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Religionspädagogik innovativ · 2017. 7. 28. · Religionspädagogik innovativ Herausgegeben von Rita Burrichter Bernhard Grümme Hans Mendl Manfred L. Pirner Martin Rothgangel Thomas

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  • Religionspädagogik innovativ

    Herausgegeben von

    Rita BurrichterBernhard GrümmeHans MendlManfred L. PirnerMartin RothgangelThomas Schlag

    Band 19

    Die Reihe „Religionspädagogik innovativ“ umfasst sowohl Lehr-, Studien- und Arbeitsbücher als auch besonders qualifizierte For-schungsarbeiten. Sie versteht sich als Forum für die Vernetzung von religionspädagogischer Theorie und religionsunterrichtlicher Praxis, bezieht konfessions- und religionsübergreifende sowie internationa-le Perspektiven ein und berücksichtigt die unterschiedlichen Phasender Lehrerbildung. „Religionspädagogik innovativ“ greift zentrale Entwicklungen im gesellschaftlichen und bildungspolitischen Bereich sowie im wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der Religionspädagogik der jüngsten Zeit auf und setzt Akzente für einezukunftsfähige religionspädagogische Forschung und Lehre.

  • Nele Spiering-Schomborg

    „Man kann sich nicht entscheiden, als was man

    geboren wird“

    Exodus 1 im Horizont von Intersektionalität und empirischer Bibeldidaktik

    Verlag W. Kohlhammer

  • 1. Auflage 2017

    Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Print:ISBN 978-3-17- 978-3-17-032525-8

    E-Book-Format:pdf: ISBN 978-3-17- 978-3-17-032526-5

    Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Ein-fluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

    Diese Arbeit wurde unter dem Titel „Man kann sich nicht entscheiden, als was man geboren wird.“ Die Exodusexposition im Horizont von Narratologie, empiri-scher Bibeldidaktik und Intersektionalität. Impulse für die Bibelauslegung und -didaktik als Dissertation am Fachbereich 02 der Universität Kassel eingereichtund am 14.03.2016 erfolgreich verteidigt.

  • Dank

    Es gibt Zeit, Worte zu machen, Zeit zu umarmen, sagt Kohelet. Ich möchte bei-des gleichzeitig tun und nehme mir deshalb Zeit für umarmende Worte.

    Viele Menschen haben mir in den ganz unterschiedlichen Phasen des For-schungsprozesses, zuvor und auch danach, ihre Zeit und weit mehr als das ge-schenkt.

    Seit nunmehr 10 Jahren bin ich zunächst als Lehramtsstudentin und studen-tische Hilfskraft, dann als Doktorandin, schließlich als wissenschaftliche Mitar-beiterin an der Universität Kassel im Institut für katholische Theologie tätig. Das Umfeld, in dem ich mich hier bewege, ist geprägt durch tragfähige, vertrauens-volle und – was in Institutionen oft vermisst wird – egalitäre Beziehungen. Wis-senschaft hat einen besonderen Platz im Dialog, der Raum gibt für Persönliches, ohne danach zu drängen. Diese Bedingungen waren und sind eine maßgebliche Motivation für mich. Sie haben meinem Mut und Wunsch zum Forschen beflü-gelt. Allen voran möchte ich mich dafür bei Prof. Dr. Ilse Müllner bedanken. Auch weil sie mir einen Weg zu biblischen Texten eröffnet hat, der meiner inneren Landkarte durch das Alte Testament grundlegende Orientierung gibt – mit so vielen wertvollen Reisetipps im Gepäck. Bei der Entstehung dieser Arbeit war sie stets an meiner Seite

    Prof. Dr. Petra Freudenberger-Lötz, die dieses Projekt ebenfalls betreut hat und mir gerade in Bezug auf empirische Fragestellungen eine große Hilfe war, möchte ich ebenfalls herzlich danken, außerdem Dr. Andrea Fischer und Dr. Yvonne Sophie Thöne sowie den Teilnehmer_innen des Kassler Oberseminars im Fachgebiet Altes Tes-tament.

    Mit Exodus 1 im Zentrum lege ich eine Arbeit vor, die vieles repräsentiert, was mich zuvorderst wissenschaftlich, aber auch politisch und persönlich um-treibt. Im DFG-Graduiertenkolleg ›Dynamiken von Raum und Geschlecht‹ konnte ich diese Forschungsinteressen unter idealen Rahmenbedingungen ver-folgen. Mein besonderer Dank gilt dabei Dr. Urania Milevski und Dr. Anne Mariss, die mir über Ihre fachliche Expertise hinaus ein zu Hause in Kassel gegeben ha-ben. Bedanken möchte ich mich weiterhin bei Dr. Silke Förschler und Dr. Johanna Neuhauser: Für die Inspiration, Ermutigung und gemeinsame Zeit, zuweilen ganz abseits von Wissenschaft.

    Ein großes Dankeschön geht an jene, die mich durch ihre inhaltlichen und formalen Korrekturvorschläge unterstützt haben: Anja Christine Bartels, Susanne Kersten und speziell Viktor Rinke sowie Timothea Imionidou für die kompetente Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts. Auch Prof. Dr. Annegret Reese-Schnitker gebührt hier mein Dank und sodann den Herausgeber_innen der Reihe ›Religionspäda-gogik innovativ‹ für die Aufnahme der Studie.

  • Die Auszeichnung mit dem ›Barbara- und Alfred-Röver-Stiftungspreis‹ ist mir eine besondere Freude. Für die Förderung bedanke ich mich beim Stiftungsbei-rat.

    »Oft bekommen Wörter Flügel und fliegen weiter« – spricht Kohelet. Dass die Schüler_innen der Offenen Schule Waldau dazu bereit waren, ihre Gedanken, Er-fahrungen und Perspektiven in Worten verpackt mit mir auf Forschungsreise zu schicken, dafür bin ihnen und den verantwortlichen Lehrkräften überaus dankbar.

    Katharine Bergfeld, Inga Kahofer, Miriam Mausberg, Janne Niemann und Henrike Tarner: Ihre Freundschaft hat diese Arbeit an so vielen Stellen bereichert – Danke!

    Wer nunmehr alles zusammenhält, mich stets mit vollster Zuversicht, Wärme und der nötigen Gelassenheit begleitet, ist meine Familie: Arne Spiering und Leon Spiering; Jutta Spiering und Rainer Spiering und besonders Kai Schomborg. Ihnen gilt mein größter Dank.

  • Inhaltsverzeichnis

    I Hinführung ............................................................................................... 11 1 Einleitung ............................................................................................... 11 2 Vorgehensweise ..................................................................................... 14

    II Theoretische und methodische Grundlagen .................................................... 16 1 Intersektionalität und Vielfalt ............................................................... 16 1.1 Intersektionalität .................................................................................... 17 1.1.1 Verschiedene Ebenen............................................................................ 21 1.1.2 Soziale Kategorien ................................................................................. 22 1.1.3 Macht als Metaperspektive ................................................................... 33 1.1.4 Gewalt als Metaperspektive .................................................................. 35 1.2 Kontextuelle Exegesen.......................................................................... 38 1.2.1 Feministische Exegesen und Hermeneutiken ..................................... 39 1.2.2 Befreiungstheologische Exegesen und Hermeneutiken ..................... 42 1.2.3 Intersektionale Exegesen und Hermeneutiken ................................... 44 1.3 Vielfalt und Jugendliche:

    Religionspädagogische und bibeldidaktische Perspektiven................ 49 1.3.1 Jugend – Adoleszenz – Pubertät .......................................................... 49 1.3.2 Vielfalt als pädagogisches Paradigma ................................................... 52 1.3.3 Religionspädagogik der Vielfalt ............................................................ 55 1.3.4 Bibeldidaktik der Vielfalt: Annäherungen und Perspektiven ............. 58 1.4 Zwischenfazit ......................................................................................... 72 2 Narratologie ........................................................................................... 73 2.1 Biblische Narratologie ........................................................................... 75 2.2 Kontextuelle Narratologien .................................................................. 77 2.3 Narratologische Kategorien .................................................................. 83 2.3.1 Erzählinstanz und Autor_inneninsstanz ............................................. 83 2.3.2 Perspektive und Fokalisierung.............................................................. 87 2.3.3 Raum ....................................................................................................... 90 2.3.4 Figuren.................................................................................................... 93 2.3.5 Themen und Ereignisse ........................................................................ 95 2.4 Zwischenfazit ......................................................................................... 97 3 Empirische Bibelforschung .................................................................. 98 3.1 Empirische Bibelwissenschaft und -didaktik ...................................... 98 3.2 Jugendliche als Exeget_innen? ........................................................... 108 3.3 Lesen und Textverstehen .................................................................... 110 3.3.1 Lesekompetenz .................................................................................... 112 3.3.2 Interaktionen zwischen Text und Leser_in ....................................... 114 3.4 Zwischenfazit ....................................................................................... 116 4 Eine Mehrebenenanalyse .................................................................... 117

