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Religion in der Bundesrepublik Deutschland 3 · 2019. 8. 10. · mit dem Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutsch - land 1949–1989 befasst. In zahlreichen

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Religion in der Bundesrepublik Deutschland

herausgegeben von

Christian Albrecht, Julia Angster, Reiner Anselm, Andreas Busch, Hans Michael Heinig

und Christiane Kuller

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Herausgegeben von

Christian Albrecht und Reiner Anselm

in Verbindung mit

Andreas Busch, Hans Michael Heinig, Christiane Kuller, Martin Laube und Claudia Lepp

Mohr Siebeck

Aus VerantwortungDer Protestantismus

in den Arenen des Politischen

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Christian Albrecht, geboren 1961; Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München.orcid.org/0000-0003-3465-5585

Reiner Anselm, geboren 1965; Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München.orcid.org/0000-0003-4472-8303

ISBN 978-3-16-156987-6 / eISBN 978-3-16-156988-3DOI 10.1628/978-3-16-156988-3

ISSN 2364-3684 / eISSN 2568-7417 (Religion in der Bundesrepublik Deutschland)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über-setzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier ge-druckt und gebunden. Der Einband wurde von Uli Gleis in Tübingen gestaltet. Umschlag-foto: Gedruckt mit freundlicher Genehmigung von Günter Zint.

Printed in Germany.

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Vorwort

Vom Frühjahr 2013 bis zum Herbst 2019 hat sich eine von der DFG geförderte, in München, Göttingen und Erfurt angesiedelte, interdisziplinäre Forschergruppe mit dem Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutsch-land 1949–1989 befasst. In zahlreichen Einzelstudien leuchtete sie die komplexen Verflechtungen zwischen Protestantismus und Gesellschaft der Bonner Republik in geschichtswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und theologischen Per-spektiven aus (www.for1765.de). Ein erster Sammelband dokumentierte Frage-stellungen, Erkenntnisinteressen und frühe Ergebnisse der Forschergruppe (Teil-nehmende Zeitgenossenschaft, RBRD 1, Tübingen 2015). In dem hier vorliegen-den zweiten Sammelband konzentrieren die Mitglieder der Forschergruppe sich thematisch auf Formen protestantischen Agierens in den Arenen des Politischen.

Ethische Debatten entstehen aus Anlass eines konkreten politischen Ent-scheidungsbedarfs und sie münden in politische Regelungen. Die großen Debat-ten der Nachkriegszeit um Frieden und Freiheit, um Ehe und Familie, um soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt, in denen kontroverse ethische Posi-tionen im Streit lagen, waren immer auch begleitet von der Frage, wie die jewei-lige Position in konkrete politische Einflussnahme umgemünzt werden konnte. Wie alle an den Debatten Beteiligten zielten auch die protestantischen Akteure nicht allein auf Meinungsbildung. Sie strebten immer auch politische Mehrheiten an, um die eigene Position möglichst weitgehend in die jeweilige Gesetzgebung einfließen zu lassen. Ihr Engagement verstanden sie dabei als Wahrnehmung ge-sellschaftlicher Verantwortung. Im vorliegenden Band wird aus verschiedenen Perspektiven rekonstruiert, welche Argumentationsmuster und Begründungs-figuren sich dabei identifizieren lassen.

Auch in diesem Band versteht die Beschäftigung mit dem bundesdeutschen Protestantismus sich als Beitrag zu einer ge sell schaftspolitisch informierten Re-ligionsgeschichte der Bundesrepublik. Sie fragt in historischer und systemati-scher Absicht nach der Bedeutung religionskultureller Faktoren für den Aufbau der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft – und bietet gerade darin Perspek-tiven für die Rolle, die der Protestantismus auch heute unter den Bedingungen der Berliner Republik einnehmen kann.

Unser Dank gilt allen Mitgliedern der Forschergruppe für die engagierte Zu-sammenarbeit.

München, im Mai 2019 Christian Albrecht und Reiner Anselm

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Christian Albrecht und Reiner AnselmAus Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen.Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Formen der Verantwortung

Lydia LauxmannAngenommene Verantwortung. Wie die EKD registriert, dass sie politisch Einfluss nimmt . . . . . . . . . . . . . . 13

René SmolarskiVerantwortung im eigenen Interesse. Wege direkter Einflussnahme der Evangelischen Kirche auf die Ausgestaltung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 . . . . . . . . . . . . . . . 35

Luise PoschmannVerantwortung im Gemeinwesen.Evangelischer Protest gegen eine Reform der Krankenhausfinanzierung 1977 im Medienspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Philip SmetsVerantwortung zum Dialog.Klaus von Schubert und das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit in den sicherheitspolitischen Debatten der SPD und des Protestantismus in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Michael GrederVerantwortung in organisierter Verantwortungslosigkeit.Die Argumentation Wolf-Michael Catenhusens für die Einsetzung der Gentechnik-Enquete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

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Katharina HerrmannVerantwortung für das Ganze.Das ökumenische Liederbuch »Schalom« als Medium der Einwirkung auf das politische Bewusstsein junger Christinnen und Christen . . . . . . . 115

II. Themen der Verantwortung

Jonathan SpanosAnwaltschaftliche Verantwortung?Politische Einflussnahme des Flüchtlingsbeirats der EKD in den 1950er und 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Marius HeidrichVerantwortung für ein Kind.Die Kontroversen um den Kommentar ›Bevölkerungspolitik und Rentenlast‹ der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Anne Friederike HoffmannVerantwortung für die Umwelt.Das Beispiel der kirchlichen Umweltbeauftragten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Tim SchedelVerantwortung wahrnehmen in der Energiefrage.Die Enquete-Kommission »Zukünftige Kernenergiepolitik« . . . . . . . . . . . 207

III. Spannungen der Verantwortung

Nikolas KeitelVerantwortung durch Perspektivendifferenzierung.Die Debatten um die Atomwaffen in den 1950er und 1980er Jahren . . . . . 229

Nicola Madeleine AllerVerantwortung vor der Tradition oder Verantwortung für die Gegenwart?Die EKD im Ringen um das Ehe- und Familienbild seit 1971 . . . . . . . . . . 247

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Johannes NolteniusVerantwortung für den Einzelnen oder für die Rechtsordnung?Art. 1 Abs. 1 GG als kirchliches Argument in Strafvollzugsdebatten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Annette HaussmannVerantwortung zwischen Anwaltschaft, Eigeninteresse und Verkündigung. Die Debatte um die ›Neuen Medien‹ zwischen 1978 und 1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

IV. Strukturen der Verantwortung

Christiane Kuller und Claudia LeppDer Protestantismus in den Arenen des Politischen.Eine zeithistorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Andreas BuschDer Protestantismus in den Arenen des Politischen: Akteure, Ressourcen, Foren, Motive und Ergebnisse.Eine politikwissenschaftliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Hans Michael HeinigPolitische Verantwortung und die evangelische Kirche im säkularen Staat.Eine rechtswissenschaftliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Christian Albrecht und Reiner AnselmVon der Selbstverständlichkeit zur Suche. Transformationen des Verantwortungsbewusstseins.Eine theologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Verzeichnis der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

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Aus Verantwortung. Der Protestantismus in den Arenen des Politischen

