13
143 rituelle spiele mit glaubwürdigkeit zu erving goffmans theatermetaphorischer soziologie von michael dellwing im folgenden möchte ich dazu beitragen, goffman als soziologen der rituellen spiele mit darstellungsidiom zu verstehen, indem ich die konstruktion von authentizität in alltäglichen umfeldern durch einen goffmanesken zugriff wende: es ist die dra- maturgische konstruktion von realität, vermengt und ergänzt durch eine dramatur- gische produktion von glaubwürdigkeit durch die darstellung von „persönlichkeit“ und nähe. während in vielen kontexten definitionen sozialer realität aufrechterhal- ten werden, denen keinesfalls glaubwürdigkeit unterstellt wird, steht gerade in der konstruktion persönlicher beziehungen eine form der realitätskonstruktion im vor- dergrund, die ich rituelle spiele mit glaubwürdigkeit nennen möchte. 1 goffmaneske soziologie die zentrale aufgabe der soziologie besteht in der befremdung der eigenen welt; 1 den scheinbar festen objektivismen des alltags wird eine perspektive entgegengesetzt, die gerade das selbstverständliche als gemacht thematisiert. für eine handlungsorientier- te interpretative soziologie tritt hier die analyse der handlungen in den mittelpunkt, in denen diese realität beständig aufrechterhalten wird; viele analysen haben das in den begriff des „doing“ gepresst. 2 erving goffmans dramaturgische soziologie 3 be- steht in erster linie daraus, diese beständige leistung alltäglich objektivierter bedeu- tungen durch multiple metaphorisierung zugänglich und verständlich zu machen. goffman führt seine leserinnen langsam an die befremdung des alltags heran, indem er die gemachtheit der welt in vier metaphern gießt: theater, ritual, sprache und spiel. zusammengenommen zeigt goffman so, wie eine perspektive auf situationen als ri- 1 Vgl. Stefan Hirschauer und Klaus Amann: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1318.) 2 die bekannteste dieser analysen ist: Candace West und Don H. Zimmerman: Doing Gender. In: Gender & Society. Official Publication of Sociologists for Women in Society 1 (1987), S. 125–151, aber der begriff hat weite kreise gezogen und wird in allen denkbaren kontexten zur lokalisiert-handelnden produktion und reproduktion von sozialen realitäten verwendet. 3 Vgl. Life as eater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben von Dennis Brissett und Charles Edgley. New Brunswick: Transaction 2005; e Drama of Social Life. A Dramaturgical Handbook. Herausgegeben von Charles Edgley. London: Ashgate 2013.

rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

143

rituelle spiele mit glaubwürdigkeitzu erving goffmans theatermetaphorischer soziologie

von michael dellwing

im folgenden möchte ich dazu beitragen, goffman als soziologen der rituellen spiele mit darstellungsidiom zu verstehen, indem ich die konstruktion von authentizität in alltäglichen umfeldern durch einen goffmanesken zugriff wende: es ist die dra-maturgische konstruktion von realität, vermengt und ergänzt durch eine dramatur-gische produktion von glaubwürdigkeit durch die darstellung von „persönlichkeit“ und nähe. während in vielen kontexten definitionen sozialer realität aufrechterhal-ten werden, denen keinesfalls glaubwürdigkeit unterstellt wird, steht gerade in der konstruktion persönlicher beziehungen eine form der realitätskonstruktion im vor-dergrund, die ich rituelle spiele mit glaubwürdigkeit nennen möchte.

1 goffmaneske soziologie

die zentrale aufgabe der soziologie besteht in der befremdung der eigenen welt;1 den scheinbar festen objektivismen des alltags wird eine perspektive entgegengesetzt, die gerade das selbstverständliche als gemacht thematisiert. für eine handlungsorientier-te interpretative soziologie tritt hier die analyse der handlungen in den mittelpunkt, in denen diese realität beständig aufrechterhalten wird; viele analysen haben das in den begriff des „doing“ gepresst.2 erving goffmans dramaturgische soziologie3 be-steht in erster linie daraus, diese beständige leistung alltäglich objektivierter bedeu-tungen durch multiple metaphorisierung zugänglich und verständlich zu machen. goffman führt seine leserinnen langsam an die befremdung des alltags heran, indem er die gemachtheit der welt in vier metaphern gießt: theater, ritual, sprache und spiel. zusammengenommen zeigt goffman so, wie eine perspektive auf situationen als ri-

1 Vgl. Stefan Hirschauer und Klaus Amann: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 1318.)

2 die bekannteste dieser analysen ist: Candace West und Don H.  Zimmerman: Doing Gender. In: Gender & Society. Official Publication of Sociologists for Women in Society 1 (1987), S. 125–151, aber der begriff hat weite kreise gezogen und wird in allen denkbaren kontexten zur lokalisiert-handelnden produktion und reproduktion von sozialen realitäten verwendet.

3 Vgl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben von Dennis Brissett und Charles Edgley. New Brunswick: Transaction 2005; The Drama of Social Life. A Dramaturgical Handbook. Herausgegeben von Charles Edgley. London: Ashgate 2013.

Page 2: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

144

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

tuelle spiele mit dem idiom der darstellung die verhandlung sozialer bedeutungen erkennen lässt4.