  • III Exodus 1: Text und Kontexte .................................................................. 120 1 Das Umfeld der Exodusexposition.................................................... 120 1.1 Deutungsansätze .................................................................................. 121 1.2 Literarische Merkmale ......................................................................... 124 1.3 Die Welt der Textentstehung: Literar- und sozialgeschichtliche Perspektiven ......................................................................................... 127 1.3.1 Literargeschichtliche Impulse als Zugang zur Sozial- und Kulturgeschichte .................................................................................. 128 1.3.2 Fremdherrschaft .................................................................................. 131 1.3.3 Glaube – Religion – JHWH................................................................ 134 1.3.4 Familie .................................................................................................. 137 1.3.5 Frondienst und Sklaverei .................................................................... 142 1.3.6 Fremde und Fremdheit ....................................................................... 144 1.3.7 Erzählte Erinnerungen und kollektive Identitäten ........................... 147 1.4 Zwischenfazit ....................................................................................... 150 2 Merkmale der Exodusexposition ....................................................... 151 2.1 Erzählstruktur ...................................................................................... 151 2.2 Textsorte .............................................................................................. 154 2.3 Figuren – Räume – Gewalt ................................................................. 158 2.3.1 Von der Familie zum Volk: Eine Einwanderungsgeschichte .......... 160 2.3.2 Die Furcht vor dem Anderen: Abgrenzungsstrategien .................... 162 2.3.3 Die Furcht vor dem Anderen: Widerstand und Macht I ................. 170 2.3.4 Die Furcht vor dem Anderen: Widerstand und Macht II ................ 180 2.4 Redebeiträge, Fokalisierung und Perspektiven ................................. 181 2.5 Zwischenfazit ....................................................................................... 191 IV Empirische Leseforschung zu Exodus 1 ..................................................... 194 1 Umfeld und Bedingungen der empirischen Forschung ................... 194 1.1 Die Schule und der Religionsunterricht: ................................................. Vielfalt institutionell verankert ........................................................... 194 1.2 Ein ›Gewalttext‹ im Dialog mit Jugendlichen.................................... 197 2 Theoriegenerierende Qualitative Forschung ..................................... 199 2.1 Qualitative Heuristik ........................................................................... 201 2.2 Grounded Theory ................................................................................ 205 3 Erhebungswege – Entdeckungen – Erkenntnisse ............................ 209 3.1 Wege der Datenerhebung: ....................................................................... Design – Durchführung – Dokumentation ...................................... 210 3.2 Lautes Denken und Laut-Denk-Protokolle ...................................... 213 3.2.1 Abschnitte 1-2 ...................................................................................... 216 3.2.2 Abschnitte 3-5 ...................................................................................... 220 3.2.3 Abschnitt 6 ........................................................................................... 230 3.2.4 Abschnitte 7-8 ...................................................................................... 234 3.2.5 Abschnitte 9-10.................................................................................... 244 3.2.6 Zwischenfazit ....................................................................................... 248 3.3 Interviews ............................................................................................. 250

  • 3.3.1 Themenblock A – Soziodemografische Auskünfte .......................... 252 3.3.1.1 Alter ...................................................................................................... 252 3.3.1.2 Geschlecht ............................................................................................ 253 3.3.1.3 Schulabschluss ..................................................................................... 254 3.3.1.4 Religion ................................................................................................. 255 3.3.2 Themenblock B – Einblicke in die Lesesozialisation und das

    Leseverhalten ....................................................................................... 255 3.3.2.1 Lesealltag und -aktivitäten .................................................................. 255 3.3.2.2 Lesestoffe ............................................................................................. 258 3.3.2.3 Leseumgebungen ................................................................................. 259 3.3.3 Themenblock C – Glauben und Kirche, Religion und

    Religionsunterricht .............................................................................. 262 3.3.3.1 Religion, Gott und Glauben ............................................................... 262 3.3.3.2 Religionsunterricht .............................................................................. 267 3.3.4 Themenblock D – Bibel...................................................................... 270 3.3.4.1 Stellenwert und Erwartungen ............................................................. 270 3.3.4.2 Vorkenntnisse: Biblische Erzählungen .............................................. 273 3.3.4.3 Leseanlässe und Lesezeiten................................................................. 275 3.3.5 Themenblock E – Die Erzählung und ihre Wirkung ....................... 276 3.3.5.1 Vorkenntnisse: Exodus 1 .................................................................... 276 3.3.5.2 Bewertungen und Eindrücke .............................................................. 277 3.3.6 Zwischenfazit ....................................................................................... 284 3.4 Weitere Erhebungsverfahren .............................................................. 287 3.4.1 Briefmethode ....................................................................................... 287 3.4.2 Tischset-Verfahren .............................................................................. 292 3.4.3 Zwischenfazit ....................................................................................... 299

    V Reader-Response-Kategorien ...................................................................... 300 1 Kodieren ............................................................................................... 300 2 Zentrale Kategorien ............................................................................ 301 2.1 Kategorien der Aktivität...................................................................... 302 2.1.1 Eigenschaften ermitteln ...................................................................... 303 2.1.2 Bewerten und verhandeln ................................................................... 306 2.1.3 Verstehen und Perspektiven übernehmen ........................................ 315 2.1.4 Zwischenfazit ....................................................................................... 319 2.2 Kategorien des Inhalts ........................................................................ 320 2.2.1 Macht .................................................................................................... 321 2.2.2 Gott – Glauben – Widerstand ............................................................ 323 2.2.3 Alterität ................................................................................................. 325 2.2.4 Geschlechter-Bilder ............................................................................. 328 2.2.5 Zwischenfazit ....................................................................................... 332 3 Selektives Kodieren ............................................................................. 333 4 Exkurs: Die ›Bibel in gerechter Sprache‹ ........................................... 334

  • VI Einsichten und Impulse ............................................................................ 337 1 Impulse für eine intersektionale Bibelauslegung ............................... 337 2 Impulse für eine Bibeldidaktik der Vielfalt........................................ 344

    VII Literaturverzeichnis .................................................................................. 351 1 Bibeltexte und Übersetzungen ............................................................. 351 2 Sekundärliteratur ..................................................................................... 351

    VII Abbildungsverzeichnis ................................................................................. 386

    Die empirischen Daten und weitere Materialien sind als elektronische Zusatz-materialien unter folgendem Link verfügbar:

    http://blog.kohlhammer.de/theologie/Exodus-1/

  • 1 EINLEITUNG 11

    I Hinführung

    1 Einleitung

    In seinem Buch ›Deutschland schafft sich ab‹ (2010) kündigt Thilo Sarrazin den Verfall der Bundesrepublik an. Im Verlauf von neun Kapiteln, die entlang von Themen wie Armut, Arbeit, Bildung, Zuwanderung und Demografie strukturiert sind, konkretisiert der Autor seine Hypothese. Dabei schlägt sich der undifferen-zierte Modus, der auch die weiteren Ausführungen des Politikers prägt, bereits in der Einleitung nieder. Plattitüden, wie »Wer zu viel isst, wird dick«,1 bieten einen Vorgeschmack auf Sarrazins verkürzte Argumentationen, die im Fortgang insbe-sondere türkische Migrant_innen betreffen:

    Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behin-derungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. Aber das Thema wird gern totgeschwiegen. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfakto-ren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsys-tem verantwortlich sind.2

    An den Rassismus und obendrein Bodyismus – der hier zugegebenermaßen aus dem Kontext ›gepflückt‹ ist – schließen biopolitische Normalisierungs- und Re-gulierungsforderungen unmittelbar an: »[…] wir wollen keine nationalen Minder-heiten«3 stellt Sarrazin klar. »Und wer vor allem an den Segnungen des deutschen Sozialstaats interessiert ist, der ist bei uns schon gar nicht willkommen.«4

    ›Wir und die anderen‹; mit dieser Exklusionsrhetorik beschwört Sarrazin sein vermeintlich homogenes Publikum. Dass er und weitere Gleichgesinnte durchaus Gehör in der Gesellschaft finden oder zumindest Interesse wachrufen, belegen nicht nur knapp 1,5 Millionen verkaufte Exemplare von ›Deutschland schafft sich ab‹. Auch der enorme Hass, welcher Flüchtlingen entgegeneilt, zeigt, dass Frem-denfeindlichkeit in Deutschland – und freilich nicht bloß hier – tagesaktuell ist. Postfaktische Politik befördert diese Gewalt noch.

    »Seht doch, das Volk Israel ist zahlreicher und stärker als wir selbst. Lasst uns klug gegen sie vorgehen, damit sie nicht weiter wachsen und uns eventuell den Krieg er-klären, sich zu unseren Feinden schlagen, gegen uns kämpfen und dann aus diesem Land auswandern« (Ex 1,9-10).5

    1 Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, 9. 2 Ebd., S. 316. 3 Ebd., S. 326. 4 Ebd. 5 Übersetzung nach der ›Bibel in gerechter Sprache‹.

  • 12 I HINFÜHRUNG

    Das sind die Worte, die der ägyptische König – gewissermaßen in der Spur eines ›Eygpt First‹ – in der Exodusexposition an sein Volk richtet. Wenn schon die Kontexte kaum unterschiedlicher sein könnten und noch dazu auf ungleiche ›Welten‹ referieren, treten zumindest bezüglich der eingesetzten Strategien Ge-meinsamkeiten zwischen der biblischen Erzählung und gegenwärtigen rassisti-schen Kampagnen hervor. Und doch sind es diese erschreckenden Analogien, die den inhaltlich-hermeneutischen Anstoß für die vorliegende Arbeit geliefert ha-ben.

