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Regina Rätz | Wolfgang Schröer | Mechthild WolffLehrbuch Kinder- und Jugendhilfe

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Studienmodule Soziale Arbeit

Herausgegeben vonHeinz-Jürgen Dahme | Ria Puhl | Regina Rätz |Wolfgang Schröer | Titus Simon | Mechthild Wolff

Die Reihe „Studienmodule Soziale Arbeit“ präsentiertGrundlagentexte und bietet eine Einführung in basaleThemen der Sozialen Arbeit. Sie orientiert sich sowohlkonzeptionell als auch in Inhalt und Aufbau der Einzel-bände hochschulübergreifend an den jeweiligen Studien-modulen.Jeder Band bereitet den Stoff eines Semesters in Lehr-und Lerneinheiten auf, ergänzt durch Übungsfragen,Vorschläge für das Selbststudium und weiterführendeLiteraturhinweise.

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Regina Rätz | Wolfgang Schröer |Mechthild Wolff

Lehrbuch Kinder- undJugendhilfeGrundlagen, Handlungsfelder,Strukturen und Perspektiven

2., überarbeitete Auflage

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Die Autorinnen/der Autor

Regina Rätz, Dr. phil., Jg. 1970, ist Professorin für Soziale Arbeit an derAlice-Salomon-Hochschule Berlin.Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Gesellschaftlicher Wandel und SozialeArbeit, Kinder- und Jugendhilfe, Biografische Forschung und Biografiearbeit.

Wolfgang Schröer, Dr. phil., Jg. 1967, ist Professor für Sozialpädagogikan der Stiftung Universität Hildesheim.Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Kinder- und Jugendhilfe, Übergänge imLebenslauf, Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik und -politik,Transnationale soziale Unterstützung.

Mechthild Wolff, Dr. phil., Jg. 1962, ist Professorin an der Fakultät SozialeArbeit an der Hochschule Landshut.Ihr Arbeitsschwerpunkte sind: Erziehungswissenschaftliche AspekteSozialer Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 20092., überarbeitete Auflage 2014

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2014 Beltz Juventa · Weinheim und Baselwww.beltz.de · www.juventa.deDruck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad LangensalzaPrinted in Germany

ISBN 978-3-7799-5172-8

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Vorwort

Mit dem Begriff Kinder- und Jugendhilfe wird heute eine ausdifferenziertesozialpädagogische Infrastruktur innerhalb des Sozialstaates bezeichnet. Esist der Anspruch des vorliegenden Lehrbuchs in dieses vielfältige Feld sozia-ler Dienstleistungen für Kinder, Jugendliche und Familien einzuführen.Dabei galt es in der Bearbeitung der einzelnen Kapitel immer wieder zuentscheiden, welche Punkte vertiefend betrachtet oder inwieweit einzelneAspekte nur kurz oder zusammenfassend angesprochen werden sollen. Wirhoffen diesbezüglich eine Balance zwischen übersichtlicher Gesamtdarstel-lung und beispielhaften Detailinformationen gefunden zu haben.

Die Arbeit an diesem Lehrbuch hat uns zugleich gezeigt, dass die Kin-der- und Jugendhilfe historisch gewachsen und verankert, aber auch inBewegung und dynamisch ist. Immer wieder haben wir darum in den ein-zelnen Kapiteln beispielhaft auch historische Bezüge hergestellt und aktuelleEntwicklungstendenzen aufgenommen. Gleichzeitig geht die Entwicklungweiter, so dass natürlich die Ausführungen fortgeschrieben werden müssen.

In dieser zweiten aktualisierten Auflage haben wir neue Entwicklungenaufgenommen und einige Fehler korrigiert. Sicherlich haben sich auch indiese Auflage des Lehrbuchs Fehler eingeschlichen. Wir würden uns freuen,wenn Sie uns weiterhin darauf aufmerksam machen.

Schließlich möchten wir uns insbesondere bei Tina Braun und HannaRettig für die vielfältige Unterstützung bei der Erstellung und Bearbeitungdes Manuskripts der ersten Auflage bedanken. Ein großer Dank gilt auchJanine Gebhardt, die die Erarbeitung des Service-Teils auf den Weg ge-bracht hat. Die Alice Salomon Hochschule Berlin, die Hochschule Landshutsowie die Stiftung Universität Hildesheim haben dieses Projekt institutio-nell unterstützt und gefördert. Nicht zuletzt danken wir dem Juventa Ver-lag, der viel Geduld mit uns gehabt hat.

Wir wünschen Ihnen viel Freude mit diesem Lehrbuch!

Berlin, Hildesheim, Landshut 2013Regina Rätz, Wolfgang Schröer, Mechthild Wolff

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Inhalt

Teil IGrundlagen der Kinder- und Jugendhilfe

Kapitel 1Kinder- und Jugendhilfe – Geschichte und Gegenwart 15Kinder- und Jugendhilfe – eine sozialpädagogischeDienstleistungsinfrastruktur für Kinder, Jugendliche und Eltern 15Ursprünge der Kinder- und Jugendhilfe 17Von der Zwangserziehung zur Jugendfürsorge 19Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und das Jugendgerichtsgesetz 21Auf demWeg vom Eingriffs- zum Leistungsgesetz 24Das Kinder- und Jugendhilfegesetz – ein Neuanfang … 25

Kapitel 2Lebenslage Kindheit und Jugend 27Kindheit und Jugend als (Bildungs-)Moratorium –Inklusion als eine zentrale Herausforderung 28Zur Heterogenität von Kindheit und Jugend heute –eine Lebensspanne, die bis zu 26 Lebensjahre umfasst 32Lebenslage Kindheit und Jugend –Aufwachsen unter Bedingungen sozialer Ungleichheit 37

Kapitel 3Rechte von Kindern und Jugendlichen 40Kinder und Jugendliche haben Rechte! 40Positionen zur rechtlichen Stellung von Kindern und Jugendlichen 41Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII/KJHG) 42Rechte auf soziale Leistungen: Leistungsanspruch aufHilfe und Unterstützung 43Andere Aufgaben: Hoheitliche Maßnahmen 44Sozialpädagogische Anforderungen 46

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Weitere kinderpolitische Rechtsbereiche in Deutschland 49Internationale und transnationale Kinder- und Jugendrechte 52Verhältnis zwischen dem SGB VIII/KJHG und internationalensowie transnationalen Kinderrechten und Perspektiven 55

Kapitel 4Das Erziehungs- und Entwicklungsverständnis: § 1 SGB VIII/KJHG 59Das Erziehungsverständnis: Erziehung als einwechselseitiger kooperativer Prozess 61Das Entwicklungsverständnis: Modell einersozialen Ökologie menschlicher Entwicklung 63Das Verständnis von Entwicklung und Erziehung im SGB VIII/KJHG 67