Zur Einleitung

Christian Albrecht und Reiner Anselm

1. Zur Themenstellung

Der vorliegende Band ist entstanden im Zusammenhang der Arbeit der DFG- Forschergruppe 1765 Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bun-desrepublik Deutschland 1949–1989. Im Fokus der zwischen Theologie, Ge-schichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft angesiedelten Forschergruppe steht die Beteiligung protestantischer Akteure an den zentralen ethischen Debatten der »alten« Bundesrepublik. Die Arbeit der Gruppe zielt auf eine Kartierung der komplexen Verflechtungen zwischen Protestantismus und Gesellschaft der »Bonner Republik« und leistet so einen Beitrag zu einer gesell-schaftspolitisch informierten Religionsgeschichte der deutschen Nachkriegs-zeit.1

Ihr Interesse gilt aber nicht nur der Vergangenheit, sondern in besonderer Weise auch der Gegenwart. Es gilt, den tiefgreifenden Transformationsprozess des protestantischen Christentums in der Moderne exemplarisch zu beleuchten. Nicht zuletzt wird der gesellschaftspolitische Beitrag des Protestantismus mit Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur Zeit nach der Wiederverei-nigung betrachtet. Dazu werden die in der alten Bundesrepublik engagiert ge-führten Kontroversen um Wiederbewaffnung, Wirtschaftsordnung und Sozial-staat, Ehe- und Familienbilder, Ökologie und Frieden in den Blick genommen. Sie wurden rasch zu zentralen Selbstverständigungsdebatten der jungen Bundes-republik. Protestanten haben sich an ihnen mit großem Deutungs- und Gestal-tungswillen beteiligt. Welchen Einfluss hatte der Protestantismus in diesen Kon-

1 Näheres zum Forschungsprogramm siehe in: Christian Albrecht und Reiner Anselm: Zur Erforschung des Protestantismus in den ethsichen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, in: Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, hg. von Dens., Tübin-gen 2015, S. 3–12.

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troversen? Welche Rückwirkungen auf seine Gestalt und sein Selbstverständnis sind zu registrieren?

Ethische Debatten entstehen aus Anlass konkreten politischen Entschei-dungsbedarfs und sie münden in politische Entscheidungen. Die großen Debat-ten der Nachkriegszeit um Frieden und Freiheit, um Ehe und Familie, um soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Umwelt, in denen kontroverse ethische Posi-tionen im Streit lagen, waren immer auch begleitet von der Frage, wie die jewei-lige Position in konkrete politische Einflussnahme umgemünzt werden konnte. Wie alle an den Debatten Beteiligten zielten auch die protestantischen Akteure nicht nur auf Meinungsbildung, sondern auf Mehrheitsbildung und strebten an, die eigene Position sowie auch die eigenen legitimen Interessen möglichst weit-gehend in die jeweilige Gesetzgebung einfließen zu lassen.

Welche Argumentationsmuster und Begründungsfiguren aber lassen sich in diesen Auseinandersetzungen identifizieren? Zur Signatur protestantischer Stel-lungnahmen gehört der auffällig häufige und auffällig emphatische Rekurs auf den Verantwortungsbegriff – auf diejenige Verantwortung, die mit dem Ein-treten für diese oder jene Position wahrgenommen werde. Ein solcher Rekurs auf Verantwortung kann, der Vielstelligkeit des Verantwortungsbegriffes ent-sprechend, ganz unterschiedlich konkretisiert werden. Protestantische Akteure können beispielsweise für sich in Anspruch nehmen, aus Verantwortung für den ihnen übertragenen Auftrag zur evangeliumsgemäßen Gestaltung der Welt zu handeln oder aus Verantwortung für den ihnen übertragenen Schutz der Schwa-chen – oder auch aus Verantwortung für die gesellschaftliche Rolle der Kirche. Die Instanzen, vor denen sie sich in ihrer Verantwortung rechenschaftspflichtig fühlen, sind vielfältig: Sie nehmen für sich in Anspruch, aus Verantwortung vor Gott oder vor den Menschen, vor der Geschichte oder vor der Zukunft, vor dem eigenen Glauben oder der eigenen theologischen Tradition zu handeln. Verant-wortungsgefühl begründet unterschiedliche Formen des Agierens – Protest und Mobilisierung ebenso wie die konstruktive Suche nach dem Kompromiss; Auf-klärung und Bildung ebenso wie Selbstreflexion und Selbstkritik. Und das Sub-jekt der protestantischen Verantwortung kann ebenso sehr das protestantische Individuum sein wie die Kirche wie auch der Protestantismus als gesellschaft-liche Kraft.

Dieser Band präsentiert eine Vermessung der politischen Einfluss suchen-den protestantischen Beteiligung an ethischen Debatten aus Verantwortung. Der erste Teil enthält vierzehn Fallstudien aus der Feder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschergruppe, die aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven konkrete Vorgänge rekonstruieren und interpretieren. Sie behan-deln Formen verantwortungsgeleiteter politischer Stellungnahme, konkrete Themenfelder und Gegenstandsbereiche sowie argumentative Muster. Der zweite Teil enthält in Gestalt von vier Ausblicken systematische Interpretatio-nen, die die Projektleiter und Projektleiterinnen aus den Perspektiven ihrer je-

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weiligen Fächer zur Diskussion stellen. Vorab sei hier ein kurzer Überblick gegeben.

2. Zu den Fallstudien

Die Fallstudien beginnen damit, dass sie unterschiedliche Formen von Versu-chen politischer Einflussnahme in den Blick nehmen und die dahinterstehenden Inanspruchnahmen von Verantwortung rekonstruieren.

Die Theologin Lydia Lauxmann setzt ein an einem exemplarischen histori-schen Punkt, an dem die Repräsentanten des kirchlichen Protestantismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit registrierten, dass ihnen politische Verantwor-tung zugeschrieben wurde. Sie rekonstruiert die Debatte, die sich in der Bun-desrepublik an das Interview anschloss, das der damalige hessen-nassauische Kirchenpräsident Martin Niemöller im Dezember 1949 der New York Herald Tribune gab und in dem er pointierte politische Positionen vertrat. Lauxmann deutet die historischen Befunde systematisch aus, indem sie die innerprotestan-tische Formierung zu einer zielgerichteten politischen Einflussnahme als Ver-schränkung von inneren und äußeren Erwartungen an das Verantwortungsbe-wusstsein interpretiert.

Der Beitrag des Historikers René Smolarski befasst sich anhand eines ausge-wählten Beispiels, nämlich der Entstehungsgeschichte des Betriebsverfassungs-gesetzes 1952, mit den direkten Einflusswegen protestantischer Akteure auf die Ausgestaltung des Arbeitsrechtes. Dabei versucht der Beitrag den Weg nach-zuzeichnen, der zu den bis heute gültigen Ausnahmeregelungen für die »Re-ligionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen« (BetrVG) führte. Die protestantischen Vertreter führten für ihren Sonderweg eine spezifische Mischung von Argumenten an: So beriefen sie sich auf den be-sonderen Charakter der Arbeitsbeziehungen in kirchlichen Einrichtungen. Hinzu kam, dass eine Regelung, die allein das Gebiet der Bundesrepublik be-troffen hätte, die zu diesem Zeitpunkt noch bestehende gesamtdeutsche kirch-liche Einheit gefährdet hätte. Zudem hätte eine solche Regelung in der DDR ein Einfallstor für dortige staatliche Eingriffe in die dortigen kirchlichen Ein-richtungen geboten. Der Aufsatz richtet die Aufmerksamkeit auch auf die Art und Weise, wie die Kirchen- und Diakonievertreter ihre Interessen einbrachten. Dabei fällt ins Auge, dass die Kommunikation in der Regel vertraulich und un-ter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Kirchenvertreter in der staatlichen Verwaltung aber auch auf Ansprechpartner stießen, die aus eigener (religiöser) Überzeugung die Anregungen der Kirchen aufgriffen und in den legislativen Prozess einbrachten. So zeigt sich an diesem Beispiel deutlich, dass der Protestantismus gerade vor dem Hintergrund der po-litischen Rahmenbedingungen der frühen 1950er Jahre in besonderem Maße in

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ein Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Verantwortung und institutio-nellem Eigeninteresse eingebunden war.