    »Man kann sich nicht entscheiden, als was man geboren wird und auch in welchem Land«,6 konstatiert Eva. Die 15-jährige Schülerin hat soeben das erste Kapitel des Exodusbuches gelesen, und zwar den Vers, der vom geplanten Ge-nozid der männlichen israelitischen Säuglinge durch den ägyptischen König be-richtet. Ihre Aussage greift grundlegende Merkmale der vorliegenden Studie auf: Im thematischen Zentrum stehen exegetische und didaktische Fragen in Bezug auf u.a. Macht, Gewalt, Differenz und Egalität. Durch ihre Lesart zeigt Eva eine Möglichkeit an, Diskriminierungen zu begegnen; eine andere Form der Kritik kann zunächst einmal ihre Wahrnehmung und sodann eine gezielte Durchdrin-gung sein:

    Ex 1,1-22 reiht sich in alttestamentliche Texte ein, in welchen Gewalt und Ungleichheit aufs Engste mit sozialen Positionierungen, wie z.B. ›Rasse‹7 oder Geschlecht, verknüpft sind. Um solche kategorialen Verknüpfungen darzustellen, hat sich in der deutschsprachigen Forschung zunächst die Signatur ›inter-sectionality‹ bzw. Intersektionalität durchgesetzt. Fragen danach, wie sich Differenzlinien gegenseitig intensivieren, mindern, verändern und in welcher Form sie auftreten, bilden heute das Kerngeschäft intersektionaler Arbeit. Als Zugang, dessen Wurzeln im ›Black Feminism‹ und der ›Critical Race Theory‹ lie-gen, hat Intersektionalität nicht nur Eingang in die Gender Studies, die Kultur- und Sozialwissenschaften gefunden, sondern ferner in die Geisteswissenschaften. Mit den Herausgeberinnen des Sammelbandes ›Doing Gender – Doing Religion‹ (2013) erweist sich »[d]as Konzept der ›Intersektionalität‹ […] als ›eye opener‹ auch für die Analyse von Texten der Antike […].«8 Aber bereits in den 1990er Jahren hat u.a. Elisabeth Schüssler Fiorenza zentrale Weichen für eine intersekti-onale Exegese gelegt. Wenn die Bibelwissenschaftlerin von feministischer Theo-logie als Kyriarchatsforschung spricht, versteht sie darunter vor allem eine ideo-logiekritische Analyse, die miteinander verflochtene Herrschaftsstrukturen unter-sucht. Das Zusammenspiel von Kategorien der Ungleichheit, deren Reflexion konstitutiv für eine Kyriarchatsanalyse ist, korrespondiert mit intersektionalen Konzeptionen. Dabei zielen intersektionale Analysen m.E. allerdings noch stär-ker als exegetische Ansätze dieser Provenienz auf die theoretische, empirische 6 Eva, Interview, A. 21. 7 Im Rahmen dieser Studie wird die Kategorie ›Rasse‹ aufgrund ihres problematischen Status in

    einfache Guillemets gesetzt. Sensibilität für ein nicht-essentialistisches Verständnis in Bezug auf Ka-tegorien bzw. kategoriale Zuschreibungen soll aber im Blick auf alle Kategorien maßgebend sein. Fremdsprachige Begriffe werden ebenfalls durch einfache Guillemets gekennzeichnet, Eigennamen sind nur im Ausnahmefall davon nicht betroffen.

    8 Eisen u.a., Doing Gender, S. 27.

  • 1 EINLEITUNG 13

    und historische Erfassung von unterschiedlichen sozial-konstruierten Kategorien sowie ihre Wirkungsweisen ab.

    Die Förderung intersektionaler Vorgehensweisen in den Bibelwissenschaf-ten, gerade in Exegese und Didaktik, stellt eine grundlegende Zielperspektive meiner Arbeit und zugleich ein Forschungsdesiderat dar: Das intersektionale Pa-radigma wird im Folgenden deshalb angesichts seiner theoretischen Dimensio-nen ausdifferenziert und im Rahmen der Textauslegung von Ex 1 praktisch ver-anschaulicht.

    Obwohl eine intersektionale Bibelarbeit zunächst einmal den Text und seinen engeren Kontext zentriert, sind alltägliche Bibellektüren in Bezug auf eine ideo-logiekritisch-erfahrungsorientierte Auslegung, wie sie hier angebahnt werden soll, maßgebend. Für das Feld der wissenschaftlichen Exegese sind aktuelle Le-ser_innen allerdings noch recht neue Ansprechpartner_innen. Aber: Die Ein-sicht, wonach Texte erst im Dialog mit Rezipierenden ihre eigentlichen Bedeu-tungen erhalten, ist für mein Herangehen maßgebend. Ausgangspunkt der Sinn-konstruktion ist dennoch immer die Textwelt.

    Im Rahmen dieser Studie werden einerseits die von Ex 1 ausgehenden ›text-geleiteten Prozesse‹, andererseits die ›wissensgeleiteten Prozesse‹ von empiri-schen Leser_innen,9 herausgearbeitet und zueinander ins Verhältnis gesetzt. Merkmale einer intersektionalen Bibelauslegung möchte ich daraufhin erstens auf der Grundlage von hermeneutisch-theoretischen Einsichten und zweitens durch die wissenschaftliche bzw. ›alltägliche‹ Lektüre der Exodusexposition entwerfen.

    Weil die Bibel im Horizont dieser Untersuchung nicht nur exegetisches Inte-resse wachruft, sondern zugleich als Lehr- und Lernmedium in den Fokus rückt, wird die Frage nach Differenzen bzw. Diversität zudem auf pädagogisch-didak-tischer Ebene relevant. Im Unterschied zur Religionspädagogik, die im Modus von Vielfalt bereits seit einigen Jahren aktiv für eine Hermeneutik eintritt, »die geschlechtsbezogene, religiöse und soziale Differenzen wahrnimmt und Stereo-type aufzubrechen vermag […]«,10 stellen vergleichbare bibeldidaktische Kon-zepte ein Novum dar. Trotz vielversprechender Ansätze, die dekonstruktiv, herr-schaftskritisch und teils ›intersektional-sensibel‹ vorgehen, liegt eine Bibeldidaktik der Vielfalt bislang nicht vor. Wenn auch die Kapazitäten im Rahmen diese Studie kaum ausreichen, um ein detailliertes bibeldidaktisches Vielfaltskonzept zu ent-wickeln, sollen zumindest erste Schritte in diese Richtung eingeleitet werden.

    Ebenso wie die intersektionale Exegese von realen Lektüreerfahrungen pro-fitieren kann, ist eine Bibeldidaktik der Vielfalt einerseits auf exegetische Exper-tise, andererseits und insbesondere auf empirische Ansprechpartner_innen, vor-zugsweise Kinder oder Jugendliche, angewiesen. Schließlich fordern die für diese Untersuchung richtungsweisenden exegetischen und didaktischen Zugänge dazu auf, die kontextuellen Erfahrungen von Rezipierenden beim Umgang mit der Bi-bel zu berücksichtigen. Gewalt und Ungleichheit stellen Widerfahrnisse dar, die

    9 Und so meint der Terminus Empirie, der zurückgeht auf das Griechische ›empeiría‹, Erfahrung bzw.

    Erfahrungswissen. 10 Arzt u.a., Gender und Religionspädagogik der Vielfalt., S. 14.

  • 14 I HINFÜHRUNG

    Kinder und Jugendliche in unterschiedlichen Formen betreffen. Im Religionsun-terricht sollten diese Themen bestenfalls gleich mehrere Plätze haben. Neben der Exodusexposition untersuche ich im Rahmen dieser Arbeit Laut-Denk-Proto-kolle, Interviews und Gesprächssequenzen von Schüler_innen der Sekundarstufe I, die infolge der Rezeption von Ex 1,1-22 zustande gekommen sind. Insofern der Text seinem Publikum teils grausame Gewalt zumutet und die Lenkungsme-chanismen der Erzählung obendrein spezifische Wissens- bzw. Erfahrungsbe-stände seitens der Rezipierenden erwarten, habe ich fortgeschrittene Le-ser_innen, konkret Jugendliche, zum literarischen Gespräch gebeten. Wie gehen die Heranwachsenden mit den textgeleiteten Informationen um? Wie verstehen sie die teils rassistisch bzw. sexistisch aufgeladene Exodusexposition? Welche Be-dingungen nehmen Einfluss auf ihre Deutungen?

    Mit der Narratologie bemühe ich sodann ein literarturwissenschaftliches Ver-fahren, das zwischen Text- und empirischer Analyse vermitteln kann. Der Einsatz narratologischer Instrumente zielt auf eine systematische Untersuchung der For-men, Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene ab. Sowohl für eine intersektionale Bibelauslegung als auch für den Entwurf einer Bibeldidaktik der Vielfalt ist eine erzähltheoretische Auseinandersetzung mit der Exodusexposition weiterführend, gerade wenn es um den Dialog zwischen den beiden Zugängen geht.

    Nachdem die Grenzen narratologischer Forschung zunächst gewissermaßen durch den Strukturalismus vorbestimmt waren, gehen jüngere Erzähltheorien über den einst streng definierten textuellen Bezugsrahmen hinaus. Unter dem Etikett ›postklassisch‹ vollzieht sich zwar keine Abkehr von bisherigen narratolo-gischen Kategorien, wohl aber eine Pluralisierung von erzähltheoretischen Zu-gangsweisen, Erkenntnishorizonten, Bezugsfeldern und -medien. Über narrative Merkmale im engeren Verständnis hinaus können ferner soziale, kulturelle und rezeptionsorientierte Fragestellungen unter narratologischer Perspektive verhan-delt werden. Mein erzähltheoretisches Vorgehen knüpft an diese ›postklassische Wende‹ an: In Gestalt von kulturgeschichtlicher und kognitiver Narratologie kommen vergleichsweise aktuelle Erzähltheorien zum Einsatz, die aufgrund ihrer kontextuellen Orientierung zudem intersektional bzw. bibeldidaktisch anschluss-fähig sind.

    2 Vorgehensweise

    Die nachfolgende Studie ist in einzelne Teile aufgegliedert; ihnen geht jeweils eine knappe Einleitung voraus. Regelmäßige Zwischenfazits zeigen den aktuellen Stand der Untersuchung an, sie bündeln die gewonnenen Einsichten und führen sie teils weiter. Im zweiten Teil der Arbeit lege ich die theoretischen und methodischen Weichen für das weitere Vorgehen. Nachdem Intersektionalität, Vielfalt, Narratologie und empirische Bibelforschung bzw. -didaktik vorerst

  • 2 VORGEHENSWEISE 15

    einzeln in den Blick rücken, erfolgt anschließend eine Zusammenführung der Zugänge.

    Im Zentrum des dritten Teils steht die Exodusexposition. Mithilfe von u.a. kultur- und sozialgeschichtlichen Perspektiven erfolgt zunächst eine Annäherung an das Umfeld der Erzählung. Die dargebotenen Einblicke in die Welt der Textentstehung sind maßgebend für die narratologisch-intersektionale Auslegung von Ex 1, welche im direkten Anschluss auf dem Programm steht.

    Die Auswertung der Rezeptionsdaten erfolgt in zwei Schritten und auf der Grundlage jeweils unterschiedlicher Analyseverfahren. Während ich das empiri-sche Material im vierten Teil qualitativ-heuristisch bearbeite, vollziehe ich in Teil V ein Methodenwechsel; die ›Grounded Theory‹ strukturiert mein analy-tisches Vorgehen.

