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Robert Jordan - Das Rad der Zeit Band 01 - Drohende Schatten

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Robert Jordan

DROHENDESCHATTEN

Das Rad der Zeit

Erster Roman

Ebook by »Menolly«

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHENISBN 3-453-06579-4

Page 3: Robert Jordan - Das Rad der Zeit Band 01 - Drohende Schatten

INHALT

PROLOG: Der Drachenberg ................................ 61. KAPITEL: Eine einsame Straße ....................... 182. KAPITEL: Fremde ......................................... 463. KAPITEL: Der fahrende Händler ..................... 674. KAPITEL: Der Gaukler .................................. 895. KAPITEL: Winternacht ................................... 1136. KAPITEL: Der Westwald ................................ 1417. KAPITEL: Aus dem Wald hinaus ..................... 1548. KAPITEL: Eine sichere Zuflucht ..................... 1769. KAPITEL: Was das Rad sagt... ........................ 19910. KAPITEL: Abschied ..................................... 22711. KAPITEL: Die Straße nach Taren-Fähre ......... 24512. KAPITEL: Über den Taren ............................ 25913. KAPITEL: Entscheidungen ............................ 28114. KAPITEL: Zum ›Hirsch und Löwen‹ .............. 31015. KAPITEL: Fremde und Freunde .................... 33416. KAPITEL: Die Seherin .................................. 36917. KAPITEL: Beobachter und Jäger .................... 38518. KAPITEL: Die Straße nach Caemlyn .............. 41419. KAPITEL: Drohende Schatten ........................ 43720. KAPITEL: Wie Staub im Wind ...................... 46721. KAPITEL: Lausche dem Wind ....................... 49822. KAPITEL: Der eingeschlagene Weg ............... 519Glossar .............................................................. 528

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PROLOG

Der Drachenberg

Der Palast bebte immer noch von Zeit zu Zeit, wenn dieErde grollte, wenn sie aufstöhnte, als wolle sie ableugnen,was doch geschehen war. Balken von Sonnenlicht fielendurch Risse in den Wänden. Staubteilchen, die immernoch in der Luft hingen, glitzerten darin. Brandfleckenverunstalteten die Wände, die Decke und den Boden.Breite schwarze Schmierspuren zogen sich überblasenschlagende Farbe und die Blattgoldauflage einststrahlend schöner Wandgemälde. Ruß bedeckte denzerbröckelnden Fries mit den Darstellungen vonMenschen und Tieren. Es schien fast, als hätten diesefortzulaufen versucht, bevor der Wahnsinn sich wiederberuhigte. Überall lagen die Toten, Männer, Frauen undKinder, auf dem Fluchtversuch von Blitzen erschlagen,die jeden Korridor durchzuckten, oder von lauerndenFlammen ergriffen, oder in die Steine eingesunken, dieSteine des Palastes, die sich, beinahe lebendig, bewegthatten, gesucht hatten, bis die Stille wiederkehrte. Infremdartig anmutendem Gegensatz dazu standen diefarbigen Wandbehänge und Gemälde – alles Meisterwerke–, die völlig unbeschädigt dahingen, außer an Stellen, wodie sich einwölbenden Mauern sie beiseite geschobenhatten. Kunstvoll geschnitzte Möbel, mit Gold undElfenbein eingelegt, standen unberührt, und nur wenigeMöbelstücke waren umgestürzt, als die Böden sichaufgebäumt hatten. Der Wahnsinn hatte auf das Herzgezielt und unwichtige Dinge übersehen.

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Lews Therin Telamon schritt durch den Palast, undwenn sich die Erde aufbäumte, hielt er doch dasGleichgewicht. »Ilyena! Meine Liebste, wo bist du?« DerSaum seines blaßgrauen Umhangs schleifte durch Blut, alser über die Leiche einer Frau sprang, deren goldblondeSchönheit vom Schrecken der letzten Momente ihresLebens zerstört worden war. Ihre aufgerissenen Augenwaren in ungläubigem Staunen erstarrt. »Wo bist du,geliebte Frau? Wo verbergt ihr euch alle?«

Sein Blick erspähte das eigene Abbild in einem Spiegel,der schief an einer aufgeworfenen Marmorwandbaumelte. Seine Kleidung hatte einst stattlich gewirkt,grau und golden und purpurfarben, aus feingewebtenTuchen, die Händler von jenseits des Weltmeeresmitgebracht hatten; doch nun war sie zerrissen undschmutzig und genau wie sein Haar und seine Haut voneiner dicken Staubschicht bedeckt. Einen Augenblick langfuhren seine Finger das Symbol auf dem Umhang nach,einen Kreis mit einer weißen und einer schwarzen Hälfte,die durch eine fließende Linie voneinander getrenntwaren. Es hatte irgendeine Bedeutung, dieses Symbol.Rasch jedoch schweifte seine Aufmerksamkeit von demgestickten Kreis ab. Staunend betrachtete er wieder seinSpiegelbild. Ein hochgewachsener Mann, der gerade in diemittleren Jahre gekommen war, einst gutaussehend, dochnun war sein Haar schon eher weiß als braun zu nennen,und das Gesicht war von Überanstrengung und Sorgenzerfurcht. Die dunklen Augen hatten schon viel zu vielgesehen. Lews Therin begann leise zu lachen, dann warfer den Kopf zurück, und sein lautes Gelächter kehrte alsEcho aus den unbelebten Hallen zurück.

»Ilyena, meine Liebste! Komm zu mir, mein Weib. Dasmußt du sehen!«

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Hinter ihm schimmerte die Luft, floß in Wellenineinander und gebar aus diesem Wirbel einen Mann, dersich umsah und dabei kurz den Mund vor Ekel verzog. E rwar nicht so groß wie Lews Therin und ganz in Schwarzgekleidet. Nur der schneeweiße Spitzenkragen um denHals und der silberne Zierrat an den oben umgeschlagenenhüfthohen Stiefeln stachen aus dem Schwarz hervor. E rschritt vorsichtig durch den Saal und hob sorgfältig denUmhang, damit er die Leichen nicht streifte. Der Bodenerzitterte in Nachbeben, aber seine Aufmerksamkeit galtdem Mann, der in den Spiegel starrte und lachte. »Herrdes Morgens«, sagte er, »ich bin gekommen, um Euch zuholen.«

Das Lachen brach ab, als sei es nie gewesen, und LewsTherin drehte sich – anscheinend keineswegs überrascht –zu ihm um. »Ach, ein Gast. Habt Ihr eine gute Stimme,Fremder? Es wird bald Zeit, das Singen zu beginnen, undhier sind alle willkommen, die daran teilnehmen möchten.Ilyena, meine Liebste, wir haben einen Gast. Ilyena, wobist du?«

Die Augen des schwarzgekleideten Mannes weitetensich, sein Blick huschte hinüber zum Körper dergoldblonden Frau und dann zu Lews Therin zurück.»Shai'tan soll Euch holen! Hat Euch denn der Wahn schonso stark ergriffen?«

»Dieser Name. Shai...« Lews Therin erschauderte undhob eine Hand, als wolle er etwas abwehren. »Ihr dürftdiesen Namen nicht erwähnen. Das ist gefährlich.«

»Also erinnert Ihr Euch wenigstens daran. Gefährlichfür Euch, Ihr Narr, nicht für mich! Woran erinnert IhrEuch noch? Erinnert Euch, Ihr verblendeter Idiot! Ichwerde dies alles nicht beenden, wenn Ihr vonAhnungslosigkeit strotzt! Erinnert Euch!«

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Einen Augenblick lang betrachtete Lews Therin seineerhobene Hand, fasziniert von den Mustern im Schmutz.Dann wischte er die Hand an dem noch schmutzigerenUmhang ab und wandte seine Aufmerksamkeit wiederdem anderen Manne zu. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«

Der schwarzgekleidete Mann richtete sich arrogant auf.»Einst nannte man mich Elan Morin Tedronai, dochjetzt...«

»Verräter aller Hoffnung!« Es war nur ein Flüsternvon Lews Therin. Erinnerungen regten sich, aber erwandte den Kopf und scheute ihre Berührung.

»Also erinnert Ihr Euch an einiges. Ja, Verräter allerHoffnung. So bin ich von Menschen genannt worden, sowie sie Euch Drache nannten, aber im Gegensatz zu Euchgefällt mir dieser Name. Sie gaben mir diesen Namen, ummich damit zu beschimpfen, doch ich werde sie dazubringen, niederzuknien und ihn anzubeten. Was werdetIhr mit Eurem Namen anfangen? Nach dem heutigen Tagwerden die Menschen Euch Brudermörder nennen. Wiefindet Ihr das?«

Lews Therin ließ den sorgenvollen Blick durch denzerstörten Saal schweifen. »Ilyena sollte hier sein, umeinen Gast willkommen zu heißen«, murmelte erabwesend, und dann erhob er die Stimme. »Ilyena, wo bistdu?« Der Boden bebte, der Körper der goldblonden Frauveränderte die Lage, als antworte er auf den Ruf. SeineAugen sahen sie nicht.

Elan Morin verzog das Gesicht. »Schaut Euch nur an«,sagte er verächtlich. »Einst wart Ihr der erste allerDiener. Einst habt Ihr den Ring von Tamyrlin getragenund auf dem Thron gesessen. Einst habt Ihr die NeunGeißeln der Herrschaft beschworen. Und jetzt? Einerbärmliches, zerbrochenes Wrack. Aber das ist nicht

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genug. Ihr habt mich in der Halle der Diener gedemütigt.Ihr habt mich vor den Toren von Paaran Disen besiegt.Aber jetzt bin ich der Größere. Ich werde Euch nichtsterben lassen, ohne Euch das bewußt zu machen. WennIhr sterbt, werden Eure letzten Gedanken das gesamteWissen um Eure Niederlage erfassen. Ihr werdetbegreifen, wie vollständig und endgültig sie ist. Falls ichEuch überhaupt sterben lasse.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was Ilyena so langeaufhält. Sie wird böse auf mich sein, falls sie glaubt, ichhabe einen Gast vor ihr verborgen. Ich hoffe, Ihrunterhaltet Euch gern, denn das liebt sie. Seid gewarnt.Ilyena wird Euch so viel fragen, daß Ihr am Ende alleserzählt, was Ihr wißt.«

Elan Morins Hände verkrampften sich. Mit einerschnellen Bewegung warf er den Mantel zurück. »Wieschade für Euch«, grübelte er laut, »daß keine EurerSchwestern hier ist. Ich war nie sehr geschickt im Heilen,und nun folge ich einer anderen Macht. Doch selbst einevon ihnen könnte Euch nur ein paar klare Minutenbescheren, falls Ihr sie nicht schon vorher zerstört. Wasich tun kann, wird seinen Zweck auch erfüllen – jedenfallsmeinen Zweck.« Sein plötzliches Lächeln hatte einengrausamen Zug. »Ich fürchte nur, die Heilung durchShai'tan unterscheidet sich von der, die Ihr kennt. Heile,Lews Therin!« Er streckte die Hände aus, und das Lichtverdunkelte sich, als läge ein Schatten auf der Sonne.

Schmerz flammte in Lews Therin auf, und er schrie.Der Schrei kam aus den Tiefen seiner Seele, und er konnteihn nicht aufhalten. Feuer versengte sein Mark, Säure floßdurch seine Adern. Er fiel nach rückwärts, stürzte auf denMarmorboden; sein Kopf schlug auf dem Stein auf undprallte zurück. Sein Herz hämmerte, bemühte sich, aus der

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Brust herauszuspringen, und mit jedem Pulsschlagdurchzuckten ihn neue Flammen. Hilflos verkrampfte ersich, schlug um sich, sein Schädel eine Kugel reinsterTodesqual und am Zerbersten. Seine heiseren Schreiehallten durch den Palast.

Langsam, unendlich langsam ließ der Schmerz nach.Das Nachlassen schien tausend Jahre zu dauern, undschließlich zuckte er noch schwach und saugte gierig dieLuft durch den wunden Hals. Weitere tausend Jahreschienen zu vergehen, bis er in der Lage war, sich mitHilfe nachgiebiger Muskeln herumzuwälzen und dannzitternd auf Händen und Knien zu ruhen. Er erblickte diegoldhaarige Frau, und der Schrei, den er bei diesemAnblick ausstieß, stellte alles in den Schatten, was ervorher von sich gegeben hatte. Er torkelte, dem Fallennahe, und kroch schließlich gebrochen über den Boden hinzu ihr. Er benötigte jedes bißchen Kraft, um sie in dieArme zu nehmen. Seine Hände zitterten, als er ihr dasHaar aus dem erstarrten Gesicht strich.

»Ilyena! Um des Lichts willen, Ilyena!« Sein Körperkrümmte sich schützend um den ihren. Sein Weinenendete in den gequälten Schreien eines Mannes, der nichtsmehr besaß, wofür es sich zu leben lohnte. »Ilyena, nein!Nein!«

»Ihr könnt sie zurückhaben, Brudermörder. Der GroßeHerr der Dunkelheit kann sie wieder zum Lebenerwecken, wenn Ihr ihm dafür dient. Wenn Ihr mirdient.«

Lews Therin hob den Kopf, und der schwarzgekleideteMann trat vor seinem Blick unwillkürlich einen Schrittzurück. »Zehn Jahre, Verräter«, sagte Lews Therin leise.Es klang so sanft wie das Ziehen einer Stahlklinge. »ZehnJahre lang hat Euer verderbter Herr die Welt gepeinigt.

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Und nun das. Ich werde...«»Zehn Jahre! Ihr seid ein bemitleidenswerter Narr!

Dieser Krieg hat keine zehn Jahre gedauert, sondernwährt von Beginn der Zeit. Ihr und ich haben tausendSchlachten geschlagen, solange sich das Rad dreht, undwir werden weiterkämpfen, bis selbst die Zeit stirbt undder Schatten triumphiert!« Er endete schreiend und miterhobener Faust, und diesmal war es an Lews Therin,zurückzutreten und angesichts der glühenden Augen desVerräters tief durchzuatmen.

Vorsichtig legte Lews Therin Ilyena nieder. SeineFinger streichelten ihr sanft über das Haar. Tränen ließenseine Sicht verschwimmen, als er so dastand, aber seineStimme klang wie gefrorenes Eisen. »Für das, was Ihrsonst noch getan habt, Verräter, kann es keine Vergebunggeben, doch für Ilyenas Tod werde ich Euch zerstören, sodaß selbst Euer Herr Euch nicht mehr zum Lebenerwecken kann. Bereitet Euch vor...«

»Erinnert Euch, Ihr Narr! Denkt an Eurenaussichtslosen Angriff auf den Großen Herrn derDunkelheit! Denkt an seinen Gegenschlag! Erinnert Euch!Selbst jetzt noch zerreißen die Hundert Gefährten dieWelt, und jeden Tag schließen sich ihnen hundert weitereMänner an. Wessen Hand tötete Ilyena Sonnenhaar,Brudermörder? Nicht meine. Nicht meine. Wessen Handstreckte jeden nieder, der auch nur einen Tropfen EuresBlutes in sich trug, jeden, der Euch liebte, jeden, den Ihrliebtet? Nicht meine Hand, Brudermörder. Nicht meineHand. Erinnert Euch und erkennt den Preis, den Ihr zahlt,weil Ihr Euch gegen Shai'tan stelltet!«

Ein plötzlicher Schweißausbruch hinterließ Rinnen imStaub und Schmutz auf Lews Therins Gesicht. E rerinnerte sich, eine verschleierte Erinnerung, als träume

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er von einem Traum, doch er wußte, es war die Wahrheit.Sein Aufheulen prallte gegen die Wände, das Aufheulen

eines Mannes, der entdeckt hatte, daß seine Seele durchihn selbst der Verdammnis anheimgestellt wurde, und erzerkratzte sich das Gesicht, als wolle er den Anblickdessen herausreißen, was er getan hatte. Wohin er auchblickte, seine Augen sahen die Toten. Zerfetzt waren sieoder zerbrochen oder verbrannt oder halb von Steinverschlungen. Überall leblose Gesichter, die er kannte, dieer liebte. Alte Diener und Freunde aus seiner Kinderzeit,treue Gefährten in den langen Jahren des Kampfes. Undseine Kinder. Seine eigenen Söhne und Töchter; wiezerbrochene Puppen lagen sie verdreht da, ihr Spiel warfür immer beendet. Alle von seiner Hand getötet. DieGesichter seiner Kinder klagten ihn an. Die leeren Augenfragten: Warum? Und seine Tränen waren keine Antwortdarauf. Das Lachen des Verräters geißelte ihn, ersticktesein Aufheulen. Er konnte die Gesichter nicht ertragen,nicht den Schmerz. Er konnte nicht länger bleiben.Verzweifelt griff sein Geist nach der Wahren Quelle, nachdem vom Bösen gezeichneten Saidin, und er begab sichfort.

Das Land um ihn herum war flach und leer. In derNähe rauschte träge ein Fluß, breit und gerade, aber erfühlte, daß es auf Hunderte von Meilen keine Menschengab. Er war allein, so allein ein Mann nur sein konnte,während er noch lebte, doch den Erinnerungen konnte ernicht entkommen. Die Augen verfolgten ihn durch dieendlosen Höhlen seines Geistes. Er konnte sich nicht vorihnen verstecken. Die Augen seiner Kinder. IlyenasAugen. Tränen glitzerten ihm auf den Wangen, als er dasGesicht dem Himmel zuwandte.

»Licht, vergib mir!« Er glaubte nicht, daß er

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Vergebung erhalten könne. Nicht für das, was er getanhatte. Doch er schrie es trotzdem in den Himmel hinein,bettelte um etwas, an dessen Gewährung er nicht glaubte.»Licht, vergib mir!«

Er stand immer noch mit Saidin in Verbindung, dermännlichen Hälfte der Macht, die das Universum antrieb,die das Rad der Zeit drehte, und er fühlte den öligenSchmutz, der ihre Oberfläche befleckte, die Verderbnis,die der Gegenschlag des Schattens darüber gebracht hatte,die Verderbnis, die die Welt zum Untergang verurteilte.Seinetwegen. Weil er in seiner Verblendung geglaubthatte, Menschen könnten es dem Schöpfer gleichtun,könnten zusammenfügen, was der Schöpfer erschaffen undwas sie zerbrochen hatten. Das hatte er in seinem Stolzgeglaubt.

Tief zog er Kraft aus der Wahren Quelle und dannnoch einmal, wie ein Verdurstender. Schnell hatte er mehrvon der Einen Macht in sich aufgesogen, als er ohne Hilfehandhaben konnte; seine Haut schien zu brennen. Er nahmalle Kraft zusammen und versuchte, noch mehraufzunehmen, versuchte, alles aufzunehmen.

»Licht, vergib mir! Ilyena!«Die Luft verwandelte sich in Feuer, das Feuer in

verflüssigtes Licht. Der Blitz, der vom Himmelherabzuckte, hätte jedes Auge versengt und geblendet, dasihn auch nur einen Moment lang erblickte. Er fuhr ausdem Himmel hernieder, flammte durch Lews TherinTelamon hindurch und bohrte sich in die Eingeweide derErde. Seine Berührung verwandelte Stein in Dampf. DieErde zuckte und erzitterte wie ein lebendes Wesen imTodeskampf. Der leuchtende Balken vom Himmelexistierte nur einen Herzschlag lang, verband Erde undHimmel, doch auch nachdem er verschwunden war,

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wölbte sich die Erde auf wie ein Meer im Sturm.Geschmolzener Fels spritzte hundert Spannen hoch in dieLuft, und der stöhnende Boden erhob sich und schob denbrennenden Springbrunnen weiter hoch, immer höher.Aus dem Norden und. Süden, aus dem Osten und Westenheulte der Wind heran, brach Bäume wie kleine Ästeentzwei, kreischte und pfiff, als wolle er den wachsendenBerg himmelwärts drücken. Dem Himmel entgegen.

Schließlich erstarb der Wind, die Erde beruhigte sichund murmelte nur noch zitternd vor sich hin. Von LewsTherin Telamon war nichts geblieben. Wo er gestandenhatte, erhob sich nun, auf Meilen in den Himmel, einBerg. Aus dem zerfetzten Gipfel quoll immer nochdünnflüssige Lava. Der breite gerade Fluß war in einerKurve vom Berg weggeschoben worden und teilte sichunweit davon. In der Mitte war eine lange Inselentstanden. Der Schatten des Bergs erreichte beinahe dieInsel; er lag dunkel wie die drohende Hand derProphezeiung über dem Land. Eine Zeitlang war nur dasdumpfe protestierende Grollen der Erde zu hören.

Auf der Insel schimmerte die Luft und zog sich zueinem Wirbel zusammen. Der schwarzgekleidete Mannstand da und betrachtete den feurigen Berg, der sich ausder Ebene erhob. Sein Gesicht verzog sich vor Wut undVerachtung. »Du kannst nicht so leicht entkommen,Drache. Wir sind noch nicht fertig miteinander. Es ist erstzu Ende, wenn alle Zeiten enden.«

Dann war er weg, und Berg und Insel ruhten einsam.Warteten.

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Und der Schatten fiel über das Land,und die Welt wurde Stein um Stein zerrissen.

Die Meere flohen, und die Berge wurden verschluckt,und die Staaten wurden in die acht Ecken

der Welt verstreut. Der Mond war wie Blut, und dieSonne war wie Asche. Die Meere kochten,

und die Lebenden beneideten die Toten. Alles warzerschlagen und bis auf die Erinnerung verloren,

und eine Erinnerung stand über allem: an ihn, der denSchatten gebracht und die Zerstörung der Welt ver-

ursacht hatte. Und ihn nannten sie Drache.Aus: Aleth nin Taerin alta Camora,

der Zerstörung der Welt(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)

Und es geschah in jenen Tagen, wie es zuvorgeschehen war und wieder geschehen würde, daß die

Dunkelheit schwer auf dem Land lag und dieHerzen der Menschen beschwerte und die grünen

Dinge verblichen und die Hoffnung starb.Und die Menschen riefen ihren Schöpfer und sagten:

O Licht des Himmels, Licht der Welt, laßt denBerg den Verheißenen gebären, wie es die

Prophezeiung sagte, so wie er in vergangenenZeitaltern geboren wurde und in späteren geboren.

werden wird. Laßt den Prinz des Morgenszum Land singen, so daß grüne Dinge wachsen unddie Täler Lämmer hervorbringen. Laßt den Armdes Herren der Dämmerung uns Schutz vor dem

Dunkel gewähren und das große Schwert derGerechtigkeit uns verteidigen. Laßt den Drachen

wieder auf den Winden der Zeit fliegen.Aus: Charal Drianaan te Calamon,

dem Zyklus des Drachen(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)

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KAPITEL 1

Eine einsame Straße

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und gehenund hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden.Legenden verblassen zu Mythen, und selbst die sind längstvergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, das an ihremUrsprung stand. In einem dieser Zeitalter, manche nennenes das Dritte Zeitalter, das einst kommen wird, das schonlange vergangen ist, erhob sich ein Wind in denVerschleierten Bergen. Der Wind stand nicht am Beginn.Es gibt keinen Beginn und kein Ende, wenn sich das Radder Zeit dreht. Doch zumindest setzte der Wind etwas inBewegung.

Unter den ewigen Wolkendecken der Gipfel, die demGebirge den Namen gaben, wurde er geboren, und vondort aus wehte der Wind nach Osten über die Sandhügelhinaus, die einst am Ufer eines großen Meeres gelegenhatten, damals, vor der Zerstörung der Welt. Dann stürzteer sich hinunter ins Land der Zwei Flüsse, in denverfilzten Forst, den man Westwald nannte, und beuteltezwei Männer, die neben ihrem Pferdekarren eine steinigeStraße hinunterschritten. Haldenstraße nannte man sie.Obwohl der Frühling schon seit mehr als einem Monatfällig war, trug der Wind eine eisige Kälte mit sich, dieeher auf Schnee schließen ließ.

Windstöße klebten Rand al'Thor den klatschnassenUmhang an den Rücken, peitschten ihm den erdbraunenWollstoff gegen die Beine und ließen ihn hinter ihmherflattern. Er wünschte sich einen schwereren Mantel.

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Oder hätte er wenigstens noch ein Hemd übergezogen!Jedes zweite Mal, wenn er versuchte, den Umhang wiederum sich zu ziehen, blieb er an dem Köcher hängen, derihm an der Hüfte hing. Zu versuchen, den Umhang miteiner Hand festzuhalten, brachte auch nicht viel; in deranderen hielt er seinen Bogen, auf dem schußbereit einPfeil lag.

Als eine besonders starke Bö ihm den Saum desUmhangs aus der Hand riß, blickte er über den Rückender zerzausten braunen Stute zu seinem Vater hinüber. E rkam sich wohl selbst ein wenig kindisch vor, daß er sichvergewissern wollte, ob Tam noch da war, aber an einemsolchen Tag war ihm eben danach. Der Wind heulte beijeder Bö, aber davon abgesehen lag eine schwere Stilleüber dem Land. Im Vergleich dazu klang das sanfteQuietschen der Achse geradezu laut. Kein Vogel sang imWald, und auf den Zweigen keckerte kein einzigesEichhörnchen. Allerdings – bei dieser Art von Frühlingkonnte er das auch nicht erwarten.

Nur solche Bäume, die auch im Winter ihre Nadelnoder Blätter nicht verloren, zeigten jetzt etwas Grün.Triebe der Brombeeren vom letzten Jahr zogen sichnetzartig über die Felsausläufer unter den Bäumen. Unterden wenigen Kräutern herrschten die Brennesseln vor; derRest gehörte meist zu den Sorten mit scharfen Stachelnoder spitzen Dornen, oder es war Stinkkraut, das auf denunachtsamen Stiefeln, die es zertraten, einen fauligenGestank hinterließ. Dort, wo dichte Baumgruppen tiefenSchatten warfen, lagen verstreut noch einzelne weißeSchneereste. Wo der Sonnenschein durchbrach, hatte erweder Kraft noch Wärme. Die blasse Sonne hing über denBäumen im Osten, doch ihr Licht war von Dunkeldurchsetzt, als habe es sich mit den Schatten vermischt. Es

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war ein unangenehmer Morgen, gut geeignet für trübeGedanken.

Gedankenverloren berührte er die Kerbe des Pfeils; erwar bereit, ihn in einer fließenden Bewegung an seineWange zu ziehen, so wie Tam es ihn gelehrt hatte. DerWinter hatte die Bauernhöfe schwer genug getroffen,schlimmer, als selbst die ältesten ihrer Bewohner esfrüher schon einmal erlebt hatten, doch in den Bergenmußte er noch härter zugeschlagen haben, wenn man dieAnzahl der Wölfe in Betracht zog, die es hinunter insGebiet der Zwei Flüsse getrieben hatte. Die Wölfe raubtenSchafe von den Koppeln und nagten sich ihren Weg inScheunen und Ställe, um an das Vieh und die Pferdeheranzukommen. Auch Bären waren hinter den Schafenher, in dieser Gegend, wo man jahrelang keine Bärenmehr gesichtet hatte. Man war nach Einbruch derDunkelheit draußen nicht mehr sicher. Menschen warengenauso oft die Beute wie Schafe, und die Sonne mußtedazu noch nicht einmal untergegangen sein.

Tam schritt gleichmäßig auf der anderen Seite Belasdahin, benutzte seinen Speer als Wanderstock und achtetenicht auf den Wind, obwohl sein brauner Umhang wieeine Flagge hinter ihm herflatterte. Von Zeit zu Zeitberührte er ganz leicht die Flanke der Stute, um sie zumWeitergehen aufzufordern. Mit seinem kräftigenOberkörper und dem breiten Gesicht wirkte er an diesemMorgen wie ein Stützpfeiler der Wirklichkeit, wie einStein inmitten eines fließenden Traums. Es hatten sichzwar Falten in die sonnenverbrannten Wangeneingegraben, und in seinem Haar war nur nochsträhnenweise Schwarz unter dem Grau zu erkennen, docher wirkte so kraftvoll, als könne eine Flutwelle über ihnhinweg rauschen, ohne ihm die Füße wegzureißen.

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Teilnahmslos stapfte er die Straße entlang. Sein Ausdruckmachte klar: Wölfe und Bären hin oder her, ein Schäfermußte natürlich aufpassen, aber es war gesünder für sie,wenn sie nicht versuchten, Tam al'Thor auf seinem Wegnach Emondsfeld aufzuhalten.

Ein wenig schuldbewußt angesichts seinerUnaufmerksamkeit wandte sich Rand wieder derStraßenseite zu, die er unter Beobachtung halten mußte.Tams selbstverständlich aufmerksame Art hatte ihn daranerinnert. Er war einen Kopf größer als sein Vater, größerauch als jeder andere in der Gegend, und wenig an ihmerinnerte an Tam – höchstens vielleicht die breitenSchultern. Graue Augen und ein rötlicher Farbton imHaar stammten von der Mutter, erklärte Tam. Sie warAusländerin gewesen, und Rand konnte sich nur nochschwach an sie erinnern, abgesehen von ihrem lächelndenGesicht. Er legte jedes Jahr Blumen auf ihr Grab: an BelTine im Frühling und am Sonnentag im Sommer.

Zwei kleine Fässer von Tams Apfelschnaps lagen imdahinholpernden Karren, dazu acht größere Fässer mitApfelmost, gerade einen Winter alt. Tam lieferte dieseSachen jedes Jahr an die Weinquellen-Schenke, um sie zuBel Tine auszuschenken, und er hatte erklärt, es braucheschon mehr als nur Wölfe oder kalten Wind, um ihn indiesem Frühjahr davon abzuhalten. Sie waren sowiesoschon seit Wochen nicht mehr im Dorf gewesen. SelbstTam zog in diesen Zeiten nicht mehr viel durch dieGegend. Aber er hatte in bezug auf den Schnaps und denMost sein Wort gegeben, und das hielt er, selbst wenn ererst am allerletzten Tag vor dem Fest eintreffen sollte. Eswar wichtig für Tam, sein Wort zu halten. Rand war froh,daß er auf diese Art vom Hof wegkam, und noch mehrfreute er sich auf Bel Tine.

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Als Rand seine Straßenseite beobachtete, wuchs in ihmdas Gefühl, beobachtet zu werden. Für eine Weilebemühte er sich, das Gefühl beiseite zu schieben.Zwischen den Bäumen bewegte sich nichts, und kein Lautwar zu hören, außer dem Aufheulen des Winds. Aber dasGefühl blieb nicht nur, es verstärkte sich. Die Haare aufseinen Armen stellten sich auf; seine Haut prickelte, alsjucke ihre Innenseite.

Verwirrt nahm er den Bogen in die andere Hand, riebsich die Arme und sagte sich, er müsse aufhören, sichDinge einzubilden. Gar nichts befand sich im Wald aufdieser Straßenseite, und gäbe es auf der anderen Seiteetwas, dann hätte Tam ihm das gesagt. Er blickte über dieSchulter zurück – und zwinkerte. Nicht weiter als zwanzigSpannen entfernt die Straße hinunter folgte ihnen eineverhüllte Figur auf einem Pferd. Pferd und Reiter wirktengleich: schwarz, matt, unauffällig.

Mehr oder weniger aus Gewohnheit ging er neben demKarren rückwärts weiter, während er beobachtete. DerMantel bedeckte den Reiter bis hinunter zu denStiefelschäften, und die Kapuze war über das Gesichtgezogen, so daß kein Teil seines Körpers sichtbar war.Ganz nebenher fiel Rand auf, daß mit diesem Reiter etwasnicht stimmte, doch es war vor allem die dunkle Öffnungder Kapuze, die ihn fesselte. Er konnte nur vage Umrisseeines Gesichts erkennen, aber er fühlte, daß er dem Reitergeradewegs in die Augen sah. Und er konnte den Blicknicht abwenden. Übelkeit stieg ihm vom Magen auf. E rsah nur den Schatten in der Kapuze, doch er fühlte denHaß genauso beißend, als ob er in ein verzerrtes Gesichtblickte, Haß auf alles, was lebte. Und ihm vor allem galtdieser Haß, ihm mehr als allem anderen auf der Welt.

Plötzlich blieb er mit der Ferse an einem Stein hängen

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und stolperte. Naturgemäß verlor er den dunklen Reiteraus dem Blickfeld. Sein Bogen fiel auf die Straße, und nureine schnell ausgestreckte Hand, die Belas Geschirr packte,bewahrte ihn davor, platt auf den Rücken zu plumpsen.Mit überraschtem Schnauben blieb die Stute stehen unddrehte den Kopf, um zu sehen, wer sie gefangen hatte.Tam zog die Augenbrauen hoch und sah über BelasRücken zu ihm herüber. »Bist du in Ordnung, Junge?«

»Ein Reiter«, sagte Rand atemlos, während er sichaufrichtete. »Ein Fremder folgt uns.«

»Wo?« Der ältere Mann hob seinen Speer mit derbreiten Blattspitze und spähte aufmerksam zurück. »Dort,die Straße hin...« Rands Worte verloren sich, als er sichumdrehte, um auf den Verfolger zu deuten. Die Straßehinter ihnen war leer. Ungläubig schweifte sein Blick überden Wald zu beiden Seiten der Straße. Die Bäume mitihren kahlen Ästen boten kein Versteck, und doch konnteer keine Spur von Pferd oder Reiter erkennen. E rbemerkte den fragenden Blick seines Vaters. »Er wardort. Ein Mann mit einem schwarzen Mantel auf einemschwarzen Pferd.«

»Ich zweifle ja nicht an deinen Worten, Junge, aber woist er jetzt?«

»Ich weiß nicht. Aber er war da.« Er hob schnellBogen und Pfeil auf und überprüfte hastig dieBespannung, bevor er den Pfeil wieder einlegte und denBogen zur Probe halb spannte. Dann ließ er die Sehnezurückschnellen. Es gab kein Ziel, worauf er hätte anlegenkönnen. »Wirklich.«

Tam schüttelte den ergrauten Kopf. »Wenn du es sagst,Junge... Dann komm mit. Ein Pferd hinterläßt sogar aufdiesem Boden Hufspuren.« Er bewegte sich auf dashintere Ende des Karrens zu. Sein Umhang flatterte im

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Wind. »Wenn wir die finden, dann wissen wir genau, daßer hier war. Wenn nicht... Na ja, es gibt schon Tage, andenen ein Mann seine Einbildungen hat.«

Plötzlich fiel Rand ein, was an dem Reiter nichtgestimmt hatte, abgesehen von der Tatsache, daß er sichüberhaupt hier befunden hatte. Der Wind, der Tam undihn beutelte, hatte nicht einmal eine Falte des schwarzenMantels bewegt. Rands Mund war plötzlich wieausgetrocknet. Er mußte sich das eingebildet haben. SeinVater hatte recht; dieser Morgen war dazu angetan, diePhantasie eines Mannes zu kitzeln. Und dennoch glaubte erdas nicht. Nur, wie sollte er seinem Vater beibringen, daßder Mann, der sich offensichtlich in Luft aufgelöst hatte,einen Mantel trug, den der Wind nicht berührte?

Mit sorgenvoller Miene spähte er in den Wald, der sieumgab. Er wirkte auf ihn anders als je zuvor. Seit erlaufen konnte, hatte er im Wald gespielt. Da waren dieTeiche und Bäche im Flußwald, jenseits der letztenBauernhöfe von Emondsfeld, in denen er schwimmengelernt hatte. Er hatte die Sandhügel erforscht – mancheim Gebiet der Zwei Flüsse meinten, das bringe nurUnglück –, und einmal war er sogar bis zum Fuß derVerschleierten Berge marschiert, zusammen mit seinenbesten Freunden, Mat Cauthon und Perrin Aybara. Daswar viel weiter, als die meisten Leute aus Emondsfeldjemals kamen. Für die war eine Reise ins nächste Dorf,nach Wachhügel hinauf oder hinunter nach Devenritt,schon ein großes Ereignis. Nirgendwo war er auf einenOrt gestoßen, der ihm Angst einjagte. Heute jedoch warder Westwald nicht der gleiche Ort wie jener, an den ersich erinnerte. Ein Mann, der so plötzlich verschwindenkonnte, mochte ebenso plötzlich wieder auftauchen,vielleicht sogar direkt neben ihm.

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»Nein, Vater, es ist nicht nötig.« Als Tam überraschtstehenblieb, verbarg Rand sein Erröten, indem er sich dieKapuze tiefer ins Gesicht zog. »Du hast wahrscheinlichrecht. Es hat keinen Zweck, nach etwas zu suchen, das garnicht da ist, erst recht nicht, wenn wir die Zeit nutzen, umweiter zum Dorf zu gehen und weg von diesem Wind.«

»Ich hätte schon gern eine Pfeife geraucht«, sagte Tamlangsam, »und irgendwo, wo es warm ist, einen Krug Biergeleert.« Übergangslos grinste er breit. »Und ich schätze,du willst Egwene gern wiedersehen.«

Rand brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. ImAugenblick stand die Tochter des Bürgermeisters soziemlich am Ende seiner Dringlichkeitsliste. Er konntenicht noch mehr Verwirrung gebrauchen. Das letzte Jahrüber hatte sie ihn in steigendem Maße nervös gemacht,immer wenn sie zusammen waren. Was noch schlimmerwar: Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Nein, erwollte ganz bestimmt nicht auch noch an Egwene denkenmüssen.

Er hoffte, sein Vater hätte nicht bemerkt, daß er Angsthatte, als Tam sagte: »Denk an die Flamme, Junge, und andas Nichts.«

Es war eine eigenartige Übung, die Tam ihn gelehrthatte. Konzentriere dich auf eine einzelne Flamme undleere all deine Leidenschaften dort hinein – Angst, Haß,Wut –, bis dein Verstand leer ist. Werde eins mit demNichts, riet Tam, und du kannst alles erreichen. Niemandsonst in Emondsfeld sagte so etwas. Aber Tam gewannjedes Jahr den Bogenschützenwettbewerb zum Bel Tinemit seiner Flamme und seinem Nichts. Rand glaubte,dieses Jahr habe auch er Aussicht auf eine gute Plazierung,wenn er es fertigbrachte, sich auf das Nichts zukonzentrieren. Daß Tam das Gespräch ausgerechnet jetzt

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darauf brachte, bedeutete, daß er es bemerkt hatte, docher sagte nicht mehr dazu.

Tam schnalzte Bela zu, und sie setzte sich wieder inBewegung. Sie nahmen ihre Reise wieder auf; der ältereMann schritt einher, als sei nichts Ungewöhnlichesgeschehen und als drohe ihnen nichts Schlimmes. Randhätte es ihm gern gleichgetan. Er bemühte sich, seinenVerstand zu leeren, aber das Nichts entschlüpfte ihmimmer wieder, und statt dessen erschien ihm das Bild desschwarzgekleideten Reiters.

Er wollte so gern glauben, Tam habe recht, er habesich den Reiter nur eingebildet, doch er erinnerte sichgerade an das Gefühl des Hasses besonders klar. Da warjemand gewesen. Und dieser Jemand war ihm bösegesinnt. Er blieb nicht stehen, um sich umzusehen, bis diestrohgedeckten Häuser von Emondsfeld mit ihren spitzenGiebeln sie umgaben.

Das Dorf lag nahe am Westwald. Der Wald wurdeimmer lichter, und die letzten Bäume standen bereitszwischen den stabil gebauten Holzhäusern. Der Boden fielsanft nach Osten zu ab. Auch dort gab es kleineWaldstücke. Bauernhöfe, von Hecken eingerahmte Felderund Weideflächen bedeckten das Land jenseits des Dorfesbis hin zum Wasserwald und seinem Gewirr von Bächenund Teichen. Nach Westen zu war das Land genausofruchtbar, und in den meisten Jahren wirkten die Weidenüppig. Doch im Westwald fand man nur eine HandvollBauernhöfe. Und auch diese verschwanden schließlichbereits Meilen vor den Sandhügeln und noch weiter vorden Verschleierten Bergen, die sich über denBaumwipfeln des Westwalds erhoben, fern, doch vonEmondsfeld aus deutlich sichtbar. Manche sagten, dasLand sei zu steinig – als ob es nicht überall in den Zwei

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Flüssen Steine gegeben hätte –, und andere behaupteten,das Land dort bringe Unglück. Ein paar murmelten, eshabe keinen Sinn, näher als nötig zu den Bergen hin zuziehen. Aus welchen Gründen auch immer – jedenfallsunterhielten nur die widerstandsfähigsten Männer imWestwald Bauernhöfe.

Kleine Kinder und Hunde hüpften in jubelnden Hordenum den Karren herum, sobald er die erste Häuserzeilehinter sich gebracht hatte. Bela trottete geduldig weiterund achtete nicht auf die schreienden Kinder, die vorihrer Nase herumkugelten, Fangen spielten und Reifen vorsich her trieben. In den letzten Monaten hatten die Kinderwenig gespielt oder gelacht. Selbst als das Wetterfreundlich genug geworden war, daß die Kinder draußenspielen konnten, hatte die Angst vor Wölfen sie im Hausfestgehalten. Es schien, mit dem Näherkommen von BelTine hatten sie auch wieder Spielen gelernt.

Das Fest hatte genauso seine Auswirkungen auf dieErwachsenen. Die breiten Fensterläden waren geöffnet,und in fast jedem Haus stand die Hausfrau an einemFenster, die Schürze umgebunden und die zu langenZöpfen geflochtenen Haare hochgesteckt und in ein Tucheingebunden, schüttelte Bettücher aus oder hängteMatratzen über die Fenstersimse. Ob nun junges Grün aufden Bäumen wuchs oder nicht, keine Frau würde Bel Tineerleben, ohne vorher ihren Frühjahrsputz erledigt zuhaben. In jedem Hof hingen Läufer an gespannten Leinen,und Kinder, die nicht schnell genug gewesen und zumSpielen auf die Straße gerannt waren, ließen ihrenVerdruß mit Korbklopfern an den Teppichen aus. Auf denDächern kletterten die Hausherren herum, überprüften dieStrohbündel auf Winterschäden und überlegten, ob sie denalten Cenn Buie, den Dachdecker, rufen mußten.

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Mehrmals blieb Tam stehen, um sich mit dem einenoder anderen Mann kurz zu unterhalten. Da er und Randdie Farm wochenlang nicht mehr verlassen hatten, wolltejeder von ihnen wissen, wie die Lage da draußen sei. Nurwenige Männer aus dem Westwald waren ins Dorfgekommen. Tam erzählte von den Schäden, die dieWinterstürme angerichtet hatten, nach jedem Sturmschlimmer, und von totgeborenen Lämmern, von braunenFeldern, wo die Saat aufgehen oder das Weidegrassprießen sollte, von Rabenschwärmen, wo in früherenJahren Singvögel genistet hatten. Bittere Themen, wennaußenherum die Vorbereitungen für Bel Tine getroffenwurden, und viele Köpfe wurden geschüttelt. Es warüberall das gleiche.

Die meisten Männer zuckten die Achseln und sagten:»Tja, wir werden's überleben, so das Licht will.« Einigegrinsten und fügten hinzu: »Und wenn das Licht nichtwill, werden wir trotzdem überleben.«

Das war die Art der meisten Zwei-Flüsse-Leute.Menschen, die zusehen mußten, wie der Hagel ihre Erntevernichtete oder Wölfe ihre Lämmer rissen, und die vonvorn anfangen mußten, gaben nicht so leicht auf, sooft dasSchicksal auch zuschlagen mochte. Die meisten der-jenigen, die aufgegeben hatten, waren schon lange weg.

Tam hätte wegen Wit Congar nicht angehalten, wennder Mann nicht auf die Straße getreten wäre, so daß siehalten mußten, sonst hätte Bela ihn überfahren. DieCongars und die Coplins (die beiden Familien hatten so oftuntereinander geheiratet, daß niemand mehr wußte, wodie eine Familie endete und die andere begann) waren vonWachhügel bis Devenritt und vielleicht sogar bis hin zurTaren-Fähre als Nörgler und Unruhestifter bekannt.

»Ich muß das zu Bran al'Vere bringen, Wit«, sagte

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Tam und deutete mit einem Kopfnicken auf die Fässer imKarren, doch der hagere Mann blieb mit sauremGesichtsausdruck mitten im Weg stehen. Er hatte auf denStufen seiner Vordertreppe gesessen, nicht oben auf demDach, obwohl die Strohbedeckung aussah, als habe sieeinen Besuch von Meister Buie dringend nötig. Er schiennie darauf vorbereitet zu sein, etwas zu beginnen oderetwas zu beenden, was er vorher in Angriff genommenhatte. Die meisten Coplins oder Congars waren so,jedenfalls diejenigen, die nicht noch schlimmer waren.

»Was machen wir mit Nynaeve, al'Thor?« wollteCongar wissen. »Wir können doch nicht so eine Seherin inEmondsfeld zulassen.«

Tam seufzte tief. »Das ist nicht unsere Sache, Wit. Überdie Seherin müssen die Frauen entscheiden.«

»Also, wir sollten besser etwas unternehmen, al'Thor.Sie sagte, wir bekämen einen milden Winter. Und einegute Ernte. Und wenn man sie jetzt fragt, was ihr derWind erzählt, dann schneidet sie nur eine Grimasse undrennt weg.«

»Wenn du sie so angesprochen hast, wie du dasgewöhnlich tust, Wit«, sagte Tam geduldig, »dann hattestdu Glück, daß sie dir nicht den Stock, den sie immer trägt,über den Schädel gezogen hat. So, und wenn du jetzterlaubst, dieser Schnaps...«

»Nynaeve al'Meara ist zu jung für eine Seherin,al'Thor. Wenn der Frauenzirkel nichts unternimmt, mußes eben der Gemeinderat tun.«

»Was hast du dich denn um die Seherin zu kümmern,Wit Congar?« brüllte eine Frauenstimme. Wit zucktezusammen, als seine Frau aus dem Haus marschierte.Daise Congar war doppelt so breit wie Wit; eine Frau mithartem Gesicht, an deren Körper keine Unze Fett zu

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finden war. Sie starrte ihn böse an, die Hände in dieHüften gestützt. »Wenn du versuchst, dich in dieAngelegenheiten des Frauenzirkels einzumischen, dannkannst du sehen, ob es dir gefällt, dir das Essen selbst zukochen. Aber nicht in meiner Küche. Und dir selbst dieKleider zu waschen und das Bett zu machen. Und das nichtunter meinem Dach!«

»Aber, Daise«, winselte Wit, »ich habe gerade...«»Entschuldige mich bitte, Daise«, sagte Tam. »Wit.

Möge das Licht Euch beiden leuchten.« Er setzte Belawieder in Bewegung und führte sie um den hagerenBurschen herum. Daise konzentrierte sich im Moment aufihren Mann, aber jede Minute konnte sie bemerken, mitwem Wit gesprochen hatte.

Deshalb hatten sie keine der Einladungen zum Essenoder auf ein heißes Getränk angenommen. Wenn sie Tamsahen, benahmen sich die Hausfrauen aus Emondsfeld wieein Hund auf der heißen Fährte eines Kaninchens. Es gabkeine einzige unter ihnen, die nicht die ideale Frau füreinen Witwer mit einem schönen Hof gewußt hätte, auchwenn der Hof im Westwald lag.

Rand ging fast genauso schnell wie Tam, vielleichtsogar noch schneller. Wenn Tam nicht dabei war, wurdeer manchesmal in die Enge getrieben, und es gab keinenAusweg, außer grob zu werden. Er wurde auf einen Stuhlam Küchenherd getrieben, ihm wurden Plätzchen oderHonigkuchen oder Fleischpasteten eingetrichtert. Undimmer musterten und maßen ihn die Augen der Hausfraumindestens ebenso genau wie die Waagen eines Händlers,während sie ihm erzählte, das, was er da esse, sei nichthalb so gut wie das Essen ihrer verwitweten Schwesteroder ihrer zweitältesten Kusine. Tam wurde schließlichauch nicht jünger, sagte sie dann. Es war gut, daß er seine

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Frau so geliebt hatte – das versprach viel für die nächsteFrau in seinem Leben –, aber er hatte lang genuggetrauert. Tam brauchte eine gute Frau. Es sei eine klareTatsache, sagte sie dann gewöhnlich, daß ein Mann einfachnicht ohne eine Frau auskam, die für ihn sorgte und ihnbehütete. Die schlimmsten von allen legten dann eineGedankenpause ein und fragten anschließend mitsorgfältig geplanter Gleichgültigkeit, wie alt er denn jetzteigentlich sei.

Wie die meisten Leute der Zwei Flüsse hatte Rand eineausgesprochen sture Ader. Außenseiter behauptetenmanchmal, das sei überhaupt das hervorstechendsteMerkmal der Leute aus dem Gebiet der Zwei Flüsse, undsie könnten selbst einem Esel noch Lektionen erteilen undeinen Stein belehren. Die Hausfrauen waren zumeist feineund freundliche Frauen, aber er haßte es, in irgend etwashineingezogen zu werden, und sie lösten in ihm das Gefühlaus, er werde mit Stöcken traktiert. Also ging er schnellund wünschte sich, Tam möge Bela etwas mehr antreiben.

Bald weitete sich die Straße zum Grün hin, einerbreiten Fläche in der Mitte des Dorfes. Normalerweisewar sie mit dichtem Gras überzogen, doch diesen Frühlingzeigten sich nur wenige junge Büschel zwischen demGelbbraun des abgestorbenen Grases und dem Schwarzder blanken Erde. Zwei Handvoll Gänse watscheltenumher. Sie beäugten mit starrem Blick den Boden, fandenaber nichts, das des Aufpickens wert gewesen wäre. Undjemand hatte eine Milchkuh dort angebunden, damit sieden spärlichen Bewuchs fressen konnte.

Nahe beim westlichen Rand des Grüns sprudelte dieWeinquelle aus einem niedrigen Felsausläufer hervor. DerQuell versiegte nie; die Strömung war stark genug, umeinen Mann zu Fall zu bringen, und das Wasser schmeckte

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süß genug, um den Namen zu rechtfertigen. Von derQuelle aus floß der sich schnell erweiterndeWeinquellenbach flink nach Osten. Weiden wuchsenverstreut an den Ufern bis zu Meister Thanes Mühle undnoch weiter, und dann teilte er sich in den sumpfigenTiefen des Wasserwalds in Dutzende von kleinen Bächen.Zwei niedrige Fußgängerstege mit Geländer überquertenden klaren Bach noch auf dem Grün, und daneben gab esnoch eine etwas breitere Brücke, die massiv genug gebautwar, um Fuhrwerke zu tragen. Die Wagenbrückebezeichnete auch die Stelle, an der aus der Nordstraße, dievon Taren-Fähre und Wachhügel her kam, die Alte Straßenach Devenritt wurde. Fremde fanden es manchmalkurios, daß die gleiche Straße einen anderen Namen fürden nach Norden führenden Teil hatte als für densüdwärts gerichteten; aber so war es immer schongewesen, so weit die Leute von Emondsfeld sichzurückerinnerten, und so blieb es dann auch. Und dieserGrund reichte den Leuten von den Zwei Flüssenvollkommen aus.

Auf der anderen Seite der Brücken wurden bereits dieHolzstöße für die Bel-Tine-Feuer errichtet – dreisorgfältig aufgeschichtete Stöße von Stämmen, beinahe sogroß wie Häuser. Sie mußten sich natürlich auf blankemErdboden befinden und nicht auf dem Grün, auch wennder Bewuchs so spärlich war. Der Teil des Festes, der sichnicht um die Feuer herum abspielte, fand auf dem Grünstatt.

In der Nähe der Weinquelle sang ein Dutzend ältererFrauen leise Lieder, während sie den Frühlingsbaumaufrichteten. Man hatte den geraden schlanken Stammeiner Tanne von den Ästen befreit, und selbst aus demLoch, das sie dafür gegraben hatten, ragte er noch fast

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zwei Spannen hoch heraus. Einige Mädchen, die zu jungwaren, um ihr Haar wie die erwachsenen Frauen inZöpfen um den Kopf zu tragen, saßen mitübergeschlagenen Beinen daneben und sahen neidvoll zu.Gelegentlich sangen sie Teile eines Liedes mit, das dieFrauen anstimmten.

Tam schnalzte Bela mit der Zunge zu, als wolle er, daßsie schneller gehe, doch sie überhörte es einfach. Randhielt krampfhaft den Blick von den Frauen abgewandt,denn am Morgen mußten die Männer ganz überrascht tun,wenn sie den Baum vorfanden, und um die Mittagszeittanzten die unverheirateten Frauen dann um den Baumund umwickelten ihn mit langen farbigen Bändern,während die unverheirateten Männer sangen. Keinerwußte, seit wann und warum man diese Tradition pflegte– so waren eben die Bräuche seit altersher –, aber sielieferte einen guten Vorwand, um zu singen und zutanzen, und dazu brauchte man niemanden von den ZweiFlüssen noch deutlicher aufzufordern.

Den ganzen Tag des Bel Tine über würde man singenund tanzen und feiern, und dazwischen rannte man um dieWette und genoß Wettbewerbe aller Art. Nicht nur dieBogenschützen konnten Preise erringen, sondern auch dieBesten mit der Schleuder und dem Bauernspieß – demSchlagstock. Es würde Wettbewerbe im Rätselraten gebenund im Tauziehen, im Gewichtheben und Steinstoßen,Preise für die besten Sänger, die besten Tänzer und denbesten Fiedler, für den Schnellsten im Schafscheren undsogar im Kegeln und Pfeilwerfen.

Normalerweise feierte man Bel Tine, wenn derFrühling voll und ganz im Gang war, wenn die erstenLämmer geboren wurden und die Saat aufging. Aberselbst bei dieser andauernden Kälte war es niemandem in

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den Sinn gekommen, das Fest zu verschieben. Ein wenigGesang und Tanz würden allen guttun. Und zur Krönungdes Ganzen, falls man den Gerüchten trauen konnte, warauf dem Grün ein großes Feuerwerk geplant – falls dererste Händler des Jahres rechtzeitig eintraf, versteht sich.Das war zum heißesten Thema geworden; das letzteFeuerwerk hatte vor zehn Jahren stattgefunden, und manerzählte sich immer noch davon.

Die Weinquellen-Schenke stand am östlichen Rand desGrüns gleich neben der Wagenbrücke. Das Erdgeschoßder Schenke war aus Flußfels gebaut. Allerdings bestandendie Grundmauern aus älterem Gestein, von dem einigebehaupteten, es käme aus den Bergen. Der weißgetünchteerste Stock, in dem Brandelwyn al'Vere, der Gastwirt undBürgermeister der vergangenen zwanzig Jahre, mit Frauund Töchtern wohnte, ragte rundherum ein Stück über dasErdgeschoß hinaus. Rote Dachziegel – es war das einzigeZiegeldach im ganzen Ort – glänzten im blassenSonnenschein, und Rauch quoll aus drei der zwölf hohenSchornsteine der Schenke.

Am Südende der Schenke, auf der dem Bachabgewandten Seite, erstreckten sich die Reste vielgrößerer Grundmauern, die einst ein Teil der Schenkegewesen waren; zumindest behauptete man das. In derenMitte wuchs nun eine riesige Eiche. Ihr Stamm hatte einenUmfang von fast dreißig Schritten, und die ausladendenAste waren so dick wie der Körper eines ausgewachsenenMannes. Im Sommer stellte Bran al'Vere Tische undBänke unter diese Äste, deren Blätter dann Schattenspendeten und wo die Leute ein Glas trinken und denkühlenden Wind genießen konnten, während sie sichunterhielten oder ein Brettspiel spielten.

»So, da wären wir, mein Junge.« Tam wollte nach

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Belas Geschirr fassen, doch sie blieb vor der Schenkestehen, bevor er das Leder auch nur berührt hatte. »Kenntden Weg besser als ich«, schmunzelte er.

Als der letzte Quietschton der Achse verflog, erschienBran al'Vere in der Tür der Schenke. Wie immer erschiensein Schritt zu leicht für einen Mann seiner Statur. Er warimmerhin etwa doppelt so stark wie jeder andere Mann imDorf. Ein Lächeln überzog sein rundes Gesicht unter demspärlichen grauen Haarkranz. Trotz der Kühle war derWirt in Hemdsärmeln und hatte eine fleckenlos weißeSchürze umgebunden. Auf der Brust hing ihm einsilbernes Medaillon in Form einer Balkenwaage.

Dieses Medaillon, zusammen mit der wirklichenWaage, mit der die Münzen der Kaufleute gewogenwurden, die aus Baerlon kamen, um Wolle oder Tabakeinzukaufen, war das Abzeichen der Bürgermeisterwürde.Bran trug es nur bei Verhandlungen mit den Kaufleutenund zu Festtagen, Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten.Er trug es einen Tag zu früh, aber heute war Winternacht,die Nacht vor Bel Tine, wo jeder fast die ganze Nacht langBesuche machte, kleine Geschenke tauschte und in jedemHaus eine Kleinigkeit aß und trank. Nach diesem Winter,dachte Rand, benutzt er die Winternacht als Ausrede, umnicht auf morgen warten zu müssen.

»Tam!« rief der Bürgermeister, als er zu ihnen hineilte. »Dem Licht sei gedankt; es ist gut, dich endlich zusehen! Und dich, Rand. Wie geht es dir, mein Junge?«

»Gut, Meister al'Vere«, sagte Rand. »Und Euch?« AberBrans Aufmerksamkeit galt schon wieder Tam. »Ich hattefast schon befürchtet, du brächtest dieses Jahr keinenSchnaps. Du warst noch nie so spät dran.«

»Ich möchte den Hof heutzutage lieber nicht verlassen,Bran«, antwortete Tam. »Nicht, wenn sich die Wölfe so

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verhalten wie jetzt. Und dann das Wetter.«Bran räusperte sich. »Ich wünschte, jemand würde sich

mal über etwas anderes auslassen als das Wetter. Allebeklagen sich darüber, und Leute, die es besser wissensollten, erwarten, daß ich alles in Ordnung bringe. Ichhabe gerade zwanzig Minuten lang versucht, Fraual'Donel zu erklären, daß ich nichts machen kann, wenndie Störche ausbleiben. Was sie wohl von mirerwartete...?« Er schüttelte den Kopf.

»Ein schlimmes Vorzeichen«, verkündete einekrächzende Stimme, »wenn zur Bel Tine keine Störche aufden Dächern nisten.« Cenn Buie, so knorrig und dunkelwie eine alte Wurzel, kam zu Tam und Bran herüber. E rstützte sich auf seinen Stock, der beinahe so groß war wieer und genauso knorrig. Er versuchte, beide Männergleichzeitig zu beäugen. »Es wird noch Schlimmereskommen, verlaßt euch drauf!«

»Bist du jetzt unter die Wahrsager gegangen underklärst uns die Vorzeichen?« fragte Tam trocken. »Oderlauschst du dem Wind wie eine Seherin? Davon gibt essicher genug. Ein bißchen Wind wird wohl auch hier inunserer Umgebung gemacht.«

»Macht euch nur über mich lustig«, murmelte Cenn,»aber wenn es nicht bald warm genug wird, daß die Saataufgeht, dann wird mancher Bierkeller leer sein, bevor eswieder eine Ernte gibt. Bis zum nächsten Winter leben beiden Zwei Flüssen dann vielleicht nur noch Wölfe undRaben. Wenn es überhaupt einen nächsten Winter gibt.Vielleicht bleibt es auch einfach bei diesem Winter.«

»Was soll das nun wieder heißen?« sagte Bran mitscharfer Stimme.

Cenn musterte sie mit verkniffenem Blick. »Ich kannnicht viel Gutes über Nynaeve al'Meara sagen. Das weißt

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du. Zum einen ist sie zu jung, um... Was soll's. DerFrauenzirkel scheint etwas dagegen zu haben, daß derGemeinderat auch nur über ihre Angelegenheiten spricht,aber sie mischen sich in unsere ein, wann immer siewollen, also ständig, jedenfalls scheint es so...«

»Cenn«, unterbrach Tam ihn, »willst du auf etwasBestimmtes hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, al'Thor, daß die Seherinimmer wegläuft, wenn man sie fragt, wann der Winter zuEnde sein wird. Vielleicht will sie uns nicht sagen, wasder Wind ihr erzählt. Vielleicht hört sie, daß der Winternicht mehr aufhören wird. Vielleicht wird es einfachWinter bleiben, bis das Rad sich dreht und das Zeitaltervorbei ist. Darauf will ich hinaus.«

»Und vielleicht fliegen dann auch die Schafe«, schoßTam zurück, und Bran hob die Hände ergeben genHimmel.

»Das Licht bewahre mich vor Narren. Du sitzt imGemeinderat, Cenn, und nun verbreitest du dieses Coplin-Geschwätz. Hör mir mal gut zu. Wir haben schon genugProbleme, ohne...«

Ein schnelles Zupfen an Rands Ärmel und eine Stimmefast im Flüsterton, nur für Rands Ohren bestimmt, lenktenihn von dem Gespräch der älteren Männer ab. »Kommschon, Rand, während sie sich streiten! Bevor sie dicharbeiten lassen.«

Rand sah hinunter und mußte grinsen. Mat Cauthonkauerte neben dem Karren, so daß Tam und Bran undCenn ihn nicht sehen konnten. Sein drahtiger Körper warso verdreht wie ein Storch, der versucht, den Hals um sichherumzuwinden.

Mats braune Augen funkelten schelmisch wie immer.»Dav und ich haben einen großen alten Dachs gefangen.

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Der war ganz mürrisch, als wir ihn aus seiner Höhleherauszogen. Wir lassen ihn auf dem Grün laufen, und dusollst mal sehen, wie die Mädchen rennen!«

Rands Lächeln wurde noch breiter. Was Mat wollte,erschien ihm heute nicht mehr so witzig wie noch voreinem oder zwei Jahren, aber Mat schien eben nieerwachsen zu werden. Er sah schnell zu seinem Vaterhinüber – die Männer steckten immer noch die Köpfezusammen und redeten alle gleichzeitig – und sagte dannmit gedämpfter Stimme: »Ich habe versprochen, den Mostabzuladen. Ich kann dich aber später treffen.«

Mat verdrehte die Augen. »Fässer schleppen! O dumein Licht! Da spiele ich noch lieber mit meiner kleinenSchwester. Aber ich weiß auch noch Besseres als einenDachs. Es sind Fremde in der Gegend der Zwei Flüsse.Gestern abend...«

Für einen Augenblick stockte Rand der Atem. »EinMann auf einem Pferd?« fragte er eindringlich. »EinMann mit schwarzem Mantel auf einem schwarzen Pferd?Und sein Mantel weht nicht im Wind?«

Mat vergaß sein Grinsen, und seine Stimme fiel zueinem heiseren Flüstern ab. »Du hast ihn auch gesehen?Ich dachte, ich sei der einzige gewesen. Lach nicht, Rand,aber ich habe Angst vor ihm bekommen.«

»Ich werde mich hüten, zu lachen. Ich habe auch Angstbekommen. Ich könnte schwören, daß er mich haßt unddaß er mich töten wollte.« Rand überlief es kalt. Bis zudiesem Tag war ihm nie in den Sinn gekommen, daßjemand ihn töten wollte, ihn wirklich töten wollte. Soetwas passierte einfach nicht bei den Zwei Flüssen. EinePrügelei vielleicht oder ein Ringkampf, aber kein Mord.

»Ich habe nichts von Haß bemerkt, Rand, aber er warschon zum Fürchten. Er saß nur auf seinem Pferd und sah

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mich an, gerade außerhalb des Dorfs, aber ich hatte nochnie in meinem Leben solche Angst. Na ja, ich habe füreinen Augenblick weggesehen – das war nicht leicht, weißtdu –, und als ich wieder hinsah, war er verschwunden.Blut und Asche! Vor drei Tagen war das, und ich kannkaum aufhören, daran zu denken. Ich sehe mich ständigum!« Mat bemühte sich zu lachen, aber es wurde nur einKrächzen daraus. »Schon komisch, wie einen die Angstpacken kann. Man kommt auf die seltsamsten Sachen. Ichhabe wirklich gedacht – nur eine Minute lang, verstehst du–, es könnte der Dunkle König sein.« Er versuchte wiederzu lachen, aber diesmal drang aus seinem Mund keineinziger Laut.

Rand atmete tief ein. Dann zitierte er, auch um sichdarauf zu besinnen: »Der Dunkle König und alle dieVerlorenen sind in Shayol Ghul gebunden, jenseits derGroßen Fäule, vom Schöpfer im Augenblick derSchöpfung gebunden bis ans Ende der Zeit. Die Hand desSchöpfers behütet die Welt, und das Licht scheint unsallen.« Er holte wieder Luft und fuhr fort: »Außerdem,wenn er frei wäre, wieso würde dann der Schäfer derNacht bei den Zwei Flüssen Bauernjungen beobachten?«

»Ich weiß nicht. Aber ich weiß, daß dieser Reiter –böse war. Lach nicht! Ich könnte es beschwören.Vielleicht war es der Drache.«

»Deine Gedanken können einen schon aufheitern, nichtwahr?« murmelte Rand. »Du hörst dich noch schlimmerals Cenn an.«

»Meine Mutter hat mir immer gesagt, die Verlorenenwürden mich holen, wenn ich mich nicht ändere. Wennich jemals einen gesehen habe, der wie Ishamael oderAginor aussah, dann ihn.«

»Jede Mutter jagt einem mit den Verlorenen Angst

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ein«, bemerkte Rand trocken, »aber die meisten sindirgendwann mal zu alt dafür. Wie wär's denn mit demSchwarzen Mann, wenn du schon dabei bist?«

Mat funkelte ihn an. »Ich habe nicht mehr solche Angstgehabt, seit... Nein, ich habe noch nie solche Angst gehabt,und es macht mir nichts aus, das zuzugeben.«

»Mir auch nicht. Mein Vater glaubt, ich hätte unter denBäumen Geister gesehen.«

Mat nickte bedrückt und lehnte sich zurück an dasWagenrad. »Das denkt mein Paps auch. Ich habe es Daverzählt und Elam Dowtry. Sie haben seither wie dieHabichte Ausschau gehalten, aber nichts gesehen. Jetztdenkt Elam, ich wollte ihn an der Nase herumführen. Davglaubt, es sei einer von der Taren-Fähre, irgendein Schaf-oder Hühnerdieb. Ein Hühnerdieb!« Er verfiel inbeleidigtes Schweigen.

»Vielleicht ist es auch wirklich nur Einbildung«, sagteRand schließlich »Er könnte ja echt nur ein Schafdiebsein.« Er versuchte, sich das vorzustellen, aber das war,als stelle man sich einen Wolf vor, der an Stelle der Katzevor dem Mauseloch Platz nimmt.

»Also, mir hat die Art nicht gefallen, wie er michangesehen hat. Und dir wohl auch nicht, denn du bist beimir ganz schön zusammengefahren, und das läßt tiefblicken. Wir sollten mit jemand darüber sprechen.«

»Das haben wir, Mat, wir beide, und keiner hat unsgeglaubt. Kannst du dir vorstellen, wie wir Meisteral'Vere von der Existenz dieses Burschen überzeugensollen, ohne daß er ihn sieht? Er würde uns zu Nynaeveschicken, als ob wir krank seien.«

»Wir sind immerhin jetzt zu zweit. Keiner kann dochglauben, daß wir uns beide den Reiter eingebildet haben.«

Rand rieb sich energisch den Kopf und fragte sich, was

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er sagen solle. Mat hatte einen ganz netten Ruf im Dorf.Nur wenige Leute waren bisher seinen Streichenentkommen. Jetzt wurde sein Name schon zitiert, wennnur eine Wäscheleine ihre Ladung in den Schmutz gleitenließ oder wenn ein loser Sattelgurt einen Bauern unsanftauf die Straße beförderte. Mat mußte nicht einmal in derNähe gewesen sein. Seine Unterstützung könnte sich alsPferdefuß herausstellen.

Nach einem Augenblick sagte Rand: »Dein Vater würdeglauben, du hättest das mit mir abgesprochen, undmeiner...« Er blickte über den Karren hinweg dorthin, woTam, Bran und Cenn sich unterhalten hatten, und sahseinem Vater genau in die Augen. Der Bürgermeister hieltCenn immer noch einen Vortrag, und der nahm es inmürrischem Schweigen hin.