Auch von den Ende der 1970er Jahre geplanten politischen Maßnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen waren die evangelischen Kirchen als Träger zahlreicher kleiner Krankenhäuser unmittelbar betroffen. Zusätzlich al-lerdings befürchteten sie die gesellschaftlich negativen Folgen, die daraus resul-tierten, dass kleinere Krankenhäuser in freigemeinnütziger Trägerschaft generell in die Abhängigkeit von Krankenkassen gerieten und unrentable stationäre Ver-sorgungen von gesetzlich Versicherten möglicherweise würden einstellen müs-sen. Im Beitrag der Historikerin Luise Poschmann geht es um die Frage nach Art und Umfang der Beteiligung von Diakonievertretern an sozialpolitischen Grundsatzentscheidungen in der Bundesrepublik. Exemplarisch wird hier die Diskussion um das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz im Jahr 1977 betrachtet, das als erstes gesundheitspolitisches Spargesetz seit der Grün-dung der Bundesrepublik einen wichtigen Wendepunkt der bundesdeutschen Sozialstaatsgeschichte nach der Boomphase des »Wirtschaftswunders« markiert. Das Reformvorhaben stellte die Krankenhäuser in evangelischer Trägerschaft – zu diesem Zeitpunkt 8 % aller westdeutschen Krankenhäuser – vor existenzielle Probleme, da die spezifischen Finanzierungs- und Organisationsstrukturen der evangelischer Träger nicht berücksichtigt wurden. Mit unterschiedlichen Ak-tionen versuchten Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes, des Diakonischen Werkes und der EKD, öffentliche Aufmerksamkeit für die Lage der Kliniken in freier Trägerschaft zu erlangen. Sie fürchteten um die weitere Existenz dieser Häuser und setzten sich für eine Viel-falt in der stationären Versorgungslandschaft ein. In ihrem Beitrag untersucht die Autorin die mediale Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aktionen, die ganz unterschiedlichen Widerhall in Tageszeitungen, Fachzeitschriften und der aktuellen evangelischen Presse gefunden haben. Auch wenn teilweise ein Scheitern der öffentlichen Wirkung evangelischer Proteste zu konstatieren ist, haben die Proteste trotz einem mitunter eher geringen Medienecho doch nach-weislich politische Wirkung entfaltet.

Philip Smets, selbst Politikwissenschaftler, stellt mit dem Politikwissen-schaftler Klaus von Schubert einen individuellen Akteur in den Mittelpunkt der Analyse. Von Schubert, zunächst als Offizier, dann als Wissenschaftler tätig, war einer der maßgeblichen Autoren des sicherheitspolitischen Paradigmenwan-dels hin zum Konzept »Gemeinsame Sicherheit«, mit dem in den 1980er Jahren das Abschreckungsdenken der bipolaren Blockkonfrontation überwunden wer-den sollte. Smets kann zeigen, wie von Schubert (der ab 1984 bis zu seinem Tod 1989 die Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg leitete) durch sein politisches, wissenschaftliches und kirchliches Engagement als »Schnittstellenakteur« in verschiedenen Foren den Strategiewechsel beförderte. Seine Motivation entsprang der Überzeugung, dass eine verantwortungsvolle

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Realpolitik das Mögliche ins Auge zu fassen und Politik gestaltend zu sein habe. In protestantischen Kontexten formulierte von Schubert noch deutlicher, dass ein Bejahen der Verantwortung der Kirche in der Welt die ethische Grundlage für sein sicherheitspolitisches Wirken darstelle.

Die letzten beiden Aufsätze im ersten Teil thematisieren in unterschiedlicher Weise das Problem der Reichweite von Verantwortung. Der Theologe Michael Greder geht am Fallbeispiel der Argumentation des Protestanten und SPD-Ab-geordneten Wolf-Michael Catenhusen in der Gentechnikdebatte rund um die Einsetzung der Gentechnik-Enquete der Frage nach, wie das Bewusstsein von den Grenzen sicheren Wissens um die Handlungsfolgen politischer Entschei-dungen zu einer Ausdehnung von Verantwortung führt – zeitlich wie inhaltlich. Verantwortung ist nicht mehr nur ein Akt punktueller Verantwortungsüber-nahme, sondern wird mehr und mehr zu einem Habitus, zur selbstreflexiven und selbstkritischen Einsicht in die Notwendigkeit, Verantwortung auch dort über-nehmen zu müssen, wo die Folgen des Handelns sich sicherem Wissen entzie-hen. Die Fragen nach den Gründen und Kriterien für verantwortliche Entschei-dungen und das Problem der Rechtfertigung des handelnden Menschen stellen sich angesichts massiv ausgedehnter Reichweiten der Entscheidungen in einer neuartigen Weise.

Die Theologin Katharina Herrmann geht einem weiteren Grenzfall protes-tantischen Verantwortungsbewusstseins nach. Am Beispiel des Neuen Geistli-chen Liedes, genauer: am Beispiel des ökumenischen Liederbuches »Schalom« von 1971, untersucht sie die Funktion des geistlichen Liedes als eines Mediums politischer Bewusstseinsbildung. Das Verantwortungsgefühl, das hier geweckt werden soll, entsteht nicht durch förmliche Argumentationen, sondern übt sich in einer performativen Weise ein. Vor allem aber richtet es sich nicht auf mehr oder weniger begrenzte politische Entscheidungsprozesse, sondern auf das Ganze der Welt. »Gesungene Willensbildung« zielt also auch auf einen Habitus der Verantwortung, nämlich auf die Schärfung der Sensibilität für die Bedeu-tung von Großbegriffen wie »Schöpfung«, »Frieden« oder »eine Welt«.

Eine zweite Gruppe von Fallstudien widmet sich spezifischen Gegenstands-bereichen, in denen protestantische Akteure in konkreter Weise an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen: zur Regulierung der Flüchtlingsintegra-tion und der demographischen Entwicklung, zur Bewältigung der Umweltpro-blematik und der Energieversorgung.

Der Beitrag des Historikers Jonathan Spanos untersucht am Beispiel des Flüchtlingsbeirats der EKD die Einflussnahme des Protestantismus auf die bundesrepublikanische Flüchtlingspolitik in den 1950er und 1960er Jahren. Er zeigt auf, wie bei den flüchtlingspolitischen Positionierungen eigene institutio-nelle Interessen und advokatorisches Eintreten für die SBZ/DDR-Flüchtlinge miteinander verbunden sein konnten. Und er macht deutlich, dass je nach po-litischen und personellen Konstellationen nicht nur religiöse Akteure die Un-

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terstützung politischer Akteure suchten, sondern auch umgekehrt politische Amtsträger die Kirchen zur Stärkung ihrer Interessen heranzogen.