    Im Abschlussteil werden noch einmal zentrale ›Einsichten‹ der Studie prä-sentiert und am Beispiel einen intersektionalen Exegese bzw. einer Bibeldidaktik der Vielfalt konkretisieren.

  • 16 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    II Theoretische und methodische Grundlagen

    Sowohl für die exegetische Auseinandersetzung mit der Exodusexposition als auch für die empirische Untersuchung ist ein methodologisches Grundgerüst substanziell. Die nachfolgenden Kapitel führen einerseits in die zentralen Modi ein, welche die hermeneutischen und heuristischen Zugänge dieser Arbeit prägen, andererseits werden die methodischen Weichen gelegt, die diesen Weg ebnen. Theorie und Methode gehen dabei Hand in Hand.

    Während unter der Perspektive von ›Intersektionalität und Vielfalt‹ zunächst verschiedene Fachrichtungen zu Wort kommen, wird mit der ›Narratologie‹ ein dezidiert literaturwissenschaftliches und dennoch interdisziplinär anschlussfähi-ges Beschreibungsinstrument hinzugeschaltet. Einsichten zur ›Empirischen Bi-belforschung‹ vervollständigen die Methodologie.1

    Die Zusammenführung von Narratologie, empirischer Bibeldidaktik und In-tersektionalität, die am Ende des zweiten Teils als ein Mehrebenenmodell präsen-tiert wird, markiert die methodologische Basis und zugleich eine Zielperspektive der Untersuchung. Denn erst durch die Korrespondenz der Ansätze können die verschiedenen Interessen dieser Arbeit wirksam eingelöst werden.2

    1 Intersektionalität und Vielfalt

    Die Zugänge, die im Folgenden dargeboten werden, teilen nicht nur einen ideo-logiekritischen Impetus, sie sind ferner als mehrdimensional anzusehen: Die As-pekte, die hierbei in den Blick kommen, werden teils nicht nur innerhalb des je-weiligen Bezugsfachs unterschiedlich aufgefasst, sie können zudem außerhalb der Disziplin andere Implikationen beinhalten. Eine disziplinäre Rückbindung ist deshalb ebenso bedeutsam wie der flexible Umgang mit fachlichen Grenzen. Das kritische Potenzial der Untersuchung findet seine Wurzeln daraufhin nicht allein in bibelwissenschaftlichen und religionspädagogischen Einsichten, sondern es wird u.a. mithilfe sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse akzentuiert und teils durch sie fundiert.

    Die Brücken, die infolgedessen von der einen zur anderen Disziplin gebaut werden und, die den Weg für eine intersektionale Bibelauslegung (mit)bereiten, setzen bei der engeren Auseinandersetzung mit Intersektionalität an. Die Metaperspektiven Macht und Gewalt leiten dann hinüber zu kontextuellen Exegesen sowie (religions-)pädagogischen bzw. bibeldidaktischen Konzepten im

    1 Aus Gründen der Anschaulichkeit werden die empirischen Analyseverfahren, die im vierten und fünften Teil der Studie zum Einsatz kommen, erst in den entsprechenden Kapiteln erläutert.

    2 In die jeweiligen Analysekapitel werden zum Teil ebenfalls theoretische Informationen eingeflochten.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 17

    Zusammenhang von Vielfalt. Nachdem in einem ersten Schritt u.a. die Genese von Intersektionalität, vor allem im Horizont der Gender-Studies, skizziert wird, kommen im Anschluss daran kontextuelle bibelwissenschaftliche Ansätze in den Blick: Wie wurden Differenzmerkmale und soziale Ungleichheiten innerhalb der Disziplin untersucht, bevor Intersektionalität zu einem weitumgreifenden wissen-schaftlichen ›Buzzword‹3 avanciert ist?

    Auf der Grundlage von pädagogischen Vielfaltsansätzen werden schließlich erste Impulse für eine Bibeldidaktik der Vielfalt vorgeschlagen. Jedes Kapitel en-det mit einem knappen Zwischenfazit.

    1.1 Intersektionalität

    Intersektionalität hat sich in den vergangenen Jahren als einer der führenden An-sätze innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung etabliert. Nach Ilse Lenz wird mit Intersektionalität »ein Bündel theoretischer Ansätze bezeichnet, die das Wechselverhältnis von Geschlecht und weiteren sozialen Ungleichheiten erfassen wollen. Sie richten sich gegen ein additives Denken der Mehrfachdiskriminie-rung«4 und pointieren, je nach Ausrichtung, »die Eigenständigkeit grundlegender Ungleichheitskategorien.«5

    Als Zugang, dessen Wurzeln im ›Black Feminism‹ und der ›Critical Race The-ory‹ liegen, setzt die ›Geschichtsschreibung‹6 von Intersektionalität im deutsch-sprachigen Raum zumeist bei der Zweiten Frauenbewegung in den Industriena-tionen an: Mit der Parole ›das Private ist politisch‹ eröffnen Aktivist_innen in den 1970er Jahren neue Diskussionsfelder und bahnen eine so genannte ›Politik der ersten Person‹ an. Themen wie Sexualität, Macht, Gewalt und Arbeit werden aus den Bereichen des ›Privaten‹ ausgelagert und politisiert. Ungleichheiten zwischen z.B. Männern und Frauen gelten nunmehr als Ausdruck eines tief verankertenHerrschaftssystems, das allumfassend eingreift. Durch progressive Kampagnen und eingängige Slogans wird der Protest der Neuen Frauenbewegung zunehmend öffentlichkeitswirksam. Doch die feministischen Bestrebungen der selbsternann-ten ›imagined community‹ haben auch problematische Dimensionen:7 Schon bald wird erkennbar, dass es vor allem Akteur_innen aus der weißen Mittelschicht sind, die ihre Anliegen als die Interessen einer vermeintlichen ›global sisterhood‹ vermarkten.8

    3 Siehe dazu Davis, Intersektionalität als »Buzzword«. 4 Lenz, Wechselwirkende Ungleichheiten, S. 844. 5 Ebd. 6 Die Darstellung greift markante Aspekte der Diskussion auf und geht dabei nicht immer streng chro-

    nologisch vor. 7 Vgl. Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, S. 27. 8 Entlang unterschiedlicher feministischer Bewegungen zeigt K. Walgenbach (2007) auch für den

    deutschen Kontext auf, wie facettenreich sich die Proteste von Frauen tatsächlich darstellen. Dabei holt sie mittels der zitierten ›Genealogien‹ zugleich eine Würdigung nach, die den Aktivist_innen mitunter verweigert wird bzw. wurde.

  • 18 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    Wegweisend für eine intersektionale Perspektive ist vor diesem Hintergrund u.a. das Black Feminist Statement (1977), dass die vielmals exklusiven und vice versa exkludierenden Erklärungsmuster jener Feminist_innen zurückweist, die Unter-drückungserfahrungen von Frauen maßgeblich mit Geschlechterdifferenz bzw. patriarchalen Gesellschaftsstrukturen begründen. Das Combahee River Collec-tive lanciert stattdessen für eine »integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking.«9 Die Relevanz einer solchen integrativen feministische Gesellschaftsanalyse argumentiert und bebildert das Kollektiv sodann mit eigenen Lebenserfahrungen: »We also often find it difficult to separate race from class from sex oppression because in our lives they are most often experienced simultaneously.«10

    Der neue Denk- und Handlungsansatz, der hier exemplarisch offenbar wird, betrifft über die Simultanität von Unterdrückung hinaus den interdependenten Charakter von Differenzmerkmalen: Die so genannten Master-Kategorien11 ›race‹, ›class‹ und ›gender‹ sollen fortan nicht weiter als distinkte Merkmale fokus-siert werden, sondern im Modus von Interdependenz.

    Schließlich formiert sich Widerstand gegen eine westlich geprägte, heterose-xuelle, nicht-behinderte, exklusive Frauenforschung und -politik, die ihre Anlie-gen fälschlicherweise im Namen aller Frauen vorträgt.12 Frauen mit Behinderun-gen argumentieren etwa, »dass sie einerseits wegen ihres Geschlechts, andererseits aufgrund ihrer Beeinträchtigungen strukturell in einem weit höheren Ausmaß von sozialen Ungleichheiten, gesellschaftlicher Isolation und Armut betroffen sind als behinderte Männer bzw. nicht behinderte Frauen.«13 Gemeint ist hiermit aller-dings keine aneinandergereihte Benachteiligung; viel eher wird eine »andere, neue Qualität der Diskriminierung«14 bzw. Privilegierung angesprochen.15

    ›Intersektionale‹ Erfahrungen übersteigen das Primat des Geschlechts, wel-ches die feministischen Diskussionen des ›Westens‹ lange Zeit als isolierte Sicht-weise beherrschte. Im Anschluss an Kathy Davis erfasst Intersektionalität daher auch »das drängendste Problem, dem sich der Feminismus aktuell gegenübersieht – die lange und schmerzliche Geschichte seiner Exklusionsprozesse.«16 Ge-schlecht wird infolgedessen zwar keineswegs als Analyseparameter abgelöst, wohl

    9 Combahee River Collective, The Combahee River Collective Statement. 10 Ebd. 11 Im Rahmen dieser Arbeit ist nicht nur die Rede von Kategorien bzw. Kategorisierungen, sondern

    ferner von Dimensionen, Merkmalen oder Differenzlinien. Diese Ausdrücke sind innerhalb der For-schung zum Teil spezifisch konnotiert. Im Folgenden werden sie synonym verwendet.

    12 Vgl. Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, S. 45. 13 Windisch, Behinderung, S. 145. 14 Ebd. 15 Dabei bestehen, wie soeben deutlich wurde, durchaus zeitliche Diskrepanzen im Blick auf die

    Mainstream-Werdung von Intersektionalität, die in Nordamerika einige Jahre eher einsetzte als in Europa. Vgl. Walgenbach, Intersektionalität.