»Guten Morgen, Matrim«, sagte Tam strahlend. Dabeistellte er eines der Schnapsfässer auf den Rand desKarrens. »Wie ich sehe, bist du gekommen, um Rand zuhelfen, den Most abzuladen. Guter Junge.«

Mat sprang beim ersten Wort auf die Füße undbewegte, sich rückwärts. »Auch Ihnen einen gutenMorgen, Meister al'Thor. Und Ihnen, Meister al'Vere.Meister Buie. Möge das Licht auf Euch scheinen. MeinPaps schickte mich, um...«

»Das hat er ohne Zweifel getan«, sagte Tam. »Undzweifellos – denn du bist ja ein junger Mann, der seineAufgaben sofort erledigt – hast du das Notwendige schonerledigt. Tja, je schneller ihr Burschen den Most inMeister al'Veres Keller befördert, desto schneller könntihr den Gaukler sehen.«

»Gaukler!« rief Mat, wobei er jählings stehenblieb, undim gleichen Moment fragte Rand: »Wann kommt erhierher?«

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Rand konnte sich in seinem Leben nur an zwei Gauklererinnern, die nach Zwei Flüsse gekommen waren, und beidem Auftritt des einen war er noch jung genug gewesen,um von Tams Schultern aus zuzusehen. Einen hiervorzufinden und auch noch zum Bel Tine, mit seinerHarfe und seiner Flöte und seinen Geschichten und...Emondsfeld würde noch in zehn Jahren über dieses Festreden, sogar ohne das mögliche Feuerwerk.

»Narren«, grollte Cenn, aber nach einem Blick Brans,der alle Bedeutung der Bürgermeisterwürde enthielt, hielter ab sofort den Mund.

Tam lehnte sich an die Seitenwand des Karrens undbenutzte das Schnapsfaß, um seinen Arm darauf zustützen. »Ja, ein Gaukler, und er ist schon hier. Nach dem,was Meister al'Vere sagt, befindet er sich im Augenblickin einem Zimmer der Schenke.«

»Mitten in der Nacht ist er angekommen.« Der Wirtschüttelte mißbilligend den Kopf. »Klopfte an dieEingangstür, bis er die ganze Familie aufgeweckt hat.Wenn es nicht des Festes wegen gewesen wäre, hätte ichihm gesagt, er solle sein Pferd selbst in den Stall bringenund daneben schlafen, Gaukler oder nicht. Stellt Euch vor,so einfach in der Dunkelheit anzukommen.«

Rand blickte gedankenvoll ins Leere. Niemand zognachts außerhalb des Dorfes durch die Gegend, nicht indiesen Zeiten und ganz sicher nicht allein. DerDachdecker grollte wieder etwas in seinen Bart hinein.Diesmal war es allerdings zu leise, als daß Rand mehr alsein oder zwei Worte hätte verstehen können: ›Verrückter‹und ›unnatürlich‹.

»Er trägt nicht zufällig einen schwarzen Mantel, oder?«fragte Mat plötzlich.

Brans Bauch hüpfte bei seinem Lachen. »Schwarz! Sein

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Mantel sieht aus wie der eines jeden Gauklers, den ichjemals gesehen habe. Mehr Flicken als Mantel und mehrFarben, als du dir ausdenken kannst.«

Rand überraschte sich selbst, indem er laut auflachte,ein Lachen purer Erleichterung. Der drohendeschwarzgekleidete Reiter als Gaukler, das war einlächerlicher Einfall, aber... Er hielt sich die Handverlegen vor den Mund.

»Siehst du, Tam«, sagte Bran, »es ist seit Einbruch desWinters in diesem Dorf nicht gerade oft gelacht worden.Jetzt bringt sogar der Mantel eines Gauklers einenLacherfolg. Das ist ja schon allein die Spesen wert, dieseine Reise von Baerlon hierher kostet.«

»Sagt, was Ihr wollt«, äußerte sich plötzlich Cenn, »ichbehaupte immer noch, es ist eine dummeGeldverschwendung. Und dieses Feuerwerk, das ihrunbedingt bestellen wolltet...«

»Also gibt es ein Feuerwerk«, sagte Mat, aber Cennsprach weiter. »Das hätte vor einem Monat schonankommen sollen mit dem ersten Händler des Jahres, aberes ist kein Händler gekommen, oder? Wenn er bis morgennicht kommt, was machen wir dann damit? Noch ein Festveranstalten, damit wir es abbrennen können? Und dasnatürlich auch nur, wenn er es überhaupt mitbringt.«

»Cenn«, seufzte Tam, »du hast genausoviel Vertrauenwie ein Mann aus Taren-Fähre.«

»Wo bleibt er dann? Sag es mir, al'Thor!«»Warum habt Ihr uns nichts erzählt?« wollte Mat mit

leidender Stimme wissen. »Das Warten hätte dem ganzenDorf genausoviel Spaß gemacht wie mit dem Gaukler.Oder jedenfalls beinahe soviel. Ihr seht doch, was schondas Gerücht eines Feuerwerks ausmacht.«

»Das kann ich sehen«, konterte Bran mit einem

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Seitenblick auf den Dachdecker. »Und wenn ich genauwüßte, wie das Gerücht entstanden ist... Falls ich zumBeispiel wüßte, daß jemand sich darüber beklagte, wieteuer das alles sei... Noch dazu, wenn andere zuhörenkonnten, obwohl das Ganze doch geheim bleiben sollte...«

Cenn räusperte sich. »Meine Knochen sind zu alt fürdiesen Wind. Falls Ihr nichts dagegen habt, werde ichschnell mal sehen, ob mir Frau al'Vere vielleicht einenGlühwein zubereiten kann, um mich etwas aufzuwärmen.Bürgermeister. Al'Thor.« Noch bevor er ausgeredet hatte,war er schon auf dem Weg in die Schenke, und als die Türsich hinter ihm schloß, seufzte Bran.

»Manchmal glaube ich, Nynaeve hat recht mit... Ach,das ist jetzt nicht wichtig. Ihr jungen Leute solltet eineMinute lang nachdenken. Jeder ist ganz aufgeregt wegendes Feuerwerks, stimmt, und das ist nur ein Gerücht.Überlegt Euch, wie das wäre, wenn der Händler nichtrechtzeitig eintrifft, und das nach der ganzen Vorfreude.Und bei dem Wetter, das wir jetzt haben – wer weiß,wann er kommen wird? Auf einen Gaukler hätten sie sichnoch fünfzigmal mehr gefreut.«

»Und wären fünfzigmal mehr enttäuscht gewesen, wenner nicht gekommen wäre«, sagte Rand langsam. »SelbstBel Tine hätte danach die Stimmung kaum noch bessernkönnen.«

»Du hast ja direkt einen Kopf auf den Schultern, den duzu benutzen weißt«, sagte Bran. »Eines Tages folgt er dirin den Gemeinderat, Tam. Denk an meine Worte. Er wäreauch jetzt wohl kaum schlechter als dieser oder jener,dessen guten Namen ich nennen könnte.«

»Nichts von alldem hilft mir, den Wagen zu entladen«,sagte Tam energisch und lud dem Bürgermeister das ersteSchnapsfäßchen auf die Arme. »Ich brauche ein warmes

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Feuer, meine Pfeife und einen Krug von deinem gutenBier.« Er stemmte das zweite Schnapsfäßchen hoch auf dieSchulter. »Ich bin sicher, Rand wird dir für deine Hilfedankbar sein, Matrim. Denkt daran, je schneller der Mostim Keller ist...«

Als Tam und Bran in der Schenke verschwanden, sahRand seinen Freund an. »Du mußt mir nicht helfen. Davkann den Dachs nicht so lang halten.«

»Oh, und warum nicht?« fragte Mat seufzend. »Wiedein Pa schon sagte, je eher er im Keller ist...« Er nahmeines der Mostfässer in beide Arme und eilte mitschnellem Schritt zur Schenke. »Vielleicht ist Egwene da.Dir zuzusehen, wie du ihr Kuhaugen machst, istgenausogut wie das mit dem Dachs.«

Rand, der gerade den Bogen und Köcher hinten in denKarren legen wollte, hielt kurz inne. Er hatte estatsächlich fertiggebracht, Egwene für eine Weile zuvergessen. Das war schon ungewöhnlich. Aber sie würdesich wahrscheinlich irgendwo in der Schenke aufhalten.Er hatte kaum eine Möglichkeit, ihr aus dem Weg zugehen. Natürlich war es Wochen her, seit er sie zumletzten Mal gesehen hatte.

»Was ist?« rief Mat ihm vom Eingang der Schenke herzu. »Ich habe nicht gesagt, daß ich alles allein mache. Dubist noch nicht im Gemeinderat.«

Aufgeschreckt ergriff Rand ein Faß und folgte Mat.Vielleicht wäre sie doch nicht zu Hause? Komischerweisefühlte er sich bei diesem Gedanken auch nicht besser.

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KAPITEL 2

Fremde

Als Rand und Mat die ersten Fässer durch denSchankraum trugen, war Meister al'Vere schon dabei, einpaar Krüge mit seinem besten Bier zu füllen, aus eigenerHerstellung und einem der Fässer, die in einem Gestell ander Seitenwand ruhten. Kratzi, die gelbe Katze, die zurSchenke gehörte, lag mit geschlossenen Augen und um dieBeine geringeltem Schwanz obenauf. Tam stand vor demgroßen offenen Kamin, aus Flußfels gebaut, und stopfteTabak aus einem glänzenden Metallbehälter, der immerauf dem steinernen Kaminsims stand, in eine langstieligePfeife. Der Kamin erstreckte sich durch die Hälfte desgroßen viereckigen Raums, und die Oberkante befand sichin Schulterhöhe eines ausgewachsenen Mannes. Dieknackende Glut im Kamin vertrieb die Kälte, die vondraußen eindrang.

Zu dieser Zeit, am arbeitsreichen Vortag des Festes,erwartete Rand einen bis auf Bran, seinen Vater und dieKatze leeren Schankraum, aber vier weitere Mitgliederdes Gemeinderats, Cenn eingeschlossen, saßen auf denStühlen mit den hohen Lehnen vor dem Feuer, Krüge inder Hand, und um ihre Köpfe kräuselte sich blaugrauerPfeifenrauch. Ausnahmsweise wurde einmal kein einzigesSpielbrett benützt, und Brans Bücher standen vollständigund in Reih und Glied auf dem Regal gegenüber demKamin. Die Männer sprachen kaum miteinander, starrtennur still in ihr Bier oder kauten ungeduldig auf ihrenPfeifenstielen herum. Alles wartete auf Tam und Bran.

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Sorgen waren für den Gemeinderat nichtsUngewöhnliches heutzutage, weder in Emondsfeld noch inWachhügel oder Devenritt. Vielleicht noch nicht einmal inTaren-Fähre, obwohl man ja nie wissen konnte, was dieLeute von Taren-Fähre von irgend etwas hielten.

Nur zwei der Männer am Feuer, Haral Luhhan, derHufschmied, und Jon Thane, der Müller, sahen auf, als dieJungen eintraten. Meister Luhhan allerdings sah nicht bloßauf. Die Arme des Schmieds waren dicker als die Beineder meisten Männer, mit schweren Muskeln bepackt, under trug immer noch seinen langen Lederschurz, als sei erdirekt aus der Schmiede zu diesem Treffen geeilt. Mitfinsterem Blick musterte er beide junge Männer, danndrehte er sich betont auf seinem Stuhl um undkonzentrierte sich übertrieben darauf, die Pfeife mit demdicken Daumen zu stopfen.

Neugierig verlangsamte Rand seinen Schritt – undkonnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken,als Mat ihm gegen den Knöchel trat. Sein Freund nickteeindringlich in Richtung auf die Hintertür desSchankraums und eilte dorthin, ohne auf ihn zu warten.Leicht humpelnd folgte ihm Rand etwas langsamer.

»Was sollte denn das heißen?« forderte RandAufklärung, sobald sie sich im Flur zur Küche befanden.»Du hast mir beinahe meinen Knöchel...«

»Es ist wegen des alten Luhhans«, sagte Mat und spähtedabei über Rands Schulter hinweg zum Schankraumhinüber. »Ich glaube, er hat mich im Verdacht...« E rsprach nicht weiter, da Frau al'Vere aus der Küchehastete. Der Duft nach frisch gebackenem Brot wehte vorihr her.

Auf dem Tablett in ihren Händen lagen mehrere LaibeKrustenbrot, für das sie in ganz Emondsfeld bekannt war,

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und dazu Teller mit Gurken und Käsescheiben. Das Essenerinnerte Rand plötzlich daran, daß er heute nur einenKanten Brot gegessen hatte, bevor er diesen Morgen denHof verließ. Sein Magen machte sich mit peinlichemKnurren bemerkbar.

Frau al'Vere, eine schlanke Frau, die ihren dickenHaarzopf über eine Schulter nach hinten gezogen hatte,lächelte sie so mütterlich an, daß es beiden das Herzerwärmte. »Es gibt mehr davon in der Küche, falls ihrHunger habt, und ich habe noch keinen Jungen in euremAlter gekannt, der nicht ständig Hunger hatte. Na ja,genau wie alle anderen. Wenn ihr die lieber mögt – ichbacke heute morgen auch Honigkuchen.«

Sie war eine der wenigen verheirateten Frauen in derGegend, die nie versuchte, Tam mit irgend jemandem zuverkuppeln. Ihre Mütterlichkeit Rand gegenüber zeigte siemit ihrem herzlichen Lächeln und einem schnellen Imbißunter Beweis, sooft er in die Schenke kam. Allerdings warsie zu den anderen jungen Männern der Gegend genausofreundlich. Wenn sie ihn gelegentlich ansah, als wolle siedoch mehr für ihn tun, dann blieb es eben nur bei einemBlick, und dafür war er äußerst dankbar.

Ohne auf eine Antwort zu warten, fegte sie in denSchankraum. Sofort hörte man die Geräusche von überden Boden scharrenden Stuhlbeinen, als die Männeraufstanden, und Lobrufe auf den Duft des Brotes. Sie warmit Längen die beste Köchin in Emondsfeld, und es gabwohl keinen Mann weit und breit, der die Gelegenheitungenutzt ließ, seine Füße unter ihren Tisch zu strecken.

»Honigkuchen«, sagte Mat und leckte sich die Lippen.»Hinterher«, erklärte ihm Rand mit fester Stimme, »oderwir werden nie fertig.«

Über der Kellertreppe hing eine Lampe, gleich neben

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der Küchentür, und eine weitere warf einen weitenLichtkreis in den Raum unter der Schenke und verbanntebis auf einen kleinen düsteren Rest alle Dunkelheit in dieentferntesten Ecken der massiven Steinwände. Holzgestelleentlang der Wände und quer über den Boden enthieltenkleine Fässer mit Schnaps und Most und größere mit Bierund Wein. In einigen davon steckten Zapfhähne. Viele derWeinfässer trugen Kreidevermerke in Bran al'VeresHandschrift. Da stand, in welchem Jahr der Wein gekauftworden war und von welchem Händler und in welchemOrt er gekeltert worden war. Doch das gesamte Bier undder Schnaps stammten von den Zwei-Flüsse-Bauern odervon Bran selbst. Händler und Kaufleute brachtenmanchmal Schnaps oder Bier von anderswo mit, aber dieQualität war schlecht, und das Zeug kostete Unsummen.Außerdem wollte niemand solches Gebräu mehr alseinmal trinken.

»Also«, sagte Rand, als sie ihre Fässer in die Gestellelegten, »was hast du getan, daß du Meister Luhhan someiden mußt?«

Mat zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts. Ich habeAdan al'Caar und einigen seiner hochnäsigen Freunde –Ewin Finngar und Dag Coplin – erzählt, daß ein paarBauern Geisterhunde gesehen haben, die Feuer spuckenddurch den Wald rannten. Sie haben's geschluckt wie süßeSahne.«

»Und deshalb ist Meister Luhhan böse auf dich?« fragteRand zweifelnd.

»Nicht unbedingt.« Mat legte eine Pause ein undschüttelte den Kopf. »Siehst du, ich habe zweien seinerHunde Mehl aufs Fell gestreut, bis sie ganz weiß waren.Dann habe ich sie in der Nähe von Dags Haus laufenlassen. Wie konnte ich ahnen, daß sie geradewegs nach

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Hause rannten? Das ist wirklich nicht meine Schuld. WennFrau Luhhan nicht die Tür offengelassen hätte, dannwären sie gar nicht reingekommen. Ich habe ja schließlichnicht gewollt, daß das ganze Haus voller Mehl war.« E rlachte kurz auf. »Ich habe gehört, daß sie den altenLuhhan mitsamt der Hunde mit einem Besen aus dem Hausgescheucht hat.«

Rand zuckte zusammen, lachte aber gleichzeitig. »Wennich du wäre, würde ich mir mehr Gedanken über AlsbetLuhhan machen als über den Schmied. Sie ist fast genausostark und kann noch wütender werden als er. Aber wassoll's? Wenn du schnell läufst, bemerkt er dich vielleichtnicht.« Mats Gesichtsausdruck zeigte, daß er RandsÄußerung keineswegs lustig fand.

Als sie durch den Schankraum zurückgingen, mußteMat sich allerdings nicht beeilen. Die sechs Männer hattenihre Stühle vor dem Kamin eng zusammengeschoben. Mitdem Rücken zum Feuer sprach Tam leise, und die anderenbeugten sich vor, um ihn besser zu verstehen. Sielauschten seinen Worten so konzentriert, daß sievermutlich nicht einmal bemerkt hätten, wenn eine HerdeSchafe durch den Raum getrieben worden wäre. Randwollte gern näher treten, um zu hören, worüber siesprachen, doch Mat zupfte ihn am Ärmel und warf ihmeinen leidenden Blick zu. Mit einem Seufzer folgte er Mathinaus zum Karren.

Bei ihrer Rückkehr in den Flur fanden sie oben auf derKellertreppe ein Tablett vor, und der Duft von heißenHonigkuchen erfüllte den Flur. Auch zwei Krüge standendabei und eine Kanne mit heißem gewürzten Süßmost.Trotz seiner eigenen Ermahnung, bis später zu warten,legte Rand die letzten beiden Packmärsche zwischenKarren und Keller mit einem Fäßchen unter einem Arm

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und einem Stück Honigkuchen in der Hand zurück.Er legte das letzte Fäßchen in das Gestell, wischte sich

die Krümel vom Mund, während Mat ablud, und sagtedann: »Und was nun den Gauk...«

Füße trampelten die Treppe herunter, und EwinFinngar stürzte in seiner Erregung beinahe auf denKellerboden. Sein feistes Gesicht strahlte vor Eifer. E rmußte seine Neuigkeiten loswerden. »Es sind Fremde imDorf!« Er kam zu Atem und sah Mat schief an.»Geisterhunde habe ich keine gesehen, aber ich hörte,jemand habe Meister Luhhans Hunde mit Mehl gepudert.Ich habe auch gehört, daß Frau Luhhan weiß, wer dafürverantwortlich sein dürfte.«

Die Jahre, die Mat und Rand von Ewin trennten, dererst vierzehn war, sorgten normalerweise dafür, daß siealles, was er sagte, ziemlich schnell abtaten. Diesmaljedoch blickten sie sich überrascht an und sprachen beidegleichzeitig.

»Im Dorf?« fragte Rand. »Nicht im Wald?«Und Mat fügte im gleichen Moment hinzu: »Hatte er

einen schwarzen Mantel an? Hast du sein Gesicht sehenkönnen?«

Ewin sah unsicher von einem zum anderen und sagtedann schnell, als Mat drohend auf ihn zu trat: »Natürlichhabe ich sein Gesicht sehen können. Und sein Mantel istgrün. Oder vielleicht grau. Er wechselt die Farbe. E rscheint sich immer dem Hintergrund anzupassen, vor demer steht. Manchmal kann man ihn gar nicht sehen, auchwenn man ihn geradewegs anblickt. Nicht, bis er sichbewegt. Und ihrer ist blau wie der Himmel und zehnmalschöner als alle Festkleider, die ich je gesehen habe. Sie istauch zehnmal hübscher als alle, die ich je gesehen habe.Sie ist eine hochgestellte Dame wie in den Geschichten. Sie

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muß eine sein.«»Sie?« fragte Rand. »Von wem redest du?« Er sah Mat

an, der beide Hände auf den Kopf gelegt und die Augenzugedrückt hatte.

»Von denen wollte ich dir erzählen«, äußerte sich Matschließlich, »bevor du mich als Helfer...« Er brach ab undöffnete die Augen, um Ewin scharf anzusehen. »Sie sindgestern abend angekommen«, fuhr er nach einemAugenblick fort, »und haben sich Zimmer hier in derSchenke genommen. Ich sah, wie sie heranritten. IhrePferde, Rand! Ich habe noch nie so große und schlankePferde gesehen. Sie sehen aus, als könnten sie immer undewig weitergaloppieren. Ich glaube, er arbeitet für sie.«

»Er steht in ihren Diensten«, unterbrach ihn Ewin.»Das nennt man ›in Diensten stehen‹, jedenfalls in denGeschichten, die ich gehört habe.«

Mat fuhr fort, als habe Ewin gar nicht gesprochen.»Jedenfalls hört er auf sie, tut, was sie sagt. Aber erbenimmt sich nicht wie ein Knecht. Vielleicht ist er einSoldat. Die Art, wie er sein Schwert trägt, als sei es einTeil von ihm wie seine Hand oder sein Fuß. Neben ihmwirken die Begleitsoldaten der Kaufleute wie Köter. Undsie, Rand! Ich habe mir niemals eine solche Frau auch nurvorgestellt. Es ist, als stamme sie aus den Geschichteneines Gauklers. Sie ist, wie... Wie...« Er unterbrach seinenRedefluß und sah Ewin gekränkt an. »... wie einehochgestellte Dame«, endete er mit einem Seufzer.

»Aber wer sind sie?« fragte Rand. Von den Kaufleutenabgesehen, die einmal im Jahr kamen, um Tabak undWolle zu kaufen, und den fahrenden Händlern, kamenniemals Fremde zu den Zwei Flüssen, jedenfalls so gut wienie. Vielleicht kamen sie bis zu Taren Fähre, aber nichtnoch weiter nach Süden. Die meisten Kaufleute und

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Händler kamen auch schon seit Jahren und zählten somitnicht als Fremde. Vielleicht konnte man sie alsAußenstehende bezeichnen. Es war gute fünf Jahre her,daß zuletzt ein echter ›Fremder‹ in Emondsfelderschienen war, und er hatte versucht, sich hier zuverstecken. Er hatte oben in Baerlon irgendwelcheSchwierigkeiten gehabt, die keiner im Dorf verstand. E rwar nicht lange geblieben. »Was wollen sie?«

»Was sie wollen?« rief Mat. »Es ist mir gleich, was siewollen. Fremde, Rand, und Fremde, wie du sie dir nichterträumt hast. Denk mal!«

Rand öffnete den Mund und schloß ihn wortlos wieder.Der schwarzgekleidete Reiter hatte ihn so nervös gemachtwie eine Katze im Hunderennen. Es schien schon ein mehrals seltsamer Zufall zu sein, daß sich drei Fremde aufeinmal hier beim Dorf aufhielten. Drei – falls der seineFarben ändernde Mantel dieses Burschen niemals schwarzwurde.

»Sie heißt Moiraine«, sagte Ewin in das kurzeSchweigen hinein. »Ich hörte, wie er sie so anredete.Moiraine nannte er sie. Die Lady Moiraine. Er heißt Lan.Die Seherin kann sie vielleicht nicht leiden, aber mirgefällt sie.«

»Wie kommst du darauf, daß Nynaeve sie nicht leidenkann?« fragte Rand.

»Sie hat heute morgen die Seherin nach dem Weggefragt«, sagte Ewin, »und sie mit ›Kind‹ angesprochen.«Rand und Mat pfiffen leise durch die Zähne, und Ewinüberschlug sich fast vor Eifer. Er erklärte: »Die LadyMoiraine wußte nicht, daß sie die Seherin ist. Als sie eserfuhr, hat sie sich entschuldigt. Tatsächlich! Und siestellte ihr dann Fragen über Kräuter und über die Leute inEmondsfeld mit dem gleichen Respekt wie jede Frau hier

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im Dorf, oder vielleicht noch mehr. Sie fragt immerzu,wie alt die Leute sind und wie lange sie schon hier wohnenund... Ach, ich weiß nicht, was alles. Jedenfalls antworteteNynaeve, als habe sie in einen unreifen Apfel gebissen.Und dann, als die Lady Moiraine wegging, hat ihrNynaeve nachgeschaut, wie... Also jedenfalls, freundlichwar der Blick nicht, kann ich euch sagen.«

»Ist das alles?« fragte Rand. »Du kennst ja NynaevesLaunen. Als Cenn Buie sie letztes Jahr ›Kind‹ nannte,schlug sie ihm ihren Stock über den Schädel, und dabei ister im Gemeinderat, und alt genug, um ihr Großvater zusein, ist er außerdem. Sie geht bei jeder Gelegenheit hoch,und kaum hat sie sich umgedreht, ist der Ärger auchschon verflogen.«

»Für mich ist das schon zu lang«, murmelte Ewin.»Mir ist es ganz gleich, wem Nynaeve über den Schädel

schlägt, solange ich's nicht bin«, gluckste Mat vergnügt.»Das wird das beste Bel Tine, das es jemals gab. EinGaukler, eine Lady – wer kann mehr verlangen? Werbraucht schon ein Feuerwerk?«

»Ein Gaukler?« fragte Ewin mit überkieksenderStimme.

»Komm schon, Rand«, fuhr Mat fort, wobei er denjüngeren überging. »Wir sind doch hier fertig. Du mußtden Burschen sehen!«

Er sprang die Treppen hoch. Ewin kam hinterher undrief: »Ist wirklich ein Gaukler da, Mat? Das ist keineSchwindelei wie die Geisterhunde, nicht wahr? Oder wiedie Frösche?«

Rand blieb lange genug unten, um die Lampe auf ganzkleine Flamme zu stellen, dann eilte er hinterher.

Im Schankraum hatten sich Rowan Hurn und SamelCrawe zu den anderen vor dem Feuer gesellt, so daß nun

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der gesamte Gemeinderat versammelt war. Jetzt sprachBran al'Vere. Seine normalerweise derb-laute Stimme warso gedämpft, daß jenseits der zusammengerückten Stühlenur ein dumpfes Murmeln zu hören war. DerBürgermeister betonte seine Worte, indem er mit demdicken Zeigefinger in die Fläche der anderen Hand klopfteund einen Mann nach dem anderen anblickte. Alle nicktenihm ihr Einverständnis zu, was er auch sagen mochte, nurbei Cenn sah das etwas zurückhaltender aus als bei denanderen.

Die Art, wie sie alle eng zusammengerückt miteinandersprachen, sagte mehr als ein Hinweisschild. Worüberimmer sie sprachen, es ging – im Moment jedenfalls – nurden Gemeinderat etwas an. Sie hätten sicher etwas dagegengehabt, daß Rand lauschte. Zögernd riß er sich los. Es gabja auch noch den Gaukler. Und diese Fremden.

Draußen waren Bela und der Karren verschwunden. Huoder Tad, die Stallburschen der Schenke, hatten sieweggebracht. Mat und Ewin standen ein paar Schritte vomEingang der Schenke entfernt. Ihre Mäntel wurden vomWind hin und her gerissen. Sie blickten sich wütend in dieAugen.

»Zum letzten Mal«, fauchte Mat, »ich spiele dir keinenStreich! Es ist wirklich ein Gaukler da. Jetzt hau ab!Rand, sag du diesem Wollkopf, daß ich die Wahrheit sage,damit er mich in Ruhe läßt.«

Rand zog seinen Umhang enger und tat einen Schrittvorwärts, um Mat zu unterstützen. Doch die Worte erstar-ben ihm auf den Lippen, als sich ihm die Nackenhaaresträubten. Er wurde wieder beobachtet. Es war keines-wegs das Gefühl, das er bei dem verhüllten Reiter emp-funden hatte, aber es war auch nicht angenehm, besondersso kurze Zeit nach dem Zusammentreffen im Wald.

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Ein kurzer Rundblick über das Grün zeigte ihm nur,was er auch zuvor dort erblickt hatte: spielende Kinder,Menschen, die das Fest vorbereiteten, und kaum ein Blickin seine Richtung. Der Frühlingsbaum stand nun allein daund wartete. Geschäftigkeit und kindliche Rufe erfülltendie Gassen. Alles war so, wie es sein sollte. Außer, daß erbeobachtet wurde.

Dann brachte ihn etwas dazu, sich umzudrehen undaufzuschauen. Am Rand des Ziegeldachs der Schenke saßein großer Rabe und schwankte ein wenig im böigenWind. Er hielt den Kopf schräg und äugte mit einemschwarzen Knopfauge – nach ihm, dachte er. Er schluck-te, und urplötzlich stieg heißer, scharfer Zorn in ihm auf.

»Dreckiger Aasfresser«, murmelte er.»Ich hab's satt, angestarrt zu werden«, grollte Mat, und

Rand bemerkte, daß sein Freund neben ihn getreten warund den Raben ebenfalls böse anblickte.

Sie tauschten einen Blick, und dann suchten ihre Händegleichzeitig nach Steinen.

Die beiden Steine flogen genau auf ihr Ziel zu... Undder Rabe hüpfte zur Seite. Die Steine pfiffen über dieStelle, an der er sich gerade noch befunden hatte. E rschlug einmal mit den Flügeln, legte den Kopf wiederschräg, fixierte sie mit einem toten schwarzen Auge, ohnejede Angst, ohne ein Anzeichen, daß irgend etwasgeschehen war.

Rand sah den Vogel verwirrt an. »Hast du jemals einenRaben gesehen, der sich so verhielt?« fragte er ruhig.

Mat schüttelte den Kopf, ohne den Raben aus denAugen zu verlieren. »Nie. Und auch noch keinen anderenVogel.«

»Ein übler Vogel«, sagte eine Frauenstimme hinterihnen. Trotz des darin mitschwingenden Ekels klang die

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Stimme melodiös. »Selbst in guten Zeiten sollte man ihmmißtrauen.«

Mit einem schrillen Schrei warf sich der Rabe sokraftvoll in die Luft hinaus, daß zwei schwarze Federnvom Rand des Daches herunterschwebten.

Überrascht drehten sich Rand und Mat herum undverfolgten den schnellen Flug des Vogels über das Grünhinweg in Richtung auf die wolkenverhangenenVerschleierten Berge zu, die hinter dem Westwald hochaufragten, bis er zu einem verschwindend kleinen Fleckam Westhimmel wurde und dann ganz außer Sicht war.

Rands Blick fiel auf die Frau, die sie angesprochenhatte. Auch sie hatte den Flug des Raben verfolgt undwandte sich nun ihnen zu. Ihr Blick traf den seinen. E rkonnte sie nur stumm anstarren. Dies mußte die LadyMoiraine sein, und sie war alles wert, was Mat und Ewinüber sie gesagt hatten, alles und noch mehr.

Als er gehört hatte, daß sie Nynaeve als Kindbezeichnet hatte, stellte er sie sich als alte Dame vor, dochdas war sie nicht. Zumindest war er nicht in der Lage, ihrAlter auch nur zu schätzen. Zuerst dachte er, sie seigenauso jung wie Nynaeve, aber je länger er sie ansah,desto mehr war er überzeugt, daß sie doch älter war. Umihre großen dunklen Augen herum lag eine Reife, einHauch von Lebenserfahrung, die niemand Junges besitzenkonnte. Einen Moment lang glaubte er, diese Augen seientiefe Seen, die ihn gleich verschlingen würden. Es warklar, warum Mat und Ewin sie als eine Lady aus denErzählungen eines Gauklers bezeichnet hatten. Sie besaßeine Anmut und beherrschte die Szenerie in einem Maße,daß er sich unbeholfen und plump vorkam. Sie reichteihm zwar kaum bis zur Brust, aber ihre Ausstrahlung ließihre Größe genau richtig erscheinen, und er kam sich mit

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seiner Länge linkisch vor.Alles in allem glich sie niemandem, den er je zuvor

gesehen hatte. Die weite Kapuze des Mantels umrahmteihr Gesicht und das dunkle Haar, das in weichen Lockenfrei hing. Er hatte noch nie eine erwachsene Frau gesehen,deren Haar nicht zu Zöpfen geflochten war; jedesMädchen der Zwei Flüsse wartete ungeduldig darauf, daßder Frauenzirkel ihres Dorfes feststellte, sie sei alt genug,um einen Zopf zu tragen. Ihre Kleidung wirkte ebensofremdartig. Ihr Umhang war aus himmelblauem Samt mitviel silbernem Zierrat, Blättern und Ranken und Blumenam ganzen Saum entlang. Ihr Kleid schimmerte leicht,wenn sie sich bewegte. Es war von einem dunkleren Blauals der Mantel und wies einen cremefarbenen Schrägstrei-fen auf. Um den Hals trug sie ein Halsband aus schwerenGoldringen, während ihr von einer anderen, feinerenGoldkette, die im Haar befestigt war, ein kleiner blau-glitzernder Edelstein in die Mitte der Stirn herunterhing.

Um die Taille lag ein breiter Gürtel aus gewobenenGoldfäden, und am Ringfinger der linken Hand steckte einGoldring in Form einer Schlange, die sich in den eigenenSchwanz biß. Er hatte nun wirklich noch nie einen solchenRing gesehen, aber er erkannte die Große Schlange, einnoch älteres Symbol für die Ewigkeit als das Rad der Zeit.

Schöner als alle Festkleider hatte Ewin gesagt, und erhatte recht gehabt. Niemand bei den Zwei Flüssen kleidetesich so. Niemals.

»Guten Morgen, Frau... äh... Lady Moiraine«, sagteRand. Sein Gesicht wurde ganz heiß, als er sich soversprach.

»Guten Morgen, Lady Moiraine«, kam das etwasgeschliffenere Echo von Mat, doch ein wenig unsicherklangen auch seine Worte.

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Sie lächelte, und Rand fragte sich, ob er irgend etwasfür sie tun könnte, damit er eine Entschuldigung dafürhatte, in ihrer Nähe zu verweilen. Er wußte, daß sie alleanlächelte, doch es schien ihm, als lächle sie nur für ihnallein. Es war wirklich so, als sei die Erzählung einesGauklers zum Leben erwacht. Mats Gesicht zeigte einalbernes Grinsen.

»Ihr kennt meinen Namen«, sagte sie, und es klangerfreut. Als ob ihre Gegenwart, und wenn sie von noch sokurzer Dauer war, nicht das Gesprächsthema Nummereins im Dorf für das nächste Jahr wäre! »Aber ihr müßtmich Moiraine nennen, nicht Lady. Und wie heißt ihr?«

Ewin sprang in die Bresche, noch bevor einer derbeiden anderen den Mund aufbrachte. »Mein Name istEwin Finngar, Lady. Ich habe denen Euren Namen gesagt,deswegen kannten sie ihn. Ich hörte, wie Lan ihnerwähnte, aber gelauscht habe ich nicht. Niemand wie Ihrist jemals zuvor nach Emondsfeld gekommen. Es ist auchein Gaukler hier im Dorf zum Bel Tine. Und heute istWinternacht! Kommt Ihr in mein Haus? Meine Mutter hatApfelkuchen gebacken.«

»Wir werden ja sehen«, antwortete sie und legte dieHand auf Ewins Schulter. Ihre Augen glitzerten amüsiert,doch ansonsten blieb sie ernst. »Ich weiß nicht, inwieweitich mit einem Gaukler konkurrieren kann, Ewin. Aber ihralle müßt mich wirklich Moiraine nennen.« Sie schauteRand und Mat erwartungsvoll an.

»Ich bin Matrim Cauthon, La... äh... Moiraine«, sagteMat. Er verbeugte sich steif und ruckartig, und beimAufrichten lief er rot an.

Rand hatte sich gefragt, ob er auch so etwas tun sollte,so wie die Männer in den Erzählungen, aber nachdem erMats Beispiel gesehen hatte, nannte er nur seinen Namen.

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Zumindest versprach er sich diesmal nicht wieder.Moiraine sah erst ihn, dann Mat und dann wieder ihn

an. Rand dachte bei sich, ihr Lächeln, das kaum dieMundwinkel berührte, wirke wie das Egwenes, wenn sieein Geheimnis hatte. »Es kann sein, daß ich währendmeines Aufenthalts in Emondsfeld von Zeit zu Zeit einpaar kleine Aufträge habe«, sagte sie. »Vielleicht wärt ihrgewillt, mir zu helfen?« Sie lachte, als sie sich mit ihrerZustimmung beinahe überschlugen. »Hier«, sagte sie undRand war überrascht, als sie ihm eine Münze in die Handdrückte und ihm die Hand mit ihren beiden Händen darumzudrückte.

»Es ist nicht nötig«, begann er, aber sie wischte seinenProtest mit einer Handbewegung beiseite und gab Ewinauch eine Münze; schließlich drückte sie auch Mats Handum eine Münze, wie sie es bei Rand getan hatte.

»Natürlich ist es nötig«, sagte sie. »Man kann doch voneuch nicht erwarten, daß ihr umsonst arbeitet. Betrachtetdie Münzen als Andenken und behaltet sie, damit ihr euchdaran erinnert, daß ihr zu mir kommen sollt, wenn ich esverlange. Die Münzen verbinden uns jetzt miteinander.«

»Ich werde das nie vergessen«, posaunte Ewin heraus.»Wir werden uns später unterhalten«, sagte sie, »und

ihr müßt mir alles über euch erzählen.«»Lady... Entsch... Moiraine?« fragte Rand zögernd, als

sie sich abwandte. Sie blieb stehen und blickte über dieSchulter zurück. Er mußte schlucken, bevor er fortfuhr:»Warum seid Ihr nach Emondsfeld gekommen?« IhrGesichtsausdruck änderte sich nicht, und doch wünschte erplötzlich, er hätte die Frage nicht gestellt. Er konnte nichteinmal sagen, warum. Er wollte jedenfalls raschklarstellen, warum er gefragt hatte. »Ich wollte nichtunhöflich sein. Es tut mir leid. Es ist nur so, daß niemand

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außer den Kaufleuten und Händlern zu den Zwei Flüssenkommt, wenn der Schnee nicht allzu tief ist, so daß sie ausBaerlon herunterkommen können. Fast niemand.Bestimmt niemand wie Ihr. Die Leibwächter derKaufleute sagen manchmal, dies sei der hintere Winkelder Ewigkeit, und ich schätze, von draußen gesehen mages so scheinen. Ich wundere mich nur.«

Ihr Lächeln verschwand nun ganz langsam von ihremGesicht, als habe sie sich an etwas erinnert. EinenAugenblick lang sah sie ihn nur einfach an. »Ich studieredie Geschichte«, sagte sie schließlich, »und sammle alteErzählungen. Diese Gegend, die ihr heute Zwei Flüssenennt, hat mich schon immer angezogen. Manchmalbeschäftige ich mich mit Ereignissen, die vor langer Zeithier geschehen sind, hier und anderswo.«

»Ereignisse?« fragte Rand. »Was kann denn in ZweiFlüsse je geschehen sein, daß es jemanden wie Euchinteressiert – ich meine, was könnte hier schon passiertsein?«

»Und wie sonst als Zwei Flüsse wollt Ihr dieses Landnennen?« fügte Mat hinzu. »So hieß es schon immer.«

»Während sich das Rad der Zeit dreht«, sagte Moirainehalb zu sich selbst und mit einem abwesenden Blick,»führen Orte viele verschiedene Namen. Auch dieMenschen tragen viele Namen und viele Gesichter.Unterschiedliche Gesichter, doch immer der gleicheMensch. Doch niemand kennt das Große Muster, das vomRad gewebt wird; wir kennen nicht einmal das Mustereines Zeitalters. Wir können nur beobachten und studierenund hoffen.«

Rand starrte sie an, unfähig, auch nur ein Wortherauszubringen oder zu fragen, was sie damit meinte. E rwar sich nicht sicher, ob ihre Worte auch für sie bestimmt

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gewesen waren. Die anderen beiden schwiegen genau wieer, stellte er fest. Ewin stand der Mund offen.

Moiraines Blick kehrte zu ihnen zurück, und alle dreischüttelten sich ein wenig, als erwachten sie. »Wir werdenuns später darüber unterhalten«, sagte sie. Keiner vonihnen sagte ein Wort. »Später.« Sie ging in RichtungWagenbrücke. Es sah mehr wie ein Gleiten aus als einGehen. Ihr Umhang breitete sich nach beiden Seiten auswie Flügel.

Als sie ging, verließ ein hochgewachsener Mann, denRand vorher gar nicht bemerkt hatte, den Schatten derSchenke und folgte ihr, die eine Hand am langen Knaufseines Schwertes. Seine Kleidung war von einer dunklengraugrünen Farbe, die vor Blättern oder im Schatten fastverschwand, und sein Umhang wirbelte durchSchattierungen von Grau und Grün und Braun, wie er soim Wind flatterte. Je nach dem Hintergrund war dieserUmhang manchmal beinahe unsichtbar. Er trug das Haarlang. An den Schläfen zeigte sich Grau. Das Haar wurdevon einem schmalen Lederband zurückgehalten. DasGesicht schien aus kantigem Fels gehauen, wettergegerbt,doch faltenlos und nicht vom Alter gezeichnet, bis auf dasGrau in den Haaren. Seine Bewegungen erinnerten Randan einen Wolf.

Als er an ihnen vorbeiging, streifte sein Blick kurz diedrei jungen Männer. Seine Augen waren so kalt und blauwie der Mittwinterhimmel. Es schien, als wöge er sie inseinem Geist ab, doch es gab kein Anzeichen dafür, wasihm die Waage angezeigt hatte. Er beschleunigte seineSchritte, bis er Moiraine eingeholt hatte. Dann ging erlangsam an ihrer Seite weiter und beugte sich nieder, ummit ihr zu sprechen. Rand stieß die Luft aus und merkteerst jetzt, daß er sie angehalten hatte.

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»Das war Lan«, sagte Ewin mit kehliger Stimme, alshabe auch er die Luft angehalten. Das war aber auch einBlick gewesen, bei dem einem der Atem stocken konnte.»Ich wette, er ist ein Behüter.«

»Sei kein Narr!« Mat lachte, doch das Lachen klangzittrig. »Behüter gibt es nur in Geschichten. Und auf jedenFall haben sie Schwerter und goldüberzogene Rüstungenmit Edelsteinen dran, und sie bleiben immer oben imNorden, in der Großen Fäule, und kämpfen gegen dasBöse und gegen Trollocs und so was.«

»Er könnte ein Behüter sein.« Ewin bestand darauf.»Hast du bei ihm irgendwo Gold und Edelsteine gesehen?«schalt Mat. »Haben wir hier bei den Zwei Flüssen etwaTrollocs? Wir haben Schafe. Ich frage mich wirklich, washier jemals geschehen sein kann, daß jemand wie sie sichdafür interessiert.«

»Es könnte schon sein«, antwortete Rand langsam.»Man sagt, die Schenke stehe hier schon seit tausendJahren oder mehr.«

»Tausend Schafsjahre vielleicht«, meinte Mat.»Ein silberner Pfennig!« platzte Ewin heraus. »Sie hat

mir einen ganzen Silberpfennig gegeben! Stellt euch vor,was ich dafür kaufen kann, wenn der Händler kommt.«

Rand öffnete die Faust, um die Münze anzusehen, diesie ihm gegeben hatte, und beinahe hätte er sie vorÜberraschung fallen gelassen. Zwar war ihm die dickeSilbermünze mit dem aufgeprägten Bild einer Frau, die inder erhobenen Hand eine Flamme hielt, nicht geläufig,aber er hatte Bran öfter beobachtet, wenn er die Münzender Kaufleute aus einem Dutzend verschiedener Länderabgewogen hatte, und er kannte ihren ungefähren Wert.Soviel Silber reichte, um überall im Gebiet der ZweiFlüsse ein gutes Pferd zu erwerben, und es bliebe sicher

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noch etwas übrig.Er sah Mat an und erkannte auf seinem Gesicht den

gleichen verblüfften Ausdruck, den auch seine Mienezeigen mußte. Er hielt die Hand schräg, so daß Mat dieMünze sehen konnte, Ewin aber nicht, und zog fragenddie Augenbrauen hoch. Mat nickte, und eine Minute langblickten sich beide staunend an.

»Welche Art von Diensten wird sie uns wohlauftragen?« fragte Rand schließlich.

»Ich weiß nicht«, sagte Mat mit fester Stimme, »und esinteressiert mich nicht. Ich werde die Münze nichtausgeben. Auch dann nicht, wenn der Händler kommt.«Damit steckte er das Geldstück in die Manteltasche.

Rand nickte und tat es ihm mit langsamen Bewegungengleich. Er war sich nicht über den Grund im klaren, aberwas Mat gesagt hatte, schien richtig. Die Münze solltenicht ausgegeben werden. Nicht, wenn sie von ihrstammte. Er konnte sich nicht denken, wofür Silber sonstnoch gut sein sollte, doch...

»Denkt ihr, daß ich meine auch aufheben sollte?«Quälende Unentschlossenheit prägte EwinsGesichtsausdruck.

»Nicht, wenn du nicht willst«, sagte Mat.»Ich glaube, sie gab sie dir zum Ausgeben«, sagte Rand.Ewin blickte seine Münze an, schüttelte den Kopf und

stopfte den Silberpfennig in die Tasche. »Ich behalte sie«,sagte er bedauernd.

»Es gibt ja auch noch den Gaukler«, sagte Rand, unddie Miene des Jungen hellte sich auf.

»Wenn er jemals aufsteht«, fügte Mat hinzu.»Rand«, fragte Ewin, »ist wirklich ein Gaukler da?«»Du wirst schon sehen«, antwortete Rand lachend. Es

war klar, daß Ewin es nicht glauben würde, bis er den

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Gaukler mit eigenen Augen sah. »Früher oder später mußer ja wohl runterkommen.«

Rufe waren von jenseits der Wagenbrücke zu hören.Als Rand sah, was los war, lachte er vor Freude. Einedurcheinanderwirbelnde Menge von Dorfbewohnern, vomgrauhaarigen Opa bis zu watschelnden Kleinkindern,begleitete einen hohen Planwagen zur Brücke, einenriesigen Wagen, der von acht Pferden gezogen wurde.Außen an der halbrund übergezogenen Plane hingenBündel von Waren wie Trauben an einem Strunk. DerHändler war endlich da. Fremde und ein Gaukler,Feuerwerk und ein fahrender Händler. Es würde das besteBel Tine aller Zeiten werden.

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KAPITEL 3

Der fahrende Händler

Zusammengebunden aufgehängte Töpfe klapperten, alsder Wagen des fahrenden Händlers über die schwerenBalken der Wagenbrücke rumpelte. Er wurde immer nochvon einer großen Schar Dorfbewohner und Bauernumgeben, die zum Fest gekommen waren. Der Händlerbrachte seine Pferde vor der Schenke zum Stehen.

Aus jeder Richtung strömte weiteres Volk herbei undvergrößerte die Zahl derer, die den Wagen umstanden.Dessen Räder waren höher als die Menschen, die denHändler auf dem Bock des Wagens über ihnen nicht ausden Augen ließen.

Der Mann auf dem Wagen war Padan Fain, ein blasserdünner Bursche mit langen dünnen Armen und einergroßmächtigen Adlernase. Fain, der immer lächelte oderlachte, als wisse er einen Witz, den keiner sonst kannte,war mit seinem Wagen und diesem Gespann jeden Früh-ling in Emondsfeld eingezogen, solange sich Rand zurück-erinnern konnte. Gerade als das Gespann mit rasselndemGeschirr zum Stehen kam, flog die Tür der Schenke auf,und der Gemeinderat erschien, von Meister al'Vere undTam angeführt. Sie alle marschierten zielbewußt heraus,selbst Cenn Buie. Um sie herum riefen die anderenaufgeregt nach Nadeln und Spitzen und Büchern undtausend anderen Dingen, die sie brauchten oder zu brau-chen glaubten. Zögernd machte die Menge Platz für denGemeinderat. Als er vorn angelangt war, schlossen sichdahinter die Reihen wieder dicht, und das Geschrei nach

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den Diensten des Händlers schwoll an. Vor allem verlang-ten die Dorfbewohner nach Neuigkeiten von draußen.

In den Augen der Dorfbewohner machten Nadeln undTee und dergleichen nicht mehr als die Hälfte dessen aus,was der Händler in seinem Wagen mitführte. Genausowichtig waren die Neuigkeiten von draußen, Neuigkeitenaus der Welt jenseits der Zwei Flüsse. Einige Händlererzählten einfach, was sie wußten, warfen es denDorfbewohnern hin wie einen Haufen Abfall, von dem sienicht belästigt werden wollten. Anderen mußte man jedesWort einzeln aus der Nase ziehen. Sie redeten widerwilligund ungeschickt. Fain dagegen sprach frei, wenn er dieDorfbewohner auch öfter neckte, und dehnte das Ganzeaus, machte es zu einer Vorstellung wie einenGauklerauftritt. Er genoß es, im Mittelpunkt zu stehen,herumzustolzieren wie ein zu klein geratener Hahn, wennalle Augen auf ihm ruhten. Rand fragte sich, ob es Fainüberhaupt passen mochte, daß er nun einen richtigenGaukler in Emondsfeld vorfand.

Der Händler schenkte dem Gemeinderat und denDorfbewohnern genau die gleiche Beachtung, während erumständlich die Zügel zusammenband – nämlich gar keineBeachtung. Er nickte so nebenher, aber das galt niemandBestimmtem. Er lächelte stumm und winkte abwesendeinigen Leuten zu, mit denen er befreundet war, obwohler trotz aller Freundschaft immer einen gewissen Abstandhielt. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter, ohnesich dabei näherzukommen. Die Aufforderungen, endlichzu erzählen, wurden lauter, doch Fain wartete undbeschäftigte sich mit irgendwelchen Kleinigkeiten obenauf dem Bock, damit die Menschenmenge und dieErwartungen so groß wurden, wie er das wollte. Nur derGemeinderat blieb stumm. Die Herren zeigten jene

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Würde, die man von ihrer Stellung erwartete, aber denanschwellenden Wolken von Pfeifenrauch über ihrenKöpfen war anzumerken, wie schwer es ihnen fiel.

Rand und Mat schoben sich in die Menge, um demWagen so nahe wie möglich zu kommen. Rand hätte ja aufhalbem Weg Halt gemacht, doch Mat wand sich durch dasGedränge und zog Rand hinter sich her, bis sie genauhinter dem Gemeinderat standen. »Ich hatte schongeglaubt, du wolltest das Fest auf dem Hof verbringen!«,rief Perrin Aybara Rand über den Lärm hinweg zu. E rwar einen halben Kopf kleiner als Rand, aber derlockenköpfige Schmiedlehrling war so stämmig, daß erwie eineinhalb Männer wirkte. Seine Arme und Schulternwaren so stark, daß sie schon denen von Meister Luhhanselbst gleichkamen. Er hätte sich mit Leichtigkeit durchdie Menge drängen können, aber das war nicht seine Art.Er schob sich rücksichtsvoll hindurch und entschuldigtesich bei Leuten, die sowieso ihre Aufmerksamkeitausschließlich auf den Händler konzentriert hatten und ihnkaum bemerkten. Trotzdem entschuldigte er sich undbemühte sich, niemanden anzustoßen, als er sich auf Randund Mat zubewegte. »Stellt Euch vor«, sagte er, als er sieschließlich erreicht hatte, »Bel Tine und ein Händler,beides gleichzeitig. Ich wette, es gibt wirklich einFeuerwerk.«

»Du kennst nicht mal ein Viertel von den Neuigkeiten,die hier alle geschehen.« Mat lachte.

Perrin beäugte ihn mißtrauisch und blickte Rand dannfragend an.

»Es stimmt!« rief Rand. Dann zeigte er auf die weiteranwachsende Menschenmenge, die durcheinanderschrie.»Später. Ich erkläre es dir später. Später habe ich gesagt!«

In diesem Augenblick stellte sich Padan Fain auf den

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Fahrersitz, und es wurde sofort leise in der Menge. Randsletzte Worte explodierten förmlich in die plötzliche Stillehinein. Der Händler hatte gerade mit einer dramatischenGeste den Arm erhoben und den Mund geöffnet. Allesdrehte sich um und starrte Rand an. Der kleine knochigeMann auf dem Wagen, der erwartet hatte, daß jedergespannt seinen ersten Worten lauschen werde, sah Randscharf und durchdringend an.

Rand errötete und wünschte sich, er wäre so klein wieEwin, damit er sich nicht so von der Menge abhob. Auchseine Freunde traten unbehaglich von einem Fuß auf denanderen. Es war erst im letzten Jahr geschehen, daß Fainendlich von ihnen Notiz genommen und sie als Männeranerkannt hatte. Fain hatte normalerweise nicht viel Zeitfür junge Leute, die kaum Waren aus seinem Wagenkaufen konnten. Rand hoffte, daß er in den Augen desHändlers nun nicht wieder als Kind eingestuft wurde.

Mit einem lauten Räuspern zupfte Fain an seinemschweren Mantel. »Nein, nicht später«, deklamierte er undwarf eine Hand in grandioser Geste nach oben. »Ich werdeeuch jetzt berichten.« Beim Sprechen gestikulierte er breitund warf seine Worte über die Menge hinweg. »Ihrglaubt, ihr habt Schwierigkeiten gehabt hier im Gebiet derZwei Flüsse, nicht wahr? Nun, die ganze Welt hatProbleme, von der Großen Fäule nach Süden bis zumMeer der Stürme, vom Aryth-Meer im Westen bis zurAiel-Wüste im Osten. Und sogar darüber hinaus. DerWinter war härter, als man ihn je erlebt hat, kalt genug,um euch das Blut gefrieren zu lassen und euch dieKnochen zu brechen? Ahhh! Der Winter war überall hartund kalt. In den Grenzlanden würden sie euren Wintereinen Frühling nennen. Doch der Frühling kommt nicht,sagt ihr? Wölfe haben eure Schafe gerissen? Vielleicht

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haben die Wölfe auch Menschen angegriffen? Ist es so?Tja, nun, der Frühling ist überall zu spät dran. Überallgibt es Wölfe, die nach jedem Stück Fleisch gieren, in dassie ihre Zähne schlagen können, seien es Schafe oder Küheoder Menschen. Aber es gibt Schlimmeres als Wölfe oderden Winter. Es gibt Leute, die wären froh, wenn sie nureure kleinen Sorgen hätten.« Er unterbrach seinenRedeschwall erwartungsvoll.

»Was könnte denn schlimmer sein als Wölfe, die Schafeund Menschen töten?« wollte Cenn Buie wissen. Anderemurmelten beifällig.

»Menschen, die Menschen töten.« Die Antwort desHändlers, in bedeutungsvollem Tonfall gesprochen, wurdevon der Menge mit erschrockenem Gemurmel quittiert,das noch zunahm, als er weitersprach. »Ich meine damitKrieg. In Ghealdan herrscht Krieg, Krieg und Wahnsinn.Der Schnee im Wald von Dhallin ist rot vom Blutgetöteter Männer. Die Luft ist erfüllt von Raben undihrem Geschrei. Heere marschieren nach Ghealdan.Völker, mächtige Königshäuser und große Männerschicken ihre Soldaten in den Kampf.«

»Krieg?« Meister al'Veres Mund formte dasungewohnte Wort nur ungeschickt. Niemand im Gebietder Zwei Flüsse hatte je mit einem Krieg zu tun gehabt.»Warum herrscht dort Krieg?«

Fain grinste, und Rand hatte das Gefühl, daß er sichüber die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner und ihreUnwissenheit lustig machte. Der Händler beugte sich vor,als teile er dem Bürgermeister ein Geheimnis mit, dochsein Flüstern sollte weithin hörbar sein und war es auch.»Die Flagge des Drachen wurde gehißt, und Männerströmen herbei, um sie zu bekämpfen. Und zuunterstützen.«

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Alle schnappten gleichzeitig entsetzt nach Luft, undRand erschauerte gegen seinen Willen.

»Der Drache!« stöhnte jemand. »Der Dunkle König istin Ghealdan!«

»Nicht der Dunkle König«, grollte Haral Luhhan. »DerDrache ist nicht der Dunkle König. Und es ist außerdemein falscher Drache.«

»Laß uns anhören, was Meister Fain noch zu sagenhat«, sagte der Bürgermeister, aber niemand ließ sich soeinfach beruhigen. Von allen Seiten riefen die Leute.Männer und Frauen überschrien sich gegenseitig.

»Genauso schlimm wie der Dunkle König!«»Der Drache hat die Welt zerstört, oder nicht?«»Er hat damit angefangen! Er hat die Zeit des Wahns

verursacht!«»Ihr kennt die Prophezeiung! Wenn der Drache

wiedergeboren wird, werden euch eure schlimmstenAlpträume wie die schönsten Träume vorkommen!«

»Er ist bloß wieder ein falscher Drache. Das kann nichtanders sein!«

»Was macht das schon für einen Unterschied? Erinnerteuch an den letzten falschen Drachen. Auch er beganneinen Krieg. Tausende starben damals, oder nicht, Fain?Er belagerte Illian.«

»Das sind böse Zeiten! Zwanzig Jahre lang hat niemandbehauptet, der Wiedergeborene Drache zu sein, und nungleich drei innerhalb der letzten fünf Jahre. Böse Zeiten!Denkt nur an das Wetter!«

Rand tauschte Blicke mit Mat und Perrin. Mats Augenglänzten vor Erregung, doch Perrin machte einesorgenvolle Miene. Rand konnte sich an jede derGeschichten erinnern, die von den Männern berichtethatten, die sich selbst als den Wiedergeborenen Drachen

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bezeichneten. Auch wenn sie sich alle als falsche Drachenerwiesen hatten, indem sie starben, ohne eine derProphezeiungen zu erfüllen, so hatten sie doch genugUnheil gestiftet. Ganze Nationen wurden vom Kriegzerrissen, Städte und Dörfer niedergebrannt. Die Totenfielen wie Blätter im Herbstwind, und Flüchtlingeverstopften die Straßen wie Schafe in einem Pferch. Sohatten es die fahrenden Händler erzählt, und die Kaufleuteund niemand von den Zwei Flüssen, der seine fünf Sinnebeisammen hatte, zweifelte daran. Die Welt werdeuntergehen, sagten einige, wenn der wirkliche Drachewiedergeboren würde.

»Schluß damit!« schrie der Bürgermeister. »Seid ruhig!Laßt Euch nicht von eurer eigenen Einbildungübermannen! Laßt Meister Fain von diesem falschenDrachen erzählen!« Die Leute begannen sich zuberuhigen, doch Cenn Buie weigerte sich zu schweigen.

»Ist es wirklich ein falscher Drache?« fragte derDachdecker mürrisch.

Meister al'Vere blinzelte überrascht und fauchte ihn an:»Sei kein alter Narr, Cenn!« Aber Cenn hatte die Mengewieder angeheizt.

»Er kann doch nicht der Wiedergeborene Drache sein!Das Licht helfe uns – er kann es doch nicht sein!«

»Du alter Narr, Buie! Du willst das Pechherausfordern, nicht wahr?«

»Nächstens nennt er noch den Dunklen König beimNamen! Du bist vom Drachen besessen, Cenn Buie!Versuchst uns alle ins Unglück zu stürzen!«

Cenn sah sich trotzig um, versuchte, die Ankläger miteinem Blick zum Schweigen zu bringen, und erhob dieStimme. »Ich habe nicht gehört, wie Fain sagte, dies seiein falscher Drache. Habt ihr das gesagt? Gebraucht eure

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Augen! Wo ist die Saat, die jetzt kniehoch oder höher seinsollte? Warum ist es immer noch Winter, wenn derFrühling schon vor einem Monat eingekehrt sein sollte?«Es gab böse Zurufe, Cenn solle den Mund halten. »Ichwerde nicht schweigen! Mir gefällt es auch nicht, so zureden, aber ich stecke meinen Kopf nicht unter einenKorb, bis ein Mann aus Taren-Fähre kommt und mir denHals abschneidet. Und ich lasse mich nicht von Fain an derNase herumführen. Sagt es uns jetzt, Händler. Was habtIhr gehört? Eh? Ist dieser Mann ein falscher Drache?«

Falls Fain durch die Neuigkeiten, die er gebracht, oderdurch den Aufruhr, den er verursacht hatte, beunruhigtwar, zeigte er es jedenfalls nicht. Er zuckte nur dieAchseln und legte einen knochigen Finger an die Nase.»Was das betrifft – wer weiß schon, wann es zu Ende undvorbei ist?« Er schwieg und zeigte seingeheimnisschwangeres Lächeln, während er die Augenüber die Menge schweifen ließ. Er schien ihre Reaktionenzu beobachten und fand das offensichtlich lustig. »Ichweiß«, sagte er betont lässig, »daß er die Eine Machtanwenden kann. Die anderen konnten das nicht. Doch erkann sie lenken. Der Boden öffnet sich unter den Füßenseiner Feinde, und dicke Mauern zerbrechen bei seinemSchrei. Der Blitz kommt, wenn er ihn ruft, und schlägtdort ein, wo er hinzeigt. Das habe ich gehört, und zwarvon Männern, denen ich glaube.«

Gelähmtes Schweigen breitete sich aus. Rand sah seineFreunde an. Perrin schien Dinge zu sehen, die ihm nichtgefielen, aber Mat wirkte immer noch aufgeregt.

Tam, dessen Gesicht fast genauso ruhig wirkte wiesonst, zog den Bürgermeister zu sich heran, aber bevor ersprechen konnte, platzte Ewin Finngar heraus.

»Er wird wahnsinnig werden und sterben! In den

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Geschichten werden die Männer, die die Eine Machtlenken, immer wahnsinnig, und dann siechen sie dahin undsterben. Nur Frauen können sie benutzen. Weiß er dasnicht?« Er duckte sich, um einer Kopfnuß von MeisterBuie zu entgehen.

»Wir haben genug von dir gehört, Junge.« Cennschüttelte eine knorrige Faust vor Ewins Gesicht. »Zeigden nötigen Respekt und überlaß das den Älteren. Hauab!«

»Beherrsch dich, Cenn!« grollte Tam. »Der Junge istbloß neugierig. Es ist nicht nötig, daß du dich wie einNarr benimmst.«

»Benimm dich deinem Alter entsprechend«, fügte Branhinzu. »Und denk wenigstens einmal daran, daß du einMitglied des Gemeinderats bist.«

Cenns runzliges Gesicht färbte sich bei jedem WortTams und des Bürgermeisters dunkler, bis es beinahe lilaaussah. »Ihr wißt, von welcher Art Frauen er spricht.Guck mich nicht so böse an, Luhhan und auch du, Crawe.Dies ist ein anständiges Dorf mit anständigen Leuten, undes ist schon schlimm genug, wenn Fain hier ist und vonfalschen Drachen erzählt, die die Eine Macht benutzen,ohne daß solch ein närrischer Junge auch noch die AesSedai ins Spiel bringt. Es gibt Dinge, über die man nichtreden sollte, und mir ist es gleich, ob ihr diesen dummenHändler alles erzählen laßt, was er will. Es ist einfachnicht richtig und anständig.«

»Ich habe niemals etwas gesehen oder gehört odergerochen, über das man nicht auch sprechen konnte«,sagte Tam, aber Fain gab nun keine Ruhe.

»Die Aes Sedai stecken schon in der Sache drin«, sagteder Händler. »Eine Gruppe von ihnen ist von Tar Valonaus nach Süden geritten. Da er die Macht anwenden kann,

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können nur die Aes Sedai ihn besiegen, auch wenn dieanderen noch so viele Schlachten gegen ihn schlagen oderihn gefangenhalten, wenn er besiegt ist. Falls er besiegtwird.«

Irgend jemand in der Menge stöhnte laut auf, und sogarTam und Bran tauschten unsichere Blicke. DieDorfbewohner standen in Gruppen beieinander, undmancher zog den Umhang enger um sich, obwohl derWind etwas nachgelassen hatte.

»Natürlich wird er besiegt!« rief jemand.»Sie werden zum Schluß doch immer geschlagen, die

falschen Drachen.«»Er muß einfach besiegt werden, nicht wahr?«»Und wenn es nicht gelingt?«Tam hatte es endlich fertiggebracht, dem

Bürgermeister etwas ins Ohr zu flüstern, und Bran, dervon Zeit zu Zeit nickte und das Gebrabbel um ihn herumnicht beachtete, wartete, bis Tam fertig war, erhob danndie Stimme.

»Hört mal alle zu! Seid still und hört zu!« Das Geschreiwurde wieder zu einem Gemurmel. »Das sind alles nichtnur einfach Neuigkeiten von draußen. Der Gemeinderatmuß darüber sprechen. Meister Fain, leistet uns doch inder Schenke Gesellschaft! Wir wollen Euch einigesfragen.«

»Ich hätte nichts gegen einen ordentlichen KrugGlühwein einzuwenden«, antwortete der Händlerschmunzelnd. Er sprang vom Wagen, wischte sich dieHände am Mantel ab und rückte fröhlich seinen Umhangzurecht. »Kümmert sich jemand bitte um meine Pferde?«

»Ich will hören, was er zu sagen hat!« Mehr als eineStimme erhob sich protestierend.

»Ihr könnt ihn nicht einfach mitnehmen! Meine Frau

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hat mich geschickt, damit ich Stecknadeln kaufe!« Das warWit Congar. Er zog die Schultern hoch, als wolle er dieBlicke einiger anderer abwehren, hielt aber seine Stellung.

»Wir haben auch ein Recht, Fragen zu stellen!« schriejemand weit hinten aus der Menge. »Ich...«

»Ruhe!« brüllte der Bürgermeister und rief damit einüberraschtes Schweigen hervor. »Wenn der Gemeinderatseine Fragen gestellt hat, wird Meister Fainzurückkommen und Euch alle Neuigkeiten mitteilen. Undseine Töpfe und Stecknadeln verkaufen. Hu! Tad!Versorgt Meister Fains Pferde!«

Tam und Bran stellten sich jeder an eine Seite desHändlers, der Rest des Gemeinderats schloß sich an, unddie ganze Gruppe eilte in die Weinquellen-Schenke. Sieknallten die Tür vor den Nasen derjenigen zu, die sichhinter ihnen hineindrängen wollten. Als sie an die Türpochten, schrie lediglich der Bürgermeister: »Geht heim!«

Viele Leute drückten sich noch vor der Schenke herum,sprachen leise über den Bericht des Händlers und was erbedeutete und welche Fragen der Gemeinderat wohl stellteund warum man ihnen gestatten sollte, daran teilzunehmenund zuzuhören und eigene Fragen zu stellen. Einigeschauten durch die Vorderfenster der Schenke, und einpaar fragten sogar Hu und Tad aus, obwohl es ziemlichunklar blieb, was die beiden wohl wissen sollten. Diebeiden kräftigen Stallburschen gaben nur ein Grunzen zurAntwort und nahmen den Pferden vorschriftsmäßig dasGeschirr ab. Eins nach dem anderen führten sie FainsPferde weg, und als das letzte fort war, kehrten auch sienicht wieder.

Rand beachtete die Menge nicht. Er setzte sich auf dieSteine der alten Grundmauern, zog den Umhang engerzusammen und starrte die Tür der Schenke an. Ghealdan.

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Tar Valon. Die Namen allein klangen fremdartig underregend. Das waren Orte, die er nur aus Berichten derHändler und Erzählungen der Leibwächter von Kaufleutenkannte. Aes Sedai und Kriege und falsche Drachen: Dasklang nach den Geschichten, die man sich spät in derNacht vor dem Kamin erzählte, wenn die Kerzeeigenartige Schatten an die Wand warf und der Wind vorden Fensterläden heulte. Alles in allem dachte er sich,wären ihm aber Schneestürme und Wölfe lieber. Unddoch mußte es dort draußen ganz anders sein, jenseits derZwei Flüsse, als lebe man mitten in der Erzählung einesGauklers. Ein Abenteuer. Ein langes Abenteuer. Einganzes Leben lang.