Der Historiker Marius Heidrich zeichnet die Debatte nach, die sich an eine Stellungnahme der EKD aus dem Jahr 1978 zu den abzusehenden dramatischen Folgen des Bevölkerungsrückgangs für die Rentenlast anschloss. Im März 1978 veröffentlichte die Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für so-ziale Ordnung einen Kommentar, der mahnend zu einer »Neubesinnung über die menschliche Selbstverwirklichung« unter Verweis auf die bundesdeutsche Ent-wicklung der Geburtenziffer und deren Folgen für die Rentenlast aufrief. Der Kommentar »Bevölkerungspolitik und Rentenlast« löste bei seinen evangelischen Leserinnen und Lesern eine Welle der Empörung aus. In einem Vergleich der so-zialpolitischen bis ethischen Argumentationsmuster zeigt der Aufsatz, wie der Appell der Sozialkammer zur Steigerung der Geburten im Sinne einer gerechten Sozialpolitik auf der einen Seite, und der Widerstand der Rezipientinnen und Re-zipienten zum Schutze des Kindes – das sich nicht unter volksökonomische Nut-zenerwägungen stellen ließe – auf der anderen Seite charakteristisch für die bun-desdeutschen Debatten über Bevölkerungs- und Familienpolitik der 1970er Jahre gewesen sind. Gerade die vielfältigen und über breite gesellschaftliche Milieus ge-fächerten Kritiken des Bevölkerungskommentars deuten auf eine grundlegende Argumentationsverschiebung hin. Sowohl der Eigenwert des Kindes als auch die globale Zunahme der Bevölkerung wurden als Gründe für eine notwendige ge-gensätzliche Reflexion bevölkerungsethischer Gesinnungen angeführt. Zugleich war der Kommentar das Ergebnis einer neuen Form der gesellschaftspolitischen Stellungnahme, die schnell in kleinen Kommissionen für die Sozialkammer der EKD erarbeitet werden sollten. In dieser Hinsicht untersucht der Beitrag auch ein neues Format politischer Einflussnahme.

Die Theologin Anne Friederike Hoffmann widmet sich den ab 1973 instal-lierten kirchlichen Umweltbeauftragten und ihrer Bedeutung innerhalb der ein-zelnen Landeskirchen wie auch für die EKD. Sie beleuchtet beabsichtigte und re-alisierte Formen unmittelbarer Einflussnahme auf die Umweltpolitik. Vor allem aber konturiert sie das Rollenprofil kirchlicher Politik-Experten: sie werden als Repräsentanten für das Thema Umweltschutz aufgebaut und wahrgenommen. Zugleich verstehen sie ihre Aufgabe als kirchlich gebundene Sachexperten darin, Moderatoren zwischen verschiedenen Interessengruppen und Konfliktparteien zu sein.

Um die Rolle und Funktion kirchlicher Repräsentanten geht es auch in dem Beitrag des Theologen Tim Schedel. Er vergleicht das Agieren dreier prominen-ter protestantischer Mitglieder der 1978 eingesetzten Enquete-Kommission »Zu-künftige Kernenergiepolitik«, die die kontroversen politischen Entscheidungen zur Energiepolitik vorbereiten sollte. Schedel fragt nach der Sichtbarkeit und dem Selbstverständnis der Akteure als Mandatare des Protestantismus und ih-rem Rollenbild als Politikberater. Deutlich zeigen sich dabei unterschiedliche

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Strategien der Umsetzung religiös-weltanschaulicher Voraussetzungen in der Beratung und vor allem in der Beteiligung an der Suche nach Kompromissen.

Signifikant für das protestantische Verantwortungsbewusstsein auf dem Feld politischer Entscheidungen und in den Versuchen einer politischen Ein-flussnahme ist nicht nur, dass es differenzierten Motivkonstellationen folgt und in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen auf je eigene Weise zum Ausdruck kommt. Kennzeichnend ist auch, dass es in all diesen Formen eine parallele Grundstruktur trägt, nämlich die Bestimmtheit durch Grundspannungen und die Bemühung, diese Spannungen miteinander zu vermitteln.

In dem Beitrag des Theologen Nikolas Keitel steht die Spannung zwischen theologischer und politischer Verantwortung im Mittelpunkt. Er geht aus von der Beobachtung, dass in den protestantischen Stellungnahmen zu jeweils ak-tuellen ethischen Streitfragen stets zugleich das Bemühen erkennbar ist, sich im Medium ethischer Stellungnahme ein Verständnis der eigenen Gegenwart zu erarbeiten und den Ort des Protestantismus in der Gesellschaft zu bestim-men. Keitel zeigt anhand des protestantischen Engagements in zwei gesellschaft-lich höchst kontrovers geführten friedensethischen Auseinandersetzungen (um die nukleare Aufrüstung in den 1950er Jahren und um den Nato-Nachrüs-tungs-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren), inwiefern es sich hier zugleich um Selbstverständigungsdebatten handelte. Stets ging es hier darum, wie die Unter-scheidung zwischen Religion und Politik durchgehalten werden konnte, ohne auf der einen Seite einer Überhöhung des Politischen bei gleichzeitiger Selbst-marginalisierung des Religiösen zu verfallen oder auf der anderen Seite mit der Überbetonung der gesellschaftlichen Distanz der Religion einer Desavouierung des Politischen im Christentum das Wort zu reden.

Die Theologin Nicola Aller greift die Notwendigkeit einer Vermittlung von Traditionsbezug und Gegenwartsorientierung auf, die alle ethischen Stellung-nahmen des Protestantismus mitbestimmt, und zeichnet diese nach im Rin-gen der EKD um das Ehe- und Familienbild sei den frühen 1970er Jahren. Der massive gesellschaftliche Wandel in den Auffassungen von Ehe, Partnerschaft, Sexualität und Familie ist für den Protestantismus deswegen eine besondere Her ausforderung, weil die Spannung zwischen dem Interesse, die ordnenden Potentiale der Tradition in die Debatten einzuspielen, und dem Interesse, sich als gegenwartsoffene Kraft zu präsentieren, extrem stark wird. Aller greift über den Untersuchungszeitraum der alten Bundesrepublik weit hinaus und kann am Beispiel der Ehe- und Familienthematik exemplarisch zeigen, dass die innerpro-testantischen Konfliktkonstellationen weitreichende, interne und prinzipielle Vorgeschichten haben. So sind, wie sie zeigt, die überraschend heftigen Kontro-versen um die 2013 unter dem Titel »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit« erschienene Orientierungshilfe der EKD zur Familienthematik nachvollziehbar nur vor dem Hintergrund des auf Dauer gestellten prinzipiellen Streits um das Verhältnis von Überlieferungsanspruch und Gegenwartsinteresse.