Teil IIHandlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe

Kapitel 5Die Leistungsbereiche: Zugänge in die Kinder- und Jugendhilfe 73Kinder- und Jugendhilfe als differenzierterDienstleistungssektor 73Regelversorgung und Intervention als zentrale Funktionen 75Kinder- und Jugendschutz als sozialpädagogischer Auftrag 78Leistungsberechtigte im Sinne desKinder- und Jugendhilfegesetzes 80Hilfeplanverfahren und methodische Orientierungen 82Zugänge der Leistungsberechtigten zu Hilfen 83Entwicklungen zur Inanspruchnahme von Hilfeleistungen 84

Kapitel 6Kindertagesbetreuung und -einrichtungen 88Das Jahrhundert des Kindes? 88Kindertagesbetreuung imWandel 92Bildung von Anfang an 95Vernetzung im lokalen Nahraum 97Bildung im Kindesalter – eine sozialpolitische undsozialpädagogische Aufgabe 99

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Kapitel 7Kinder- und Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit 102Entstehung der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit –Historische Dimensionen 102Angebote und Leistungen – Kinder- und Jugendarbeit,Jugendsozialarbeit 105Wahrnehmen können und sozialräumliche Aneignung –Grundzugänge der Kinder- und Jugendarbeit 110Jugendarbeit und Bildung 114

Kapitel 8Förderung der Erziehung in der Familie 119Familie imWandel 119Familie als Netzwerk und soziale Unterstützungsinstanz 122Familien im Spannungsfeld zwischen privaten undöffentlichen Interessen 123Von der Erziehungspflicht zur Erziehungsverantwortung 124Ächtung der Gewalt in der Erziehung 125Lebenslagen von Familien heute 126Trennung und Scheidung als Risikofaktoren 127Das Spektrum der Hilfen für Familien 129Möglichkeiten der Förderung und Beratung von Familien 131Zukünftige Herausforderungen innerhalb der Angebote 136

Kapitel 9Ambulante und teilstationäre Hilfen zur Erziehung 139Hintergründe zur Entstehung ambulanter undteilstationärer Hilfen 139Die Hilfeformen als dynamischer Rahmen von Angeboten 142Porträts verschiedener ambulanter Erziehungshilfen 143Gemeinsamkeiten der ambulanten und teilstationären Hilfen 155Statistischer Trend: Ansteigen der Inanspruchnahmevon ambulanten Hilfen 156Die Weiterentwicklung: flexible, integrierte undsozialraumorientierte Hilfen 158

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Kapitel 10Stationäre Hilfen zur Erziehung 163Die Schattenseiten und die Reformbemühungenzur Heimerziehung 163Auf demWeg zu einer modernen Heimerziehung durchDezentralisierung und Ausdifferenzierung 167Die differenzierten Formen der stationärenHilfen zur Erziehung 168Die AdressatInnen der stationären Hilfen zur Erziehung 171Die Aufgaben und Methoden der stationärenHilfen zur Erziehung 174Beteiligung als Gestaltungsprinzip des Heimalltags 177Sexuelle Übergriffe und „pädagogische Grauzonen“in stationären Hilfen 180

Teil IIIOrganisationsformen der Kinder- und Jugendhilfe

Kapitel 11Kommunale Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfeund die Jugendhilfeplanung 185Föderative Struktur der Bundesrepublik 185Bundesebene und Bundesgesetzgebung 186Die Ebene der Länder und die Landesgesetzgebung 188Kommunale Verfasstheit 189Das zweigliedrige Jugendamt 192Der Kinder- und Jugendhilfeausschuss 194Historische Entstehung des zweigliedrigen Jugendamtes 196Kinder- und Jugendhilfeplanung als politischer Prozess 199Neue Steuerung in der Kinder- und Jugendhilfe 204Diskussionen im Kontext der Neuen Steuerung 211Ein neuer Trend: Wirkungsorientierte Kinder- und Jugendhilfe 212

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Kapitel 12Träger, Organisationsformen, Fachkräfte undFinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe 215Akteure im Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe 215Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe 218Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe 219Zusammenarbeit der öffentlichen mit derfreien Kinder- und Jugendhilfe 221Organisationsformen der freien Träger derKinder- und Jugendhilfe 222Gemeinnützigkeit 225Das Subsidiaritätsprinzip 226Von privater Liebestätigkeit zu einem professionellausdifferenzierten Dienstleistungssektor:MitarbeiterInnen und Qualifikationen 228Finanzierung und Qualitätsentwicklung derKinder- und Jugendhilfe 234

Kapitel 13Rechte, Beteiligung und Verfahren 238Sicherstellung von Beteiligungsrechten durch Verfahren 238Mitwirkung und Mitbestimmung in kommunalenEntscheidungsprozessen (Jugendhilfeplanung) 240Mitwirkung und Mitbestimmung in individuellenEntscheidungsprozessen (Hilfeplanung) 240Methoden des Fallverstehens als Grundlagebeteiligungsorientierter Hilfeplanung 245Schwierigkeiten und Hemmnisse der Beteiligung 249Indikatoren für gelingende Beteiligung 250Der Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe 251

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Teil IVTheoretische Ansätze und politische Perspektivender Kinder- und Jugendhilfe

Kapitel 14Sozialpädagogische Fachlichkeit: Lebensbewältigung undLebensweltorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe 261Sozialpädagogische Grundprobleme:Die sozialpädagogische Verlegenheit moderner Gesellschaftenund der soziale Ort des Aufwachsens 261Sozialpädagogische Grundzugänge:Lebenslage und Lebensbewältigung 265Emanzipatorische Perspektive:1968 und die Institutionenkritik 267Eine „neue“ sozialpädagogische Praxis:Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe 269Aktuelle sozialpädagogische Herausforderungen vor Ort:Spezialisierung, integrierte Hilfen und Sozialraumorientierung 271Sozialpädagogik in der Bürgergesellschaft: Partizipation alsGrundelement einer demokratischen Kinder- und Jugendhilfe 272

Kapitel 15Kinder- und Jugendhilfe in einer globalisierten Welt:Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung 278Kinder- und Jugendpolitik:Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung 278Kinder- und Jugendpolitik in Europa 281Kinder- und Jugendhilfe in transnationalen Kontexten 285„Capability approach“ – Entfaltungsmöglichkeiten von Kindernund Jugendlichen in der globalisierten Welt 288

Abkürzungsverzeichnis 291Literatur 293Service – Kinder- und Jugendhilfe 311

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Teil IGrundlagender Kinder- und Jugendhilfe

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Kapitel 1Kinder- und Jugendhilfe –Geschichte und Gegenwart

Kernaussage: Die Kinder- und Jugendhilfe ist ein sozialer Dienstleistungsbe-reich, der sich sowohl auf Interventionsaufgaben und das sog. Wächteramt desStaates bezieht, als auch eine öffentliche Infrastruktur zur Pflege, Erziehung undBildung von Kindern und Jugendlichen vorhält. Historisch schließt die Kinder- undJugendhilfe entsprechend an zwei Aufgabengebiete an: Die Jugendfürsorge undJugendpflege. 1922 wurden beide Bereiche erstmals zusammen und einheitlich imReichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) gesetzlich geregelt. Seit 1990 regelt dasKinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als Achtes Sozialgesetzbuch (SGB VIII) dieLeistungen.