Langsam zerstreuten sich die Dorfbewohner, immernoch murrend und kopfschüttelnd. Wit Congar bliebstehen und blickte in den nun verlassenen Wagen, alskönne er darin einen weiteren versteckten Händler finden.Schließlich waren nur noch ein paar der jüngeren Leuteda. Mat und Perrin schlenderten zu Rand herüber.

»Ich weiß nicht, wie der Gaukler das noch überbietenwill«, sagte Mat aufgeregt. »Ich frage mich, ob wir wohldiesen falschen Drachen zu Gesicht bekommen.«

Perrin schüttelte den zerzausten Kopf. »Ich will ihnnicht sehen. Vielleicht irgendwo anders, aber nicht bei denZwei Flüssen. Nicht, wenn das gleichzeitig Kriegbedeutet.«

»Und auch nicht, wenn dann Aes Sedaihierherkommen«, fügte Rand hinzu. »Oder habt ihrvergessen, wer die Zerstörung der Welt verursacht hat?Der Drache hat damit vielleicht angefangen, aber es warendie Aes Sedai, die die Welt wirklich zerstört haben.«

»Ich habe die Geschichte einmal gehört«, sagte Matlangsam, »und zwar vom Leibwächter eines

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Wollaufkäufers. Er sagte, der Drache werde in der Stundeder größten Not für die Menschheit wiedergeboren unduns alle retten.«

»Dann war er ein Narr, falls er das glaubte«, sagtePerrin bestimmt. »Und du warst ein Narr, auf ihn zuhören.« Er klang nicht böse – es dauerte lange, ihnwütend zu machen. Aber manchmal hatte er die Nase vollvon Mats blühender Phantasie, und das klang jetzt einwenig in seiner Stimme mit. »Wahrscheinlich hat er auchnoch behauptet, anschließend würden wir in einem neuenZeitalter der Legenden leben.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es glaube«, protestierteMat. »Ich habe es nur gehört. Nynaeve auch, und ichdachte, sie würde mir und dem Leibwächter die Haut beilebendigem Leib abziehen. Er sagte – der Wächternatürlich –, daß viele Leute daran glauben, nur fürchtensie sich, es auszusprechen. Sie haben Angst vor den AesSedai oder den Kindern des Lichts. Nachdem Nynaeve sodazwischenfuhr, sagte er nichts mehr. Sie hat es demKaufmann erzählt, und der sagte, der Wächter habe ihndas letzte Mal auf einer Reise begleitet.«

»Das war auch gut so«, sagte Perrin. »Der Drache solluns retten? Hört sich wie Coplin-Geschwätz an.«

»Wie groß müßte unsere Not wohl sein, daß wir denDrachen um Hilfe riefen?« überlegte Rand. »Da könnenwir genausogut den Dunklen König um Unterstützungbitten.«

»Er hat es nicht gesagt«, erwiderte Mat unsicher. »Under hat auch nichts von einem neuen Zeitalter der Legendenerwähnt. Er sagte, die Welt werde durch die Ankunft desDrachen zerrissen.«

»Das würde uns retten«, sagte Perrin trocken. »Eineneue Zerstörung der Welt.«

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»Mach mich nicht verantwortlich«, grollte Mat. »Ichhabe nur wiedergegeben, was der Wächter sagte.«

Perrin schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur; die AesSedai und dieser Drache, ob falsch oder nicht, bleiben, wosie sind. Vielleicht werden dann die Zwei Flüsse verschontbleiben.«

»Glaubst du, sie sind in Wirklichkeit Schattenfreunde?«Mat runzelte gedankenverloren die Stirn.

»Wer?« fragte Rand.»Aes Sedai.«Rand sah Perrin an, der mit den Achseln zuckte. »Die

Geschichten...«, begann er bedächtig, doch Mat schnittihm das Wort ab.

»Nicht alle Geschichten behaupten, daß sie demDunklen König dienen, Rand.«

»Beim Licht, Mat«, sagte Rand. »Sie verursachten dieZerstörung der Welt. Was brauchst du denn noch?«

»Na, vielleicht.« Mat seufzte, grinste aber im nächstenAugenblick schon wieder. »Der alte Bili Congar sagt, esgäbe sie gar nicht. Aes Sedai. Schattenfreunde. Er sagt,das seien nur Geschichten. Er sagt, daß er auch nicht anden Dunklen König glaubt.«

Perrin schnaubte. »Coplin-Geschwätz von einemCongar! Was kannst du sonst erwarten?«

»Der alte Bili hat den Dunklen König genannt. Ichwette, das hast du nicht gewußt.«

»Licht!« kam ein Stoßseufzer von Rand.Mats Grinsen wurde breiter. »Das war letztes Frühjahr,

gerade bevor seine Felder vom Schnittwurm befallenwurden, die der anderen aber nicht. Gerade bevor alle inseinem Haus Gelbaugenfieber bekamen. Ich habe gehört,wie er es gesagt hat. Er sagt immer noch, er glaube nichtdran, aber immer wenn ich ihm sage, er solle doch den

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Dunklen König beim Namen nennen, wirft er irgendwasnach mir.«

»Und du bist dumm genug, um so was zu sagen, wie,Matrim Cauthon?« Nynaeve al'Meara trat in ihre Mitte,den dunklen Zopf über die Schulter gehängt und vor Wutkochend. Rand rappelte sich auf. Sie war schlank und gingMat kaum bis zur Schulter, doch in diesem Momenterschien ihnen die Seherin größer als sie alle, und esspielte keine Rolle, daß sie jung und hübsch war. »Ichhabe Bili Congar damals gleich so eingeschätzt, aber ichdachte, du hättest mehr Verstand und würdest nicht nochversuchen, ihn aufzustacheln. Du bist vielleicht alt genug,um zu heiraten, Matrim Cauthon, aber in Wirklichkeitsolltest du noch an Mutters Schürzenzipfel hängen! Alsnächstes wirst du wohl auch noch selbst den DunklenKönig nennen.«

»Nein, Seherin«, protestierte Mat. Er sah aus, alswünsche er sich, irgendwo weit weg zu sein. »Es wardoch der alte Bi... Ich meine, Meister Congar und nichtich! Blut und Asche, ich...«

»Hüte deine Zunge, Matrim!«Rand richtete sich unwillkürlich steif auf, obwohl ihr

zorniger Blick gar nicht ihm galt. Perrin sah genausozerknirscht aus. Später würde sich der eine oder anderevon ihnen mit an Sicherheit grenzenderWahrscheinlichkeit darüber beklagen, daß sie von einerFrau heruntergeputzt worden waren, die nicht viel älterals sie selbst war – das geschah jedesmal, wenn Nynaevegeschimpft hatte, allerdings außerhalb ihrer Hörweite –,doch von Angesicht zu Angesicht schien derAltersunterschied plötzlich groß genug. Besonders, wennsie richtig wütend war. Der Stock in ihrer Hand hatte eindickes Ende und lief auf der anderen Seite in eine dünne

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Rute aus, und man mußte bei ihr damit rechnen, daß siejedem damit eins überzog, der sich in ihren Augen wie einNarr benahm – auf den Kopf oder die Hände oder Beine –gleich, wie alt sie waren und welche Stellung sie im Dorfinnehatten.

Rand hatte seine Aufmerksamkeit auf die Seherinkonzentriert und so war es ihm entgangen, daß sie nichtallein war. Als er seinen Fehler bemerkte, wollte erfortrennen, gleichgültig, was Nynaeve später sagen odertun würde.

Egwene stand ein paar Schritte hinter der Seherin undbeobachtete alles aufmerksam. Sie war genauso groß wieNynaeve und hatte denselben dunklen Teint. In diesemAugenblick schien sie Nynaeves Stimmungwiderzuspiegeln, die Arme unter den Brüsten verschränkt,den Mund mißbilligend verzogen. Die Kapuze ihresweichen grauen Umhangs warf einen Schatten über ihrGesicht, und in ihren großen braunen Augen fand sichkeine Spur von Lachen.

Es wäre ja nur angemessen, dachte er, daß die zweiJahre, die er älter war als sie, ihm einen Vorteilverschafften, aber das war nicht der Fall. Er war sowiesonie sehr wortgewandt, wenn er sich mit einem Mädchenaus dem Dorf unterhielt (im Gegensatz zu Perrin), aberwenn ihn Egwene eindringlich ansah, die Augen so groß,als konzentriere sie jeden Funken Aufmerksamkeit aufihn, dann stolperte er über jedes Wort. Vielleicht konnteer sich verdrücken, wenn Nynaeve ausgeredet hatte. Unddoch wußte er, daß er nicht gehen würde; er verstand nurnicht, warum.

»Wenn du damit fertig bist, mich wie ein Mondkalbanzustarren, Rand al'Thor«, sagte Nynaeve, »kannst dumir vielleicht erklären, warum ihr über etwas gesprochen

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habt, wovon selbst ihr drei großen Jungstiere die Fingerlassen solltet. Das hätte euch euer Verstand sagenmüssen.«

Rand schrak zusammen und riß den Blick von Egwenelos, deren Gesicht ein beunruhigendes Lächeln zeigte, seitdie Seherin zu sprechen begonnen hatte. Nynaeves Stimmeklang beißend, aber auch auf ihrem Gesicht zeigte sich einwissendes Lächeln – bis Mat laut loslachte. Da verschwanddas Lächeln der Seherin, und ihr Blick verwandelte MatsLachen in ein abgewürgtes Krächzen.

»Also, Rand?« fragte Nynaeve.Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß Egwene

immer noch lächelte. Was findet sie denn so lustig? »Eswar ganz natürlich, daß wir darauf kommen mußten,Seherin«, sagte er hastig. »Der Händler – Padan Fain...äh... Meister Fain – erzählte uns von einem falschenDrachen in Ghealdan und einem Krieg und den Aes Sedai.Der Gemeinderat hielt es für wichtig genug, um mit ihmzu sprechen. Worüber hätten wir da sonst wohl redensollen?«

Nynaeve schüttelte den Kopf. »Also deshalb steht derWagen des Händlers verlassen herum. Ich hörte, wie dieLeute hinauseilten, um ihn zu treffen, aber ich konnteFrau Ayellin nicht verlassen, bevor ihr Fieber sank. DerGemeinderat befragt den Händler über die Ereignisse inGhealdan, nicht wahr? Wie ich sie kenne, stellen sie allemöglichen falschen Fragen und keine richtigen. Da istschon der Frauenzirkel nötig, um etwas Nützlichesherauszubringen.« Sie zog den Umhang fest um dieSchultern und verschwand in der Schenke.

Egwene folgte der Seherin nicht. Als sich die Tür zurSchenke hinter Nynaeve schloß, kam die junge Frau aufRand zu und stellte sich vor ihn hin. Die Falten waren von

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ihrer Stirn verschwunden, doch ihr unverwandter Blickmachte Rand nervös. Er sah sich nach seinen Freundenum, aber die gingen und grinsten breit, während sie ihn soim Stich ließen.

»Du solltest dich nicht in Mats Dummheitenhineinziehen lassen, Rand«, sagte Egwene genauso ernstwie die Seherin zuvor, und dann plötzlich kicherte sie.»Ich habe dich nicht mehr so verdattert dreinblickensehen, seit Cenn Buie dich und Mat oben in seinenApfelbäumen entdeckt hat, als ihr zehn wart.«

Er trat von einem Fuß auf den anderen und schaute sichnach seinen Freunden um. Sie standen nicht weit entfernt.Mat gestikulierte aufgeregt beim Sprechen.

»Tanzt du morgen mit mir?« Das hatte er eigentlichnicht sagen wollen. Er wollte wohl mit ihr tanzen, abergleichzeitig wollte er auch wieder nicht, weil er sich sounsicher fühlen würde wie immer, wenn er mit ihrzusammen war. So, wie er sich im Moment auch fühlte.

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichtenLächeln. »Am Nachmittag«, sagte sie. »Am Vormittag binich beschäftigt.«

Von den anderen hörte er Perrins Ausruf: »EinGaukler!«

Egwene wandte sich ihnen zu, doch Rand legte eineHand auf ihren Arm. »Beschäftigt? Womit denn?«

Trotz der Kälte schob sie die Kapuze zurück und zogdas Haar mit beiläufiger Geste über die Schulter nachvorn. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren ihrdunkle Haarwogen bis auf die Schultern gefallen, voneinem roten Stirnband gehalten; doch nun war das Haar zueinem langen Zopf geflochten.

Er sah ihren Zopf an, als sei es eine Viper, und warfeinen kurzen Blick hinüber zum Frühlingsbaum, der nun

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verlassen auf dem Grün stand, fertig vorbereitet fürmorgen. Am Morgen würden unverheiratete Frauen imheiratsfähigen Alter um den Baum tanzen. Er schluckteschwer. Irgendwie war ihm nie klar gewesen, daß sie dasheiratsfähige Alter zur gleichen Zeit wie er erreichte.

»Nur weil jemand alt genug zum Heiraten ist«,murmelte er, »heißt das noch nicht, daß man's auch tunsollte. Jedenfalls nicht gleich.«

»Natürlich nicht. Oder überhaupt, was das betrifft.«Rand blinzelte überrascht. »Überhaupt?«»Eine Seherin heiratet fast nie. Nynaeve bildet mich

aus, weißt du. Sie sagt, ich habe das Talent dazu undkönne lernen, dem Wind zu lauschen. Nynaeve sagt, nichtalle Seherinnen können das, auch wenn sie es behaupten.«

»Seherin!« rief er spöttisch. Er bemerkte dasgefährliche Glitzern in ihren Augen nicht. »Nynaeve wirdnoch mindestens fünfzig Jahre lang hier die Seherin sein,vielleicht auch länger. Willst du den Rest deines Lebensals ihr Lehrmädchen verbringen?«

»Es gibt auch andere Dörfer«, antwortete sie hitzig.»Nynaeve sagt, die Dörfer im Norden des Taren wählengrundsätzlich eine Seherin von auswärts. Sie glauben, diewerde niemanden aus dem Dorf bevorzugen.«

Sein Spott verging ihm so schnell, wie er gekommenwar. »Außerhalb der Zwei Flüsse? Ich würde dich niemalswiedersehen!«

»Und das würde dir nicht gefallen? In letzter Zeit hastdu mir kaum gezeigt, daß dir etwas an mir liegt, so oderso.«

»Niemand verläßt die Zwei Flüsse«, fuhr er fort.»Vielleicht jemand aus Taren-Fähre, aber die sind allesowieso ganz komisch. Nicht wie die anderen Zwei-Flüsse-Leute.«

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Egwene stieß einen hoffnungslosen Seufzer aus. »Na ja,vielleicht bin ich auch komisch. Vielleicht will ich einigeder Orte sehen, von denen ich in den Geschichten gehörthabe. Hast du jemals daran gedacht?«

»Natürlich habe ich daran gedacht. Ich träume auchmanchmal mit offenen Augen, aber ich kenne denUnterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.«

»Und ich nicht?« fragte sie wütend und wandte ihmprompt den Rücken zu.

»Das habe ich nicht so gemeint. Ich habe von mirgesprochen. Egwene?«

Sie zog schnell ihren Mantel ganz eng um sichzusammen – eine Mauer, um ihn fernzuhalten – und gingein paar Schritte weg. Enttäuscht rieb er sich die Stirn.Wie sollte er das erklären? Es war nicht das erste Mal,daß sie seinen Worten eine ganz andere Bedeutung gab alsdie beabsichtigte. Bei ihrer augenblicklichen Laune würdeein Fehltritt die Sache nur noch schlimmer machen, under war sich ziemlich sicher, daß beinahe alles, was ersagte, einen Fehltritt darstellen würde.

Dann kamen Mat und Perrin zurück. Egwene übersahihr Kommen. Sie sahen sie vorsichtig an und stellten sichdann dicht neben Rand. »Moiraine gab Perrin auch eineMünze«, sagte Mat. »So eine wie uns.« Er legte eine Pauseein, bevor er hinzufügte: »Und er hat den Reitergesehen.«

»Wo?« wollte Rand wissen. »Wann? Hat ihn sonst nochjemand gesehen? Hast du es jemandem erzählt?«

Perrin hob beide Hände, um ihn zu unterbrechen.»Immer nur eine Frage auf einmal! Ich habe ihn amDorfrand gesehen, als er gestern in der Dämmerung dieSchmiede beobachtete. Hat mir einen Schauer über denRücken gejagt. Ich habe es Meister Luhhan erzählt, doch

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da war niemand, als er hinsah. Er sagte, ich säheGespenster. Aber er trug seinen größten Hammer mitherum, als wir das Feuer mit Asche belegten und dieWerkzeuge aufhängten. Das hat er noch nie zuvor getan.«

»Also hat er dir geglaubt«, sagte Rand, doch Perrinzuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht. Ich fragte ihn, warum er den Hammertrage, wenn ich doch nur Gespenster gesehen hätte, und ersagte etwas über die Wölfe und daß sie frech genug seien,um bis ins Dorf hinein zu kommen. Vielleicht glaubte er,ich hätte einen Wolf gesehen, aber er sollte wissen, daßich den Unterschied zwischen einem Wolf und einenBerittenen sogar in der Abenddämmerung kenne. Ichweiß, was ich gesehen habe, und keiner wird mich vonetwas anderem überzeugen.«

»Ich glaube dir«, sagte Rand. »Vergiß nicht, daß ichihn auch gesehen habe.« Perrin gab ein befriedigtesGrunzen von sich, als sei er sich nicht sicher gewesen.

»Worüber sprecht ihr eigentlich?« wollte Egweneplötzlich wissen.

Rand wünschte sich plötzlich, er hätte leisergesprochen. Das hätte er auch getan, doch er hatte nichtgemerkt, daß sie lauschte. Mat und Perrin grinsten wie dieNarren und überschlugen sich beinahe, um ihr von ihrenZusammentreffen mit dem schwarzgekleideten Reiter zuerzählen. Nur Rand schwieg. Er wußte, was sie sagenwürde, wenn sie fertig waren.

»Nynaeve hatte recht«, verkündete Egwene mit zumHimmel gerichtetem Blick, als die beiden jungen Männerendlich schwiegen. »Keiner von euch sollte von MuttersSchürzenzipfel weggelassen werden. Es gibt Leute, die aufPferden reiten, wißt ihr? Deshalb sind sie noch langekeine Ungeheuer aus den Geschichten eines Gauklers.«

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Rand nickte vor sich hin; sie redete genauso, wie er eserwartet hatte. Dann bekam er sein Fett weg. »Und duhast diese Märchen verbreitet. Manchmal scheinst dueinfach keinen gesunden Menschenverstand zu haben,Rand al'Thor. Der Winter war schon furchtbar genug,ohne daß du herumläufst und Kinder erschreckst.«

Rand schnitt eine saure Grimasse. »Ich habe gar nichtsverbreitet, Egwene. Aber ich habe gesehen, was ichgesehen habe, und das war kein Bauer, der nach einerstreunenden Kuh suchte.«

Egwene holte tief Luft und öffnete den Mund, aber wassie auch immer sagen wollte, kam nicht heraus, denn indiesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke, und einMann mit struppigem weißen Haar hetzte heraus, als seijemand hinter ihm her.

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KAPITEL 4

Der Gaukler

Die Tür der Schenke schlug hinter dem weißhaarigenMann zu, und er fuhr herum und funkelte sie an. Er warmager, und man konnte ihn an sich hochgewachsennennen, wäre da nicht die leicht bucklige Haltunggewesen. Trotzdem – er bewegte sich so frisch, daß manihm das Alter nicht anmerkte. Sein Umhang schien auseiner Unzahl von Flicken zu bestehen, in deneigenartigsten Formen und Größen, die in jedemLufthauch flatterten, Flicken in hundert verschiedenenFarben. Der Umhang war in Wirklichkeit recht dick, sahRand, obwohl Meister al'Vere ja anderes behauptet hatte,und die Flicken waren lediglich als Dekoration aufgenäht.

»Der Gaukler!« flüsterte Egwene aufgeregt.Der weißhaarige Mann wirbelte herum, und der

Umhang leuchtete auf.Sein langer Mantel hatte seltsam aufgebauschte Ärmel

und große Taschen. Ein kräftiger Schnurrbart, genausoweiß wie das Haar auf dem Kopf, zitterte über dem Mund,und das Gesicht war knorrig wie ein Baum, der schwereZeiten hinter sich hatte. Mit einer langstieligen, mitSchnitzwerk verzierten Pfeife zeigte er gebieterisch aufRand und die anderen. Ein dünner Rauchfaden erhob sichdaraus. Blaue Augen spähten unter buschigen weißenAugenbrauen hervor und durchbohrten alles, worauf erblickte.

Rand betrachtete die Augen des Mannes genausointensiv wie die ganze Gestalt. Jedermann von den Zwei

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Flüssen hatte dunkle Augen, und bei den meistenKaufleuten und ihren Wächtern und jedem sonst, den erbisher gesehen hatte, war das auch der Fall. Die Congarsund die Coplins hatten sich über seine grauen Augen lustiggemacht, jedenfalls bis zu dem Tag, da er endlich EwalCoplin eins auf die Nase gegeben hatte. Die Seherin hatteihn deshalb ganz schön ausgeschimpft. Er fragte sich, obes einen Ort gab, an dem niemand dunkle Augen hatte.Vielleicht kommt auch Lan von dort.

»Was für ein Ort ist das hier eigentlich?« fragte derGaukler mit tiefer Stimme, die irgendwie gewaltigerklang als die eines gewöhnlichen Mannes. Selbst draußenim Freien schien sie einen großen Saal zu füllen und vonden Wänden widerzuhallen. »Die Bauerntrampel indiesem Dorf auf dem Hügel erzählen mir, ich könne nochvor Einbruch der Dunkelheit hier ankommen, vergessenaber, mir zu sagen, daß ich dazu früh am Vormittagbereits aufbrechen muß. Als ich dann endlich ankomme,bis auf die Knochen durchgefroren und reif für einwarmes Bett, meckert euer Wirt, daß es schon so spät sei,als sei ich ein wandernder Schweinehirt und als hätte michnicht euer Gemeinderat gebeten, bei diesem Fest hiermeine Kunst zu zeigen. Und er sagte mir noch nichteinmal, daß er der Bürgermeister ist!« Er holte ersteinmal Luft, betrachtete alle finster und legte einenMoment später schon wieder los. »Als ich runterging, ummeine Pfeife vor dem Kamin zu rauchen und einen KrugBier zu trinken, sieht mich jedermann im Schankraum an,als sei ich sein bestgehaßter Schwager und versuche, mirvon ihm Geld zu leihen. Irgendein alter Opa fängt an, mirVorträge zu halten, welche Art von Geschichten icherzählen soll und welche nicht, und dann schreit mich soein kindisches kleines Mädchen an, ich solle abhauen, und

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bedroht mich mit einem Knüppel, als ich nicht schnellgenug springe. Wo hat man denn so was schon gehört, daßman einen Gaukler derart behandelt?«

Es lohnte sich, Egwenes Gesicht zu studieren. Sie warhin- und hergerissen. Einerseits bestaunte sie den Gauklermit großen Augen, und andererseits sah man, daß sieNynaeve verteidigen wollte.

»Entschuldigt, Meister Gaukler«, sagte Rand. Er wußte,daß er dabei selbst idiotisch grinste. »Das war unsereSeherin, und...«

»Dieses hübsche kleine Ding von einem Mädchen?« riefder Gaukler. »Eine Dorfseherin? Na, in ihrem Alter solltesie lieber mit jungen Männern flirten, als das Wettervorherzusagen und Kranke zu heilen.«

Rand fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut.Hoffentlich hörte Nynaeve nicht, was der Mann von ihrhielt. Zumindest nicht, bevor er seine Vorstellung beendethatte. Perrin fuhr bei den Worten des Gauklerszusammen, und Mat pfiff tonlos durch die Zähne, alsgingen den beiden Freunden dieselben Gedanken durchden Kopf wie ihm.

»Die Männer, das war der Gemeinderat«, fuhr Randfort. »Ich bin sicher, sie wollten nicht unhöflich sein. SehtIhr, wir haben gerade erfahren, daß in Ghealdan Kriegausgebrochen ist, und ein Mann behauptet, derWiedergeborene Drache zu sein. Ein falscher Drache. AesSedai reiten aus Tar Valon dorthin. Der Gemeinderatversucht zu entscheiden, ob wir hier in Gefahr sind.«

»Das hat ja alles schon einen Bart, sogar in Baerlon«,mäkelte der Gaukler, »und das ist wirklich der letzte Ortauf der Welt, an dem man etwas Neues erfahren kann.«Er hielt inne, betrachtete die umliegenden Häuser desDorfs und fügte trocken hinzu: »Vielleicht der vorletzte

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Ort.« Dann fiel sein Blick auf den Wagen vor derSchenke, der nun verlassen dastand, die Deichsel amBoden. »So. Ich dachte, ich hätte Padan Fain dort drinnenerkannt.« Seine Stimme klang immer noch tief, aber derWiderhall war nicht mehr zu hören und wurde durchVerachtung ersetzt. »Fain hat immer schon schlechteNachrichten schnell überbracht – je schlechter, destoschneller. Es hat mehr von einem Raben als von einemMann.«

»Meister Fain ist schon oft nach Emondsfeldgekommen, Meister Gaukler«, sagte Egwene, bei der nunein Hauch von Mißbilligung durch die Freude brach. »Ersteckt immer voll von Humor und bringt viel mehr guteNachrichten als schlechte.«

Der Gaukler betrachtete sie einen Augenblick lang undlächelte dann breit. »Also, du bist ja ein süßes Mädel. Dusolltest Rosenknospen im Haar tragen. Unglücklicherweisekann ich keine Rosen aus der Luft zaubern, nicht diesesJahr, aber würde es dir Spaß machen, morgen währendeines Teils meiner Vorstellung neben mir zu stehen undmir zu assistieren? Du könntest mir eine Flöte reichen,wenn ich sie brauche, und bestimmte weitere Geräte. Ichwähle immer das hübscheste Mädchen aus, das ich findenkann.«

Perrin kicherte, und Mat, der vorher schon gegrinsthatte, lachte schallend los. Rand machte große Augen vorÜberraschung; Egwene sah ihn böse an, und dabei hatte ernoch nicht einmal gelächelt. Sie richtete sich auf und sagtemit etwas zu beherrschter Stimme: »Danke schön, MeisterGaukler. Ich werde mich glücklich schätzen, Euch zuassistieren.«

»Thom Merrilin«, sagte der Gaukler. Sie sahen ihnverständnislos an. »Ich heiße Thom Merrilin, nicht

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Meister Gaukler.« Er zog den vielfarbigen Umhanghöher, und plötzlich schien seine Stimme wieder in einemgroßen Saal zu hallen. »Einst Barde am Hof, habe ichmich nun hochgearbeitet und den enormen Rang einesMeistergauklers erreicht, doch mein Name lautet einfachnur Thom Merrilin, und Gaukler ist der Titel, mit demich mich schmücke.« Und er verbeugte sich mit einemderart eleganten Schwung seines Umhangs, daß Matklatschte und Egwene beifällig murmelte.

»Meister... äh... Meister Merrilin«, sagte Mat, der sichnicht sicher war, wie er ihn nun anreden sollte, »wasgeschieht denn wirklich in Ghealdan? Wißt Ihr irgendetwas über diesen falschen Drachen? Oder die Aes Sedai?«

»Sehe ich wie ein fahrender Händler aus, Junge?«brummte der Gaukler, während er seine Pfeife auf demHandrücken ausklopfte. Er ließ die Pfeife irgendwo inseinem Umhang oder seinem Mantel verschwinden; Randwar sich nicht sicher, wo sie war oder wie sie dahingekommen war. »Ich bin Gaukler und kein Dorfbüttel.Und ich bemühe mich, niemals etwas über die Aes Sedaizu wissen. Das ist viel sicherer.«

»Aber der Krieg«, begann Mat eifrig, doch MeisterMerrilin schnitt ihm das Wort ab.

»Im Krieg, Junge, töten Narren andere Narren ausnärrischen Gründen. Es genügt, wenn man soviel weiß.Ich bin meiner Künste wegen hier.« Plötzlich deutete seinZeigefinger auf Rand. »Du, Bursche. Du bistgroßgewachsen. Noch nicht voll ausgewachsen, aber ichglaube kaum, daß es in der Region hier noch einen Manndeiner Größe gibt. Ich schätze auch, daß es im Dorf nichtviele Leute mit deiner Augenfarbe gibt. Auf jeden Fallhast du breite Schultern und bist so groß wie einAielmann. Wie heißt du, Bursche?«

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Rand sagte zögernd seinen Namen. Er war sich nichtsicher, ob der Mann sich über ihn lustig machte, aber derGaukler widmete seine Aufmerksamkeit bereits Perrin.»Und du hast schon beinahe die Maße eines Ogiers. Wiewirst du genannt?«

»Nur wenn ich mich auf die eigenen Schultern stelle«,lachte Perrin. »Ich fürchte, Rand und ich sind nur ganznormale Menschen, Meister Merrilin, und keineerfundenen Wesen aus Euren Geschichten. Ich bin PerrinAybara.«

Thom Merrilin zupfte an einem Ende seinesSchnurrbarts. »Na ja. Erfundene Wesen aus meinenGeschichten. Sind sie das? Es scheint, Ihr jungen Burschenseid schon weit in der Welt herumgekommen.«

Rand hielt den Mund, denn er war nun sicher, daß sieZiel eines Scherzes waren, aber Perrin sagte etwas dazu.

»Wir waren alle schon bis Wachhügel und Devenritt.Nur wenige Leute aus dieser Gegend sind schon so weitweg gewesen.« Er gab nicht an; das tat Perrin selten. E rsagte einfach die Wahrheit.

»Wir haben auch alle den Schlammpfuhl gesehen«,fügte Mat hinzu, und bei ihm klang es nach Angabe. »Dasist der Sumpf am hinteren Ende des Wasserwalds. Dortgeht sonst überhaupt niemand hin außer uns – da findetman Treibsand und Moorlöcher. Und genausowenig gehtjemand bis zu den Verschleierten Bergen, aber wir warenschon einmal dort. Jedenfalls bis zu ihrem Fuß.«

»Tatsächlich so weit?« murmelte der Gaukler, der sichnun dauernd über den Schnurrbart strich. Rand glaubte,er verberge ein Lächeln, und beobachtete, wie Perrin dieStirn runzelte.

»Es bringt Pech, wenn man sich in die Bergehineinwagt«, sagte Mat, als müsse er sich verteidigen, weil

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er nicht weiter gegangen war. »Das weiß doch jeder.«»Das ist doch närrisch, Matrim Cauthon«, mischte sich

Egwene ärgerlich ein. »Nynaeve sagt...« Sie sprach nichtweiter. Ihre Wangen färbten sich rot, und der Blick, mitdem sie Thom Merrilin musterte, war nicht so freundlichwie zuvor. »Es ist nicht anständig... Es ist nicht...« IhrGesicht wurde noch roter, und sie schwieg. Matzwinkerte, als komme ihm jetzt der Verdacht, daß etwasnicht stimme.

»Du hast recht, Kind«, sagte der Gaukler reumütig.»Ich entschuldige mich demütigst. Ich bin hier, umMenschen zu unterhalten. Äh, meine Zunge hat michschon oft in Schwierigkeiten gebracht.«

»Vielleicht sind wir nicht so weit herumgekommen wieIhr«, sagte Perrin tonlos, »aber was hat eigentlich RandsGröße mit all dem zu tun?«

»Nur mein, Junge, ihr sollt später versuchen, michhochzuheben, aber Ihr werdet nicht in der Lage sein,meine Füße auch nur vom Boden wegzubringen. Ihr nichtund Euer großer Freund nicht – Rand, nicht wahr? – undauch niemand anders. Was haltet Ihr davon?«

Perrin schnaubte und lachte gleichzeitig. »Ich schätze,ich kann Euch jetzt gleich hochheben.« Aber als ervortrat, winkte ihn Thom Merrilin zurück. »Später,Bursche, später! Wenn mehr Zuschauer da sind. EinKünstler braucht sein Publikum.«

Ein paar Leuten hatten sich auf dem Grün versammelt,seit der Gaukler aus der Schenke gekommen war; vonjungen Männern und Frauen bis zu Kindern, dieschweigend und mit großen Augen hinter den älterenZuschauern hervorlugten. Alle wirkten, als erwarteten siewahre Wunder von dem Gaukler. Der weißhaarige Mannbetrachtete sie – er schien sie zu zählen –, schüttelte leicht

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den Kopf und seufzte.»Ich denke, ich muß wohl ein kleines Beispiel meiner

Künste zum besten geben, damit Ihr heimlaufen und esden anderen erzählen könnt. Eh? Nur ein Vorgeschmackdessen, was Ihr morgen bei Eurem Fest sehen werdet.«

Er trat einen Schritt zurück und sprang plötzlich hochin die Luft, drehte sich in einem Schraubensalto undlandete mit dem Gesicht ihnen zugewandt auf der altenMauer. Und noch mehr: Drei Bälle – rot, weiß undschwarz – begannen zwischen seinen Händen zu tanzen,und zwar bereits in dem Moment, als er auf der Mauerlandete.

Ein leises Stöhnen war von den Zuschauern zu hören;halb Erstaunen, halb Genugtuung. Sogar Rand vergaßseine Nervosität. Er grinste Egwene zu und erhielt dafürein vergnügtes Lächeln, und dann wandten sich beide wie-der dem Gaukler zu und sahen ihm mit großen Augen zu.

»Ihr möchtet Geschichten hören?« rief Thom Merrilin.»Ich habe Geschichten, und ich werde sie Euch erzählen.Ich werde sie vor Euren Augen zum Leben erwecken.«Ein blauer Ball von irgendwoher gesellte sich zu denanderen, dann ein grüner und ein gelber. »Geschichtenüber große Kriege und große Helden für die Männer unddie Jungen. Für die Frauen und Mädchen den ganzenAptarigine-Zyklus. Geschichten von Artur Falkenflügel,Artur, dem großen König, der einst alle Länder von derAiel-Wüste bis zum Aryth-Meer und noch weiter regierte.Erstaunliche Geschichten über fremde Völker und fremdeLänder, über den Grünen Mann, über Behüter undTrollocs, Ogier und Aiel. ›Die tausend ErzählungenAnlas, der weisen Ratgeberin‹, ›Jaem, der Riesentöter‹,›Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹, ›Mara und die dreitörichten Könige‹.«

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»Erzählt uns von Lenn!« rief Egwene. »Wie er imBauch eines Adlers aus Feuer auf den Mond flog. Erzähltuns von seiner Tochter Salya, die zwischen den Sterneneinhergeht.«

Rand betrachtete sie aus den Augenwinkeln, doch sieschien sich nur auf den Gaukler zu konzentrieren. Siehatte Geschichten über Abenteuer und lange Reisen nochnie gemocht. Ihre Lieblingsgeschichten waren immer dielustigen oder solche über Frauen gewesen, die schlauerwaren als angeblich besonders kluge Leute. Rand warsicher, daß sie nach den Geschichten von Lenn und Salyaverlange, um ihm eins auszuwischen. Sicher war auch ihrklar, daß die Welt dort draußen für die Leute von denZwei Flüssen kein Thema war. Sich Abenteuergeschichtenanzuhören und vielleicht davon zu träumen, war eineSache; aber mittendrin zu stehen und sie selbst zu erleben,war eine ganz andere. »Das sind alte Geschichten«, sagteThom Merrilin, und plötzlich jonglierte er mit jeder Handdrei farbige Bälle. »Manche behaupten, das seienGeschichten aus dem Zeitalter vor dem Zeitalter derLegenden. Oder vielleicht noch älter. Aber, seht ihr, ichhabe alle Geschichten von Zeitaltern, die vergingen undvon solchen, die kommen werden. Zeitalter, in denen dieMenschen Himmel und Sterne beherrschten, und Zeitalter,da die Menschen den Tieren gleich umherzogen. Zeitalterzum Staunen und Zeitalter zum Fürchten. Zeitalter, diedamit endeten, daß Feuer vom Himmel fiel, und andere,deren Ende in Eis und Schnee begraben wurde. Ich kennealle Geschichten, und ich werde alle Geschichten erzählen.Geschichten von Mosk, dem Riesen, mit seinerFeuerlanze, die er um die ganze Welt werfen konnte, undvon seinen Kriegen mit Alsbet, der All-Königin.Geschichten von Materese, der Heilerin und Mutter des

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Erstaunlichen Ind.«Die Bälle tanzten nun in zwei ineinandergreifenden

Ringen zwischen Thoms Händen. Seine Stimme klangbeinahe, als singe er, und während er sprach, drehte ersich langsam, als wolle er seine Wirkung auf dieZuschauer beobachten. »Ich werde euch vom Ende desZeitalters der Legenden berichten, vom Drachen undseinem Versuch, den Dunklen König zu befreien und indie Welt der Menschen zu lassen. Ich werde von der Zeitdes Wahns erzählen, als Aes Sedai die Welt zerbrachen;von den Trolloc-Kriegen, als Menschen gegen Trollocsum die Herrschaft der Welt kämpften; vomHundertjährigen Krieg, als Menschen gegen Menschenkämpften und die heutigen Staaten gegründet wurden. Ichwerde von den Abenteuern von Männern und Frauenerzählen, Armen und Reichen, Großen und Kleinen,Stolzen und Demütigen. ›Die Belagerung der Säulen desHimmels‹, ›Wie Frau Karil ihren Mann vom Schnarchenbefreite‹, ›König Darith und der Fall des Hauses der...‹«

Mit einem Schlag endeten der Wortschwall und auchdas Jonglieren. Thom schnappte sich lediglich die Bälleaus der Luft und hörte mit Sprechen auf. Von Randunbemerkt, hatte sich Moiraine zu den Zuschauern gesellt.Lan stand an ihrer Seite. Er mußte allerdings zweimalhinsehen, um den Mann zu erkennen. Einen Augenblicklang sah Thom Moiraine von der Seite an. Sein Gesichtund sein Körper bewegten sich nicht, und doch ließ er dieBälle in den weiten Manteltaschen verschwinden. Dannverbeugte er sich vor ihr, wobei er den Umhang weitausbreitete. »Entschuldigt, aber Ihr kommt doch sichernicht aus dieser Gegend.«

»Lady!« zischte Ewin aufgebracht. »Die LadyMoiraine.«

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Thom blinzelte und verbeugte sich nochmals, diesmaltiefer. »Entschuldigt noch einmal... äh, Lady. Ich wolltenicht unhöflich sein.«

Moiraine tat es mit einer leichten Handbewegung ab.»Es wurde auch nicht so aufgefaßt, Meister Barde. Undmein Name lautet einfach Moiraine. Ich bin tatsächlichfremd hier, eine Reisende wie Ihr selbst, fern der Heimatund allein. Die Welt kann ein gefährlicher Ort sein, wennman irgendwo in der Fremde weilt.«

»Die Lady Moiraine sammelt Geschichten«, warf Ewinein. »Geschichten über Dinge, die sich bei den ZweiFlüssen abspielten. Obwohl ich nicht weiß, was hierGroßes geschehen sein kann, daß man eine Geschichtedarüber erzählt.«

»Ich hoffe, Euch werden meine Geschichten genausogutgefallen... Moiraine.« Thom betrachtete sie mitoffensichtlichem Argwohn. Er sah nicht so aus, als gefalleihm ihre Anwesenheit. Plötzlich fragte Rand sich, welcheArt von Unterhaltung einer Dame wie ihr in einer Stadtwie Baerlon oder Caemlyn wohl geboten wurde. Eskonnte doch kaum Besseres sein, als ein Gaukler zu bietenhatte.

»Das ist Geschmackssache, Meister Barde«, antworteteMoiraine. »Einige Geschichten gefallen mir, anderenicht.«

Thoms Verbeugung war seine bisher tiefste. Sein langerKörper beugte sich parallel zum Boden. »Ich versichereEuch, daß Euch keine meiner Geschichten mißfallenwerden. Alle werden gefallen und unterhalten. Und Ihrlaßt mir zuviel Ehre zuteil werden. Ich bin ein einfacherGaukler – sonst nichts.«

Moiraine beantwortete seine Verbeugung mit einemdankbaren Nicken. In diesem Augenblick erschien sie

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noch mehr als die Lady, wie sie von Ewin bezeichnetworden war, die ein Geschenk eines ihrer Untertanenannahm. Dann ging sie, und Lan folgte ihr – ein Wolf aufden Spuren eines dahingleitenden Schwans. Thom sahihnen nach. Er zupfte sich an den wild wucherndenAugenbrauen und strich sich mit den Knöcheln über denlangen Schnurrbart, bis sie auf halbem Weg über dasGrün waren. Es gefällt ihm überhaupt nicht, dachte Rand.

»Jongliert Ihr jetzt noch ein wenig?« wollte Ewinwissen.

»Schluckt Feuer!« rief Mat. »Ich will Euch Feuerschlucken sehen!«

»Die Harfe!« rief eine Stimme aus der Menge. »SpieltHarfe!« Jemand anders wollte, daß er Flöte spielte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke,und der Gemeinderat schob sich heraus, Nynaeve in derMitte. Padan Fain befand sich nicht bei ihnen, bemerkteRand. Offensichtlich hatte es der Händler vorgezogen, mitseinem Glühwein in der warmen Schankstube zu bleiben.

Etwas von einem ›starken Schnaps‹ vor sichhinmurmelnd, sprang Thom Merrilin plötzlich von deralten Grundmauer. Er überhörte die Rufe seinerZuschauer und drückte sich am Gemeinderat vorbei,bevor die noch aus der Tür waren.

»Ist er eigentlich Gaukler oder König?« fragte CennBuie in ärgerlichem Tonfall. »Reine Geldverschwendung,wenn Ihr mich fragt.«

Bran al'Vere drehte sich halb nach dem Gaukler um,schüttelte dann aber den Kopf. »Dieser Mann macht unsvielleicht mehr Schwierigkeiten, als er wert ist.«

Nynaeve, die alle Hände voll zu tun hatte, ihrenflatternden Umhang festzuhalten, schnaubte vernehmlich.»Macht Euch ruhig Kopfzerbrechen des Gauklers wegen,

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Brandelwyn al'Vere. Zumindest ist er hier in Emondsfeld,was man von dem falschen Drachen nicht behaupten kann.Aber wenn Ihr Euch schon Sorgen machen wollt: Es gibtandere hier, deren Anwesenheit Euch mehr Ärgerbereiten wird.«

»Seherin«, sagte Bran steif, »überlaßt esfreundlicherweise bitte mir, über wen ich mir den Kopfzerbreche. Frau Moiraine und Meister Lan sind Gästemeiner Herberge und, so möchte ich behaupten,anständige und ehrenwerte Leute. Sie haben mich nichtvor dem versammelten Gemeinderat als Narrenbezeichnet. Sie haben dem Gemeinderat nichtvorgeworfen, daß keiner von uns seine fünf Sinnebeisammen habe.«

»Es scheint, als habe ich Euch noch zu gut bewertet«,schoß Nynaeve zurück. Sie schritt ohne einen Blick zurückeinfach davon. Brans Kinn bewegte sich, als formuliere ereine passende Antwort.

Egwene sah Rand an, als wolle sie etwas sagen, aberstatt dessen eilte sie der Seherin hinterher. Rand war sichklar darüber, daß es irgendeinen Weg geben mußte, siedavon abzuhalten, die Zwei Flüsse zu verlassen, doch dereinzige Weg, der ihm gerade einfiel, war keiner, den erzur Zeit bereits gehen konnte, selbst wenn sie zustimmte.Und sie hatte ja mehr oder weniger angedeutet, daß sienicht wollte. Das machte alles für ihn noch schlimmer.

»Diese junge Frau braucht einen Mann«, grollte CennBuie, der auf Zehenspitzen umherhüpfte. Sein Gesichthatte sich puterrot gefärbt und wurde noch dunkler. »Ihrfehlt der Respekt. Wie sind der Gemeinderat und keinekleinen Jungen, die ihr den Hof machen und...«

Der Bürgermeister atmete schwer durch die Nase undfuhr dann plötzlich den alten Dachdecker an: »Sei ruhig,

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Cenn! Hör auf, dich wie ein Aiel mit schwarzem Schleieraufzuführen!« Der knochige Mann erstarrte vorÜberraschung. Der Bürgermeister verlor sonst nie dieBeherrschung. Bran funkelte ihn an. »Versengen soll michdas Licht, aber wir haben wirklich Besseres zu tun, als unswie Narren zu benehmen. Oder willst du beweisen, daßNynaeve recht hat?« Damit stampfte er zurück in dieSchenke und knallte die Tür hinter sich zu.

Die anderen Mitglieder des Gemeinderats sahen Cennan und gingen dann jeder in seine Richtung nach Hause.Alle außer Haral Luhhan, der den Dachdecker begleiteteund leise auf ihn einredete. Cenn Buies Gesicht war wieversteinert. Der Schmied aber war der einzige, der Cennjemals wieder zur Vernunft bringen konnte.

Rand ging zu seinem Vater hinüber, und seine Freundekamen hinterher. »Ich habe Meister al'Vere noch nie sowütend gesehen«, war das erste, was Rand sagte. Dasbrachte ihm einen angewiderten Blick Mats ein.

»Der Bürgermeister und die Seherin sind sich selteneinig«, sagte Tam, »und heute noch weniger als sonst. Dasist alles. Das ist in jedem Dorf dasselbe.«

»Was ist mit dem falschen Drachen?« fragte Mat, undPerrin murmelte eifrig: »Was ist mit den Aes Sedai?«

Tam schüttelte langsam den Kopf. »Meister Fain wußtenicht viel mehr, als er bereits sagte. Jedenfalls nicht viel,was für uns wichtig ist. Gewonnene oder verloreneSchlachten. Eroberte und rückeroberte Städte. Dank demLicht spielt sich das alles in Ghealdan ab. Es hat sich nichtweiter ausgebreitet, jedenfalls nicht, soweit uns dasMeister Fain berichten konnte.«

»Schlachten interessieren mich«, sagte Mat, und Perrinfügte hinzu: »Was hat er davon erzählt?«

»Mich interessieren Schlachten nicht, Matrim«, sagte

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Tam. »Doch ich bin sicher, er wird sich glücklichschätzen, dir später alles darüber zu erzählen. Was michinteressiert, ist die Tatsache, daß wir uns hier nicht denKopf darüber zerbrechen müssen, soweit es derGemeinderat beurteilen kann. Wir sehen keinen Grund fürdie Aes Sedai, auf ihrem Weg nach Süden hierdurchzukommen. Und was die Rückreise betrifft, werdensie wohl kaum den Wald der Schatten durchqueren undden Weißen Fluß durchschwimmen.«

Rand und die anderen schmunzelten bei dem Gedankendaran. Es gab drei Gründe, warum niemand ins Gebietder Zwei Flüsse kam, außer eben vom Norden her vonTaren-Fähre. Der erste, das waren natürlich dieVerschleierten Berge, und genauso erfolgreich blockierteder Schlammpfuhl die Wege aus dem Osten. Im Süden lagder Weiße Fluß, der seinen Namen der vielen Steine undFelsen wegen erhalten hatte, die seinen schnellen Stromaufschäumen ließen. Und jenseits des Weißen lag der Waldder Schatten. Wenige Leute der Zwei Flüsse hatten jemalsden Weißen überquert, und noch weniger kehrten vondorther zurück. Man war sich jedoch allgemein darineinig, daß sich der Wald der Schatten etwa hundert Meilenoder weiter nach Süden erstreckte. Es gab dort keineStraße und kein Dorf, wohl aber genügend Wölfe undBären.

»Also, das wär's ja dann wohl für uns«, sagte Mat. Eshörte sich zumindest ein wenig enttäuscht an.

»Nicht ganz«, sagte Tam. »Übermorgen werden wirMänner nach Devenritt und Wachhügel schicken und auchnach Taren-Fähre, um gemeinsam Wachtpostenaufzustellen. Berittene Posten am Weißen und am Tarenund dazwischen Patrouillen. Es sollte eigentlich nochheute geschehen, aber nur der Bürgermeister hat mir

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zugestimmt. Der Rest war der Meinung, man könne nichtverlangen, daß jemand am Bel Tine zwischen den beidenFlüssen herumreitet.«

»Aber Ihr habt doch gesagt, wir müßten uns keineSorgen machen«, murrte Perrin, und Tam schüttelte denKopf.

»Ich sagte, wir sollten uns nicht sorgen, Junge, doch dasheißt nicht, daß wir die Augen verschließen. Ich habeMänner sterben sehen, weil sie sicher waren, daß nichtsgeschehen werde, was nicht geschehen durfte. Außerdemwerden die Kämpfe alle möglichen Leute aufscheuchen.Die meisten werden sich nur ein sicheres Fleckchensuchen, aber andere werden sich bemühen, aus derVerwirrung Profit zu schlagen. Den ersteren werden wirunsere Hilfe anbieten, aber wir müssen darauf vorbereitetsein, die anderen wieder zu verjagen.«

Unvermittelt äußerte sich Mat. »Können wir daranteilnehmen? Ich möchte schon! Ihr wißt, daß ichgenausogut reiten kann wie die anderen Männer desDorfs.«

»Du möchtest ein paar Wochen Kälte, Langeweile undSchlafen im Freien genießen?« schmunzelte Tam. »Daraufwird es wahrscheinlich hinauslaufen. Ich hoffe jedenfalls.Wir sind weit ab vom Schuß, sogar was Flüchtlingebetrifft. Aber wenn du dich entschlossen hast, kannst du jamit Meister al'Vere sprechen. Rand, es ist Zeit für uns,zum Hof zurückzukehren.«

Rand riß überrascht die Augen auf. »Ich dachte, wirbleiben noch zur Winternacht!«

»Es gibt Dinge, die auf dem Hof getan werden müssen,und ich brauche dich dazu.«

»Trotzdem haben wir noch Stunden Zeit. Und ichmöchte mich auch freiwillig für die Patrouillen melden.«

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»Wir gehen jetzt«, antwortete der Vater in einem Ton,der keinen Widerspruch zuließ. Mit sanfterer Stimmefügte er hinzu: »Wir kommen morgen zeitig genugzurück, damit du mit dem Bürgermeister sprechen kannst.Und früh genug für das Fest. Wir treffen uns in fünfMinuten im Stall.«

»Wirst du dich mit Rand und mir zusammen für dieWache melden?« fragte Mat Perrin, als Tam ging. »Ichwette, so was hat es bei den Zwei Flüssen noch niegegeben. Stellt Euch vor, wenn wir zum Taren kommen,sehen wir vielleicht sogar Soldaten oder wer weiß wen!Sogar Kesselflicker!«

»Ja, ich denke schon«, sagte Perrin langsam. »Dasheißt, falls Meister Luhhan mich nicht braucht.«

»In Ghealdan ist Krieg, nicht hier!« brauste Rand auf.Mit Mühe senkte er die Stimme. »Der Krieg ist inGhealdan, und die Aes Sedai sind das Licht wer weiß wo,aber keines davon ist hier. Dafür ist hier der Mann mitdem schwarzen Mantel, oder habt Ihr ihn schonvergessen?« Die anderen tauschten verlegene Blicke.

»Tut uns leid, Rand«, stotterte Mat. »Aber es gibt nichtoft eine Gelegenheit, etwas anderes zu tun, als die Kühedes Vaters zu melken.« Unter ihren erstaunten Blickenrichtete er sich auf. »Na ja, ich melke sie eben, und dasjeden Tag.«

»Der schwarze Reiter«, erinnerte sie Rand. »Was, wenner jemanden verletzt?«

»Vielleicht ist er ein Kriegsflüchtling«, meinte Perrinzögernd.

»Wer er auch ist«, sagte Mat, »die Wachen werden ihnfinden.«

»Vielleicht«, sagte Rand, »aber er scheint zuverschwinden, wann immer er will. Es wäre besser, wenn

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sie überhaupt wissen, daß sie nach ihm suchen sollen.«»Wir erzählen es Meister al'Vere, wenn wir uns für die

Patrouillen melden«, sagte Mat, »er wird es demGemeinderat sagen und die wieder der Wache.«

»Der Gemeinderat!« rief Perrin zweifelnd. »Wir habenGlück, wenn uns der Bürgermeister nicht auslacht!Meister Luhhan und Rands Vater glauben jetzt schon, daßwir zwei uns vor Geistern fürchten.«

Rand seufzte. »Wenn wir es erzählen wollen, dannkönnen wir es genausogut jetzt tun. Er wird heute nichtlauter lachen als morgen.«

»Vielleicht«, meinte Perrin mit einem Seitenblick aufMat, »sollten wir andere fragen, ob sie ihn auch gesehenhaben. Heute abend treffen wir ja fast jeden aus demDorf.« Mats Miene verfinsterte sich noch mehr, aberimmer noch hielt er den Mund. Sie alle wußten, daßPerrin der Meinung war, man solle zuverlässigere Zeugenals Mat finden. »Er wird morgen auch nicht lauterlachen«, fügte Perrin hinzu, als Rand zögerte. »Und mirwäre es lieber, wir hätten noch jemanden bei uns, wennwir zu ihm gehen. Das halbe Dorf wäre mir am liebsten.«

Rand nickte bedächtig. Er konnte schon Meisteral'Veres Lachen hören. Weitere Zeugen wären sicherlichnicht ungünstig. Und wenn schon sie drei den Burschengesehen hatten, dann vielleicht auch andere. »Also dannmorgen. Ihr zwei treibt heute abend weitere Zeugen auf,und morgen gehen wir zum Bürgermeister. Danach...« Siesahen ihn schweigend an. Keiner fragte danach, was wäre,wenn sie niemanden fänden, der den schwarzgekleidetenMann gesehen hatte. Die Frage stand deutlich in ihrenAugen, und er konnte sie nicht beantworten. Er seufztetief auf. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater glaubt sonst,ich sei in ein Loch gefallen.«

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Von ihren Abschiedsgrüßen gefolgt, schlenderte erhinüber zum Stallhof, wo der Karren mit den hohenRädern stand, durch einige Stützen zusätzlich gehalten.

Der Stall war ein langer enger Bau mit einemspitzgiebligen strohgedeckten Dach. Boxen mitstrohbedecktem Boden waren an beiden Seiten desdämmrigen Innenraums untergebracht, der nur von dengeöffneten Doppeltüren an beiden Seiten des GebäudesLicht erhielt. Die Gespannpferde des Händlers kauten ininsgesamt acht Boxen Hafer, und Meister al'Veres kräftigeDhurraner, ein Gespann, das er vermietete, wenn Bauernmehr zu ziehen hatten, als ihre eigenen Pferde schafften,füllten sechs weitere Boxen. Von den übrigen Boxenwaren nur drei besetzt. Rand fand, daß die zu den Pferdenpassenden Reiter leicht zu bestimmen waren. Der hohe,kräftige schwarze Hengst, der den Kopf so wild hochwarf,mußte Lan gehören. Die schlanke weiße Stute mit demedel gekrümmten Hals, deren schnelle Schritte so graziöswirkten wie die eines tanzenden Mädchens, sogar hier imStall, konnte nur Moiraine gehören. Und das dritteunbekannte Pferd, ein dürrer Wallach mit schmutzigenFlanken, paßte perfekt zu Thom Merrilin.

Tam stand ganz hinten im Stall, hielt Bela an einemFührseil und sprach ruhig mit Hu und Tad. Bevor Randnoch zwei Schritte in den Stall hinein tun konnte, nicktesein Vater schon den Stallburschen zu und führte Belahinaus. Wortlos winkte er Rand, mitzukommen.

Schweigend spannten sie die struppige Stute an. Tamschien so tief in Gedanken versunken, daß Rand den Mundhielt. Er freute sich nicht gerade darauf, seinen Vater vonder Existenz des schwarzgekleideten Reiters überzeugenzu müssen, und dann auch noch den Bürgermeister!Morgen war es früh genug dafür, wenn Mat und Perrin

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weitere Zeugen fänden, die den Mann gesehen hatten.Falls sie sie fanden...

Als der Karren sich ruckartig in Bewegung setzte, hatteRand Bogen und Köcher von hinten heraus. Ungeschickthängte er den Köcher an den Gürtel, während ernebenhertrabte. Als sie die letzte Häuserreihe des Dorfserreichten, legte er einen Pfeil ein und trug den Bogenhalb erhoben, die Sehne leicht gespannt. Es gab außer denzumeist kahlen Bäumen nichts zu sehen, doch seineSchultern spannten sich. Der schwarze Reiter konnte sieerreichen, bevor sie es überhaupt merkten. Vielleichtbliebe dann keine Zeit mehr, den Bogen zu spannen; alsotat er es lieber jetzt schon.

Er wußte, daß er die Sehne nicht lange gespannt haltendurfte. Er hatte den Bogen selbst gemacht, und Tam waraußer ihm einer der wenigen in der Gegend, die ihnüberhaupt bis zur Wange spannen konnten. Er sah sichum, denn er wollte nicht die ganze Zeit über an dendunklen Reiter denken. Das war allerdings nicht einfach,so vom Wald umgeben und mit im Wind flatterndenUmhängen. »Vater«, sagte er schließlich, »ich verstehenicht, wieso der Gemeinderat Padan Fain verhörenmußte.« Mit Mühe riß er den Blick vom Wald los und sahTam über Bela hinweg an. »Mir scheint, euer Entschlußhätte auch gleich an Ort und Stelle fallen können. DerBürgermeister hat allen eine Riesenangst eingejagt, als erüber Aes Sedai und den falschen Drachen imZusammenhang mit den Zwei Flüssen sprach.«

»Die Menschen sind merkwürdig, Rand. Sogar diebesten. Nimm Haral Luhhan. Meister Luhhan ist einstarker Mann, und ein tapferer noch dazu, aber er kannnicht beim Schlachten zusehen. Er wird dabei weiß wieein Bettlaken.«

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»Was hat denn das damit zu tun? Jeder weiß, daßMeister Luhhan kein Blut sehen kann, und keiner außerden Coplins und den Congars denkt sich etwas dabei.«

»Nur soviel, mein Junge: Leute denken oder benehmensich nicht immer so, wie du glaubst. Die Leute im Dorf...Laß den Hagel ihre Ernte plattschlagen, laß den Windjedes Dach in der Gegend wegpusten und die Wölfe dieHälfte ihres Viehs reißen, und sie krempeln ihre Ärmelhoch und fangen von vorn an. Sie maulen vielleicht, lassensich aber nicht aufhalten. Aber laß sie nur an die AesSedai und einen falschen Drachen in Ghealdan denken,dann kommen sie bald darauf, daß Ghealdan nicht so weitvom Rand des Walds der Schatten entfernt ist und daß einegerade Linie von Tar Valon nach Ghealdan gar nicht soweit östlich von uns verlaufen würde. Als ob die AesSedai nicht die Straße über Caemlyn und Lugard nähmen,anstatt querfeldein zu reiten! Bis morgen früh wäre dashalbe Dorf überzeugt gewesen, daß der Krieg vor unsererTür steht. Es hätte Wochen gedauert, daswiedergutzumachen. Das hätte ein schönes Bel Tinegegeben! Also sagte Bran es ihnen, bevor sie selbst daraufkamen.

Sie haben gesehen, daß der Gemeinderat das Problemdiskutiert, und mittlerweile werden sie wissen, wie wiruns entschieden haben. Sie haben uns in den Gemeinderatgewählt, weil sie darauf vertrauen, daß wir uns zumBesten für alle beraten. Sie vertrauen unseren Ansichten.Sogar der Ansicht von Cenn, was nicht viel über unsandere aussagt, schätze ich. Jedenfalls werden sie hören,daß wir uns keine Sorgen machen müssen, und das werdensie glauben. Nicht, daß sie nicht auch von allein daraufkommen könnten oder schließlich kommen würden, aberauf diese Weise ruinieren wir das Fest nicht, und keiner

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muß sich wochenlang über etwas Gedanken machen, waswahrscheinlich sowieso nicht geschieht. Wenn es aber,entgegen aller Wahrscheinlichkeit, doch geschieht... Nun,dann werden uns die Patrouillen früh genug warnen,damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können. Ich glaubeaber wirklich nicht, daß es dazu kommen wird.«

Rand blies die Wangen auf. Offensichtlich war eskomplizierter, als er gedacht hatte, Mitglied imGemeinderat zu sein. Der Karren rumpelte weiter dieHaldenstraße entlang.

»Hat noch irgend jemand außer Perrin diesen seltsamenReiter gesehen?« fragte Tam.

»Ja, Mat, aber...« Rand blinzelte und blickte über BelasRücken hinweg seinen Vater an. »Du glaubst mir? Ichmuß zurückkehren. Ich muß es ihnen erzählen.« Tams Rufhielt ihn auf, bevor er zum Dorf zurückrennen konnte.

»Halt, Junge, halt! Hast du gedacht, daß ich ohne Grundso lange warte, um mit dir darüber zu sprechen?«

Zögernd ging Rand weiter neben dem Wagen her, derquietschend der geduldigen Bela folgte. »Warum hast dudeine Meinung geändert? Warum soll ich es den anderennicht erzählen?«

»Sie werden es früh genug erfahren. Perrin zumindest.Bei Mat bin ich mir nicht so sicher. Man muß die Bauernauf ihren Höfen warnen, so gut es geht, aber ansonstenwird es in einer Stunde in Emondsfeld niemand übersechzehn geben oder jedenfalls keinen vertrauenswürdigenErwachsenen, der nicht weiß, daß sich ein Fremder hierherumtreibt, und zwar ein Kerl von der Sorte, die mannicht zum Fest einlädt. Der Winter war ohnehin schonschlimm genug. Man sollte die Kinder nicht auch nochängstigen.«

»Fest?« sagte Rand. »Wenn du ihn gesehen hättest,

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würdest du ihn dir mehr als zehn Meilen wegwünschen.Vielleicht sogar hundert.«

»Ja, vielleicht«, sagte Tam gelassen. »Er kann jadurchaus vor den Unruhen in Ghealdan geflohen sein,oder er ist ein Dieb, der denkt, er könne hier leichter alsin Baerlon oder Taren-Fähre Beute machen. Aberniemand besitzt hier etwas, das er sich so ohne weiteresstehlen läßt. Falls der Mann versucht, vor dem Kriegdavonzurennen... Na ja, das ist keine Entschuldigungdafür, Leuten Angst einzujagen. Wenn die Wache einmalsteht, wird sie ihn entweder finden oder gleich verjagen.«

»Ich hoffe, man verjagt ihn. Aber weshalb glaubst dumir jetzt, während du mir heute morgen nicht geglaubthast?«

»Zu der Zeit war ich auf meine eigenen Augenangewiesen, Junge, und ich sah nichts.« Tam schüttelte denergrauten Kopf. »Es scheint, nur junge Männer sehendiesen Burschen. Als dann aber Haral Luhhan erwähnte,daß Perrin Geister sehe, da kam alles heraus. Jon Thanesältester Sohn sah ihn auch, genau wie Samel Crawes JungeBandry. Also, wenn vier von euch behaupten, sie hättenetwas gesehen – alles ordentliche junge Leute –, dannglauben wir allmählich, daß jemand da ist, ob wir ihn nunsehen können oder nicht. Alle außer Cenn natürlich.Jedenfalls ist das der Grund, weshalb wir nach Hausezurückkehren. Wenn wir beide abwesend sind, könnte derFremde dort alles mögliche anstellen. Wenn es nicht desFestes wegen wäre, käme ich morgen auch nicht ins Dorfzurück. Aber wir können uns nicht in den eigenen vierWänden einsperren, nur weil so ein Bursche hierherumlungert.«

»Ich habe das mit Ban und Lem nicht gewußt«, sagteRand. »Wir anderen wollten morgen zum Bürgermeister

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gehen, aber wir fürchteten, er werde uns nicht glauben.«»Graue Haare bedeuten nicht, daß unser Hirn

geschrumpft ist«, meinte Tam trocken. »Also halte gutAusschau. Vielleicht bekomme ich ihn auch zu Gesicht,falls er wieder auftaucht.«

Rand beschloß, sich daran zu halten. Zu seinerÜberraschung merkte er, wie sein Schritt leichter wurde.Die Knoten waren aus seinen Schultern verschwunden. E rfürchtete sich immer noch, aber es war nicht so schlimmwie vorher. Tam und er befanden sich genauso allein undverlassen auf der Haldenstraße wie am Morgen, aberirgendwie fühlte er sich, als sei das ganze Dorf bei ihnen.Der Unterschied lag darin, daß nun andere Bescheidwußten und ihm glaubten. Was immer der schwarzeReiter anstellen mochte, die Leute von Emondsfeldwürden gemeinsam mit ihm fertig werden.

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KAPITEL 5

Winternacht

Als der Karren den Bauernhof erreichte, hatte die Sonnebereits auf halbem Weg die Mittagshöhe überschritten. Eswar kein großes Gebäude, bei weitem nicht so groß wieeinige der ausgedehnten Anwesen im Osten, Behausungen,die über die Jahre hinweg gewachsen waren und in denengroße Familien wohnten. In der Gegend der Zwei Flüsselebten oftmals drei oder vier Generationen unter einemDach, und das schloß Tanten, Onkel, Vetter und Neffenmit ein. Tam und Rand galten als außergewöhnlich inzweierlei Hinsicht: Die beiden Männer lebten allein, undihr Hof lag im Westwald.

Hier befanden sich die meisten Räume auf ebener Erde.Das Haus bildete ein sauberes Rechteck ohne Seitenflügeloder Anbauten. Zwei Schlafzimmer und ein Speicherfügten sich noch oben unter das steile Strohdach. Obwohldie weiße Tünche nach den Winterstürmen fast ganz vonden massiven Holzwänden verschwunden war, befand sichdas Haus immer noch in ordentlichem Zustand. DasStrohdach war wieder dicht, Türen und Fensterlädenwaren gut befestigt und paßten genau.

Haus, Scheune und der von einer Steinmauer eingefaßteSchafpferch bildeten ein Dreieck um den Hof. Dort hattensich ein paar Hühner hinausgewagt und scharrten imkalten Erdreich herum. Gleich neben dem Schafpferchstanden ein offener Schuppen zum Scheren der Schafe undein steinerner Brunnentrog. Am Rand der Felderzwischen dem Hof und den Bäumen ragte der hohe Kegel

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eines Trockenraums auf. Nur wenige Bauern der ZweiFlüsse kamen ohne den Tabakanbau aus, der es ihnenermöglichte, den Kaufleuten, wenn sie endlich kamen,Wolle und Tabak zu verkaufen.

Als Rand in den Steinpferch schaute, blickte derLeithammel zu ihm auf, die meisten Schafe derschwarzgesichtigen Herde blieben aber friedlich dort, wosie lagen oder standen, die Köpfe im Futtertrog. IhreWolle war dicht und lockig, aber es war noch zu kalt zumScheren.

»Ich glaube nicht, daß der Schwarzgekleidetehierhergekommen ist!« rief Rand seinem Vater zu, derlangsam um das Haus herumging, einen Speer kampfbereitin der Hand, und den Boden genau betrachtete. »DieSchafe wären nicht so ruhig, wenn er dagewesen wäre.«

Tam nickte, blieb aber nicht stehen. Als er seine Rundeum das Haus beendet hatte, ging er anschließend genausoaufmerksam um die Scheune und den Pferch herum,wobei er immer noch den Boden nach Spuren untersuchte.Er überprüfte sogar die Räucherkammer und denTrockenraum. Er zog einen Eimer Wasser aus demBrunnen, schöpfte eine Handvoll, roch daran und berührtedas Wasser vorsichtig mit der Zungenspitze. Dann lachteer plötzlich laut auf und trank es mit einem schnellenSchluck.