Aus Verantwortung

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Ein dauerhaftes Problem liberaler Gesellschaften ist die Konkurrenz zwi-schen der Orientierung an Individualrechten einerseits und Gemeinwohlinte-ressen andererseits. Protestantische Stellungnahmen zu ethischen Streitfragen lassen diese Spannung in besonderer Weise erkennen – steht doch die religiöse Tradition des evangelischen Christentums gleichermaßen dafür, Anwalt des Einzelnen zu sein wie Sachwalter gemeinschaftsstabilisierender Lebensordnun-gen. Der Jurist Johannes Noltenius geht dieser Entgegensetzung nach in der Re-konstruktion der argumentativen Funktionen, die der protestantische Rekurs auf die Menschenwürde in den Debatten um die Reform des Strafvollzuges in der alten Bundesrepublik gewonnen hat.

Protestantische Stellungnahmen zu ethischen Debatten sind immer auch gekennzeichnet dadurch, dass in ihnen eine anwaltschaftliche Verantwortung übernommen werden soll für die Schwachen, dass in ihnen der Verkündigungs-auftrag des evangelischen Christentums eingelöst wird und dass, zur langfris-tigen Umsetzbarkeit dieser Aufträge, legitime Eigeninteressen der kirchlichen Organisation vertreten werden. Allerdings vollzieht sich die gleichzeitige Rück-sichtnahme auf diese drei Aufgaben kaum reibungslos. Die Theologin Annette Haußmann zeichnet dies nach am Beispiel der innerprotestantischen Ausein-andersetzungen um die Privatisierung des Rundfunks und die entsprechenden evangelischen Voten. In der Ausmittlung der drei antagonistischen Momente schwingt nicht zuletzt das Motiv mit, Möglichkeitsbedingungen protestanti-scher Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten auch unter komplexer werden-den kommunikativen Bedingungen auszuloten.

3. Zu den Anschlussperspektiven für die beteiligten Perspektiven

Im zweiten Teil des Bandes werden in kurzen Ausblicken Interpretationen der Fallstudien aus zeithistorischer, politikwissenschaftlicher, juristischer und theo-logischer Perspektive präsentiert, die sich den Strukturen der Verantwortung widmen. Hervorzuheben ist, dass sich aus der jeweiligen Fachperspektive unter-schiedliche Zusammenhänge und Zusammenordnungen der einzelnen Fallstu-dien ergeben. Die Ausblicke weisen zudem den Weg, die Ergebnisse der interdis-ziplinären gemeinsamen Arbeit der Forschergruppe in die jeweiligen fachspezi-fischen Debatten einzuspeisen und für diese fruchtbar zu machen.

Den Anfang macht der zeithistorische Ausblick von Christiane Kuller und Claudia Lepp. Ihr Interesse gilt Reflexionsformen, Inhalten, institutionellen und informellen Kanälen und der Dynamik des protestantischen Engagements in den Arenen des Politischen. Sie stellen dabei die Staatsnähe des Protestantismus und seine institutionelle Verflochtenheit mit den Parteien heraus, was weitge-hende Möglichkeiten des informellen und nichtöffentlichen Einflusses eröffnete.

Christian Albrecht und Reiner Anselm

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Zudem registrieren sie, dass der Protestantismus sich seit den 1960er Jahren auf die zeitgenössischen Debattenlagen auch darin einstellte, dass die Bedeutung von sachlicher Expertise anerkannt wurde und dass vermehrt die Debattenorte in den zivilgesellschaftlichen Arenen bespielt wurden, teilweise in der Verbindung mit Akteuren der neuen sozialen Bewegungen.

Der Ausblick des Politikwissenschaftlers Andreas Busch systematisiert die Fallstudien hinsichtlich der agierenden Personen, der Foren der Aushandlung, der zur Einflussnahme eingesetzten Ressourcen und der Adressaten. Er deutet die Versuche einer solchen protestantischen Einflussnahme auf konkrete poli-tische Entscheidungen und das erfolgreiche Gehör, das diese Versuche teilweise fanden, vor allem als Tausch zwischen Einfluss und Unterstützung. Zudem iden-tifiziert er Randbedingungen des Erfolges wie zum Beispiel größtmögliche Kon-kretion der Forderungen, der Adressaten usw. sowie den privilegierten Zugang zum politischen System.

Hans Michael Heinig richtet in seinem rechtswissenschaftlichen Ausblick die Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen, die die staatsrechtlichen Einschät-zungen politischer Wirksamkeit der Kirchen in der Bonner Republik nahmen. Vollzogen die Kirchen selbst, wie die Fallstudien des Bandes zeigen, im Laufe der Zeit einen Wandel des Selbstverständnisses, indem die Beanspruchung eines »Wächteramtes« mehr und mehr einem Rollenverständnis wich, dem zufolge die Kirchen sich als Akteur im Zusammenhang der breiteren neuen sozialen Bewe-gung verstanden, so lassen die Entwicklungen der staats- und verfassungsrecht-lichen Einschätzungen eine notierenswerte Parallelität erkennen: Positionen, die der Kirche eine Sonderstellung innerhalb der politischen Willensbildungspro-zesse zuzugestehen bereit waren, etwa in der Koordinationslehre, machten im Laufe der Zeit zunehmend der Auffassung Platz, dass die Beteiligung der Kir-chen in dem vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmen zu erfolgen habe.

Im theologischen Ausblick stellen Christian Albrecht und Reiner Anselm zu-nächst fest, dass aus der Sicht der gegenwärtigen Bemühungen des Protestan-tismus, politisches Gehör zu finden, die Selbstverständlichkeit auffällig ist, mit der protestantische Akteure in der alten Bundesrepublik politischen Einfluss zu nehmen suchten – und Einfluss nehmen konnten. Sie rekonstruieren die histo-rischen Ursachen für diese Selbstverständlichkeiten, die eingespielten Strategien ihrer Umsetzung und die Gründe für den allmählichen Verlust dieser Selbstver-ständlichkeiten. In dem Maße, in dem die kirchliche Bindung der Bürger und Bürgerinnen sank und die Kirche sich mehr und mehr als eine unter vielen In-teressengruppen der Gesellschaft verstehen musste, stieg die Notwendigkeit, das eigene Selbstverständnis als gesellschaftliche Kraft immer stärker über konkrete inhaltliche Positionen aufzubauen.

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I. Formen der Verantwortung

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Angenommene Verantwortung

Wie die EKD registriert, dass sie politisch Einfluss nimmt

Lydia Lauxmann

»Glauben Sie, daß die meisten Deutschen bereit sein würden, für die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland den Preis eines kommunisti-schen Regiments zu zahlen?«

Frage an M. Niemöller von M. Higgins (New York Herald Tribune), 13.12.1949.

»Warum stellen Sie diese Frage an einen Kirchen-mann? Fragen Sie doch einen Politiker.«

Bischof Haug in der FAZ, 27.12.1949.

Schon in den Anfangsjahren der Bundesrepublik begann ein Prozess, in dem der Protestantismus seine Wege politischer Einflussnahme zunehmend struk-turierte und kanalisierte. Aus weitgehend unkontrollierten Einflüssen auf öf-fentliche und politische Debatten, wie sie in den 1950er Jahren zu beobachten waren, wurde mehr und mehr ein geordnetes und koordiniertes Vorgehen, das zur Voraussetzung für spätere gezieltere politische Einflussnahmen seitens des Protestantismus wurde.

