Erinnerung abgespalten. Vielleicht liegt der Sinn eines gut gelebten Lebens auch darin: selbst im größten eigenen Leid nicht stumpf zu wer­den gegen das Leid der anderen.

Kunst vs. Politik

Wachheit und Mitgefühl prägten auch Laurie Andersons Performance Habeas Corpus, die sie 2015 in der Park Avenue Armory in New York realisierte und die als Meisterwerk ihrer eminent politischen Kunst erscheint. Hier mischte sie sich explizit und ungeachtet großer Widerstände in eine besonders beschämende politische Angelegenheit der USA ein. Denn diese (laut Unterti­tel) Installation mit Skulptur, Audio und Live Streaming Video ist ein grandios auf­wendiger, dabei glaubwürdig­demütiger Versuch, einen aller Rechte beraubten Guantánamo­Häftling zu rehabilitieren. Anderson lud Musiker ein oder ließ die heiligen Höllen hunde von Lou Reeds »Drone Music« auf die Besucher los – Feed­back­Orgien auf einem halben Dutzend Gitarren in beträchtlicher Lautstärke.

»Drone Music« bereichert auch Laurie Andersons »Reflektor«­Tage in der Elbphilharmonie – als Sound­Installation im Kai studio 1 und beim Abschluss­abend im Großen Saal, jeweils gesteuert von Lou Reeds Gitarrentechniker Stewart Hurwood. Listen Behind You lautet der Titel der Installation – ein Rat, der in einem Raum, in dem jeder Kubikzentimeter von Klang vibriert, beinahe re dun dant erscheint. Doch Anderson hat ihn abermals dem Tai­Chi entnommen. Lausche auf das, was sich hinter dir tut! Tauche ein in das, was der Titel des Abschlusskonzerts Here Comes the Ocean suggeriert: in einen Ozean aus Klang.

TOM R. SCHULZ

Ich rege an, ich provoziere. Ich fordere heraus. Dabei habe ich nichts zu sagen oder zu lehren.

– Laurie Anderson

Szene aus »Heart of a Dog«

PORTRÄT

DIEKUNSTLER

TENZIN CHOEGYAL VOCALS, TIBETAN LUTE

Tenzin Choegyal versteht sich gleichermaßen als Künstler, Komponist, Aktivist und Kultur­botschafter. Seine Familie, tibetanische Noma­den, floh vor den Repressionen in der Heimat nach Indien, wo er aufwuchs. Schon als Kind lauschte er den Liedern seiner Mutter, in denen er die Weisheit und Traditionen seiner Ahnen spürte. Seither hat sich Tenzin Choegyal mit Auftritten unter anderem bei Festivals wie WOMAD internationale Anerkennung erspielt. Er hat sowohl mit klassischen Komponisten wie Philip Glass zusammengearbeitet (etwa für den Soundtrack des preisgekrönten Doku­mentarfilms Der letzte Dalai Lama?) als auch mit dem Didgeridoo­Meister William Barton. 2008 gründete er im australischen Brisbane ein jährliches Tibet­Festival, das Musik, Film, Kunst und Podiumsdiskussionen präsentiert.

ELDAR TSALIKOV SAXOPHONE, FLUTE

Der junge russische Saxofonist Eldar Tsalikov ist bekannt für seine Dynamik und für seine Fähigkeit, in der Improvisation fortlaufend neue Klänge zu erfinden. 1993 in Rostow am Don geboren, begann er im Alter von neun Jah­ren mit dem Saxofon und studierte es später an der Universität der Künste in Berlin. Seit 2005 tritt er überall in Europa auf und reiste dafür in die Tschechische Republik, nach Schott­land, Deutschland, Dänemark und Italien. Er ist Preisträger zahlreicher Wettbewerbe, etwa der internationalen Jazz­Wettbewerbe in Sankt Petersburg, Kiew und Odessa. Eldar Tsalikov war bereits auf Europa­Tournee mit dem East West European Jazz Orchestra und spielte mit Künstlern wie Dave Liebman, Jerry Bergonzi, Wycliffe Gordon und Dennis Rowland.

RUBIN KODHELI VIOLONCELLO

Der Komponist und Cellist Rubin Kodheli ist ein vielseitiger, die Genres überspringender Rebell. In seinem Werk verweben sich Rock, Jazz und klassische Einflüsse miteinander, ein Marken­zeichen, das bald zur Zusammenarbeit mit führenden Komponisten und Improvisatoren unserer Zeit führte, wie Meredith Monk , Dave Douglas und Tom Harrell. Mit Laurie Ander­son führte er unter anderem Letters to Jack auf. Rubin Kodheli begann seine Karriere als Cellist in Albanien, wo er als Kind oft bis in die Nacht der traditionellen Volksmusik seiner Heimat lauschte. Mit 15 Jahren ging er fürs Musik­studium nach Belgien, später nach Deutsch­land und erhielt in den 90ern ein Stipendium für die Juilliard School in New York. Als Klang­alchemist formt er mit dem Cello das Tim­bre einer Gitarre, eines Schlagzeugs oder der menschlichen Stimme nach.