    16 Davis, Intersektionalität als »Buzzword«, S. 62.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 19

    aber ins Verhältnis zu anderen Kategorien gesetzt – und dieses Erkenntnisinte-resse ist, trotz einer mittlerweile beachtlichen Summe von ›Durchkreuzungsan-sätzen‹, noch immer zentral.17

    Der Ausdruck Intersektionalität bzw. ›intersectionality‹, der die deutschspra-chige Forschungslandschaft im Gegenüber zu Termini wie Nira Yuval-Davis und Floya Anthias (1983) ›soziale Spaltungen‹, Deborah Kings (1988) ›multiple jeo-pardies‹ oder Patricia Hill Collins (1990) ›interlocking systems of oppression‹ be-sonders prägt, geht zurück auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1989). In ihrer ›Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics‹ moniert die Rechtswissenschaftlerin die nur man-gelhafte Reflexion von ›women of color‹ innerhalb juristischer, gesellschaftspoli-tischer und lebensweltlicher Zusammenhänge. Anhand von Diskriminierungs-praktiken in Firmen weist die Forscherin eine simultane Herabsetzung schwarzer Frauen in fünf Beispielfällen nach und zeigt auf, dass ›race‹ und ›gender‹ wechsel-seitig ausgeblendet werden.18 Obwohl Crenshaws Metapher der Straßenkreuzung und ihre Implikationen hierzulande nicht zuletzt durch die starke Aufnahme im Wissenschaftsbetrieb gewürdigt werden, gibt es dazu auch kritische Stimmen: Cornelia Klingers ›Achsen der Ungleichheit‹ (2007) oder Katharina Walgenbachs Ansatz von ›interdependenten Kategorien‹ (2007) suchen so etwa Alternativen zu einer Herangehensweise, die »tendenziell von isolierten Strängen ausgeht.«19 Ka-tharina Walgenbachs Konzept von ›Interdependenzen‹ erfasst »nicht mehr wech-selseitige Interaktionen zwischen Kategorien […], vielmehr werden soziale Kate-gorien selbst als interdependent konzeptualisiert.«20 Geschlecht ist danach z.B. stets als »rassisiert, sexualisiert, lokalisiert zu betrachten.«21

    Modifizierungen werden obendrein im Blick auf die intersektional relevanten Kategorien gefordert.22 Vertreter_innen aus dem Umfeld von Theologie und Re-ligionswissenschaften plädieren in Bezug auf intersektionale Ansätze so etwa für eine intensivere Beschäftigung mit der Kategorie Religion:

    Der Parameter religiöser Identität steht quer zu den Kategorisierungen, die von asymmetrischen Dualen ausgehen, denn es geht in religiösen Kontexten kaum um nur binäre Differenzierung. Und die Bewertung der Alternativen – wer ist on top? – ist in diesem Fall nicht global ausgehandelt, sondern gerade ein Streitpunkt.23

    17 Schließlich votiert u.a. N. Yuval-Davis dafür, dass Intersektionalitätsanalysen nicht nur jene berück-

    sichtigen sollten, »die sich an den vielfältigen Rändern der Gesellschaft befinden, sondern […] alle Mitglieder der Gesellschaft.« Yuval-Davis, Jenseits der Dichotomie von Anerkennung und Umver-teilung, S. 209.

    18 Vgl. Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. 19 Dietze u.a., Einleitung, S. 9. 20 Ebd., Hervorhebung im Original. 21 Dietze u.a., »Checks and Balances«, S. 108. Siehe dazu ferner K. Walgenbachs Interdependenzansatz,

    der auch in dieser Arbeit angesprochen wird. 22 Die Pluralisierung von Kategorien gilt als Versuch der Geschlechter- bzw. Intersektionalitätsfor-

    schung sowohl ihren theoretischen als auch gesellschaftlichen Beschränkungen entgegenzuwirken. H. Lutz und N. Wenning (2001) präsentieren so etwa eine Tabelle, in der sie über das ›Race-Class-Gender-Muster‹ hinaus Differenzlinien wie Gesundheit, Alter oder Besitz berücksichtigen. Vgl. Lutz u. Wenning, Differenzen über Differenz, S. 20.

    23 Eisen u.a., Doing Gender, S. 8.

  • 20 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    In der Auseinandersetzung mit Katharina Walgenbachs ›Interdependenz-Ansatz‹ stellt Ulrike Auga fest, »dass Religion als Kategorie nicht vorkommt«24 und statt-dessen »verkürzt unter der Frage von Antisemitismus verhandelt und dann unter das Problem von Rassismus subsumiert«25 werde.

    In ihrer Monografie ›Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times‹ sowie in nachfolgenden Arbeiten hat die Autorin vorgeschlagen, »Inter-sektionalität als intellektuelle Kategorie und als Werkzeug politischer Interven-tion durch den Begriff ›(queere) Assemblage‹ zu ergänzen oder auch zu kompli-zieren.«26 Puars Kritik am Intersektionalitätsbegriff, die grundlegend für die Mo-difizierung durch ›Assemblages‹ ist, vollzieht sich mehrdimensional, was sowohl die Funktionsweise als auch die Ergebnisse von intersektionalen Analysen be-trifft. Wenn intersektionale Kategorien wie ›Rasse‹, Klasse oder Geschlecht an-lässlich ihrer Zuschreibungen dekonstruiert werden, ereignet sich nach Puar in dieser benennenden Praxis gerade einer Stabilisierung von Bedeutungsinhalten:27 »Intersectionality demands the knowing, naming, and thus stabilising of identity across space and time, generating narratives of progress that deny the fictive and performative of identification.«28 In Rekurs auf Puar kann intersektionales Den-ken sodann als Instrument von u.a. ›Diversity Management‹ in die Pflicht genom-men werden und infolgedessen staatlichen Disziplinartechniken Vorschub leis-ten. Wegweisend für Jasbir Puars Ansatz ist das Werk von Gilles Deleuze und Felix Guattari, wo eine ›Assemblage‹ bzw. ›Agencement‹ als Feld hervortritt, »in dem eine diskursive Formation auf eine materielle Praxis trifft«29 und das Augen-merk auf den Beziehungen von Mustern liegt. ›(Queere) Assemblages‹ fragen nach ›Modi des Seins und Handelns‹, d.h. nach Emotionen, Energien, Events oder Räumlichkeiten, die in einer Person kumulieren können und wandelbar sind.30 Im Anschluss an Ulrike Auga verstehen ›multidimensionale Assemblagen‹ »intersektionale Modelle komplexer und thematisieren Kategorisierungen nicht als Identitäten oder festgeschriebene Eigenschaften von Körpern […]«31, son-dern sie sind »›Variationen von Variationen‹ […].«32

    Die Einwände, die Jasbir Puar u.a.33 betreffs Intersektionalität anmelden, tra-gen sie durchaus begründet vor. Die ›interdependente‹ Wahrnehmung von Kate-gorien sowie die Hinwendung zu z.B. konkreten historischen bzw. empirisch er-sichtlichen Gefühlen, Affekten und Ereignissen, wie sie im Rahmen dieser Un-tersuchung angestrebt wird, knüpft zumindest teilweise an ›Assemblage-Implika-tionen‹ an.

    24 Auga, Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens, S. 48. 25 Ebd. 26 Puar, »Ich wäre lieber eine Cyborg als eine Göttin«. 27 Siehe hierzu Dietze u.a., »Checks and Balances«, S. 137. 28 Puar, Queer Times, Queer Assemblages. 29 Dietze u.a., »Checks and Balances.«, S. 137. 30 Vgl. Puar, Queer Times, Queer Assemblages. 31 Auga, Geschlecht und Religion als interdependente Kategorien des Wissens, S. 60. 32 Ebd., S. 61. 33 Siehe auch Tsianos u. Pieper, Postliberale Assemblagen, S. 124f.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 21

    Beispielhaft transportiert sich in den angedeuteten Kontroversen die Einsicht, dass ›Intersektionen‹ auch abseits divergierender Termini mit unterschiedlichen Vorgehensweisen und Interessen analysiert bzw. perspektiviert werden. Intersek-tionalität dient zwar als ein »Instrument zur Erfassung des komplexen Zusam-menspiels von Benachteiligung und Privilegierung«34, das aber keineswegs unum-stritten ist.

    Im Folgenden gilt es neben verschiedenen Herangehensweisen ferner ›Schau-plätze‹ im näheren und weiteren Umfeld von Intersektionalität aufzusuchen.35 Trotz der aufgezeigten Kritik wird der Ausdruck Intersektionalität als Label weit-gehend beibehalten.