Drei stets ineinander verschränkte Gesellschaftsbereiche prägten diesen Ent-wicklungsprozess unmittelbar und waren zugleich von ihm betroffen: 1. die Po-litik, 2. die Öffentlichkeit und 3. der Protestantismus selbst. Alle drei Bereiche waren und sind in sich vielschichtig, fluide und überschneiden einander. Sie ge-nerieren Bilder vom ›Protestantismus‹ und seiner Beteiligung am ›politischen Apparat‹, die mit bestimmten Erwartungen an protestantisches Agieren verbun-den sind.

Diese Bilder waren ein zentraler Motor des geschilderten Prozesses. Der Weg des Protestantismus hin zu stärker zielgerichteter politischer Einflussnahme wurde durch Selbst- und Fremdbilder sowie durch interne und externe Erwar-tungshaltungen geformt. Er führte zur Ausgestaltung und Transformation in-nerprotestantischer Strukturen, die es erlauben, professionell und wirksam in Politik und Öffentlichkeit zu agieren.

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1. Das Niemöller-Interview als Kristallisationspunkt

Ein Punkt, an dem der geschilderte Prozess exemplarisch greifbar wird, ist ein Interview mit Martin Niemöller zur Jahreswende 1949/50. Kursierende Protes-tantismus-Bilder und konfligierende Erwartungshaltungen verdichteten sich im Streit um dieses Interview mit der New York Herald Tribune.

1.1. Der Sturm der Entrüstung

Das Niemöller-Interview provozierte allein in der Frankfurter Allgemeinen Zei-tung (FAZ) in den folgenden 10 Monaten rund 30 Berichte.1 Die Wochenzeitung Christ und Welt (CuW) versuchte nach ausführlichen Kommentaren die Dis-kussion zu beenden, wurde aber von ihren Leserinnen und Lesern zu weiteren Beiträgen gedrängt. Die Stimme der Gemeinde witterte Aversionen gegen die evangelische Kirche im Allgemeinen und holte zur Verteidigung aus.

Neben diese Reaktionen der medial vermittelten Öffentlichkeit traten auch solche aus der Politik: Die Auseinandersetzung fand Eingang in die Kabinettssit-zungen der Bundesregierung.2 Bundeskanzler Konrad Adenauer trat in briefli-chen Kontakt mit Martin Niemöller und seinem protestantischen Innenminister Gustav Heinemann.3 Noch drei Monate später war das Interview Thema beim offiziellen Gespräch zwischen CDU/CSU und EKD.

Die rapide einsetzende publizistische und politische Aufmerksamkeit provo-zierte ihrerseits erneut protestantisch-kirchliche Reaktionen und Stellungnah-men. So äußerten sich einzelne Protestantinnen und Protestanten, Bischöfe, Sy-noden und der Bruderrat in der Angelegenheit. Die allgemeine Suche nach einer verbindlichen Stellungnahme der evangelischen Kirche zwang schließlich den Rat der EKD zu einer Erklärung.

Diese Auseinandersetzungen im Anschluss an das Niemöller-Interview sol-len auf die mitgeführten Bilder vom Protestantismus und seiner Beteiligung an der Politik hin befragt werden, um sichtbar zu machen, wie diese Bilder dazu beigetragen haben, dass der Protestantismus seine Einflusswege auf den poli-

1 Berichte über christlich-religiöse und kirchliche Themen waren in den 1950ern insgesamt in der Presse sehr präsent (vgl. Nicolai Hannig: Von der Inklusion zur Exklusion? Die Me-dialisierung und Verortung des Religiösen in der Bundesrepublik Deutschland (1945–1970), in: Kirche, Medien, Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutun-gen seit 1945, hg. von Frank Bösch und Lucian Hölscher, Göttingen 2009, S. 33–65, hier: S. 33–45). Nicht, dass im »Fall Niemöller« berichtet wurde, ist auffällig, sondern die Dichte der Berichte und ihre zeitliche Streuung über mehrere Monate hinweg.

2 Vgl. Hans Booms (Hg.): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 2: 1950, Boppard am Rhein 1984, S. 118, S. 149 f.

3 Der Briefwechsel befindet sich in: AdsD NL Heinemann I/23; AdsD NL Heinemann I/24.

Lydia Lauxmann

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tischen Bereich zu koordinieren begann.4 Der Fokus liegt dabei auf der Ebene der EKD,5 ohne dass andere kirchliche Strukturen und individuelle Akteurin-nen und Akteure ausgeblendet werden. Zunächst aber gilt es den Kontext zu ver-stehen: Wie konnte das Interview einen so heftigen und langanhaltenden Sturm der Entrüstung auslösen?

1.2. Das Interview

Aufsehenerregend waren zunächst die von Niemöller vertretenen politischen Positionen. Fast schon ein geflügeltes Wort ist sein Ausspruch über die junge Bundesrepublik geworden: Sie sei »empfangen im Vatikan und geboren in Was-hington«6. Noch größeres Unbehagen riefen seine Aussagen über die Bedeu-tung der Einheit Deutschlands hervor.7 Er vertrat diesbezüglich gleich mehrere außergewöhnliche politische Positionen: Niemöllers Vorschlag, zur Sicherung des Friedens Gesamtdeutschland durch UNO-Truppen zu besetzen, griff eine im politischen Bereich ausschließlich von der SPD eingenommene Position auf. Sein Gedanke, auch ein kommunistisches Deutschland wäre möglich, wider-sprach der sich durchsetzenden Westorientierung. Derartige Sichtweisen passten schon in den frühen 1950er Jahren nicht in den Rahmen des im Sinne der politi-cal correctness noch Sagbaren.8 Niemöllers politische Positionierungen konnten antikatholisch, antiwestlich, prokommunistisch und letztlich antidemokratisch verstanden werden.

4 Die vorgenommene Unterscheidung der Bereiche Politik, Öffentlichkeit und Protestan-tismus erscheint zu Analysezwecken sinnvoll, obwohl deutlich ist, dass die drei Bereiche weder in sich selbst noch in ihrem Verhältnis zueinander monolithisch feststehende Größen sind.

5 Dafür spricht neben der Operationalisierbarkeit vor allem, dass die EKD ihrer Grund-ordnung zufolge sich selbst als Vermittlungsinstanz zwischen Protestantismus, Öffentlichkeit und Politik sieht (vgl. Art. 19, Grund-Ordnung der EKD: https://www.kirchenrecht-ekd.de/document/3435#s1.100027; letzter Aufruf 20. Februar 2019).

6 Der Text des Interviews ist abgedruckt in: Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch. Für die Evangelische Kirche in Deutschland 1949, Gütersloh 1950, S. 240 f., hier: S. 241.

7 Das Interview analysieren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges Martin Greschat: »Er ist ein Feind dieses Staates!«. Martin Niemöllers Aktivitäten in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 114 (2003), S. 333–356, hier: S. 343 f.; im Blick auf die Einheit Michael Heymel: Martin Niemöller. Vom Marineoffi-zier zum Friedenskämpfer, Darmstadt 2017, S. 197–201; sowie unter Betonung der Wirkung auf Öffentlichkeit, EKD und Heinemann Diether Koch: Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972, S. 109–118. Vgl. auch Dietmar Schmidt: Martin Niemöller. Eine Biographie, Stuttgart 1983, S. 204–207.