»Ich glaube auch, er war nicht da«, sagte er zu Randund wischte sich die Hand am Mantel ab. »Das ganzeGerede über Männer und Pferde, die ich nicht sehen oderhören kann, macht mich so nervös, daß ich schon allesschief anschaue.« Er goß das Brunnenwasser in einenanderen Eimer und ging auf das Haus zu, in der einenHand den Eimer, in der anderen den Speer. »Ich werdeeinen Eintopf aufsetzen, damit wir etwas zum Essen

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bekommen. Und wenn wir sowieso schon hier sind,können wir auch mit der Arbeit anfangen.«

Rand schnitt eine Grimasse. Er bedauerte, dieWinternacht nicht in Emondsfeld verbringen zu können.Aber Tam hatte recht. Auf einem Bauernhof hörte dieArbeit niemals auf; kaum hatte man eine Sache erledigt,tauchten schon zwei andere auf, um die man sichkümmern mußte. Er zögerte, behielt aber dann Bogen undKöcher doch bei sich. Falls der dunkle Reiter erschien,wollte er ihm nicht nur mit einer Hacke begegnen.

Zuerst mußte Bela in den Stall gebracht und versorgtwerden. Sobald er sie ausgespannt und in einer Box in derScheune gleich neben der Kuh untergebracht hatte, legteer den Umhang ab und rieb die Stute mit trockenem Strohab. Anschließend striegelte er sie mit zwei Bürsten. E rkletterte die schmale Leiter zum Heuboden hinauf undwarf Heu für Bela hinunter. Er nahm auch einen ScheffelHafer mit, obwohl nicht mehr viel da war und siemöglicherweise längere Zeit keinen Hafer mehrbekommen würden – es sei denn, es würde endlich warm.Die Kuh hatten sie schon im ersten Morgenlicht gemolken.Sie hatte nur ein Viertel ihrer normalen Menge gegeben;im Verlauf des langen Winters schien sie auszutrocknen.

Sie hatten den Schafen Futter für zwei Tage dagelassen– sie hätten eigentlich längst auf der Weide stehen sollen,doch es gab kaum Gras für sie –, aber er füllte ihrenWassertrog wieder auf. Auch die mittlerweile gelegtenEier mußten eingesammelt werden. Es waren nur drei.Die Hühner wurden anscheinend immer schlauer undversteckten sie zu gut.

Er ging gerade mit einer Hacke auf der Schulter zumGemüsegarten hinter dem Haus, als Tam herauskam undsich auf eine Bank vor der Scheune setzte, um Belas

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Geschirr zu reparieren. Der Speer lehnte an seiner Seite.Als Rand das sah, empfand er seinen mitgenommenenBogen und den Köcher nicht mehr als lächerlich. Beideslag auf seinem Umhang, einen Schritt von seinemArbeitsplatz entfernt.

In den Beeten zeigte sich nur wenig Unkraut, aberimmer noch mehr Unkraut als alles andere. DieKohlköpfe waren bloße Stümpfe, es war kaum einBohnen- oder Erbsenschößling zu sehen und keine einzigeRübe. Sie hatten natürlich nicht alles gepflanzt – nur einenTeil, in der Hoffnung, die kalte Periode werde rechtzeitigenden, so daß sie etwas ernten konnten, bevor der Kellerganz leer war. Er brauchte nicht lange mit seiner Hacke.In früheren Jahren wäre er darüber froh gewesen, aberjetzt fragte er sich, was zu tun sei, wenn dieses Jahr nichtswuchs. Kein angenehmer Gedanke. Und er mußte immernoch Brennholz spalten.

Es schien Rand schon Jahre zurückzuliegen, daß ereinmal kein Brennholz spalten mußte. Aber Selbstmitleidwürde das Haus nicht wärmen, also holte er die Axt,stellte Bogen und Köcher neben den Hackklotz und machtesich an die Arbeit. Kiefer ergab eine flinke, heißeFlamme, und Eiche brannte dafür länger. Er fühlte sichbald so warm, daß er den Mantel auszog. Als der HaufenHolzscheite groß genug war, stapelte er ihn an derSeitenwand des Hauses neben anderen Stapeln von früherauf. Die meisten reichten hinauf bis zur Traufe.Normalerweise waren zu dieser Jahreszeit dieBrennholzstapel klein, und man sah nur wenige; anders indiesem Jahr. Hack und staple, hack und staple, so verlor ersich im Rhythmus der Axthiebe und der Bewegungenbeim Aufeinanderlegen der Scheite. Tams Hand auf derSchulter rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und einen

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Augenblick lang blinzelte er überrascht.Graues Zwielicht hatte sich während seiner Arbeit

ausgebreitet, und auch das dämmerte schon der Nachtentgegen. Der Vollmond stand bereits hoch über denBaumwipfeln und schimmerte blaß und aufgedunsen, alswolle er gleich auf ihre Köpfe herunterfallen. Ohne daßer es bemerkt hatte, war der Wind kälter geworden, undWolkenfetzen trieben über den dunklen Himmel.

»Machen wir den Abwasch, Junge, und dann essen wirzu Abend. Ich habe auch schon Badewasser zumHeißmachen hineingetragen. Dann können wir vor demSchlafen noch ein Bad nehmen.«

»Alles Heiße hört sich für mich gut an«, sagte Rand. E rhob seinen Umhang auf und warf ihn sich über dieSchultern. Sein Hemd war schweißgetränkt, und derWind, den er in der Hitze des Axtschwingens vergessenhatte, schien sich zu bemühen, das Hemd jetzt, da er mitArbeiten aufgehört hatte, zu einem steifen Brett zugefrieren. Er unterdrückte ein Gähnen und las unterKälteschauern seine übrigen Sachen auf. »Schlaf wäreauch, davon abgesehen, eine feine Sache. Ich könnte dasganze Fest über schlafen.«

»Würdest du darauf wetten?« Tam lächelte, und Randmußte unwillkürlich zurückgrinsen. Er würde Bel Tinenicht versäumen, und wenn er eine ganze Woche langnicht mehr geschlafen hätte. Das würde allen so gehen.

Tam hatte besonders viele Kerzen aufgestellt, und indem großen gemauerten Kamin prasselte ein Feuer, so daßdie Wohnstube Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte.Außer dem Kamin fiel in dem Raum vor allem ein breiterEichenholztisch auf. Der Tisch war lang genug für einDutzend Leute oder mehr, obwohl kaum jemals so vieledort gesessen hatten, nachdem Rands Mutter gestorben

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war. An den Wänden standen ein paar Kommoden undTruhen, die von Tam kunstvoll angefertigt worden waren.Um den Tisch standen Stühle mit hohen Lehnen. DerPolsterstuhl, den Tam seinen ›Lesestuhl‹ nannte, standseitlich versetzt vor dem Kamin. Rand zog es vor,ausgestreckt auf dem Läufer vor dem Feuer liegend zulesen. Das Bücherregal neben der Tür war bei weitemnicht so lang wie das in der Weinquellenschenke, aberBücher waren schwer zu bekommen. Wenige Händlerführten mehr als eine Handvoll mit sich, und die mußtenfür alle reichen, denen es nach Lektüre verlangte.

Wenn der Raum auch nicht ganz so frisch gescheuertaussah, wie es bei den meisten Bauersfrauen üblich war(Tams Pfeifenständer und Die Reisen von JainFernstreicher lagen auf dem Tisch, während ein weiteresin Holz gebundenes Buch auf dem Polster des Lesestuhlslag, ein Stück reparaturbedürftiges Pferdegeschirr lag aufder Bank beim Kamin, und ein paar Hemden, die gestopftwerden mußten, häuften sich auf einem Stuhl), wenn derRaum also nicht ganz so fleckenlos rein war, wirkte erdoch sehr sauber und ordentlich und so wohnlich, daß esjedem Besucher das Herz wärmte. Hier war es möglich,die beißende Kälte jenseits der Wände zu vergessen. Hiergab es keinen falschen Drachen, keinen Krieg und keineAes Sedai. Auch keine Männer in schwarzen Mänteln. DerDuft des Eintopfs über dem Feuer erfüllte den Raum, undRand bekam plötzlich schrecklichen Hunger.

Sein Vater rührte das Essen mit einem langen hölzernenKochlöffel um und probierte ein wenig. »Noch einbißchen.«

Rand wusch sich schnell Gesicht und Hände. In derNähe der Tür standen auf einem Waschgestell ein Krugund eine Schüssel. Was er brauchte, war ein heißes Bad,

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um den Schweiß abzuwaschen und die Kälte zu vertreiben,aber das mußte warten, bis sie Zeit hatten, den großenKessel im Hinterzimmer zu erhitzen.

Tam kramte in einer Kommode herum und fandschließlich einen Schlüssel, der so lang war wie seineHand. Er drehte ihn in dem großen Eisenschloß an derTür um. Als Rand ihn fragend anblickte, sagte er: »Besserist besser. Vielleicht spinne ich ein wenig, oder das Wetterdrückt meine Stimmung, aber...« Er seufzte und warf denSchlüssel mit der flachen Hand ein Stückchen hoch. »Ichsehe mal nach der Hintertür«, sagte er und verschwand imrückwärtigen Teil des Hauses.

Rand konnte sich nicht daran erinnern, daß eine derbeiden Türen jemals abgeschlossen worden war. Keinerim Gebiet der Zwei Flüsse verschloß die Türen. Es warniemals nötig gewesen. Zumindest bisher.

Von oben aus Tams Schlafzimmer erklang einschleifendes Geräusch, als werde etwas am Boden entlang-gezerrt. Rand zog die Augenbrauen hoch. Falls sich Tamnicht soeben entschlossen hatte, die Möbel umzustellen,konnte er nur die alte Truhe hervorgezogen haben, die erunter dem Bett aufbewahrte. Wieder etwas, das noch niegeschehen war, solange sich Rand erinnern konnte.

Er füllte einen kleinen Kessel mit Teewasser, hängteihn an einen Haken über dem Feuer und deckte den Tisch.Er hatte die Teller und Löffel selbst geschnitzt. Dievorderen Fensterläden waren noch nicht geschlossen, undvon Zeit zu Zeit spähte er hinaus. Doch die Nacht wargekommen, und alles, was er sehen konnte, warenMondschatten. Der dunkle Reiter konnte sehr wohl dortdraußen sein, aber er versuchte, nicht daran zu denken.

Als Tam zurückkam, machte Rand vor Überraschunggroße Augen. Ein breiter Gürtel hing an Tams Hüften,

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und am Gürtel hing ein Schwert. Ein bronzener Reiherwar auf der schwarzen Scheide zu sehen und ein weitererauf dem langen Knauf. Die einzigen Männer, die Randjemals ein Schwert hatte tragen gesehen, waren dieLeibwächter der Kaufleute. Und natürlich Lan. Er wärenie darauf gekommen, daß sein Vater überhaupt einesbesaß. Abgesehen von den Reihern sah das Schwert demSchwert Lans ziemlich ähnlich.

»Woher hast du das?« fragte er. »Hast du es von einemHändler gekauft? Was hat es gekostet?«

Langsam zog Tam die Waffe; Feuerschein spiegelte sichauf der schimmernden Schneide. Das war ganz anders alsbei den einfachen rohen Klingen, die Rand in den Händender Leibwächter gesehen hatte. Es war nicht mit Goldoder Edelsteinen verziert, und doch schien es Randirgendwie groß, bedeutend. Die ganz leicht gekrümmteund nur auf einer Seite geschliffene Schneide trugebenfalls den Reiher in den Stahl eingeätzt. Die kurzenQuerstreben am Knauf waren wie Zöpfe gearbeitet.Verglichen mit den Schwertern der Leibwächter, schien esfast zerbrechlich. Die meisten dieser plumpen Schwerterwaren auf beiden Seiten geschärft und dick genug, umeinen Baum zu fällen.

»Ich habe es vor langer Zeit erworben«, sagte Tam,»sehr weit entfernt von hier. Und ich habe viel zuvieldafür bezahlt; zwei Kupferpfennige sind zuviel für eineWaffe wie diese. Deine Mutter wollte es nicht, aber siewar immer schon klüger als ich. Ich war jung damals, undes schien den Preis wert zu sein. Sie wollte immer, daß iches los werden sollte, und mehr als einmal kam mir derGedanke, daß sie recht hatte und ich es einfach weggebensollte.«

Reflektierter Feuerschein ließ die Klinge aufflammen.

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Rand erschrak. Er hatte oft davon geträumt, ein Schwertzu besitzen. »Es weggeben? Wie könntest du ein Schwertwie dieses weggeben?«

Tam schnaubte. »Kann man wohl kaum zumSchafehüten verwenden, oder? Ich kann auch kein Felddamit umpflügen oder Getreide schneiden.« Eine ewigwährende Minute lang starrte er das Schwert an, alsüberlege er, was er mit solch einem Ding anfangen könne.Schließlich stieß er einen schweren Seufzer aus. »Aberfalls ich nicht einfach nur schwarz sehe, falls uns dasGlück verläßt, kann es sein, daß ich in den nächsten Tagennoch froh sein werde, es statt dessen in diese alte Truhegelegt zu haben.« Er ließ das Schwert sanft in die Scheidezurückgleiten und wischte sich mit einer Grimasse dieHand am Hemd ab. »Der Eintopf dürfte fertig sein. Ichfülle die Schüssel, und du machst derweil den Tee.«

Rand nickte und nahm die Teebüchse, aber er wollteschon alles genau wissen. Warum hatte Tam wohl einSchwert gekauft? Er konnte es sich nicht vorstellen. Undwo hatte es Tam aufgetrieben? Wie weit entfernt? Keinerverließ je die Zwei Flüsse, oder höchstens ganz wenige.Er hatte schon immer vage Vermutungen darüberangestellt, daß sein Vater draußen gewesen sein mußte –seine Mutter war Ausländerin gewesen –, aber einSchwert...? Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen,sobald sie am Tisch saßen.

Das Teewasser kochte, und er mußte ein Tuch um denKesselgriff wickeln, um ihn vom Haken zu nehmen. DieHitze drang sofort durch.

Als er sich vom Feuer aufrichtete, ließ ein heftigerSchlag gegen die Tür das Schloß erzittern. Alle Gedankenan das Schwert oder den heißen Kessel in seiner Handverflogen.

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»Einer der Nachbarn«, sagte er unsicher. »Vielleichtwill Meister Dautry etwas borgen...« Aber der Hof derDautrys, ihrer nächsten Nachbarn, war auch beiTageslicht eine Wegstunde entfernt, und auch wenn OrenDautry ständig schamlos Sachen auslieh, war es wenigwahrscheinlich, daß er seinen Hof nach Einbruch derDunkelheit verließ.

Tam stellte leise die mit Eintopf gefüllten Teller aufden Tisch. Langsam bewegte er sich vom Tisch weg.Beide Hände ruhten auf dem Griff seines Schwerts. »Ichglaube nicht...«, begann er, und dann barst die Türentzwei. Bruchstücke des eisernen Schlosses schlittertenüber den Boden.

Eine Gestalt füllte den Türrahmen, größer als jederMann, den Rand je gesehen hatte, eine Gestalt inschwarzem Kettenpanzer, der ihr bis zu den Knienreichte, mit Dornen an Handgelenken, Ellbogen undSchultern. Eine Hand hielt ein schweres sichelähnlichesSchwert, die andere wurde vor die Augen gehalten, alssolle sie vor dem Licht schützen.

Rand fühlte sich auf seltsame Art erleichtert. Wer dasauch war, es war nicht der schwarzgekleidete Reiter.Dann bemerkte er die gekrümmten Widderhörner an demKopf, der den oberen Teil des Türrahmens streifte, undwo sich Mund und Nase befinden sollten, sah er einebehaarte Schnauze. Er nahm das alles innerhalb eineseinzigen tiefen Atemzugs wahr und stieß einen entsetztenSchrei aus. Gleichzeitig warf er den heißen Kessel nachdem halbmenschlichen Kopf.

Die Kreatur brüllte auf. Zum Teil klang es nach einemSchmerzensschrei, zum Teil nach dem Knurren einesTieres. Kochendes Wasser lief ihm über das Gesicht. Indem Moment, als der Kessel traf, blitzte Tams Schwert

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auf. Aus dem Brüllen wurde ein Gurgeln, und die riesigeGestalt stürzte rückwärts. Bevor sie noch gefallen war,versuchte eine zweite, sich an der ersten vorbei-zuschieben. Rand erspähte einen mit dornenähnlichenHörnern bewehrten verformten Kopf, bevor Tam erneutzuschlug. Dann blockierten zwei riesige erschlaffteKörper den Eingang. Rand merkte, daß sein Vater ihmetwas zurief.

»Renn weg, Junge! Versteck dich im Wald!« DieLeichen im Eingang zuckten, als andere von draußenversuchten, sie wegzuziehen. Tam bückte sich und hob mitder Schulter unter Stöhnen den schweren Tisch, um ihnvor die Tür zu schieben. »Es sind zu viele! Das hält nicht!Renn hinten raus! Los! Schnell! Ich komme nach!«

Noch während Rand sich zur Flucht wandte, schämte ersich, daß er so schnell gehorchte. Er wollte bleiben undseinem Vater helfen, obwohl er sich nicht vorstellenkonnte, wie, aber die Angst hatte ihn bei der Gurgelgepackt, und die Beine bewegten sich ohne sein Zutun. E rrannte aus dem Raum in den rückwärtigen Teil desHauses. So schnell war er noch nie gelaufen. KrachendeGeräusche und Schreie aus der Wohnstube verfolgten ihn.

Er hatte die Hände schon auf dem Querbalken, der dieHintertür versperrte, als sein Blick auf das Eisenschloßfiel, das nie verschlossen wurde. Allerdings hatte Tamgenau das heute nacht getan. Er ließ den Balken, wo erwar, und rannte zu einem Seitenfenster. Er schob dasFenster hoch und öffnete die Fensterläden. Die Nacht hattedie Dämmerung abgelöst. Der Vollmond und die über denHimmel treibenden Wolken erzeugten gefleckte Schatten,und diese jagten sich gegenseitig quer über den Hof.

Schatten, sagte er sich. Nur Schatten. Die Hintertürknarrte, als jemand – oder etwas – versuchte, sie aufzu-

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drücken. Der Mund wurde Tam trocken. Ein Krachenerschütterte die Tür in ihrem Rahmen und machte ihmBeine. Er schlüpfte durch das Fenster und kauerte sichwie ein Hase an die Seitenwand des Hauses. Im Raumdrinnen zersplitterte Holz mit donnerndem Getöse.

Er zwang sich hoch und spähte geduckt durch dasFenster, nur mit einem Auge, nur an einer Fensterecke.Im Dunkeln konnte er nicht viel ausmachen, aber immernoch mehr, als ihm lieb war. Die Reste der Tür hingenschief in den Angeln, und schattenhafte Gestaltenbewegten sich vorsichtig im Raum. Sie sprachen mit leisenkehligen Stimmen. Rand verstand die Worte nicht, diegesagt wurden. Die Sprache klang hart und fürmenschliche Zungen ungeeignet. Äxte und Speere unddornige – Dinge reflektierten matt die wenigen StrahlenMondlicht, die sich dort hinein verirrten. Stiefel scharrtenüber den Fußboden, und er hörte auch ein rhythmischesKlappern wie von Hufen.

Er versuchte, Speichel zu sammeln und seinen Mundwieder zu befeuchten. Dann zog er tief, wenn auchzitternd, Luft ein und schrie so laut er konnte: »Siekommen von hinten!« Die Worte kamen mehr als Kräch-zen heraus, aber wenigstens waren sie gut hörbar. Er warsich da nicht sicher gewesen. »Ich bin draußen! Renn,Vater!« Mit dem letzten Wort rannte er los, weg vomHaus.

Heisere Schreie in der seltsamen Sprache erklangen ausdem Hinterzimmer. Glas splitterte, laut und klirrend, undirgend etwas prallte schwer hinter ihm auf dem Bodenauf. Einer von ihnen hatte wahrscheinlich den Weg durchdas Fenster einem mühevollen Hinauszwängen durch dieTüröffnung vorgezogen, aber er sah nicht nach hinten, umsich zu vergewissern, ob er recht hatte. Wie ein Fuchs vor

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der Meute, so huschte er von einem Mondschatten in denanderen, als halte er auf den Wald zu, doch dann ließ ersich auf den Bauch fallen und kroch zurück zur Scheuneund ihrem größeren, tieferen Schatten. Etwas fiel querüber seine Schultern. Er schlug um sich, nicht sicher, ober kämpfen oder entkommen sollte, bis er merkte, daß erden Stiel der neuen Hacke gepackt hielt, den Tambearbeitet hatte.

Idiot! Einen Augenblick lang lag er da und bemühtesich, seinen Atem wieder zu beruhigen. Coplin-Narr-Idiot! Schließlich kroch er am hinteren Teil der Scheuneentlang und schleifte den Hackenstiel mit. Es war nichtviel, aber besser als nichts. Vorsichtig lugte er um dieEcke über den Hof zum Haus.

Er sah kein Anzeichen der Kreatur, die ihmnachgesprungen war. Sie konnte überall sein. Sicher jagtesie ihn. Vielleicht schlich sie sich in diesem Momentgerade an.

Verängstigtes Blöken kam aus dem Schafpferch zuseiner Linken; die Herde drängte sich zusammen, als suchesie nach einem Fluchtweg. Schattenhafte Gestaltenhuschten an den beleuchteten Fenstern im vorderen Teildes Hauses vorbei, und das Klirren von Stahl auf Stahlklang durch die Dunkelheit. Plötzlich wölbte sich einesder Fenster nach außen, und in einem Regen von Scherbenund Holz sprang Tam hindurch, das Schwert immer nochin der Hand. Er landete auf den Füßen, aber statt vomHaus wegzurennen, eilte er zum hinteren Teil und achtetenicht auf die monströsen Kreaturen, die hinter ihm ausdem geborstenen Fenster und der Tür drangen. Randstarrte ungläubig hinüber. Warum versuchte er nicht zuentkommen? Dann verstand er. Tam hatte seine Stimmezuletzt vom hinteren Teil des Hauses her vernommen.

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»Vater!« schrie er. »Ich bin hier drüben!«Tam wirbelte herum, rannte dann aber nicht auf Rand

zu, sondern in einem Winkel von ihm weg. »Renn,Junge!« schrie er und deutete mit dem Schwert auf etwasvor ihm. »Versteck dich!« Ein Dutzend riesiger Gestaltenhetzte ihm nach. Grelle Schreie und schrilles Heulenbrachten die Luft zum Erzittern.

Rand zog sich in den Schatten hinter der Scheunezurück. Er konnte dort vom Haus aus nicht gesehenwerden, falls noch weitere der Kreaturen sich dortaufhielten. Zumindest im Moment war er sicher. AberTam nicht. Tam, der sich bemühte, diese Monster von ihmabzulenken. Seine Hände verkrampften sich um den Stielder Hacke, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, umein plötzliches Lachen zu verhindern. Ein Hackenstiel.Wenn er einer dieser Kreaturen mit dem Stiel einer Hackegegenüberstand, ähnelte das nicht mehr seinenStabkämpfen mit Perrin. Aber er konnte Tam nicht mitseinen Verfolgern alleinlassen.

»Wenn ich mich so vorsichtig bewege, als schliche ichmich an ein Kaninchen an«, flüsterte er in sich hinein,»dann können sie mich niemals hören oder sehen.« Dieunheimlichen Schreie hallten in der Dunkelheit wider, under versuchte zu schlucken. »Klingt eher nach einem Rudelverhungernder Wölfe.« Lautlos glitt er aus dem Schattender Scheune auf den Wald zu. Sein Griff um den Stiel warso verkrampft, daß die Hände schmerzten. Zuerst fühlte ersich wohler, als die Bäume ihn umgaben. Sie halfen ihm,sich vor den Kreaturen zu verstecken. Als er aber weiterdurch den Wald schlich, zerflossen und bewegten sich dieSchatten, die der Mond warf, und mit ihnen schien sichdie Dunkelheit des Waldes zu verändern und ebenfalls zubewegen. Bäume ragten bösartig über ihm auf; Äste

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schienen nach ihm zu greifen. Aber waren das nur Bäumeund Äste? Er konnte beinahe das knurrende, glucksendeLachen hören, das sie unterdrückten, während sie auf ihnwarteten. Das Heulen von Tams Verfolgern war nichtmehr zu hören, doch in der darauffolgenden Stille schraker jedesmal zusammen, wenn der Wind einen Zweig gegenden anderen schlug. Tiefer und tiefer duckte er sich undschlich immer langsamer. Er traute sich kaum zu atmen,aus Angst, daß man ihn hören könne.

Plötzlich legte sich eine Hand von hinten über seinenMund, und ein eiserner Griff umspannte sein Handgelenk.Verzweifelt griff er mit der freien Hand über dieSchulter, um den Angreifer irgendwie zu packen.

»Brich mir nicht den Hals, Junge!« kam Tams heiseresFlüstern.

Erleichterung durchflutete ihn und verwandelte seineMuskeln in Pudding. Als sein Vater ihn losließ, fiel er aufHände und Knie und keuchte, als sei er meilenweitgerannt. Tam legte sich neben ihn, auf einen Ellenbogengestützt.

»Ich hatte ganz vergessen, wie sehr du in den letztenJahren gewachsen bist«, sagte Tam leise. Seine Augenbewegten sich beim Sprechen ständig. Er spähteangestrengt in die Dunkelheit hinaus. »Aber ich mußtesichergehen, daß du nicht laut sprichst. Trollocs haben einfast ebenso gutes Gehör wie Hunde. Vielleicht sogar einbesseres.«

»Aber Trollocs sind nur...« Rand beendete den Satznicht. Keine Gutenachtgeschichte, seit heute nicht mehr.Die Monster konnten Trollocs sein oder auch der DunkleKönig selbst. Er hatte keine Ahnung. »Bist du sicher?«flüsterte er. »Ich meine – Trollocs?«

»Ich bin sicher. Was sie allerdings zu den Zwei Flüssen

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geführt hat... Vor dem heutigen Abend habe ich noch nieeinen gesehen, aber ich habe mit Männern gesprochen, diewelche kannten, also weiß ich einiges über sie. Vielleichtgenug, um unser Leben zu retten. Hör genau zu! EinTrolloc kann im Dunkeln besser sehen als ein Mensch,aber helles Licht blendet ihn, jedenfalls für eine Weile.Das war wohl der einzige Grund, warum wir so vielenvon ihnen entkommen konnten. Sie können Spuren durchGeruch oder Geräusche verfolgen, aber man sagt, sieseien faul. Wenn wir ihnen lang genug davonlaufen, gebensie wahrscheinlich auf.«

Rand fühlte sich nach diesen Erklärungen kaum besser.»Den Geschichten nach hassen sie Menschen und dienendem Dunklen König.«

»Wenn irgend etwas zur Herde des Schäfers der Nachtgehört, Junge, dann sind es Trollocs. Man hat mir erzählt,daß sie aus Lust am Töten morden. Aber sonst weiß ichnichts mehr, außer daß man ihnen nicht trauen kann. Nurwenn sie Angst vor dir haben, kannst du ihnen ein bißchentrauen.«

Rand erschauerte. Er wollte nicht unbedingt jemandembegegnen, vor dem selbst Trollocs Angst hatten. »Glaubstdu, sie suchen immer noch nach uns?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie kommen mir nichtgerade schlau vor. Sobald wir den Wald erreichten, lockteich meine Verfolger in Richtung Gebirge. Es war nichtsehr schwer.« Tam faßte sich an die rechte Seite und hieltdie Hand nahe vor das Gesicht. »Verhalte dich aber ambesten so, als seien sie klug genug.«

»Du bist verletzt.«»Sprich nicht so laut. Es ist nur ein Kratzer, und im

Moment kann ich sowieso nichts tun. Wenigstens scheintdas Wetter wärmer zu werden.« Er ließ sich mit einem

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schweren Seufzer zurückfallen. »Vielleicht wird die Nachtim Freien doch nicht so schlimm.«

Rand hatte sich auch gerade wohlig seinen Mantel undden Umhang vorgestellt. Die Bäume hielten den Windzum Teil ab, aber was durchkam, schnitt immer noch wieein gefrorenes Messer in ihn hinein. Zögernd berührte erTams Gesicht und fuhr zusammen. »Du glühst ja. Ich mußdich zu Nynaeve bringen.«

»Immer mit der Ruhe, Junge.«»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Es ist ein langer

Weg in dieser Dunkelheit.« Er kam auf die Füße undversuchte den Vater hochzuziehen. Er ließ ihn jedochschnell zurückgleiten, als Tam ein kaum unterdrücktesStöhnen ausstieß.

»Laß mich eine Weile ausruhen, Junge. Ich bin müde.«Rand schlug sich mit der Faust auf die Hüfte. Hätten sie

sich in der Sicherheit des Hauses befunden, mit einemFeuer im Kamin, Decken, genug Wasser undWeidenrinde, dann wäre er vielleicht gewillt gewesen, biszum Tagesanbruch zu warten und dann Bela anzuschirrenund Tam ins Dorf zu bringen. Hier gab es kein Feuer,keine Decken, keinen Karren und auch keine Bela. Dasalles befand sich noch drüben im Haus. Wenn er Tamnicht hinüber tragen konnte, so konnte er doch zumindesteiniges für Tam herausholen. Falls die Trollocs wegwaren. Früher oder später mußten sie doch gehen.

Er sah den Hackenstiel an und ließ ihn fallen. Stattdessen zog er Tams Schwert. Die Schneide schimmertematt im blassen Mondlicht. Der lange Griff fühlte sich inseiner Hand so eigenartig an; Gewicht und Balance warenungewohnt. Er hieb einige Male in die Luft, bevor er miteinem Seufzer aufhörte. Es war leicht, das Schwert durchdie Luft sausen zu lassen. Wenn er statt dessen einen

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Trolloc vor sich hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß,daß er wegrannte oder vor Schreck erstarrte, so daß ersich überhaupt nicht bewegen konnte, bis der Trolloc miteinem dieser alten Schwerter ausholte und... Hör auf!Wem hilft das schon!

Als er sich erhob, packte Tam ihn am Arm. »Wo willstdu hin?«

»Wir brauchen den Karren«, sagte er sanft. »UndDecken.« Er erschrak, als er merkte, wie leicht es war,die Hand seines Vaters vom Ärmel wegzuziehen. »Ruhdich aus, bis ich zurückkomme.«

»Vorsichtig«, hauchte Tam.Er konnte Tams Gesicht im Mondlicht nicht erkennen,

aber er fühlte seinen Blick auf sich ruhen. »Bin ich.« Sovorsichtig wie eine Maus, die das Nest eines Falkeninspiziert, dachte er.

Lautlos wie ein Schatten glitt er in die Dunkelheit. E rdachte daran, wie oft er in seiner Kindheit mit seinenFreunden im Wald Verstecken gespielt hatte. Sie hattensich gegenseitig aufgelauert, sich unhörbar angeschlichen,bis sie dem anderen die Hand auf die Schulter legenkonnten, um ihn abzuklatschen. Irgendwie brachte er esnicht fertig, die jetzige Situation mit denselben Augen zusehen.

Während er von Baum zu Baum schlich, versuchte er,sich einen Plan zurechtzulegen, doch als er den Waldranderreichte, hatte er schon zehn davon geschmiedet und wie-der verworfen. Alles hing davon ab, ob die Trollocs nochda waren. Waren sie weg, dann konnte er einfach zumHaus gehen und holen, was er brauchte. Wenn sie immernoch da waren... Dann blieb ihm nichts übrig, als zu Tamzurückzukehren. Es gefiel ihm nicht, aber er würde Tamkeinen Gefallen tun, wenn er sich umbringen ließe.

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Er spähte hinüber zu den Gebäuden des Bauernhofs.Scheune und Schafpferch waren nur dunkle Umrisse imMondlicht. Aus den vorderen Fenstern des Wohnhausesund der Tür aber drang Licht. Nur die Kerzen, die Vaterangezündet hat, oder warten dort Trollocs?

Er zuckte zusammen, als er den schrillen Schrei einesNachtfalken vernahm, und sackte dann zitternd gegeneinen Baumstamm. Das brachte ihn nicht weiter. Er krochauf dem Bauch weiter und hielt dabei ungeschickt dasSchwert zum Schutz vor sich. Er behielt das Kinn imSchmutz, bis er den Schafpferch erreicht hatte.

Eng an die Mauer gedrückt lauschte er. Kein Lautdurchbrach die Stille der Nacht. Vorsichtig richtete ersich auf, bis er über die Mauer blicken konnte. Im Hofbewegte sich nichts. In den beleuchteten Fenstern zeigtesich kein huschender Schatten, ebensowenig im hellenRechteck der Tür. Zuerst Bela und den Karren – oder dieDecken und was sonst noch wichtig ist? Das Lichterleichterte ihm den Entschluß. In der Scheune war esdunkel. Alles machte dort drinnen auf ihn warten, und erhätte keine Ahnung, bis es zu spät wäre. Im Haus konnteer zumindest sehen, was ihn erwartete.

Als er wieder zu Boden gehen wollte, hielt er plötzlichinne. Er konnte keinen Laut hören. Die meisten Schafekonnten sich wieder beruhigt haben und schlafen, obwohles unwahrscheinlich war, aber ein paar waren zu jederZeit wach, auch mitten in der Nacht, bewegten sich leiseund blökten von Zeit zu Zeit. Er konnte die dunklenKlumpen der Schafskörper am Boden kaum ausmachen.Einer lag beinahe direkt unter ihm.

Er bemühte sich, keinen Laut zu machen, und zog sichauf die Mauer hoch, bis er eine Hand nach dem nurschwer sichtbaren Körper ausstrecken konnte. Seine

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Finger berührten krause Wolle und dann etwas Nasses.Das Schaf bewegte sich nicht. Er atmete stoßartig aus, alser sich zurückfallen ließ. Beinahe hätte er das Schwertfallen gelassen. Sie töten aus Lust am Töten. Bebendwischte er die Nässe an der Hand am Boden ab.

Gewaltsam trichterte er sich ein, daß sich nichtsgeändert hatte. Die Trollocs hatten ihre Schlächtereibeendet und waren weg. Das wiederholte er im Geist, alser quer über den Hof kroch. Er hielt sich so dicht amBoden wie möglich, versuchte aber auch, sich ständig nachallen Richtungen umzusehen. Er hätte nie gedacht, daß ereines Tages einen Regenwurm beneiden würde.

Schließlich lag er eng an die Vorderwand des Hausesgepreßt, direkt unter dem geborstenen Fenster, undlauschte. Das lauteste Geräusch war das dumpfe Pochenseines Blutes in den Ohren. Langsam richtete er sich aufund sah hinein.

Der Kochkessel lag umgekippt in der Asche derFeuerstelle. Überall lagen Bruchstücke von gesplittertemHolz. Kein einziges Möbelstück war heil geblieben. Sogarder Tisch stand schief; zwei seiner Beine waren zu bloßenStümpfen abgehackt. Jedes Schubfach war herausgezogenund zerschlagen worden, jeder Schrank und jedeKommode standen offen, viele Türen hingen gerade nochan einer Angel. Der Inhalt war über die Trümmer hinwegverstreut worden, und über allem lag eine weißeStaubschicht. Nach den aufgeschlitzten Säcken zu urteilen,die am Kamin lagen, bestand die Schicht aus Mehl undSalz. Mitten zwischen den Überresten der Möbel lag einGewirr von vier verdrehten Körpern. Trollocs.

Rand erkannte einen davon an den Widderhörnern. Dieanderen sahen ziemlich ähnlich aus, trotz derUnterschiede: eine abstoßende Mischung menschlicher

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Gesichter, die durch Schnauzen, Hörner, Federn und Fellentstellt waren. Daß ihre Hände beinahe menschlichaussahen, machte alles nur noch schlimmer. Zwei trugenStiefel, die anderen hatten Hufe. Er beobachtete alles,ohne die Lider zu bewegen, bis ihm die Augen brannten.Keiner der Trollocs bewegte sich. Sie mußten tot sein.Und Tam wartete.

Er rannte durch die Vordertür hinein, blieb stehen undwürgte. Dieser Gestank! Das einzige, womit er denGestank vergleichen konnte, war ein Stall, den manmonatelang nicht ausgemistet hatte. Mehr fiel ihm nichtein. Häßliche Schmierstreifen zogen sich über die Wände.Er versuchte nur durch den Mund zu atmen unddurchsuchte das Durcheinander am Boden. In einem derSchränke hatte sich ein Wassersack befunden.

Ein schabendes Geräusch hinter ihm ließ ihm das Blutin den Adern gefrieren, und er fuhr herum, wobei erbeinahe über die Reste des Tisches fiel. Er fing sich undstöhnte mit so fest zusammengebissenen Zähnen, daß ihndas Gebiß schmerzte – sonst hätten die Zähne geklappert.Einer der Trollocs taumelte hoch. Die Schnauze einesWolfs ragte unter eingesunkenen Augen hervor. Flachegefühllose Augen, und nur zu menschlich im Aussehen.Spitze haarige Ohren zuckten unaufhörlich. Auf spitzenZiegenhufen stieg er über einen seiner toten Begleiter.Der gleiche schwarze Kettenpanzer wie bei den anderenschabte an Lederhosen entlang, und an der Seite hing einriesiges sichelförmiges Schwert.

Er murmelte etwas in seiner kehligen Stimme, unddann sagte er: »Andere gehen weg. Narg bleiben. Nargschlau.« Die Worte klangen verzerrt und waren schwer zuverstehen. Sie kamen aus einer Kehle, die nicht für diemenschliche Sprache geschaffen war. Der Tonfall soll

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beruhigend klingen, dachte Rand, aber er konnte denBlick nicht von den fleckigen, langen und scharfen Zähnenwenden, die jedesmal aufblitzten, wenn die Kreatursprach. »Narg wissen, manche kommen zurück manchmal.Narg warten. Du nicht brauchen Schwert. Legen Schwerthin.«

Bis der Trolloc das gesagt hatte, hatte Rand überhauptnicht gemerkt, daß er Tams Schwert schwankend in denHänden hielt, die Spitze auf das Riesenwesen gerichtet. Esüberragte Rand um ein vielfaches. Brustkorb und Armehätten Meister Luhhan vergleichsweise zu einem Zwerggemacht.

»Narg nicht verletzen.« Er kam gestikulierend einenSchritt näher. »Du legen Schwert hin.« Das dunkle Haarauf den Handrücken war so dicht wie Fell. »Bleib mirvom Leib«, sagte Rand. Er wünschte, seine Stimme klängefester. »Warum habt ihr das getan? Warum?«

»Vlja daeg roghda!« Aus dem Knurren wurde schnellein vielzahniges Lächeln. »Leg Schwert hin. Narg nichtweh tun. Myrddraal wollen sprechen dich.« Kurz blitzteetwas wie ein Gefühl auf der verzerrten Fratze auf. Angst.»Andere kommen zurück, du sprechen Myrddraal.« Er tatwieder einen Schritt vorwärts. Eine große Hand legte sichum den Schwertgriff. »Du legen Schwert hin.«

Rand befeuchtete sich die Lippen. Myrddraal! Heutenacht erwachten die schlimmsten Legenden zum Leben.Wenn ein Blasser kam, dann waren die Trollocs dagegenharmlos zu nennen. Er mußte entkommen. Aber zog derTrolloc erst einmal diese massive Klinge, dann hatte erkeine Chance mehr. Er zwang sich zu einem unsicherenLächeln. »In Ordnung.« Der Griff um den Schwertknauffestigte sich. Er ließ die Hände fallen. »Ich werde reden.«

Aus dem Wolfslächeln wurde ein Knurren, und der

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Trolloc stürzte sich auf ihn. Rand hatte nicht geglaubt, daßetwas so Großes sich so schnell bewegen konnte.Verzweifelt riß er das Schwert hoch. Der monströseKörper prallte auf seinen und schleuderte ihn gegen dieWand. Schlagartig blieb Rand die Luft weg. Er schnapptenach Luft, als sie beide zu Boden fielen, der Trollocobenauf. Er versuchte sich verzweifelt von dererdrückenden Last zu befreien. Er mußte dem Griff derkräftigen Hände und dem zuschnappenden Gebißausweichen.

Plötzlich verkrampfte sich der Trolloc, und dann lag erbewegungslos da. Rand, zerschlagen, zerschürft und halbunter der Last erstickt, die auf ihm ruhte, lag für einenMoment einfach ungläubig da. Dann kam er schnellwieder zu Sinnen und wand sich schließlich unter derLeiche hervor. Es war tatsächlich eine Leiche. Dieblutverschmierte Klinge von Tams Schwert ragte aus derMitte des Trollocrückens. Er hatte es rechtzeitighochbekommen. Auch Rands Hände warenblutverschmiert, und das Blut hatte einen schwärzlichenFleck auf seinem Hemd hinterlassen. Der Magen drehtesich ihm um, und er schluckte ein paarmal heftig, um sichnicht übergeben zu müssen. Er zitterte so sehr wie aufdem Höhepunkt seiner Angst, aber diesmal vorErleichterung, daß er noch am Leben war.

Andere kommen zurück, hatte der Trolloc gesagt. Dieanderen Trollocs würden zum Hof zurückkehren. Und einMyrddraal dazu, ein Blasser. Den Geschichten nach warendie Blassen zwanzig Fuß groß, hatten feurige Augen undritten auf Schatten wie auf Pferden. Wenn ein Blasser sichzur Seite drehte, dann verschwand er. Wände konnten ihnnicht aufhalten. Er mußte tun, wozu er gekommen war,und schnell verschwinden.

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Er stöhnte vor Anstrengung, als er den Körper desTrollocs herumwuchtete, um das Schwert herausziehen zukönnen. Beinahe wäre er weggerannt, als geöffnete Augenihn anstarrten. Er brauchte eine Weile, bis ihm klarwurde, daß die Augen glasig und tot waren. Er wischtesich die Hände an einem zerrissenen Lumpen ab –morgens war er noch eins von Tams Hemden gewesen –und zog die Klinge heraus. Er reinigte das Schwert undließ den Lumpen zögernd fallen. Es fehlt an Zeit,Ordnung zu halten, dachte er und mußte unwillkürlichlachen. Schnell biß er die Zähne zusammen. Kein Laut! E rhatte keine Ahnung, wie sie das Haus jemals wieder sosauber bekommen sollten, daß sie darin wohnen konnten.Der schreckliche Gestank hatte sich vielleicht schon in denBalken festgesetzt. Keine Zeit für Sauberkeit. Vielleichtauch keine Zeit mehr für irgend etwas...

Er war sicher, daß er vieles vergessen würde, was siebrauchten, aber Tam wartete und die Trollocs kamensicherlich zurück. Er rannte herum und suchte schnellzusammen, was ihm gerade einfiel. Decken aus demSchlafzimmer und saubere Tücher, um Tams Wunde zuverbinden. Umhänge und Mäntel. Einen Wassersack, dener sonst immer mitnahm, wenn er die Schafe auf dieWeide trieb. Ein sauberes Hemd. Er wußte nicht, wann erdie Zeit finden würde, sich umzuziehen, aber er wollte beider ersten Gelegenheit das blutverschmierte Hemdablegen. Die kleinen Beutel mit Weidenrinde und dieanderen Medikamente waren Teil eines dunklenschlammverschmierten Bündels, das er kaum zu berührenwagte.

Ein Eimer Wasser, den Tam hereingebracht hatte, standimmer noch am Kamin, wie durch ein Wunder unversehrtund voll. Daraus füllte er den Wassersack, und im Rest

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wusch er sich hastig die Hände. Noch einmal lief er einekurze Runde durchs Haus, um mitzunehmen, was erübersehen hatte. In den Trümmern fand er seinen Bogen.Er war am stärksten Punkt sauber auseinandergebrochenworden. Er schauderte, als er die Bruchstücke fallen ließ.Was er jetzt hatte, mußte ausreichen. Schnell legte er allesvor der Tür auf einen Stapel.

Als letztes, bevor er das Haus verließ, zog er aus demDurcheinander auf dem Boden eine Sturmlaterne heraus.Sie enthielt immer noch Öl. Er zündete sie mit einer derKerzen an, und eilte, die Laterne in einer Hand und dasSchwert in der anderen, nach draußen. Er wußte nicht,was er in der Scheune vorfinden würde. Der Schafpferchließ nichts Gutes erwarten. Aber er brauchte den Karren,um Tam nach Emondsfeld zu bringen, und für den Karrenbrauchte er Bela. Die Notwendigkeit erweckte ein wenigHoffnung in ihm.

Das Scheunentor stand offen. Ein Flügel knarrte in denAngeln, als der Wind ihn bewegte. Innen sah alleszunächst aus wie immer. Dann fiel sein Blick auf leereBoxen. Die Türen waren aus den Angeln gerissen. Belaund die Kuh waren fort. Schnell lief er in den hinterenTeil der Scheune. Der Karren lag auf der Seite. Die Hälfteder Speichen waren aus den Rädern gebrochen. EineAchse war nur noch ein Stumpf von einem Fuß Länge.

Die Verzweiflung, die er bis jetzt zurückgehalten hatte,packte ihn nun mit Gewalt. Er glaubte nicht, daß er Tambis zum Dorf tragen konnte, wenn Tam dasGetragenwerden überhaupt aushalten würde. Der Schmerzbrachte ihn vielleicht noch schneller um als das Fieber.Aber es war die einzig verbleibende Möglichkeit. Hierhatte er alles getan, was er tun konnte. Als er sich zumGehen wandte, fiel sein Blick auf den abgehackten Teil

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der Achse, der auf dem Stroh lag. Plötzlich lächelte er.Hastig stellte er die Laterne auf den strohbedeckten

Boden und legte das Schwert daneben. Im nächstenMoment plagte er sich mit dem Karren ab, kippte ihn nachhinten, damit er aufrecht stand, wenn auch weitereSpeichen brachen, und stemmte sich dann mit der Schulterdagegen, um ihn in die richtige Lage zu bringen. Dieunbeschädigte Achse ragte gerade heraus. Er schnapptesich das Schwert und hackte auf das gut abgelagerteEschenholz ein. Zu seiner Überraschung flogen dickeSpäne unter den Hieben davon, und er konnte es genausoschnell wie mit einer guten Axt spalten. Als die Achsebefreit war, blickte er die Klinge bewundernd an. Selbstdie schärfste Axt wäre stumpf geworden, hätte man mitihr dieses harte alte Holz bearbeitet, aber das Schwertwirkte genauso strahlend scharf wie vorher. Er berührtedie Schneide mit dem Daumen und steckte ihn dann ganzschnell in den Mund. Die Klinge war tatsächlich immernoch so scharf wie ein Rasiermesser.

Aber er hatte keine Zeit zum Staunen. Er blies dieLaterne aus – es war nicht notwendig, daß zu allemÜberfluß auch noch die Scheune abbrannte –, nahm diebeiden Achsen und rannte zum Haus, um die anderenSachen zu holen.

Alles zusammen war eine unhandliche Last. Nichtsonderlich schwer, aber schwer zu halten und zu tragen.Die Achsen des Karrens schwankten und drehten sich inseinen Armen, als er über das gepflügte Feld stolperte. ImWald wurde es noch schlimmer. Sie verfingen sich inBäumen und brachten ihn beinahe zu Fall. Er hätte sieleichter hinterherschleifen können, aber dann hätte er einedeutliche Spur hinterlassen. Er hatte vor, damit so langewie nur möglich zu warten.

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Tam war noch dort, wo er ihn verlassen hatte. E rschien zu schlafen. Rand hoffte es jedenfalls. In plötzlicherAngst ließ er seine Lasten fallen und legte eine Hand aufdes Vaters Stirn. Tam atmete noch, doch das Fieber warschlimmer geworden.

Die Berührung weckte Tam auf, aber er war nicht klar.»Bist du es, Junge?« hauchte er. »Mach mir Sorgen umdich. Träume von verflossenen Tagen. Alpträume.« E rmurmelte undeutlich und schlief wieder ein.

»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Rand. Er legteTam Mantel und Umhang über, um den Wind abzuhalten.»Ich bringe dich so schnell wie möglich zu Nynaeve.«Während er weiterredete, ebenso zur eigenen Beruhigung,wie um Tam zu helfen, schälte er sich aus demblutbefleckten Hemd. In seiner Hast, es loszuwerden,bemerkte er die Kälte kaum. Eilig zog er das saubereHemd an. Sein altes Hemd wegzuwerfen, war ein Gefühl,als habe er gerade ein Bad genommen. »Wir werden imNu sicher im Dorf sein, und die Seherin bringt alles inOrdnung. Du wirst schon sehen. Alles wird wieder gut.«

Der Gedanke wirkte wie ein Leuchtfeuer, als er seinenMantel anzog und sich bückte, um Tams Wunde zuversorgen. Wenn sie einmal das Dorf erreichten, wärensie sicher, und Nynaeve würde Tam heilen. Er mußte ihnnur hinbringen.

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KAPITEL 6

Der Westwald

Im Mondlicht konnte Rand wirklich nicht genau sehen,was er tat, aber Tams Wunde schien nur einoberflächlicher Schnitt am Brustkorb zu sein, nicht längerals seine Handfläche. Er schüttelte ungläubig den Kopf. E rhatte erlebt, wie sein Vater schlimmere Wunden als dieseabbekam und nicht einmal mit der Arbeit aufhörte,nachdem er sie ausgewaschen hatte. Hastig suchte er TamsKörper von Kopf bis Fuß nach einer weiteren Verletzungab, die das Fieber hervorgerufen haben konnte, aberaußer dem einen Schnitt fand er nichts.

So klein er war, war diese Verletzung doch ernstzuneh-men; das Fleisch um die Wunde herum schien zu glühen,als er es berührte. Es war noch heißer als der übrige Kör-per Tams, und der war heiß genug, daß Rand die Zähnezusammenbiß. Wundfieber dieser Art konnte tödlich seinoder einen Mann zum Wrack machen. Er ließ Wasser ausdem Sack auf ein Tuch laufen und legte es auf Tams Stirn.

Er bemühte sich, den Schnitt über den Rippen seinesVaters so sanft wie möglich auszuwaschen und zubandagieren, aber trotzdem unterbrach leises Stöhnen dasfieberhafte Gemurmel Tams. Kahle Äste ragten über siehinweg und bewegten sich bedrohlich im Wind. Sicherwürden die Trollocs weiterziehen, wenn sie Tam und ihnnicht finden konnten, wenn sie zum Bauernhauszurückkehrten und es immer noch leer vorfanden. E rversuchte, daran zu glauben, aber die willkürlicheZerstörungswut, die sich im Haus gezeigt hatte, die völlige

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Sinnlosigkeit dieser Handlungsweise, ließen wenigSpielraum für Hoffnung. Die Annahme, sie würdenaufgeben, bevor sie jeden getötet und alles zerstört hatten,was sie finden konnten, war gefährlich. Er konnte sichsolchen Leichtsinn nicht leisten.

Trollocs. Licht über uns, Trollocs! Kreaturen aus denGeschichten eines Gauklers, die aus der Nachthervorbrachen und die Tür einschlugen. Und ein Blasser.Das Licht erleuchte mich – ein Blasser!

Plötzlich merkte er, daß er die losen Enden der Bindein den bewegungslosen Händen hielt. Erstarrt wie einKaninchen, das den Schatten des Falken gesehen hat,dachte er verächtlich. Mit ärgerlichem Kopfschüttelnbeendete er das Bandagieren von Tams Brustwunde.

Auch wenn er wußte, was zu tun war, und damit auchvorankam, so bewahrte ihn das doch nicht davor, Angst zuhaben. Wenn die Trollocs wiederkamen, würden siebestimmt beginnen, den Wald nach Spuren derentkommenen Menschen zu durchsuchen. Die Leiche desGefährten, den er getötet hatte, würde ihnen zeigen, daßMenschen nicht weit sein konnten. Und wer wußte schon,was ein Blasser tun würde oder wozu er imstande war?Und zu alledem hatte er laut und klar seines VatersKommentar über das Gehör der Trollocs im Gedächtnis.Er mußte den Impuls unterdrücken, eine Hand auf TamsMund zu legen, um sein Stöhnen und Murmeln zubeenden. Einige können Spuren mit der Nase aufspüren.Was kann ich dagegen tun? Nichts. Er konnte seine Zeitnicht damit verschwenden, über Probleme nachzudenken,die er sowieso nicht lösen konnte.

»Du mußt leise sein«, flüsterte er in seines Vaters Ohr.»Die Trollocs werden zurückkommen.«

Tam sprach leise und heiser. »Du bist immer noch

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schön, Kari. Genauso schön wie als Mädchen.«Rand zog eine Grimasse. Seine Mutter war schon seit

fünfzehn Jahren tot. Wenn Tam sich einbildete, sie seinoch am Leben, dann war das Fieber schlimmer, als Randgedacht hatte. Wie konnte er ihn vom Sprechen abhalten,jetzt, da es lebensnotwendig war, leise zu sein? »Muttermöchte, daß du leise bist«, flüsterte Rand. Er hielt inneund räusperte sich. Seine Kehle schien wie zugeschnürt.Sie hatte sanfte Hände gehabt, daran erinnerte er sichnoch. »Kari möchte, daß du ruhig bist. Hier. Trink.«

Tam schluckte gierig aus dem Wassersack, aber schnelldrehte er den Kopf wieder zur Seite und murmelte leisevor sich hin, zu leise, als daß Rand es verstehen konnte.Er hoffte, daß jagende Trollocs es ebenfalls nicht hörenkonnten.

Schnell fuhr er fort, alles Notwendige zu tun. E rwickelte drei der mitgenommenen Decken so um die vomKarren abgetrennten Achsen, daß er eine provisorischeBahre erhielt. Er würde sie nur an einem Ende tragenkönnen – das andere mußte am Boden schleifen –, aber eswar nicht anders zu bewerkstelligen. Aus der letztenDecke schnitt er mit dem Messer einen langen Streifenheraus. Den band er auf beiden Seiten an den Achsen fest.

So sanft wie möglich hob er Tam auf die Bahre. JedesAufstöhnen seines Vaters drang ihm wie ein Messer durchdie Seele. Er hatte immer so unzerstörbar gewirkt. Nichtskonnte ihn erschüttern; nichts konnte ihn aufhalten oderhemmen. Daß er sich jetzt in einem solchen Zustandbefand, raubte Rand beinahe allen Mut, den er vorhernoch aufgebracht hatte. Aber er mußte weitermachen. Nurdas bewegte ihn noch. Er mußte.

Als Tam endlich auf der Bahre lag, zögerte Rand, dochdann nahm er Tam den Schwertgürtel ab. Als er ihn selbst

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anlegte, fühlte sich das ganz eigenartig an. Er fühlte sichso seltsam. Gürtel und Scheide und Schwert zusammenwogen nur ein paar Pfund, aber als er die Klinge in dieScheide steckte, schien ihn eine schwere Lasthinunterzuziehen.

Er ärgerte sich über sich selbst. Dies war nicht derrichtige Ort und nicht die richtige Zeit für blödsinnigeEinbildungen. Es war nur ein großes Messer. Wie ofthatte er davon geträumt, ein Schwert zu tragen undAbenteuer zu erleben! Wenn er einen Trolloc damitgetötet hatte, konnte er sich auch gegen andere zur Wehrsetzen. Allerdings wußte er nur zu gut, daß ihm bei demKampf im Haus das reine Glück zur Seite gestanden hatte.Und in seinen erträumten Abenteuern hatten ihm nie dieZähne geklappert; er war auch nie durch die Nacht umsein Leben gerannt, und sein Vater war in den Träumennie dem Tod nahe gewesen.

Hastig wickelte er die letzte Decke um Tam und legteden Wassersack und die Tücher neben seinen Vater auf dieBahre. Er holte tief Luft, kniete zwischen den Enden derAchsen nieder und zog sich den Deckenstreifen über denKopf. Er wickelte ihn sich über die Schultern und unterdie Arme. Als er die Stangen ergriff und sich auf-richtete,ruhte der größte Teil der Last auf seinen Schul-tern. Esschien nicht besonders schlimm. Er versuchte,gleichmäßig auszuschreiten, und so machte er sich aufnach Emondsfeld. Die Bahre schlitterte hinter ihm her.

Er hatte sich bereits entschlossen, zur Haldenstraße zugehen und dieser nach Emondsfeld zu folgen. Die Gefahrwäre wahrscheinlich an der Straße noch größer, aberwenn er sich in der Dunkelheit im Wald verlief, würdeTam erst recht keine Hilfe erhalten.

Bevor er es merkte, war er schon fast auf der

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Haldenstraße eingelangt. Als er erkannte, wo er sichbefand, schnürte es ihm die Kehle zu. In hektischer Eiledrehte er die Bahre um und schleppte sie ein Stück zurückin den Schutz der Bäume. Dort blieb er stehen, um nachLuft zu schnappen und zu warten, daß sich das Klopfenseines Herzens beruhigte. Immer noch schweratmendwandte er sich nach Osten, auf Emondsfeld zu.

Sich zwischen den Bäumen hindurchzuwinden, warschwieriger, als Tam die Straße hinunterzuschleifen, unddie Dunkelheit der Nacht half ihm auch nicht gerade, aberdie Straße selbst zu benutzen, wäre heller Wahnsinngewesen. Sie wollten ja das Dorf erreichen, ohne Trollocszu treffen, möglichst auch ohne welche zu sehen, falls ihmdieser Wunsch erfüllt wurde. Er mußte ja annehmen, daßdie Trollocs ihnen immer noch auf der Fährte waren, undfrüher oder später würde ihnen der Gedanke kommen, sieseien zum Dorf gelaufen. Das war ja der offensichtlicheWeg, und die Haldenstraße bot sich dazu an. Er befandsich selbst hier zwischen den Bäumen der Straße nochnäher, als ihm lieb war. Die Nacht und die Schatten unterden Bäumen schienen nur eine dürftige Deckung zugewähren, die sie vor den Blicken aller jener schützte, diesich auf der Straße befanden.

Das zwischen kahlen Ästen hindurchdringendeMondlicht war nur eine notdürftige Beleuchtung, dieseinen Augen vorgaukelte, er könne erkennen, wie derBoden vor ihm beschaffen war. Auf Schritt und Trittstolperte er über Wurzeln, alte Dornensträucher verfingensich an seinen Beinen, und kaum sichtbare Mulden oderBoden-erhebungen brachten ihn fast zu Fall, wenn derFuß auf Luft traf, wo er festen Boden erwartete, oderwenn die Zehen gegen ein unerwartetes Hindernis stießen.Tams Gemurmel wurde zu lautem Aufstöhnen, wenn seine

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Bahre zu heftig über eine Wurzel oder einen Steinholperte.

Aus Unsicherheit starrte er so angestrengt in dieDunkelheit, daß ihm die Augen brannten, und er lauschte,wie er noch nie gelauscht hatte. Jedes Schaben einesZweiges gegen einen anderen, jedes Rascheln ließen ihninnehalten. Die Ohren schmerzten ihm beinahe vorAnstrengung, und er traute sich kaum zu atmen, ausAngst, einen warnenden Laut zu überhören – und ausAngst, einen solchen zu hören. Erst wenn er sicher war,daß es nur der Wind war, ging er weiter.

Langsam kroch ihm die Erschöpfung durch Arme undBeine, unterstützt vom Nachtwind, der durch Umhang undMantel drang, als sei kaum ein Schutz vorhanden. DasGewicht der Bahre, das am Anfang so gering schien,drohte ihn jetzt zu Boden zu ziehen. Er stolperte nun nichtnur des unebenen Bodens wegen. Der ständige Kampfgegen das Fallen erforderte genausoviel Energie wie dasZiehen der Bahre. Er war vor dem Morgengrauenaufgestanden, um die notwendigen Arbeiten auf dem Hofzu erledigen, und zusammen mit der Fahrt nachEmondsfeld ergab das nun beinahe einen vollen Tag mitArbeit rund um die Uhr. An einem normalen Abend säßeer jetzt vor dem Kamin, um ein Buch aus Tams kleinerSammlung zu lesen, bevor er ins Bett ging. Die beißendeKälte drang ihm bis auf die Knochen, und der Magenerinnerte ihn daran, daß er seit den Honigkuchen von Fraual'Vere nichts mehr gegessen hatte.

Er fluchte ärgerlich in sich hinein. Warum hatte ervom Hof nicht Eßbares mitgenommen? Ein paar Minutenmehr hätten auch nichts ausgemacht. Die Trollocs wärendoch wohl nicht innerhalb einer solch kurzen Zeitspannezurückgekommen! Wenigstens das Brot! Natürlich würde

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Frau al'Vere darauf bestehen, ihm ein heißes Abendesseneinzutrichtern, wenn sie die Schenke erreichten. Vielleichteine dampfende Platte ihrer dicken Lammkoteletts. Undetwas von dem Brot, das sie gebacken hatte. Und eineMenge heißen Tee.

»Sie kamen wie eine Flutwelle über den Drachenwall«,sagte Tam plötzlich mit kräftiger, wütender Stimme, »undhaben das Land mit Blut überschwemmt. Wie vielemußten sterben für Lamans Sünde?«

Rand stürzte beinahe, so überrascht war er. Müde legteer die Bahre nieder und befreite sich von dem Decken-streifen. Er hatte bereits einen brennenden Striemen querüber die Schultern hinterlassen. Er rollte die Schultern einwenig, um die verknoteten Muskeln zu entspannen. Dannkniete er neben Tam nieder. Er griff nach dem Wasser-sack und spähte dabei zwischen den Bäumen hindurch.Vergebens bemühte er sich, die Straße hinauf und hinun-ter klar auszumachen. Das Mondlicht war zu trüb, auchwenn die Straße nur etwa zwanzig Schritt entfernt war.Nichts außer den Schatten bewegte sich dort. Nichts außerSchatten.

»Es gibt keine Flut von Trollocs, Vater. Jedenfallsheute nicht. Wir sind bald in Emondsfeld in Sicherheit.Trink ein bißchen Wasser!«

Tam schob den Wassersack mit einem Arm zur Seite,der anscheinend seine ganze Kraft zurückgewonnen hatte.Er packte Rand beim Kragen und zog ihn so nahe zu sichheran, daß Rand die Hitze des Fiebers auf der eigenenWange spürte. »Sie haben sie als Wilde bezeichnet«, sagteTam eindringlich. »Die Narren sagten, man könne sie wieAbfall aus dem Weg räumen. Wie viele Schlachten mußtenverlorengehen, wie viele Städte brennen, bis sie endlichder Wahrheit ins Auge sahen? Bis die Nationen endlich

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gemeinsam gegen sie kämpften?« Er lockerte den Griff anRands Kragen, und Trauer klang in seiner Stimme auf.»Das Feld von Marath mit einem Teppich von Leichenbedeckt und kein Laut außer dem Krächzen der Raben unddem Summen der Fliegen. Die abgedeckten Türme vonCairhien brannten wie Fackeln in der Nacht. Den ganzenWeg bis zu den Leuchtenden Wällen brannten undmordeten sie, bevor sie zurückgeschlagen wurden. Denganzen Weg nach...«

Rand legte die Hand auf des Vaters Mund. Ein Lautwiederholte sich, ein rhythmisches Trampeln, dessenRichtung man zwischen den Bäumen nicht bestimmenkonnte, erst leiser und dann, als der Wind sich drehte,wieder lauter. Er runzelte die Stirn und drehte den Kopflangsam hin und her, um festzustellen, woher der Lautkam. Aus dem Augenwinkel nahm er eine leichte Bewe-gung wahr, und einen Moment später beugte er sich tiefüber Tam. Er war überrascht, den Griff des Schwertesfest in seiner Hand zu fühlen, aber der größere Teil seinesVerstands konzentrierte sich auf die Haldenstraße, als seidie Straße der einzig wirkliche Teil dieser ganzen Welt.

Schwankende Schatten im Osten formten sich langsamzur Gestalt eines Reiters auf einem Pferd, der gefolgtwurde von großen massigen Figuren, die rennen mußten,um mit dem Pferd mitzuhalten. Das blasse Mondlichtspiegelte sich in glitzernden Speerspitzen undAxtschneiden. Rand glaubte von vornherein nicht daran,es könnten Dorfbewohner sein, die ihnen zu Hilfe kamen.Er wußte, wer sie waren. Er fühlte es, als würden seineKnochen mit Sand abgeschliffen, noch bevor sie ganz nahewaren. Dann enthüllte ihm das Mondlicht denKapuzenmantel des Reiters, einen Mantel, der vom Windunberührt herunterhing. Alle Gestalten erschienen in

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dieser Nacht schwarz, und die Hufe des Pferdesverursachten die gleichen Geräusche wie die jedes anderenPferdes, doch Rand erkannte dieses Pferd ganz eindeutig.

Hinter dem dunklen Reiter kamen Alptraumgestaltenmit Hörnern und Schnauzen und Schnäbeln, eineDoppelreihe von Trollocs, alle im Gleichschritt. DieStiefel und Hufe schlugen im gleichen Moment auf demBoden auf, als würden sie von einem einzigen Verstandgesteuert. Rand zählte zwanzig, die da an ihnenvorbeieilten. Er fragte sich, welche Art von Mensch eswagte, so vielen Trollocs den Rücken zuzuwenden. Oderüberhaupt einem Trolloc.

Die rennende Truppe verschwand in westlicherRichtung. Das Stampfen der Füße und Hufe verklang inder Dunkelheit, aber Rand blieb, wo er war, und bewegtekeinen Muskel. Etwas in ihm sagte ihm, er müsse erstsicher, absolut sicher sein, daß sie fort waren, bevor ersich wieder in Bewegung setzen durfte. Nach einer ganzenWeile atmete er wieder tief ein und wollte sich geradeaufrichten.

Diesmal gab das Pferd überhaupt keinen Laut von sich.In unheimlicher Stille kehrte der Reiter zurück. Seinschattenhaftes Reittier blieb alle paar Schritte in seinemlangsamen Schreiten die Straße hinunter stehen. Windböenerhoben sich und heulten durch den Wald. Der Mantel desReiters hing unbeweglich wie der Tod herunter. Woimmer das Pferd stehenblieb, bewegte sich derkapuzenbedeckte Kopf hin und her, als der Reiter denWald beobachtete, suchte. Genau gegenüber von Randblieb das Pferd wieder stehen. Die düstere Öffnung derKapuze zeigte in die Richtung, wo Rand über seinemVater kauerte.

Rands Hand verkrampfte sich um den Schwertgriff. E r

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fühlte den Blick genau wie am Morgen und erzittertewieder vor dem Haß, obwohl er ihn nicht sehen konnte.Dieser verhüllte Mann haßte jeden und alles, alles, waslebte. Trotz des kalten Windes rann Schweiß über RandsGesicht. Dann bewegte sich das Pferd weiter, ein paarlautlose Schritte, und blieb erneut stehen. Schließlichkonnte Rand nur noch einen kaum wahrnehmbarenSchatten in der Nacht erkennen, weit entfernt die Straßehinunter. Er hatte ihn keinen Augenblick aus den Augenverloren. Wenn er ihn aus dem Blickfeld verlor, würde erihn das nächste Mal vielleicht erst sehen, wenn dieseslautlose Pferd ihn schon erreicht hatte.

Mit einem Mal huschte der Schatten zurück und flog inunhörbarem Galopp vorbei. Der Reiter blickte vorwärts,als er in westlicher Richtung durch die Nacht raste, inRichtung Verschleierte Berge. Auf den Bauernhof zu.

Rand sackte in sich zusammen, rang nach Luft undwischte sich den kalten Schweiß mit einem Ärmel von derStirn. Es interessierte ihn nicht mehr, warum die Trollocsgekommen waren. Falls er das niemals herausfand, war esauch recht, wenn es nur zu Ende war.

Mit einem kurzen Schütteln riß er sich wiederzusammen und sah erst einmal nach seinem Vater. Tammurmelte immer noch vor sich hin, aber so leise, daßRand die Worte nicht verstand. Er versuchte, ihm etwaszu Trinken beizubringen, aber das Wasser floß über dasKinn des Vaters. Tam hustete und erstickte fast an demRinnsal, das tatsächlich den Weg in seinen Mund fand, unddann schwatzte er leise weiter, als hätte es gar keineUnterbrechung gegeben.

Rand goß noch ein wenig Wasser auf das Tuch, das aufTams Stirn lag, legte den Wassersack zurück auf dieBahre und begab sich wieder zwischen die beiden Stangen.