1.1 vier metapherndie theatermetapher erlaubt es goffman dabei, soziale handlungen als akte zu ver-stehen, in denen bedeutungen in eine soziale situation eingegeben werden. jede handlung birgt einen strauß an positionierungen zur sozialen realität in sich; mit jeder interaktion geht einher, dass akteure eine „linie“ zur realität einnehmen, also bedeutungszuschreibungen zu sich, zu ihren interaktionspartnern und zu in der interaktion bedeutsam verwendeten objekten, materiell und immateriell, machen: „[a] person […] tends to act out a line – that is, a pattern of verbal and nonverbal acts by which he expresses his view of the situation and through this his evaluation of the participants“5. diese bedeutungszuschreibungen geschehen ritualisiert, wobei diese ritualisierung jedoch nicht mit sich bringt, dass bedeutungen klar und ver-handlungen geradlinig wären. als rituelle sprache ist die darstellung dieser linien der pluralität der interpretation ausgesetzt, und wie sprachen ist das idiom der dar-stellung dynamisch und fluide. die metapher des spiels erlaubt es letztendlich, die unterschiedlichen verwendungen des ritualisierten darstellungsidioms als spiel zu verstehen, in dem einsätze und konsequenzen verborgen sind; interaktionssituatio-nen laufen als prinzipiell unvorhersehbare spiele ab, in denen die eingenommenen linien immer in der schwebe sind und erst im spiel stabilisiert werden müssen, wobei unklar bleibt, welche bedeutungen auf welche weise „gewinnen“. so ist goffmans soziologie ein wesentliches beispiel für das, was gary alan fine eine Sociology of the Local 6 genannt hat: eine perspektive, die lokale verhandlungen in den mittelpunkt rückt, ohne dabei jedoch situationalistisch zu werden; goffman warnt vor „rampant situationalism“7 und bemerkt, dass die „linien“, die in situationen eingenommen werden, selbstverständlich in bezug auf linien aufkommen, die vor ihnen kamen: „It is plain that each participant enters a social situation carrying an already established biography of prior dealings with the other participants“; jede linie „can be modified during a social contact, and typically is“8. die tatsache, dass nicht alles offen und willkürlich ist, bedeutet nicht, dass nicht zugleich auch alles potentiell verschoben werden kann.

4 Vgl. Michael Dellwing: Rituelle Spiele mit Beziehungen. In: Berliner Journal für Soziologie 20 (2010), S. 527–544; Michael Dellwing: Zur Aktualität von Erving Goffman. Wiesbaden: Springer 2014. (= Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler|innen.)

5 Erving Goffman: Interaction Ritual. Essays on face-to-face behavior. New York: Anchor Books 1967, S. 5.

6 Gary Alan Fine: Sociology of the Local. Action and its Publics. In: Sociological Theory 28 (2010), S. 355–376.

7 Erving Goffman: The Interaction Order. In: American Sociological Review 48 (1983), S. 1–17, hier S. 4.

8 Ebenda, S. 4.

Page 3: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

145

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

1.2 zerbrechlichkeit und teamstabilitätals spiel mit in situationen eingebrachten bedeutungen, die immer verschoben wer-den können, ist die definition sozialer realität beständig prekär. goffmans vierfa-che metaphorisierung ist ein zugriff, mit dem goffman den aufwand aufzeigt, der notwendig ist, um eine welt offener bedeutungen stabil zu halten, denn goffmans welt ist eine zerbrechliche, die durch loyalität in teams und hingabe zur stabilität aufrechterhalten wird.

robert prus bemerkt, dass für teilnehmer einer interaktionssituation gilt, realität sei „not theirs alone to determine“9: die geschaffenheit der sozialen welt legt die realität nicht in die hände von einzelpersonen mit ihren solipsistischen interessen, zielen oder positionen, sondern in den raum der aushandlung zwischen ihnen. goffman betont hier die zentralität des teamspiels für die aufrechterhaltung sozialer realitä-ten. das team begegnet uns bei goffman zunächst als theatertruppe, die eine reali-tätsdarstellung gemeinsam vor publikum aufrechterhält; „one may speak of drama-tic interaction, not dramatic action, and we can see this interaction not as a medley of as many different voices as there are participants but rather as a kind of dialogue and interplay between two teams,“10 wobei erstens jedes team für sich darsteller und das jeweils andere publikum ist, je nach perspektive. beide teams sind an interne loyalitätspflichten gebunden, solange – aber nur solange – das publikum präsent ist; „we find that for the duration of any particular interaction, participants of many different statuses are typically expected to align themselves temporarily into two team groupings“11.

die geteilte welt goffmans ist eine welt der darstellungs- und spielloyalitäten. wenn in der spielmetapher die darstellungsleistungen der teilnehmer als einsätze in einem realitätsspiel gesehen werden, in dem nicht eine „objektiv wahre“ situationsdefini-tion gewinnt, sondern die, die soziale unterstützung erhält, ist diese realität ständig davon abhängig, weiter geteilt zu werden. jede interaktion „exposes [the participant] to being forced by someone else into a contest“12, der immer auch verlierbar ist, wenn man sich mit seiner realitätsdefinition widerstand ausgesetzt sieht.

das macht die welt sozialer bedeutungen brüchig. treten teilnehmer aus einer erwar-teten gemeinsamen definition von realität aus, bröckelt diese: „as every psychotic and comic ought to know, any accurately improper move can poke through the thin sleeve of immediate reality“13. da rituelle handlungen, mit denen wir linien zur situa-

9 Robert Prus: Beyond the Power Mystique. Power as Intersubjective Accomplishment. Albany: SUNY Press 1999, S. 9–10.

10 Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life. Rev. Edition. New York: Anchor Books 1959, S. 91.