8 Vgl. Johanna Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundes-republik 1949–1956, Göttingen 1978, S. 80–82; Koch: Heinemann, 1972, S. 114–118. Schon 1950 wurden westliche »Sprachregelungen« moniert: Nochmals: Das Niemöller-Interview. Untertöne in der Kritik an Niemöller, in: CuW vom 02. Februar 1950, S. 9–11; Die General-linie, in: Die Stimme der Gemeinde vom Februar 1950, S. 9.

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Ein weiterer Grund für die Aufregung um das Interview war der Sprecher selbst. Niemöller gehörte zu den bekanntesten protestantischen Persönlichkei-ten der Nachkriegszeit. Aufgrund seiner ›lupenreinen Vergangenheit‹ während zweier Weltkriege avancierte er bald zur protestantischen Symbolfigur.9 Unge-achtet seiner starken institutionellen Vernetzung in der evangelischen Kirche – sowohl in der EKD als auch in den Bruderschaften – konstruierte Niemöl-ler sich immer wieder als evangelischer Solist, der unabhängig von der Kirche agiert. Die Zusammenfassung des Interviews sprach mehrere Ebenen an. Nie-möller selbst beteuerte, als Privatperson, nicht als kirchlicher Amtsträger ge-sprochen zu haben.10 Zwar scheinen die Zitate Niemöllers in dem Interview das zu bestätigen, die Journalistin aber bezeichnete ihn stets als »Pastor Niemöller« und somit als Amtsträger der evangelischen Kirche. Zusätzlich wurde er an einer Stelle als ›evangelischer Führer‹ betitelt und damit als herausgehobene Person an der Spitze des Protestantismus dargestellt. In der Meldung über das Interview erschien Niemöller so zugleich als Privatperson, als kirchlicher Amtsträger und als öffentlicher Repräsentant des Protestantismus.

Es ist anzunehmen, dass die ambivalente Behandlung der Stellung Niemöl-lers im Protestantismus und seine randständigen politischen Ansichten gerade in Kombination dazu beigetragen haben, in der folgenden Debatte die Frage vi-rulent werden zu lassen, ob hier die evangelische Kirche in Gestalt eines hohen Amtsträgers gesprochen habe oder Niemöllers private Meinungsäußerungen vorlägen. Steht mit Niemöller ein einzelner »Protestant« oder gar die gesamte evangelische Kirche am Rand des politisch Sagbaren? Und inwiefern sollte die Kirche in politischen Angelegenheiten überhaupt das Wort ergreifen?

9 Dieses Bild Niemöllers, wie es in der Nachkriegszeit verbreitet war, fußte freilich, so ha-ben neuere Studien gezeigt, vor allem auf der starken geschichts- und erinnerungspolitischen Aktivität seiner Freunde und seines Bruders Wilhelm Niemöller, der Kirchenhistoriker war. Zur Entstehung des internationalen Blickes auf Martin Niemöller, der ihn schon vor Kriegs-ende als Figur des deutschen Widerstands erscheinen ließ, vgl. Katharina Kunter: Vom »Concentration Camp Hero« zum »Neuen Kreisau«. Erinnerungskultur und Widerstandsre-zeption in internationaler Perspektive, in: Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945, hg. von Siegfried Hermle und Dagmar Pöpping, Göttingen 2017, S. 53–73, hier: S. 62–64; sowie zur Rolle von Wilhelm Niemöller: Robert P. Ericksen: Wilhelm Niemöller and the Histo-riography of the ›Kirchenkampf‹, in: Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Ent-wicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, hg. von Manfred Gailus und Hartmut Lehmann, Göttingen 2005, S. 433–451. Vgl. auch Christiane Kuller: Evangelischer Wi-derstand in der Erinnerungskultur nach 1945, in: Hermle und Pöpping: Verklärung, 2017, S. 331–337, hier: S. 333.

10 So auch in den folgenden Debatten vgl.: Hans Meiser: Mitschrift über die Ratssitzung in Halle vom 16.–18. Januar 1950, ohne Datum, Auszug in: Die Protokolle des Rates der Evan-gelischen Kirche in Deutschland 4, bearbeitet von Anke Silomon, Göttingen 2007, S. 88–94, hier: S. 90. Vgl. zu Niemöllers Selbstinszenierung als Privatperson Greschat: Feind, 2003.

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Neben der Beschäftigung mit den konkreten politischen Aussagen und ihrer Realitätsnähe bzw. -ferne war dieser Fragekomplex Gegenstand der Kontrover-sen. Für die Klärung der Vorstellungen vom Protestantismus in der Politik und der sich daraus ergebenden Dynamik rücken sie ins Zentrum der Betrachtung.

2. Mediale Kontroversen – der Protestantismus im öffentlichen Blick

Die Bilder des Protestantismus wurden maßgeblich in den zwischen Protestan-tismus und Öffentlichkeit ausgetauschten Erwartungshaltungen geprägt. Es gilt daher, zuerst für diesen Bereich zu fragen: Welche Verbindung von kirchlichem, individuellem und gesellschaftlichem Engagement des Protestantismus wurde von den Zeitgenossen beobachtet? Welches erwartet? Und welche protestanti-sche Beteiligung im politischen Bereich war gewünscht?

2.1. Wer ist der Protestantismus?

Fragt man nun zunächst, wer durch die Berichterstattung als protestantische Akteurin oder Akteur in den Blick kam, so ergibt sich ein ebenso vielschichtiges wie fast ausschließlich auf kirchliche Kreise bezogenes Bild.

Für die Tageszeitungen, denen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik großer Einfluss auf die diskutierten Themen zukam,11 lohnt ein exemplarischer Blick in die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Zwar waren die Beiträge zum Niemöller-Interview überwiegend Berichte, verfolgten also der Gattung entsprechend nicht das Ziel, die Meinung der Redaktion oder der Verfasserinnen und Verfasser wiederzugeben, dennoch lassen die Auswahl der Ereignisse, über die berichtet wurde, und die Zusammenstellung wiedergegebener Meinungen und Zitate, Präferenzen erkennen.

Die Berichte der FAZ nannten fast ausschließlich kirchliche Amtsträger12 und Gremien. Damit gaben sie den Streit um das Niemöller-Interview als eine vor-rangig innerkirchliche Angelegenheit zu verstehen. Gleichzeitig wurde die evan-gelische Kirche ebenso vielschichtig wie diffus gezeichnet. Die Berichte erwähn-ten zahlreiche Personen aus Kirche und Diakonie,13 landeskirchliche Synoden,

11 Vgl. Nicolai Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945–1980, Göttingen 2010, S. 29.

12 Konnten in Berichten oder Gremien nur männliche Handlungsträger ausgemacht wer-den, wird auch grammatikalisch nur die männliche Form verwandt (in Zweifelsfällen erschei-nen beide grammatikalischen Geschlechter).

13 Vorzugsweise Niemöller, Bender, Haug, Dibelius, Gerstenmaier, Lilje, Berger, Ehlers, Grüber, aber auch ein »Laienmitglied« (letzteres einmalig in: Der Mißtrauensantrag abgelehnt, in: FAZ vom 11. Februar 1950, S. 3).