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Er ging los, als habe er die ganze Nacht geschlafen,aber die neue Kraft hielt nicht lange vor. Die Angstvertrieb zunächst die Erschöpfung, doch obwohl die Angstblieb, kehrte die Erschöpfung schnell zurück. Baldstolperte er wieder mühsam vorwärts und versuchte,Hunger und schmerzende Muskeln zu vergessen. E rkonzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zusetzen, ohne zu Fall zu kommen. Dabei stellte er sichEmondsfeld vor, die Fensterläden geöffnet und die Häuserhell zur Winternacht beleuchtet, Menschen, die sichlautstark begrüßten, wenn sie sich gegenseitig besuchten,Fiedeln, die die Straßen mit Melodien wie Jaems Torheitund Der Reiherflug erfüllten. Haral Luhhan würde einenSchnaps zuviel trinken und mit der Stimme einesOchsenfrosches das Lied Der Wind in der Gerste singen –das tat er immer –, bis seine Frau es fertigbrachte, ihnzum Schweigen zu bringen, und Cenn Buie würde sichentschließen, den anderen zu beweisen, daß er immer nochebensogut tanzen konnte wie früher, und Mat würde einenStreich zu spielen versuchen, der ein wenig danebenging,und jeder würde wissen, daß er dafür verantwortlich war,auch wenn es keiner beweisen konnte. Er konnte beinaheschon wieder lächeln, als er daran dachte, wie es wohlwieder würde.

Nach einer Weile sprach Tam wieder.»Avendesora. Man sagt, er erzeuge keinen Samen, aber

sie brachten einen jungen Zweig nach Cairhien, einenSchößling. Ein königliches Geschenk, um den König zuerstaunen.« Obgleich er sich zornig anhörte, sprach ersehr leise. Rand hatte Mühe, ihn zu verstehen. Jeder, derihn hören könnte, würde auch das Schleifen der Bahreüber den Boden wahrnehmen. Rand schlurfte weiter undhörte nur so halb hin. »Sie schließen niemals Frieden.

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Niemals. Aber sie brachten einen Schößling als Zeichendes Friedens. Hundert Jahre lang wuchs er. Hundert JahreFriede mit denjenigen, die nie mit Fremden Friedenschließen. Warum hat er ihn gefällt? Warum? Blut warder Preis für Avendoraldera. Blut der Preis für LamansStolz.« Er verfiel wieder in leises Murmeln.

Müde fragte sich Rand, welchen Fiebertraum Tam wohljetzt träumte. Avendesora. Der Baum des Lebens solltealle möglichen wundersamen Eigenschaften besitzen, aberkeine der Geschichten erwähnte irgendeinen Schößlingoder irgendwelche Leute. Es gab nur einen Baum, und dergehörte dem Grünen Mann.

Heute morgen noch wäre er sich lächerlichvorgekommen, wenn er ernsthaft über den Grünen Mannund den Baum des Lebens nachgedacht hätte. Das warennur Geschichten. Wirklich? Heute morgen waren auchTrollocs nur eine Geschichte. Vielleicht waren alleGeschichten genauso wirklich wie die Nachrichten, dieHändler und Kaufleute brachten – alle Erzählungen derGaukler und alle Sagen, abends am Kamin erzählt.Vielleicht traf er demnächst tatsächlich den Grünen Mannoder einen Ogier-Riesen oder einen wilden Aielmann mitschwarzem Schleier.

Er merkte, daß Tam wieder deutlicher sprach,jedenfalls immer wieder einmal. Von Zeit zu Zeit hörte erauf, um Luft zu holen, und dann fuhr er fort, als glaubeer, die ganze Zeit durchgehend gesprochen zu haben. »...Schlachten sind immer heiß, sogar im Schnee.Schweißhitze. Bluthitze. Nur der Tod ist kühl.Bergabhang... einzige Ort, der nicht nach Tod stank.Mußte dem Gestank entfliehen... dem Bild... hörte einKind weinen. Ihre Frauen kämpfen manchmal an der Seiteder Männer, aber warum sie sie mitnahmen, weiß ich

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nicht... Hat dort das Kind allein zur Welt gebracht, bevorsie an ihren Verletzungen starb... das Kind mit ihremUmhang bedeckt, doch der Wind... blies den Umhangfort... das Kind, blau vor Kälte. Hätte auch tot seinsollen... weinte dort. Weinte im Schnee. Ich konnte einKind nicht liegenlassen... keine eigenen Kinder... immergewußt, daß du Kinder wolltest. Ich wußte, du würdest esals dein eigenes annehmen, Kari. Ja, Mädchen. Rand istein guter Name. Ein guter Name.«

Plötzlich verloren Rands Beine das letzte bißchen Kraft.Er stolperte und fiel auf die Knie. Tam stöhnte bei demplötzlichen Ruck auf, und der Deckenstreifen schnitt Randin die Schultern. Doch beides war ihm nicht bewußt.Wenn in diesem Moment ein Trolloc vor ihmaufgesprungen wäre – er hätte ihn nur verständnislosangestarrt. Er blickte über die Schulter zurück auf Tam,der in wortlose Lippenbewegungen versunken war.Fieberträume, dachte er dumpf. Durch Fieber bekam manimmer schlimme Träume, und dies war eine Zeit fürAlpträume, selbst wenn man kein Fieber hatte. »Du bistmein Vater«, sagte er laut und streckte die Hand aus, umTam zu berühren, »und ich bin...« Das Fieber warschlimmer geworden. Viel schlimmer.

Grimmig entschlossen, wenn auch mühsam stand er auf.Tam murmelte wieder etwas, aber Rand weigerte sich,zuzuhören. Er stemmte sich mit dem ganzen Gewichtgegen das improvisierte Geschirr. Er versuchte, sich aufeinen bleiernen Schritt nach dem anderen zukonzentrieren und darauf, die Sicherheit von Emondsfeldzu erreichen. Doch er konnte das Echo nicht aus demHinterkopf vertreiben. Er ist mein Vater. Es war nur einFiebertraum. Er ist mein Vater. Es war nur einFiebertraum. Licht, wer bin ich?

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KAPITEL 7

Aus dem Wald hinaus

Während Rand immer noch durch den Wald stolperte,färbte sich der Himmel zur ersten Morgendämmerung.Zuerst bemerkte er es gar nicht. Als er es schließlichmerkte, blickte er voller Erstaunen zum heller werdendenHimmel auf. Gleichgültig, was seine Augen ihm nunzeigten – er konnte kaum glauben, daß er die ganze Nachtdamit verbracht hatte, die Entfernung vom Hof nachEmondsfeld zurückzulegen. Natürlich konnte man dieHaldenstraße bei Tag, trotz Steinen und Schlaglöchern,nicht mit dem Wald bei Nacht vergleichen. Andererseitsschien es Tage her zu sein, seit er den schwarzgekleidetenReiter auf der Straße gesehen hatte, und Wochen, seit Tamund er sich zum Abendessen hinsetzen wollten. Er fühlteden Deckenstreifen nicht mehr, der ihm in die Schulternschnitt, aber er fühlte ja überhaupt nichts mehr außereiner Taubheit, die bis zu den Füßen vorgedrungen war.Allerdings betraf das nicht die Körpermitte. Er atmeteschwer und stoßartig, Hals und Lunge brannten, und derim Magen wühlende Hunger erzeugte ihmSchwindelgefühle. Ihm war schlecht.

Tam war schon vor einer Weile verstummt. Rand warsich nicht sicher, wie lange es her war, daß TamsFiebergemurmel aufgehört hatte, aber er wagte nicht,stehenzubleiben und nach Tam zu sehen. Wenn er jetztinnehielt, wäre er nicht mehr in der Lage, erneutaufzubrechen. Außerdem konnte er für Tam im Momentnichts weiter tun, gleichgültig, in welchem Zustand er sich

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befand. Die einzige Hoffnung lag vor ihnen: das Dorf. E rbemühte sich unter Qualen, schneller zu gehen, doch dieBeine staksten hölzern weiter wie bisher. Den Wind unddie Kälte bemerkte er kaum noch.

Der schwache Geruch eines Holzfeuers drang ihm indie Nase. Also war er fast da, wenn er den Rauch aus denSchornsteinen des Dorfs riechen konnte. Ein müdesLächeln wollte sich gerade auf seinem Gesicht abzeichnen,als ihm ein Gedanke kam und er die Stirn runzelte. DerRauch ballte sich dicht zusammen dort vorn, zu dicht. Beidiesem kalten Wetter konnte es schon sein, daß jederSchornstein im Dorf gleichzeitig rauchte, aber sogar dafürwar die Rauchdecke zu dicht. Das Bild der Trollocs aufder Straße kam ihm ins Gedächtnis. Trollocs, die vonOsten her kamen, aus der Richtung von Emondsfeld. E rblickte angestrengt nach vorn und versuchte, die erstenHäuser zu erkennen. Er war bereit, um Hilfe zu rufen,sobald er nur irgend jemanden sah, selbst wenn es CennBuie war oder einer der Coplins. Eine leise Stimme inseinem Innern sagte ihm, er solle froh sein, wenn dortnoch jemand imstande sei, ihm zu helfen. Plötzlich sah erzwischen den letzten kahlen Bäumen hindurch ein Hausstehen. Das brachte seine Beine dazu, sichweiterzubewegen. Doch die Hoffnung wandelte sich zutiefer Verzweiflung, als er ins Dorf hineintaumelte.

Die Hälfte der Häuser von Emondsfeld bestand nurnoch aus verkohlten Trümmerhaufen. Rußgeschwärztegemauerte Kamine ragten wie schmutzige Finger ausHaufen angekohlter Balken hervor. Dünne Rauchfädenkräuselten sich aus den Ruinen. Dorfbewohner mitschmutzverkrusteten Gesichtern, viele noch inNachtgewändern, suchten in der Asche herum, bargenhier einen Kochtopf oder stocherten dort einsam mit

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einem Stock in den Trümmern herum. Die wenigen ausden Flammen geretteten Besitztümer säumten die Straßen:Hohe Spiegel und lackierte Kommoden und Schränkchenstanden da im Staub zwischen Stühlen und Tischen, warenunter Bettwäsche und Kochgeschirr und dürftigenKleidungshaufen und persönlicher Habe begraben.

Der Streifen der Zerstörung zog sich planlos durch dasDorf. Fünf Häuser hintereinander waren unversehrtgeblieben, während anderswo nur ein einziges inmittender Ruinen stand.

Jenseits des Weinquellenbaches schlugen die Flammender drei riesigen Bel-Tine-Freudenfeuer hoch, voneinigen Männern überwacht. Dicke schwarze Rauchsäulenbeugten sich im Wind nach Norden zu, mitFunkenschauern durchsetzt. Einer der Dhurranhengstevon Meister al'Vere schleifte etwas, das Rand nichterkennen konnte, über den Boden auf die Wagenbrückeund die Flammen zu. Bevor er noch die Deckung derBäume verlassen hatte, eilte Haral Luhhan mit rußigemGesicht auf ihn zu, eine Holzfälleraxt in der kräftigenFaust. Das ascheverkrustete Nachthemd des bulligenSchmieds hing bis auf seine Stiefel hinunter, und durcheinen Riß erkannte Rand die bösartig-rote Schwellungeiner Brandwunde auf seiner Brust. Er kniete neben derBahre nieder. Tams Augen waren geschlossen, seineAtmung ging flach und röchelnd.

»Trollocs, Junge?« fragte Meister Luhhan mitrauchheiserer Stimme. »Hier auch. Hier auch. Na ja,vielleicht hatten wir sogar noch mehr Glück als Verstandbei der ganzen Sache. Jedenfalls muß Tam zur Seherin.Wo bei allem Licht steckt sie nur? Egwene!«

Egwene, die gerade mit einer Ladung zu Bindenzerrissener Bettücher vorbeikam, sah sich nach ihnen um,

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ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Ihre Augen blicktenin eine unbestimmte Ferne; dunkle Ringe ließen sie nochgrößer erscheinen, als sie sowieso schon waren. Dann sahsie Rand und blieb stehen. Sie atmete zittrig ein.

»O nein, Rand! Dein Vater? Ist er...? Komm, ichbringe dich zu Nynaeve.«

Rand war zu müde und zu entsetzt, um auch nur einWort herauszubringen. Die ganze Nacht über warEmondsfeld für ihn ein Zufluchtsort gewesen, wo Tamund er in Sicherheit sein würden. Und nun brachte er eslediglich fertig, entsetzt auf ihr vom Rauch fleckiges Kleidzu starren. Er bemerkte einige Kleinigkeiten am Rande,die ihm im Moment sehr wichtig erschienen. Die Knöpfeam Rücken ihres Kleides waren schief zugeknöpft. Undihre Hände waren sauber. Er fragte sich, wieso ihre Händesauber waren, obwohl ihre Wangen von Ruß verschmiertwaren.

Meister Luhhan schien zu verstehen, was ihn bewegte.Er legte seine Axt auf die Bahre, nahm ihr hinteres Endeauf und rückte einmal kurz damit, um ihn aufzufordern,Egwene zu folgen. Rand stolperte wie ein Schlafwandlerhinter ihr her. Kurz tauchte in ihm die Frage auf, obMeister Luhhan wußte, daß die Kreaturen Trollocs waren,doch der Impuls verflog sofort wieder. Wenn Tam sieerkannte, gab es keinen Grund, warum Haral Luhhan dasnicht auch tat.

»All die Geschichten sind wahr«, murmelte er.»Es scheint so, Junge«, sagte der Schmied. »Es scheint

so.«Rand hörte nur halb hin. Er konzentrierte sich darauf,

Egwenes schlanker Gestalt zu folgen. Er hatte sich so weitzusammengerissen, daß er wünschte, sie würde sich etwasbeeilen, obwohl sie in Wirklichkeit ja langsam genug ging,

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damit ihr die beiden Männer mit ihrer Last folgenkonnten. Sie führte sie über das Grün bis zum Haus derCalders. Die Kanten des Strohdachs waren verkohlt unddie weißgetünchten Wände rußverschmiert. Von denHäusern zu beiden Seiten waren nur die Grundmauern undzwei Haufen mit Asche und verkohlten Balkenübriggeblieben. Eines davon hatte Berin Thane gehört,einem der Brüder des Müllers. Das andere gehörte AbellCauthon, Mats Vater. Sogar die Schornsteine warenumgestürzt.

»Wartet hier!« bat Egwene und sie sah sie an, alserwarte sie eine Antwort. Als sie einfach nurstehenblieben, murmelte sie etwas in sich hinein und eilteins Haus.

»Mat«, sagte Rand, »ist er...?«»Er lebt«, sagte der Schmied. Er setzte sein Ende der

Bahre ab und richtete sich langsam auf. »Ich habe ihn vorkurzem gesehen. Es ist erstaunlich, daß überhaupt nochwelche von uns leben. So, wie sie mein Haus und dieSchmiede angriffen, hätte man denken können, ich habedort Gold und Edelsteine versteckt. Alsbet hat einem miteiner Bratpfanne den Schädel eingeschlagen. Heutemorgen hat sie einen Blick auf die Asche unseres Hausesgetan, sich dann den größten Hammer aus den Überrestender Schmiede geschnappt und ist auf die Jagd gegangen,für den Fall, daß sich einer versteckt hat und nicht mit denanderen fortgerannt ist. Ich habe fast Mitleid mit so einemWesen, falls sie eines findet.« Er nickte in Richtung aufdas Haus der Calders. »Frau Calder und ein paar anderehaben einige der Verletzten aufgenommen, deren Häuserzerstört worden sind. Wenn die Seherin sich um Tamgekümmert hat, werden wir ihm ein Bett suchen.Vielleicht in der Schenke. Der Bürgermeister hat das

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schon angeboten, aber Nynaeve meint, die Verwundetenwürden schneller gesund, wenn nicht so viele zusammenlägen.«

Rand sank auf die Knie. Er schüttelte die Deckengurteab und überprüfte erschöpft Tams Decke. Tam bewegtesich nicht und gab auch keinen Laut von sich, selbst dann,als Rands Hände ihn zur Seite schoben. Aber wenigstensatmete er noch. Mein Vater. Das andere war nurFiebergeschwätz. »Was wird, wenn sie zurückkommen?«fragte er schwerfällig. »Das Rad webt, wie das Rad eswünscht«, sagte Meister Luhhan unsicher. »Falls siezurückkommen... Na ja, jetzt sind sie erst mal weg. Alsosammeln wir auf, was übriggeblieben ist, und bauenwieder neu, was sie niedergerissen haben.« Er seufzte.Sein Gesicht erschlaffte, als er sich den Nacken rieb Jetzterst erkannte Rand, daß dieser schwere Brocken vonMann genauso erschöpft war wie er, vielleicht sogar nochmehr. Der Schmied sah sich um und schüttelte den Kopf.»Ich glaube nicht, daß das heute noch ein tolles Bel-Tine-Fest wird. Aber wir werden durchkommen. Wir haben'simmer geschafft.« Plötzlich hob er seine Axt wieder aufund machte ein entschlossenes Gesicht. »Auf mich wartetArbeit. Mach dir keine Sorgen, Junge. Die Seherin wirdsich um ihn kümmern, und das Licht hilft uns allen. Undwenn das Licht nicht hilft, dann helfen wir uns ebenselbst. Denk daran, wir sind die Menschen der ZweiFlüsse!«

Immer noch auf Knien sah Rand das Dorf an, währendder Schmied wegging. Er sah es eigentlich zum erstenmalrichtig an. Meister Luhhan hatte recht, dachte er und warüberrascht, daß er von diesem Anblick nicht überraschtwar. Die Menschen wühlten immer noch in den Ruinenihrer Häuser herum, aber sogar nach der kurzen Zeit, die

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er hier verbracht hatte, war es ersichtlich, daß sich vielevon ihnen nun zielbewußt bewegten. Er fühlte förmlichihre wachsende Entschlossenheit. Aber er fragte sicheines: Sie hatten Trollocs gesehen, hatten sie aber auch denschwarzgekleideten Reiter sehen können? Hatten sie seinenHaß gefühlt?

Nynaeve und Egwene traten aus dem Calder-Haus, under sprang auf die Füße. Oder vielmehr: Er versuchteaufzustehen, aber es glich mehr einem Vorwärtsfallen,und er landete beinahe mit dem Gesicht im Staub.

Die Seherin kniete sich sofort neben die Bahre, ohneihn eines Blickes zu würdigen. Ihr Gesicht und Kleidwaren noch schmutziger als bei Egwene, und um ihreAugen lagen die gleichen schwarzen Ringe. Doch auchihre Hände waren sauber. Sie legte die Hände auf TamsGesicht und zog mit den Daumen seine Augenlider hoch.Mit einem Stirnrunzeln entfernte sie die Decken und schobdie Bandage zur Seite, um die Wunde zu untersuchen.Bevor Rand erkennen konnte, wie die Verletzung aussah,hatte sie das zusammengefaltete Tuch schon wiederdarübergezogen. Seufzend zog sie Decke und Umhang biszu Tams Kinn hoch und strich sie glatt. Sie war dabei sosanft, als brächte sie ein Kind zu Bett.

»Ich kann nichts tun«, sagte sie. Sie mußte die Händeauf die Knie stützen, um sich aufzurichten. »Es tut mirleid, Rand.«

Einen Moment lang stand er verständnislos da, als siesich wieder dem Haus zuwandte, dann jedoch rannte er ihrnach und riß sie herum, damit sie ihn ansah.

»Er stirbt!« schrie er.»Ich weiß«, sagte sie einfach, und die

Selbstverständlichkeit in ihrem Tonfall warf ihn um.»Du mußt etwas tun! Du mußt! Du bist die Seherin!«

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Schmerz verzerrte ihr Gesicht, aber nur einen Momentlang. Dann strahlte sie wieder hohlwangigeEntschlossenheit aus, und ihre Stimme klang fest undgefühllos. »Ja, das bin ich. Ich weiß, was ich mit meinenMedikamenten anfangen kann, und ich weiß, wann es zuspät ist. Glaubst du, ich täte nichts, wenn es noch eineMöglichkeit gäbe? Aber ich kann nicht. Ich kann nicht,Rand. Und es gibt noch andere, die mich brauchen.Menschen, denen ich helfen kann.«

»Ich habe ihn so schnell wie möglich zu dir gebracht«,murmelte er. Obwohl das Dorf in Ruinen lag, hatte erimmer noch auf die Seherin gehofft. Diese Hoffnung warnun gestorben, und er fühlte sich ausgebrannt.

»Ich weiß«, sagte sie sanft. Sie berührte seine Wangemit der Hand. »Du bist nicht schuld daran. Mehr als dukonnte niemand tun. Es tut mir leid, Rand, aber ich mußmich um andere kümmern. Unsere Schwierigkeitenbeginnen gerade erst, fürchte ich.«

Blicklos starrte er ihr nach, bis sich die Haustür hinterihr geschlossen hatte. Er konnte keinen anderen Gedankenfassen als den, daß sie nicht half.

Plötzlich taumelte er einen Schritt zurück, als sichEgwene ihm an die Brust warf und ihn umarmte. Sonstwar ihre Umarmung schon fest genug, um ihm eingelegentliches Ächzen zu entlocken, diesmal jedoch blickteer nur still zur Tür hinüber, hinter der seine Hoffnungenverschwunden waren.

»Es tut mir so leid, Rand«, sagte sie an seiner Brust.»Licht, ich wollte, ich könnte irgend etwas tun!«

Betäubt schlang er die Arme um sie. »Ich weiß. Ich...ich muß etwas tun, Egwene. Ich weiß nicht, was, aber ichkann ihn nicht so...« Seine Stimme brach, und sieumarmte ihn noch fester.

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»Egwene!« Bei Nynaeves Ruf vom Haus her fuhrEgwene zusammen. »Egwene, ich brauche dich! Undwasch dir die Hände noch einmal!«

Sie befreite sich aus Rands Umarmung. »Sie brauchtmeine Hilfe, Rand.«

»Egwene!«Er glaubte, ein Schluchzen zu hören, als sie wegrannte.

Dann war sie fort, und er stand allein neben der Bahre. E rblickte einen Augenblick lang hinunter auf Tam und fühltenichts als leere Hilflosigkeit. Plötzlich wurde sein Gesichthart. »Der Bürgermeister wird wissen, was zu tun ist«,sagte er und hob die Bahre erneut an. »Der Bürgermeisterweiß es.« Bran al'Vere wußte immer einen Rat. Mitmüder Hartnäckigkeit machte er sich auf zurWeinquellenschenke.

Ein Dhurran-Hengst trabte an ihm vorbei. Die Endender Zugriemen seinen Geschirrs waren an den Knöchelneiner großen Gestalt festgemacht, die in eine schmutzigeDecke gehüllt war. Mit steifen Haaren bedeckte Armewurden hinter der Decke hergeschleift, und an einer Eckeder Decke lugte ein Ziegenhorn hervor. Die Zwei Flüssewaren kein Ort, wo Legenden zu schrecklicherWirklichkeit würden. Wenn Trollocs irgendwohin paßten,dann in die Welt dort draußen, an Orte, wo es Aes Sedaigab und falsche Drachen, und das Licht allein wußte, wasnoch aus den Erzählungen der Gaukler zum Lebenerwachte. Nicht die Zwei Flüsse. Nicht geradeEmondsfeld.

Als er über das Grün ging, sprachen ihn Leute an,einige aus den Ruinen ihrer Häuser heraus, und fragtenihn, ob sie helfen könnten. Er hörte sie nur alsHintergrundgeräusche, selbst wenn sie ein Stück nebenihm hergingen, als sie ihn ansprachen. Ohne zu denken,

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brachte er Worte hervor, die ihnen mitteilten, er benötigekeine Hilfe, und für alles werde schon gesorgt. Als sie ihnmit sorgenvollen Blicken verließen und einige nochversicherten, sie würden Nynaeve Bescheid geben,bemerkte er auch das kaum. Er gestattete sich nur einenbewußten Gedanken, und der galt dem Zweck seinesMarsches. Bran al'Vere konnte etwas tun, um Tam zuhelfen. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, was dassein mochte. Aber der Bürgermeister wäre in der Lage,etwas zu tun, sich etwas einfallen zu lassen.

Die Schenke war fast vollständig von der Zerstörungdes Dorfes unberührt geblieben. An den Wänden konnteman ein paar Brandspuren erkennen, aber die rotenDachziegel schimmerten im Sonnenschein so hell wieimmer. Alles, was vom Wagen des Händlersübriggeblieben war, waren die rußigen eisernen Reifenum die Räder, die gegen den verkohlten, am Bodenliegenden Kasten gelehnt waren. Die großen Halbringe,die die Plane getragen hatten, ragten schief, jeder in einemanderen Winkel, daraus hervor.

Thom Merrilin saß mit übergeschlagenen Beinen aufden Steinen der alten Grundmauer und schnippeltesorgfältig mit einer kleinen Schere angesengte Enden vonden Flicken auf seinem Umhang. Als Rand in seine Nähekam, legte er Umhang und Schere beiseite. Ohne zufragen, ob Rand Hilfe brauche, hüpfte er herunter undnahm das hintere Ende der Bahre auf.

»Rein? Natürlich, natürlich. Mach dir keine Sorgen,Junge. Eure Seherin wird sich seiner schon annehmen. Ichhabe sie bei der Arbeit seit letzter Nacht beobachtet, undsie packt das richtig an und hat einige Fähigkeiten. Eskönnte wirklich viel schlimmer sein. Letzte Nacht sindeinige ums Leben gekommen. Vielleicht nicht viele, aber

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jeder ist für mich einer zuviel. Der alte Fain ist einfachverschwunden, und das ist für mich am schlimmsten. DieTrollocs essen alles. Du solltest dem Licht danken, daßdein Vater noch hier ist und lebt und die Seherin ihnheilen kann.«

Rand blockte die Stimme ab – Er ist mein Vater –, sodaß die Worte zu bedeutungslosen Lauten wurden, die ergenausowenig beachtete wie das Summen einer Fliege. E rkonnte nicht noch mehr Sympathie und keine weiterenVersuche ertragen, seine Stimmung zu heben. Nicht jetzt.Nicht, bis Bran al'Vere ihm gesagt hatte, wie man Tamhelfen konnte.

Plötzlich stand er vor der Tür der Schenke, und da waretwas mit einem angekohlten Stock draufgekritzelt: eineschwarze Träne, die auf ihrer Spitze stand. So viel wargeschehen, daß es ihn kaum überraschte, die Tür derWeinquellenschenke mit dem Drachenzahn markiert zufinden. Warum jemand den Wirt oder seine Familie desBösen beschuldigte oder daß sie Unglück brächten,verstand er nicht, doch die Nacht hatte ihn von einemüberzeugt: Alles war möglich. Wirklich alles.

Als der Gaukler ihn mit der Bahre anstieß, hob er denTürriegel und trat ein.

Der Schankraum war bis auf Bran al'Vere leer undkalt, denn niemand hatte Zeit gefunden, Feuer zu machen.Der Bürgermeister saß an einem der Tische und stippteseine Schreibfeder mit konzentrierter Miene in einTintenfaß. Sein graumelierter Kopf war über eineSchriftrolle gebeugt. Sein Nachthemd hatte er nachlässigin die Hose gesteckt – es beulte sich um die breiten Hüftenkräftig aus –, und er kratzte unbewußt einen nackten Fußmit den Zehen des anderen. Seine Füße waren schmutzig,als sei er mehr als einmal draußen gewesen, ohne sich die

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Mühe zu machen, Stiefel anzuziehen, und das trotz deskalten Wetters. »Was habt Ihr für Probleme?« wollte erwissen, ohne aufzublicken. »Macht schnell! Ich muß zweiDutzend Dinge auf einmal erledigen und noch mehr, wasschon vor einer Stunde hätte erledigt werden sollen. Alsohabe ich wenig Zeit und Geduld. Also? Raus damit!«

»Meister al'Vere?« sagte Rand. »Es ist mein Vater.«Der Kopf des Bürgermeisters fuhr hoch. »Rand?

Tam?« Er warf die Feder auf den Tisch und sprang soschnell auf, daß er den Stuhl umstieß. »Vielleicht hat unsdas Licht doch nicht ganz verlassen. Ich fürchtete, ihrwäret beide tot. Bela galoppierte eine Stunde, nachdem dieTrollocs weg waren, ins Dorf, schaumbedeckt undschnaufend, als sei sie den ganzen Weg vom Hof hierherso galoppiert, und ich dachte... Keine Zeit jetzt. Wirbringen ihn hinauf.« Er packte das Ende der Bahre undschob den Gaukler mit der Schulter zur Seite. »Ihr holtdie Seherin, Meister Merrilin. Und sagt ihr, ich habe Euchaufgetragen, sie ganz schnell zu holen! Sei beruhigt, Rand.Du kommst bald in ein gutes, weiches Bett. Geht, Gaukler,geht schon!«

Thom Merrilin verschwand durch die Tür, bevor Randetwas sagen konnte. »Nynaeve hat nichts getan. Sie sagt,sie könne ihm nicht helfen. Ich wußte... Ich hoffte, Ihrhättet eine Idee.«

Meister al'Vere sah Rand scharf an und schüttelte dannden Kopf. »Wir werden sehen, Junge. Wir werden sehen.«Aber er hörte sich nicht mehr so selbstbewußt an.»Bringen wir ihn zu Bett. Zumindest kann er dortangenehmer liegen.«

Rand ließ sich auf die Treppe am Ende desSchankraums zuschieben. Er bemühte sich sehr, dieHoffnung zu bewahren, daß Tam wieder gesund würde,

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aber er hatte sich damit von Anfang an auf dünnem Eisbewegt, das erkannte er jetzt, und die plötzlichen Zweifelin der Stimme des Bürgermeisters erschütterten ihnvollends.

Im zweiten Stock der Schenke befand sich ein halbesDutzend sauberer, gut eingerichteter Zimmer mit Blickauf das Grün. Sie wurden meist von den Händlern odervon Leuten aus Wachhügel oder Devenritt benutzt, unddie Kaufleute, die jedes Jahr kamen, waren oft überrascht,hier solch gemütliche Zimmer vorzufinden. Drei davonwaren belegt, und der Bürgermeister drängte Rand zueinem der leerstehenden Räume.

Schnell wurden der Bettüberwurf und die Decke aufdem breiten Bett zurückgezogen, und Tam wurde auf diedicke Federmatratze gelegt. Ein Gänsedaunenkissen kamunter seinen Kopf. Er gab keinen Laut von sich, als erumgebettet wurde, außer seinem heiseren Atmen – nichteinmal ein Stöhnen –, aber der Bürgermeister tat RandsÄngste mit einer Handbewegung ab und trug ihm auf,Feuer zu machen, um die Kälte aus dem Raum zuvertreiben. Während Rand Holz und Zunder aus der Kisteneben dem Kamin nahm, zog Bran die Vorhänge zurückund ließ das Morgenlicht herein. Dann wusch er sanftTams Gesicht. Als der Gaukler zurückkehrte, erwärmtedas lodernde Feuer im Kamin bereits den Raum.

»Sie kommt nicht«, verkündete Thom Merrilin, als erin das Zimmer stolzierte. Er sah Rand böse an. Seinebuschigen weißen Brauen zogen sich zusammen. »Du hastmir nicht gesagt, daß sie ihn schon gesehen hat. Sie hatmir fast den Kopf abgerissen.«

»Ich dachte... Ich weiß nicht... Vielleicht konnte derBürgermeister etwas ausrichten, ihr möglicherweiseklarmachen...« Die Hände zu zitternden Fäusten geballt,

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wandte sich Rand vom Kamin ab und Bran zu. »Meisteral'Vere, was kann ich tun?« Der füllige Mann schütteltehilflos den Kopf. Er legte ein frisch befeuchtetes Tuch aufTams Stirn und vermied es, Rand in die Augen zu sehen.»Ich kann nicht einfach zuschauen, wie er stirbt, Meisteral'Vere! Ich muß etwas tun.« Der Gaukler machte eineBewegung, als wolle er etwas sagen. Rand ging eifrigdarauf ein. »Habt Ihr eine Idee? Ich versuche alles!«

»Ich habe mich nur gefragt«, sagte Thom und stopftedie langstielige Pfeife mit seinem Daumen, »ob derBürgermeister weiß, wer den Drachenzahn an seine Türgekritzelt hat.« Er starrte in den Pfeifenkopf, sah dannTam an und steckte die Pfeife zwischen die Zähne, ohnesie anzuzünden. Er seufzte. »Jemand scheint ihn nichtmehr leiden zu können. Oder vielleicht kann dieserJemand seine Gäste nicht leiden.«

Rand sah ihn enttäuscht an und wandte sich ab, um insFeuer zu starren. Seine Gedanken tanzten wie dieFlammen, und wie die Flammen drehten sie sich immernur um eines. Er würde nicht aufgeben. Er konnte nichteinfach nur herumstehen und zuschauen, wie Tam starb.Mein Vater, dachte er grimmig. Mein Vater. Wenn dasFieber einmal unterdrückt war, konnte man das auch nochaufklären. Aber zuerst das Fieber. Nur – wie?

Bran al'Veres Mund verzog sich, als er auf RandsRücken blickte, und der Blick, den er dem Gauklerzuwarf, hätte gereicht, um einen Bären zurückschreckenzu lassen. Aber Thom sah ihn nur erwartungsvoll an, alshabe er nichts bemerkt.

»Vielleicht hat das einer der Congars getan oder einCoplin«, sagte der Bürgermeister schließlich, »nur dasLicht allein weiß, wer. Das ist eine große Brut, und wenndie jemandem etwas Übles nachsagen können oder auch

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nicht, dann tun sie es. Im Gegensatz zu denen redet CennBuie, als hätte er Honig auf der Zunge.«

»Die Wagenkolonne, die kurz vor Sonnenaufgangankam«, meinte der Gaukler. »Die hatten noch nichteinmal einen Trolloc aus der Ferne gerochen und wolltennur wissen, wann das Fest anfange. Als ob die nicht sehenkonnten, daß das halbe Dorf niedergebrannt war.«

Meister al'Vere nickte erbittert. »Ein Zweig derFamilie. Aber der Rest ist auch nicht viel besser. DieserNarr Darl Coplin verbrachte die halbe Nacht damit, vonmir zu verlangen, ich solle Moiraine und Meister Lan ausdem Dorf weisen, als ob ohne sie überhaupt noch ein Dorfhier stünde.«

Rand war der Unterhaltung ohne besondereAufmerksamkeit gefolgt, aber die letzte Bemerkung reizteihn zu einer Frage. »Was haben sie getan?«

»Also, sie hat aus klarem Himmel einen Kugelblitzherabgerufen«, erwiderte Meister al'Vere. »Hat ihn direktin die Trollocs hineinzischen lassen. Der kann Bäumezerschmettern. Den Trollocs ging es nicht anders.«

»Moiraine?« fragte Rand ungläubig, und derBürgermeister nickte.

»Frau Moiraine. Und Meister Lan gebrauchte seinSchwert wie einen Wirbelwind. Sein Schwert? Der ganzeMann ist eine Waffe und schien sich an zehn Ortengleichzeitig aufzuhalten. Versengen soll mich das Licht,aber ich würde es immer noch nicht glauben, wenn ichnicht rausgegangen wäre und gesehen hätte...« Er riebsich mit der Hand über die kahle Kopfhaut. »DieWinternachtbesuche fangen gerade an, wir haben dieHände voll von Geschenken und Honigkuchen und dieKöpfe voll Wein, und dann knurren die Hunde, undplötzlich rasen die beiden aus der Schenke, rennen durch

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das Dorf und schreien etwas von Trollocs. Ich dachte, siehätten zuviel getrunken. Schließlich – Trollocs? Und dann,bevor irgend jemand wußte, was eigentlich geschah,waren diese – Dinger plötzlich neben uns auf den Straßen,hieben mit ihren Schwertern nach Menschen, warfenFackeln in Häuser und heulten, daß einem das Blutgefrieren konnte.« Er stieß einen Laut des Ekels aus.»Wir rannten herum wie Hühner, wenn der Fuchs aufdem Hühnerhof ist, bis Meister Lan uns dazu brachte, unszu wehren.«

»Kein Grund, so hart mit Euch selbst ins Gericht zugehen«, sagte Thom. »Ihr habt Euch wacker geschlagen.Nicht jeder Trolloc, der jetzt dort draußen liegt, ist vonden Händen der beiden gefallen.«

»Mmmm... ja, stimmt schon.« Meister al'Vere nahmsich sichtlich zusammen. »Ich kann es trotzdem kaumglauben. Eine Aes Sedai in Emondsfeld. Und Meister Lanist ein Behüter.«

»Eine Aes Sedai?« flüsterte Rand. »Das kann nicht sein.Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist keine... Sie scheintnicht...«

»Glaubst du, sie tragen Abzeichen?« fragte derBürgermeister sarkastisch. »Aes Sedai vielleicht, und zwarquer über den Rücken gemalt? Und vielleicht noch›Gefahr. Wegbleiben!‹« Plötzlich klatschte er sich gegendie Stirn. »Aes Sedai. Ich bin ein alter Narr undgebrauche meinen Verstand nicht mehr. Es gibt eineMöglichkeit, Rand, falls du sie wahrnehmen willst. Ichkann es dir nicht befehlen, und wenn es um mich ginge,weiß ich nicht, ob ich mich trauen würde.«

»Eine Möglichkeit?« fragte Rand. »Ich werde jedeMöglichkeit nutzen, wenn es hilft.«

»Aes Sedai können heilen, Rand. Versengen soll mich

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das Licht, Junge, aber du hast doch die Geschichten auchgehört. Sie können heilen, wo Medikamente versagen.Gaukler, Ihr hättet Euch noch eher daran erinnern sollenals ich. Gauklergeschichten sind voll von Aes Sedai.Warum habt Ihr nichts gesagt und mich statt dessenherumrätseln lassen?«

»Ich bin hier fremd«, sagte Thom, wobei er seineunangezündete Pfeife sehnsuchtsvoll ansah, »und HerrCoplin ist nicht der einzige, der mit Aes Sedai nichts zutun haben will. Ich habe nichts dagegen, daß derVorschlag von Euch kommt.«

»Eine Aes Sedai«, murmelte Rand und versuchte, sichdie Frau, die ihn angelächelt hatte, als Figur in einerdieser Geschichten vorzustellen. Hilfe von einer Aes Sedaisei manchmal schlimmer als überhaupt keine Hilfe,erzählten die Geschichten, wie Gift in einer Pastete, undwie die Köder beim Angeln, so hatten ihre Geschenkeimmer einen Haken. Plötzlich erschien ihm die Münze inseiner Tasche, die ihm Moiraine gegeben hatte, so heißwie brennende Kohle. Er konnte sich gerade nochbeherrschen, sie nicht aus seinem Mantel zu reißen undaus dem Fenster zu werfen.

»Niemand will etwas mit Aes Sedai zu tun haben,Junge«, sagte der Bürgermeister langsam. »Es ist dieeinzige Möglichkeit, die ich sehe, und die Entscheidung istnicht leicht. Ich kann sie nicht für dich treffen, aber ichhabe von Frau Moiraine – ich sollte sie wohl besserMoiraine Sedai nennen, denke ich – bisher nur Guteserlebt. Manchmal«, – er sah Tam bedeutungsvoll an –»muß man ein Risiko eingehen, auch wenn es nur einekleine Hoffnung bedeutet.«

»Einige Geschichten sind auf ihre Art ziemlichübertrieben«, fügte Thom hinzu, als reiße man die Worte

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aus ihm heraus. »Jedenfalls manche. Und schließlich,Junge: Du hast gar keine andere Wahl.«

»Ja«, seufzte Rand. Tam hatte immer noch keinenMuskel bewegt; seine Augen waren eingesunken, als lägeer bereits die ganze Woche über krank danieder. »Ich...Ich gehe und suche sie.«

»Auf der anderen Seite der Brücke«, sagte der Gaukler,»wo sie – die toten Trollocs beseitigen. Aber seivorsichtig, Junge! Aes Sedai haben ihre eigenen Gründe,etwas zu tun, und das sind manchmal ganz andere Gründe,als wir glauben.«

Das letztere rief er Rand durch die geöffnete Tür nach.Der mußte den Schwertgriff festhalten, damit ihm dieScheide nicht zwischen die Beine geriet und ihn beimRennen zu Fall brachte, doch er nahm sich nicht die Zeit,es abzuschnallen. Er polterte die Treppe hinunter undstürzte aus der Schenke. Seine Erschöpfung war in diesemAugenblick vergessen. Eine Chance für Tam, wie klein sieauch sein mochte, war genug, um dafür die Folgen einerschlaflosen Nacht zu überwinden, wenigstens für eineWeile. Er wollte nicht daran denken, daß eine Aes Sedaiihm diese Chance bot und was wohl der Preis dafür seinwürde. Und tatsächlich einer echten Aes Sedaigegenüberzustehen... Er atmete tief ein und versuchtenoch schneller zu rennen.

Die Bel-Tine-Feuer befanden sich ein gutes Stückjenseits der letzten Häuser im Norden des Dorfes an derWestwaldseite der Straße nach Wachhügel. Der Windtrieb die ölig-schwarzen Qualmsäulen immer noch vomDorf weg, aber trotzdem lag ein ekelhaft süßer Gestank inder Luft, als habe man einen Braten um Stunden zu langeam Spieß geröstet. Rand würgte, als er es roch, undschluckte dann schwer, als er die Quelle des Gestanks

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erkannte. Ein schöne Bescherung, so etwas mit Bel-Tine-Feuern anzustellen! Die Männer, die sich um die Feuerkümmerten, hatten sich Tücher über Nase und Mundgebunden, aber ihren Grimassen konnte man ansehen, daßder Essig, in den sie die Tücher getaucht hatten, nichtausreichte. Und wenn er auch den Gestank besiegte, sowußten sie doch, daß er da war und sie wußten auch, wassie taten.

Zwei Männer schnallten die Beine eines Trollocs vonden Zugleinen eines der großen Dhurrans ab. Lan, derneben der Leiche kauerte, hatte die Decke weit genugzurückgezogen, um die Schultern und denziegenbockähnlichen Kopf des Trollocs freizulegen. AlsRand sich näherte, löste der Behüter gerade einMetallabzeichen – einen blutrot emaillierten Dreizack –von einer dornenversehenen Schulter der schwarzenTrolloc-Rüstung.

»Ko'bal«, verkündete er. Er warf das Abzeichen mitder Handfläche in die Luft und fing es mit einem Knurrenwieder auf. »Damit sind es jetzt schon sieben Horden.«

Moiraine, die mit übereinandergeschlagenen Beinen amBoden saß, schüttelte müde den Kopf. Quer über denKnien lag ihr ein Wanderstock, der von einem Ende zumanderen mit geschnitzten Ranken und Blumen bedecktwar, und ihr Kleid sah so zerknittert aus, als habe sie es zulange getragen. »Sieben Horden. Sieben! So viele habensich seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr zusammengetan.Eine schlechte Nachricht nach der anderen. Ich habeAngst, Lan. Ich dachte, wir hätten einen Tagesmarschaufgeholt, aber vielleicht sind wir noch weiterzurückgefallen als vorher.«

Rand sah sie an und war nicht in der Lage, ein Wortherauszubringen. Eine Aes Sedai. Er hatte versucht, sich

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selbst zu überzeugen, daß sie nun, da er wußte, wer... wassie war, auch nicht anders als zuvor aussah, und zu seinerÜberraschung war es auch so. Sie wirkte nicht mehr sofrisch – das Haar war wirr, und über die Nase zog sich eindünner Rußstreifen –, aber auch nicht allzu sehrverändert. Sicher mußte es irgendein Anzeichen geben,was sie als Aes Sedai kennzeichnete. Andererseits – wenndas äußere Erscheinungsbild das innere widerspiegelte unddie Geschichten recht hatten, dann sollte sie eher wie einTrolloc aussehen als wie eine schöne Frau, die nichts vonihrer Würde verlor, während sie im Schmutz saß. Und siekonnte Tam helfen. Was es auch immer kosten sollte, daswar wichtiger als alles andere.

Er holte tief Luft. »Frau Moiraine... Ich meine,Moiraine Sedai.« Beide drehten sich um und sahen ihn an.Er erstarrte unter ihren Blicken. Das war nicht derruhige, lächelnde Blick, an den er sich vom Grün hererinnerte. Ihr Gesicht war müde, doch ihre dunklenAugen gehörten einem Falken. Aes Sedai. Zerstörer derWelt. Marionettenspieler, die an Fäden zogen und daranThrone und Völker tanzen ließen – nach welcher Melodie,das wußten nur die Frauen von Tar Valon.

»Ein wenig Licht in der Dunkelheit«, murmelte die AesSedai. Sie erhob die Stimme. »Wie steht es mit deinenTräumen, Rand al'Thor?«

Er starrte sie verständnislos an. »Meine Träume?«»Eine Nacht wie diese kann einem Mann zu Alpträumen

verhelfen, Rand. Wenn du Alpträume hast, mußt du mirdavon erzählen. Manchmal habe ich ein Mittel gegenschlimme Träume.«

»Es ist alles in Ordnung mit meinen... Es ist meinVater. Er ist verletzt. Es ist nicht viel mehr als einKratzer, aber das Fieber verzehrt ihn. Die Seherin hilft

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nicht. Sie sagt, sie kann nicht helfen. Aber dieGeschichten...« Sie zog eine Augenbraue hoch, und erhielt inne und schluckte. Licht, gibt es eigentlich eineGeschichte über eine Aes Sedai, in der sie nicht dieBösewichtin ist? Er sah den Behüter an, aber Lan schiensich mehr für den toten Trolloc zu interessieren als fürRands Worte. Er stammelte unter ihrem Blick weiter:»Ich... äh... man sagt; Aes Sedai könnten heilen. Wenn Ihrihm helfen könnt... Was Ihr auch für ihn tun könnt... Wases auch kostet... Ich meine...« Er atmete tief ein undrasselte den Rest herunter. »Ich bezahle jeden Preis, der inmeiner Macht steht, wenn Ihr ihm helft. Alles.«

»Jeden Preis«, überlegte Moiraine laut und mehr zusich selbst. »Über den Preis sprechen wir später, Rand,wenn überhaupt. Ich kann dir nichts versprechen. EureSeherin weiß schon, was sie tut. Ich werde meinMöglichstes tun, aber meine Macht reicht nicht aus, umdas Rad am Drehen zu hindern.«

»Früher oder später holt der Tod jeden von uns«, sagteder Behüter ernst, »außer, sie dienen dem Dunklen König,und nur Narren sind bereit, den Preis dafür zu zahlen.«

Moiraine gab ein Glucksen von sich. »Verbreite keinesolche Weltuntergangsstimmung, Lan! Wir haben Grundzum Feiern. Einen kleinen wohl nur, aber immerhin.« Sienahm den Stock, um auf die Beine zu kommen. »Bringmich zu deinem Vater, Rand! Ich werde ihm helfen, sogut ich es vermag. Zu viele hier haben meine Hilfe vonvornherein abgelehnt. Auch sie haben die Geschichtengehört«, fügte sie trocken hinzu.

»Er ist in der Schenke«, sagte Rand. »Hier entlang. Undich danke Euch. Danke!«

Sie folgten, doch sein schneller Schritt holte rasch einenVorsprung heraus. Ungeduldig verhielt er, damit sie

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aufholen konnten, und lief dann wieder voraus, so daß ererneut warten mußte.

»Bitte beeilt Euch!« spornte er sie an. Er war so davonbesessen, Tam endlich Hilfe zu bringen, daß er die eigeneTollkühnheit nicht bemerkte: zu versuchen, eine Aes Sedaianzutreiben. »Das Fieber verzehrt ihn.«

Lan sah ihn zornig an. »Kannst du nicht sehen, wiemüde sie ist? Selbst mit einem Angreal glich das, was sieletzte Nacht tat, dem Umherlaufen mit einem Sack vollerSteine auf dem Rücken. Ich weiß nicht, ob du das wertbist, Schäfer, gleichgültig, was sie sagt.«

Rand schluckte und hielt den Mund.»Nur ruhig, mein Freund«, sagte Moiraine. Ohne ihren

Schritt zu verlangsamen, hob sie den Arm und klopftedem Behüter auf die Schulter. Seine Gestalt ragteschützend über ihr auf, als könne er ihr durch seine Näheallein Kraft verleihen. »Du denkst immer nur an meinWohl. Warum sollte er nicht genauso in bezug auf seinenVater denken?« Lan blickte finster drein, schwieg aber.»Ich komme, so schnell ich kann, Rand, das versprecheich dir.«

Angesichts der Härte ihrer Augen und der Sanftheitihrer Stimme wußte Rand nicht, was er ihr glaubenkonnte. Vielleicht paßte beides zusammen. Aes Sedai. Jetzthatte er den Kopf in der Schlinge. Er paßte seinen Schrittdem ihren an und bemühte sich, nicht darübernachzudenken, über welchen Preis sie später verhandelnwürden.

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KAPITEL 8

Eine sichere Zuflucht

Noch während er durch die Tür trat, suchte Rands Blickseinen Vater – seinen Vater, ganz gleich, was irgendjemand behauptete. Tam hatte sich keine Handbreitbewegt. Seine Augen waren immer noch geschlossen, undsein Atem ging unregelmäßig, stoßweise und röchelnd.Der weißhaarige Gaukler brach seine Unterhaltung mitdem Bürgermeister ab, der sich gerade über das Bettbeugte und nach Tam sah, und blickte Moiraine unsicheran. Die Aes Sedai achtete nicht auf ihn. Sie blickte nur aufTam und sah ihn mit gerunzelter Stirn eindringlich an.

Thom steckte sich die kalte Pfeife zwischen die Zähne,zog sie aber schnell wieder heraus und sah sie böse an.»Der Mensch kann nicht einmal in Frieden rauchen«,murmelte er. »Ich werde mich mal vergewissern, ob nichtirgendein Bauer meinen Umhang stiehlt, um seine Kuh zuwärmen. Dort draußen kann ich wenigstens meine Pfeiferauchen.« Damit eilte er aus dem Zimmer.

Lan sah ihm nach, das kantige Gesicht so ausdrucksloswie ein Fels. »Ich mag diesen Mann nicht. Er hat etwas ansich, das mich mißtrauisch macht. Letzte Nacht habe ichihn nirgends gesehen.«

»Er war da«, sagte Bran, der Moiraine ebenfallsunsicher beobachtete. »Er muß dagewesen sein. SeinUmhang ist nicht vom Kaminfeuer versengt worden.«

Rand war es gleich, wenn der Gaukler sich die Nachtüber im Stall versteckt hatte. »Mein Vater?« wandte ersich bittend an Moiraine.

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Bran öffnete den Mund, doch bevor er sprechenkonnte, sagte Moiraine: »Laßt mich mit ihm allein,Meister al'Vere! Ihr könnt hier nichts tun, außer mir imWeg zu stehen.«

Bran zögerte ein Weilchen. Er war hin- undhergerissen zwischen dem Protest, sich in der eigenenSchenke herumkommandieren zu lassen, und der Angst,einer Aes Sedai den Gehorsam zu verweigern. Schließlichrichtete er sich auf und schlug Rand auf die Schulter.»Komm mit, Junge! Lassen wir Moiraine Sedai ihre...äh... ihre... Du kannst mir unten bei einer Menge Sachenbehilflich sein. Bevor du dich versiehst, ruft Tam nachseiner Pfeife und einem Krug Bier.«

»Kann ich bleiben?« fragte Rand, obwohl Moiraine nurTam zu bemerken schien. Brans Hände verkrampften sich,doch Rand gab nicht auf. »Bitte! Ich werde Euch nicht imWeg stehen. Ihr werdet nicht einmal merken, daß ich dabin. Er ist mein Vater«, fügte er so flehentlich hinzu, daßes ihn selbst überraschte und sich die Augen desBürgermeisters erstaunt weiteten.

»Ja, ja«, sagte Moiraine ungeduldig. Sie hatte ihrenUmhang und Stock nachlässig auf den einzigen Stuhl imZimmer geworfen und krempelte gerade die Ärmel ihresKleids bis zu den Ellbogen hoch. Auch während sie mitanderen sprach, galt ihre ganze Aufmerksamkeit Tam.»Setz dich dort drüben hin. Du auch, Lan.« Sie zeigtefahrig in Richtung einer langen Bank, die an einer Wandstand. Sie musterte Tam langsam von Kopf bis Fuß, aberRand hatte das eigenartige Gefühl, daß sie auf irgendeineArt durch ihn hindurchblickte. »Ihr könnt miteinandersprechen, wenn ihr wollt«, fuhr sie abwesend fort, »aberbitte leise. Jetzt geht bitte, Meister al'Vere. Dies ist einKrankenzimmer und kein Versammlungsraum. Sorgt

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dafür, daß ich nicht gestört werde.«Der Bürgermeister brummte ein wenig, allerdings nicht

sonderlich laut, drückte nochmals Rands Schulter undschloß dann folgsam, wenn auch zögernd die Tür hintersich. Die Aes Sedai murmelte leise vor sich hin, knietesich vor das Bett und legte die Hände leicht auf TamsBrust. Sie schloß die Augen, bewegte sich längere Zeitnicht und gab auch keinen Laut von sich. In denGeschichten wurden die Taten der Aes Sedai immer vonBlitzen und Donnerhall begleitet oder von anderenAnzeichen großer Tatkraft und Macht. Der Macht. DerEinen Macht aus der Wahren Quelle, die das Rad der Zeitantrieb. Das war kein Thema, über das Rand gernnachdachte – Tam im Einfluß der Einen Macht und er imgleichen Raum, wo sie angewandt wurde. Es war schonschlimm genug, sich im gleichen Dorf zu befinden. Soweiter es allerdings beurteilen konnte, konnte Moirainedurchaus eingeschlafen sein. Und doch glaubte er, daßTams Atmung leichter klang. Sie mußte irgend etwasgetan haben. Er konzentrierte sich ganz aufs Beobachten.Als Lan ihn leise ansprach, fuhr er zusammen. »Das isteine schöne Waffe, die du da trägst. Könnte es sein, daßauf der Klinge ein Reiher zu sehen ist?«

Einen Augenblick lang starrte er den Behüter an undbegriff nicht, wovon der sprach. Er hatte Tams Schwertin der Aufregung ganz vergessen. Es schien auch nichtmehr so schwer zu sein. »Ja, stimmt. Was tut sie?«

»Ich hätte nicht geglaubt, an einem Ort wie diesem einmit dem Reiher gekennzeichnetes Schwert anzutreffen«,sagte Lan.

»Es gehört meinem Vater.« Er sah Lans Schwert an.Der Griff war gerade noch unter dem Umhang sichtbar.Die beiden Schwerter sahen sich recht ähnlich, auch wenn

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auf dem des Behüters kein Reiher sichtbar war. Er blicktewieder zum Bett hinüber. Tams Atmung klang wirklichleichter, und das Röcheln war nicht mehr zu hören. Dawar er ganz sicher. »Er hat es vor langer Zeit gekauft.«

»Seltsam, daß ein Schäfer ein solches Schwert kauft.«Rand erlaubte sich einen Seitenblick auf Lan. Wenn ein

Fremder an einem Schwert solches Interesse zeigte, wardas für ihn Schnüffelei. Wenn es aber ein Behüter war...Trotzdem fühlte er die Notwendigkeit einer Rechtfer-tigung. »Soviel ich weiß, hat er es niemals benutzt. E rsagte, es sei nutzlos. Jedenfalls bis letzte Nacht. Ich wußtebis dahin nicht einmal, daß er es besaß.«

»So, er nannte es also nutzlos. Er muß nicht immerdieser Meinung gewesen sein.« Lan berührte die Scheidean Rands Seite kurz mit einem Finger. »Es gibt Orte, woder Reiher als Kennzeichen des herausragenden Schwert-kämpfers gilt. Diese Klinge muß seltsame Wege gegangensein, bis sie bei einem Schäfer von den Zwei Flüssenlandete.«

Rand überhörte die unausgesprochene Frage. Moirainehatte sich immer noch nicht bewegt. Tat die Aes Sedaiwirklich etwas? Er schauderte und rieb sich die Arme,unschlüssig, ob er überhaupt wissen wollte, was sie tat.Eine Aes Sedai.

Eine Frage kam ihm in den Sinn, die er eigentlich nichtstellen wollte, doch eine Antwort wollte er schon haben.»Der Bürgermeister...« Er räusperte sich und atmete tiefein. »Der Bürgermeister sagte, der einzige Grund, warumvom Dorf noch etwas übriggeblieben ist, wärt Ihr undsie.« Er schaffte es, den Behüter anzusehen. »Wenn manEuch etwas über einen Mann im Wald gesagt hätte... einenMann, der den Leuten Angst einjagt, wenn er sie nuransieht... hätte Euch das gewarnt? Ein Mann, dessen Pferd

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lautlos einhergeht? Und der Wind berührt seinen Mantelnicht? Hättet Ihr dann gewußt, was geschehen würde?Hättet Ihr und Moiraine Sedai das Unglück verhindernkönnen, wenn Ihr von ihm gewußt hättet?«

»Nicht ohne ein halbes Dutzend meiner Schwestern«,sagte Moiraine, und Rand fuhr hoch. Sie kniete immernoch am Bett, aber sie hatte die Hände von Tamgenommen und sich halb umgedreht, um die beiden aufder Bank anzusehen. Ihre Stimme blieb leise, doch ihreAugen nagelten Rand an die Wand. »Wenn ich bei derAbreise von Tar Valon gewußt hätte, daß ich hierTrollocs und einen Myrddraal finden würde, hätte ich einhalbes Dutzend von ihnen mitgebracht – oder auch einDutzend, und wenn ich sie an den Haaren hätteherschleifen müssen. Was mich betrifft, hätte auch eineWarnung einen Monat vorher keinen Unterschiedgemacht. Vielleicht. Ein einzelner Mensch kann eben nursoviel tun, selbst wenn man die Eine Macht zur Verfügunghat, und letzte Nacht haben sich in diesem Gebiet vielleichtmehr als hundert Trollocs herumgetrieben. Eine ganzeFaust.«

»Es wäre trotzdem gut gewesen, es im voraus zuwissen«, sagte Lan scharf. Die Schärfe in seiner Stimmegalt Rand. »Wo genau hast du ihn gesehen und wann?«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Moiraine. »Ichmöchte nicht, daß der Junge glaubt, er trage an etwas dieSchuld, wenn das nicht der Fall ist. Es ist genausogutmeine Schuld. Dieser verfluchte Rabe gestern mit seinemeigenartigen Verhalten hätte mich warnen sollen. Genauwie du, mein alter Freund.« Sie schnalzte ärgerlich mitder Zunge. »Ich war überheblich bis zum Hochmut undsicher, daß der Einfluß des Dunklen Königs nicht so weitreichen könne. Und auch nicht in diesem Maße. Noch

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nicht. So sicher war ich.«Rand zwinkerte. »Der Rabe? Ich verstehe nicht.«»Aasfresser.« Lans Mund verzog sich angeekelt. »Die

Lakaien des Dunklen Königs finden oft Spione unter denKreaturen, die sich vom Tod ernähren. Raben und Krähenzu meist. In den Städten sind es manchmal Ratten.«

Ein Schauer lief Rand den Rücken hinunter. Raben undKrähen als Spione des Dunklen Königs? Überall sah manzur Zeit Raben und Krähen. Der Einfluß des DunklenKönigs, hatte Moiraine gesagt. Der Dunkle König warimmer da – das wußte er –, doch wenn man im Lichtging, sich bemühte, ein gutes Leben zu führen und ihnnicht beim Namen nannte, dann konnte er einem nichtstun. Das glaubten jedenfalls alle; jeder sog diese Lehreschon mit der Muttermilch ein. Aber Moiraine schiensagen zu wollen...

Sein Blick fiel auf Tam, und alle anderen Gedankenverschwanden aus seinem Kopf. Das Gesicht seines Vaterswar viel weniger stark gerötet als zuvor, und die Atmunghörte sich beinahe normal an. Rand wäre aufgesprungen,hätte ihn Lan nicht am Arm festgehalten. »Ihr habt esgeschafft!«

Moiraine schüttelte den Kopf und seufzte. »Noch nicht.So hoffe ich zumindest. Die Waffen der Trollocs werdenin einem Tal namens Thakan'dar geschmiedet, am Hangdes Shayol Ghul. Einige Waffen werden vom Bösen diesesOrts erfaßt; das Metall enthält etwas vom Bösen. Diesevergifteten Klingen schlagen Wunden, die ohne Hilfe nichtheilen, oder sie verursachen ein tödliches Fieber,fremdartige Krankheiten, die unsere Medizin nicht heilenkann. Ich habe die Schmerzen deines Vaters gestillt, aberdas Gift des Bösen steckt immer noch in ihm. Wenn mansich nicht mehr um ihn kümmert, wird es schwellen und

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ihn verzehren.«»Aber Ihr verlaßt ihn nicht!« Rands Worte waren halb

Bitte und halb Befehl. Er war erschrocken, als ererkannte, daß er so zu einer Aes Sedai gesprochen hatte,doch sie schien seinen Tonfall nicht zu bemerken.

»Nein, das tue ich nicht«, stimmte sie zu. »Ich bin sehrmüde, Rand, und ich hatte seit letzter Nacht keineMöglichkeit, mich auszuruhen. Normalerweise würde daskeine Rolle spielen, doch bei einer solchen Verletzung...Dies hier«, – sie nahm ein kleines in weiße Seide gehülltesBündel aus ihrer Tasche – »ist ein Angreal.« Sie sahseinen Gesichtsausdruck. »Du hast schon vom Angrealgehört. Gut.«

Unbewußt lehnte er sich zurück, weiter weg von ihrund dem Gegenstand, den sie in der Hand hielt. In ein paarder Geschichten kam ein Angreal vor, ein Überbleibselaus dem Zeitalter der Legenden, das von den Aes Sedaibenutzt wurde, um ihre größten Taten zu vollbringen. E rwar überrascht, als sie eine glatte Elfenbeinfigurauspackte, vom Alter dunklem Braun verfärbt. Sie warnicht länger als ihre Hand und stellte eine Frau inwehenden Gewändern dar, der langes Haar über dieSchultern fiel.

»Wir haben vergessen, wie man sie herstellt«, sagte sie.»Soviel ist verlorengegangen und wird vielleicht niewiedergefunden. Es gibt nur noch so wenige. Beinahehätte der Amyrlin-Sitz mir nicht gestattet, dieses Stückmitzunehmen. Es war gut für Emondsfeld und für deinenVater, daß man mir die Erlaubnis gegeben hat. Aber dudarfst dich nicht von deiner Hoffnung beherrschen lassen.Heute kann ich damit nicht viel mehr erreichen, als ichgestern noch ohne Angreal erreicht hätte. Der Einfluß desDunklen ist stark. Er hat Zeit gehabt, sich zu festigen.«

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»Ihr könnt ihm helfen«, sagte Rand leidenschaftlich.»Ich weiß, daß Ihr es könnt.«

Moiraine lächelte. Nur ihre Lippen verzogen sich dabeiein wenig. »Wir werden sehen.« Dann wandte sie sichwieder Tam zu. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, und inder anderen hielt sie die Elfenbeinfigur. Ihre Augenschlossen sich, und das Gesicht spannte sich inKonzentration. Sie schien kaum zu atmen.

»Der Reiter, von dem du erzählt hast«, sagte Lan leise,»der dir Angst eingejagt hat, das war sicher einMyrddraal.«

»Ein Myrddraal!« rief Rand. »Aber die Blassen sindzwanzig Fuß groß und...« Die Worte erstarben unter demerbarmungslosen Grinsen des Behüters.

»Manchmal, Schäfer, werden die Dinge in denGeschichten größer als in der Wirklichkeit. Glaub mir,die Wahrheit über die Halbmenschen ist groß genug.Halbmensch, Lurk, Blasser, Schattenmann – der Namehängt davon ab, in welchem Land man sich befindet, aberalle bedeuten Myrddraal. Die Blassen sind Abkömmlingevon Trollocs, die fast wieder wie die ursprünglichenMenschen wirken, die von den Schattenlords benütztwurden, um Trollocs zu züchten. Beinahe. Aber wennauch die menschlichen Merkmale in ihnen stärkerausgeprägt sind, so ist es doch der Einfluß des Bösen, derdie Trollocs zu Zerrbildern macht. Halbmenschen habengewisse Kräfte, und zwar von der Art, wie sie vomDunklen König ausgeht. Nur die schwächsten Aes Sedaiunterlägen einem Blassen im Einzelkampf; doch manchergute und treue Mann ist ihnen zum Opfer gefallen. Seitden Kriegen, die das Zeitalter der Legenden beendeten,seit die Verlorenen gebunden wurden, sind dieHalbmenschen das Gehirn, das einer Trolloc-Faust sagt,

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wo sie zuschlagen soll. In den Tagen der Trolloc-Kriegehaben Halbmenschen die Trollocs in die Schlacht geführt,unter dem Kommando der Schattenlords.«

»Er hat mir Angst eingejagt«, sagte Rand sehr leise.»Er hat mich nur angesehen, und...« Ihn schauderte.

»Du mußt dich deshalb nicht schämen, Schäfer. Mirjagen sie auch Angst ein. Ich habe Männer gesehen, die ihrganzes Leben lang als Soldaten kämpften, und wenn sieeinem Halbmensch gegenüberstanden, dann erstarrten siewie ein Kaninchen vor der Schlange. Im Norden, imGrenzgebiet der Großen Fäule, gibt es ein Sprichwort:›Der Blick der Augenlosen bedeutet Angst.‹«

»Die Augenlosen?« fragte Rand, und Lan nickte.»Myrddraal sehen wie die Adler, im Dunklen so gut

wie am Tag, aber sie haben keine Augen. Ich kann mirkaum etwas vorstellen, was noch gefährlicher wäre, alseinem Myrddraal gegenüberzustehen. Moiraine Sedai undich versuchten, den Myrddraal, der gestern abend hierwar, zu töten, und wir versagten jedesmal. Halbmenschenhaben das typische Glück, das vom Dunklen Königausgeht.«

Rand schluckte. »Ein Trolloc sagte, der Myrddraalwolle mit mir sprechen. Ich wußte nicht, was dasbedeutete.«

Lans Kopf fuhr hoch; seine Augen wirkten wie blaueEdelsteine. »Du hast mit einem Trolloc gesprochen?«

»Nicht direkt«, stammelte Rand. Der Blick desBehüters hielt ihn fest wie eine Falle. »Er hat zu mirgesprochen. Er hat gesagt, er würde mir nicht weh tun,und der Myrddraal wolle mit mir reden. Dann hat erversucht, mich zu töten.« Er leckte sich die Lippen undrieb die Hände am genoppten Leder des Schwertgriffs. Inkurzen abgehackten Sätzen beschrieb er seine Rückkehr

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zum Haus. »Statt dessen habe ich ihn getötet«, endete er.»Mehr durch Zufall. Er ist auf mich losgesprungen, undich hatte das Schwert in der Hand.«

Lans Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, sofern einFelsen überhaupt erweichen konnte. »Trotzdem ist dasetwas Erwähnenswertes, Schäfer. Bis letzte Nacht gab eswenige Männer südlich der Grenzgebiete, die von sichbehaupten konnten, sie hätten einen Trolloc gesehen,geschweige denn getötet.«

»Und noch weniger, die einen Trolloc allein und ohneHilfe getötet haben«, sagte Moiraine müde. »Es istvollbracht, Rand. Lan, hilf mir auf!«

Der Behüter sprang zu ihr hin, aber er war langsamerals Rand, der zum Bett eilte. Tams Haut fühlte sich kühlan, obwohl sein Gesicht noch einen fahlen, erschöpftenEindruck machte, als habe er schon lange keine Sonnemehr gesehen. Seine Augen waren noch geschlossen, aberer atmete tief und normal im Schlaf.

»Wird er jetzt wieder ganz gesund?« fragte Randbesorgt.

»Wenn er viel ruht, dann ja«, sagte Moiraine. »Einpaar Wochen im Bett, und er ist wieder so gesund wievorher.« Sie ging unsicher, obwohl sie sich bei Laneingehakt hatte. Er warf ihren Umhang und Stock miteiner Handbewegung vom Stuhl, so daß sie sich auf dasKissen setzen konnte. Mit einem Seufzer ließ sie sichnieder. Dann umwickelte sie langsam und vorsichtig dasAngreal und steckte es wieder in ihre Tasche.