11 Ebenda, S. 92.

12 Goffman, Interaction Order, S. 248.

13 Erving Goffman: Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction. New York; Indianapolis: Bobbs-Merrill 1961, S. 81.

Page 4: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

146

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

tionsdefinition einnehmen, immer der interpretation unterliegen, besteht beständig die gefahr, dass andere unsere handlung als irritation werten, als „something he finds reasons to take action against“14, was nicht objektive fehler bezeichnet, sondern „faultables“15. ausnahmslos jede handlung kann in konflikte umkippen, in denen realitäten aufgebrochen werden.16 das macht die geteilte realität zu einem „delica-te, fragile thing that can be shattered by very minor mishaps“17, und in jeder face to face-situation ist man den interpretationen und irritationen anderer potentiell ausgesetzt; gary alan fine bemerkt daher, dass die stabilität der welt von der bestän-digen kooperation der partizipanten im spiel abhängt: es ist deren „commitment to stability“18, die die realität fix bleiben lässt: es ist die zusammenarbeit von menschen, auch über teams hinweg, in definitionen der situation, die die stabilität der welt, die wir alltäglich erleben, real bleiben lässt.

1.3 metaphern gegen theorie: theorie und darstellunggoffmans metaphorische soziologie ist häufig missverstanden worden. die betonung von dramaturgie und darstellung legt einigen kommentatoren eine „unwahrheit“ nahe; die trennung von vorder- und hinterbühnen der darstellung führt zu lesarten, in denen „wahre“ bedeutungen von zynisch dargestellten getrennt werden, was die darsteller zu zynischen vorspieglern macht. diese lesarten werden goffmans ansatz nicht gerecht; es handelt sich nicht um eine theorie zur menschlichen motivation, als „entrealisierung“ der welt, die bei goffman nur noch gespielte fassade sei, als zweitei-lung der welt in eine „echte“ hinter den kulissen und eine „falsche“ auf der bühne. nicht nur kritiker, auch schüler goffmans vertreten manchmal diese objektivierende sicht auf sein werk19.

goffmans perspektive ist keine theorie. smith bemerkt, goffman „showed no aspira-tion towards propositional expression as fully-fledged explanatory and predictive

14 Erving Goffman: Forms of Talk. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1983. (= University of Pennsylvania Publications in Conduct and Communication.) S. 224.

15 Ebenda, S. 225.

16 goffman ist besonders daran interessiert, wie die psychiatrie als soziale institution solche brüche managt: in The Insanity of Place. In: Psychiatry. Journal of Interpersonal Relations 32 (1969), Nr. 4, S. 357–387, bemerkt er, wie die geteilte realität brüchig wird, wenn menschen ohne erkennbar nachvollziehbaren grund aus ihr ausscheren. die soziale leistung der psychiatrie besteht darin, realitäten zu sichern, gegen die von den psychiatrisch bearbeiteten menschen widerstand geleistet wird. sie tut das durch medikalisierung, indem nämlich der widerstand der krankheit statt der person zugeschrieben wird; vgl. Michael Dellwing und Martin Harbusch: Bröckelnde Krankheitskonstruktionen. In: Krankheitskonstruktionen und Krankheitstreiberei. Die Renaissance der soziologischen Psychiatriekritik. Herausgegeben von M. D. und M. H. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 9–24.

17 Goffman, Presentation of Self, S. 56.

18 Fine, Sociology of the Local, S. 366.

19 Z. B. Arlie Hochschild: The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling. (ED 1983.) Berkeley [u. a.]: University of California Press 2012.