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eine Tagung westdeutscher evangelischer Kirchen, kleinere Zusammenkünfte und den Rat der EKD. Das Bild wirkt darum diffus, weil die Zuordnung der Per-sonen zu den Synoden ebenso undurchsichtig blieb wie die Aufgaben- und Zu-ständigkeitsbereiche der kirchlichen Zusammenkünfte. So wurde beispielsweise Otto Dibelius in dem Bericht über die Tagung des Rates der EKD nicht als Rats-vorsitzender, sondern ausschließlich als Berliner Bischof vorgestellt. Seine Posi-tion im Rat, von dem berichtet wurde, blieb in dem Bericht dadurch unklar.14

Der Sicht auf den Protestantismus als ein wenig einheitliches Gebilde stand auf der anderen Seite das Bedürfnis der Presse gegenüber, herauszufinden, wer verbindlich für den Protestantismus oder die evangelische Kirche sprechen könne. Die gesamte Berichterstattung durchzog die Frage, ob Niemöllers Aussa-gen Meinung der Kirche oder private Stellungnahme waren. Ein Bericht nannte ausdrücklich erfolglose Versuche, hier Klarheit zu schaffen;15 schließlich schien nur der Privatsekretär Niemöllers die Frage zu beantworten.16 Dessen Antwort – es seien private Meinungsäußerungen, allerdings sei Niemöller ja »nicht ir-gendwer« – erschien jedoch ebenso rätselhaft wie unbefriedigend.

Die FAZ hat bei der Darstellung der am Streit beteiligten Akteurinnen und Akteure scharf zwischen kirchlichem und politischem Bereich getrennt. Zum einen wurde die Beteiligung nicht vorrangig kirchlich aktiver Personen an der Auseinandersetzung nur vereinzelt genannt. Zum anderen wurden Personen stets entweder als Funktionäre im kirchlichen oder aber im politischen Bereich aufgefasst. Personen, die in beiden Bereichen agierten und damit auf der Schnitt-stelle zwischen Kirche und Politik standen, wurden nicht als solche markiert. Das traf zum Beispiel auf Diakoniechef Gerstenmaier zu, dessen Karriere in der CDU nicht genannt wurde, und auf den Innenminister Heinemann, dessen Mit-gliedschaft im Rat der EKD keine Erwähnung fand.

Anders hat Christ und Welt (CuW) berichtet. Für den untersuchten Zeitraum war sie die auflagenstärkste politische Wochenzeitung – erst 1963 hat ihr DIE ZEIT diesen Rang streitig gemacht.17 Der Titel der Zeitung deutete das Profil

14 Vgl. Unabhängige Kirche. Die Evangelische Kirche tagt in Halle, in: FAZ vom 20. Januar 1950, S. 3.

15 Interne Kirchentagung. Kirchenpräsident Niemöller anwesend, in: FAZ vom 11. Januar 1950, S. 1.

16 »Nicht in allen Einzelheiten durchdacht«. Niemöllers Vorschlag zur Einheit Deutsch-lands, in: FAZ vom 19. Januar 1950, S. 4.

17 Vgl. Ulrich Frank-Planitz: Die Zeit, die wir beschrieben haben. Zur Geschichte der Wochenzeitung »Christ und Welt«, in: Widerstand, Kirche, Staat. Eugen Gerstenmaier zum 70. Geburtstag, hg. von Bruno Heck, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, S. 146–169, hier: S. 153. Zu Geschichte und Profil von Christ und Welt insgesamt siehe Frank-Planitz: Zeit, 1976, passim; Klaus Grosse Kracht: »Schmissiges Christentum«. Die Wochenzeitung Christ und Welt in der Nachkriegszeit (1948-1958), in: Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), hg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner, Bern 2008, S. 505–531.

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an. Sie machte sich als Wochenzeitung zur Aufgabe, »die Geschehnisse des Ta-ges in die großen Grundlinien der Zeitentwicklung einzuordnen« und zugleich das Ziel zu verfolgen, »von der christlichen Gesinnung aus das Bild unserer Zeit zu klären«.18 Für die Untersuchung der Protestantismus-Bilder in Öffentlich-keit, Politik und Protestantismus ist die Zeitung auf der Schnittstelle der drei Bereiche anzusiedeln. Sie markiert ihre Verflochtenheit. Insofern Protestantin-nen und Protestanten selbstverständlich Teil der bundesrepublikanischen Öf-fentlichkeit waren, ist ihr Einfluss als Teil der medial vermittelten Öffentlichkeit nicht auszublenden.

Die Kommentare und Analysen in CuW zeichneten ein einheitlicheres Bild des Protestantismus als die Berichte der FAZ. Die Berichterstattung hob die EKD als protestantische Akteurin heraus, der wesentlich mehr Aufmerksam-keit und Gewicht beigemessen wurde als einzelnen kirchlichen Persönlichkei-ten oder evangelischen ›Laien‹. Noch bevor der Rat der EKD am 17. Januar 1950 eine Erklärung verabschiedete, mit der er sich in den Debatten positionierte, war in CuW zu lesen gewesen: »Wir können uns auch nicht denken, daß der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der schon öfter zu einem ›Wort zur Lage‹ bereit war, dieses Mal an einem klärenden Wort vorbeikommt.«19 Ein solches entspräche dem »Recht« der »beunruhigten Gemeinden« auf »volle Klarheit«.20 Die Erwartungshaltung war deutlich. Der Rat der EKD wurde in diesen Bei-trägen als die verbindliche Äußerungsinstanz des Protestantismus, sowohl nach ›Innen‹ als auch nach ›Außen‹, entworfen. Die Berichterstattung der FAZ, die über die EKD nicht anders berichtete als über Synoden in Hessen-Nassau, zeigte an, dass der Rat der EKD die ihm in CuW zugesprochene Stellung keineswegs eindeutig ausfüllte. Für CuW war aufgrund ihrer Beurteilung der Stellung des Rates der EKD der Streit um den »Fall Niemöller« mit Vorliegen der Erklärung des Rates gelöst.21 Auf Drängen der Leserinnen und Leser allerdings wurde die Zeitung genötigt, die Diskussion fortzusetzen. Indem sie unter der Überschrift »Nochmals: Das Niemöller-Interview« zwei konträre protestantische Meinun-gen zu Wort kommen ließ, hob sie die mögliche Vielfalt evangelischer Positio-nierungen hervor. Der Fokus auf die EKD als diejenige Instanz, die verbindlich für den Protestantismus im Gesamten spricht, wurde dabei nicht aufgehoben.

18 Rückblick und Ausblick, in: CuW vom 29. Dezember 1949, S. 2. Vgl. Eine neue Wochen-schrift, in: CuW vom 06. Juni 1948, S. 1 f.

19 Ein Fall Niemöller, in: CuW vom 29. Dezember 1949, S. 1 f., hier: S. 2.20 Ebd. Dieser Erwartungshaltung entsprechend schloss später der Bericht über die Stel-

lungnahme des Rates der EKD mit der Bitte an den Rat, »er möge häufiger als bisher zu den Fragen sprechen, welche die Öffentlichkeit bedrängen und beunruhigen« (Die vier Hallenser Punkte, in: CuW vom 26. Januar 1950, S. 1 f., hier: S. 2).

21 Vgl. a. a. O., S. 1 f.; Nochmals: Das Niemöller-Interview. Ein Rundfunkbeitrag von Prof. H. Thielicke, in: CuW vom 26. Januar 1950, S. 9 f., hier: S. 9; Nochmals: Das Niemöller-Inter-view. Untertöne in der Kritik an Niemöller, in: CuW vom 02. Februar 1950, S. 9–11, hier: S. 9.

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