Rands Oberkörper zitterte; er biß sich auf dieUnterlippe, damit er nicht laut loslachte. Gleichzeitigmußte er sich mit einer Hand Tränen aus den Augenwischen. »Ich danke Euch.«

»Im Zeitalter der Legenden«, fuhr Moiraine fort,

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»konnten einige Aes Sedai ein Leben wiederherstellen,wenn nur der kleinste Funke davon übrig war. Aber dieseTage sind lang vorbei – vielleicht für immer. Soviel istverlorengegangen; nicht nur das Geheimnis, wie man einAngreal anfertigt. So vieles könnte vollbracht werden,doch wir wagen es nicht einmal, davon zu träumen, fallswir uns überhaupt daran erinnern. Heute gibt es vielweniger von uns. Einige Talente sind fast verschwundenund viele von denen, die es immer noch gibt, scheinenschwächer ausgeprägt zu sein. Wir benötigen heutzutagesowohl den Willen als auch die Kraft, von denen derKörper zehren kann, sonst können auch die stärksten vonuns keine Heilung mehr vollbringen. Es ist ein Glück, daßdein Vater ein starker Mann ist, körperlich wie geistig. Soverbrauchte er wohl viel Kraft in seinem Kampf umsÜberleben, aber alles, was noch übrig ist, kann er nun zuseiner Erholung gebrauchen. Das wird einige Zeit dauern,doch der Einfluß des Bösen ist verschwunden.«

»Ich kann das niemals wiedergutmachen«, sagte er,ohne die Augen von Tam zu nehmen, »aber ich werdealles für Euch tun, was in meiner Macht steht. Alles!« E rdachte an das Gespräch über Preise und an sein Ver-sprechen. Als er so neben Tam kniete, meinte er es mitdiesem Versprechen sogar noch ernster als zuvor, doch esfiel ihm immer noch nicht leicht, sie anzusehen. »Alles.Solang es dem Dorf und meinen Freunden nicht schadet.«

Moiraine tat die Worte mit einer Handbewegung ab.»Wenn du es für nötig hältst. Ich möchte sowieso mit dirsprechen. Du wirst zweifellos zur gleichen Zeit wie wirdas Dorf verlassen, und dann können wir uns ausführlichunterhalten.«

»Verlassen!« rief er und stand schnell auf. »Ist eswirklich so schlimm? Für mich sahen alle so aus, als

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wollten sie gleich mit dem Wiederaufbau beginnen. Wirsind ziemlich bodenständige Leute hier bei den ZweiFlüssen. Keiner verläßt jemals das Dorf.«

»Rand...«»Und wo sollten wir auch hin? Padan Fain sagte, das

Wetter sei anderswo genauso schlecht. Er ist... Er war...der fahrende Händler. Die Trollocs...« Rand schluckte undwünschte sich, Thom Merrilin hätte ihm nicht erzählt, wasTrollocs aßen. »Meiner Meinung nach ist es das beste, wirbleiben hier, wo wir hingehören, zwischen den ZweiFlüssen, und bauen alles wieder auf. Die Saat ist imBoden, und bald ist es warm genug für die Schafschur. Ichweiß nicht, wer damit angefangen hat, daß wir das Dorfverlassen – ich wette, einer der Coplins –, aber wer esauch war...«

»Schäfer«, unterbrach ihn Lan, »du redest, während duzuhören solltest.«

Er sah beide groß an. Er hatte ziemlich dummes Zeuggeredet, das wurde ihm jetzt klar, und einfachweitergesprochen, als sie versuchte, ihm etwas zuerklären. Während eine Aes Sedai zu sprechen versuchte.Er fragte sich, was er sagen sollte, wie er sichentschuldigen konnte, aber Moiraine lächelte in seineGedanken hinein.

»Ich verstehe dich, Rand«, sagte sie und er hatte dasunangenehme Gefühl, daß sie das wirklich tat. »Denk dirnichts dabei.« Ihr Mund spannte sich, und sie schüttelteden Kopf. »Ich habe das, wie ich sehe, schlecht angepackt.Wahrscheinlich hätte ich mich zuerst ausruhen sollen. Dubist es, der das Dorf verlassen wird, Rand. Du mußtgehen, um deines Dorfes willen.«

»Ich?« Er räusperte sich und versuchte es nochmals.»Ich?« Diesmal klang es ein wenig besser. »Warum muß

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ich gehen? Ich verstehe das alles nicht. Ich will gar nichtweg.«

Moiraine blickte Lan an, und der Behüter löste dieverschränkten Arme. Er sah Rand unter seinem ledernenStirnband hervor an, und Rand fühlte sich wieder, alswerde er auf einer unsichtbaren Waage gewogen. »Hast dugewußt«, fragte Lan plötzlich, »daß einige Häuser nichtangegriffen wurden?«

»Das halbe Dorf liegt in Schutt und Asche«, protestierteer, aber der Behüter wischte den Einwand mit der Handbeiseite.

»Einige Häuser wurden nur angezündet, umVerwirrung zu stiften. Hinterher wurden sie von denTrollocs übersehen, genau wie die Leute, die darausflohen, sofern sie nicht tatsächlich dem eigentlichenAngriff im Weg standen. Die meisten Leute, die von denentfernteren Höfen hereinkamen, sahen nicht einmal einTrolloc-Haar und wenn, dann auch nur aus einigerEntfernung. Die meisten wußten nicht einmal, daß etwaslos war, bis sie das Zerstörungswerk sahen.«

»Ich habe etwas über Darl Coplin gehört«, sagte Randlangsam. »Ich schätze, er hat es einfach nicht begriffen.«

»Zwei Bauernhöfe wurden angegriffen«, fuhr Lan fort.»Eurer und noch einer. Wegen Bel Tine waren alle, dieauf dem anderen Hof wohnen, schon im Dorf. VieleMenschen wurden gerettet, weil der Myrddraal dieBräuche im Gebiet der Zwei Flüsse nicht kannte. Das Festund die Winternacht machten es ihm fast unmöglich, seineAufgabe zu erfüllen, aber das wußte er nicht.«

Rand sah Moiraine an, die sich in ihren Stuhlhineinkuschelte, doch sie schwieg und beobachtete ihn nurund hatte einen Finger an die Lippen gelegt. »Unser Hofund wessen Hof noch?« fragte er schließlich.

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»Der Aybara-Hof«, antwortete Lan. »Hier inEmondsfeld griffen sie zuerst die Schmiede an, dann dasHaus des Schmieds und dann Meister Cauthons Haus.«

Rands Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Das istdoch verrückt«, brachte er gerade noch heraus. Dann fuhrer zusammen, als Moiraine sich aufrichtete. »Nichtverrückt, Rand«, sagte sie. »Zielbewußt. Die Trollocskamen nicht aus Zufall nach Emondsfeld, und was sietaten, das taten sie nicht aus Mordlust und Freude amNiederbrennen, auch wenn sie ihren Spaß daran hatten.Sie wußten, was – oder besser: wen – sie suchten. DieTrollocs kamen, um junge Männer eines bestimmtenAlters zu fangen oder zu töten, die in der Nähe vonEmondsfeld wohnen.«

»Mein Alter?« Rands Stimme zitterte, und es kümmerteihn nicht einmal. »Licht! Mat. Was ist mit Perrin?«

»Sie leben und sind wohlauf«, versicherte ihmMoiraine, »wenn auch ein bißchen schmutziger.«

»Ban Crawe und Lem Thane?«»Waren niemals in Gefahr«, sagte Lan. »Zumindest

nicht mehr als alle anderen.«»Aber sie haben den Reiter, den Blassen, auch gesehen,

und sie sind im gleichen Alter wie ich.«»Meister Crawes Haus wurde nicht einmal beschädigt«,

sagte Moiraine, »und der Müller mit seiner Familieverschlief den Angriff, bis sie von dem Lärm gewecktwurden. Ban ist zehn Monate älter als du und Lem achtMonate jünger.« Sie lächelte trocken angesichts seinerÜberraschung. »Ich habe dir gesagt, daß ich Fragenstellte. Und ich habe auch gesagt, junge Männer einesbestimmten Alters. Du und deine beiden Freunde, ihr seidaltersmäßig nur ein paar Wochen auseinander. Euch dreisuchte der Myrddraal und niemanden sonst!«

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Rand trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Eswar ihm höchst unangenehm, daß sie ihn so ansahen, alskönnten ihre Augen in seinem Hirn lesen und alleswahrnehmen, was darin verborgen lag. »Was können sievon uns wollen? Wir sind nur Bauern, Schäfer.«

»Diese Frage kann in der Gegend der Zwei Flüsse nichtbeantwortet werden«, sagte Moiraine ruhig, »doch dieAntwort ist wichtig. Das zeigt uns das Auftauchen vonTrollocs, wo sie zweitausend Jahre lang nicht mehrgesehen worden waren.«

»Es gibt eine Menge Berichte über Trolloc-Überfälle«,sagte Rand stur. »Wir hatten eben hier noch nie einen.Behüter kämpfen die ganze Zeit über gegen Trollocs.«

Lan schnaubte. »Junge, ich rechne damit, am Rand derGroßen Fäule auf Trollocs zu treffen, aber nicht hier, fastsechshundert Tagesmärsche weiter südlich. Das war einÜberfall letzte Nacht, wie ich ihn in Shienar erwarte oderin einem der Grenzlande.«

»In einem von euch«, erklärte Moiraine, »oder in allendreien sieht der Dunkle König eine Gefahr.«

»Das... Das ist unmöglich.« Rand stolperte zum Fensterund blickte hinaus auf das Dorf und auf die Menschen, dieinmitten der Ruinen arbeiteten. »Es ist mir gleich, wasgeschehen ist, aber das ist unmöglich.« Etwas auf demGrün zog seinen Blick an. Er sah genauer hin underkannte dann, daß es der angekohlte Stumpf desFrühlingsbaums war. Ein schönes Bel Tine mit einemKrämer, einem Gaukler und Fremden. Er fror bei demGedanken und schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Nein,ich bin Schäfer. Der Dunkle König kann mich nichtmeinen.«

»Es machte große Mühe«, sagte Lan ernst, »so vieleTrollocs so weit entfernt einzusetzen, ohne von den

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Grenzlanden bis Caemlyn und noch weiter Aufsehen zuerregen. Ich wüßte gern, wie sie das fertiggebracht haben.Glaubst du wirklich, sie haben das alles angestellt, nur umein paar Häuser niederzubrennen?«

»Sie kommen zurück«, fügte Moiraine hinzu.Rand hatte schon den Mund geöffnet, um Lan zu

widersprechen, aber dieser Satz erstickte seine Worte imAnsatz. Er fuhr zu ihr herum. »Zurück? Könnt Ihr sienicht aufhalten? Ihr habt das doch letzte Nacht auchgeschafft, und dabei wurdet Ihr überrascht. Jetzt wißt Ihr,daß sie da sind.«

»Vielleicht«, antwortete Moiraine. »Ich könnte TarValon benachrichtigen, um einige meiner Schwesternanzufordern. Sie könnten möglicherweise hier ankommen,bevor wir sie brauchen. Auch der Myrddraal weiß, daßich hier bin, und wird vielleicht deshalb nicht angreifen,zumindest nicht offen, solange er keine Verstärkungbekommt – Myrddraal und Trollocs. Genügend Aes Sedaiund Behüter könnten die Trollocs zurückschlagen, obwohlich nicht sagen kann, wie viele Schlachten wir dazubenötigen würden.«

Eine Vision tanzte ihm durch den Kopf: Emondsfeldvöllig niedergebrannt. Alle Bauernhöfe in Schutt undAsche. Und Wachhügel und Devenritt und Taren-Fähredazu. Nur Asche und Blut. »Nein«, sagte er, und er fühlte,wie etwas in seinem Innern zerbrach, wie etwas seinemZugriff entglitt. »Deshalb muß ich fort, nicht wahr? DieTrollocs kommen nicht zurück, wenn ich nicht mehr hierbin.« Eine letzte Spur von Sturheit ließ ihn hinzufügen:»Wenn sie wirklich hinter mir her sind.«

Moiraines Augenbrauen hoben sich, als sei sieüberrascht, daß er immer noch nicht überzeugt war, aberLan sagte: »Möchtest du die Existenz deines Dorfes dafür

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riskieren, Schäfer? Der ganzen Zwei Flüsse?«Rands Sturheit verflog. »Nein«, sagte er wieder und

fühlte diese Leere in seinem Innern erneut. »Perrin undMat müssen auch fort, ja?« Die Zwei Flüsse verlassen.Sein Heim und seinen Vater verlassen. Wenigstens würdees Tam besser gehen. Wenigstens könnte er sich von ihmbestätigen lassen, daß alles, was er auf der Haldenstraßegesagt hatte, Unsinn war. »Wir könnten nach Baerlongehen, denke ich, oder vielleicht sogar nach Caemlyn. Ichhabe gehört, daß in Caemlyn mehr Menschen wohnen alsim ganzen Gebiet der Zwei Flüsse. Dort wären wirsicher.« Er versuchte zu lachen, doch es klang hohl. »Ichhabe früher davon geträumt, Caemlyn zu sehen. Ich hättenie geglaubt, daß mein Wunsch auf diese Weise erfülltwürde.«

Nach langem Schweigen sagte Lan schließlich: »Ichwürde nicht damit rechnen, in Caemlyn wirklich inSicherheit zu sein. Wenn die Myrddraal dich unbedingtfangen wollen, werden sie auch dort eine Möglichkeitfinden. Mauern können einen Halbmenschen nicht langeaufhalten. Und du wärst ein Narr, begriffest du nichtendlich, daß sie wirklich unbedingt deiner habhaft werdenwollen.«

Rand hatte geglaubt, die tiefsten Tiefen derNiedergeschlagenheit bereits erreicht zu haben, doch nunwurde es noch ein wenig schlimmer.

»Es gibt einen sicheren Ort«, sagte Moiraine sanft, undRand spitzte die Ohren. »In Tar Valon wärst du bei denAes Sedai und den Behütern geborgen. Selbst während derTrolloc-Kriege wagten die Mächte des Dunklen Königsnicht, die Leuchtenden Mauern anzugreifen. Und als sie esdennoch taten, führte dieser eine Versuch zu ihrer größtenNiederlage überhaupt. In Tar Valon ist alles Wissen

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zusammengetragen, das wir Aes Sedai seit der Zeit desWahns erwarben. Einige Fragmente gehen sogar auf dasZeitalter der Legenden zurück. Wenn überhaupt, dannwirst du in Tar Valon erfahren, warum die Myrddraalnach dir suchen. Warum der Vater der Lügen nach dirverlangt. Das kann ich dir versprechen.«

Eine Reise bis zum fernen Tar Valon war fastunvorstellbar. Eine Reise an einen Ort, an dem er von AesSedai umgeben wäre. Natürlich hatte Moiraine Tamgeheilt – oder es sah wenigstens so aus –, aber es gab janoch alle diese Geschichten... Es war schon unangenehmgenug, sich im gleichen Raum mit einer Aes Sedai zubefinden, aber in einer Stadt voll von ihnen? Und immernoch hatte sie ihren Preis nicht genannt. Man mußteimmer bezahlen, hieß es in den Geschichten.

»Wie lange wird mein Vater schlafen?« fragte erschließlich. »Ich... Ich muß es ihm sagen. Er soll nichtaufwachen und erfahren, daß ich weg bin.« Er glaubte,von Lan einen Seufzer der Erleichterung zu hören. Er sahden Behüter neugierig an, doch Lans Gesicht war soausdruckslos wie immer.

»Es ist unwahrscheinlich, daß er aufwacht, bevor wirabreisen«, sagte Moiraine. »Ich will bald nach demvölligen Einbruch der Dunkelheit aufbrechen. Selbst eineinziger Tag Aufenthalt könnte sich als tödlich erweisen.Es ist am besten, du hinterläßt ihm eine Botschaft.«

»In der Nacht?« meinte Rand zweifelnd, und Lannickte.

»Der Halbmensch wird früh genug herausfinden, daßwir weg sind. Wir sollten ihm seine Aufgabe nicht nocherleichtern.«

Rand machte sich an den Decken seines Vaters zuschaffen. Der Weg nach Tar Valon war sehr weit. »In

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diesem Fall... In diesem Fall werde ich nun besser gehenund Mat und Perrin suchen.«

»Darum kümmere ich mich.« Moiraine stand energischauf und legte sich den Umhang mit plötzlichwiederhergestellter Lebhaftigkeit um. Sie legte ihm eineHand auf die Schulter, und er bemühte sich sehr, nichtzusammenzuzucken. Sie drückte nicht fest zu, doch es warein eiserner Griff, der ihn so sicher hielt wie dergegabelte Stock die Schlange. »Es ist am besten, wenn wirall das für uns behalten. Verstehst du? Die gleichen Leute,die den Drachenzahn auf die Tür der Schenke kritzelten,könnten uns Schwierigkeiten bereiten, wenn sie Bescheidwüßten.«

»Ich verstehe.« Er atmete erleichtert auf, als sie ihreHand wegnahm. »Ich lasse dir von Frau al'Vere etwas zuessen bringen«, fuhr sie fort, als habe sie seine Reaktiongar nicht bemerkt. »Dann mußt du schlafen. Es wird eineanstrengende Reise heute nacht, selbst wenn du ausgeruhtbist.«

Die Tür schloß sich hinter ihnen, und Rand stand daund blickte auf seinen Vater hinunter. Er sah ihn an undsah doch nichts. Bis zu dieser Minute war ihm nie bewußtgewesen, daß Emondsfeld ebenso ein Teil von ihm warwie er ein Teil von Emondsfeld. Jetzt wurde es ihm klar,weil er spürte, daß es dieses Gefühl gewesen war, dasgerade in ihm zerbrochen war. Nun war er irgendwievom Dorf getrennt. Der Schäfer der Nacht suchte ihn. Eswar unmöglich – er war nur ein Bauer –, aber dieTrollocs waren gekommen, und Lan hatte in einerHinsicht recht: Er durfte nicht die Existenz des Dorfesgefährden, nur aus dem Gefühl heraus, Moiraine könnesich irren. Er konnte es nicht einmal jemandem erzählen;die Coplins würden deswegen bestimmt einen ganz

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schönen Wirbel veranstalten. Er mußte einer Aes Sedaivertrauen.

»Weck ihn jetzt nicht auf!« sagte Frau al'Vere, als derBürgermeister die Tür hinter sich und seiner Frau schloß.Unter dem Tuch, das über dem Tablett in ihren Händenlag, duftete es köstlich und warm. Sie stellte es auf derTruhe an der Wand ab und schob Rand energisch vomBett weg.

»Frau Moiraine hat mir gesagt, was er braucht«, sagtesie sanft, »und dazu gehört nicht, daß du ihm vorErschöpfung auf den Kopf fällst. Ich habe dir etwas zuessen mitgebracht. Laß es nicht kalt werden.«

»Ich möchte nicht, daß Ihr sie so nennt«, sagte Branverdrießlich. »Moiraine Sedai ist die korrekte Anrede. Siekönnte böse werden.«

Frau al'Vere tätschelte ihm die Wange. »Überlaß dasruhig mir. Sie und ich, wir haben uns lange unterhalten.Und sprich leise. Wenn du Tam aufweckst, werde ichgenauso wild wie Moiraine Sedai.« Sie legte die Betonungauf Moiraines Titel und zog Brans Beharrlichkeit aufdiese Art ins Lächerliche. »Ihr beiden steht mir bitte nichtim Weg herum.« Mit einem liebevollen Lächeln inRichtung ihres Mannes wandte sie sich dem Bett und Tamzu.

Meister al'Vere sah Rand verdrossen an. »Sie ist eineAes Sedai. Die Hälfte der Frauen im Dorf benimmt sich,als hätte sie einen Sitz im Frauenzirkel, und die andereHälfte, als wäre sie ein Trolloc. Keine von ihnen scheintzu merken, daß man bei einer Aes Sedai vorsichtig seinmuß. Die Männer schauen sie von der Seite her an, aberwenigstens tun sie nichts, um sie herauszufordern.«

Vorsicht! dachte Rand. Es war nicht zu spät dafür,vorsichtig zu werden. »Meister al'Vere«, sagte er

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langsam, »wißt Ihr, wie viele Bauernhöfe angegriffenwurden?«

»Ich habe nur von zweien gehört, darunter Eurer.« DerBürgermeister hielt inne, zog die Stirn kraus und zuckteschließlich mit den Achseln. »Wenn man betrachtet, washier geschehen ist, dann sind das nicht viele. Es solltemich ja froh stimmen, aber... Na ja, vielleicht hören wirbis heute abend von weiteren.«

Rand seufzte. Nicht nötig, danach zu fragen, welcherandere Hof es war. »Hier im Dorf, haben sie da... Ichmeine, konnte man an irgendwas erkennen, was sieeigentlich wollten?«

»Wollten, Junge? Ich weiß nicht, ob sie irgendwasBestimmtes wollten es sei denn, uns alle zu töten. Es warso, wie ich schon sagte. Die Hunde bellten, und MoiraineSedai und Lan rannten auf die Straße, und dann schriejemand, Meister Luhhans Haus und die Schmiede stündenin Flammen. Abell Cauthons Haus loderte auf – eigentlichseltsam, es steht ja in der Dorfmitte. Jedenfalls warendann die Trollocs überall. Nein, ich glaube nicht, daß sieetwas Bestimmtes wollten.« Er lachte kurz und hart, hörteaber nach einem wachsamen Blick auf seine Frau damitauf. Sie drehte sich nicht um. »Um die Wahrheit zusagen«, fuhr er leiser fort, »schienen sie fast genausoverwirrt wie wir. Ich bezweifle, daß sie erwartet hatten,hier eine Aes Sedai oder einen Behüter zu finden.«

»Das nehme ich auch an«, sagte Rand mit einerGrimasse.

Wenn Moiraine in dieser Hinsicht also die Wahrheitgesagt hatte, dann stimmte wohl auch der Rest. EinAugenblick lang überlegte er, ob er den Bürgermeisterum Rat bitten solle, aber offensichtlich wußte Meisteral'Vere nicht mehr über die Aes Sedai als jeder andere im

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Dorf. Außerdem traute er sich nicht einmal demBürgermeister zu erzählen, was sich wirklich abspielte –was Moiraine behauptete. Er wußte nicht, wovor er sichmehr fürchtete: ausgelacht zu werden oder daß ihmgeglaubt wurde. Er rieb seinen Daumen am Griff vonTams Schwert. Sein Vater war draußen in der Weltgewesen; er mußte mehr über die Aes Sedai wissen als derBürgermeister. Aber wenn Tam tatsächlich außerhalb derZwei Flüsse gewesen war, konnte dann nicht auch das, waser im Westwald gesagt hatte... Er strich sich mit beidenHänden durchs Haar und ließ den Gedankengangunvollendet.

»Du brauchst Schlaf, Junge«, sagte der Bürgermeister.»Das stimmt«, fügte Frau al'Vere hinzu. »Du fällst ja

beinahe von den Füßen.«Rand blinzelte sie erstaunt an. Er hatte nicht einmal

bemerkt, daß sie sich von seinem Vater abgewandt hatte.Er brauchte wirklich Schlaf; schon der bloße Gedanke ließihn gähnen.

»Du kannst das Bett im Nebenzimmer haben«, sagte derBürgermeister. »Das Feuer ist schon angezündet.«

Rand sah seinen Vater an. Tam schlief noch fest. E rmußte daraufhin wieder gähnen. »Ich bleibe lieber hierdrinnen, wenn es Euch nichts ausmacht. Falls eraufwacht.«

Was Krankenzimmer betraf, hatte Frau al'Vere dasSagen, und der Bürgermeister überließ ihr dieEntscheidung. Sie zögerte nur einen Moment, bevor sienickte. »Aber laß ihn von allein aufwachen. Wenn du ihnim Schlaf störst...« Er versuchte, ihr zu sagen, er werdeihn nicht stören, aber die Worte wurden von einemerneuten Gähnen erstickt. Sie schüttelte lächelnd denKopf. »Du wirst selbst im Nu einschlafen. Wenn du schon

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hierbleiben willst, dann roll dich dort am Feuer ein. Undtrink ein wenig von der Rindfleischbrühe, bevor du dieAugen schließt.«

»Werde ich«, sagte Rand. Er hätte alles getan, um indiesem Zimmer zu bleiben. »Und ich werde ihn nichtwecken.«

»Das will ich hoffen«, sagte Frau al'Vere fest, abernicht unfreundlich. »Ich bringe dir ein Kopfkissen und einpaar Decken.«

Als sich die Tür endlich hinter ihnen schloß, zog Randden einzigen Stuhl des Zimmers hinüber zu Tams Bett undsetzte sich so hin, daß er Tam beobachten konnte. Es warja schön und gut, wenn Frau al'Vere von Schlafen sprach– sein Kiefer knackte, als er ein weiteres Gähnenunterdrückte –, aber jetzt konnte er noch nichteinschlafen. Tam wachte vielleicht jeden Moment auf undwürde dann möglicherweise nur ganz kurz wach bleiben.Wenn das geschah, mußte Rand für ihn da sein.

Er verzog das Gesicht und drehte sich auf dem Stuhlein wenig herum. Er drückte den Schwertgriff von denRippen weg. Er hatte ein schlechtes Gewissen, unbedingtjemandem erzählen zu wollen, was Moiraine ihm erzählthatte, aber dies war schließlich Tam. Dies war... Ohne eszu bemerken, schob sich sein Kinn entschlossen vor. MeinVater. Ich kann meinem Vater erzählen, was ich will.

Er verdrehte sich noch ein bißchen mehr auf dem Stuhlund legte den Kopf zurück auf die Lehne. Tam war seinVater, und niemand konnte ihm befehlen, was er seinemVater zu erzählen oder nicht zu erzählen hatte. Er mußtenur wach bleiben, bis Tam erwachte. Er mußte nur...

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KAPITEL 9

Was das Rad sagt...

Rands Herz raste, weil er so schnell rannte. Voller Grauenstarrte er auf die kahlen Hügel, die ihn umgaben. Dies warkein Ort, an dem der Frühling nur sehr spät einzog; hierhatte es nie einen Frühling gegeben, und es würde nieFrühling werden. Nichts wuchs in der kalten Krume, dieunter seinen Stiefeln knirschte; nicht einmal kleineFlechten zeigten sich. Er stolperte vorbei an Felsbrocken,die zweimal so hoch waren wie er. Die Steine waren mitStaub überzogen, als hätte sie noch nie ein Regentropfenberührt. Die Sonne war ein angeschwollener blutroterFeuerball, feuriger noch als am heißesten Sommertag, undhell genug, um ihm die Augen zu versengen, und sie hobsich grell vom bleiernen Kessel des Himmels ab, an demvon Horizont zu Horizont scharf umrissene silberne undschwarze Wolken einherrollten und kochten. Trotz dervielen wirbelnden Wolken war jedoch kein Hauch einerBrise über dem Land zu spüren, und trotz der bösartigenSonne brannte die Luft vor Kälte wie im tiefsten Winter.

Rand blickte beim Rennen oft über die Schulter zurück,doch er konnte seine Verfolger nicht sehen. Nur ödeHügel und zerklüftete schwarze Berge. Aus vielen dieserErhebungen stiegen hohe schwarze Rauchsäulen, die sichmit den einherschwellenden Wolken vereinten. Zwarkonnte er seine Jäger nicht sehen, doch er hörte sie, wiesie hinter ihm herheulten. Kehlige Stimmen schrien ihreJagdlust heraus, heulten in Vorfreude auf das Blut, dasbald fließen würde. Trollocs. Sie kamen näher, und seine

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Kraft war beinahe am Ende.In verzweifelter Eile kletterte er zur Spitze eines

scharfkantigen Grats hinauf und fiel dort mit einemÄchzen auf die Knie. Unter ihm befand sich eine steileFelswand, eine tausend Fuß hohe Klippe, die in eineriesige Schlucht abstürzte. Dicke Nebelschwadenbedeckten den Boden der Schlucht. Die dichte graue Masserollte in zornigen Wellen, schlug gegen die Klippe unterihm und brach sich daran, doch viel langsamer, als sich jeeine Welle im Ozean bewegt hatte. Nebelfetzen glühtenfür einen Augenblick rot auf, als flammten unter ihnengroße Feuer, und dann erstarb die Glut wieder. Donnergrollte in den Tiefen der Schlucht, und Blitze zucktendurch das Grau. Manchmal zuckten die Blitze nach obengen Himmel.

Es war nicht die Schlucht selbst, die ihm die Kraftaussaugte und die verbleibende Leere mit Hilflosigkeitfüllte. Aus dem Mittelpunkt des zornigen Wolkengewühlserhob sich ein Berg, höher als alle, die er je in denVerschleierten Bergen gesehen hatte, ein Berg, so schwarzwie der Verlust aller Hoffnung. Diese düstere Steinspitze,ein Dolch, der den Himmel erstach, war der Ursprungseines Verderbens. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, aber erwußte es. Die Erinnerung daran entschlüpfte ihm wieQuecksilber, als er sie zu fassen versuchte, aber sie warvorhanden. Er wußte, daß sie da war.

Unsichtbare Finger berührten ihn, zupften an seinenArmen und Beinen, versuchten, ihn zu dem Berghinzuziehen. Sein Körper zuckte, bereit, zu gehorchen.Arme und Beine versteiften sich ihm, als könne er seineFinger und Zehen in den Stein eingraben. Geisterfädenwickelten sich um sein Herz, zogen ihn, riefen ihn hin zudem aufragenden Berg.

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Tränen rannen ihm über das Gesicht, und er sackte zuBoden. Er fühlte, wie sein Wille zerrann wie Wasser auseinem löchrigen Eimer. Nur ein wenig länger, und erwürde gehen, wohin er gerufen wurde. Er würdegehorchen und tun, was man ihm befahl. Plötzlichentdeckte er ein weiteres Gefühl: Zorn. Schieb ihn, ziehihn – er war doch kein Schaf, das man zum Pferch trieb.Der Zorn verknotete sich in ihm, und er klammerte sichdaran, wie er sich in der Flut an ein Floß geklammerthätte.

Diene mir, flüsterte eine Stimme in seinen gelähmtenVerstand hinein. Eine wohlbekannte Stimme. Wenn ergenau genug hinhörte, da war er sicher, würde er sieerkennen. Diene mir. Er schüttelte den Kopf in demVersuch, die Stimme loszuwerden. Diene mir! E rschwang die Faust in Richtung auf den schwarzen Berg zu.»Das Licht verschlinge dich, Shai'tan!«

Plötzlich lag der Geruch des Todes in der Luft. EineGestalt ragte über ihm auf mit einem Mantel von derFarbe getrockneten Blutes, eine Gestalt mit einemGesicht... Er wollte das Gesicht nicht sehen, das auf ihnherunterblickte. Er wollte nicht an dieses Gesicht denken.Es tat weh, daran zu denken, verbrannte seinen Verstandzu Asche. Eine Hand streckte sich nach ihm aus. Es warihm gleich, ob er über die Kante des Abgrunds fiel. E rwarf sich aus dem Weg dieser Hand. Er mußte weg. Weitweg. Er fiel, schlug in der Luft um sich, wollte schreienund hatte den Atem dazu nicht. Er bekam keine Luftmehr.

Mit einem Mal war er nicht mehr in dem unfruchtbarenLand und fiel auch nicht mehr. Seine Stiefel trampeltenüber winterbraunes Gras, das wie ein Blumenteppichwirkte. Er lachte beinahe vor Glück, als er vereinzelte

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Bäume und Büsche sah, obwohl sie kahl waren; Punkte aufeiner welligen Ebene, die ihn nun umgab. In einigerEntfernung ragte ein einzelner Berg auf, der Gipfelzerbrochen und gespalten, doch dieser Berg strahlte wederAngst noch Verzweiflung aus. Es war einfach ein Berg,wenn er auch ziemlich fehl am Platz wirkte, da keinweiterer Berg sichtbar war.

Ein breiter Strom floß vor dem Berg vorbei, und aufeiner Insel in der Mitte dieses Stroms stand eine Stadt wieaus der Erzählung eines Gauklers, eine Stadt,eingeschlossen von hohen Mauern, die unter der warmenSonne weiß und silbern glänzten. Erleichterung undFreude erfaßten ihn, als er sich den Mauern näherte. E rwußte irgendwie, daß er dahinter Ruhe und Geborgenheitfinden würde. Beim Näherkommen entdeckte erhimmelsstürmende Türme, viele von ihnen durcherstaunliche Stege miteinander verbunden. Hohe Brückenschwangen sich von beiden Flußufern zu der Inselstadt.Sogar aus dieser Entfernung erkannte er das kunstvolldurchbrochene Gemäuer der Pfeiler. Es schien zuzerbrechlich, um der starken Strömung zu widerstehen,die unter ihnen hinweg rauschte. Jenseits dieser Brückenlag die Sicherheit. Zuflucht.

Plötzlich rann ihm ein Schauer durch die Gebeine, seineHaut wurde eisig klamm und die ihn umgebende Luftmodrig und feucht. Ohne zurückzublicken, rannte er los,rannte weg vor dem Verfolger, dessen eisige Fingerseinen Rücken streiften und an seinem Umhang zupften,rannte weg vor der lichtfressenden Gestalt mit demGesicht, das... Er konnte sich an das Gesicht nichterinnern, sah es nur als eine Maske des Schreckens. E rwollte sich nicht an das Gesicht erinnern. Er rannte, undder Boden glitt unter seinen Füßen davon, wellige Hügel

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und flache Ebene... Und er wollte heulen wie einübergeschnappter Hund. Die Stadt entfernte sich von ihm.Je schneller er rannte, desto weiter weg trieben dieleuchtenden weißen Mauern und die Sicherheit. Sie wurdekleiner und kleiner, bis nur ein blasser Fleck am Horizontübrig war. Die kalte Hand seines Verfolgers griff nachseinem Kragen. Er wußte: Berührten ihn diese Finger,dann würde er dem Wahn verfallen. Oder nochschlimmer. Viel schlimmer. Und in dem Moment, als ihndieses Bewußtsein überfiel, stolperte und stürzte er...

»Neeeiiin!« schrie er...... und japste, als er auf die Pflastersteine aufschlug,

daß ihm die Luft wegblieb. Erstaunt stand er auf. Er standin der Auffahrt zu einer jener wundervollen Brücken, dieer gesehen hatte, wie sie den Strom überspannten.Lächelnde Menschen gingen auf beiden Seiten an ihmvorbei, Menschen, die in so viele verschiedene Farbengekleidet waren, daß er an ein Feld wild wachsenderBlumen erinnert wurde. Einige von ihnen sprachen ihnan, doch er verstand sie nicht, obwohl die Worte klangen,als sollte er sie verstehen. Aber die Gesichter warenfreundlich, und die Menschen winkten ihm zu, er solleweitergehen – über die Brücke mit den kunstvollverzierten Steingeländern und weiter zu den leuchtenden,mit Silber durchsetzten Mauern und den Türmen dahinter.In die Sicherheit, die auf ihn wartete.

Er schloß sich der Menge an, die über die Brücke unddurch breite Tore und wuchtige hohe Mauern in die Stadtströmte. Drinnen fand er ein Wunderland, wo dasunscheinbarste Gebäude noch wie ein Palast wirkte. Eswar, als habe man den Erbauern aufgetragen, Stein undZiegel und Platte zu ergreifen und damit Schönheit zuerschaffen, die sterblichen Menschen den Atem raubte.

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Kein Gebäude, kein Denkmal, das er nicht mit großenAugen anstarrte. Musik erfüllte die Straßen, hundertverschiedene Lieder, und alle vereinten sich mit demLärm der Menge in einer großartigen, freudigenHarmonie. Die Düfte süßer Parfüme und beißenderGewürze, wundervoller Speisen und Myriaden vonBlumen trieben durch die Luft, als habe sich jederWohlgeruch der Welt hier versammelt.

Die Straße, über die er die Stadt betreten hatte, breitund mit glatten grauen Steinen gepflastert, erstreckte sichkerzengerade vor ihm bis ins Zentrum der Stadt. Anihrem Ende ragte ein Turm auf, der breiter und höherwar als alle anderen in der Stadt. Er war so weiß wiefrisch gefallener Schnee. In diesem Turm lagen seineSicherheit und das Wissen, das er suchte. Aber diese Stadtwar so grandios, wie er es sich nie erträumt hatte.Bestimmt machte es nichts, wenn er den Gang zum Turmnur ein wenig hinauszögerte. Er bog in eine engere Straßeein, wo Jongleure zwischen Ständen mit fremdartigemObst ihre Kunst zeigten.

Vor ihm am Ende dieser Straße lag ein schneeweißerTurm. Derselbe Turm. Ein Weilchen noch, dachte er undumrundete eine weitere Ecke. Auch am entfernten Endedieser Straße lag der weiße Turm. Stur bog er erneut abund dann wieder, und jedesmal fiel sein Blick auf denAlabasterturm. Er drehte sich um, wollte wegrennen –und hielt inne. Vor ihm – der weiße Turm. Er fürchtetesich davor, über die Schulter zurückzublicken, weil erAngst hatte, der Turm werde sich auch dort zeigen. DieGesichter um ihn herum waren immer noch freundlich,doch nun erfüllt von zerschmetterter Hoffnung, Hoffnung,die er enttäuscht hatte. Immer noch bedeuteten ihm dieLeute, weiterzugehen, gestikulierten bittend. Zum Turm

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hin. In ihren Augen stand verzweifelte Not, und nur erkonnte sie lindern, nur er konnte sie retten. Also gut,dachte er. Schließlich wollte er ja sowieso zu diesemTurm gehen. Gleich nachdem er den ersten Schrittvorwärts getan hatte, verschwand die Enttäuschung vonden Gesichtern der Umstehenden und wandelte sich zueinem Lächeln. Sie gingen mit ihm mit, und kleine Kinderstreuten Blütenblätter vor ihm aus. Er blickte sichverwirrt um, da er sich fragte, für wen wohl die Blumenbestimmt seien, doch hinter ihm befanden sich nur weiterelächelnde Menschen, die ihm bedeuteten, weiterzugehen.Sie müssen für mich sein, dachte er und staunte darüber,daß ihm das plötzlich gar nicht mehr eigenartig vorkam.Das Staunen hielt sich einen Moment und verflog dann;alles war so, wie es sein sollte.

Zuerst begann einer dieser Menschen zu singen, dannein anderer, und schließlich vereinigten sich alle Stimmenzu einer wunderbaren Hymne. Er konnte die Worteimmer noch nicht verstehen, aber mindestens ein Dutzendineinander verwobener Melodien sang von Freude undRettung. Musikanten tollten durch die sichvorwärtsschiebende Menge und ergänzten die Hymne mitFlöten-, Harfen- und Trommelklängen. Alle die Lieder,die er vorher gehört hatte, gingen in diese neue Harmonieüber. Mädchen tanzten um ihn herum, legten ihmGirlanden aus süßduftenden Blumen über und wanden sieum seinen Hals. Sie lächelten ihn an. Ihre Freude schwollmit jedem Schritt, den er tat. Er konnte nicht anders alszurückzulächeln. Seine Füße wollten sich ihrem Tanzanschließen, und kaum hatte er daran gedacht, da tanzte erauch schon, und seine Schritte kamen so sicher, als kenneer sie bereits seit seiner Geburt. Er warf den Kopf in denNacken und lachte; seine Schritte waren beschwingter als

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je zuvor, wenn er mit... Er konnte sich an den Namennicht erinnern aber es erschien ihm auch nicht wichtig.

Es ist dein Schicksal, flüsterte eine Stimme in seinemKopf, und das Flüstern war wie ein Teil des gesamtenLobgesangs um ihn herum.

Wie ein Zweig, der vom Schaumkamm einer Wogegetragen wird, schwemmte ihn die Menge auf einenriesigen Platz im Stadtzentrum, und zum ersten Mal saher, daß sich der weiße Turm aus einem großen hellenMarmorpalast erhob, der weniger gebaut als vielmehr voneinem Bildhauer geformt erschien, mit elegantgeschwungenen Wänden, schwellenden Kuppeln undgraziösen Türmchen, die nach dem Himmel griffen. VorEhrfurcht stockte ihm der Atem. Breite Treppen auskantig geformtem Stein führten vom Platz aus hoch, unddie Menschen blieben am Fuß dieser Treppen stehen, dochihr Lied schwoll immer stärker an. Die andächtigenStimmen trugen seine Füße empor. Dein Schicksal,flüsterte die Stimme eifrig und eindringlich.

Er tanzte nicht mehr, blieb aber keineswegs stehen.Ohne Zögern schritt er die Treppen hinauf. Er gehörtehierher.

Die massiven Türflügel am oberen Ende der Treppewaren mit Runen bedeckt, dermaßen verflochtenen undfeinen Gravierungen, daß er sich keine Klinge vorstellenkonnte, die fein genug wäre, um das fertigzubringen. DasTor öffnete sich, und er schritt hinein. Die Türflügelschlossen sich mit einem Donnerhall hinter ihm.

»Wir haben auf dich gewartet«, zischte der Myrddraal.

Rand schnellte hoch, schnappte nach Luft und zitterte, dieAugen weit aufgerissen. Tam schlief noch in seinem Bett.Langsam beruhigte sich Rands Atem. Halbverglühte

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Holzscheite loderten im Kamin. Um sie herum war einschöner Ring aus Kohle aufgehäuft; jemand mußte dasgetan haben, während er schlief. Zu seinen Füßen lag eineDecke, die ihm beim Hochschnellen heruntergefallen war.Auch die provisorische Bahre war verschwunden, und dieUmhänge waren ordentlich an der Tür aufgehängtworden. Mit einer immer noch zitternden Hand wischte ersich kalten Schweiß von der Stirn. Er fragte sich, ob esden Dunklen König auch dann auf ihn aufmerksammachen könne, wenn er ihn im Schlaf nannte und nicht imwachen Zustand.

Draußen dämmerte es, der Mond stand rund und fetthoch am Himmel, und über den Verschleierten Bergenglitzerten die Abendsterne. Er hatte den Tag verschlafen.Er rieb sich über einen schmerzenden Fleck an der Seite.Offensichtlich war er eingeschlafen, obwohl ihn derSchwertgriff in die Rippen drückte. Das und ein leererMagen und die ereignisreiche Nacht zuvor: kein Wunder,wenn er Alpträume hatte.

Sein Magen knurrte, und so stand er steif auf und tratzum Tisch, auf dem Frau al'Vere das Tablett abgestellthatte. Er zog das weiße Tuch beiseite. Obwohl er einigeZeit geschlafen hatte, war die Rindfleischbrühe nochwarm, genau wie das Brot mit seiner knusprigen Rinde.Es wurde ihm schnell klar, was Frau al'Vere getan hatte:Das Tablett war ausgetauscht worden. Wenn sie einmalbeschlossen hatte, daß jemand eine warme Mahlzeitbrauchte, dann gab sie nicht auf, bis man sie gegessenhatte.

Er trank ein wenig Brühe, legte rasch Fleisch und Käsezwischen zwei Scheiben Brot und stopfte sich alles in denMund. Zwischen den ersten großen Bissen ging er zumBett zurück. Frau al'Vere hatte sich offensichtlich auch

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um Tam gekümmert. Er war ausgezogen worden. SeineKleider lagen nun sauber und zusammengelegt auf demNachttisch, und eine Decke war ihm bis unter das Kinnhochgezogen worden. Als Rand die Stirn seines Vatersberührte, öffnete Tam die Augen. »Da bist du ja, Junge.Marin hat mir gesagt, daß du hier bist, aber ich war nochnicht einmal in der Lage, mich aufzusetzen, um nach dirzu sehen. Sie sagte, du seist zu müde, und sie könne dichnicht wecken, nur damit ich dich sehe. Selbst Bran kannda nichts ausrichten, wenn sie sich etwas in den Kopfgesetzt hat.«

Tams Stimme klang schwach, doch sein Blick war klarund ruhig. Die Aes Sedai hatte recht, dachte Rand.Genügend ausgeruht wird er auch wieder ganz gesund.»Kann ich dir etwas zu essen holen? Frau al'Vere hat einTablett dagelassen.«

»Sie hat mich bereits gefüttert... Falls man das sonennen kann. Gab mir nur ein wenig Brühe. Wie kann einMann Alpträume meiden, wenn er nichts als Brühe im...«Tam befreite eine Hand aus der Decke und berührte dasSchwert an Rands Hüfte. »Dann war es kein Traum. AlsMarin mir sagte, ich sei krank, dachte ich, ich sei... Aberdu bist in Ordnung. Das ist die Hauptsache. Was ist mitdem Hof?«

Rand holte tief Luft. »Die Trollocs haben die Schafegetötet. Ich glaube, auch die Kuh, na ja, und das Haus mußgesäubert werden.« Er brachte ein schwaches Lächelnzustande. »Wir hatten mehr Glück als andere. Sie habendas halbe Dorf niedergebrannt.«

Er erzählte Tam alles, was geschehen war – oderzumindest das meiste. Tam hörte genau zu und schoßmanche Frage auf ihn ab. So mußte er ihm wohl oder übelerzählen, daß er aus dem Wald nochmals zum Haus

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zurückgekehrt war, und das brachte ihr Gespräch auf denTrolloc, den er getötet hatte. Er mußte ihm erzählen, daßNynaeve behauptet hatte, er werde sterben, um zuerklären, warum die Aes Sedai ihn behandelt hatte stattder Seherin. Tam machte große Augen, als er das hörte:eine Aes Sedai in Emondsfeld. Aber Rand fand es nichtnotwendig, jeden Schritt ihrer Flucht vom Hof zuerklären, seine Ängste zu schildern oder den Myrddraalauf der Straße zu erwähnen. Und ganz bestimmt nichtseine Alpträume, als er neben dem Bett schlief. Er sahinsbesondere auch keinen Grund, Tams Fiebergestammelzu wiederholen. Noch nicht. Aber Moiraines Geschichtezu erzählen, ließ sich natürlich nicht vermeiden.

»Das ist nun eine Geschichte, auf die selbst ein Gauklerstolz sein könnte«, murmelte Tam, als Rand fertig war.»Was wollen die Trollocs mit euch Jungen anfangen?Oder – das Licht helfe uns – der Dunkle König?«

»Glaubst du, sie lügt? Meister al'Vere sagt, sie habe dieWahrheit gesagt, daß nur zwei Bauernhöfe überfallenwurden. Und was sie über Meister Luhhans und MeisterCauthons Haus sagte.«

Einen Augenblick lang lag Tam schweigend da, bevorer bat: »Erzähl mir genau, was sie gesagt hat. Ihre eigenenWorte, bitte, so wie sie es ausgedrückt hat!«

Rand rang nach Worten. Wer erinnert sich schonjemals an die genauen Worte, die er gehört hatte? E rkaute auf der Lippe herum und kratzte sich am Kopf undbrachte es schließlich Stückchen für Stückchen heraus, sogut er sich eben erinnern konnte. »An mehr kann ich michnicht erinnern«, schloß er. »Bei einigem bin ich nichtganz sicher, ob sie es wirklich genau so ausgedrückt hat,aber zumindest entspricht es ihren Worten.«

»Ist schon in Ordnung. Siehst du, Junge, die Aes Sedai

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haben viele Tricks auf Lager. Sie lügen nicht, jedenfallsnicht direkt, aber was dir eine Aes Sedai als Wahrheiterzählt, ist nicht immer das, was du glaubst. Du mußtvorsichtig sein.«

»Ich habe die Geschichten auch gehört«, gab Randzurück. »Ich bin doch kein Kind.«

»Nein, bist du nicht.« Tam seufzte tief und zuckte danndie Achseln. »Trotzdem sollte ich mitkommen. Die Weltaußerhalb der Zwei Flüsse ist ganz anders alsEmondsfeld.«

Das war nun eine Gelegenheit, Tam zu fragen, ob erwirklich schon draußen gewesen sei und was Rand sonstnoch auf der Seele brannte, doch er nahm sie nicht wahr.Statt dessen brachte er den Mund vor Staunen nicht zu.»Einfach so? Ich dachte, du würdest versuchen, mir dasauszureden. Ich dachte, du würdest mir hundert Gründenennen, warum ich nicht gehen soll.« Ihm wurde klar, daßer gehofft hatte, Tam werde hundert gute Gründe dafürnennen.

»Vielleicht keine hundert«, sagte Tam schnaubend,»aber ein paar sind mir schon eingefallen. Nur spielen diekeine große Rolle. Wenn Trollocs hinter dir her sind, bistdu in Tar Valon sicherer, als du es hier je sein könntest.Denk nur daran, mißtrauisch zu bleiben. Aes Sedai tunmanches aus Gründen, die nicht immer dasselbe bedeuten,was du glaubst.«

»Das hat der Gaukler auch gesagt«, sagte Randlangsam.

»Dann weiß er, wovon er spricht. Du hörst genau zu,denkst gut nach und hältst deine Zunge im Zaum. Das istein guter Rat in bezug auf alles, was du außerhalb derZwei Flüsse antriffst und ganz speziell, was die Aes Sedaibetrifft. Und die Behüter. Erzähl Lan etwas, und du hast

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es auch Moiraine erzählt. Wenn er ein Behüter ist, dannist er ihr so sicher zugeschworen, wie die Sonne heutemorgen aufging, und er wird nicht viel, wenn überhauptetwas vor ihr geheimhalten.«

Rand wußte wenig über das Zuschwören eines Behütersmit einer Aes Sedai, obwohl es eine wichtige Rolle injeder Geschichte über die Behüter spielte. Es hatte etwasmit der Macht zu tun, so etwas wie ein Geschenk an denBehüter oder vielleicht auch irgendein Austausch. DenGeschichten nach hatten die Behüter jede Menge Vorteiledavon. Ihre Wunden heilten schneller als bei anderenMenschen, und sie konnten länger ohne Essen oder Wasseroder Schlaf auskommen. Man nahm auch an, sie könntenTrollocs spüren, wenn sie nahe genug waren, oder auchandere Kreaturen des Dunklen Königs, und das erklärteauch, warum Lan und Moiraine versucht hatten, das Dorfvor dem Angriff zu warnen. Was die Aes Sedai davonhatten, darüber schwiegen die Geschichten, aber er konntenicht glauben, daß sie keinen Vorteil aus dieserVerbindung zogen.

»Ich werde aufpassen«, sagte Rand. »Doch wüßte ichgern, warum. Es ergibt alles keinen Sinn. Warum ich?Warum wir?«

»Ich möchte es auch gern wissen, Junge. Blut undAsche, ich möchte es wirklich wissen!« Tam seufzte tief.»Na ja, man kann ein ausgeschlagenes Ei nicht wieder indie Schale zurückstecken. Wie bald mußt du weg? Ich binin ein oder zwei Tagen wieder auf den Beinen...«

»Moiraine... Die Aes Sedai sagt, daß du im Bett bleibenmußt. Wochenlang, meinte sie.« Tam öffnete den Mund,doch Rand fuhr fort. »Und sie hat mit Frau al'Veredarüber gesprochen.«

»Oh? Na ja, vielleicht kann ich Marin doch

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kleinkriegen.« Allerdings klang Tams Stimme nicht sehrhoffnungsvoll. Er sah Rand scharf an. »Die Art, wie dueine klare Antwort vermieden hast, bedeutetwahrscheinlich, daß du bald weg mußt. Morgen? Oderheute nacht?«

»Heute nacht«, sagte Rand leise, und Tam nicktetraurig.

»Ja. Also, wenn es schon sein muß, dann darfst du dichnicht aufhalten. Aber in bezug auf die ›Wochen‹ ist nochnicht das letzte Wort gesprochen.« Er zupfte eher ratlosals kraftvoll an seiner Decke herum. »Vielleicht kommeich sowieso in ein paar Tagen nach. Hole dich unterwegsein. Wir werden ja sehen, ob mich Marin im Bettfesthalten kann, wenn ich aufstehen will.«

Jemand klopfte an die Tür, und Lan steckte den Kopfherein. »Sag schnell auf Wiedersehen, Schäfer, undkomm! Es könnte Schwierigkeiten geben.«

»Schwierigkeiten?« fragte Rand, und der Behüterknurrte ihn ungeduldig an. »Mach schnell!«

Hastig schnappte Rand sich seinen Umhang. Er wolltedas Schwert abschnallen, doch Tam erhob Einspruch.

»Behalt es! Du wirst es vielleicht nötiger brauchen alsich, obwohl, so das Licht es will, vielleicht keiner von unsso etwas braucht. Paß auf dich auf, Junge! Verstanden?«

Rand überhörte Lans fortgesetztes Knurren und beugtesich über Tam. Sie nahmen sich in die Arme. »Ich kommezurück. Das verspreche ich dir.«

»Natürlich kommst du wieder.« Tam lachte. E rerwiderte die Umarmung schwach und klopfte Randschließlich auf den Rücken. »Das weiß ich. Und wenn duzurückkehrst, werde ich doppelt so viele Schafe haben, diedu dann hüten mußt. Jetzt geh aber, bevor dieser Burschedurchdreht.«

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Rand rang nach Worten, um die Frage zu formulieren,die er eigentlich nicht hatte stellen wollen, aber Lan kamins Zimmer, packte ihn am Arm und zog ihn hinaus in denFlur. Der Behüter hatte sich ein mit Metallschuppenbedecktes graugrünes Wams übergezogen. Seine Stimmeklang rauh vor Ärger.

»Wir müssen uns beeilen! Verstehst du das WortSchwierigkeiten nicht?«

Draußen wartete Mat. Er hatte Mantel und Umhang anund trug seinen Bogen. An seiner Hüfte hing ein Köcher.Er trippelte ängstlich hin und her und sah immer wiederzur Treppe hinüber. Sein Blick schien eine Mischung ausUngeduld und Angst auszudrücken. »Das ist nicht ganz sowie in den Geschichten, Rand, oder?« fragte er heiser.

»Welche Schwierigkeiten denn?« wollte Rand wissen,aber statt zu antworten, rannte der Behüter voraus undnahm immer zwei Stufen auf einmal. Mat hetzte ihmhinterher, nachdem er Rand mit einer schnellen Bewegungbedeutet hatte, ihnen zu folgen.

Er rannte los, wobei er sich auch noch den Umhangüber den Kopf zog. Unten holte er sie ein. DerSchankraum war nur schwach beleuchtet; die Hälfte derKerzen war ausgebrannt, und die andere Hälfte flackertenur noch. Der Raum war leer. Mat stand neben einemFenster und spähte hinaus, als wolle er von draußen nichtgesehen werden. Lan öffnete die Tür einen Spalt undblickte in den Hof hinaus.

Er fragte sich, wonach sie Ausschau hielten, undgesellte sich zu ihnen. Der Behüter raunte ihm zu, er sollevorsichtig sein, aber er öffnete die Tür ein wenig weiter,damit Rand auch hinaussehen konnte.

Zuerst war er sich nicht sicher, was da draußenwirklich geschah. Männer aus dem Dorf, drei Dutzend

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etwa, hatten sich neben dem ausgebrannten Gestell desKrämerwagens versammelt. Die Fackeln, die sie trugen,verdrängten die Nacht. Moiraine stand ihnen gegenüber,der Schenke den Rücken zugekehrt, und stützte sichscheinbar unbeteiligt auf ihren Wanderstock. Hari Coplinstand mit seinem Bruder Darl und Bili Congar etwas denanderen entfernt. Auch Cenn Buie war da. Er blickteziemlich unglücklich drein. Rand war überrascht, als ersah, wie Hari Moiraine mit der Faust bedrohte.

»Verlaßt Emondsfeld!« rief der Bauer mit demmürrischen Gesicht. Ein paar Stimmen aus der Mengeunterstützten ihn, aber nur zögernd, und niemand drängtesich vor. Sie hatten den Mut, sich innerhalb einerMenschenmenge einer Aes Sedai zu stellen, aber keinerwollte ihr allein gegenüberstehen. Keiner Aes Sedai, dieauch noch Grund hatte, sich angegriffen zu fühlen.

»Ihr habt diese Ungeheuer hergebracht!« brüllte Darl.Er schwenkte eine Fackel über dem Kopf, und man hörteRufe wie: »Ihr habt sie hergebracht!« und »Es ist EureSchuld!« Der lauteste Schreier war sein Vetter Bili.

Hari stieß Cenn Buie mit dem Ellbogen, und der alteDachdecker spitzte die Lippen, wobei er ihn von der Seiteher böse ansah. »Diese Dinger... diese Trollocs sind erstaufgetaucht, nachdem Ihr hierher kamt«, murmelte Cenn,gerade laut genug, um noch hörbar zu sein. Er drehte denKopf mürrisch von Seite zu Seite, als wünsche er sichirgendwo anders hin und suche nach einem Weg, dorthinzu kommen. »Ihr seid eine Aes Sedai. Wir wollen keinevon Euch hier bei den Zwei Flüssen. Aes Sedai bringenUnglück mit sich. Wenn Ihr bleibt, wird es nur nochschlimmer.«

Seine Rede rief keine Reaktion in den Reihen derversammelten Dorfbewohner hervor, und so blickte Hari

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enttäuscht und grimmig drein. Plötzlich riß er Darl dieFackel aus der Hand und schwenkte sie in ihre Richtung.»Geht fort!« schrie er. »Oder wir brennen Euch hinaus!«

Eisiges Schweigen folgte. Nur das Schlurfen von Füßenwar hörbar, als sich die Männer zurückzogen. Die Leutevon den Zwei Flüssen konnten sich zur Wehr setzen, wennman sie angriff, aber Gewaltanwendung war nicht üblich,und es lag ihnen fern, Menschen zu bedrohen. Höchstensdaß einer mal die Faust schwenkte. Cenn Buie, BiliCongar und die Coplins standen ganz allein vor denanderen. Bili machte den Eindruck, als wollte er sich aucham liebsten zurückziehen.

Hari schreckte leicht zusammen, als er merkte, wiewenig Unterstützung er bekam, aber er erholte sichschnell. »Geht fort!« schrie er wieder. Darl tat es ihmnach und schließlich, etwas leiser, auch Bili. Hari sah dieanderen böse an. Die meisten in der Menge mieden seinenBlick.

Plötzlich traten Bran al'Vere und Haral Luhhan ausdem Schatten und blieben stehen, ein Stück von derMenge, aber auch von der Aes Sedai entfernt. In einerHand trug der Bürgermeister wie zufällig den großenHolzhammer, den er benutzte, um Zapfhähne in die Fässerzu treiben. »Hat jemand vorgeschlagen, meine Schenkeanzuzünden?« fragte er sanft.

Die beiden Coplins traten einen Schritt zurück, undCenn Buie setzte sich von ihnen ab. Bili Congar schob sichin die Menge hinein. »Das nicht«, sagte Darl schnell. »Dashaben wir nie gesagt, Bran... äh, Bürgermeister.«

Bran nickte. »Dann habe ich vielleicht gehört, wie ihrGäste meiner Schenke bedroht habt?«

»Sie ist eine Aes Sedai«, begann Hari wütend, aberseine Worte brachen ab, als Haral Luhhan sich bewegte.

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Der Schmied streckte sich einfach nur, erhob die dickenArme über den Kopf, ballte die kräftigen Fäuste, bis dieGelenke knackten, doch Hari sah den bulligen Mann an,als hätte er ihm diese Fäuste unter die Nase gehalten.Haral verschränkte die Arme wieder vor der Brust.»Verzeihung, Hari. Ich wollte dich nicht unterbrechen.Was hattest du gesagt?«

Aber Hari zog die Schultern ein, als wolle er in sichselbst hineinkriechen und verschwinden, und schien nichtsmehr zu sagen zu haben.

»Ich bin über euch Leute überrascht«, grollte Bran.»Paet al'Caar, deinem Jungen wurde letzte Nacht das Beingebrochen, aber ich habe ihn heute wieder herumlaufensehen – und das hat er ihr zu verdanken. Eward Candwin,du hast auf dem Bauch gelegen – mit einem Schnitt imRücken wie ein Fisch, den man ausnehmen will, bis sie dieHände auf dich gelegt hat. Jetzt sieht es aus, als sei es voreinem Monat passiert, und wenn ich mich nicht irre, wirdkaum eine Narbe bleiben. Und du, Cenn...« DerDachdecker schob sich ein Stück rückwärts auf die Mengezu, blieb aber dann stehen, von Brans Blick festgehalten.»Ich wäre schon bestürzt genug, hier einen Mann aus demGemeinderat anzutreffen, aber am meisten, wenn esausgerechnet du bist, Cenn. Wenn sie nicht gewesen wäre,hinge dein Arm immer noch schlaff an deiner Seite herab,mit unzähligen Verbrennungen und Abschürfungen. Wenndu schon keine Dankbarkeit kennst, schämst du dich dannnicht wenigstens?«

Cenn hob die rechte Hand ein Stück, blickte dann aberärgerlich zur Seite. »Ich leugne nicht, was sie getan hat«,murmelte er, und es hörte sich tatsächlich an, als schämeer sich. »Sie hat mir und anderen geholfen«, fuhr er ineinem beinahe bittenden Tonfall fort, »aber sie ist eine

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Aes Sedai, Bran. Wenn diese Trollocs nicht ihretwegengekommen sind, warum dann? Wir wollen keine AesSedai bei den Zwei Flüssen. Sie sollen ihre Zwistigkeitenvon uns fernhalten!«

Ein paar Männer, sicher in der Menge verborgen,riefen nun: »Wir wollen keinen Ärger mit den AesSedai!« »Schickt sie weg!« »Treibt sie davon!« »Warumsind sie gekommen, wenn nicht ihretwegen?«

Brans Gesicht verfinsterte sich zusehends, aber bevorer etwas sagen konnte, wirbelte Moiraine plötzlich ihrenmit Ranken beschnitzten Stock hoch über dem Kopf durchdie Luft. Sie drehte ihn mit beiden Händen. Randschnappte genau wie die Dorfbewohner nach Luft, dennaus jedem Ende des Stocks fuhr zischend eine weißeFlamme. Trotz der wirbelnden Bewegung des Stocksstachen die Flammen gleichmäßig wie Speerspitzenheraus. Sogar Bran und Haral zogen sich zurück. Sie ließdie Arme fallen und hielt sie gerade ausgestreckt, denStock parallel zum Boden. Aber das blasse Feuer zischteimmer noch daraus hervor, heller als die Fackeln. DieMänner scheuten zurück, hielten die Hände vors Gesicht,um die Augen vor dem Schmerz zu bewahren, den dasStrahlen verursachte.

»Ist Aemons Blut in euch so dünn geworden?« DieStimme der Aes Sedai war nicht laut, doch sie übertöntejedes andere Geräusch. »Kleine Leute, die sich um dasRecht zanken, sich wie die Kaninchen zu verstecken? Ihrhabt vergessen, wer Ihr wart, vergessen, was Ihr wart,aber ich hatte gehofft, es sei noch ein wenig davonübriggeblieben, ein schwacher Abklatsch in Eurem Blutund Euren Knochen. Irgendein Überbleibsel, um Euch aufdie lange Nacht vorzubereiten, die gerade anbricht.«

Keiner sagte ein Wort. Die beiden Coplins sahen aus,

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als wollten sie nie wieder den Mund öffnen.Bran sagte: »Vergessen, wer wir waren? Wir sind, wer

wir immer waren. Ehrliche Bauern und Schäfer undHandwerker. Die Leute der Zwei Flüsse.«

»Im Süden«, sagte Moiraine, »liegt der Fluß, den ihrden Weißen Fluß nennt, doch weit weg im Osten nennenihn die Menschen immer noch bei seinem rechtmäßigenNamen: Manetherendrelle. In der Alten Sprache: DieWasser der Bergheimat. Schimmernde Wasser, die einstdurch ein Land der Schönheit und Tapferkeit flossen. Vorzweitausend Jahren floß der Manetherendrelle an denMauern einer Bergstadt vorbei, die so schön anzusehenwar, daß sogar Steinwerker der Ogier kamen, um siestaunend zu betrachten. Ackerland und Dörfer bedecktendiese Gegend und das Gebiet, das Ihr den Wald derSchatten nennt, und noch mehr. Aber diese Menschenbetrachteten sich als die Leute der Bergheimat, dieEinwohner von Manetheren.

Ihr König war Aemon al Caar al Thorin, Aemon, derSohn des Caar, Sohn des Thorin, und Eldrene ay Carlanwar seine Königin. Aemon war ein so furchtloser Mann,daß das größte Kompliment, das man jemandem für seinenMut machen konnte, sogar unter seinen Feinden damalshieß: Der Mann hat Aemons Herz. Eldrene war so schön,daß man sich erzählte, die Blumen blühten nur, um siezum Lächeln zu bringen. Mut und Schönheit und Weisheitund eine Liebe, die auch der Tod nicht zerbrechen konnte.Weint, wenn ihr noch ein Herz im Leib habt, weil sieverloren sind, weil sogar die Erinnerung an sieverlorenging. Weint, denn auch ihr Blut scheintverloren.«

Sie schwieg, und niemand sprach. Rand war wie dieanderen in ihrem Bann gefangen. Als sie wieder begann,

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lauschte er begierig ihren Worten, genau wie die anderen.»Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten die Trolloc-

Kriege die Welt der Länge und der Breite nach verwüstet,und wo immer Schlachten tobten, da war das Banner vonManetheren mit seinem Roten Adler in der vorderstenLinie zu finden. Die Männer von Manetheren waren einDorn im Fuß des Dunklen Königs und ein Stachel inseiner Hand. Singt von Manetheren, das nie sein Knie demSchatten beugte. Singt von Manetheren, dem Schwert, dasnicht zerbrochen werden konnte.

Sie waren weit weg, die Männer von Manetheren, aufdem Feld von Bekkar, das man auch das Feld des Blutesnennt, als sich die Nachricht verbreitete, daß eine Trolloc-Armee gegen ihre Heimat marschierte. Zu weit entfernt,um etwas anderes zu tun, als darauf zu warten, vom Todihres Landes zu hören, denn der Dunkle König wollteihnen ein Ende bereiten. Töte die mächtige Eiche, indemdu ihre Wurzeln abhackst. Zu weit weg, um etwas andereszu tun, als zu trauern. Aber sie waren die Männer derBergheimat.

Ohne zu zögern, ohne an die Entfernung zu denken, diesie zurücklegen mußten, marschierten sie direkt vomruhmreichen Schlachtfeld los, immer noch mit Staub undBlut und Schweiß bedeckt. Tag und Nacht marschiertensie, denn sie hatten die Schrecken erlebt, die eine Armeevon Trollocs hinter sich zurückläßt, und keiner von ihnenkonnte ruhig schlafen, während eine solche GefahrManetheren bedrohte. Sie marschierten, als hätten sieSchwingen an den Füßen, weiter und schneller, als ihreFreunde hofften und ihre Feinde fürchteten. Zu jederanderen Zeit hätte allein dieser Marsch schon Dichter undSänger inspiriert. Als die Armeen des Dunklen Königsüber die Ländereien von Manetheren herfallen wollten,

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standen die Mannen der Bergheimat bereits vor ihnen mitdem Rücken zum Tarendrelle.«

Irgendein Dorfbewohner brachte seinen Beifall zumAusdruck, doch Moiraine fuhr fort, als habe sie es nichtgehört. »Die Heerschar, der sich die Mannen vonManetheren gegenübersahen, war gewaltig genug, umauch das tapferste Herz zum Zittern zu bringen. Rabenverdunkelten den Himmel, Trollocs verdunkelten dasLand. Trollocs und ihre menschlichen Verbündeten.Zehntausende und Aberzehntausende von Trollocs undSchattenfreunden, von Schattenlords geführt. In der Nachtsah man mehr Lagerfeuer als Sterne am Himmel, und inder Morgendämmerung sah man das Banner vonBa'alzamon an ihrer Spitze. Ba'alzamon, das Herz derDunkelheit. Ein uralter Name für den Vater der Lügen.Der Dunkle König konnte noch nicht aus seinemGefängnis am Shayol Ghul befreit sein, denn wäre das derFall gewesen, hätte keine menschliche Macht ausgereicht,um ihm zu widerstehen, und doch war viel Macht hierversammelt. Schattenlords und so viel Böses, daß daslichtzerstörende Banner durchaus angebracht schien unddie Seelen der Männer, die ihm gegenüberstanden,erzittern ließ.