Page 5: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

147

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

theory“20. seine metaphorisierung tritt an die stelle eines theoretischen oder me-thodischen zugriffs. goffman hat beständig vermieden, seine arbeit ins korsett von begriffsbestimmung und exegese zu zwängen, und hat jenen steine in den weg ge-legt, die aus seiner soziologie grundbegriffe oder feste theoretische linien gewinnen wollten. goffman hasste es, wenn seine arbeit als „substantive whole, a collection of studies structured so as to constitute a unity of effort, able to be characterised by some algorithm, reference to which would permit an understanding of work accomplished and prediction of work yet to come“ verstanden wurde21. er will keine schule begründen und auch nicht als objekt von disziplinsystematisierern verwendet werden: diesen attestierte er „a colourless pedagogical interest in the discipline rather than a lively engagement with its practice and products“22. john lofland bemerkt, goffmans leitendes interesse war es „to change the way we see“:23 sein ziel war es, soziale dynamiken offenzulegen, nicht begriffe festzuzurren; diese dynamiken wur-den mit unterschiedlichen begriffen in unterschiedliches licht gerückt. er verwendet so dieselben begriffe zu unterschiedlichen zwecken, unterschiedliche zu denselben; „his oeuvre lacks self-evident internal coherence. each of his books is written […] as if none of the others had been. each starts from conceptual scratch“24. er spielt stets mit leserinnen, die aus seiner darstellung eine feste systematik gewinnen möchten, indem er elaborierte definitionen anbietet, die ins leere laufen, und jene begriffe, die arbeit verrichten, wechselt und niederreißt. seine untersuchungen zur dramaturgie der geschaffenen realität widersprechen jedoch der perspektive, es handele sich in dieser dramaturgie um eine erkenntnis, der folge geleistet werden müsste, wollte man die welt „richtig“ verstehen; die akteure in goffmans darstellung werden nicht als realitätsdarsteller gefasst, die – gar in rationaler wahl – dramatisierungsentschei-dungen treffen, möglicherweise basierend auf objektivierten ideen von „nützlichen“ darstellungen. goffman bietet in seinen formulierungen keinerlei solche anthropolo-gischen grundannahmen an und wendet sich explizit gegen sie, wo sie auftauchen, vor allem in der psychiatrie, der er vorwirft, sie lasse „charmingly explicit formu-lations on the ‚nature‘ of human nature“25 erkennen. als nicht-theorie ist goffmans perspektive nicht darauf ausgerichtet, solche grundannahmen zu machen, und die eigenen formulierungen, die goffman anbietet, werden dementsprechend nicht mit dem druck der wahrheit ausgestattet. es geht goffman um eine perspektive, die eine erkenntnis erlaubt, die mit motivationsnarrativen oder abstrakten bedeutungstheo-rien nicht zu erzielen wäre: dass handlungen als spiel mit rituellen darstellungen

20 Greg Smith: Erving Goffman. London: Routledge 2006, S. 1.

21 Robin William: Sociological Tropes. In: Theory, Culture & Society 2 (1983), S. 99–102, hier S. 99.

22 Ebenda.

23 John Lofland: Erving Goffman’s Sociological Legacies. In: Urban Life 13 (1984), S. 7–34, hier S. 14.

24 Smith, Erving Goffman, S. 5.

25 Erving Goffman: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Garden City, N. Y.: Anchor Books; Doubleday 1961, S. 85.

Page 6: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

148

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

gewendet diesen szenen eine einsicht entlocken. die intention der beteiligten ist dabei genauso fern von den zielen von goffmans analyse wie fragen nach objektiven be-deutungen; in einer perspektivischen welt, in der bedeutungen menschenwerk sind, fallen auch motivationen unter dieses diktum (sie existieren nicht objektiv, sondern sind sozial geteilte narrative, die in situationen aktiviert werden); und bedeutungen sind divers und plural.

so vermerkt er beständig, dass seine metaphern nur werkzeuge sind, die jede spätere analyse hinter sich lassen müsse: die theatermetaphorik ist ein „gerüst“, wie er am ende von Presentation of Self bemerkt, und „scaffolds, after all, are to build other things with, and should be erected with an eye on taking them down“26. andere analysen profitieren von anderen metaphern.

die fassung der dramaturgie als nicht-theorie bedeutet, dass die objektivierungen des alltags von goffmans perspektive aus weder als feste realität noch als illusion markiert werden. die dramaturgische perspektive fragt danach, was zu erkennen ist, wenn realitäten als präsentationen in situationen verstanden werden, und bemerkt, „regardless of whether a person intends to take a line, he will find that he has done so in effect“27: die intention, eine realitätsdarstellung zu leisten, ist irrelevant, um festzustellen, dass dennoch jede handlung eine definition der situation beinhaltet. auch die frage, ob diese darstellungen von jenen, die sie bieten, als wahrheit geglaubt werden, ist neben der sache. diese perspektive stellt nicht fest, dass die realitäten unwahr wären; im gegenteil stellt goffman fest, „social life is dubious enough and ludicrous enough without having to wish it further into unreality“28. was gemein-sam als realität festgeschrieben wird, worauf basierend gemeinsam gehandelt wird, ist die reale welt; es gibt keine andere.

wie bei allen sozialen bedeutungen handelt es sich nicht um abstrakta, die eine wissenschaft gewissenhaft feststellen könnte, sondern um lokale realitäten der un-tersuchten beteiligten; ob eine realität „real“ oder „illusorisch“ ist, ist wiederum eine definitionsleistung, nicht wahr oder unwahr, sondern erfolgreich oder erfolglos, grundlage gemeinsamen handelns oder nicht.