    1.1.1 Verschiedene Ebenen

    In Bezug auf intersektionale Analysen differenziert Ilse Lenz vier verschiedene Ebenen, die ihre Fokusse erstens auf die Identitätsbildung, zweitens auf soziostruk-turelle Ungleichheit, drittens auf politische Diskurse bzw. Kämpfe36 und viertens auf kulturelle Repräsentationen im Horizont von Ungleichheit sowie Differenzen richten.37

    Forschungen im Bereich der Identitätsbildung untersuchen, wie sich Merk-male, z.B. ›Rasse‹ oder Geschlecht, auf die Identitätswerdung auswirken. Im Ge-genüber zu früheren Ansätzen, in deren Folge Identitäten mitunter homogeni-siert und festgeschrieben wurden, erfassen jüngere Forschungen Identitäten als Selbstinszenierungen mit dynamischem Charakter. Beispielhaft artikuliert sich dieses Verständnis in den Arbeiten von Candace West und Sarah Fenstermar-ker (1995): Die Entstehung von Ungleichheiten entfalten sie unter der Perspek-tive von konkreten Akteur_innen und ihren sozialen Interaktionen. Große Auf-merksamkeit hat hierauf das Konzept ›doing gender‹ erhalten. Innerhalb der Ge-schlechterforschung denotiert dieser Ansatz ein Synonym für die soziale Kon-struktion von Geschlecht.38 Danach umgreift die Herstellung von Geschlecht

    eine gebündelte Vielfalt sozial gesteuerter Tätigkeiten auf der Ebene der Wahrneh-mung, der Interaktion und der Alltagspolitik, welche bestimmte Handlungen mit der Bedeutung versehen, Ausdruck weiblicher oder männlicher ›Natur‹ zu sein. […] In gewisser Weise sind es die Individuen, die das Geschlecht hervorbringen. Aber es ist ein Tun, das in der sozialen Situation verankert ist und das in der virtuellen oder realen Gegenwart anderer vollzogen wird, von denen wir annehmen, dass sie sich daran orientieren.39

    34 Lutz u.a., Fokus Intersektionalität, S. 17f. 35 Trotz der skizzierten Kritik wird der Ausdruck Intersektionalität als Label weitgehend beibehalten. 36 Da diese Ebene im Blick auf die anschließende Untersuchung in den Hintergrund rückt, wird sie im

    Folgenden nicht eigens besprochen. 37 Vgl. Lenz, Intersektionalität, S. 160–164. 38 Vgl. Gildemeister, Doing Gender, S. 145. 39 West u. Zimmerman, Doing Gender, S. 14 zit. n. Gildemeister u. Wetterer, Wie Geschlechter ge-

    macht werden, S. 237.

  • 22 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    Gerade im Zuge intersektionaler Arbeitsweisen wird aber betont, dass »›gender niemals allein, sondern stets simultan mit Klassen- und ethnischen Unterschie-den«40 zustande kommt.

    Auf der gesellschaftlichen Makroebene werden Merkmale wie ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht dahingegen als Strukturkategorien aufgefasst.41 Maßgebend für die hier situierten Forschungen sind Sozialstrukturen bzw. soziale Ungleichhei-ten, die daran anschließen.42 Besonders deutlich wird das strukturierende Mo-ment, das im Blick auf soziale Ungleichheit zugleich in die Nähe einer strukturel-len Gewalt43 rückt, im Konzept der ›dreifachen Vergesellschaftung‹ von Ilse Lenz. Danach werden Menschen durch die Kombination verschiedener Struk-turkategorien »in drei grundlegende Institutionen der Moderne vergesellschaftet: in die Familie (Geschlecht), den Arbeitsmarkt (Klasse und Geschlecht) und den Nationalstaat (Ethnizität und Geschlecht).«44 In dieser Perspektive reguliert die Kategorie Geschlecht z.B. die unbezahlte Hausarbeit von Frauen und schaltet sich als Strukturelement zentral in deren Lebensgestaltung ein.45

    Auch auf der Ebene kultureller Repräsentationen dient Intersektionalität als Instrument zur Erfassung von Ungleichheiten und Differenzen. Anhand von Be-griffen, wie z.B. ›othering‹, Alterität oder ›doing difference‹, werden Diskurspoli-tiken und -spielarten, mit deren Unterstützung Menschen einen ›naturalisierten‹ Stempel der Devianz erhalten, kritisiert.46 In ihrem intersektionalen und praxeo-logisch orientierten Mehrebenenansatz, den Gabriele Winker und Nina Degele (2007) für die Untersuchung sozialer Ungleichheiten ins Feld führen, fragen die Forscherinnen auf der Basis von subjektiven Identitätskonstruktionen nach der soziostrukturellen Verankerung sozialer Ungleichheiten sowie ihrer symboli-schen Repräsentation. Die Vermittlung zwischen den Ebenen holen sie über so-ziale Praxen ein. Neben vier deduktiv festgelegten Strukturkategorien setzen die Wissenschaftlerinnen zugleich induktive Kategorien voraus, die erst infolge einer empirisch fundierten Auseinandersetzung verifizierbar werden.47

    1.1.2 Soziale Kategorien

    Intersektionalität verfolgt u.a. das Ziel, verschiedene, sozial konstruierte Katego-rien, wie z.B. ›Rasse‹, Klasse oder Geschlecht, simultan zu untersuchen. Hierzu setzen die Untersuchungen vielmals dort an, wo sich Differenzlinien unmittelbar

    40 Gildemeister, Doing Gender, S. 143. R. Gildemeister legt hier nicht ihre eigene Perspektive dar, sondern beschreibt Auffassungen innerhalb der Diskussion um das Konzept.

    41 Vgl. Lenz, Intersektionalität, S. 161. 42 Vgl. Winker u. Degele, Intersektionalität, S. 19. 43 Siehe dazu Teil II, Kapitel 1.1.4. 44 Lenz, Intersektionalität, S. 161. 45 Über die dargebotenen Felder hinaus untersuchen gesellschaftstheoretische Ansätze außerdem die

    Verknüpfung von Herrschaftsverhältnissen und symbolischen Konstruktionen. Sowohl die Ent-würfe von Gesellschaft als auch die Auffassungen von Strukturkategorien variieren dabei je nach Zugang.

    46 Vgl. Lenz, Intersektionalität, S. 163. 47 Vgl. Winker u. Degele, Intersektionalität, S. 141.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 23

    überschneiden.48 Eingerichtet wird eine Art intersektionale ›Filterungsanlage‹, in der die ausgewählten Dimensionen »zuallererst gerastert, getrennt und kartogra-phiert werden.«49

    Die Frage nach dem Umgang mit sozialen Kategorien stellt ein zentrales Dis-kussionsfeld der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung dar. Denn ob-wohl der Eindruck entstehen kann, dass die ›verkreuzte‹ Wahrnehmung von Ka-tegorien kennzeichnend für intersektionale Arbeitsweisen ist, hat Leslie McCall (2005)50 drei Zugänge/Komplexitäten herausgearbeitet, die sich jeweils durch ihre Perspektive auf sozialen Kategorien voneinander unterscheiden. Unter dem Etikett ›anti-kategorial‹ subsummiert die Forscherin dekonstruktivistische bzw. poststrukturalistische Ansätze, in deren Folge die soziale Konstruktion von Ka-tegorien aufgedeckt und ihre Dekonstruktion angestrebt wird. Dies geschieht auf der Basis einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber etwaigen Formen der Katego-risierung bzw. der Kritik an Exklusionsmechanismen, die durch sie eingeleitet werden und Ungleichheit hervorbringen.51

    ›Intra-kategoriale Zugänge‹ nehmen dahingegen Unterschiede und Ungleich-heit in Bezug auf eine ausgewählte Dimension oder soziale Gruppe in den Blick: Die jeweiligen Kategorien werden im Lichte interner Differenzen betrachtet, also in einem Modus, der sich tendenziell gegen homogene Gruppenmerkmale richtet.

    Ihre eigene Forschung verortet McCall schließlich im Umfeld von ›inter-ka-tegorialen‹ Zugängen. Im Zentrum stehen Verschränkungen und Wechselwir-kungen zwischen verschiedenen Differenzlinien, die infolge sozialer Zuweisun-gen für Ungleichheit sorgen. Das heißt: Kategorien werden als Ort der Ungleich-heit analytisch vorausgesetzt.52 Die Verschiedenheit der einzelnen Dimensionen hat dabei immer nur einen hypothetischen Status.

    Obschon die anschließende Untersuchung in erste Linie einem interkatego-rialen Erkenntnisinteresse folgt, erhalten auch die anderen Zugänge Einlass in die Analyse und lenken das hermeneutisch-praktische Vorgehen. Die Differenzie-rungen McCalls implizieren nach diesem Verständnis keinen gegenseitigen Aus-schluss, sondern sie ergänzen einander.

    Analysekategorien bieten einerseits die Chance, implizite gesellschaftliche Normvorstellungen und daran geknüpfte Macht- und Gewaltverhältnisse ins Bild zu setzen. Andererseits steht gerade die Benennung und Ausdifferenzierung von Kategorien in der Gefahr, kategoriale Grenzen, Homogenisierungen und daran

    48 Siehe hierzu den Interdependenz-Ansatz von K. Walgenbach. Sie weist u.a. daraufhin, dass soziale

    Kategorien per se interdependent sind. 49 Lorey, Kritik und Kategorie. 50 Siehe dazu L. McCall (2005). Siehe dazu dann außerdem K. Walgenbach (2012). 51 Soiland, Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen, Hervorhebung im Original. 52 Vgl. McCall, The Complexity of Intersectionality.

  • 24 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    geknüpfte soziale Ausschlüsse zu reproduzieren oder überhaupt erst zu erzeu-gen.53 Wenn nachfolgend in Form von ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse/sozialem Sta-tus, Geschlecht und Religion54 verschiedene Kategorien konkret benannt und im Blick auf die Erkenntnisinteressen dieser Studie theoretisch beleuchtet werden,55 besteht auch hier die Option für kategoriale Engführungen. Aber: Die Verbin-dung von anti-, intra- und interkategorialen Zugängen lässt sich als Strategie ein-setzen, um dieser Problematik56 aktiv entgegenzuwirken.

