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357 R. Hertle · Scheibenschub und Plattenbiegung bei der Bemessung des Stahlbetongurts von Verbundträgern Stahlbau 74 (2005), Heft 5 Rezensionen Mang, H., Hofstetter, G.: Festigkeits- lehre. Wien/NewYork: Springer-Verlag 2004. 2., aktualisierte Auflage. 488 S., 232 Abb. Geb., 17 x 24,5 cm. ISBN 3-211-21208-6. € 49,80 Neben der Dynamik als eine der „due nuove scienze“ in Galileo Galileis (1564–1642) 1638 veröffentlichter„Dis- corsi“ ist die Festigkeitslehre die zweite von Galilei begründete wissenschaftliche Disziplin, deren erfolgreiche historisch- logische Entwicklung im Kern auf die starke Wechselwirkung zwischen Technik und Mathematik zurückzuführen ist. Als klassisches Beispiel hierfür mag der bahnbrechende Beitrag Augustin-Louis Cauchys (1789–1857) zur Infinitesimal- rechnung und Elastizitätstheorie dienen; weniger bekannt sein dürfte die frucht- bringende Wechselwirkung zwischen Va- riationsrechnung und den Prinzipien (Prinzip der virtuellen Verschiebungen – PdvV, Prinzip der virtuellen Kräfte – PdvK, Energieprinzipien) sowie zwischen Tensoranalysis und der Schalentheorie. So gilt die Festigkeitslehre zu Recht als mathematisch anspruchsvolle technik- wissenschaftliche Grundlagendisziplin mit zahlreichen Facetten in Forschung, Lehre und Ingenieurpraxis. Die 2. Auflage des vorliegenden Bu- ches (die 1. Aufl. erschien im Jahre 2000) besitzt zwei Wurzeln. Zum einen geht es auf die von Herbert Mang seit 1982 an der TU Wien gehaltenen Vorlesungen über Festigkeitslehre zurück und zum anderen auf die von Günter Hofstetter seit 1983 an derselben Universität mitbetreuten Übun- gen und die von ihm seit 1995 an der Uni- versität Innsbruck abgehaltenen Vorle- sungen zum selben Gegenstand. Herbert Mang entwickelte mit seinen Schülern das heutige Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen der TU Wien weltweit zu einem der führenden Institute auf diesem für den Ingenieur so bedeutsa- men Wissenschaftszweig. So nimmt es nicht Wunder, daß der Spiritus rector der Festigkeitslehre Herbert Mang 2003 zum Präsidenten der Österreichischen Akade- mie der Wissenschaften avancierte. Dem- entsprechend hochgespannt ist die Er- wartungshaltung, welche sich bei den po- tentiellen Leserinnen und Lesern des Buches einstellen wird. Die Monographie belegt eindrucksvoll den erreichten Erkenntnisstand der Festig- keitslehre, von dem nicht nur zahlreiche einzelwissenschaftliche Disziplinen parti- zipieren, sondern die moderne Ingenieur- praxis verwissenschaftlichend, die Tech- nik vorantreibt. Aus ihrer reichen Praxis erwähnen die Autoren die thermomecha- nische Berechnung von Tunnelschalen und elastoakustische Analyse von Mem- branen in Mikrofonen. Für die moderne Stahlbauwissenschaft liegt die konstitu- ierende Rolle der Festigkeitslehre etwa bei der Entwicklung neuer Bemessungsver- fahren buchstäblich auf der Hand. Nachdem die Autoren die mathema- tischen Grundlagen i. w. in Gestalt der Tensorrechnung prägnant abgehandelt haben, widmen sie sich den Grundlagen der Elastizitätstheorie. Danach werden das PdvV, das PdvK und die Energie- prinzipien klar dargestellt. Ihrer Bedeu- tung für die Ingenieurpraxis gemäß wer- den der linearen Stabtheorie 100 Druck- seiten eingeräumt, die im Anschluß eine tiefe Reflektion auf die Prinzipien er- fährt. Auch die für den Stahlbau so we- sentlichen Stabilitätsprobleme erfahren hinreichend Berücksichtigung. In den nächsten fünf Kapiteln entfalten die Au- toren die durch die Festigkeitshypothe- sen begründete Brechung der Herrschaft des Linearen. Einen außerordentlich konzentrierten Einstieg in Näherungslö- sungen nach Ritz, Galerkin und der Me- thode der finiten Elemente findet der Leser im vorletzten Kapitel. Abgerundet wird das Buch durch das von Josef Eber- hardsteiner verfaßte Kapitel über experi- mentelle Methoden der Festigkeitslehre. Die Verfasser legen nicht nur ein weite- res deutschsprachiges Fachbuch zur Fe- stigkeitslehre vor, sondern ein exzellentes, wohl komponiertes Buchwerk, in dem das Begründungswissen mit operativem Wissen souverän verknüpft ist; es gelingt ihnen, eine Art Fließgleichgewicht zwi- schen Theorie und Praxis herzustellen. So reiht sich die vorliegende und zukunfts- weisende Monographie würdig ein in die bei Springer publizierten Standardwerke der international wirksamen Wiener Schule der Mechanik von Karl Girkmann (1890–1959), Ernst Melan (1890–1963) und Heinz Parkus (1909–1982). Das Buch kann deshalb Studenten mit höhe- rem fachlichen Anspruch, Wissenschaft- lern mit originären Forschungsideen für die Praxis und Ingenieuren mit erfolgver- sprechenden Entwicklungsprojekten un- eingeschränkt empfohlen werden. Karl-Eugen Kurrer, Berlin