2 doing authenticity: authentizität als präsentation

authentizität wird für einen weiten fächer von phänomenen verwendet; für eine goffmaneske betrachtung ist lionel trillings „übereinstimmung von mitgeteiltem und wirklichem fühlen“29 die einschlägigste, erweitert um „übereinstimmung von

26 Goffman, Presentation of Self, S. 254.

27 Goffman, Interaction Order, S. 5.

28 Goffman, Forms of Talk, S. 2.

29 Lionel Trilling: Sincerity and Authenticity. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1972, S. 12.

Page 7: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

149

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

mitgeteilten und tatsächlichen zielen“ und „mitgeteilten und tatsächlichen motiva-tionen“. für eine perspektive, die aus der interpretativen soziologie stammt, ist eine solche rhetorik von „tatsächlichkeit“ prekär: fühlen, zielsetzungen und motivationen sind sozial konstruiert und liegen zwischen, nicht in personen. es ist genau diese du-alität, die goffman aufhebt, wenn er mithilfe seines vierfach metaphorischen zugriffs die leistungen betont, die immer wieder notwendig sind, um eine zerbrechliche be-deutungswelt aufrechtzuerhalten.

als soziale bedeutung, auf deren basis miteinander gehandelt wird, handelt es sich auch bei der authentizität um eine konstruktion, die in verwendung eines rituellen idioms dargestellt, interpretiert und verhandelt wird; zugleich ist es eine konstrukti-on, deren wesentliches merkmal darin besteht, eine „unkonstruierte“ aufrichtigkeit darzustellen. das setzt sie nicht von der mehrheit der darstellungen ab; wie oben fest-gestellt, steht „konstruktion“ nicht gegen „realität“, „darstellung“ und „präsentation“ sind keine namen für unwahres. es handelt sich jedoch um eine zusätzliche ebene der konstruktion: realität muss nicht notwendigerweise mit dem idiom der authen-tizität konstruiert werden, um basis für gemeinsames handeln zu sein. authentizität ist eine zusätzliche konstruktion, in der handelnd nicht realität hergestellt wird, sondern eine beziehung.

2.1 doing und workingder begriff des „work“ als thematisierung der aktiven gestaltung und reproduktion sozialer kategorien in ihrer lokalen verwendung wurde vor allem über arlie hoch-schilds studie zur emotion work30 popularisiert, taucht aber darüber hinaus in kon-texten wie „touching work“31, „body work“32, „illness work“33 oder „self-work“34 auf.

eng verwandt mit der metapher des „doing“, das vor allem in „doing gender“ verbrei-tung gefunden hat, wird in der „work“-metapher die aktive leistung sozialer bedeu-tungen in den vordergrund gerückt. die metapher des „work“ dient dabei vor allem

30 Arlie Russel Hochschild: Emotion work, feeling rules, and social structure. In: The American Journal of Sociology 85 (1979), Nr. 3, S. 551–575.

31 Carrie Purcell: Touching Work. A Narratively-informed Sociological Phenomenology of Holistic Massage. Edinburgh, Univ., Ph. D. Thesis 2012.

32 Debra Gimlin: What Is „Body Work“? A Review of the Literature. In: Sociology Compass. International Review of Sociology of Religion 1 (2007), S.  353–370; Linda Mcdowell: Body Work. Heterosexual Gender Performance in City Workplaces. In: Mapping Desire. Geographies of Sexualities. Herausgegeben von David Bell und Gill Valentine. London; New York: Routledge 1995, S. 67–84.

33 Vgl. Joanne Reeve, Tom Lynch und Mary Lloyd-Williams: From Personal Challenge to Technical Fix. The Risks of Depersonalised Care. In: Health & Social Care in the Community 20 (2012), S. 145–154.

34 Vgl. Gary Alan Fine und Corey D. Fields: Culture and Microsociology: The Anthill and the Veldt. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science (2008), Nr. 619, S. 130–148.

Page 8: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

150

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

hochschild dazu, den kommodifizierten charakter der bedeutungen zu untermau-ern: in ihrer studie zu (mehrheitlich weiblichen) flugbegleiterinnen untersucht sie, wie emotionsdarstellungen teil der dienstleistung sind und diese somit in dienstleis-tungskontexten (mit-)verkauft werden. im begriff „work“ steckt damit ein aspekt der entfremdung, der bereits eine aussage zur authentizität in sich trägt; für die hier vor-genommene untersuchung trägt das eine wertung in sich. tatsächlich hat der begriff der „authentizitätsarbeit“ einige verwendung gefunden, vor allem in kontexten, in denen authentizität als teil eines produktes verkauft wird, zum beispiel im customer service35, im tourismus, in dem besuchern eine fassade geboten werden muss, die für sie wie das authentische leben der beteiligten aussieht36, aber auch in der unter-stützung von psychiatriepatienten, denen krankheitsrollen zugeschrieben wurden37.

der metapher des „doing“ fehlt die in der „work“-metapher liegende betonung der aktiven produktion und reproduktion von bedeutungen; sie bietet dagegen eine allgemeinere thematisierung, die die „work“-metapher nicht ausschließt oder ver-drängt, sondern mit der lediglich eine weitere linse auf die interaktiv geleistete welt gerichtet wird. untersuchungen wie „doing addiction“, „doing difference“, „doing race“38 etc. blicken auf die praktiken und strategien, mit denen bedeutungen hand-lungspraktisch ausgespielt werden; neben diesen praktiken der darstellungen sind jedoch die praktiken der interpretation ebenso zentral. kein idiom gibt bedeutungen stabil vor; die gesamte stoßrichtung der „doing“-metapher zielt ja gerade auf die in-teraktive leistung, die eine determination durch ein idiom ausschließt.