Und doch wußten sie, was sie zu tun hatten. Ihre Heimatlag gleich jenseits des Flusses. Sie mußten diese Heerscharund die sie begleitenden Mächte von der Bergheimatfernhalten. Aemon hatte Boten ausgesandt. Hilfe wurdeihnen versprochen, wenn sie sich nur drei Tage lang amTarendrelle halten konnten. Drei Tage lang aushaltengegen eine Übermacht, die sie schon während der erstenStunde überwältigen würde. Und doch ertrugen sie denblutigen Angriff in verzweifelter Gegenwehr, hielten eineStunde lang stand, eine zweite Stunde und eine dritte. Drei

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Tage lang kämpften sie, und obwohl das Land einemSchlachthof glich, gestatteten sie dem Feind keinenÜbergang über den Tarendrelle. Als die dritte Nacht sichneigte, war immer noch keine Hilfe gekommen und auchkein Kurier. Sie kämpften allein weiter. Sechs Tage lang.Neun Tage. Und am zehnten Tag schmeckte Aemon denbitteren Geschmack des Verrats. Es kam keine Hilfe, undsie konnten die Flußübergänge nicht länger halten.«

»Was machten sie dann?« wollte Hari wissen. Fackelnflackerten im kalten Nachtwind, aber niemand bewegtesich, um einen Umhang enger um sich zu wickeln.

»Aemon überquerte den Tarendrelle«, sagte ihnenMoiraine, »und zerstörte die Brücken hinter ihnen. Under sandte Boten durch das Land, um den Menschen zusagen, sie sollten fliehen, denn es war ihm klar, daß dieMächte, die das Trolloc-Heer begleiteten, einen Wegfinden würden, es über den Fluß zu schaffen. Und nochwährend die Boten forteilten, begannen die Trollocs, denFluß zu überqueren, und die Soldaten von Manetherenstellten sich ihnen erneut, um ihren Landsleuten Zeit zurFlucht zu erkaufen. Von der Stadt Manetheren aus führteEldrene die Flüchtlinge in die tiefsten Wälder und in dieSchlupfwinkel der Berge.

Doch manche flohen auch nicht. Zuerst nur wenige,dann immer mehr, und schließlich strömten Männer nichtin Richtung Sicherheit, sondern zu der Armee, die für ihrLand kämpfte. Schäfer mit dem Bogen und Bauern mitder Mistgabel und Waldarbeiter mit der Axt. Auch Frauenkamen mit, schulterten an Waffen, was sie finden konnten,und marschierten an der Seite ihrer Männer in denKampf. Keiner, der nicht wußte, daß er nie mehrzurückkehren würde. Aber es war ihr Land. Es war dasLand ihrer Väter gewesen, und es würde ihren Kindern

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gehören, und sie waren bereit, den Preis dafür zubezahlen. Kein Fußbreit Boden wurde preisgegeben,bevor er nicht mit Blut getränkt war, doch am Endewurde die Armee von Manetheren zurückgedrängt,hierher, an diesen Ort, den ihr nun Emondsfeld nennt.Und hier wurden sie von den Trolloc-Hordeneingeschlossen.«

In ihrer Stimme schwangen kalte Tränen mit. »ToteTrollocs und die Leichen von Abtrünnigen lagen zuHügeln aufgetürmt, doch immer mehr krochen über dieGebeinhaufen in endlosen Wellen des Todes. Es konntenur einen Ausgang geben. Kein Mann und keine Frau, diezu Beginn dieses Tages unter dem Banner des RotenAdlers gestanden hatten, erlebte noch den Anbruch derNacht. Das Schwert, das nicht zerbrochen werden konnte,zersplitterte.

In den Verschleierten Bergen, allein in der leeren StadtManetheren, fühlte Eldrene, wie Aemon starb, und ihrHerz starb mit ihm. Und wo ihr Herz gewesen war, dablieb nur noch ein Wunsch nach Rache übrig, Rache fürihre Liebe, Rache für ihre Untertanen und für ihr Land.Von Schmerz getrieben, verband sie sich mit der WahrenQuelle und lenkte die Eine Macht auf die Trolloc-Armee.Und die Schattenlords starben, wo sie gerade standen,gleichgültig, ob in einer geheimen Beratung oder bei derInspektion ihrer Soldaten. Innerhalb eines Atemzugsbrachen die Schattenlords und die Generale des DunklenKönigs in Flammen aus. Feuer verschlang ihre Körper,und Angst überwältigte ihre gerade noch siegreicheArmee.

Jetzt rannten sie wie die Tiere, die vor einemWaldbrand flüchteten, und dachten an nichts anderes alsan Flucht. Nach Norden und Süden flohen sie. Tausende

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ertranken, als sie versuchten, ohne die Hilfe derSchattenlords den Tarendrelle zu überqueren, und amManetherendrelle rissen sie die Brücken ein aus Angst vorden Verfolgern. Wo immer sie auf Menschen stießen, damordeten und verbrannten sie, aber sie wurden von demGedanken an Flucht beherrscht. Bis schließlich keinermehr im Lande Manetheren zurückblieb. Sie wurdenverstreut wie Staub von einem Wirbelwind. Dieendgültige Rache erfolgte langsamer, aber sie holte sieein, als sie nämlich von anderen Völkern gejagt wurden,von den Heeren anderer Länder. Keiner von denen, dieam Aemonsfeld gemordet hatten, blieb am Leben. AberManetheren zahlte einen hohen Preis. Eldrene hatte mehrMacht in sich vereint, als ein Mensch je ohne Hilfebeherrschen kann. Als die Generale des Feindes starben,starb auch sie, und das Feuer, das sie verschlang,verschlang auch die leere Stadt Manetheren, selbst dieSteine bis hinunter auf den Grundfels des Gebirges. Unddoch waren die Menschen gerettet.

Von ihren Bauernhöfen, ihren Dörfern oder ihrergroßartigen Stadt war nichts übriggeblieben. Einigemeinten, es sei überhaupt nichts mehr übrig für sie, undsie müßten in andere Länder fliehen, um dort neu zubeginnen. Sie sagten es aber nicht. Sie hatten einen solchhohen Preis an Blut und Hoffnung für ihr Land bezahlt,wie es noch nie zuvor geschehen war, und nun waren siedurch Bande, stärker als Stahl, an diese Erde gebunden.Sie wurden in späteren Jahren mit anderen Kriegenüberzogen, bis schließlich ihre Ecke der Welt vergessenwurde und bis sie die Kriege und ihre Folgen vergessenhatten. Manetheren erhob sich niemals mehr. Ihreschwebenden Türme und plätschernden Brunnen wurdenzu Teilen eines Traums, der langsam in der Erinnerung

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der Menschen verblaßte. Doch sie und ihre Kinder undKindeskinder hielten dieses Land, das ihnen gehörte. Siehielten es, auch wenn die langen Jahrhunderte das Warumaus ihren Gedächtnissen wuschen. Sie hielten es bis heute,bis zu euch. Weint um Manetheren. Weint um das, was fürimmer verloren ist.«

Die Flammen aus Moiraines Stock erloschen, und siesenkte ihn, als wöge er hundert Pfund. Lange Augenblickewar das Heulen des Windes der einzige Laut. Dann schobsich Paet al'Caar vor die Coplins.

»Ich weiß nichts von Eurer Geschichte«, sagte derBauer mit dem langen Kinn. »Ich bin kein Dorn im Fußdes Dunklen Königs und werde es wahrscheinlich auch niesein. Aber mein Wil kann dank Eurer Hilfe wieder laufen,und deshalb schäme ich mich, hier zu sein. Ich weiß nicht,ob Ihr mir vergeben könnt, aber ob Ihr könnt oder nicht,ich gehe jetzt. Und was mich betrifft, könnt Ihr so langein Emondsfeld bleiben, wie es Euch beliebt.«

Mit einem geschwinden Kopfnicken, beinahe schoneiner Verbeugung schob er sich in die Menge zurück. Nunmurmelten auch andere, taten verschämt Buße, bevor sieebenfalls davon schlichen. Die Coplins, mit finstererMiene und heruntergezogenen Mundwinkeln, sahen dieGesichter der Menschen und verschwanden ohne ein Wortin der Nacht. Bili Congar hatte sich noch vor seinenVettern verdrückt.

Lan zog Rand zurück und schloß die Tür. »Gehen wir,Junge!« Der Behüter trat in den hinteren Teil derSchenke. »Kommt mit, ihr beiden! Schnell!«

Rand zögerte und tauschte einen fragenden Blick mitMat. Während Moiraine die Geschichte erzählt hatte,hätten ihn selbst Meister al'Veres Dhurran-Hengste nichtfortschleifen können, doch nun hemmte etwas anderes

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seine Schritte. Dies war der endgültige Moment, dieSchenke zu verlassen und dem Behüter in die Nacht zufolgen... Er schüttelte sich und bemühte sich umEntschlossenheit. Er hatte keine andere Wahl, aber erwürde nach Emondsfeld zurückkehren, wie weit ihn auchseine Reise führen mochte.

»Worauf wartet ihr?« fragte Lan an der Tür. Matzuckte zusammen und eilte zu ihm.

Rand versuchte, sich selbst zu überzeugen, daß er amBeginn eines großen Abenteuers stand, und folgte ihnendurch die dunkle Küche in den Stallhof.

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KAPITEL 10

Abschied

Eine einzelne Laterne, die Klappen halb geschlossen, hingan einem Nagel von einem Stallpfosten und warf eintrübes Licht über die Szenerie. Die meisten Boxen wurdenvon den tiefen Schatten verschluckt. Als Rand gleichhinter Mat und dem Behüter durch das Tor eintrat, sprangPerrin unter Strohrascheln von seinem Platz auf. Er hattemit dem Rücken an eine Boxentür gelehnt dagesessen. Einschwerer Umhang hüllte ihn ein.

Lan blieb nur ganz kurz stehen und wollte wissen:»Hast du so genau nachgesehen, wie ich es dir gesagt habe,Schmied?«

»Habe ich«, antwortete Perrin. »Hier ist niemand außeruns. Warum sollte sich auch jemand verstecken...«

»Vorsicht und ein langes Leben sind gute Partner,Schmied.« Der Behüter sah sich hastig in dem düsterenStall um, warf einen Blick hinauf in den noch dunklerenHeuboden und schüttelte den Kopf. »Keine Zeit«,murmelte er in sich hinein. »Beeil dich, hat sie gesagt.«

Um seinen eigenen Worten Folge zu leisten, schritt erschnell hinüber, wo die fünf Pferde aufgezäumt undgesattelt im dämmrigen Lichtkreis standen. Zwei davonwaren der schwarze Hengst und die weiße Stute, die Randschon zuvor gesehen hatte. Die anderen waren wohl nichtso groß und geschmeidig, schienen aber zum Besten zugehören, was die Zwei Flüsse aufbieten konnten. Schnell,aber sorgfältig überprüfte Lan die Sattelgurte und dieLederriemen, die ihre Satteltaschen, Wasserschläuche und

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Deckenrollen hinter den Sätteln festhielten.Rand und seine Freunde lächelten sich unsicher an, und

er bemühte sich sehr, so zu wirken, als könne er denAufbruch gar nicht erwarten.

Zum ersten Mal bemerkte Mat das Schwert an RandsSeite, und er zeigte darauf. »Wirst du jetzt auch einBehüter?« Er lachte, hielte aber gleich mit einemschnellen Seitenblick auf Lan wieder inne. Der Behüterhatte offensichtlich nichts bemerkt. »Oder zumindestLeibwächter bei einem Kaufmann?« fuhr Mat mit einemGrinsen fort, das nur ein ganz klein bißchen gezwungenwirkte. Er hob seinen Bogen. »Die Waffe eines ehrlichenMannes ist nicht gut genug für ihn.«

Rand überlegte, ob er daraufhin sein Schwertschwenken sollte, aber die Anwesenheit Lans hielt ihndavon ab. Der Behüter blickte nicht einmal in ihreRichtung, aber er war sicher, daß er alles aufnahm, wasum ihn herum geschah. Also sagte er übertriebennebensächlich: »Es könnte nützlich sein«, als sei dasTragen eines Schwertes nichts Besonderes.

Perrin bewegte sich und versuchte, etwas unter seinemUmhang zu verbergen. Rand erhaschte einen Blick aufeinen breiten Ledergürtel um die Taille desSchmiedlehrlings. Der Stiel einer Axt steckte in einerSchlaufe am Gürtel.

»Was hast du denn da?« fragte er.»Noch ein Leibwächter«, johlte Mat.Der junge Mann mit dem struppigen Haar sah Mat mit

einem Stirnrunzeln an, das darauf hindeutete, daß er schonmehr als einmal Ziel von Mats Spott gewesen war. Dannseufzte er tief und öffnete den Umhang weit genug, umseine Axt zu enthüllen. Es war keine gewöhnlicheHolzfälleraxt. Mit einer breiten halbmondförmigen

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Schneide auf einer Seite und einem gekrümmten Hakenauf der anderen wirkte sie genauso fremdartig wie RandsSchwert. Doch Perrins Hand ruhte mit einer gewissenVertrautheit auf dem Stiel.

»Meister Luhhan hat sie vor etwa zwei Jahren für denLeibwächter eines Wollaufkäufers gemacht. Aber als siefertig war, wollte der Bursche den vereinbarten Preisnicht zahlen, und Meister Luhhan gab sie nicht fürweniger her. Er hat sie mir gegeben, als...« Er räuspertesich und sah Rand genauso warnend an wie vorher Mat.»... als er sah, wie ich damit übte. Er sagte, ich könne siehaben, weil er sowieso nichts Vernünftiges daraus machenkönne.«

»Üben«, spöttelte Mat, bewegte aber die Hände in einerberuhigenden Geste, als Perrin den Kopf hob. »Wie dusagst. Es ist gut, wenn einer von uns mit einer richtigenWaffe umgehen kann.«

»Dieser Bogen ist eine richtige Waffe«, sagte Lanplötzlich. Er stützte einen Arm auf den Sattel seinesgroßen Rappen und betrachtete sie ernst. »Auch dieSteinschleudern, mit denen ich euch Dorfjungen gesehenhabe. Es macht keinen Unterschied, daß ihr sie bisher nurbenutzt habt, um Kaninchen zu jagen oder Wölfe von denSchafen wegzutreiben. Alles kann zu einer Waffe werden,wenn der Mann oder die Frau den Willen und die Kraftdazu hat. Von den Trollocs einmal ganz abgesehen solltetihr euch daran erinnern, bevor wir die Zwei Flüsseverlassen, bevor wir Emondsfeld verlassen, wenn ihr TarValon lebendig erreichen wollt.«

Sein Gesicht und seine Stimme, kalt wie der Tod undhart wie ein roh behauener Grabstein, erstickten ihrLächeln und ihre Worte. Perrin verzog das Gesicht undzog seinen Umhang wieder über die Axt. Mat blickte auf

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seine Füße hinunter und schob mit den Zehen Strohhalmebeiseite. Der Behüter brummte und wandte sich wiederseiner Überprüfung zu. Das Schweigen zog sich in dieLänge.

»Es ist nicht gerade so wie in den Geschichten«, sagteMat schließlich.

»Ich weiß nicht«, meinte Perrin mürrisch. »Trollocs,ein Behüter, eine Aes Sedai. Was wollt ihr denn noch?«

»Aes Sedai«, flüsterte Mat, der sich anhörte, als fröreer.

»Glaubst du ihr, Rand?« fragte Perrin. »Ich meine, waskönnen die Trollocs von uns wollen?«

Gleichzeitig sahen sie alle den Behüter an. Lan schiensich auf den Sattelgurt der weißen Stute zu konzentrieren.Die drei zogen sich ein Stück von ihm zurück, nach hintenzur Stalltür. Dort steckten sie die Köpfe zusammen undsprachen leise miteinander.

Rand schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber siehatte recht damit, daß nur unsere beiden Höfe angegriffenwurden. Und sie griffen Meister Luhhans Haus und dieSchmiede zuerst an, als sie hier im Dorf waren. Ich habeden Bürgermeister gefragt. Es ist genauso leicht möglich,daß sie hinter uns her sind wie hinter irgend jemand ande-rem.« Plötzlich bemerkte er, daß beide ihn groß ansahen.

»Du hast den Bürgermeister gefragt?« fragte Matungläubig. »Sie sagte doch, daß wir es niemandemerzählen dürften.«

»Ich habe ihm nicht erzählt, warum ich es wissen will«,protestierte Rand. »Wollt ihr mir weismachen, ihr habtmit niemandem darüber gesprochen? Ihr habt niemandemerzählt, daß ihr das Dorf verlaßt?«

Perrin zuckte schuldbewußt die Achseln. »Moirainesagte ›niemandem‹.«

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»Wir haben Zettel geschrieben«, sagte Mat. »Fürunsere Familien. Sie werden sie morgen früh finden.Rand, meine Mutter glaubt, Tar Valon käme noch vorShayol Ghul.« Er lachte ein wenig, um zu zeigen, daß erihre Anschauung nicht teilte. Es klang nicht sehrüberzeugend. »Sie würde versuchen, mich im Kellereinzusperren, wenn sie wüßte, daß ich auch nur mit demGedanken spiele, dorthinzugehen.«

»Meister Luhhan ist so stur wie ein Felsblock«, fügtePerrin hinzu, »und Frau Luhhan ist noch schlimmer.Wenn ihr gesehen hättet, wie sie in den Trümmern desHauses herumgrub und sagte, sie hoffe, die Trollocskämen wieder, damit sie sie in die Finger bekäme...«

»Versengen soll mich das Licht, Rand«, sagte Mat. »Ichweiß, sie ist eine Aes Sedai, aber die Trollocs warenwirklich hier. Sie sagte, wir sollten es niemandemerzählen. Wenn schon eine Aes Sedai nicht weiß, was mandagegen tun kann – wer dann?«

»Keine Ahnung.« Rand rieb sich die Stirn. Sein Kopfschmerzte, und er konnte diesen Traum nicht loswerden.»Mein Vater glaubt ihr. Zumindest stimmte er zu, daß wirgehen müßten.«

Plötzlich stand Moiraine in der Tür. »Du hast mitdeinem Vater über diese Reise gesprochen?« Sie war vonKopf bis Fuß in dunkles Grau gekleidet, mit einemHosenrock zum Reiten, und nun war der Schlangenringder einzige Gegenstand aus Gold, den sie noch trug.

Rand beäugte ihren Wanderstock. Trotz der Flammen,die er gesehen hatte, sah er keine verkohlten Stellen undnicht einmal Ruß. »Ich konnte nicht aufbrechen, ohne esihm zu erzählen.«

Sie betrachtete ihn einen Moment lang mit gespitztenLippen, bevor sie sich an die anderen wandte. »Und habt

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ihr auch beschlossen, daß ein Zettel nicht genügt?« Matund Perrin redeten durcheinander und versicherten ihr,sie hätten lediglich Zettel hinterlassen, so wie sie gesagthatte. Sie nickte, brachte sie mit einer Handbewegung zumSchweigen und blickte Rand scharf an. »Was geschehenist, wurde bereits in das Muster eingewebt. Lan?«

»Die Pferde stehen bereit«, sagte der Behüter, »und wirhaben genügend Proviant dabei, um Baerlon zu erreichen,und noch etwas als Reserve. Wir können jederzeitaufbrechen. Ich schlage vor: gleich jetzt.«

»Nicht ohne mich.« Egwene schlüpfte in den Stall, imArm ein in einen Schal gewickeltes Bündel. Rand stolpertebeinahe über die eigenen Füße.

Lans Schwert war schon halb aus der Scheide gezogen,doch als er sie erkannte, schob er die Klinge zurück, undseine Augen wurden ausdruckslos. Perrin und Matbeteuerten, daß sie Egwene nichts von ihrer Abreisegesagt hätten. Die Aes Sedai beachtete sie nicht; sie blickteEgwene an und tippte sich gedankenversunken mit einemFinger auf die Lippen.

Die Kapuze von Egwenes dunkelbraunem Umhang warhochgezogen, doch nicht genug, um den trotzigenGesichtsausdruck zu verbergen, mit dem sie Moiraine indie Augen sah. »Ich habe hier alles, was ich brauche,einschließlich Lebensmittel. Und ich werde nichthierbleiben. Ich habe vielleicht nie wieder eineMöglichkeit, die Welt jenseits der Zwei Flüssekennenzulernen.«

»Das wird kein Picknickausflug zum Wasserwald,Egwene«, grollte Mat. Er trat einen Schritt zurück, als sieihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anblickte.

»Danke, Mat. Ohne dich hätte ich das gar nichtbemerkt. Glaubt ihr, ihr drei wärt die einzigen, die wissen

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wollen, wie es draußen aussieht? Ich habe davongenausolange geträumt wie ihr, und ich habe nicht vor,diese Gelegenheit zu versäumen.«

»Wie hast du herausgefunden, daß wir abreisen?«wollte Rand wissen. »Und außerdem kannst du nichtmitkommen. Wir gehen ja nicht aus purem Vergnügenweg. Die Trollocs sind hinter uns her.«

Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Er lief rot anund stand ganz steif vor Entrüstung da.

»Zuerst«, erklärte sie ihm geduldig, »sah ich Matherumschleichen und sich bemühen, unbemerkt zubleiben. Dann sah ich, wie Perrin diese lächerlicheRiesenaxt unter seinem Umhang verbarg. Ich wußte, daßLan ein Pferd gekauft hatte, und plötzlich fragte ich mich,wozu er ein weiteres Pferd brauchte. Und wenn er eineskaufte, konnte er auch noch mehr kaufen. All daszusammen mit der Tatsache, daß Mat und Perrinherumschlichen wie Kälber, die vorgeben, Füchse zusein... Na ja, es gab nur eine Antwort. Ich bin mir nichtklar darüber, ob ich überrascht bin oder nicht, dich auchhier zu finden, Rand, nachdem du so oft über deineTagträume gesprochen hast. Aber wenn Mat und Perrin inder Sache drinstecken, sollte ich ja eigentlich wissen, daßdu auch mit von der Partie bist.«

»Ich muß gehen, Egwene«, sagte Rand. »Wir allemüssen gehen, oder die Trollocs kommen zurück.«

»Die Trollocs!« Egwene lachte ungläubig. »Rand, wenndu dich entschlossen hast, etwas von der Welt sehen zuwollen, schön und gut, aber tisch mir nicht so einMärchen auf!«

»Es ist wahr«, sagte Perrin gerade, als Mat begann:»Die Trollocs...«

»Genug«, sagte Moiraine ruhig, doch das Gespräch war

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wie mit einem Messer abgeschnitten. »Hat noch jemandetwas bemerkt?« Ihre Stimme klang sanft, aber Egweneschluckte und richtete sich auf, bevor sie antwortete.

»Nach der letzten Nacht können sie nur noch an denWiederaufbau denken und daran, was zu tun ist, wenn eswieder geschieht. Sie sähen sonst nichts, es sei denn, manhält es ihnen direkt unter die Nase. Und ich habeniemandem von meinem Verdacht erzählt. Niemandem!«

»Sehr gut«, sagte Moiraine nach einer Pause. »Dukannst mit uns kommen.«

Lans Gesicht zeigte einen Augenblick langÜberraschung. Dann war sie wieder verflogen, und erblieb äußerlich ruhig, doch zornig brach es aus ihmheraus: »Nein, Moiraine!«

»Es ist jetzt ein Teil des Großen Musters, Lan.«»Das ist lächerlich!« gab er zurück. »Es gibt keinen

Grund, warum sie mitkommen sollte, und alle Gründesprechen sogar dagegen.«

»Es gibt einen Grund dafür«, sagte Moiraine gelassen.»Ein Teil des Musters, Lan.« Das steinerne Gesicht desBehüters zeigte keine Regung, doch er nickte langsam.

»Aber Egwene«, sagte Rand, »die Trollocs werden unsjagen. Wir werden nicht in Sicherheit sein, bevor wir TarValon erreichen.«

»Versuch nicht, mir Angst einzujagen«, bat sie. »Ichkomme mit.«

Rand kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn nicht mehrvernommen, seit sie zu der Ansicht gekommen war, daßnur Kinder auf die höchsten Bäume klettern, aber ererinnerte sich gut daran. »Wenn du glaubst, es machtSpaß, von Trollocs gejagt zu werden...«, begann er, aberMoiraine unterbrach ihn.

»Wir haben keine Zeit mehr für so etwas. Bei

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Tagesanbruch müssen wir so weit wie möglich entferntsein von hier. Wenn wir sie zurücklassen, Rand, könntesie das ganze Dorf in Aufruhr bringen, bevor wir nocheine Meile weg sind, und das würde ganz sicher denMyrddraal warnen.«

»Das würde ich nicht tun!« protestierte Egwene.»Sie kann auf dem Pferd des Gauklers reiten«, sagte

der Behüter. »Ich werde ihm genug Geld dalassen, damiter ein anderes Pferd kaufen kann.«

»Das ist kaum möglich«, kam Thom Merrilinswiderhallende Stimme vom Heuboden. Diesmal fuhr LansSchwert aus der Scheide, und er steckte es nicht zurück,als er nach dem Gaukler dort oben Ausschau hielt.

Thom warf eine Deckenrolle hinunter, zog sich danndie Riemen des Flötenkastens und an der Harfe über denRücken und schulterte pralle Satteltaschen. »Dieses Dorfbraucht mich nicht, und andererseits habe ich meineKünste noch nie in Tar Valon gezeigt. Obwohl ich fürgewöhnlich allein reise, habe ich nach der letzten Nachtnichts mehr gegen das Reisen in Gesellschaft.«

Der Behüter sah Perrin scharf an, und dieser tratverlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe nichtdaran gedacht, den Heuboden zu untersuchen«, murmelteer.

Als der staksige Gaukler die Leiter vom Heubodenherunterkletterte, sagte Lan ganz steif und formell: »Istdas auch ein Teil des Großen Musters, Moiraine Sedai?«

»Alles ist ein Teil des Musters, mein alter Freund«,antwortete Moiraine sanft. »Wir können uns das nichtaussuchen. Aber wir werden ja sehen.«

Thom setzte die Füße auf den Fußboden des Stalles,drehte sich von der Leiter weg und wischte sich dieStrohhalme von dem Flickenumhang. »Tatsächlich«, sagte

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er in normalerem Tonfall, »könnte man sagen, daß ich aufGesellschaft beim Reisen bestehe. Ich habe viele Stundengebraucht und viele Krüge Bier geleert, um darübernachzudenken, wie ich einst wohl meine Tage beschließenwerde. Der Kochtopf eines Trollocs tauchte allerdingsdabei nicht auf.« Er sah mißtrauisch das Schwert desBehüters an. »Das da ist nicht nötig. Ich bin kein Käse,den man aufschneidet.«

»Meister Merrilin«, sagte Moiraine, »wir müssenschnell aufbrechen und befinden uns höchstwahrscheinlichin großer Gefahr. Die Trollocs sind immer noch dadraußen, und wir reiten bei Nacht. Seid Ihr sicher, daßIhr mit uns reisen möchtet?«

Thom betrachtete sie alle mit einem rätselhaftenLächeln. »Wenn es nicht zu gefährlich für das Mädchenist, dann kann es auch für mich nicht zu gefährlich sein.Außerdem, welcher Gaukler nähme nicht gern ein wenigGefahr in Kauf, wenn er dafür seine Kunst in Tar Valonzeigen kann?«

Moiraine nickte, und Lan schob sein Schwert in dieScheide zurück. Rand fragte sich plötzlich, was wohlgeschehen wäre, hätte Thom seine Meinung geändert oderMoiraine nicht genickt. Der Gaukler sattelte sein Pferd,als wären ihm solche Gedanken nie gekommen, aber Randbemerkte, daß er Lans Schwert mehr als einmal ansah.

»Nun aber«, sagte Moiraine, »welches Pferd sollEgwene benutzen?«

»Die Pferde des Händlers sind genauso schlecht wie dieDhurran-Hengste«, antwortete der Behüter mürrisch.»Kräftig, aber sie kommen nur langsam voran.«

»Bela«, sagte Rand. Ein Blick Lans traf ihn, und erwünschte, er hätte seinen Mund gehalten. Aber er wußte,daß er Egwene nicht davon abbringen konnte, also blieb

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ihm nichts anderes übrig, als zu helfen. »Bela ist vielleichtnicht so schnell wie die anderen, aber sie ist kräftig. Ichreite sie manchmal. Sie kann mithalten.«

Lan schaute in Belas Box, wobei er leise vor sich hinfluchte. »Sie ist vielleicht ein wenig besser als dieanderen«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, daß wireine Wahl haben.«

»Dann muß es sein«, sagte Moiraine. »Rand, such bitteeinen Sattel für Bela. Schnell jetzt! Wir haben uns schonzu lange aufgehalten.«

Rand suchte rasch einen Sattel und eine Decke imSattelraum und holte Bela dann aus ihrer Box. Die Stutedrehte den Kopf nach hinten und sah ihn inschlaftrunkener Überraschung an, als er ihr den Sattel aufden Rücken legte. Wenn er sie einmal ritt, danngewöhnlich ohne Sattel; sie war nicht daran gewöhnt. E rsprach beruhigend auf sie ein, während er den Sattelgurtbefestigte, und sie nahm das Außergewöhnliche mit einemSchütteln der Mähne hin.

Er nahm Egwene ihr Bündel ab und schnallte es hinterden Sattel. Derweil stieg sie auf und ordnete ihren Rock.Der war nicht als Hosenrock geteilt, also konnte man ihreWollstrümpfe bis zum Knie sehen. Sie trug die gleichenSchuhe aus weichem Leder wie die anderen Mädchen ausdem Dorf. Sie waren absolut nicht geeignet für eine Reisenach Wachhügel, geschweige denn nach Tar Valon.

»Ich bin immer noch der Meinung, daß du nichtmitkommen solltest«, sagte Rand. »Ich habe das mit denTrollocs nicht erfunden. Aber ich verspreche dir, daß ichauf dich aufpassen werde.«

»Vielleicht muß ich auf dich aufpassen«, antwortete sieleichthin. Als er sie verzweifelt ansah, lächelte sie undstreichelte ihm über das Haar. »Ich weiß, daß du auf mich

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aufpassen wirst, Rand. Wir werden beide aufeinanderaufpassen. Aber jetzt mußt du schauen, daß du auf deinPferd kommst.«

Er merkte, daß alle anderen bereits aufgesessen warenund auf ihn warteten. Das einzige Pferd, das noch ohneReiter war, war Wolke, ein großer Grauer mit schwarzerMähne, der Jon Thane gehörte oder gehört hatte. Randkletterte in den Sattel, allerdings nicht ohneSchwierigkeiten, denn der Graue warf den Kopf hoch undtänzelte seitwärts, als er den Fuß in den Steigbügel stellte.Die Scheide verfing sich in seinen langen Beinen. Es warkein Zufall, daß die Freunde Wolke verschmäht hatten.Meister Thane hatte mit dem lebhaften Grauen denPferden der Kaufleute häufig Rennen geliefert, und Thanehatte noch keine Niederlage erlebt, aber Wolke hatte esseinem Reiter noch nie leichtgemacht. Lan mußte einenhohen Preis bezahlt haben, damit der Müller das Pferdverkaufte. Als Rand sich im Sattel niederließ, wurdeWolkes Tänzeln noch heftiger, als freue sich der Grauedarauf, losgaloppieren zu können. Rand griff die Zügelganz fest und versuchte sich einzureden, daß es keineSchwierigkeiten geben werde. Wenn er sich selbstüberzeugen konnte, dann vielleicht auch das Pferd.

Eine Eule schrie durch die Nacht, und dieDorfbewohner fuhren zusammen, bevor sie erkannten,daß es nur ein Vogel war. Dann lachten sie nervös undsahen sich verschämt an.

»Als nächstes werden wir noch vor einer Feldmaus aufdie Bäume klettern«, sagte Egwene mit einem unsicherenAuflachen. Lan schüttelte den Kopf. »Es wäre besser,wenn es Wölfe gewesen wären.«

»Wölfe!« rief Perrin, und der Behüter bedachte ihn miteinem teilnahmslosen Blick.

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»Wölfe können Trollocs nicht leiden, Schmied, undTrollocs mögen keine Wölfe oder Hunde. Wenn ich Wölfehören würde, könnte ich sicher sein, daß da draußen keineTrollocs auf uns warten.« Er schritt mit seinemhochgewachsenen Schwarzen langsam hinaus in diemondhelle Nacht.

Moiraine ritt ihm ohne einen Moment des Zögernsnach, und Egwene hielt sich an der Seite der Aes Sedai.Rand und der Gaukler kamen zum Schluß, nach Mat undPerrin.

Die Rückseite der Schenke war dunkel und still, undder Mond warf Schatten in den Stallhof. Das sanfteKlappern der Hufe verflog schnell und wurde von derNacht verschluckt. In der Dunkelheit machte der Umhangden Behüter gleichermaßen zum Schatten. Nur dieNotwendigkeit, sich von ihm führen zu lassen, hielt dieanderen davon ab, sich ängstlich um ihn zu scharen. Ausdem Dorf herauszukommen, ohne gesehen zu werden, warkeine leichte Aufgabe. Das wurde Rand klar, als sie sichdem Tor näherten. Zumindest sollten sie von denDorfbewohnern nicht gesehen werden. Hinter vielenFenstern im Dorf glimmten blasse gelbe Lichter, undobwohl diese Lichter in der Nacht sehr klein wirkten, sahman häufig Schatten sich bewegen, die Schatten vonDorfbewohnern, die hinausblickten, um zu sehen, wasdiese Nacht mit sich brachte. Keiner wollte nochmalsüberrascht werden.

Im tiefsten Schatten neben der Schenke, gerade als sieden Stallhof verlassen wollten, hielt Lan plötzlich an undforderte sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen auf.

Stiefel polterten über die Wagenbrücke, und hier undda glitzerte Metall im Mondlicht auf. Die Stiefel verließendie Brücke – Kies knirschte unter ihren Sohlen – und

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kamen auf die Schenke zu. Kein Laut war von den imSchatten Wartenden zu hören. Rand hatte den Verdacht,daß zumindest seine Freunde viel zuviel Angst hatten, umirgendein Geräusch zu machen. Genau wie er.

Die Schritte verstummten vor der Schenke imDämmerlicht jenseits der trübe beleuchteten Fenster desSchankraums. Erst als Jon Thane vortrat, einen Speerüber die kräftige Schulter gelegt, ein altes Lederwams mitaufgenähten Stahlscheiben um den Oberkörper geschnallt,erkannte Rand, wer es war: ein Dutzend Männer aus demDorf oder den umliegenden Bauernhöfen, einige mitHelmen oder Teilen von Rüstungen bewehrt, diegenerationenlang auf den Speichern Staub gesammelthatten, alle mit einem Speer oder einer Holzfälleraxt odereiner verrosteten Pike bewaffnet.

Der Müller spähte durch eines der Fenster zumSchankraum und wandte sich dann mit einem kurzen:»Sieht so aus, als sei hier alles in Ordnung« wieder ab.Die anderen formierten sich in zwei unregelmäßigenReihen hinter ihm, und die Patrouille marschierte in dieNacht hinaus, als gehorche sie drei verschiedenenTrommelwirbeln gleichzeitig.

»Zwei Dha'vol Trollocs würden genügen, um sie allezum Frühstück zu verspeisen«, murmelte Lan, als dasGeräusch der Stiefel verklungen war, »aber sie habenAugen und Ohren.« Er drehte seinen Hengst herum.»Kommt!«

Langsam und leise führte der Behüter sie zurück durchden Stallhof, die Uferböschung hinunter, an den Weidenvorbei und in den Weinquellenbach. Trotz der Nähe zurWeinquelle war das kalte, schnell fließende Wasser, dasum die Beine der Pferde spülte und im Mondscheinschimmerte, tief genug, um gegen die Sohlen der

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Reitstiefel zu plätschern.Am gegenüberliegenden Ufer kletterten sie hinaus, und

die Pferde suchten sich ihren Weg unter der sicherenAnleitung des Behüters, wobei sie sich von allen Häuserndes Dorfes fernhielten. Von Zeit zu Zeit hielt Lan an undbedeutete allen, sich ruhig zu verhalten, obwohl sonstniemand etwas sah oder hörte. Jedesmal allerdings kamkurz darauf eine weitere Patrouille von Dorfbewohnernund Bauern vorbei. Langsam kamen sie dem Nordendedes Dorfes näher.

Rand sah die Häuser mit ihren hohen Giebeln imDunklen so genau wie möglich an und versuchte, sie sicheinzuprägen. Ich bin ein toller Abenteurer, dachte er. E rhatte noch nicht einmal das Dorf verlassen und hatte schonHeimweh. Aber er betrachtete die Häuser weiterhin.

Sie passierten die letzten Bauernhäuser in denAußenbezirken des Dorfs und erreichten das unbewohnteLand. Sie hielten sich parallel zur Nordstraße, die nachTaren-Fähre führte. Rand fand, daß es sicherlichnirgendwo anders einen so schönen Nachthimmel gab wieüber den Zwei Flüssen. Das klare Schwarz schien in dieEwigkeit zu greifen, und Myriaden von Sternen glitzertenwie Lichtpunkte in einem Kristall. Der Mond, nur einedünne Sichelbreite schmaler als im vollen Zustand, schiengreifbar nahe. Wenn er sich streckte und...

Eine schwarze Gestalt flog langsam über den silbernenMondball. Rands unwillkürlicher Ruck an den Zügelnbrachte den Grauen zum Stehen. Eine Fledermaus, dachteer mit weichen Knien, doch er wußte, daß es keinegewesen war. Fledermäuse waren ein häufiger Anblick anden Abenden, wenn sie im Zwielicht hinter Fliegen undFaltern herjagten. Die Flügel, die das unbekannte Wesentrugen, mochten wohl die gleiche Form haben, aber sie

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bewegten sich mit den langsamen, kraftvollen Schlägeneines Raubvogels. Und es jagte. Die Art, wie es in weitenBögen hin- und zurückflog, ließ darüber keinen Zweifelaufkommen. Am schlimmsten aber war seine Größe.Wenn eine Fledermaus sich so groß vom Mondball abhob,dann mußte sie schon die Reichweite von menschlichenArmen haben. Er versuchte, ungefähr zu berechnen, wieweit entfernt und wie groß dieses Wesen war. Der Körpermußte Menschengröße haben und die Flügel... Wiederdurchflog es die Mondsilhouette und kreiste dann plötzlichnach unten, um von der Nacht verhüllt zu werden.

Er hatte nicht bemerkt, daß Lan zu ihm zurückgerittenwar, bis ihn der Behüter am Arm packte. »Was sitzt duhier und starrst in die Luft, Junge? Wir müssen weiter.«Die anderen warteten hinter Lan.

Er rechnete fast damit, daß man ihm sagen würde, erhätte aus Angst vor den Trollocs die Nerven verloren.Trotzdem berichtete Rand, was er gesehen hatte. E rhoffte, Lan werde es als Fledermaus oder als optischeTäuschung abtun.

Lan grollte ein Wort, das klang, als hinterließe es einenschlechten Geschmack im Mund: »Draghkar.« Egweneund die anderen von den Zwei Flüssen suchten nervös denHimmel in allen Richtungen ab, aber der Gaukler stöhnteleise auf.

»Ja«, sagte Moiraine, »es wäre vermessen, auf etwasanderes zu hoffen. Und wenn der Myrddraal einenDraghkar bei seinen Truppen hat, dann wird er baldwissen, wo wir sind, wenn er es nicht bereits weiß. Wirmüssen noch schneller querfeldein vorwärtskommen. Wirkönnen vielleicht Taren-Fähre noch vor dem Myrddraalerreichen, und die Trollocs und er werden den Fluß nichtso leicht überqueren wie wir.«

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»Ein Draghkar?« fragte Egwene. »Was ist das?«Es war Thom Merrilin, der ihr heiser antwortete. »In

dem Krieg, der das Zeitalter der Legenden beendete,wurden noch schlimmere Wesen als Trollocs undHalbmenschen erschaffen.«

Moiraines Kopf schnellte zu ihm herum, als er dassagte. Nicht einmal die Dunkelheit konnte die Schärfe inihrem Blick verbergen.

Bevor jemand den Gaukler bitten konnte, mehr zuerzählen, begann Lan, Befehle zu erteilen. »Wir benutzenjetzt die Nordstraße. Um euer Leben willen – folgt meinerFührung und bleibt dicht zusammen.«

Er riß sein Pferd herum, und die anderen galoppiertenwortlos hinterher.

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KAPITEL 11

Die Straße nach Taren-Fähre

Auf der ausgetretenen Lehmdecke der Nordstraße gabensie den Pferden die Zügel frei. Mähnen und Schweifeflatterten im Mondlicht, als sie nach Norden galoppierten.Die Hufe trommelten einen stetigen Rhythmus. Lan führtesie an. Der Rappe mit dem in Schatten gehüllten Reiterwar in der kalten Nacht fast nicht zu sehen. Moirainesweiße Stute hielt mit. Wie ein blasser Pfeil huschte siedurch die Dunkelheit. Die anderen folgten in einer Linie,als hätte man sie alle an einem Seil befestigt, dessen Endein den Händen des Behüters lag. Rand ritt als letzter indieser Reihe. Thom Merrilin war vor ihm, und dieGefährten davor konnte er schon nicht mehr so klarerkennen. Der Gaukler drehte sich nicht um. Er sah nurnach vorn in die Richtung, in die sie flohen, und nichtnach hinten, um zu sehen, wovor sie flohen. Falls hinterihnen Trollocs, der Blasse auf seinem lautlosen Pferd oderdieses fliegende Geschöpf, der Draghkar, auftauchten,wäre es Rands Aufgabe, die anderen zu alarmieren.

Alle paar Minuten verdrehte er sich den Hals, um nachhinten zu spähen, während er sich an den Zügeln undWolkes Mähne festhielt. Der Draghkar... Schlimmer alsTrollocs und Blasse, hatte Thom gesagt. Aber der Himmelblieb leer, und am Boden entdeckte sein Blick nurDunkelheit und Schatten. Schatten, in denen sich eineganze Armee verbergen konnte.

Jetzt, da der Graue endlich rennen durfte, huschte erwie ein Geist durch die Nacht und hielt leicht mit Lans

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Hengst mit. Und Wolke wollte noch schneller galoppieren.Er wollte den Schwarzen erreichen und strengte sichmächtig an. Rand mußte die Zügel straff halten, um ihn zubremsen. Wolke stemmte sich gegen seine Hand, als hielteer dies für ein Rennen. Mit jedem Schritt kämpfte ergegen ihn an. Rand klammerte sich mit verkrampftenMuskeln an Sattel und Zügel. Er hoffte inständig, daß seinReittier nicht merkte, wie unsicher er da oben saß. FallsWolke das erkannte, hatte Rand jeden Einfluß verloren,und sei er noch so gering.

Er beugte sich tief über Wolkes Hals und warf immerwieder ein wachsames Auge auf Bela und ihre Reiterin.Als er behauptet hatte, die zottige Stute könne mit denanderen mithalten, hatte er nicht vom vollen Galoppgesprochen. Sie hielt sich im Augenblick noch in derGruppe, weil sie schneller galoppierte, als er gedachthatte. Lan hatte nicht gewollt, daß Egwene mitkam.Würde er das Tempo drosseln, wenn Bela zurückblieb?Oder würde er versuchen, sie auf diese Artzurückzulassen? Die Aes Sedai und der Behüter hieltenRand und seine Freunde irgendwie für wichtig, doch trotzMoiraines Erwähnung des Großen Musters glaubte ernicht, daß diese Wichtigkeit auch Egwene betraf.

Wenn Bela zurückblieb, würde er auch zurückbleiben,gleichgültig, was Moiraine und Lan dazu sagten. Zurückdorthin, wo der Blasse und die Trollocs waren. Zurück zudem Draghkar. Voller Verzweiflung im Herzen rief erlautlos Bela zu, sie solle rennen wie der Wind. OhneWorte versuchte er, Kraft auf sie zu übertragen. Renn!Seine Haut prickelte, und seine Knochen schienen zu Eiszu erstarren und beinahe zu zersplittern. Licht, hilf!Renn! Und Bela rannte.

Weiter und weiter stürmten sie nach Norden in die

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Nacht hinein. Die Zeit verschwamm zu einemundeutlichen Flirren. Von Zeit zu Zeit kamen die Lichtervon Bauernhäusern in Sicht, und dann verschwanden siewieder im Nu. Das scharfe Bellen von Wachhundenverklang rasch hinter ihnen oder brach mit einem Schlagab, wenn die Hunde zu dem Schluß kamen, daß man sie indie Flucht geschlagen hatte. Sie flogen durch eineDunkelheit, die nur vom wäßrig-blassen Mondlicht erhelltwurde, eine Dunkelheit, in der Bäume plötzlich amStraßenrand aufragten und schon wieder unsichtbarzurückblieben. Ansonsten war alles düster in ihrerUmgebung, und nur der Schrei eines Nachtvogels, einsamund traurig, mischte sich in das stetige Trommeln derHufe.

Plötzlich wurde Lan langsamer und ließ die Pferdeanhalten. Rand war sich nicht sicher, wie lange sie gerittenwaren, aber seine Beine schmerzten bereits, weil er sichso verkrampft festgehalten hatte. Vor ihnen glitzertenLichter in der Nacht, als hätte sich ein großer SchwarmGlühwürmchen zwischen den Bäumen niedergelassen.Rand betrachtete verblüfft die Lichter und keuchteplötzlich vor Überraschung. Die Glühwürmchen warenFenster, Fenster von Häusern, die an den Hängen und derHöhe eines Hügels standen. Das war Wachhügel. E rkonnte kaum glauben, daß sie bereits so weit gekommenwaren. Sie hatten die Entfernung vielleicht schnellerzurückgelegt als jemals ein Reiter zuvor. Lans Beispielfolgend, stiegen Rand und Thom Merrilin ab. Wolke standmit gesenktem Kopf und bebenden Flanken da. Schaum,der sich kaum von dem nebelgrauen Körper des Pferdsabhob, lag auf Hals und Schultern des Grauen. Randdachte, Wolke werde diese Nacht wohl kaum noch einenReiter weitertragen können. »So gern ich diese Dörfer

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hinter mich brächte«, kündigte Thom an, »wären ein paarStunden Schlaf nicht übel. Sicher haben wir genügendVorsprung, um uns das leisten zu können.«

Rand streckte sich und rieb sich den Nacken. »Wennwir den Rest der Nacht hier Rast machen, können wirgenausogut hinaufreiten.«

Ein einzelner Windstoß trug Bruchstücke von Gesangaus dem Dorf und den Geruch von Essen herüber. DasWasser lief ihm im Mund zusammen. In Wachhügelfeierten sie immer noch. Ihr Bel Tine war nicht vonTrollocs gestört worden. Er sah sich nach Egwene um. Sielehnte sich, vor Erschöpfung zusammengefallen, gegenBela. Die anderen stiegen auch ab. Mancher Seufzerwurde hörbar, und man streckte die schmerzendenGlieder. Nur der Behüter und die Aes Sedai zeigten keinAnzeichen von Erschöpfung.

»Mir stünde auch der Sinn nach Singen«, warf Matmüde ein. »Und vielleicht ein heißes Hammelragout im›Weißen Keiler‹.« Er holte Luft und fügte hinzu: »Ich binniemals weiter als nach Wachhügel gewesen. Der ›WeißeKeiler‹ ist nicht annähernd so gut wie dieWeinquellenschenke.«

»Der ›Weiße Keiler‹ ist nicht so schlecht«, sagtePerrin. »Für mich bitte auch ein Hammelragout. Und vielheißen Tee, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben.«

»Wir können nicht rasten, bevor wir über den Tarensind«, fuhr Lan in scharfem Ton dazwischen. »Nicht mehrals ein paar Minuten.«

»Aber die Pferde!« protestierte Rand. »Wir schindensie zu Tode, wenn wir versuchen, heute nacht nochweiterzureiten. Moiraine Sedai, Ihr...«

Er hatte am Rande bemerkt, daß sie zwischen denPferden umherging, hatte aber nicht weiter darauf

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geachtet, was sie tat. Jetzt streifte sie an ihm vorbei undlegte die Hände auf Wolkes Hals. Rand schwieg. Plötzlichwarf das Pferd den Kopf mit leisem Wiehern hoch undzog Rand beinahe die Zügel aus der Hand. Der Grauetänzelte einen Schritt zur Seite und schien so ausgeruht, alshabe er eine Woche im Stall verbracht. Wortlos gingMoiraine weiter zu Bela.

»Ich wußte nicht, daß sie das kann«, sagte Rand leise zuLan. Rands Wangen waren gerötet. »Von allen Leutensolltest gerade du das eigentlich geahnt haben«, antworteteder Behüter. »Du hast beobachtet, was sie mit deinemVater getan hat. Sie wäscht die ganze Erschöpfung ausihnen heraus. Zuerst sind die Pferde dran und dann ihralle.«

»Nur wir? Ihr nicht?«»Ich nicht, Schäfer. Ich brauche das nicht, noch nicht

jedenfalls. Und sie auch nicht. Was sie für andere tunkann, kann sie für sich nicht selbst tun. Sie allein mußmüde weiterreiten. Hoffentlich ist sie nicht zu erschöpft,bis wir Tar Valon erreichen.«

»Zu erschöpft – wofür?« fragte Rand den Behüter.»Du hattest recht mit Bela, Rand«, sagte Moiraine, die

neben der Stute stand. »Sie hat ein gutes Herz undgenausoviel Sturheit und Durchhaltevermögen wie ihrZwei-Flüsse-Leute. So seltsam es klingen mag, aber sie istvon allen am wenigsten erschöpft.«

Ein Schrei zerriß die Dunkelheit. Es klang, als würdeein Mensch mit scharfen Messern zerschnitten. Schwingenfegten in niedriger Höhe über die Gruppe hinweg. Derüber sie hinweggleitende Schatten machte die Nacht nochdunkler. Unter angsterfülltem Schreien bäumten sich diePferde wild auf.

Der Luftzug von den Schwingen des Draghkars traf

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Rand und löste in ihm das Gefühl aus, mit Schleimbeschmiert zu werden. Er bewegte sich durch die feuchteDüsternis eines Alptraums, hatte aber keine Zeit, Angst zuspüren, denn Wolke schrie laut auf und wand sichverzweifelt, als versuche er, etwas abzuschütteln, was anihm festhing. Rand, der die Zügel nicht losließ, wurde vonden Füßen gerissen und über den Boden geschleift. Wolkeschrie, als fühle er große graue Wölfe, die sich in seineFesseln verbissen.

Irgendwie behielt Rand die Zügel in der Hand. E rbenutzte die freie Hand zusammen mit den Beinen, umwieder auf die Füße zu kommen. Seine taumelndenSchritte wurden zu kurzen Sprüngen, damit er nichtwieder zu Boden gerissen wurde. Er atmete stoßartig undvoller Verzweiflung. Er konnte Wolke nicht fortrennenlassen. Mit seiner freien Hand griff er zitternd zu underwischte gerade noch den Zügel. Wolke bäumte sich aufund hob ihn mit sich hoch. Rand klammerte sich hilflosfest. Er hoffte gegen besseres Wissen, daß sich das Pferdberuhigen werde.

Rand schlug mit einem solchen Ruck auf dem Bodenauf, daß es ihn bis zu den Zähnen durchschüttelte; dochplötzlich stand der Graue still, mit geblähten Nüstern undrollenden Augen, steifbeinig und zitternd. Rand zitterteauch und hing beinahe nur noch an dem Zügel. Der Ruckmuß das närrische Tier auch erschüttert haben, dachte er.Er atmete ein paarmal unregelmäßig aus und ein. Dannwar er in der Lage, sich nach den anderen umzusehen.

In der Gruppe war das blanke Chaos ausgebrochen. Sieklammerten sich an die Zügel, die von ruckartigenBewegungen der Pferdeköpfe hin und her gerissenwurden, und versuchten mit wenig Erfolg, die sichaufbäumenden Pferde zu beruhigen, von denen sie in

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diesem Durcheinander herumgezerrt wurden. Nur zweivon ihnen hatten offensichtlich keine Schwierigkeiten mitihren Reittieren. Moiraine saß aufgerichtet im Sattel. Dieweiße Stute trat einen Schritt zurück, um demDurcheinander zu entgehen, als sei nichtsAußergewöhnliches geschehen. Lan stand am Boden undbeobachtete den Himmel. In der einen Hand hielt er seinSchwert, in der anderen die Zügel. Der schlanke schwarzeHengst stand ruhig neben ihm.

Aus Wachhügel hörte man keinen Laut mehr. DieDorfbewohner mußten den Schrei auch gehört haben.Rand wußte, sie würden eine Weile lauschen und vielleichtAusschau halten, was ihn verursacht hatte, sich dann aberwieder ihrer Feier zuwenden. Bald würden sie denVorfall vergessen. Die Erinnerung würde in Liedern,Essen, Tanz und Unterhaltung untergehen. Vielleichtwürden sich einige wieder daran erinnern, wenn sie davonhörten, was in Emondsfeld geschehen war. Eine Fiedelbegann mit ihrem Spiel, und einen Augenblick später fieleine Flöte mit ein. Das Dorf setzte die Feier fort.

»Sitzt auf!« kommandierte Lan knapp. Er schob seinSchwert in die Scheide und sprang mit einem Satz auf denHengst. »Der Draghkar hätte sich nicht gezeigt, wenn ernicht zuvor dem Myrddraal berichtet hätte, wo wir unsbefinden.« Ein weiterer schriller Schrei drang zu ihnenherunter, schwächer, doch genauso furchteinflößend. DieMusik in Wachhügel verstummte mit einem Mißton. »Erfolgt uns nun in der Luft und zeigt dem Halbmenschen,wo wir sind. Er wird nicht weit weg sein.«

Die Pferde, die nun ausgeruht, aber verängstigt waren,tänzelten und scheuten vor denen Reitern, die sie zubesteigen versuchten. Der fluchende Thom Merrilin warder erste im Sattel, aber dann saßen auch die anderen bald

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auf. Alle bis auf einen.»Mach schnell, Rand!« rief Egwene. Der Draghkar

schrie erneut schrill auf, und Bela wollte weggaloppieren,bevor sie sie mit straffem Zügel unter Kontrolle bekam.»Beeil dich!«

Aufgeschreckt merkte Rand, daß er, anstatt auf Wolkeaufzusitzen, die ganze Zeit dagestanden und in denHimmel gestarrt hatte in einem vergeblichen Versuch, dieQuelle dieser bösartigen Schreie auszumachen. Und nochmehr: Unbewußt hatte er Tams Schwert gezogen, alswolle er mit der fliegenden Kreatur kämpfen.

Sein Gesicht rötete sich. Er war froh, daß die Nacht esverbarg. Ungeschickt – eine Hand war ja mit dem Zügelbeschäftigt – steckte er die Klinge in die Scheide zurück,während er sich hastig nach den anderen umsah. Moiraine,Lan und Egwene sahen ihn an, aber er war nicht sicher,was sie im Mondlicht erkennen konnten. Die anderenschienen zu sehr damit beschäftigt, ihre Pferde unterKontrolle zu halten, um groß auf ihn zuachten. Er faßtedas Sattelhorn mit einer Hand und sprang mit einem Satzin den Sattel, als habe er sein ganzes Leben lang nichtsanderes getan. Falls einer seiner Freunde das mit demSchwert bemerkt hatte, würde er sicherlich später nochetwas zu hören bekommen. Zeit genug, um sich dannGedanken darüber zu machen.

Sobald er im Sattel saß, ging es im Galopp weiter dieStraße hinauf und an dem kuppelförmigen Hügel vorbei.Hunde bellten im Dorf – ihr Vorbeireiten war nicht ganzunbemerkt geblieben. Vielleicht haben die Hunde auchTrollocs gerochen, dachte Rand. Sowohl das Bellen alsauch die Lichter des Dorfes verschwanden schnell hinterihnen.

Sie ritten in einer losen Gruppe. Die Pferde berührten

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sich beinahe. Lan befahl ihnen zwar, wieder in einerReihe zu reiten, doch keiner wollte in der Nacht alleinsein. Von hoch droben ertönte ein Schrei. Der Behütergab auf und ließ sie nebeneinander weiterreiten.

Rand ritt dicht hinter Moiraine und Lan. Der Grauestrengte sich an, sich zwischen den Schwarzen Lans unddie schlanke Stute der Aes Sedai zu drängen. Egwene undder Gaukler galoppierten jeder an einer Seite Rands,während seine Freunde von hinten nachdrängten. Wolke,der von den Schreien des Draghkars zu schnellerem Laufangespornt wurde, rannte so, daß Rand nicht in der Lagewar, ihn zurückzuhalten, selbst wenn er gewollt hätte.Und doch konnte der Graue keinen einzigen Schritt denbeiden anderen Pferden gegenüber aufholen.

Der Schrei des Draghkars forderte die Nacht heraus.Die kräftige Bela rannte mit gestrecktem Hals. Schweif

und Mähne flatterten im Wind. So hielt sie sich Schritt fürSchritt neben den größeren Pferden. Die Aes Sedai mußmehr getan haben, als sie nur von ihrer Müdigkeit zubefreien.

Egwenes Gesicht zeigte im Mondlicht eine erregt-glückliche Miene. Ihr Zopf flog hinter ihr her wie dieMähne der Pferde, und das Glitzern in ihren Augen rührtenicht nur vom Mond her, da war sich Rand sicher. SeinMund stand vor Überraschung offen, bis ein verschlucktesInsekt einen Hustenanfall auslöste.

Lan mußte etwas gefragt haben, denn Moiraineüberschrie plötzlich den Wind und das Donnern der Hufe:»Ich kann nicht! Vor allem nicht vom Rücken einesgaloppierenden Pferdes aus. Man kann sie nicht so leichttöten, selbst wenn man sie sieht. Wir müssen fliehen undhoffen!«

Sie stürmten durch eine Nebelschwade. Sie war dünn

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und reichte den Pferden nur bis an die Knie. Wolke warin zwei Sätzen hindurch, und Rand blinzelte überrascht.Hatte er sich den Nebel nur eingebildet? Sicher war dieseNacht viel zu kalt für Nebel. Ein weiterer Fleckzerfledderten Graus flog an seiner Seite vorbei, größer alsder erste. Er war gewachsen, als quölle der Nebel aus demBoden. Über ihnen schrie der Draghkar wütend auf.Nebel hüllte die Reiter für einen kurzen Moment ein undwar verschwunden, kam wieder und verschwand hinterihnen. Der eiskalte Dunst hinterließ kalte Feuchtigkeit aufRands Gesicht und Händen. Dann ragte eine Wand ausblassem Grau vor ihnen auf, und plötzlich waren sie ganzvon Nebel umgeben. Er war so dicht, daß der Hufschlagder Pferde gedämpft wurde, und die Schreie von obenschienen durch eine Wand zu dringen. Rand erkanntegerade noch die Umrisse von Egwene und Thom Merrilinan seiner Seite.

Lan ließ sie nicht langsamer reiten. »Es gibt nach wievor nur eine Richtung, in die wir reiten können!« rief er.Seine Stimme klang hohl, und es war kaum festzustellen,aus welcher Richtung sie kam. »Der Myrddraal istschlau«, antwortete Moiraine. »Ich werde seine eigeneSchläue gegen ihn wenden.« Sie galoppierten schweigendweiter. Schiefergrauer Nebel verbarg Himmel und Erde,so daß die Reiter, die selbst nur noch wie Schattenwirkten, durch Nachtwolken zu treiben schienen. Sogardie Beine der Pferde schienen verschwunden zu sein.

Rand rutschte im Sattel hin und her. Er schreckte vordem eisigen Nebel zurück. Zu wissen, daß Moiraine somanches vollbringen konnte, und sie dabei zu beobachten,war eine Sache. Als Folge eine nasse Haut davonzutragen,war eine ganz andere. Ihm wurde bewußt, daß er die Luftanhielt, und er kam sich wie ein Narr vor. Er konnte nicht

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den ganzen Weg bis nach Taren-Fähre reiten, ohne zuatmen. Sie hatte die Eine Macht bei Tam angewandt, under schien ganz in Ordnung zu sein. Dennoch mußte er sichzwingen, auszuatmen und wieder Luft zu holen. Die Luftwar schwer, unterschied sich jedoch nicht von der jederanderen nebligen Nacht. Das sagte er sich jedenfalls, aberer war nicht so sicher, daß er auch daran glaubte.

Lan ermahnte sie jetzt dazu, nahe beieinander zubleiben, so daß jeder jeden anderen in dieser feuchten,frostig-grauen Luft sehen konnte. Nur der Behüterverhielt seinen Hengst kein bißchen. Seite an Seite leitetenLan und Moiraine die Gruppe durch den Nebel, alsvermochten sie klar zu sehen, was vor ihnen lag. Dieanderen konnten ihnen nur vertrauen und folgen. Undhoffen.

Die schrillen Schreie, die sie verfolgt hatten,verklangen und waren schließlich verschwunden, doch dasberuhigte sie nicht sonderlich. Wald und Bauernhäuser,Mond und Straße waren verschleiert und verborgen.Immer noch bellten Hunde, hohl und fern in dem grauenDunst, wenn sie an Bauernhöfen vorbeikamen, aber sonstwar außer dem Dröhnen der Pferdehufe kein Laut zuhören. Nichts veränderte sich in diesem formlosen,aschfahlen Nebel. Nichts wies darauf hin, daß Zeitvergangen war – höchstens die wachsenden Schmerzen inder Hüfte und im Rücken.

Rand war sicher, daß Stunden vergangen waren. SeineHände hielten die Zügel umkrampft, bis er sie kaum nochlösen konnte, und er fragte sich, ob er je wieder normalwürde laufen können. Er sah sich nur einmal um. ImNebel hinter ihm bewegten sich Schatten, aber er konntesie nicht einmal mehr zählen. Oder sicher sein, daß eswirklich seine Freunde waren. Kälte und Feuchtigkeit

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drangen durch Umhang, Mantel, Hemd und schienen sogarin die Knochen zu sickern. Nur die Zugluft im Gesichtund die Bewegung des Pferdekörpers unter ihm zeigtenihm, daß er sich überhaupt vorwärtsbewegte. Es mußtenStunden vergangen sein.

»Langsam!« rief Lan plötzlich. »Haltet an!«Rand war so überrascht, daß Wolke sich zwischen Lan

und Moiraine drängte und ihnen im Nu ein halbes DutzendSchritte voraus war, bevor er den großen Grauen anhaltenund sich umsehen konnte.

Von allen Seiten ragten Häuser im Nebel auf, Häuser,die Rand seltsam hoch vorkamen. Er hatte diesen Ort nochnie zuvor gesehen, aber er hatte öfter Beschreibungendarüber gehört. Die Höhe rührte von den hohenSandsteinfundamenten her, die notwendig waren, wennder Taren während der Frühlingsschmelze in denVerschleierten Bergen Hochwasser führte. Sie hattenTaren-Fähre erreicht.

Lan ließ das große Kampfroß an ihm vorbeischreiten.»Sei nicht übereifrig, Schäfer!«

Verlegen ließ sich Rand zurückfallen, ohne den Grundzu erklären, als die Gruppe weiter ins Dorf hinein ritt.Sein Gesicht fühlte sich heiß an, und in diesem Augenblickwar ihm der Nebel willkommen. Ein einsamer Hund, densie im kalten Nebel nicht sehen konnten, bellte sie wütendan und rannte weg. Hier und dort erschien Licht in einemFenster, wenn sich ein Frühaufsteher regte. Abgesehenvon dem Hund und dem gedämpften Klappern der Hufestörte kein Laut die Ruhe in dieser letzten Nachtstunde.

Rand hatte noch nicht viele Leute aus Taren-Fährekennengelernt. Er versuchte, sich daran zu erinnern, waser von ihnen wußte. Sie kamen selten hinunter in die – wiesie sagten – ›unteren Dörfer‹, und wenn, dann trugen sie

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die Nasen hoch, als röchen sie etwas Schlechtes. Diewenigen, die er bisher getroffen hatte, trugen eigenartigeNamen wie Hügelspitze und Steinboot. Insgesamt standendie Bewohner von Taren-Fähre in dem Ruf, schlau undhinterhältig zu sein. Wenn man einem Mann aus Taren-Fähre die Hand gab, so sagte man, solle man hinterher dieFinger zählen. Lan und Moiraine hielten vor einemgroßen dunklen Haus an. Nebel wirbelte wie Rauch umden Behüter auf, als er aus dem Sattel sprang und dieTreppen zur Vordertür hinaufging. Sie lag in Kopfhöheüber ihnen. Oben angelangt, hämmerte Lan mit der Faustgegen die Tür.

»Ich dachte, wir sollten leise sein«, murmelte Mat.Lan hielt mit dem Klopfen inne. Ein Licht erschien im

Fenster des Nachbarhauses, und jemand schrie ärgerlich,aber der Behüter fuhr mit seiner Trommelei fort.

Plötzlich wurde die Tür von einem Mann imNachthemd aufgerissen, das ihm um die nackten Beineflatterte. Eine Öllampe in einer Hand beleuchtete einschmales Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Der Mannöffnete zornig den Mund und erstarrte, als er den Nebelbemerkte. Seine Augen weiteten sich. »Was ist los?«fragte er. »Was soll das?« Kalte graue Nebelfühler glittendurch die geöffnete Tür, und er trat hastig einen Schrittzurück.

»Meister Hochturm«, sagte Lan. »Genau der Mann, denich brauche. Wir wollen auf Eurer Fähre übersetzen.«

Der Mann mit den scharfen Gesichtszügen hob dieLampe höher und blickte mißtrauisch auf die Fremdlingeherab.

Nach einer Minute sagte Meister Hochturm schließlichmürrisch: »Die Fähre setzt nur im Tageslicht über. Nichtin der Nacht. Niemals. Und auch nicht bei diesem Nebel.

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Kommt zurück, wenn die Sonne aufgegangen und derNebel verschwunden ist.«

Er wollte sich schon abwenden, da packte Lan ihn amHandgelenk. Der Fährmann öffnete wütend den Mund.Gold glitzerte im Schein der Lampe, als der Behüter ihmeinige Münzen in die Hand legte. Hochturm leckte sich dieLippen, als die Münzen klimperten, und sein Kopfbewegte sich auf die Hand zu, als könne er nicht glauben,was er da sah.

»Und noch einmal soviel«, sagte Lan, »wenn wir sicherauf der anderen Seite sind. Aber wir brechen sofort auf.«

»Jetzt gleich?« Der Fährmann kaute auf der Unterlippe,trat von einem Fuß auf den anderen und spähte in dienebelerfüllte Nacht hinaus. Dann nickte er plötzlich. »Alsodann! Aber laßt mein Handgelenk los! Ich muß meineHelfer aufwecken. Oder glaubt Ihr, ich ziehe die Fähreselbst hinüber?«

»Ich werde an der Fähre warten«, sagte Lan ohne jedeGefühlsregung. »Aber nicht lange.« Er gab den Arm desFährmanns frei.

Meister Hochturm drückte eine Handvoll Münzen anseine Brust und schob eilig mit der Hüfte die Tür zu,nachdem er bestätigend genickt hatte.

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KAPITEL 12

Über den Taren

Lan kam die Treppe herunter und befahl den Gefährten,sie sollten absteigen und die Pferde hinter ihm durch denNebel führen. Wieder mußten sie darauf vertrauen, daßder Behüter wußte, wo er hintrat. Der Nebel wirbelte ihmum die Knie und verbarg seine Füße und alles, was sichmehr als einen Schritt entfernt befand. Der Nebel warhier nicht so dicht wie außerhalb des Ortes, aber trotzdemkonnte Rand seine Gefährten kaum erkennen.