EYVIND KANG VIOLIN

Als Komponist und Multiinstrumentalist ist Eyvind Kang einer der originellsten und auf­regendsten Geiger der derzeitigen modernen Musikszene. Er beherrscht nicht nur Violine, sondern auch Bratsche, Tuba und die chine­sische Laute Erhu. Zahlreiche Einspielungen mit Künstlern wie Bill Frisell, Blonde Red­head, Robin Holcomb und Laurie Anderson legen davon Zeugnis ab, ganz abgesehen von seinen Solo­Alben. In Oregon geboren, bereiste er zunächst seine kanadische Heimat und stu­dierte dann Violine in Seattle und Indien. Seine erste Serie von Kompositionen 7 Nades, 1996 als Album veröffentlicht, wurde in zahlreiche Bestenlisten aufgenommen und machte ihn bei den Kritikern bekannt. In der experimentellen Reihe von John Zorns Book of Angels veröffent­lichte Eyvind Kang in den letzten Jahren sein Album Alastor: Book of Angels Volume 21.

DIE KÜNSTLER

GREG COHEN DOUBLE BASS

Als »bester Bassist der Welt« wurde Greg Cohen von einem deutschen Musikkritiker beti­telt, mit Sicherheit ist er einer der vielseitigs­ten. Er spielte bisher etwa 450 Alben ein und arbeitete dabei mit Weltstars wie Tom Waits, Bob Dylan, Keith Richards und unzähligen anderen zusammen. Lange war er Mitglied im Masada­Ensemble des Avantgarde­Saxofonis­ten John Zorn und in Woody Allens New Orle­ans Jazz Band. Nicht nur im Jazz, auch in Rock, Pop und Country tritt Greg Cohen auf; zudem ging er Ornette Coleman auf Tournee, einem Pionier des Free Jazz. Als Leiter von Century of Song, einer Konzertreihe der Ruhrtriennale, lud Greg Cohen Künstler wie David Byrne, Holly Cole oder Laurie Anderson ein. Seit 2009 lebt er in Berlin, wo er eine Professur am Jazz­Institut der Berliner Hochschule Hanns Eisler innehat.

STEWART HURWOOD GUITAR, LIVE ELECTRONICS Stewart Hurwood wuchs in einer Kleinstadt nahe Cambridge auf, war Gitarrist an seiner Schule und gründete bald seine erste Band in der lokalen Musikszene. Schon bald trat er in berühmten Londoner Konzertsälen wie dem Marquee Club oder dem Hippodrome auf und ging auf Europatournee. In dieser Zeit begann er, mit Sounds zu experimentieren – das Mar­kenzeichen seiner späteren Karriere als Gitar­rist und Gitarrentechniker. 1995 zog er in die USA, wo sein Talent schnell erkannt wurde. Seine Auftraggeber und Kooperationspartner lesen sich wie das Who’s Who des Rock’n’Roll: Er ging mit der Band Duran Duran auf Tournee und arbeitete eng mit den Killers, den Strokes, Metallica, den Gorillaz, Pete Townsend, Mar­tha und Rufus Wainwright, Yoko Ono und ihrem Sohn Sean Lennon sowie Jimmy Fallon zusam­men – vor allem aber mit Lou Reed und dessen Band The Velvet Underground.

JOEY BARON DRUMS

Der Drummer Joey Baron wurde 1955 in Vir­ginia geboren. Das Schlagzeugspielen brachte er sich überweigend selbst bei, indem er ande­ren beim Musizieren zusah und dem Radio lauschte. Mit Erfolg: Nach ersten Rock­ und Dixie­Formationen und einem Jahr am Berklee College of Music zog Baron in den frühen 70ern nach Los Angeles. Hier spielte er mit so legen­dären Musikern wie Al Jarreau, Chet Baker, Stan Getz, Dizzy Gillespie, Tony Bennett und Hampton Hawes zusammen. Mitte der 80er zog er nach New York, wo er über zehn Jahre lang in der Band des Gitarristen Bill Frisell spielte. Zudem knüpfte er hier Kontakte zur Experi­mentalszene um John Zorn und Laurie Ander­son; auch mit dem Minimal­Komponisten Phi­lip Glass arbeitete er zusammen. 1995 war er an David Bowies Album Outside beteiligt. Bowie soll später kommentiert haben: »Metronomes shake in fear – he’s so steady!«

ELIAS STEMESEDER PIANO

Als »wahre Entdeckung« feierte das Maga­zin All About Jazz den österreichischen Jazz­pianisten Elias Stemeseder. 1990 in Salzburg geboren, zog es ihn mit Anfang zwanzig nach Berlin und fünf Jahre später nach New York. Neben seinem Hauptinstrument Klavier spielt er auch Synthesizer; sein musikalisches Spek­trum reicht von Jazz über Pop bis zur Elektro. Er spielte Solokonzerte beim Nuoro Jazz Fes­tival in Italien, bei den Berliner Festspielen und dem 12 Points Festival in Dublin. Er arbeitete mit John Zorn, dem Greg Cohen Quintet und dem Robert Landfermann Quintet zusammen. Seit 2008 koopieriert Elias Stemeseder eng mit dem amerikanischen Schlagzeuger Jim Black und brachte mit dessen Trio die von der Kritik sehr gelobten Alben Somatic und Actuality her­aus. 2013 gründeten er mit Jim Black und dem Gitarristen Nels Cline das Trio Eyebone.