2.2 doing reality / doing authenticity: die doppelte leistung der realitäthandelnd gemeinsam realitäten herzustellen ist ein vielschichtiger prozess. realitäten sind weder stabil, noch sind sie einheitlich: die pluralität der welt schlägt sich auch in der situation nieder, in der rituelle spiele mit dem idiom der dramatisierung von realität ablaufen. dabei finden sich regulär viele sich überschneidende stränge der realität unter verhandlung: eine linie zu einem objekt einnehmen bedeutet gleich-zeitig, eine linie zu sich einzunehmen, zu den anderen beteiligten personen, zu den worten, die man verwendet, und den ressourcen, die man in auseinandersetzung mit dem objekt nutzt, zu anderen verbundenen objekten – eine linie einnehmen heißt, potentiell eine linie zu einem bündel sozialer bedeutungen einzunehmen. gleichzei-tig sind eingenommene linien zu einer einzelnen bedeutung vielschichtig: offizielle realitäten stehen neben realitäten, die geteilt sind, ohne dass sie verbalisiert werden

35 Vgl. Kiran Mirchandani: Phone Clones. Authenticity Work in the Transnational Service Economy. Ithaca [u. a.]: Cornell University Press 2012.

36 Vgl. Philipp Pearce und Gianna Moscardo: The Concept of Authenticity in Tourist Experiences. In: Journal of Sociology 22 (2012), S. 121–132.

37 Vgl. Anne Scott: Authenticity Work. Mutuality and Boundaries in Peer Support. In: Society and Mental Health 1 (2011), S. 173–184.

38 John L. Jackson: Harlemworld. Doing Race and Class in Contemporary Black America. Chicago [u. a.]: University of Chicago Press 2001.

Page 9: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

151

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

können, und beide bedeutungen müssen in vorsichtiger balance gehalten werden; realitäten, die gegenüber einem publikum präsentiert werden, stehen neben anderen realitäten, die in derselben situation anderen beteiligten präsentiert werden, eine diskrepanz, die mit kleinen zeichen und hinweisen aufrechterhalten wird39.

zu dieser vielschichtigkeit tritt die frage der authentizität. goffman stellt mehrfach fest, dass eine geteilte realitätsdefinition nicht zudem als authentisch konstruiert werden muss, um gültigkeit zu besitzen und im sinne des thomas-theorems40 mit sozialen konsequenzen geteilt zu werden – allerdings mit anderen. handeln die be-teiligten auf der basis der annahme, eine geteilte definition sei authentisch und real, hat das andere auswirkungen, als handelten sie auf der basis einer geteilten defini-tion, die jedoch zugleich als fassade, trick, höfliches ignorieren etc. verstanden wird. goffmans arbeit ist von dieser unterscheidung durchzogen, die für ihn beständig eine leistung bleibt, die bei den beteiligten zu suchen ist. das sind genau genommen zwei unterschiedliche leistungen, da goffman immer wieder betont, dass realitäten auch ohne diese zugeschriebene authentizität geleistet werden können. die unter-scheidung zwischen zynischen darstellern und wahrer realität findet sich so nicht auf der ebene der theorie, sondern auf der ebene der gemeinsamen handlung von menschen.

2.3 praktiken der authentizitätsunterstellungauthentizität ist ebenso eine bedeutung, die sozial verhandelt wird; es geht soziolo-ginnen nicht darum, festzustellen, was „real“ ist und was nicht, sondern darum, was erfolgreich in einem sozialen bedeutungsspiel als real verbreitet und akzeptiert wird. sowohl in der interpersonalen kommunikation als auch in künstlerischen und ande-ren kulturellen zusammenhängen ist „authentizität“ eine leistung, eine erfolgreich angebrachte und angenommene darstellung. authentizität ist das erfolgreiche verste-cken von interaktionsstrategien; definition des nicht-strategischen; authentizität ist eine maske, die nicht als maske gelesen wird.

goffman ist durch seine verschiedenen arbeiten hindurch immer wieder auf die praktiken und prozesse zurückgekommen, mit denen teilnehmer in interaktionssi-tuationen nicht nur realität, sondern auch authentizität darstellen. goffman geht es hier um das idiom der authentizität; „the details of the expressions and movements used do not come from a script but from command of an idiom, a command that is exercised from moment to moment with little calculation of forethought“41. die-se sprache der authentizität beinhaltet eine trennung der regionen, die diskussion von verantwortungszuschreibung zu handlungen in der unterscheidung zwischen

39 Vgl. Michael Dellwing: Little Dramas of Discomposure. In: Symbolic Interaction 35 (2012), S. 146–161.

40 nach william isaac thomas: „if men define situations as real, they are real in their consequences“.