    (A) Rassifizierungen und Ethnisierungen: Konstruktionen von ›Rasse‹ und Ethnizität

    »Der Intersektionalitätsdiskurs gerät insbesondere im deutschsprachigen Raum ins Stocken, wenn der Begriff ›Rasse‹ über seine Aufzählung innerhalb des Man-tras hinaus fällt, während er doch zugleich als Teil der Trias einen Eckstein der Diskussion bildet.«57 Als Form von struktureller Gewalt58 hat Rassismus erst ge-gen Ende der 1980er Jahre Einlass in die deutschsprachige Wissenschaft erhal-ten.59 Als Prozesse von Rassenkonstruktionen finden Rassifizierungen ihren his-torischen Ausgangspunkt u.a. in den kolonialen und nationalsozialistischen Ras-senlehren. Doch bereits im Spanien der Reconquista dient der Rassenbegriff in Bezug auf Juden und Jüdinnen als Instrument, »sich horizontal und durch die weitergefaßten Momente der Religion, Kultur und Herkunft voneinander«60 ab-zugrenzen. Nach Thomas Alkemeyer und Bernd Bröskamp (1998) ist

    ›Rasse‹ […] letztlich das Produkt einer Bedeutungskonstruktion, in deren Verlauf ins-besondere körperliche Merkmale als Ausdruck eines grundverschiedenen biologi-schen und/ oder kulturellen ›Wesens‹ unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen darge-stellt werden.61

    Aber: Laut ›Statement on Race‹ (1950) existieren keine wissenschaftlichen Be-funde, die eine Einteilung von Menschen in Rassen fundieren. 62 Bis heute liegt der Verwendung von Rassismen oftmals ein strategischer Impetus zugrunde, in-folgedessen politische und individuelle Interessen verwirklicht bzw. legitimiert

    53 Vgl. Hornscheidt, Sprachliche Kategorisierung als Grundlage und Problem des Redens über Inter-dependenzen, S. 100. A. Hornscheidt weist daraufhin, dass »[j]ede Kategorisierung an sich […] fest-legenden, begrenzenden und ausschließenden Charakter« hat. Ebd.

    54 Allerdings ist mit weiteren, induktiv aufkommenden Kategorien zu rechnen, die dann ›spontan‹ Ein-lass in die Analyse erhalten.

    55 Die Beschreibungen fokussieren mögliche Anknüpfungspunkte im Blick auf die exegetische und empirische Analyse. Daher werden nur solche Informationen dargeboten, die voraussichtlich den Erkenntnisinteressen dieser Studie Rechnung tragen.

    56 Zumindest auf formaler Ebene sind Begrenzungen, die ja bereits durch die Benennung von Kategorien zustande kommen, unausweichlich.

    57 Lutz u.a., Fokus Intersektionalität, S. 20. 58 Siehe dazu Teil II, Kapitel 1.1.4. 59 Vgl. Gutiérrez Rodriguez, Ethnisierung und Vergeschlechtlichung Revisited oder über Rassismus im

    neoliberalen Zeitalter. 60 Geulen, Geschichte des Rassismus, S. 14. 61 Alkemeyer u. Bröskamp, Diskriminierung/Rassismus. 62 Vgl. UNESCO, Statement on Race.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 25

    werden: Obwohl keinesfalls Einigkeit angesichts der Ursprünge von Rassismus, seinen Motiven, Grenzen oder nachhaltigen Gegenstrategien besteht,63 zeigt sich, dass bestimmte Gruppen, Völker und Regionen im Zuge von Rassismus in eine gesellschaftlich-soziale Randposition geraten. Differenzierungsmerkmale, welche die vermeintliche Fremdheit bebildern, können die Hautfarbe, körperliche Kon-stitutionen, kulturelle Brauchtümer oder Religionen sein. »Das entscheidende Merkmal dabei ist eine Bezeichnungs- und Definitionspraxis, die ein spezifisches Wissen über vermeintlich natürliche Umstände zwischen ›uns‹ und ›anderen‹ her-vorbringt.«64 Rassifzierungen ereignen sich also nicht in einem wertneutralen Raum. Stattdessen sind sie abhängig von gesellschaftlichen, historischen und kul-turellen Bedingungen bzw. Motiven. Der Ausdruck ›Rasse‹ ist somit stets histo-risch konnotiert, »d.h. er verändert sich und bedeutet immer etwas anderes.«65

    Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der historischen Genese des Terminus ›Rasse‹ und seiner gewaltvollen Verwendung u.a. im Nationalsozialismus konsta-tiert Ina Kerner »dass ein ›unschuldiger‹ Rekurs auf den Rassenbegriff«66 kaum möglich ist. Darüber hinaus kann die Verwendung von ›Rasse‹ einerseits strategi-schem Essentialismus Vorschub leisten, andererseits besteht die Gefahr, rassisti-sche Logiken zu reproduzieren.67 Und so wird die Signatur ›Rasse‹ vielmals gegen weniger vorbelastete Begriffe wie Ethnie oder kulturelle Identität(en) ausge-tauscht.68

    Während der Begriff ›Rasse‹ seinen Ausgang in aller Regel von naturalisieren-den Begründungen hernimmt, ist die Kategorie Ethnizität zumindest im europä-ischen Kontext »stark territorial bestimmt und mit der Geschichte der National-bildung verknüpft.«69 Lutz, Herrera Vivar und Supik sehen Ethnizität als den wis-senschaftlich ›neutraleren‹ Begriff an, insofern er ein scheinbar egalitäres »Neben-einander sich gegenseitig tolerierender und respektierender Kulturen«70 nahelegt. Hergeleitet wird der Terminus ›Ethnie‹ vom Griechischen ›ethnos‹ ( θνος), womit ursprünglich Menschengruppen nichtgriechischer, also fremder Herkunft ange-sprochen waren. Heute kommen unter der Perspektive von ›Ethnie‹ Gruppen in den Blick, die z.B. spezielle Daseinsbedingungen, moralische Grundlinien, Rechtsnormen, Verhaltensweisen oder Traditionen miteinander teilen.71 Ethnizi-tät, was sich als die Zugehörigkeit zu einer Ethnie definieren lässt, gilt als grup-pendynamisches Phänomen:

    Ethnizität bezeichnet eine Eigenschaft einer Gruppe bzw. eines Mitgliedes einer Gruppe […]: Erstens nehmen sich die Mitglieder einer Gruppe selbst als verschieden

    63 Vgl. Kerner, Differenzen und Macht, S. 44. 64 Winker u. Degele, Intersektionalität, S. 48. 65 Eßbach, Gemeinschaft, S. 206. 66 Kerner, Differenzen und Macht, S. 113. 67 Vgl. Lutz u.a., Fokus Intersektionalität, S. 22. 68 Jedoch werden nach G. Winker und N. Degele mithilfe dieser Behelfsformen »rassistische

    Ausgrenzungen und Diskriminierungen tendenziell verschleiert und auch salonfähig gemacht.« Winker u. Degele, Intersektionalität, S. 47.

    69 Klinger u. Knapp, Achsen der Ungleichheit, S. 20. 70 Lutz u.a., Fokus Intersektionalität, S. 20. 71 Vgl. Khan-Svik, Ethnizität und Bildungserfolg, S. 15.

  • 26 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    von anderen Menschen wahr, zweitens wird diese Gruppe von anderen ebenfalls als verschieden wahrgenommen, und drittens nehmen die Mitglieder der Gruppe an ge-meinsamen Aktivitäten teil, die sich auf ihre (reale oder mythische) gemeinsame Her-kunft oder Kultur beziehen.72

    Erst unter der Voraussetzung, dass Ethnizität ein akzeptiertes Differenzierungs-merkmal darstellt, ist das Hervorkommen von ethnisch motivierten Konflikten möglich.73 Wenn nämlich soziales Handeln zuvorderst als ethnisch bedingt gilt, avanciert diese Perspektive zum ultimativen Filter, infolgedessen menschliche Handlungen durch das Kriterium Ethnizität bestimmt werden.74 Besonders deut-lich tritt das konstruktive Moment von Ethnizität bei Stuart Hall hervor:

    Wenn das schwarze Subjekt und die schwarze Erfahrung nicht durch die Natur oder andere wesenhafte Garantien stabilisiert werden, dann müssen sie historisch, kultu-rell und politisch konstruiert sein – der Begriff, der dies bezeichnet, ist der der ›Eth-nizität‹.75

    Dieses Verständnis von Ethnizität erkennt »den Stellenwert von Geschichte, Sprache und Kultur für die Konstruktion von Subjektivität und Identität an, so-wie die Tatsache, dass jeder Diskurs platziert, positioniert und situativ ist und jedes Wissen in einem Kontext steht.«76

    Im Zuge sowohl der Untersuchung von Ex 1 als auch der empirischen Ana-lyse werden die dargebotenen Einsichten zu den Konstruktionsprozessen und -dynamiken von ›Rasse‹ bzw. Ethnizität berücksichtigt. Stets gilt dabei die jeweilige Textgrundlage als Maßstab für die Definition und die Art der Auseinanderset-zung.

    (B) Klassifizierungen und Statuszuweisungen: Konstruktionen von Klasse und sozialem Status

    Als »politisch-ökonomische Relationalität«77 prägt »Klassenzugehörigkeit […] die Lebensbedingungen und die Arbeit, die Frauen, Männer nicht selten auch Kinder leisten.«78

    Seit ehedem steht der »Klassenbegriff in der Tradition von Theorien sozialer Ungleichheit […].«79 Und die Deklassierung der ›unteren‹ Klasse(n) artikuliert sich häufig in Gestalt von körperlich harter, ›schmutziger‹ und monotoner Ar-beit.80 Wegweisend für die aktuellen Debatten im Horizont von ›Klasse‹ ist dabei noch immer das Werk von Karl Marx, dessen Definition insbesondere ökonomi-

    72 Bös, Ethnizität, S. 55. 73 Vgl. Khan-Svik, Ethnizität und Bildungserfolg, S. 22. 74 Vgl. Bös, Ethnizität, S. 57. 75 Hall, Neue Ethnizitäten, S. 22. 76 Ebd. 77 Knapp, Verhältnisbestimmungen, S. 147. 78 Ebd. 79 Winker u. Degele, Intersektionalität, S. 42. 80 Vgl. Klinger, Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht, S. 27.

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 27

    sche Referenzen aufruft und soziale Ungleichheit unter dieser Perspektive er-fasst.81 Danach bestimmt der Besitz bzw. der Nicht-Besitz von Produktionsmit-teln grundlegend sowohl über die Klassenzugehörigkeit von Menschen als auch deren soziale Lage(n). Im Ergebnis mündet diese Einteilung in einer Zweiklas-sengesellschaft, die sich aufgrund gegenläufiger Interessen stets aufs Neue im Wi-derstreit befindet82 und Klassen zu Akteur_innen »im gesellschaftlichen Kräfte-spiel«83 macht.