Rezension: Festigkeitslehre. By H. Mang and G. Hofstetter

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R. Hertle · Scheibenschub und Plattenbiegung bei der Bemessung des Stahlbetongurts von Verbundträgern

Stahlbau 74 (2005), Heft 5

Rezensionen

Mang, H., Hofstetter, G.: Festigkeits-lehre. Wien/New York: Springer-Verlag2004. 2., aktualisierte Auflage. 488 S.,232 Abb. Geb., 17 x 24,5 cm. ISBN 3-211-21208-6. € 49,80

Neben der Dynamik als eine der „duenuove scienze“ in Galileo Galileis(1564–1642) 1638 veröffentlichter „Dis-corsi“ ist die Festigkeitslehre die zweitevon Galilei begründete wissenschaftlicheDisziplin, deren erfolgreiche historisch-logische Entwicklung im Kern auf diestarke Wechselwirkung zwischen Technikund Mathematik zurückzuführen ist. Alsklassisches Beispiel hierfür mag derbahnbrechende Beitrag Augustin-LouisCauchys (1789–1857) zur Infinitesimal-rechnung und Elastizitätstheorie dienen;weniger bekannt sein dürfte die frucht-bringende Wechselwirkung zwischen Va-riationsrechnung und den Prinzipien(Prinzip der virtuellen Verschiebungen –PdvV, Prinzip der virtuellen Kräfte –PdvK, Energieprinzipien) sowie zwischenTensoranalysis und der Schalentheorie.So gilt die Festigkeitslehre zu Recht alsmathematisch anspruchsvolle technik-wissenschaftliche Grundlagendisziplinmit zahlreichen Facetten in Forschung,Lehre und Ingenieurpraxis.

Die 2. Auflage des vorliegenden Bu-ches (die 1. Aufl. erschien im Jahre 2000)besitzt zwei Wurzeln. Zum einen geht esauf die von Herbert Mang seit 1982 an derTU Wien gehaltenen Vorlesungen überFestigkeitslehre zurück und zum anderen

auf die von Günter Hofstetter seit 1983 anderselben Universität mitbetreuten Übun-gen und die von ihm seit 1995 an der Uni-versität Innsbruck abgehaltenen Vorle-sungen zum selben Gegenstand. HerbertMang entwickelte mit seinen Schülerndas heutige Institut für Mechanik derWerkstoffe und Strukturen derTU Wienweltweit zu einem der führenden Instituteauf diesem für den Ingenieur so bedeutsa-men Wissenschaftszweig. So nimmt esnicht Wunder, daß der Spiritus rector derFestigkeitslehre Herbert Mang 2003 zumPräsidenten der Österreichischen Akade-mie derWissenschaften avancierte. Dem-entsprechend hochgespannt ist die Er-wartungshaltung, welche sich bei den po-tentiellen Leserinnen und Lesern desBuches einstellen wird.

Die Monographie belegt eindrucksvollden erreichten Erkenntnisstand der Festig-keitslehre, von dem nicht nur zahlreicheeinzelwissenschaftliche Disziplinen parti-zipieren, sondern die moderne Ingenieur-praxis verwissenschaftlichend, die Tech-nik vorantreibt. Aus ihrer reichen Praxiserwähnen die Autoren die thermomecha-nische Berechnung von Tunnelschalenund elastoakustische Analyse von Mem-branen in Mikrofonen. Für die moderneStahlbauwissenschaft liegt die konstitu-ierende Rolle der Festigkeitslehre etwa beider Entwicklung neuer Bemessungsver-fahren buchstäblich auf der Hand.

Nachdem die Autoren die mathema-tischen Grundlagen i. w. in Gestalt derTensorrechnung prägnant abgehandelthaben, widmen sie sich den Grundlagender Elastizitätstheorie. Danach werdendas PdvV, das PdvK und die Energie-prinzipien klar dargestellt. Ihrer Bedeu-

tung für die Ingenieurpraxis gemäß wer-den der linearen Stabtheorie 100 Druck-seiten eingeräumt, die im Anschluß einetiefe Reflektion auf die Prinzipien er-fährt. Auch die für den Stahlbau so we-sentlichen Stabilitätsprobleme erfahrenhinreichend Berücksichtigung. In dennächsten fünf Kapiteln entfalten die Au-toren die durch die Festigkeitshypothe-sen begründete Brechung der Herrschaftdes Linearen. Einen außerordentlichkonzentrierten Einstieg in Näherungslö-sungen nach Ritz, Galerkin und der Me-thode der finiten Elemente findet derLeser im vorletzten Kapitel. Abgerundetwird das Buch durch das von Josef Eber-hardsteiner verfaßte Kapitel über experi-mentelle Methoden der Festigkeitslehre.

Die Verfasser legen nicht nur ein weite-res deutschsprachiges Fachbuch zur Fe-stigkeitslehre vor, sondern ein exzellentes,wohl komponiertes Buchwerk, in demdas Begründungswissen mit operativemWissen souverän verknüpft ist; es gelingtihnen, eine Art Fließgleichgewicht zwi-schen Theorie und Praxis herzustellen. Soreiht sich die vorliegende und zukunfts-weisende Monographie würdig ein in diebei Springer publizierten Standardwerkeder international wirksamen WienerSchule der Mechanik von Karl Girkmann(1890–1959), Ernst Melan (1890–1963)und Heinz Parkus (1909–1982). DasBuch kann deshalb Studenten mit höhe-rem fachlichen Anspruch, Wissenschaft-lern mit originären Forschungsideen fürdie Praxis und Ingenieuren mit erfolgver-sprechenden Entwicklungsprojekten un-eingeschränkt empfohlen werden.

Karl-Eugen Kurrer, Berlin