Kinder- und Jugendhilfe –eine sozialpädagogische Dienstleistungsinfrastrukturfür Kinder, Jugendliche und Eltern

Der Begriff Kinder- und Jugendhilfe ist in der Öffentlichkeit nur wenigverbreitet, so dass viele Menschen gar nicht wissen, dass sie Leistungen derKinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen. So ist sich die Mehrzahl derBevölkerung auch kaum bewusst, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend inumfassender Form Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wahrgenommenhat. Führt man beispielsweise stichprobenartig Umfragen in Seminargrup-pen durch, zeigt sich, dass z.B. die Organisation eines ausreichenden Ange-bots an Kindertagesstätten von vielen Studierenden nicht als Leistung derKinder- und Jugendhilfe angesehen wird. Zudem hat fast jede Jugendlicheoder jeder Jugendlicher schon einmal ein Jugendhaus besucht oder an einerFerienfreizeit teilgenommen. Dazu kommen die Angebote der Kinder- undJugendverbände – wie die Pfadfinder, die Landjugend, die Bergsteigerju-gend, die Jugendorganisationen z.B. der Feuerwehr, der Kirchen, der Deut-schen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) usw. – die ebenfalls Bestand-teil der Kinder- und Jugendhilfe sind.

Es geht in diesem ersten Kapitel nicht darum alle Angebote vollständigaufzuzählen. Diese werden Sie im Verlauf des Buches kennen lernen. Hier

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geht es zunächst darum, sich erst einmal das Spektrum vor Augen zu füh-ren, das die Kinder- und Jugendhilfe umfasst. Diese Öffnung des Blickeserscheint wichtig, da die Kinder- und Jugendhilfe in der Öffentlichkeit undGeschichte vielfach nur mit der zentralen Organisationseinheit – dem Ju-gendamt – in Verbindung gebracht wurde oder ausschließlich auf ein An-gebot – die Heimerziehung – beschränkt wird. Die historisch gewachseneEinheit der Kinder- und Jugendhilfe aus Kinder- und Jugendpflege undKinder- und Jugendfürsorge wird so mitunter übersehen.

Ältere Generationen kennen noch die abfälligen Begriffe für das Jugend-amt (so z.B. „Kinderklaubehörde“), wie sie im Volksmund gebraucht wur-den. Gerade dieser Einschätzung, in der das Jugendamt als „Ordnungsbe-hörde“ gesehen wurde, wird gegenwärtig das Profil des Jugendamtes alsDienstleistungsbehörde gegenübergestellt. Leistungen sollen demnach zumWohl des Kindes kooperativ mit den Kindern, Jugendlichen und Eltern undvernetzt mit den beteiligten Organisationen (z.B. Anbietern von Hilfen zurErziehung, Vereinen im Stadtteil oder Jugendverbänden) ausgehandeltwerden. Dabei hat das Jugendamt weiterhin auch die Verantwortung, ent-sprechende Interventionsmaßnahmen einzuleiten, wenn das Wohl des Kin-des gefährdet ist (Wächteramt).

In diesem Zusammenhang wird es ebenfalls wichtig sein zu sehen, dassauch der Begriff Heimerziehung die Hilfeformen der Kinder- und Jugend-hilfe nicht mehr umfasst, die für Kinder, Jugendliche und Eltern vorgehal-ten werden, wenn eine sozialpädagogische Unterstützung angesichts derLebenslagen und -bedingungen von Kindern und Jugendlichen angeratenist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII/KJHG) wird darum vonden Hilfen zur Erziehung gesprochen: Heimerziehung oder sog. stationäreErziehungshilfen stellen neben der sozialpädagogischen Familienhilfe undanderen ambulanten und teilstationären Maßnahmen nur eine Möglichkeitdar (→ Kap. 9 und 10).

Schon diese wenigen einführenden Bemerkungen zeigen, dass die Kin-der- und Jugendhilfe heute nicht über einzelne Interventionsmaßnahmenoder Organisationsformen begriffen werden kann, sondern als sozialeDienstleistungsstruktur für alle Kinder, Jugendlichen und Eltern in einerKommune oder Stadt betrachtet werden muss. Diese Betrachtungsweisekann auch als Anspruch gesehen werden, der sich aus der Geschichte derKinder- und Jugendhilfe entwickelt hat.

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Ursprünge der Kinder- und Jugendhilfe

Wo beginnt die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe? Diese Frage lässtsich in diesem einführenden Lehrbuch selbstverständlich nicht vollständigklären. Es gibt nicht ein historisches Ereignis, aus dem sich die Entwicklungder Kinder- und Jugendhilfe beschreiben ließe, und sie wurde auch nichtdurch eine Person erfunden. Die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe isteng mit der Geschichte der Kindheit und Jugend und der Entwicklung dersozialen Bedingungen des Aufwachsens in modernen Gesellschaften ver-bunden (→ Kap. 2). Es ist eine Geschichte von Kontrollmaßnahmen, derSozialdisziplinierung, der Ausübung von Macht gegenüber Kindern, Ju-gendlichen und Familien, aber ebenfalls von sozialen und pädagogischenReformbemühungen, um die Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichenund Familien zu verbessern. Zudem wäre die moderne Kindheit und Ju-gend, wie wir sie gegenwärtig kennen, ohne den Sozialstaat und die Ge-schichte der Sozial-, Familien- und Bildungspolitik insgesamt nicht denkbar(vgl. Mierendorff 2010).

Die Mehrzahl der historischen Untersuchungen bezieht sich auf die ver-gangenen 150 Jahre und beschreibt in erster Linie die Entwicklung der In-stitutionen und des Kinder- und Jugendhilferechtes sowie die Bedeutungausgewählter Persönlichkeiten, die bestimmte Organisationsformen ge-gründet oder Einfluss auf die Gestaltung der institutionellen Kinder- undJugendhilfe insgesamt genommen haben.