    Obwohl Marx »keine eindeutige formale Definition des Begriffs liefert […]«,84 ist sein Klassenmodell vielfach zum Ausgangspunkt von Auseinanderset-zungen und kritischen Rückfragen geworden. Neben dem Einwurf, wonach öko-nomische Faktoren nicht allein über Lebenslagen und Machtverhältnisse in der Gesellschaft Auskunft geben können, steht u.a. die Annahme von lediglich zwei Hauptklassen zur Disposition. Dennoch halten auch viele neuere Ansätze am Strukturprinzip der Klassen fest85 und versuchen in dieser Linie den Erklärungs-beitrag von Klassenmodellen zu erhellen. Der Soziologe Pierre Bourdieu gilt hier als einer der prominentesten und erfolgreichsten ›Optimierer‹. In seinen Arbeiten versammelt er unter der Perspektive von ›Klasse‹ über ökonomische Kriterien hinaus so genanntes soziales und kulturelles Kapital.86 Während ökonomisches Kapital materielle Besitztümer umgreift, kann kulturelles Kapitel verschiedene Formen annehmen, die sich in der Triade von inkorporiertem (z.B. Bildung und Wissen), objektiviertem (z.B. Bücher und Gemälde) und institutionalisiertem (z.B. durch Bildung erworbene Titel) Kulturkapital niederschlagen. Mit sozialem Kapital spricht Bourdieu die Beziehung und Netzwerke an, über die Personen verfügen bzw. welchen sie angehören. Das symbolische Kapital betrifft das Re-nommee einer Person und führt die drei vorangegangenen Kapitalien zusammen. Im Verständnis von Bourdieu erfolgt die Zuordnung von Menschen in Klassen entlang dieser Kapitalanlagen und stellt sich daraufhin als ein Prozess sozialer Positionierungen dar, der in aller Regel vorgezeichnet ist –

    durch einen bestimmten geschlechtsspezifischen Koeffizienten, eine bestimmte ge-ographische Verteilung (die gesellschaftlich nie neutral ist) und durch einen Komplex von ›Nebenmerkmalen‹, die im Sinne unterschwelliger Anforderungen als reale und doch nie förmlich genannte Auslese- oder Ausschließungsprinzipien funktionieren können […].87

    Bourdieu setzt keine sozialen Klassen voraus, vielmehr postuliert er einen sozi-alen Raum von Beziehungen sowie »von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als

    81 Vgl. Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 54. 82 Vgl. Burzan, Soziale Ungleichheit, S. 17. 83 Kreckel, Klassenbegriff und Ungleichheitsforschung, S. 55. 84 Burzan, Soziale Ungleichheit, S. 18. 85 Siehe dazu Ebd., S. 78. 86 Bereits bei M. Weber, den R. Kreckel als K. Marx »großen soziologischen Gegenspieler« ansieht, wird

    eine Ablehnung angesichts der marxistischen Eindimensionalität im Rahmen sozialer Ungleichheit deutlich. Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, S. 54.

    87 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 176f.

  • 28 II THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

    herzustellende.«88 Und erst »die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen«89 bestimmt im Verständnis von Bourdieu die Klasse.

    Im Unterschied zum Klassenbegriff, erscheint der Ausdruck ›sozialer Status‹, der u.a. im Zusammenhang sozialer Schichtenmodelle auftaucht, in seinen Be-deutungsdimensionen vielfältiger und zudem historisch unabhängiger. Gerade im Blick auf die Analyse biblischer Texte erscheinen diese konzeptuellen Merkmale anschlussfähig. Zugleich läuft eine Verwendung des Begriffs aber Gefahr, sich in Beliebigkeit zu verlieren.

    Nach Gerhard Preyer umfasst »[d]er soziale Status (-position) […] die Ge-samtheit zugeschriebener Wertschätzungen eines Mitglieds eines sozialen Systems und die damit einhergehenden Bewertungen (Prestige).«90 Um die ökonomische Komponente im Rahmen des sozialen Status sichtbar zu machen, hat sich der Begriff sozioökonomischer Status etabliert. Wie Hartmut Lüdtke konstatiert, ist hiermit ein theoretisches Konstrukt gemeint, »das zugeschriebene wie erworbene Eigenschaften seines Trägers, materielle symbolische, kognitive und interaktive Merkmalsdimensionen der sozialen Position einschließt.«91 Die zentralen Ele-mente, die den sozialen Status wechselseitig konstituieren, sind nach Lüdtke ma-terielle Ressourcen, Kompetenzen, Sozialprestige und Macht. Sofern Personen gleiche oder ähnliche Statuspositionen besetzen, »lassen sie sich zu einer be-stimmten Sozialschicht zusammenfassen.«92

    Die Frage, ob biblische Texte unter der Perspektive eines neuzeitlichen Klas-sebegriffes ausgelegt werden können, ist innerhalb der exegetischen Forschung umstritten. Da die antiken Erzählwelten im Rahmen dieser Untersuchung in ers-ter Linie als fiktionale Weltentwürfe gelten, erscheint die Berücksichtigung der Dimension ›Klasse‹, dessen Merkmale ja durchaus in den erzählten gesellschaftli-chen Verhältnissen anzutreffen sind, angemessen. Sodann legt Rainer Kessler be-reits für die Entstehungszeit des Ersten Testaments bzw. das 8. Jh. v. Chr. einen Prozess zugrunde, »den man als Transformation von einer relativ egalitären zu einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft beschreiben kann.«93 Wie stark und in welchem Ausmaß die dargelegten Konstruktionen von ›Klasse‹ tatsächlich Ein-lass in die Analyse erhalten, wird sich aber erst in der Auseinandersetzung mit Ex 1 entscheiden.

    (C) ›Doing gender‹ und Geschlechter-Wissen: Konstruktionen von Geschlecht

    »Gender ist weder genau das, was man ›ist‹, noch das, was man ›hat‹ […]«94, son-dern »der Apparat, durch den die Produktion und Normalisierung des Männ-

    88 Bourdieu, Sozialer Raum, Symbolischer Raum, S. 365, Hervorhebung im Original. 89 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 182. 90 Preyer, Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe, S. 71, Hervorhebung im Original. 91 Lüdtke, Expressive Ungleichheit, S. 20. 92 Ebd. 93 Kessler, Das Wirtschaftsrecht der Tora, S. 78. 94 Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 74

  • 1 INTERSEKTIONALITÄT UND VIELFALT 29

    lichen und Weiblichen vonstatten geht – zusammen mit den ineinander ver-schränkten hormonellen, chromosomalen, psychischen und performativen For-men, die Gender voraussetzt und annimmt.«95

    Judith Butler gilt als eine der Hauptvertreterinnen dekonstruktivistischer Ge-schlechterforschung. Danach wird Geschlecht kurzum zum Mechanismus, der Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in einer binären Weise produ-ziert und sogleich naturalisiert: Zweigeschlechtlichkeit, d.h. die ausschließliche Unterscheidung von Mann und Frau, bildet einen integralen Bestandteil des menschlichen Alltagswissens, das entlang der Eigenschaften männlich bzw. weib-lich strukturiert ist.96 Oft werden diese Zuweisungen direkt auf der Oberfläche des Körpers abgelesen: »Körperliche Erscheinung, Bewegung, Gestik und Mimik bilden die Elemente einer unbewussten ›Inszenierung‹ des Geschlechts.«97

    Geschlecht, und darin findet Butlers dekonstruktivistisches Anliegen u.a. sei-nen Niederschlag, kann aber gleichermaßen das Instrument sein, durch das »sol-che Vorstellungen deskonstruiert und denaturalisiert werden.«98 Geschlecht, Se-xualität und Begehren existieren in Butlers diskurstheoretischem Denkgerüst ge-rade nicht als distinkte Größen, sondern sie sind unauflösbar miteinander verwo-ben.99 Dekonstruktivistische Ansätze, welchen gewissermaßen eine konstrukti-vistische Basis vorauseilt, konterkarieren damit Annahmen, wonach Geschlecht-lichkeit natürlich vorliegt, »auf eine anthropologische Konstante oder Substanz zurückgeführt werden kann und festgelegt ist […].«100

    Dennoch hinterlässt eine dekonstruktive Perspektive »keine weiße Leinwand, die es zu bemalen gilt.«101 Raewyn Connell deutet Geschlecht zwar abseits des Determinismus von ›sex‹ (biologisches Geschlecht) und ›gender‹ (soziales Ge-schlecht); zugleich verliert der Körper in seiner Materialität weder an Gegenwär-tigkeit noch an Bedeutung:102 »Der körperliche Prozess wird Teil der sozialen Prozesse, und damit auch ein Teil der Geschichte (der persönlichen wie der kol-lektiven) und ein möglicher Gegenstand von Politik.«103

    Die sozialkonstruktivistische Dimension, die im Blick auf die Erforschung von Geschlecht den hermeneutisch-theoretischen Status quo mitbestimmt,104 hat bereits Simone de Beauvoir freigelegt als sie in das ›Das andere Geschlecht‹ kon-statiert: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. […] Nur die Vermitt-lung eines Anderen vermag ein Individuum als ein Anderes hinzustellen.«105 Die

    95 Ebd. 96 Vgl. Wetterer, Konstruktion von Geschlecht, S. 126. 97 Bublitz, Geschlecht, S. 86. 98 Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen S. 74. J. Butler weist

    nicht die Materialität des Körpers zurück, sie betont aber die Wirkmacht des Diskurses in Bezug darauf.

    99 Vgl. Butler, Körper von Gewicht, S. 21–24. 100 Bublitz, Geschlecht, S. 96. 101 Connell, Der gemachte Mann, S. 101. 102 Vgl. Ebd., S. 103. 103 Ebd., S. 107. 104 Dies soll nicht implizieren, dass genetische und hormonelle Merkmale in Bezug auf Körper und Ge-

    schlechtsorganen unberücksichtigt bleiben. 105 Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 265, Hervorhebung im Original. Kleinkinder sind etwa keines-

    wegs fähig, eigene Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit auszubilden; geschlechtsspezifische