41 Goffman, Presentation of Self, S. 74.

Page 10: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

152

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

impressions given und impressions given off sowie die diskussion normaler erschei-nungen und strategischer interaktion. in all diesen diskussionen treten absicht als konstruktion und authentizität als darstellung in den vordergrund.

authentizität ist zunächst eine folge von gegenseitigen unterstellungen. in seiner unterscheidung zwischen vorderregionen und hinterbühnen betont goffman zwar scheinbar zunächst eine putative realität hinter der bühne gegenüber einer show vor publikum, wenn er bemerkt, „here, the performer can relax: he can drop the front, forego speaking his lines, and step out of character“42; allerdings unterstreicht er schnell, dass auch handlungen hinter der bühne darstellungen sind, die nun ledig-lich anderen kontexten genüge leisten. hinterbühnen sind nicht absolut, sondern „re-lative to adjacent areas:“43 sie „function at one time and in one sense as a front region and at another time and in another sense as a back region“44. die unterscheidung ist eine vertrauensunterscheidung, keine ortsunterscheidung: auf der hinterbühne agiert man mit der erwartung, dass zuschauerinnen die darstellungen nicht bei jeder kleinen irritation gegen die darsteller wenden, während auf relativen vorderbühnen öffentliches publikum zu finden ist, dem man mit seinen darstellungen und deren interpretationen und verwendungen nicht trauen kann. authentizität wird daher der aktion auf hinterbühnen unterstellt, gerade weil dort vergleichsweise sorglos umgegangen werden kann; zugleich ist eine hinterbühne ein raum, auf dem au-thentizitätsdarstellungen erwartet werden und ihr fehlen sanktioniert wird, was die authentizitätspräsentation zu einer erforderten darstellung macht. wer beispielsweise auf der hinterbühne vorsichtige, abgewägte antworten gibt und herausforderungen meidet, wer formale interaktionsstrukturen der vorderbühne wie öffentliche höf-lichkeiten verwendet, wird von jenen, die informelle interaktion erwartet haben, dafür zur rede gestellt werden können – wenn nicht unterstellt wird, dass durch diese darstellungsformen die hinterbühne verlassen und zu einer vorderregion um-funktioniert wurde. die informalitäten der hinterbühne sind damit darstellungen von authentizität und persönlichkeit, während die öffentlichen formalitäten zum idiom der fassade gehören; mit der darstellung von hinterbühneninteraktion geht eine darstellung von enger beziehung einher. das ist der rahmen der darstellung von authentizität: die darstellung von persönlichkeit und nähe, vertrauen und sicherheit, die als linien zur gegenseitigen beziehung eingenommen werden.

diese fassade wird als fassade, aber dennoch als geteilte realität interpretiert. sie ist offiziell gültig, aber inauthentisch; das ist die last der formalen bürokratie und der vertreter derselben, deren handlungen keine „menschlichkeit“ zugeschrieben wird. die offiziellen realitäten, die aufrechterhalten und auf deren basis gehandelt wird,

42 Ebenda, S. 112.

43 Ebenda, S. 124.

44 Ebenda, S. 126.

Page 11: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

153

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

ohne dass diese realität die zuschreibung auf die beteiligten personen durchbricht, nennt goffman „arbeitskonsens“ („working consensus“)45.

die vielleicht wesentliche unterscheidung im idiom der authentizität findet sich in goffmans arbeit an mehreren stellen mit mehreren begriffen: in Presentation of Self heißt sie „impressions given“ und „impressions given off“, in Behavior in Public Places heißt sie „linguistic messages“ und „expressive messages“. es ist derselbe kern der unterscheidung: „[l]inguistic messages are felt to be voluntary and intended; expressive messages, on the other hand, must often preserve the fiction that they are uncalculated, spontaneous, and involuntary“46, und

„[impressions given involve] verbal symbols and their substitutes which he uses admittedly and solely to convey the information that he and the others are known to attach to these symbols. This is communication in the traditional and narrow sense. [impressions given off] a wide range of action that others can treat as symptomatic of the actor“47.

goffman betrachtet hier das idiom der zurechnung von absicht und manipulation, von bewusster gegenüber unbewusster ausdrucksgestaltung als idiom der zuschrei-bung von fassade und authentizität. das ist nicht einfach die unterscheidung zwi-schen sprache und körper: körperdarstellungen können als absicht und damit als manipulation gelesen werden, während sprachliche darstellungen als unabsichtlich und „unbedacht“, als tore zu einer tieferen authentizität gelesen werden können. dabei fällt „absicht“ ebenso unter die limitation, eine soziale bedeutung zu sein. „It is important to remember that the issue here is not whether the information provided is in fact provided voluntarily or involuntarily. It is, rather, whether the co-participants […] take it that it is provided voluntarily or not“48. „impressions given off“ sind damit darstellungen der „presumably unintentional kind, whether this communication be purposely engineered or not“49. da das innere von menschen uns systematisch verschlossen bleibt und für die in interaktionen hergestellte realität ohnehin nicht fundamental ist, ist „absicht“ eine interpretation, die ebenso zwischen menschen zustande kommt, nicht in ihnen.

die dramaturgie der glaubwürdigkeit beinhaltet also körpersprachlichkeit, informa-lität und emotionale dramaturgie. darüber hinaus jedoch enthält das rituelle spiel mit glaubwürdigkeit ein spiel mit den erwartungen des gegenübers: es ist vor allem die nicht-erfüllung „fassadenhafter“ erwartungen, die zweifel an der „aufgesetzt-

45 Ebenda, S. 9.

46 Erving Goffman: Behavior in Public Places. Notes on the Social Organization of Gatherings. New York [u. a.]: Free Press of Glencoe 1963, S. 14.