Gertrud Bäumer (1873–1954)

Eine der bekanntesten Persönlichkeitenin der Geschichte der Kinder- und Ju-gendhilfe ist Gertrud Bäumer. Sie wurde1873 in Hohenlimburg (Westf.) geboren.Nach der Schulzeit besuchte sie ein Leh-rerinnenseminar in Magdeburg und warzunächst auch als Lehrerin tätig. Ab 1900nahm sie dann ein Studium der Germa-nistik, Theologie und Sozialwissenschaf-ten auf. Sie war in unterschiedlichen füh-renden Positionen im Bund DeutscherFrauenvereine (BDF), dem Dachverbandder bürgerlichen Frauenbewegung, tätig. So gab sie u.a. die Zeitschrift„Die Frau“ (1912–1940) heraus oder zusammen mit ihrer langjähri-

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gen Weggefährtin Helene Lange das Handbuch der Frauenbewegung(1901). Von 1920 bis 1930 war Gertrud Bäumer Reichstagsabgeord-nete und 1922 erste deutsche Ministerialrätin. Sie leitete in der kul-turpolitischen Abteilung des Reichsinnenministeriums das Schulre-ferat und die Jugendwohlfahrt. Hier war sie entscheidend an derGestaltung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetztes (RJWG) beteiligt.Gertrud Bäumer schrieb in den 1920er Jahren eine große Zahl politi-scher und sozialpädagogischer Fachbeiträge und Bücher. In der Zeitdes Nationalsozialismus war sie kaum mehr in der Öffentlichkeit.Weiterhin gab sie aber die Zeitschrift „Die Frau“ heraus und nähertesich dadurch der nationalsozialistischen Frauenpolitik an. 1954 starbGertrud Bäumer in den Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel.Bäumer arbeitete in ihren Texten heraus, dass sich „die Grundlage desöffentlichen Erziehungssystems“ im 19. Jahrhundert gewandelt habeund die tradierten Orte der Erziehung und Bildung nur durch eine„gesellschaftliche Mehrleistung“ bewahrt werden könnten (vgl. Bäu-mer 1929). Sie strich unmissverständlich heraus, dass die Sozialpäda-gogik und ihre Theorie nur zu begreifen seien, soweit man die „Ver-änderungen der gesellschaftlichen Struktur soziale(r) Probleme“betrachte, die „Grundlagen und Wesen der Hilfsbedürftigkeit durch-aus verändert hätten“. Letztlich falle die Entwicklung der Sozialpäda-gogik, so Bäumer, in die Entwicklungsperiode, die man auf die Formel‚Von der Caritas zur Sozialpolitik’ bringen könne (vgl. Maurer/Schröer2002). Gertrud Bäumer ist in der Fachdiskussion auch durch ihre bisheute vielfach zitierte Definition des Begriffes Sozialpädagogik bekanntgeworden. Sie schrieb 1929 im Handbuch der Pädagogik: Sozialpäda-gogik „bezeichnet nicht ein Prinzip, dem die gesamte Pädagogik (…)unterstellt ist, sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, abernicht Schule und Familie ist. Sozialpädagogik bedeutet den Inbegriffder gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsfürsorge, sofern sieaußerhalb der Schule liegt“ (1929, S. 3).

In der Geschichtsschreibung liegt bis heute ein deutlicher Schwerpunkt aufder Jugendfürsorge – also den Interventionen, die in unterschiedlichenFormen zu Erziehungsmaßregelungen führten. Auffällig ist in diesem Zu-sammenhang, dass die historischen Entwicklungen der Organisationsfor-men und die Leistungen von Persönlichkeiten und sozialen Gruppen ver-hältnismäßig gut dokumentiert sind. Es gibt allerdings wenige historischeUntersuchungen aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und Fami-lien, deren Leben durch diese Einrichtungen beeinflusst wurden. Selten

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wurde somit herausgearbeitet, was die Interventionen und Maßnahmen fürdie Kinder und Jugendlichen in ihrem Alltag bedeuteten.

In Bezug auf die institutionelle Entwicklung wird einerseits darauf hin-gewiesen, dass z.B. bereits im Vormärz (um 1830) Freimaurer sozialpäda-gogische Institutionen im Rahmen von Sonntagsschulen unter Verweis aufdie sich verändernde erzieherische Funktionsfähigkeit von Familie undSchule (vgl. Gedrath 2003) gründeten. Als ein Entwicklungskern der Hei-merziehung wird auch die Gründung des Rauhen Hauses bei Hamburg(1833) durch J. H. Wichern (1808-1881) angesehen (vgl. Kunstreich 1995;Niemeyer 1997; 1998) (→ Kap. 10).

Neben diesen lokalen Initiativen aus bürgerlichen oder religiös-moti-vierten Kreisen ist als eine der ersten staatlichen Maßnahmen das Gesetzes-vorhaben zur Beschränkung der Kinderarbeit anzusehen: 1824 wurde eineKommission eingesetzt, „die Aufschluss über den Umfang der Kinderarbeitgeben sollte“ (Frerich/Frey 1996, S. 43). Als zweite ähnlich gerichtete Maß-nahme kann die behördliche Untersuchung von 1827 zum Zusammenhangvon Armut, Kriminalität und Fürsorgeerziehung gelten. 1839 wurde dannerstmals im Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fab-riken auch eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit festgesetzt.

Von der Zwangserziehung zur Jugendfürsorge

Vor allem wird aber der Zeitraum ab ca. 1878 bis zum Beginn der Weima-rer Republik als die Gründerphase der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfebezeichnet (vgl. zum Folgenden ausführlich: Gedrath/Schröer 2002). 1878wird hier als Einschnitt genannt, da in Preußen in diesem Jahr das Gesetzbezüglich der Unterbringung verwahrloster Kinder erlassen wurde. DiesesGesetz regelte erstmals die Zwangserziehung Minderjähriger bis zum12. Lebensjahr. Erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch wurde dann 1900 einkommunales Organ geschaffen, das sich an vielen Orten zum Vorläufer desJugendamtes entwickelte: der Gemeindewaisenrat, dem die Aufsicht überdie gesamte Jugend, nicht nur über die Waisen, anvertraut wurde (vgl. Sam-ter 1900, S. 130ff).