DIE KÜNSTLER

REFLEKTOR NILS FRAHMDer zweite »Reflektor« dieser Saison ist Nils Frahm gewidmet, einem der angesagtesten Klangerfinder der Gegenwart. Mit einem Mix aus klassischer und zeitgenössischer Klaviermu­sik, die er gern um minimalistische Elektro­Klänge anreichert, begeistert der gebürtige Hamburger sein Publikum. Seinen Durchbruch feierte er spätestens mit der Filmmusik zum Ber­linale­Hit »Victoria«. Mittlerweile hat er sich für seine Klang­experimente im Berliner Funkhaus ein eigenes Studio einge­richtet. Wie Laurie Anderson erhält er nun die Möglichkeit, die Elbphilharmonie für einige Tage vom Kaistudio bis zum Gro­ßen Saal zu bespielen. Mit dabei sind namhafte Gäste aus den Bereichen Elektro, Pop, Film, Fotografie und Bildender Kunst.

8.–10. Juni 2019 | Elbphilharmonie

Es ist nicht gestattet, während des Konzerts zu filmen oder zu fotografieren.

IMPRESSUMHerausgeber: HamburgMusik gGmbHGeschäftsführung: Christoph Lieben­Seutter (Generalintendant), Jochen MargedantRedaktion: Clemens Matuschek, Simon Chlosta, François Kremer, Laura EtspülerLektorat: Reinhard HellingGestaltung: breeder typo – alatur, musialczyk, reitemeyerDruck: Flyer­Druck.de

Anzeigen: Antje Sievert, +49 40 450 698 03, antje.sievert@kultur­anzeigen.com

BILDNACHWEISsoweit bezeichnet: Laurie Anderson (alle Ebru Yildiz); Zwischentitel (Laurie Anderson); Lou Reed (New York Public Library); Tenzin Choegyal (Michael Murchie); Greg Cohen (Dovile); Joey Baron (Michael Sheerer); Ensemble Resonanz (Tobias Schult); Nils Frahm (Daniel Dittus)

ENSEMBLE RESONANZMit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorches­tern weltweit. Seine Programme stellen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Wer­ken, dem Publikum und den Geschichten, die rund um die Programme entstehen.

Das Streichorchester ist demokratisch orga­nisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten. In Hamburg hat bespielt es zwei sehr unter­schiedliche Spielorte: im Kleinen Saal der Elb­philharmonie, dessen offizielles Ensemble in Residence es ist, präsentiert das Orches­ter seine Konzertreihe »resonanzen«. Zudem gestaltet es in seiner künstlerischen Heimat, dem resonanzraum St. Pauli im Hochbunker an der Feldstraße, die Reihe »urban string«. Dort finden auch die angedockten »Ankerangebote« statt. Im Rahmen von »Reflektor Laurie Ander­son« gestalten vier Musiker des Ensembles zwei Vorkonzerte im Foyer des Großen Saales.

Gregor Dierck Violine ISwantje Tessmann Violine IIJustin Caulley ViolaSaerom Park Violoncello

DIE KÜNSTLER

VORSCHAU

FÖRDERSTIFTUNGENKühne­StiftungKörber­StiftungHans­Otto und Engelke Schümann StiftungHaspa Musik StiftungHubertus Wald StiftungErnst von Siemens MusikstiftungCyril & Jutta A. Palmer StiftungMara & Holger Cassens StiftungProgramm Kreatives Europa der Europäischen Union Adam Mickiewicz Institut

Stiftung Elbphilharmonie

Freundeskreis Elbphilharmonie + Laeiszhalle e.V.

PRODUCT SPONSORSCoca­ColaHaweskoLavazzaMeßmerRicolaRuinartStörtebeker

CLASSIC SPONSORSAurubisBankhaus BerenbergCommerzbank AGDZ HYPGALENpharmaHamburger FeuerkasseHamburger SparkasseHamburger VolksbankHanseMerkur VersicherungsgruppeHSH NordbankJyske Bank A/SKRAVAG­VersicherungenWall GmbHM.M.Warburg & CO

ELBPHILHARMONIE CIRCLE

PRINCIPAL SPONSORSBMWMontblancSAPJulius BärDeutsche Telekom

WIR DANKEN UNSEREN PARTNERN

Mehr Infos unter:hawesko.de/elphi

Es ist das Besondere, das Wellen schlägt.

Der offizielle Weinpartner der Elbphilharmonie

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Julius Bär ist Principal Sponsor der Elbphilharmonie Hamburg.

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