47 Goffman, Presentation of Self, S. 2.

48 Adam Kendon: Goffman’s Approach to Face-to-face Interaction. In: Erving Goffman. Exploring the Interaction Order. Herausgegeben von Paul Drew und Anthony Wootton. Cambridge: Polity 1988, S. 14–40, hier S. 23.

49 Goffman, Presentation of Self, S. 4.

Page 12: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

154

LiTheS Nr. 11 (Oktober 2014) http://lithes.uni-graz.at/lithes/14_11.html

heit“ und damit die umdeutung der darstellung in „authentisch“ befördert. authen-tizität wird hier demjenigen unterstellt, der die erwartete sichere antwort nicht gibt, die erwartete abkürzung meidet, die erwartete zurückhaltung nicht an den tag legt.

2.4 authentizität als bindungszeichenauthentizität wird jedoch nicht ausschließlich in darstellungen der authentizität ver-handelt, und „authentisch“ ist letztlich kein isoliertes merkmal, das einer person oder einer aussage für sich zugeschrieben wird. wie oben bereits erwähnt, ist einer der aspekte der linien, die menschen zur welt einnehmen, die definition von bezie-hungen. goffman nennt die darstellungen, in denen beziehungen präsentiert wer-den, bindungszeichen50. authentizität ist nicht nur ein element in der konstruktion sozialer realität, mit der sicherheit kommuniziert wird; sie ist vor allem auch ein be-ziehungszeichen zwischen den beteiligten, mit dem eine linie zur enge der bindung dargestellt wird. es ist jedoch mehr als das. die verwobenheit von linien zur sozialen realität führt dazu, dass nicht nur authentizität ein element zur unterstellung von bindungen ist, sondern dass bindungsunterstellungen umgekehrt auch ein wesentli-ches element in der unterstellung von authentizität darstellen.

es geht in dieser unterscheidung damit zentral, wie bei den regionen, nicht um fes-te elemente eines idioms, sondern um die interpretation des umgangs mit einem idiom durch beteiligte: die unterstellung von absicht, gepaart mit der unterstellung der profitabilität einer manipulation, kann ansonsten harmlose darstellungen als manipulativ erscheinen lassen, während die unterstellung einer sicherheit eine sonst verdächtige darstellung als sicher lesbar macht. mit anderen worten: authentizität ist keine darstellung, die mit der verwendung eines authentizitätsidioms sicher erreicht werden kann; die verwendung des idioms ist ein aspekt, aber die interpretation des-selben durch ein publikum, das diese interpretation im rahmen von authentizitäts-erwartungen und einer zuschreibung von beziehungen vornimmt, macht eine situa-tion erst zur authentizitätssituation.

authentizität ist damit nicht nur eine darstellung, dass darstellung und person das-selbe sind. vielmehr findet authentizität sich in einer komplexen verwobenheit mit bindungsunterstellungen und damit in einer verwobenheit mit unterstellungen, wer an welchem team zur konstruktion sozialer realität beteiligt ist. um letztlich als ge-teilte authentizitätsrealität zu gelten, müssen es erfolgreiche darstellungen sein: dar-stellungen, die von den beteiligten angenommen werden, worin die unterstellungen einfließen, ob es sich bei den darstellern um mitspieler im selben team handelt. wird ein team unterstellt, werden darstellungen im zweifel eher als authentisch gelesen; wird kein team unterstellt, bedarf es dagegen der dramaturgie von authentizität. da authentizität ein bindungszeichen ist, kann mit ihr gerade zum zweck gespielt wer-den, teams zu bauen, wo vorher keine waren, und bindungen herzustellen, die zuvor nicht beidseitig unterstellt wurden; umgekehrt können mangelnde authentizitäts-

50 Vgl. Erving Goffman: Relations in Public. Microstudies of the Public Order. New York: Basic Books 1971, S. 194.

Page 13: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit - uni-graz.atlithes.uni-graz.at/lithes/beitraege14_11/dellwing... · 2014. 10. 31. · 3gl. Life as Theater. A Dramaturgical Sourcebook. Herausgegeben

155

michael dellwing: rituelle spiele mit glaubwürdigkeit

darstellungen bindungen brechen. umgekehrt können sichere und unhinterfragte teamunterstellungen dazu führen, dass auch darstellungen, die dem authentizitäts-idiom scheinbar widersprechen, dies in der situation nicht tun: das idiom bestimmt sich nicht abstrakt, sondern in gemeinsamer definition der beteiligten, und die si-chere zuschreibung einer persönlichen bindung wird dazu führen, dass auch solche darstellungen als authentisch gelesen werden, die in anderen beziehungen als klare zeichen der aufgesetzten fassade gälten. eine bestehende unterstellung persönlicher bindung lässt die zuschreibung mangelnder authentizität genauso sicher und wahr-scheinlich werden, wie eine bestehende unterstellung des fehlens einer solchen bin-dung eine zuschreibung von authentizität prekär werden lässt. authentizität ist für eine goffmaneske perspektive daher nicht ohne einen rekurs zur geteilten definition sozialer realitäten denkbar, und damit nicht ohne eine beachtung des teamspiels, das eine solche realität beinhaltet.