Am 1. April 1901 trat dann das Preußische Fürsorgeerziehungsgesetz (Ge-setz über die Fürsorge-Erziehung Minderjähriger) vom 2. Juli 1900 in Kraft,das u.a. mit den rechtlichen Veränderungen des Bürgerlichen Gesetzbuchesbegründet wurde. Nach diesem konnte für einen Minderjährigen, der das 18.Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, durch einen Vormundschaftsrichterdirekt oder auf Antrag eines Landrates bzw. Bürgermeisters oder durch Ver-treter der preußischen Polizeibehörde Fürsorgeerziehung beantragt werden,um die sittliche oder körperliche Verwahrlosung des Jugendlichen zu verhin-

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dern (ohne dass dem eine Straftat vorausgegangen war). Der Begriff ‚Fürsor-geerziehung’ wurde ausdrücklich verwendet, um hervorzuheben, dass die„Absicht des Gesetzes dahin gehe, durch Erziehung vorbeugend, prophylak-tisch, und nicht strafend zu wirken“ (Aschrott 1901, S. 2). Das Zwangserzie-hungsgesetz aus dem Jahr 1878 betraf nur die 6- bis 12-Jährigen.

Jugendpflege

Mit dem Begriff Jugendpflege wurde 1922 im Reichsjugendwohl-fahrtsgesetz (RJWG) die Förderung der Jugendarbeit und Jugend-verbandsarbeit sowie der Kinder- und Jugendschutz als eine öffent-liche Aufgabe der Jugendhilfe aufgenommen. Der Begriff Jugend-pflege wurde später durch den der Jugendförderung abgelöst.1901 kam es in Preußen zu einer ersten juristischen Regelung derJugendpflege: dem preußischen Ministerialerlass. Die Funktion derstaatlichen Jugendpflege bestand darin, „die Jugendlichen zu unter-halten und zu beschäftigen, um sie damit sozialpolitisch, wehrpoli-tisch und konfessionell den gültigen Normvorstellungen entspre-chend sozial zu integrieren“ (Gängler 1995, S. 178). Als Anlass dafürwurde angesehen, dass die bestehenden „Jünglings-, Lehrlings- undGesellenvereine“, die „Spiel- und Erholungsgelegenheit“ durch„Turn-, Gesangs-, Lese-, Vortrags- und sonstige Unterhaltungsaben-de“ bieten, nicht alle aus der Schule entlassenen Jünglinge, „die einesgeeigneten Familienanschlusses entbehren“ (Ministerialblatt 1901,S. 352), erreichten. Ausgehend von den Erfahrungen des ersten Ju-gendpflegeerlasses – und entscheidend für die weitere Entwicklungder staatlichen Jugendpflege in Deutschland – wurde dann der‚Preußische Ministerialerlaß betr. Jugendpflege‘ von 1911, der die ju-gendpflegerischen Gesichtspunkte der staatlichen Sozialpolitik zu-sammenfasste. Die in diesem Erlass vorgesehenen Aufgaben der Ju-gendpflege wurden von der großen Anzahl konfessioneller undbürgerlicher Jugendpflegevereine (später: Jugendverbände) über-nommen. Das staatliche Engagement im Feld der Jugendpflege be-deutete die pädagogische Beeinflussung und Disziplinierung derschulentlassenen, männlichen Jugend. Die disziplinierende Funktionder staatlichen Jugendpflege wurde in den kommenden Jahren vonjugendkulturellen und freizeitgestalterischen Einflüssen z.B. aus derbürgerlichen Jugendbewegung durchmischt. Neben die ordnungspo-litische Funktion traten dabei zunehmend „jugendpolitische unddienstleistungsbezogene Angebote“ (Gängler 1995, S. 176).

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Doch die Veränderungen ab den 1870er Jahren sind mit diesen Gesetzesini-tiativen keineswegs ausreichend zusammengefasst. Uwe Uhlendorff charak-terisiert den Zeitraum hinsichtlich der Jugendfürsorgeentwicklung umfas-sender: „Die Jugendfürsorge erschöpfte sich vor der Zeit der Gründerjahreim Wesentlichen auf die Waisenpflege, die in Anstaltserziehung (Waisen-häuser) und Pflegefamilien aufgeteilt war. Im Zeitraum von 1871 bis 1910erfolgte nun eine starke Ausdifferenzierung der Jugendfürsorgeaufgaben.Bewirkt wurde sie zum Teil durch Reichs- und Landesgesetze, die z.B. Für-sorgeerziehung bei straffällig gewordenen bzw. verwahrlosten Jugendlichenvorsahen oder Amtsvormundschaft gegenüber unehelichen Kindern vor-schrieben. Zum anderen ging die Ausweitung der Aufgaben auch auf dasEngagement lokaler bürgerlicher Vereine zurück, wie Säuglingsfürsorgeoder Krippen- und Hortwesen, oder auf das Wirken ehrgeiziger Verwal-tungsbeamter, wie z.B. das Pflegekinderwesen in Mainz. Das Betätigungs-feld wurde im Laufe der Zeit – insbesondere zwischen den Jahren 1880 und1910 – nicht nur erheblich ausgeweitet; im gleichen Zeitraum wurde dieJugendfürsorge in einigen Städten, die später eine Vorbildfunktion hatten(wie Hamburg und Mainz), aus der Armenfürsorge ausdifferenziert.“ (Uh-lendorff 2000, S. 155-156; vgl. auch Uhlendorff 2003)

Gegen 1910 entstanden dann die ersten „Jugendämter, die sich zwarnoch nicht als solche bezeichneten (wie die Mainzer Zentrale für öffentlicheJugendfürsorge oder die Hamburgische Behörde für öffentliche Jugendfür-sorge)“ (ebd.), aber bereits eine Aufgabenstruktur innehatten, wie sie späterin den Jugendämtern zusammengefasst wurden. Die Entwicklung der Kin-der- und Jugendfürsorge knüpfte also in ihrer Ausgestaltung und in ihrenzentralen Leitbildern an Reformperspektiven an, wie sie sich in den Städtenund Kommunen bereits im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten.

Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz unddas Jugendgerichtsgesetz

Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG)

vom 09.07.1922 war wirksam ab 1. April 1924. Es sollte den beidenSträngen der Jugendwohlfahrt – der Jugendfürsorge und der Ju-gendpflege – eine einheitliche Rechts- und Verwaltungsgrundlagegeben. Es gilt als eine der bedeutendsten gesetzgeberischen Leistun-gen der Weimarer Republik und behielt ohne grundlegende Ände-rungen bis zum Ende der 1980er Jahre Gültigkeit. Mit dem RJWGwurden gleichzeitig zum ersten Mal in Deutschland die Erzie-

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hungsaufgaben der Eltern und im Besonderen das Recht des Kindesauf Erziehung einheitlich rechtlich verankert. Jedoch bedeutete die-se Formel nicht, dass sich der zu Beginn des Jahrhunderts diskutier-te Vorschlag eines „allgemeinen Jugendrechtes“ durchsetzten konn-te. Es wurde somit kein „Rechtssystem für den gesellschaftlichenTeilbereich Jugend“ verabschiedet, das „durchaus vergleichbar mitder Entwicklung des Arbeitsrechts zur Regelung der Rechtspositiondes Arbeitnehmers gegenüber Betrieb und Staat“ gewesen wäre.Wirklichkeit wurde ein „Jugendhilferecht, das den Maßnahmenvon Erziehungsinstitutionen eine gesetzliche Grundlage geben soll-te“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 132f.).

Betrachtet man somit das RJWG in der historischen Rückschau, so war esletztlich ein „Jugendamtsgesetz“ (Peukert 1986, S. 137). Detlev Peukert stelltals wichtige Entwicklungslinie heraus: „Das Jugendamt, das entweder alsselbstständige Behörde oder – in kleineren Orten – als Teil des Wohlfahrts-amtes organisiert war, konzentrierte bei sich die Kompetenzen der Amts-vormundschaft für alle unehelich geborenen Kinder, der Behörde für dieDurchführung der Fürsorgeerziehung, des Organs für die Subventionierungbzw. eigenständige Organisation jugendpflegerischer Aktivitäten und derJugendgerichtshilfe. In seiner inneren Verfassung koordinierte es in einemkollegialen Organ, in dem Vertreter der Ämter wie der Fürsorgeverbändeund Jugendvereine saßen, die Jugendarbeit, bezuschusste sie und wurde –nach dem Prinzip der Subsidiarität – dann selbst aktiv, wenn die örtlichenfreien Verbände eine notwendige Leistung nicht erbrachten.“ (Peukert1986, S. 138) (→ Kap. 3)

Das als Reformwerk geplante Gesetz konnte in den Jahren bis 1933 auf-grund der Aufhebung wesentlicher Bestimmungen, aber auch wegen derweiter wachsenden innenpolitischen Widersprüche nicht umgesetzt werden(vgl. Gräser 1995). Entsprechend konnten die in das Gesetz gesetzten Hoff-nungen nicht verwirklicht werden.

Die zweite, die Jugend betreffende, große Gesetzesinitiative in der Wei-marer Republik, das Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923, geht letztlichebenfalls auf eine sich seit der Jahrhundertwende immer deutlicher artiku-lierende Forderung zurück. Die sog. Jugendgerichtsbewegung setzte sichdafür ein, die Jugendstrafrechtspflege als einen Bereich anzusehen, der ausdem Erwachsenenstrafrecht herausgelöst werden müsse. Das JGG legte die„relative Strafmündigkeit“ auf das 14. bis 18. Lebensjahr fest und setzte die„strafrechtliche Verantwortung“ in Verhältnis zur „geistigen und sittlichenEntwicklung“. In § 16 Absatz 1 JGG wurde der programmatische Grundsatz

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aufgenommen: „Der Strafvollzug gegen einen Jugendlichen ist so zu bewir-ken, dass seine Erziehung gefördert wird.“ (Zit. n. Dörner 1991, S. 71)Christian von Wolffersdorff verweist auf die Schattenseiten dieser moder-nen Reform der Weimarer Republik: „Die neue Programmatik von Erzie-hungsstrafrecht und Erziehungsvollzug präsentierte sich nicht nur mit ei-nem freundlichen pädagogischen Gesicht, sondern zugleich mit derdrohenden Geste von Repression und Vergeltung“. Schließlich kommt er zudem Resümee, dass wir überall dort, wo „von Staats und von Rechts wegenmit Begriffen wie Erziehung und (Re-)Sozialisation gearbeitet wird, eindickes Fragezeichen setzen müssen“ (Wolffersdorff 1997, S. 101-102).

Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus

Für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutete die Zeit des Nationalsozi-alismus vor allem eine veränderte Rechtspraxis: „Inhaltlich war dieEntwicklung nationalsozialistischer Jugendhilfe vor allem durch diezunehmende Überlagerung mit rassenhygienischem Gedankengutund die Indienstnahme für erbgesundheitliche ‚Aufartungs‘-Program-me charakterisiert.“ (Sachße/Tennstedt 1992, S. 166) Mit der Macht-übernahme am 30. Januar 1933 setzte eine ‚Gleichschaltung‘ allerBehörden und freien Institutionen ein. Die Dachverbände der Ju-gendhilfe mussten sich in ihrer Struktur dem Führerprinzip unter-stellen. Verändert wurde entsprechend der nationalsozialistischenIdeologie die Aufgabenstruktur des Jugendamtes. Mit dem Gesetzzur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 wur-den z.B. diesem „die Aufgaben der Mütter- und Säuglingsberatung“entzogen und indem der Hitler-Jugend der Führungsanspruch über„die gesamte deutsche Jugend“ übertragen wurde, „wurde zugleichjede eigenständige Jugendpflege der Jugendämter obsolet“ (Sachße/Tennstedt 1992, S. 156). Die Aufgaben der Jugendämter beschränk-ten sich zusehends auf „hoheitliche Eingriffe“, die wiederum durchdie Nationalsozialistische Volkswohlfahrt überprüft wurden (ebd.,S. 161). So blieben die Jugendämter letztlich nur für sog. „erbkrankeElemente“ zuständig; daher gerieten sie in den Augen der Bevölke-rung mehr und mehr zu „Jugendverfolgungsbehörden“ (vgl. Hasen-clever 1978).1940 wurden zudem für die sog. ‚Schwerst-‘ und ‚Unerziehbaren‘ dasJugendschutzlager Moringen und 1942 für Mädchen das Jugend-schutzlager Uckermark eingerichtet. „Spätestens ab 1942 wies dieGestapo auch mit Schutzhaft belegte minderjährige Gefangene in die

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Jugendschutzlager ein. Wie in den großen Konzentrationslagern be-fanden sich gleichzeitig Schutz- und Vorbeugungshäftlinge in denJugendschutzlagern.“ (Ayaß 1995, S. 182) Ein Erlass des Reichsin-nenministers vom 26. April 1944 regelte endgültig die Einweisungder Jugendlichen in diese Konzentrationslager, die unter militäri-schem Drill und ohne Rechte untergebracht wurden (vgl. Schrapper1993).

Auf dem Weg vom Eingriffs- zum Leistungsgesetz

Erst nach den Wahlen zum ersten Bundestag 1949 konnte wiederum eineeigene Jugendpolitik des Bundes einsetzen. 1950 verkündete die Regierungeinen Bundesjugendplan, der im Prinzip zunächst nicht mehr als ein jährli-cher Etat im Haushalt des Innenministeriums war. Allgemeine Jugendför-derung und Behebung der Berufsnot bildeten die Schwerpunkte des erstenBundesjugendplans. Doch schon bald kamen auch erste Forderungen nacheiner grundsätzlichen Novellierung des RJWG auf.

So gab es 1953 eine Ergänzung im RJWG, in der letztlich der Status quovon 1922 (bzw. 1924) bei stabileren politischen, durch die Besatzungsmäch-te garantierten Verhältnissen wieder hergestellt wurde. Große Erwartungenwurden dagegen an die zweite Nachkriegsnovelle des RJWG im Jahr 1961gerichtet. Aus dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, das in erster Linie als„Eingriffsrecht“ in die Familien gesehen wurde, sollte ein soziales Leis-tungsgesetz werden, durch das die Familien in ihrer Erziehungsleistungunterstützt werden (vgl. Hasenclever 1978; Jordan/Münder 1987). Die No-velle, die als ‚Gesetz für Jugendwohlfahrt‘ (JWG) verkündet wurde, konntedie erhoffte grundlegende Umwandlung des Jugendhilferechts in ein Leis-tungsgesetz nicht verwirklichen. Die rechtliche Basis der Kinder- und Ju-gendhilfe in Deutschland war seit 1922 wesentlich durch ein Gesetz geprägt,das noch „völlig durch seine Herkunft aus dem Polizeirecht (Pflegekinder-schutz) und dem Strafrecht (Fürsorgeerziehung) und durch obrigkeitlicheVorstellung einer eingreifenden Verwaltung“ (BMJFG 1972, S. 31) be-stimmt war. Erst mit den Vorarbeiten zum Kinder und Jugendhilfegesetz(SGB VIII/KJHG) wurde erstmals ein umfassender Neuanfang in der Kin-der- und Jugendhilfe unternommen.

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Das Kinder- und Jugendhilfegesetz – ein Neuanfang …

Als Ergebnis und Bilanz jahrzehntelanger Diskussionen wurde das Kinder-und Jugendhilfegesetz (SGB VIII/KJHG) im Jahr 1990 als Neufassung desJugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) verabschiedet. Insgesamt wurde die Ent-wicklung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes auch durch eine Verände-rung der fachlichen Ausbildung und Forschung in der Sozialpädagogik seitden 1970er Jahren begleitet. Die heute etablierten Ausbildungsstruktureninnerhalb von neuen Studiengängen an Hochschulen und Universitäten(erst Diplom; heute Bachelor und Master) spiegeln sich auch in einemRückgang der fachlich nicht Ausgebildeten im Feld wider. Sozialpädago-gInnen sind damit eine – neben LehrerInnen, MedizinerInnen, JuristInnenund PsychologInnen – selbstverständliche, und in ihrer eigenen Kompetenzakzeptierte und nachgefragte Berufsgruppe der sozialen und pädagogischenArbeitswelt.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII/KJHG) versteht sich heu-te als Dienstleistungsgesetz, das sowohl das allgemein gefasste Recht aufFörderung der Entwicklung und Erziehung der Heranwachsenden heraus-stellt als auch gerechte Lebensbedingungen für alle Kinder, Heranwachsen-den und ihre Familien ermöglichen soll. Dabei sollen „die unterschiedlichenLebenslagen von Mädchen und Jungen berücksichtigt, Benachteiligungenabgebaut und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen gefördert“(§§ 1, 9) werden. Als soziales Dienstleistungsgesetz beinhaltet das Kinder-und Jugendhilfegesetz vielfältige Formen der Beteiligung und Mitbestim-mung von Kindern, Jugendlichen und Familien. Im Verlauf des Bucheswerden wir immer wieder intensiv auf das Kinder- und Jugendhilfegesetzeingehen. Doch bevor die Grundzüge des SGB VIII/KJHG vorgestellt wer-den, soll thematisiert werden, wodurch die derzeitige Lebenslage von Kin-dern und Jugendlichen als zentraler Bezugspunkt der Kinder- und Jugend-hilfe charakterisiert ist. Im nächsten Kapitel geht es darum um die Frage,was die Lebensverhältnisse von Kindern, Jugendlichen und Familien aus-zeichnet und wie sich im Weiteren daraus das Aufgabenspektrum der Kin-der- und Jugendhilfe ableiten lässt.

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Übungsaufgaben

Diskutieren Sie mit welchen Einrichtungen der Kinder- und Ju-gendhilfe Sie bisher Kontakt hatten und wie Sie diese erlebt haben!

Erklären Sie anhand dieser ersten allgemeinen Einführung, welcheGründe es waren, die zur Etablierung der Jugendfürsorge und-pflege geführt haben!

Führen Sie Interviews mit älteren Menschen und bringen Sie inErfahrung, wie sie die Epoche des Nationalsozialismus erlebt haben.Fragen Sie danach, ob und welche Berührungspunkte sie mit derJugendfürsorge und der Jugendpflege hatten!

Zum WeiterlesenBäumer, G. (1929): Die historischen und sozialen Voraussetzungen der Sozialpädagogik

und die Entwicklung ihrer Theorie. In: Nohl, H./Pallat, L. (Hrsg.): Handbuch derPädagogik. Bd. 5, S. 3-17.

Jordan, E. (2005): Kinder- und Jugendhilfe. Einführung in Geschichte und Handlungs-felder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen. Mit Beiträgen vonJohannes Münder und Ursula Peukert. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage derNeuausgabe. Weinheim und München.

Hering, S./Münchmeier, R. (2000): Geschichte der Sozialen Arbeit. Weinheim undMünchen.

Mierendorff, J. (2010): Kindheit im Wohlfahrtstaat. Entstehung, Wandel und Kontinui-tät des Musters moderner Kindheit. Weinheim und München.

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Kapitel 2Lebenslage Kindheit und Jugend

Kernaussage: Die Lebenslage Kindheit und Jugend ist in Deutschland durchsoziale Ungleichheit geprägt. Gleichzeitig hat sich im letzten Drittel des 20. Jahrhun-derts das Bild von der Kindheit und Jugend als ein (Bildungs-)Moratorium durchge-setzt. Kindern und Jugendlichen wird demnach ein sozialer Bildungs- und Experi-mentierraum sowie ein Aufschub gegenüber sozialen und ökonomischen Ver-pflichtungen gewährt. Dieser Bildungsaufschub soll die Kinder und Jugendlichenvorbereiten, damit sie sich ausgebildet und in der Identitätsentwicklung ausbalan-ciert, den Herausforderungen in der Erwachsenengesellschaft stellen können. DochStudien zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland sowie zur alltäglichen Lebens-bewältigung von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass das Bild vom (Bildungs-)Moratorium nicht ausreicht, um die mitunter prekären Lebensverhältnisse zu erfas-sen.

Begriffsklärung Lebenslage

Der Begriff Lebenslage wurde in der Sozialpolitik insbesonderedurch Otto Neurath (1924), Gerhard Weisser (1955) und IngeborgNahnsen (1966) geprägt. Für die Diskussionen innerhalb der Kin-der- und Jugendhilfe hat Lothar Böhnisch (1982) den Begriff wei-terentwickelt. Gegenwärtig wird er vor allem in den Diskussionenum Kinder- und Jugendarmut verwendet. Die Lebenslagen vonKindern und Jugendlichen umfassen – allgemein formuliert – diesubjektiven Handlungsspielräume der Kinder und Jugendlichen,wie sie durch die soziale und politische Konstruktion von Kindheitund Jugend in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation bestimmtsind: Lebenslagen sind „Produkt gesellschaftlicher Entwicklung(strukturiert), zugleich aber Bedingung und Ausgangssituation(strukturierend) der Entwicklung von einzelnen Menschen undGruppen; Lebenslagen sind Ausgangsbedingungen menschlichenHandelns ebenso wie sie Produkt dieses Handelns sind“ (Amann1994, S. 324).Die Lebenslage Kindheit und Jugend umfasst somit einerseits die po-litischen und sozialen Vorstellungen von Kindheit und Jugend, durch

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die mitbestimmt wird, welche Bedürfnisse der Kinder und Jugendli-chen anerkannt werden und welche Erwartungen an sie gerichtetwerden. Anderseits betrachten wir mit dem Begriff aber auch die ma-teriellen, sozialen und kulturellen Ressourcen (Wohnverhältnisse,verfügbares Familieneinkommen, Bildungssituation usw.), die Kin-dern und Jugendlichen in ihrem alltäglichen Handeln zur Verfügungstehen.Wenn wir die Lebenslage Kindheit und Jugend somit als einenAusgangspunkt der Kinder- und Jugendhilfe begreifen, dann gilt esauch zu fragen, welche Vorstellungen von Kindheit und Jugend gegenwärtig

vorherrschend sind, welche Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen anerkannt wer-

den und wie die Handlungsspielräume der Kinder und Jugendlichen

dadurch gestaltet, begrenzt und geöffnet werden.So ist insgesamt zu fragen, welches sozialpolitische und pädagogi-sche Kindheits- und Jugendbild der Kinder- und Jugendhilfe zuGrunde liegt. Es stellt sich zudem die Frage, wie in unserer Gesell-schaft die Sorge, Erziehung, Bildung von Kindern und Jugendlicheninstitutionell abgesichert und wie sie im Lebensalltag der Menschenverankert wird.

Kindheit und Jugend als (Bildungs-)Moratorium –eine historische Einordnung

Das Lebensalter Jugend wird in der Forschung vor allem als ein Produkt dermodernen Industriegesellschaft beschrieben (vgl. Andresen 2005): JungeMenschen und entsprechende Lebensformen gab es zwar zu allen Zeiten,aber die massenhafte Erscheinung der Jugend als gesellschaftlich eingerich-tete Lebensphase zum Zwecke des Lernens und der Qualifikation ist dem-nach ein modernes Phänomen. In der Geschichte der Sozialpädagogik kur-siert darum auch die bezeichnende Metapher, dass die beiden wichtigstenErfindungen der industriellen Moderne die Dampfmaschine und die Ju-gend gewesen seien (vgl. Musgrove 1964). Es ist unschwer zu erkennen: DieDampfmaschine steht für technologischen Fortschritt, die Jugend für Quali-fikation und Bildung.

Diese Perspektive ergibt sich aus dem geschichtlichen Umstand, dassman zum Zeitpunkt der Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe im 19.Jahrhundert den 14-jährigen männlichen Arbeiterjugendlichen, der in einer

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Fabrik tätig war, als prototypischen Adressaten im Visier hatte. Man unter-stellte ihm soziale und sittliche Verwahrlosung, die sich, so das Bild derZeitgenossen, nach der Entlassung aus der Volksschule in einer Lebenspha-se ohne pädagogische Disziplinierung entfaltete. Erst der Eintritt ins Heerbeendete aus der Perspektive dieser autoritären Erziehungsvorstellungendie „Kontrolllücke“ (vgl. Peukert 1986) zwischen den staatlichen Herr-schaftsinstanzen Schule und Militär.

Jugend am Ende des 19. Jahrhunderts

„Ohne Zweifel war es der Bezug zur Arbeit, der im 19. Jahrhundertden Unterschied zwischen Kindheit und Jugend bestimmte. DieKindheit wurde von Arbeit mehr und mehr befreit; die Jugend warihr gewidmet. In Bezug auf die Jugend trat die Schule in Konkurrenzzur Fabrik. Die noch nicht Zwölfjährigen wurden im Laufe des 19.Jahrhunderts aus dem Bergwerk wie aus der Fabrik verbannt. Auchin der Familienwerkstatt wurden sie seltener, vor allem aufgrund derSchulpflicht und der Bekehrung der Familien zum Erziehungsgedan-ken. Bei den Heranwachsenden war von alledem nicht die Rede. Wa-ren sie einmal dreizehn, wurde für sie (…) die Arbeit zur Norm. Mitdem 18. Lebensjahr waren sie Erwachsene, die nur Pflichten, aberkeine Rechte hatten. Die Werkstatt, die Fabrik, die Baustelle wurdenso zu Räumen der Jugend, wenigstens zu Stätten der Arbeiterjugend.Der ‚Feierabend in der Fabrik‘, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einbeliebtes Ansichtskartenmotiv, zeigt vor den Toren der Textilfabri-ken, an der Seite von Frauen, sowie vor Glashütten oder Hochöfen,unter lauter Männern, diese Gruppe von eigentlich sehr jungen Ju-gendlichen“ (Perrot 1997, S. 121).

Der Begriff des Jugendlichen tauchte Ende des 19. Jahrhunderts entspre-chend „zunächst in der Semantik der Juristen auf, und er identifizierte dortdie potentiell kriminellen und verwahrlosten jungen Menschen. Mit Beginnder aktiven staatlichen Jugendpolitik zwischen 1911 und 1914 vollzog sichdann eine Image-Korrektur und Umwertung des Bildes vom ‚Jugendlichen‘in eine‚ ins Positive gewendete Konzeption vom jungen Menschen, den esfür Staat und Gesellschaft zu gewinnen gilt.“ (Dudek 1997, S. 48-49)

Ein Bild von der Kindheit und Jugend, in dem den Kindern und Jugend-lichen ein sozialer Raum und ein zeitlicher Aufschub (Bildungs-Morato-rium) gewährt und dieses als zentraler Bestandteil der subjektiven Identi-