Immer noch rührte sich kein Mensch außer ihnen indieser Nacht. Es zeigten sich Lichter in ein paar Häusern,aber der Nebel machte sie zu verschwommenenLichtflecken. Andere Häuser schienen auf einemWolkenmeer zu schwimmen oder ragten unvermittelt ausdem Nebel heraus, als stünden sie ganz allein in dereinsamen Landschaft.

Rand war steif vor Schmerzen von diesem langen Rittund fragte sich, ob er nicht den Rest des Weges nach TarValon zu Fuß zurücklegen sollte. Laufen war zwar nichtbesser als Reiten, aber seine Füße waren so ziemlich dereinzige Körperteil, der nicht schmerzte. Und er war dasLaufen ja gewöhnt.

Nur einmal sagte jemand etwas so laut, daß Rand esklar hören konnte. »Du mußt dich darum kümmern«,sagte Moiraine, als antworte sie auf etwas, das Lan – fürRand unhörbar – gesagt hatte. »Er wird sich sowieso anviel zuviel erinnern, ohne daß wir es ändern können.Wenn er sich besonders deutlich an mich erinnert...«

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Rand bewegte die Schultern unter dem mittlerweiledurchnäßten Umhang, aber es half nichts. Er hielt sichnahe bei den anderen. Mat und Perrin murrten vor sichhin, murmelten Flüche und verbissen sich manchenAufschrei, wenn sie mit den Zehen an etwas Unsichtbaremanstießen. Auch Thom Merrilin brummelte vor sich hin.Wortfetzen wie ›heiße Mahlzeit‹ und ›Feuer‹ und›Glühwein‹ drangen an Rands Ohren, aber weder derBehüter noch die Aes Sedai achteten darauf. Egwenemarschierte wortlos mit, den Rücken gerade aufgerichtetund den Kopf hoch erhoben. Ihr Schritt wirkte allerdingsauch schmerzhaft zögernd, denn sie war genausowenig andas Reiten gewöhnt wie die anderen.

Sie bekommt ihr Abenteuer, dachte er grimmig, aberso wie es schien, bemerkte sie Kleinigkeiten wie Nebel,Feuchtigkeit und Kälte überhaupt nicht. Es mußte da einenUnterschied in der Sichtweise geben, der davon abhing, obman das Abenteuer suchte oder ob es einem aufgezwungenwurde. In den Geschichten wirkte es zweifellos spannend,wenn einer durch kalten Nebel ritt, einen Draghkar oderSchlimmeres auf den Fersen. Egwene empfand vielleichteinen Nervenkitzel dabei; er dagegen spürte nur Kälte undFeuchtigkeit und war froh, sich wieder in einem Dorf zubefinden, selbst wenn es nur Taren-Fähre war.

Plötzlich prallte er in der Dunkelheit gegen etwasGroßes und Warmes: Lans Hengst. Der Behüter undMoiraine waren stehengeblieben, und der Rest der Gruppetat es ihnen nach. Sie tätschelten ihre Reittiere, um sichebenso zu beruhigen wie die Tiere. Hier war der Nebelein wenig dünner.

Vorsichtig führte Rand Wolke ein Stückchen vorwärtsund war überrascht, als er hörte, daß seine Stiefel überHolzplanken scharrten. Der Landesteg der Fähre! E r

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bewegte sich behutsam rückwärts und zog den Grauen mitsich. Er hatte gehört, wie der Landesteg der Taren-Fähreaussah: eine Brücke ins Nichts, an deren Ende nur dieFähre lag. Der Taren war angeblich breit und tief undhatte eine trügerische Strömung, die auch den stärkstenSchwimmer unter Wasser ziehen konnte. Viel breiter alsder Weinquellenbach, dachte er bei sich. Dazu noch derNebel... Er war erleichtert, als er wieder Erdboden unterden Füßen fühlte.

Ein zorniges ›Hsst!‹ von Lan, beißend wie der Nebel.Der Behüter gestikulierte und eilte an Perrins Seite. E rzog den Umhang des kräftigen Burschen weg, bis diegroße Axt zu sehen war. Gehorsam, auch wenn er nichtverstand, warum, warf Rand den eigenen Umhang überdie Schulter zurück, um sein Schwert zu zeigen. Als Lanschnell zu seinem Pferd zurücklief, erschienen im Nebelschwankende Lichter, und gedämpfte Schritte nähertensich.

Sechs Männer in grober Kleidung folgten MeisterHochturm mit unbewegten Gesichtern. Die Fackeln, diesie trugen, vertrieben den Nebel in einem engen Umkreis.Als sie stehenblieben, konnten sie die ganze Gesellschaftaus Emondsfeld klar erkennen. Sie waren von einergrauen Mauer umgeben, die durch den reflektiertenFackelschein noch undurchdringlicher wirkte. DerFährmann betrachtete sie. Den schmalen Kopf hielt erschief, und seine Nase zuckte wie bei einem Wiesel, dasdie Luft prüft, ob eine Falle droht.

Lan lehnte sich scheinbar unbeteiligt an seinen Sattel,doch eine Hand ruhte drohend auf dem langen Knaufseines Schwertes. Er wirkte wie eine zusammengepreßteMetallfeder.

Rand ahmte rasch die Haltung des Behüters nach, indem

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er eine Hand auf sein Schwert legte. Doch er glaubtenicht, daß er diesen tödlich wirkenden Eindruck erweckenkonnte. Vielleicht lachen sie, wenn ich es versuche.

Perrin lockerte seine Axt in der Lederschlaufe undstellte sich absichtlich breitbeinig hin. Mat legte eine Handauf den Köcher. Rand fragte sich, in welchem Zustandsich Mats Bogensehne befand, nachdem sie dieserFeuchtigkeit ausgesetzt gewesen war. Thom Merrilin tratgroßspurig vor und hielt eine leere Hand hoch, die erlangsam drehte. Plötzlich machte er eine schwungvolleBewegung, und ein Dolch wirbelte zwischen seinenFingern hindurch. Der Griff klatschte ihm in dieHandfläche, und er reinigte sich ganz lässig dieFingernägel damit. Ein leises Lachen trieb von Moiraineherüber. Egwene klatschte, als beobachte sie eineVorführung beim Fest, hielt dann inne und blicktebeschämt drein. Ihr Mund zuckte trotzdem im Anflugeines Lächelns.

Hochturm wirkte überhaupt nicht erheitert. Er starrteThom an und räusperte sich laut. »Es ist mehr Gold fürdie Überfahrt im Gespräch gewesen.« Er sah wieder miteinem mürrischen und gleichzeitig verschlagenen Blickeinen nach dem anderen an. »Was Ihr mir zuvor gegebenhabt, ist jetzt an einem sicheren Ort verwahrt, klar? Dakommt Ihr nicht mehr dran.«

»Der Rest des Goldes«, sagte Lan zu ihm, »ist in EurerHand, wenn wir auf der anderen Seite sind.« DerLederbeutel an seinem Gürtel klimperte, als er ihn einwenig schüttelte.

Einen Augenblick lang huschte der Blick desFährmanns zu dem Beutel hinüber, doch schließlich nickteer. »Fangen wir also an«, murmelte er und schritt hinausauf den Steg, von seinen sechs Helfern gefolgt. Der Nebel

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wich vor den Fackeln zurück. Hinter ihnen schlossen sichgraue Fühler und füllten den Raum, in dem sie sichbefunden hatten. Rand eilte hinterher.

Die Fähre selbst war eine breite Holzbarke mithochgezogenen Seiten. Man erreichte sie über eine Rampe,die hochgezogen werden konnte und so das eine Endeabschloß. Auf beiden Seiten verliefen Seile, stark wie dasHandgelenk eines Mannes. Die Seile waren an massivenPfosten am Ende des Stegs befestigt und verschwanden aufder anderen Seite in der Nacht über dem Fluß. Die Helferdes Fährmanns steckten ihre Fackeln in Eisenklammern anden Bordwänden der Fähre, warteten, bis alle ihre Pferdean Bord geführt hatten, und zogen dann die Rampe hoch.Das Deck knarrte unter Hufen und scharrenden Füßen,und die Fähre schwankte unter ihrem Gewicht.

Hochturm fluchte vor sich hin und knurrte sie an, siesollten ihre Pferde festhalten und in der Mitte bleiben,damit sie den Helfern nicht im Weg standen. Er schrieseine Helfer an und hetzte sie herum, als sie die Fähre aufdie Überquerung vorbereiteten, aber was er auch sagte:Die Männer bewegten sich mit den gleichen zögerndenBewegungen. Auch er war nicht mit ganzem Herzendabei, brach oft mitten im Schreien ab, hielt seine Fackelhoch und spähte in den Nebel hinaus. Schließlich hörte ermit dem Schreien ganz auf und ging zum Bug, wo er standund in den Nebel starrte, der den Fluß bedeckte. E rbewegte sich nicht, bis einer der Helfer ihn am Armberührte; dann fuhr er zusammen und sah ihn böse an.

»Was? Oh. Du? Fertig? Wurde auch Zeit. Also, Mann,worauf wartest du?« Er wedelte mit den Armen. »Legtab! Mach Platz! Beweg dich!« Der Mann schlurftegehorsam weg, und Hochturm spähte wieder in den Nebelhinaus.

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Die Fähre schwankte stark, als die Taue gelöst wurdenund die heftige Strömung sie erfaßte, und dann gab esnochmals einen Ruck, als sie von den Führseilenabgefangen wurde. Die Helfer, auf jeder Seite drei,packten die Seile am vorderen Ende der Fähre undschritten mühsam damit nach hinten. Sie unterhielten sichleise, und die Fähre glitt auf den grauverhüllten Flußhinaus.

Der Landesteg verschwand. Nebel hüllte sie ein. ZarteNebelfinger griffen zwischen den flackernden Fackelnhindurch über die Fähre hinweg. Die Barke schaukeltelangsam in der Strömung. Nirgends zeigte sich eineBewegung bis auf den gleichmäßig schweren Schritt derHelfer, wenn sie vorwärtsgingen, um die Seile zu packenund sie dann nach hinten zu ziehen. Rands Gruppe hieltsich möglichst dicht beieinander in der Mitte der Fähre.Rand hatte gehört, daß der Taren viel breiter war als dieFlüsse, die er kannte; der Nebel machte ihn nun nochunendlich viel breiter.

Nach einer Weile bewegte sich Rand näher zu Lan hin.Flüsse, die ein Mann nicht durchwaten oderdurchschwimmen konnte, ja, deren anderes Ufer er nochnicht einmal sah, machten ihn, der nie etwas Breiteresoder Tieferes als einen Wasserwald-Teich gesehen hatte,schon recht unruhig. »Hätten sie wirklich versucht, unsauszurauben?« fragte er leise. »Er hat sich eher sobenommen, als habe er Angst, wir würden ihnausrauben.«

Der Behüter betrachtete den Fährmann und seine Helfer– keiner schien zu lauschen –, bevor er ebensoleiseantwortete: »Wenn der Nebel sie verbirgt... Also, wenndas verborgen bleibt, was sie tun, handeln Menschenmanchmal anderen gegenüber anders, als es der Fall wäre,

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wenn man sie beobachten kann. Und diejenigen, die amschnellsten bereit sind, einem Fremden etwas anzutun,glauben auch am ehesten, ein Fremder wolle ihnenSchaden zufügen. Dieser Bursche... Ich denke, er würdeseine Mutter als Festtagsbraten an die Trollocs verkaufen,wenn der Preis stimmt. Ich bin etwas überrascht, daß dufragst. Ich hörte, wie die Leute in Emondsfeld über dieEinwohner von Taren-Fähre reden.«

»Ja, aber... Na ja, jeder sagt, daß sie... Aber ich habenicht geglaubt, daß sie wirklich...« Rand entschloß sich,den Glauben daran aufzugeben, er wisse irgend etwas überdie Menschen außerhalb seines eigenen Dorfes. »Ererzählt vielleicht dem Blassen, daß wir auf der Fähreübergesetzt haben«, sagte er schließlich. »Vielleicht bringter die Trollocs anschließend auch hinüber.«

Lan lachte trocken. »Einen Fremden ausrauben ist eineSache, mit einem Halbmenschen zu tun haben, eine andere.Kannst du dir wirklich vorstellen, daß er Trollocsübersetzt, besonders in diesem Nebel, ganz gleich, wievielGold man ihm bietet? Oder daß er auch nur mit einemMyrddraal spricht, wenn er es vermeiden kann? Alleinder Gedanke daran brächte ihn dazu, wegzurennen, soweit er nur könnte. Ich glaube nicht, daß wir uns überSchattenfreunde in Taren-Fähre viele Gedanken machenmüssen. Nicht hier. Wir sind sicher.... Wenigstens füreine Weile. Vor diesen Burschen jedenfalls. Paß auf!«

Hochturm hatte sich umgedreht. Das spitze Gesichtvorgestreckt die Fackel erhoben, betrachtete er Lan undRand, als sehe er sie nun zum erstenmal klar und deutlich.Planken knarrten unter dem Schritt der Helfer, undgelegentlich hörte man das Stampfen eines Pferdehufs.Plötzlich zuckte der Fährmann zusammen, denn erbemerkte, daß sie ihn beim Beobachten selbst

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beobachteten. Behende wandte er sich um und spähte nachdem anderen Ufer aus oder was er sonst im Nebel suchenmochte.

»Sag nichts mehr«, sagte Lan so leise, daß Rand ihnkaum verstehen konnte. »Dies sind schlechte Tage, umvon Trollocs oder Schattenfreunden oder dem Vater derLügen zu sprechen. Fremde Ohren lauschen. SolcheGespräche können sich noch mehr rächen als einDrachenzahn an deiner Tür.«

Rand verging die Lust zum Weiterfragen. Mehr alszuvor packte ihn eine Weltuntergangsstimmung.Schattenfreunde! Als ob Blasse und Trollocs und einDraghkar nicht schon genug waren. Wenigstens konnteman einen Trolloc erkennen, wenn man ihn sah.

Plötzlich ragten schattenhafte Pfähle aus dem Nebel auf.Die Fähre prallte sanft auf dem Steg am anderen Ufer auf.Dann rannten die Helfer und machten die Fähre fest undließen die Rampe am vorderen Ende mit einem dumpfenSchlag herunter, während Mat und Perrin großspurigerklärten, der Taren sei nicht halb so breit, wie sieerwartet hatten. Lan führte seinen Hengst die Rampehinunter, von Moiraine und den anderen gefolgt. AlsRand, der letzte in der Reihe, Wolke hinter Bela auf denSteg führte, rief ihnen Meister Hochturm zornig zu: »Wasist jetzt? He! Wo ist mein Gold?«

»Es wird bezahlt werden.« Moiraines Stimme kam vonirgendwoher im Nebel. Rands Stiefel polterten über diePlanken des Landestegs. »Und eine Silbermark für jedenEurer Männer«, fügte die Aes Sedai hinzu, »als Dank fürdie schnelle Überfahrt.«

Der Fährmann zögerte, das Gesicht vorgeschoben, alswittere er Gefahr, aber als sie das Silber erwähnte,erhoben sich die Helfer. Ein paar holten sich erst einmal

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eine Fackel, doch alle polterten die Rampe hinunter, bevorHochturm den Mund öffnen konnte. Mit mürrischverzogenem Gesicht folgte der Fährmann seinerBesatzung.

Wolkes Hufschläge klangen hohl durch den Nebel, alsRand vorsichtig den Steg entlangging. Der graue Nebelwar hier so dicht wie über dem Fluß. Am Fuß des Stegsteilte der Behüter Münzen aus. Er war umgeben von denFackeln Hochturms und seiner Leute. Alle außer Moirainewarteten ein wenig weiter entfernt. Sie standen ängstlicheng beieinander. Die Aes Sedai stand allein da und blickteauf den Fluß hinaus. Rand verstand nicht, was sie da wohlsehen mochte. Schaudernd zog er den Umhang enger umdie Schultern, obwohl er ganz durchnäßt war. Jetzt befander sich wirklich außerhalb der Zwei Flüsse, und seineHeimat schien ihm viel ferner als nur eine Flußbreite.

»Hier«, sagte Lan, der Hochturm eine letzte Münze indie Hand drückte. »Wie abgemacht.« Er steckte seineBörse noch nicht weg, und der Mann mit demFrettchengesicht betrachtete sie gierig.

Unter lautem Quietschen erzitterte der Landesteg.Hochturm fuhr hoch. Sein Kopf wandte sich der vonNebel eingehüllten Fähre zu. Die an Bordzurückgebliebenen Fackeln waren ein paarverschwommene trübe Lichtflecken. Der Steg ächzte, undmit dem donnernden Krachen von zerberstendem Holzschwankten die beiden Lichter und entfernten sich.Egwene stieß einen wortlosen Schrei aus, und Thomfluchte.

»Sie treibt weg!« schrie Hochturm. Er packte seineHelfer und schob sie auf das Ende des Stegs zu. »DieFähre hat sich losgerissen, ihr Dummköpfe! Packt zu!Holt sie zurück!«

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Die Helfer stolperten unter seinen Stößen ein paarSchritte vorwärts, blieben dann aber stehen. Die trübenLichter an Bord der Fähre drehten sich plötzlich und dannimmer schneller. Der Nebel darüber drehte sich ebenfalls,wurde zu einer Spirale. Der Landesteg bebte. DasKrachen und Splittern von Holz erfüllte die Luft, als dieFähre zerbrach.

»Ein Strudel«, murmelte einer der Helfer mitehrfurchtsvoller Stimme.

»Es gibt keine Strudel im Taren.« Hochturm hörte sichirgendwie leer an. »Da war noch nie ein Strudel...«

»Ein unglückliches Vorkommnis.« Moiraines Stimmeklang hohl durch den Nebel, der aus ihr einen Schattenmachte, der sich vom Fluß abwandte.

»Unglücklich«, stimmte Lan mit gepreßter Stimme zu.»Es scheint, daß Ihr für eine Weile niemanden mehr überden Fluß bringen werdet. Eine unangenehme Sache, EuerFloß in unseren Diensten zu verlieren.« Er griff erneut inden Beutel, der sich noch in seiner Hand befand. »Diessollte Euch entschädigen.«

Für einen Augenblick starrte Hochturm auf das Gold,das in Lans Hand schimmerte, dann zog er die Schulternein, und sein Blick wanderte zu den anderen hinüber, dieer über den Fluß gebracht hatte. Die Leute ausEmondsfeld standen undeutlich und schweigend im Nebel.Mit einem verängstigten Aufschrei schnappte sich derFährmann die Münzen aus Lans Hand, drehte sich um undrannte in den Nebel hinein. Seine Helfer waren nur einenhalben Schritt hinter ihm. Der Schein ihrer Fackelnverschwand schnell flußaufwärts.

»Es gibt hier nichts mehr, das uns halten könnte«, sagtedie Aes Sedai, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen.Sie führte ihre weiße Stute weg vom Landesteg und die

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Uferböschung hinauf.Rand stand noch da und starrte auf den verborgenen

Fluß. Es könnte ein Zufall gewesen sein. Er sagte wohl:Keine Strudel... Aber es... Plötzlich wurde ihm klar, daßalle anderen weg waren. Hastig stieg auch er die sanftansteigende Böschung hinauf.

Drei Schritte später verflog der dichte Nebel, undnichts blieb davon übrig. Er blickte zurück. Entlang derUferlinie hing auf einer Seite dichtes Grau, während sichauf der anderen ein klarer Nachthimmel zeigte, nochdunkel, obwohl die scharfen Umrisse des Mondes daraufhinwiesen, daß die Dämmerung nicht mehr fern war.

Der Behüter und die Aes Sedai standen neben ihrenPferden und berieten. Die anderen drückten sich ein Stückentfernt aneinander; sogar im Mondlicht war ihrUnbehagen greifbar zu spüren. Alle sahen Lan undMoiraine an, und alle außer Egwene hatten sich nachhinten gelehnt, innerlich unentschlossen, denn sie wolltendas Paar nicht aus den Augen verlieren und ihmandererseits nicht zu nahe kommen. Rand lief an EgwenesSeite, Wolke im Schlepptau, und sie lächelte ihn an. E rglaubte nicht, daß das Leuchten in ihren Augen nur vomMondschein herrührte.

»Er verläuft so gerade am Flußufer entlang, als sei ermit der Feder gezogen«, sagte Moiraine in befriedigtemTonfall. »Es gibt keine zehn Frauen in Tar Valon, die dasohne Hilfe fertiggebracht hätten. Ganz zu schweigendavon, daß es vom Rücken eines galoppierenden Pferdesaus geschah.«

»Ich will mich ja nicht beklagen, Moiraine Sedai«, sagteThom mit ungewohnter Schüchternheit, »aber wäre esnicht besser gewesen, uns weiterhin Deckung zugewähren? Vielleicht bis Baerlon? Wenn der Draghkar

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auf diese Seite des Flusses schaut, dann verlieren wir alles,was wir gewonnen haben.«

»Die Draghkar sind nicht besonders schlau, MeisterMerrilin«, sagte die Aes Sedai trocken. »Furchterregendund von tödlicher Gefahr und mit guten Augenausgestattet, doch mit wenig Intelligenz. Er wird demMyrddraal berichten, daß es auf dieser Seite des Flussesklar sei, doch der Fluß selbst sei meilenweit in beidenRichtungen in Nebel gehüllt. Der Myrddraal wird wissen,welche Anstrengung das für mich bedeutete. Er wird inBetracht ziehen, daß wir vielleicht den Fluß hinunter zuentkommen versuchen, und das wird ihn aufhalten. E rmuß seine Bemühungen verdoppeln. Der Nebel sollte sichlange genug halten, damit er nie sicher ist, ob wir nichtdoch zumindest ein Stück mit einem Boot gefahren sind.Ich hätte den Nebel statt dessen auch mehr in RichtungBaerlon ausdehnen können, doch dann könnte derDraghkar den Fluß innerhalb weniger Stunden absuchen,und der Myrddraal wüßte genau, in welche Richtung wirreisen.«

Thom pustete und schüttelte den Kopf. »Ichentschuldige mich, Aes Sedai. Ich hoffe, Ihr seid mir nichtböse.«

»Ah, Moi... ach ja, Aes Sedai.« Mat stockte undschluckte hörbar. »Die Fähre... äh... habt Ihr... ichmeine... ich verstehe nicht, wieso...« Er verstummteschüchtern, und die nachfolgende Stille war so tief, daßder einzige Laut, den Rand vernahm, der eigene Atemwar. Schließlich sprach Moiraine, und ihre Stimmeerfüllte die leere Stille mit Schärfe. »Ihr sucht alle nachErklärungen, aber wenn ich jede meiner Handlungen ersterklären wollte, dann hätte ich keine Zeit mehr füranderes.« Im Mondlicht erschien ihnen die Aes Sedai

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größer, sie ragte beinahe über ihnen auf. »Wisset also: Ichbeabsichtige, Euch sicher nach Tar Valon zu bringen. Dasist das einzige, was Ihr wissen müßt.«

»Wenn wir weiter hier herumstehen«, warf Lan ein,»muß der Draghkar den Fluß nicht erst absuchen. Fallsmich mein Gedächtnis nicht täuscht...« Er führte seinPferd weiter die Böschung hoch.

Als habe die Bewegung des Behüters etwas in seinerBrust befreit, holte Rand tief Luft. Er hörte die anderendasselbe tun, sogar Thom, und erinnerte sich an eine alteRedensart: Besser dem Wolf auf die Nase spucken als eineAes Sedai erzürnen. Aber die Anspannung war gewichen.Moiraine ragte über niemanden auf; sie reichte ihm kaumbis zur Brust.

»Können wir uns wenigstens ein bißchen ausruhen?«fragte Perrin hoffnungsvoll und gähnte. Egwene, die sichträge an Bela lehnte, seufzte erschöpft.

Das war der erste verzagte Laut, den Rand von ihrvernahm. Vielleicht merkt sie endlich, daß dies kein tollesAbenteuer ist. Dann erinnerte er sich schuldbewußt daran,daß sie nicht wie er den halben Tag verschlafen hatte.»Wir brauchen ein wenig Ruhe, Moiraine Sedai«, sagte er.»Schließlich sind wir die ganze Nacht hindurch geritten.«

»Dann schlage ich vor, wir sehen nach, was Lan mituns im Sinn hat«, sagte Moiraine. »Kommt!«

Sie führte sie die Böschung vollends hinauf und in denWald hinein. Kahle Äste verstärkten die Schatten, und sieerreichten eine dunkle Erhebung neben einer Lichtung.Hier hatte vor langer Zeit eine Überschwemmung einenganzen Hain von Lederblattbäumen unterspült undumgestürzt. Die Bäume waren zu einem großen Gewirraus Stämmen und Ästen und Wurzeln zusammengesackt.Moiraine blieb stehen, und plötzlich erschien in

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Bodennähe ein Licht. Der Schein drang aus dem Gestrüpphervor, und Lan kroch dort unten heraus. Er schobvorsichtig den Stummel einer Fackel vor sich her. »Keineungebetenen Besucher«, sagte er zu Moiraine. »Und dasHolz, das ich gesammelt hatte, ist immer noch trocken. Ichhabe ein kleines Feuer gemacht. Wir können uns in derWärme ausruhen.«

»Hattet Ihr damit gerechnet, daß wir hier eine Rasteinlegen?« fragte Egwene überrascht.

»Das schien ein geeigneter Ort«, antwortete Lan. »Ichbin immer gern auf alles vorbereitet. Man kann ja niewissen.«

Moiraine nahm ihm die Fackel ab. »Kümmerst du dichum die Pferde? Wenn du fertig bist, werde ich meinmöglichstes tun, um allen die Müdigkeit zu vertreiben.Jetzt gerade möchte ich mich mit Egwene unterhalten.Egwene?«

Rand beobachtete, wie sich die beiden Frauen bücktenund unter dem Gewirr aus Baumstämmen verschwanden.Es gab da eine niedrige Öffnung, kaum groß genug, umhineinzukriechen. Der Schein der Fackel verschwand.

Lan hatte bei den Reisevorbereitungen auch anFuttersäcke und einen kleinen Hafervorrat gedacht, dochdie Pferde sollten die Sättel nicht ablegen. Statt dessenholte er die ebenfalls mitgebrachten Fußfesseln heraus.»Sie könnten sich ohne Sättel natürlich besser ausruhen,aber falls wir schnell weitermüssen, haben wir vielleichtkeine Zeit mehr, sie wieder zu satteln.«

»Für mich sehen sie nicht so aus, als müßten sie sichausruhen«, sagte Perrin beim Versuch, einen Futtersacküber den Kopf seines Reittieres zu hängen. Das Pferd warfden Kopf hoch, bevor es ihm gestattete, die Riemenanzubringen. Rand hatte auch seine Schwierigkeiten mit

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Wolke. Er benötigte drei Versuche, bis er denSegeltuchbeutel über die Nase des Grauen gezogen hatte.

»Sie brauchen Ruhe«, sagte Lan. Er richtete sich auf,nachdem er seinen Hengst festgemacht hatte. »Ja, siekönnen immer noch rennen. Wenn wir nicht aufpassen,dann rennen sie, bis sie vor Erschöpfung tot umfallen.Mir wäre es lieber gewesen, Moiraine Sedai hätte dasnicht tun müssen, aber es war nicht anders möglich.« E rtätschelte den Hals des Hengstes, und das Pferd hob undsenkte den Kopf, als genieße es die Berührung desBehüters. »Wir müssen in den nächsten Tagen langsamertun, damit sie sich erholen. Langsamer, als mir lieb ist.Aber mit etwas Glück wird es reichen.«

»Ist das...?« Mat schluckte hörbar. »Meinte sie das? Mitunserer Erschöpfung?«

Rand klatschte mit der Hand auf Wolkes Hals undstarrte ins Leere. Obwohl sie seinem Vater sowirkungsvoll geholfen hatte, hatte er nicht das Bedürfnis,die Macht der Aes Sedai auch an sich selbst erproben zulassen. Licht, sie hat ja so gut wie zugegeben, daß sie dieFähre versenkte.

»Ja, so ungefähr.« Lan lachte sarkastisch. »Aber ihrmüßt euch keine Gedanken machen, daß ihr euch zu Toderennen werdet – solange die Lage nicht sehr vielschlimmer wird als jetzt. Nehmt es einfach als einezusätzliche Nacht zum Schlafen.«

Von weit droben über dem nebelbedeckten Fluß ertönteplötzlich der Schrei des Draghkars. Sogar die Pferdeerstarrten. Wieder erklang er, diesmal näher, und nocheinmal. Wie Nadeln drang es in Rands Schädel. Dannwurden die Schreie schwächer, bis sie ganz fernverklangen. »Glück«, hauchte Lan. »Es sucht den Flußnach uns ab.« Er zuckte kurz mit den Achseln und klang

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plötzlich wieder ganz selbstsicher. »Gehen wir hinein. Ichkönnte heißen Tee gebrauchen und etwas zumMagenfüllen.«

Rand war der erste, der auf Händen und Knien durchdie Öffnung im Gestrüpp und einen kurzen Tunnelhinunterkroch. Am Ende hielt er an, immer noch aufKnien. Vor ihm lag ein unregelmäßig geformter Raum,eine Waldhöhle, die bei weitem groß genug für alle war.Die Decke aus Baumstämmen und Ästen war allerdings soniedrig, daß nur die Frauen aufrecht stehen konnten.Rauch stieg von einem kleinen Feuer auf einemFundament aus Flußsteinen auf und trieb davon. DerLuftzug reichte aus, um den Raum vom Rauch zubefreien, und das verwobene Gestrüpp war so dicht, daßkein Feuerschein nach außen drang. Moiraine und Egwenehatten ihre Umhänge zur Seite gelegt und saßen sich imSchneidersitz am Feuer gegenüber. »Die Eine Macht«,sagte Moiraine gerade, »kommt aus der Wahren Quelle,der treibenden Kraft der Schöpfung, der Kraft, die derSchöpfer erschuf, um das Rad der Zeit zu drehen.« Sielegte die Handflächen aneinander und preßte siegegeneinander. »Saidin, die männliche Hälfte der WahrenQuelle, und Saidar, die weibliche Hälfte, arbeitengleichzeitig gegeneinander und miteinander, um die Machtzu erzeugen. Saidin« – sie erhob eine Hand und ließ siewieder fallen – »wurde durch die Berührung des DunklenKönigs verdorben, wie Wasser, auf dessen Oberfläche eindünner Film ranzigen Öls schwimmt. Das Wasser istimmer noch rein, doch man kann es nicht berühren, ohnegleichzeitig die Verunreinigung zu berühren. Nur Saidarkann noch gefahrlos benutzt werden.« Egwene wandteRand den Rücken zu. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen,doch sie beugte sich begierig lauschend vor.

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Mat stieß Rand von hinten an und murmelte etwas, undso kroch Rand nach vorn in die Baumhöhle hinein.Moiraine und Egwene nahmen sein Eintreten nicht wahr.Die anderen drängten sich hinter ihm hinein, warfen dieklammen Umhänge zur Seite, setzten sich ans Feuer undhielten die Hände darüber, um sie zu wärmen. Lan, derletzte, der eintrat, zog Wasserbeutel und Ledersäcke auseiner Nische in der Baumwand, holte einen Kessel hervorund bereitete Tee zu. Er achtete nicht darauf, was dieFrauen sagten, aber Rands Freunde hörten auf, sich dieHände zu rösten, und lauschten ganz unverhohlen. Thomgab vor, seine ganze Aufmerksamkeit dem Stopfen seinerwunderschön geschnitzten Pfeife zu widmen, aber die Art,wie er sich zu den Frauen hinüberbeugte, verriet ihn.Moiraine und Egwene benahmen sich, als seien sie allein.

»Nein«, antwortete Moiraine auf eine Frage, die Randnicht gehört hatte, »die Wahre Quelle kann nichtaufgebraucht werden, genausowenig wie ein Fluß durchdas Mühlrad aufgebraucht wird. Die Quelle ist der Fluß,die Aes Sedai sind das Mühlrad.«

»Und Ihr glaubt wirklich, daß ich das lernen kann?«fragte Egwene. Ihr Gesicht glühte vor Eifer. Rand hattesie noch nie so schön gesehen und gleichzeitig so weit vonihm entfernt. »Ich kann eine Aes Sedai werden?«

Rand sprang auf und stieß mit dem Kopf gegen einenBaumstamm an der niedrigen Decke. Thom Merrilinpackte ihn am Arm und zog ihn hinunter.

»Sei kein Narr!« zischte der Gaukler. Er betrachtetedie Frauen – keine schien etwas bemerkt zu haben – undblickte Rand voller Sympathie an. »Darauf hast du keinenEinfluß mehr, Junge.«

»Kind«, sagte Moiraine sanft, »nur wenige lernen, dieWahre Quelle zu berühren und die Eine Macht

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anzuwenden. Einige von denen lernen es besser, andereschlechter. Du gehörst zu der Handvoll Menschen, die esnicht erst lernen müssen. Zumindest wirst du von selbstwissen, wie man die Wahre Quelle berührt, ob du es willstoder nicht. Ohne das Wissen, das du in Tar Valonerwerben kannst, wirst du allerdings nie lernen, die Machtganz zu beherrschen, und es könnte sein, daß du nichtüberlebst. Männer, denen die Fähigkeit angeboren ist,Saidin zu berühren, sterben natürlich, falls die Roten Ajahsie nicht finden und dämpfen...«

Thom grollte tief in seiner Kehle, und Rand rutschtenervös hin und her. Männer wie jene, von denen die AesSedai sprach, waren selten – er hatte in seinem ganzenLeben nur von dreien gehört, und die lebten, dem Lichtsei Dank, nicht bei den Zwei Flüssen –, aber der Schaden,den sie anrichteten, bevor sie von den Aes Sedai gefundenwurden, war immer schlimm genug, um Futter für dieNachrichten zu liefern, genauso wie die Kriege oderErdbeben, die ganze Städte zerstörten. Er hatte niemalsrichtig verstanden, was die Ajah taten. Den Geschichtennach bildeten sie Gesellschaften innerhalb der Aes Sedai,die mehr als alles andere untereinander stritten undintrigierten, doch in einem Punkt waren sich dieGeschichten einig. Die Roten Ajah hatten es sich zurobersten Pflicht gemacht, die Welt vor einer neuenZerstörung zu bewahren, und diese Aufgabe erfüllten sie,indem sie jeden Mann jagten, der davon träumte, die EineMacht anzuwenden. Mat und Perrin sahen aus, alswünschten sie sich plötzlich, zu Hause in ihren Betten zuliegen.

»... aber auch einige der Frauen sterben. Es ist schwerohne Führung zu erlernen. Die Frauen, die wir nichtfinden und die überleben, werden oft zu... Nun ja, in

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diesem Teil der Welt werden sie vielleicht Seherinnen inihren Dörfern.« Die Aes Sedai schwieg nachdenklich.»Das alte Blut ist stark in Emondsfeld, und dieses alte Blutsingt. Ich wußte, wer du warst, vom ersten Augenblick an,als ich dich sah. Jede Aes Sedai, die sich in Gegenwarteiner Frau befindet, die die Eine Macht lenken kann oderderen Erwachen bevorsteht, fühlt dies.« Sie kramte ineinem Beutel an ihrem Gürtel und holte einen kleinenblauen Edelstein an einer Goldkette hervor, den sie vorherim Haar getragen hatte. »Du bist deinem Erwachen sehrnahe, deiner ersten Berührung der Wahren Quelle. Es istbesser, wenn ich dich durch diese Zeit geleite. Dannkannst du die unangenehmen Auswirkungen vermeiden,die denen bevorstehen, die den Weg selbst findenmüssen.«

Egwenes Augen wurden groß, als sie den Steinbetrachtete, und sie leckte sich die Lippen zumwiederholten Mal. »Ist... Hat der die Macht?«

»Natürlich nicht!« fuhr Moiraine sie an. »Dinge habenkeine Macht, Kind. Selbst ein Angreal ist nur einWerkzeug. Das hier ist nur ein hübscher blauer Stein.Aber er kann Licht erzeugen. Sieh her!«

Egwenes Hände zitterten, als Moiraine den Stein aufihre Fingerspitzen legte. Sie wollte die Händezurückziehen, aber die Aes Sedai nahm ihre beiden Händein eine der ihren, und mit der anderen berührte sieEgwenes Schläfe. »Schau den Stein an«, sagte die AesSedai leise. »Es ist besser so, als allein herumzutasten.Befreie deinen Geist von allem bis auf den Stein. Befreiedeinen Geist und laß dich treiben. Es gibt nur noch denStein und die Leere. Ich werde beginnen. Treibe und laßmich dich führen. Keine Gedanken. Treibe.«

Rands Finger bohrten sich in seine Knie; die

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Kinnbacken verkrampften sich, bis sie schmerzten. Siemuß versagen. Sie muß.

Licht erblühte im Stein, ein einziges blaues Aufblitzen,dann war es verschwunden; nicht heller als einGlühwürmchen, doch er zuckte zusammen, als habe es ihngeblendet. Egwene und Moiraine starrten mitausdruckslosen Gesichtern in den Stein hinein. Einweiteres Aufblitzen, dann noch einmal, bis das azurblaueLicht wie in einem Herzschlag pulsierte. Es ist die AesSedai, dachte er verzweifelt. Moiraine tut das. NichtEgwene.

Ein letztes schwaches Aufflackern, und dann war derStein erneut nichts als ein Anhänger. Rand hielt die Luftan.

Für einen Moment starrte Egwene noch weiter in denStein hinein, doch dann blickte sie zu Moiraine auf. »Ich...ich dachte, ich fühle... etwas, aber... Vielleicht habt Ihrdoch nicht recht in bezug auf mich. Es tut mir leid, daßIhr Eure Zeit verschwendet habt.«

»Ich habe nichts verschwendet, Kind.« Um MoirainesLippen spielte ein schwaches, zufriedenes Lächeln. »Dasletzte Licht war allein deines.«

»Tatsächlich?« rief Egwene und verfiel danach sofortin Trübsinn. »Aber es war ja kaum vorhanden.«

»Jetzt benimmst du dich wie ein närrischesDorfmädchen. Die meisten, die nach Tar Valon kommen,müssen monatelang üben, um das fertigzubringen, was dugerade geschafft hast. Du könntest es weit bringen.Vielleicht sogar eines Tages bis zum Amyrlin-Sitz, wenndu fleißig lernst und arbeitest.«

»Ihr meint...?« Mit einem Freudenschrei umarmteEgwene die Aes Sedai. »O danke! Rand, hast du gehört?Ich werde eine Aes Sedai!«

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KAPITEL 13

Entscheidungen

Bevor sie einschliefen, kniete Moiraine neben jedem vonihnen nieder und legte ihnen die Hände auf den Kopf. Lanschimpfte, er brauche das nicht, und sie solle ihre Kraftnicht verschwenden, doch er versuchte nicht ernsthaft, siedaran zu hindern. Egwene drängte sich beinahe nachdieser Erfahrung, während Mat und Perrin eindeutigAngst hatten, sich aber auch davor fürchteten, nein zusagen. Thom zuckte unter den Händen der Aes Sedaizusammen, aber sie ergriff energisch seinen grauen Kopf,mit einem Blick, der keinen Widerspruch erlaubte. DerGaukler machte die ganze Prozedur hindurch ein sauresGesicht. Sie lächelte spöttisch, als sie die Hände wiederwegnahm. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, aberer sah erfrischt aus. Sie alle wirkten erholt.

Rand hatte sich in eine Nische in der unregelmäßigverlaufenden Wand zurückgezogen und hoffte, übersehenzu werden. Seine Augen schlossen sich beinahe von selbst,als er sich gegen das Gewirr von Stämmen und Gestrüpplehnte, doch er zwang sich zum Zuschauen. Er hielt dieHand vor den Mund und versuchte, das Gähnen zuunterdrücken. Ein wenig Schlaf, ein oder zwei Stunden,und er würde sich wieder wohler fühlen. Aber Moiraineübersah ihn nicht.

Er zuckte ebenfalls ein wenig zusammen, als er ihrekühlen Finger auf seinem Gesicht fühlte, und sagte: »Ichglaube nicht...« Seine Augen weiteten sich erstaunt. DieMüdigkeit rann aus ihm heraus wie Wasser den Berg

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hinunter; Schmerzen und Muskelkater wurden zuschwachen Erinnerungen und verschwanden ganz. Er sahsie mit offenem Mund an. Sie lächelte nur und zog dieHände zurück.

»Es ist vollbracht«, sagte sie und stand mit einemmüden Seufzer auf, der ihn daran erinnerte, daß sie fürsich selbst nichts tun konnte. Sie trank nur ein wenig Teeund lehnte Brot und Käse ab, die Lan ihr aufzudrängenversuchte, bevor sie sich am Feuer zusammenrollte. Sieschien im gleichen Moment einzuschlafen, nachdem sieihren Umhang um sich gewickelt hatte.

Die anderen, alle außer Lan jedenfalls, schliefen ein,wo immer sie ein Plätzchen zum Ausstrecken fanden,obwohl sich Rand nicht vorstellen konnte, warum. E rfühlte sich, als habe er bereits eine ganze Nacht in einemguten Bett hinter sich. Doch kaum hatte er sich bequemgegen die grüne Wand gelehnt, da schlief er auch schonein. Als Lan ihn eine Stunde später wachrüttelte, fühlte ersich, als habe er drei Tage lang geruht.

Der Behüter weckte alle bis auf Moiraine undunterdrückte auf ernste Art jeden Laut, der ihren Schlafstören konnte. Trotzdem gestattete er ihnen nur einenkurzen Aufenthalt in der gemütlichen Baumhöhle. Kaumhatte die Sonne sich über dem Horizont erhoben, warenalle Spuren verwischt, und saßen alle auf ihren Pferdenund waren unterwegs nach Norden, in Richtung Baerlon.Sie ritten langsam, damit die Pferde ihre Kräfte schonenkonnten. Unter den Augen der Aes Sedai lagen tiefeSchatten, aber sie saß aufrecht und ruhig im Sattel.

Über dem Fluß lag immer noch dichter Nebel, einegraue Mauer, die den kraftlosen Sonnenstrahlenerfolgreich widerstand. Die Zwei Flüsse lagen verborgendahinter. Rand blickte beim Reiten öfter über die Schulter

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zurück und hoffte auf einen letzten Blick, wenigstens aufTaren-Fähre, bis schließlich die Nebelbank dem Blickentschwand.

»Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich einmal so weitweg von zu Hause befände«, sagte er, als die Bäumeschließlich den Nebel wie auch den Fluß verbargen.»Erinnert ihr euch noch daran, als Wachhügel so weit wegschien?« Das war vor zwei Tagen. Es erscheint mir wieeine Ewigkeit.

»In spätestens zwei Monaten sind wir zurück«, sagtePerrin in angespanntem Tonfall. »Denkt mal, was wirdann alles zu erzählen haben!«

»Selbst die Trollocs können uns nicht ewig jagen«,meinte Mat. »Versengen soll mich das Licht, aber daskönnen sie doch nicht.« Er richtete sich mit einem tiefenSeufzer im Sattel auf und sackte wieder zusammen, alsglaube er kein Wort von dem Gesagten.

»Männer!« schnaubte Egwene. »Da bekommt ihrendlich die Abenteuer, über die ihr immer geschwatzthabt, und schon redet ihr wieder über zu Hause.« Sie hieltden Kopf hoch erhoben, und doch bemerkte Rand einleises Zittern in ihrer Stimme, jetzt, da man nichts mehrvon den Zwei Flüssen sah.

Weder Moiraine noch Lan unternahmen einen Versuch,sie zu beruhigen. Kein Wort, um ihnen zu sagen, daß siezurückkehren würden. Er versuchte, nicht daran zudenken, was das bedeuten mochte. Sogar in ausgeruhtemZustand wurde er von Zweifeln geplagt, so daß er nichtnoch mehr davon gebrauchen konnte. Im Sattelzusammengesunken flüchtete er sich in einen Tagtraum.Er hütete neben Tam Schafe auf einer Weide mit dichtemüppigen Gras. Die Lerchen sangen von einemFrühlingsmorgen. Und eine Fahrt nach Emondsfeld zum

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Bel Tine, so wie es gewesen war. Er tanzte auf dem Grün,und seine einzige Sorge war, nicht beim nächstenTanzschritt zu stolpern. Er brachte es fertig, sich langeZeit in diesen Traum zu versenken.

Der Ritt nach Baerlon dauerte fast eine Woche. Lanbeschwerte sich zwar über ihre Bummelei, aber er war es,der die Geschwindigkeit bestimmte und die anderenzwang, sie einzuhalten. Mit sich und seinem HengstMandarb – er sagte, das heiße ›Klinge‹ in der AltenSprache – ging er nicht so rücksichtsvoll um. Der Behüterlegte die doppelte Strecke der anderen zurück. E rgaloppierte mit im Wind flatterndem Umhang voraus, umzu sehen, was vor ihnen lag, oder er ließ sich zurückfallenund suchte den Weg hinter ihnen nach Verfolgern ab.Jeder andere jedoch, der sich schneller als im Schrittempozu bewegen versuchte, wurde ausgescholten, weil er keineRücksicht auf die Tiere nahm, und mußte sich ein paarbeißende Sätze anhören, was er wohl zu Fuß unternehmenwürde, wenn die Trollocs erst erschienen. Nicht einmalMoiraine war vor seiner scharfen Zunge sicher, wenn sieihre weiße Stute in Trab setzte. Aldieb war der Name derStute; in der Alten Sprache hieß das ›Westwind‹ – derWind, der den Frühlingsregen brachte.

Der Spürsinn des Behüters erbrachte kein Zeichen einerVerfolgung oder eines Hinterhalts. Er erzählte nurMoiraine, was er sah, und das so leise, daß niemand sonstes verstehen konnte, und dann berichtete die Aes Sedai denanderen, was sie für berichtenswert hielt. Anfangs blickteRand genauso oft nach hinten wie nach vorn. Er war nichtder einzige. Perrin griff oft nach seiner Axt, und Mat rittmit einem Pfeil auf der Sehne, jedenfalls anfangs. Aberdas Land hinter ihnen blieb leer von Trollocs oderGestalten in schwarzen Mänteln, und am Himmel zeigte

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sich kein Draghkar. Allmählich glaubte Rand daran, daßsie wirklich und wahrhaftig entkommen waren.

Selbst die dichtesten Stellen des Waldes boten keineausreichende Deckung. Der Winter hielt sich hier,nördlich des Taren, genauso zäh wie bei den ZweiFlüssen. Gruppen von Kiefern, Tannen oderLederblattbäumen und hier und da ein paarGewürzsträucher oder Lorbeerbäumchen hoben sich vonden kahlen grauen Bäumen ab. Nicht einmal beimHolunder zeigten sich Blätter. Nur vereinzelt sprießten diegrünen Spitzen von neuem Gras aus den braunen, vomSchnee niedergedrückten Wiesen hervor. Auch hierwuchsen vor allem Brennesseln, Disteln und Stinkkraut.Auf dem nackten Waldboden hielten sich letzteSchneereste, wo schattige Stellen die Sonne abhielten, oderin kleinen Mulden unter den niedrigen Ästen der Tannen.Die Gefährten zogen die Umhänge fester um dieSchultern, denn das blasse Sonnenlicht verströmte keineWärme, und die nächtliche Kälte war beißend. Genausowie bei den Zwei Flüssen flogen auch hier keine Vögel,nicht einmal Raben umher.

Wenn sie sich auch langsam vorwärtsbewegten, sokonnten sie sich doch keineswegs entspannen. DieNordstraße – Rand nannte sie immer noch so, obwohl ervermutete, daß sie hier, nördlich des Taren, einen anderenNamen hatte – verlief noch immer fast direkt RichtungNorden, aber Lan bestand darauf, daß ihr Weg so oft wiemöglich in dieser oder jener Richtung abwich und durchden Wald führte, fast genauso oft, wie sie der festenLehmspur der Straße folgten. Ein Dorf, ein Bauernhofoder irgendein Anzeichen von Menschen oder vonmenschlicher Besiedelung veranlaßte sie zu meilenweitenUmwegen. Sie begegneten aber nicht vielen solcher

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Spuren. Den ganzen ersten Tag über sah Rand, abgesehenvon der Straße, überhaupt kein Anzeichen dafür, daß sichMenschen je in diesem Wald aufgehalten hatten. EinGedanke kam ihm, daß er selbst zu jener Zeit, als er zumFuß der Verschleierten Berge gewandert war,menschlichen Siedlungen näher gewesen war als heute.

Der erste Bauernhof, den er sah – ein großes Holzhausmit einer hohen Scheune und spitzen strohgedecktenGiebeldächern (aus einem gemauerten Schornstein drangeine Rauchwolke) –, erschreckte ihn deshalbeinigermaßen.

»Es ist nicht anders als zu Hause«, sagte Perrin, derfinster zu den fernen Gebäuden hinüberblickte. Menschenbewegten sich im Hof. Sie hatten die Reisenden noch nichtentdeckt.

»Natürlich ist es anders«, sagte Mat. »Wir sind einfachnoch nicht nahe genug.«

»Ich sage euch, es ist nicht anders«, beharrte Perrin.»Doch! Wir sind schließlich nördlich des Taren.«»Ruhig, ihr beiden!« grollte Lan. »Wir wollen nicht

gesehen werden, ja? Hier entlang!« Er wandte sichRichtung Westen, um den Hof durch die Bäume herum zuumgehen.

Beim Zurückschauen dachte Rand, daß er Perrin rechtgeben mußte. Der Hof sah ziemlich gleich aus wie alle inder Gegend um Emondsfeld. Da war ein kleiner Junge,der Wasser aus dem Brunnen schöpfte, und ältere Jungenhüteten Schafe hinter einem Lattenzaun. Es gab sogareinen Trockenschuppen für Tabak. Aber Mat hatte auchrecht. Wir befinden uns nördlich des Taren. Es mußeinfach anders sein.

Sie machten immer Rast, wenn es noch hell war, umeinen Platz auszusuchen, der einen leichten Abhang

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aufwies, damit das Wasser abfließen konnte, und sie vordem Wind schützte, der nur selten ganz einschlief. Meiständerte er lediglich die Richtung. Ihr Lagerfeuer warimmer klein und so geschickt versteckt, daß man es aufwenige Schritte Entfernung nicht mehr sehen konnte.Sobald der Tee gekocht war, wurden die Flammengelöscht und die Kohlen vergraben.

Beim ersten Halt, bevor die Sonne sank, begann Landamit, die Jungen im Umgang mit ihren Waffen zuunterweisen. Er nahm als erstes den Bogen. Nachdem erbeobachtet hatte, wie Mat drei Pfeile in einemmännerkopfgroßen Ziel auf dem gespaltenen Stumpf einestoten Lederblattbaums landete – auf hundert SchrittEntfernung –, nahm er die anderen an die Reihe. Perrinwiederholte Mats Leistung, und Rand, der die Flammeund das Nichts in sich beschwor und damit die leere Ruhe,die den Bogen zu einem Teil seiner selbst werden ließ,brachte seine drei Pfeile so eng nebeneinander ins Ziel,daß sich die Spitzen beinahe berührten. Mat schlug ihmgratulierend auf die Schulter.

»Wenn ihr jetzt alle einen Bogen hättet«, sagte derBehüter trocken, als er ihr Grinsen sah, »und wenn dieTrollocs so nett wären, euch so weit vom Leib zu bleiben,daß ihr den Pfeil abschießen könntet...« Das Grinsenverging den Freunden sogleich. »Wir werden sehen, wasich euch beibringen kann, falls sie einmal zu nahekommen.«

Er zeigte Perrin den Gebrauch einer Streitaxt mitgroßer Schneide; wenn man eine Axt gegen jemandenerhob, der selbst bewaffnet war, war das nicht mitHolzhacken oder einem probeweisen Axtschwingen zuvergleichen. Er ließ den großen Schmiedlehrling eineReihe von Übungen durchführen – blockieren, parieren

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und zuschlagen –, und dann wiederholte er diese Prozedurmit Rand und seinem Schwert. Nicht das wildeHerumspringen und Zuschlagen, das Rand im Sinn hatte,wenn er über den Gebrauch der Waffe nachdachte,sondern flüssige Bewegung, bei der eine in die andereüberging wie bei einem Tanz.

»Es genügt nicht, die Klinge zu bewegen«, erklärteLan, »auch wenn einige das glauben. Der Verstand ist einTeil des Ganzen, ein wesentlicher Teil. Leere deinenVerstand, Schafhirte, leere ihn von Haß oder Angst, vonallem. Brenne alles weg. Ihr anderen, hört mir auch zu.Ihr könnt das genauso mit der Axt oder dem Bogen, miteinem Speer oder Stock oder sogar mit euren leerenHänden anwenden.«

Rand starrte ihn an. »Die Flamme und das Nichts«,sagte er erstaunt. »Das meint Ihr doch, nicht wahr? MeinVater hat mich das gelehrt.«

Der Behüter blickte ihn undurchdringlich an. »Haltedas Schwert, wie ich es dir gezeigt habe, Schafhirte. Ichkann in einer Stunde aus einem plattfüßigenDorfbewohner keinen Schwertmeister machen, abervielleicht kann ich dich davor bewahren, dir den eigenenFuß abzuschneiden.«

Rand seufzte und hielt das Schwert aufrecht mit beidenHänden vor sich. Moiraine beobachtete alles ohne äußereGefühlsregung, aber am nächsten Abend bat sie Lan, ersolle den Unterricht fortsetzen.

Zum Abendbrot gab es stets das gleiche wie am Mittagoder zum Frühstück: Fladenbrot, Käse undTrockenfleisch, nur daß sie am Abend heißen Tee stattWasser tranken, um das Essen hinunterzuspülen. AmAbend unterhielt Thom die Gesellschaft. Lan verbot demGaukler zwar nicht Harfe oder Flöte zu spielen – nicht

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nötig, das ganze Land aufzuwecken, meinte er –, aberThom jonglierte und erzählte Geschichten. ›Mara und diedrei närrischen Könige‹ oder eine der vielen hundertErzählungen über Anla, die weise Ratgeberin, oder mitRuhm und Abenteuern erfüllte Geschichten wie ›DieWilde Jagd nach dem Horn‹, doch immer mit einemglücklichen Ausgang und einer freudigen Heimkehr.

Wenn das Land um sie herum auch friedlich war, keineTrollocs zwischen den Bäumen erschienen, kein Draghkarunter den Wolken, so brachten sie es doch fertig, ihreAngst immer dann wieder zu schüren, wenn sie gerade amErlöschen war.

Da war beispielsweise jener Morgen, an dem Egweneaufwachte und anfing, ihren Zopf zu lösen. Randbeobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er seineDecken einrollte. Jeden Abend, wenn das Feuer gelöschtwurde, zogen sich alle in ihre Decken zurück, bis aufEgwene und die Aes Sedai. Immer setzten sich die beidenFrauen abseits von den anderen hin und unterhielten sichein oder zwei Stunden lang. Sie legten sich hin, wenn dieanderen längst schliefen. Egwene kämmte ihr Haar aus –hundertmal zog sie den Kamm durch, zählte Rand –,während er Wolke sattelte und seine Satteltaschen undBettrolle hinter dem Sattel festschnallte. Dann steckte sieden Kamm weg, schob ihr loses Haar über die Schulternach hinten und zog die Kapuze des Umhangs darüber.

Überrascht fragte er: »Was tust du da?« Sie blickte ihnvon der Seite an, ohne zu antworten. Ihm wurde klar, daßer sie zum ersten Mal seit zwei Tagen angesprochen hatte,seit dem Abend in der Baumhöhle am Ufer des Taren,aber er ließ sich davon nicht aufhalten. »Dein ganzesLeben lang hast du darauf gewartet, dein Haar endlich alsZopf tragen zu dürfen, und jetzt gibst du ihn auf?

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Warum? Weil sie auch keinen Zopf trägt?«»Aes Sedai tragen ihr Haar nicht als Zopf«, sagte sie

einfach. »Jedenfalls nicht, solange sie das nicht wollen.«»Du bist keine Aes Sedai. Du bist Egwene al'Vere aus

Emondsfeld, und die Frauen dort bekäme jetzt einenAnfall, wenn sie dich so sähen.«

»Der Frauenzirkel geht dich nichts an, Rand al'Thor.Und ich werde eine Aes Sedai, sobald wir Tar Valonerreichen.«

Er schnaubte. »Sobald wir Tar Valon erreichen.Warum? Licht, sag mir warum! Du bist doch keineSchattenfreundin.«

»Denkst du, daß Moiraine zu den Schattenfreundengehört? Glaubst du das wirklich?« Sie drehte sich mitgeballten Fäusten zu ihm um, und es sah so aus, als wollesie ihn schlagen. »Nachdem sie das Dorf gerettet hat?Nachdem sie deinen Vater gerettet hat?«

»Ich weiß nicht, wie sie ist, aber wie auch immer – dassagt nichts über die anderen Aes Sedai aus. DieGeschichten...«

»Werde erwachsen, Rand! Vergiß die Geschichten, undgebrauch deine Augen!«

»Mit meinen Augen habe ich gesehen, wie sie die Fähreversenkte. Oder willst du das leugnen? Wenn du erst malFlausen im Kopf hast, gibst du nicht mehr nach, selbstwenn dir jemand beweist, daß du auf dem Wasser zugehen versuchst. Wenn du keine so vom Licht geblendeteNärrin wärst, würdest du bemerken...!«

»Versucht ihr zwei, alle Leute innerhalb von zehnMeilen aufzuwecken?« fragte der Behüter.

Rand stand mit offenem Mund da und wollte noch etwashinzuzufügen, da fiel ihm auf, daß er geschrien hatte. Siehatten beide geschrien.

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Egwenes Gesicht lief bis zu den Augenbrauenscharlachrot an. Sie drehte sich mit einem halblauten»Männer!« ab, das sowohl dem Behüter wie auch ihm zugelten schien. Ahnungsvoll sah sich Rand im Lager um.Alle sahen ihn an, nicht nur der Behüter. Mat und Perrinwaren ganz blaß. Thom wirkte so angespannt, als wolle ergleich wegrennen oder kämpfen. Moiraine. Das Gesichtder Aes Sedai war ausdruckslos, doch ihr Blick schien sichin seinen Kopf zu bohren. Verzweifelt versuchte er, sichdaran zu erinnern, was er über Aes Sedai undSchattenfreunde gesagt hatte.

»Es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte Moiraine. Sie wandtesich Aldieb zu, und Rand schauderte erleichtert, als sei ereiner Falle entkommen. Er fragte sich, ob er wirklichentkommen war.

Zwei Nächte später, als das Feuer schon verglimmte,leckte sich Mat die letzten Krümel Käse von den Fingernund sagte:

»Wißt ihr, ich glaube, wir haben sie endgültigabgeschüttelt.« Lan war in die Nacht hinausgegangen, umsich ein letztes Mal umzusehen. Moiraine und Egwenehatten sich zu einer ihrer Unterhaltungen zurückgezogen.Thom döste mit der Pfeife im Mund vor sich hin, und diejungen Männer hatten das Feuer ganz für sich allein.

Perrin stocherte gelangweilt mit einem Stock in derGlut herum und antwortete: »Wenn wir sie los sind,warum sucht Lan dann immer noch die Gegend ab?« Randfielen schon fast die Augen zu. Er lag am Boden unddrehte sich um, den Rücken dem Feuer zugewandt. »Wirhaben sie an der Taren-Fähre abgehängt.« Mat legte sichzurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf undblickte zum monderhellten Himmel auf. »Falls siewirklich uns gesucht haben.«

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»Glaubst du, der Draghkar hat uns gejagt, weil wir ihmgefielen?« fragte Perrin.

»Wenn ihr mich fragt, hört auf, euch über Trollocs undähnliches Gelichter Gedanken zu machen«, fuhr Mat fort,als habe Perrin nichts gesagt, »und fangt an, euch daraufzu freuen, die Welt sehen zu können. Wir sind jetzt dortdraußen, wo die Geschichten herkommen. Was glaubt ihr– wie sieht eine richtige Stadt aus?«

»Wir reiten nach Baerlon«, sagte Rand schläfrig, aberMat schnaubte nur.

»Baerlon ist schön und gut, aber ich habe die alte Kartevon Meister al'Vere gesehen. Wenn wir Caemlynerreichen und uns dann nach Süden wenden, führt uns dieStraße nach Illian und noch weiter.«

»Was ist so besonders an Illian?« fragte Perringähnend.

»Zum einen«, antwortete Mat, »ist Illian nicht voll vonAes Se...«

Er schwieg, und Rand war plötzlich hellwach. Moirainewar zu früh zurückgekehrt. Egwene war bei ihr, aber alleAufmerksamkeit galt der Aes Sedai, die am Rande desFeuerscheins zu sehen war. Mat lag auf dem Rücken, denMund noch geöffnet, und glotzte sie an. Moiraines Augenspiegelten das Licht wie zwei dunkle glattpolierte Steinewider. Plötzlich fragte sich Rand, wie lange sie wohlschon dagestanden hatte.

»Die Jungen haben gerade...«, begann Thom, dochMoiraine fiel ihm ins Wort.

»Ein paar Tage Pause, und ihr seid bereit aufzugeben.«Ihre ruhige, gleichmäßige Stimme stand im scharfenWiderspruch zu ihren Augen. »Ein, zwei Tage Ruhe, undschon habt ihr die Winternacht vergessen.«

»Wir haben sie nicht vergessen«, sagte Perrin. »Es ist

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nur...« Sie erhob die Stimme immer noch nicht, verfuhrmit ihm aber wie mit dem Gaukler.

»Seid ihr alle dieser Meinung? Ihr wollt alle amliebsten nach Illian rennen und die Trollocs,Halbmenschen und Draghkar vergessen?« Sie musterte sie– dieser Steinglanz ihrer Augen und dazu der alltäglicheTonfall ihrer Stimme machten Rand nervös –, aber sie gabniemandem eine Gelegenheit, sich zu äußern. »Der DunkleKönig ist hinter euch dreien her, hinter einem oder allen,und wenn ich euch wegrennen lasse, wie ihr wollt, dannbekommt er euch. Was auch immer der Dunkle Königwill, dem leiste ich Widerstand. Also hört mich an underkennt die Wahrheit. Bevor ich euch dem Dunklen Königüberlasse, töte ich euch lieber.«

Es war ihre so beiläufig klingende Stimme, die Randüberzeugte. Die Aes Sedai würde genau das tun, was siesagte, falls es sich als notwendig erwiese. Diese Nachthatte er Schwierigkeiten, überhaupt zu schlafen, und erwar nicht der einzige. Selbst der Gaukler begann erst zuschnarchen, als die letzten Kohlen schon lange verglühtwaren. Ausnahmsweise bot ihnen Moiraine keine Hilfe an.

Diese abendlichen Gespräche Egwenes mit der AesSedai waren Rand ein Dorn im Auge. Immer wenn sie inder Dunkelheit verschwanden, sich von den anderenwegbegaben, um Ruhe vor ihnen zu haben, fragte er sich,worüber sie wohl sprachen und was sie taten. Was tat dieAes Sedai Egwene an?

Eines Nachts wartete er, bis sich die anderen alle zurRuhe begeben hatten. Thom schnarchte, als wolle er eineEiche fällen. Dann schlüpfte Rand davon, die Decke umsich gewickelt. Er wandte alle seine Erfahrungen imAuflauern von Kaninchen an. Er bewegte sich mit denMondschatten, bis er am Fuß eines großen

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Lederblattbaums kauerte, der viele zähe, breite Blätteraufwies. Er war nah genug, um Moiraine und Egwene zuverstehen, die mit einer kleinen Laterne auf einemumgestürzten Baumstamm saßen.

»Frag«, sagte Moiraine gerade, »und wenn ich dirdarauf antworten kann, werde ich es tun. Begreif aber,daß vieles für dich noch zu früh kommt, Dinge, die dunicht lernen kannst, bevor du nicht andere Dinge gelernthast, die wiederum weitere Vorkenntnisse erfordern.Aber frag, was du willst.«

»Die Fünf Mächte«, sagte Egwene langsam, »Erde,Wind, Feuer, Wasser und Geist. Es scheint mir nichtgerecht, daß Männer Erde und Feuer am bestenbeherrschten. Warum sollten gerade sie die stärksten derMächte für sich haben?«

Moiraine lachte. »Glaubst du das, Kind? Gibt es einenFelsen, der so hart ist, daß Wind und Wasser ihn nichtabtragen können, ein so starkes Feuer, daß es nicht mitWasser gelöscht oder vom Wind ausgeblasen werdenkann?«

Egwene schwieg eine Weile und bohrte mit dem Zeh imWaldboden. »Sie... sie waren diejenigen, welche... dieversuchten, den Dunklen König und die Verlorenen zubefreien, nicht wahr? Die männlichen Aes Sedai?« Sieholte tief Luft und sprach schneller. »Die Frauen hattennichts damit zu tun. Die Männer wurden wahnsinnig undzerstörten die Welt.«

»Du hast Angst«, sagte Moiraine ernst. »Wenn du inEmondsfeld geblieben wärst, wärst du nach einer WeileSeherin. Das war Nynaeves Plan, nicht wahr? Oder duhättest im Frauenzirkel gesessen und die Geschicke vonEmondsfeld gelenkt, während der Gemeinderat dächte, erleite das Ganze. Und doch hast du das Unglaubliche getan.

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Du hast Emondsfeld und die Zwei Flüsse verlassen auf derSuche nach Abenteuern. Du wolltest es, und gleichzeitighast du Angst davor. Und du weigerst dich ganzentschieden, deiner Angst nachzugeben. Sonst hättest dumich nicht gefragt, wie eine Frau eine Aes Sedai werdenkann. Du hättest eure Sitten und Gebräuche sonst nichtüber Bord geworfen.«

»Nein«, protestierte Egwene, »ich habe keine Angst.Ich will eine Aes Sedai werden.«

»Besser für dich, wenn du Angst hättest, aber ich hoffe,du bleibst bei deiner Überzeugung. Wenige Frauen nurhaben heutzutage die Fähigkeiten, Geweihte zu werden,und noch viel weniger wollen es.« Moiraines Stimmeklang, als führe sie ein gedankenverlorenesSelbstgespräch. »Sicher waren es noch nie zuvor gleichzwei in einem Dorf. Das alte Blut fließt tatsächlich nochsehr stark im Land der Zwei Flüsse.«

Rand verlagerte sein Gewicht im Schatten, wo erkauerte. Ein Ästchen zerbrach unter seinem Fuß. E rerstarrte und hielt die Luft an. Er schwitzte, doch keineder beiden Frauen sah sich um.

»Zwei?« rief Egwene. »Wer denn noch? Ist es Kari?Kari Thane? Lara Ayellan?«

Moiraine schnalzte verärgert mit der Zunge und sagtedann ernst: »Du mußt vergessen, daß ich das gesagt habe.Ich fürchte, ihre Straße verläuft in einer anderenRichtung. Konzentrier dich auf deine eigenenAngelegenheiten. Es ist kein leichter Weg, den du erwählthast.«

»Ich werde nicht umkehren«, sagte Egwene.»Wie du meinst. Aber du suchst immer noch

Rückendeckung, und die kann ich dir nicht geben,jedenfalls nicht so, wie du es willst.«

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»Das verstehe ich nicht.«»Du willst darin bestärkt werden, daß die Aes Sedai gut

und rein sind und daß es diese gemeinen Männer aus denLegenden waren, die die Zerstörung der Weltverursachten, und nicht die Frauen. Nun, es waren zwardie Männer, doch sie waren keineswegs schlimmer als alleanderen Männer. Sie waren wahnsinnig, nicht böse. DieAes Sedai, die du in Tar Valon antreffen wirst, sindmenschlich und unterscheiden sich nicht von anderenFrauen, außer eben durch die Fähigkeiten, die uns vonihnen trennen. Sie sind tapfer und feige, stark undschwach, freundlich und grausam, warmherzig und kalt.Wenn du eine Aes Sedai wirst, dann bleibst du trotzdemdiejenige, die du immer warst.«

Egwene atmete schwer. »Ich glaube, gerade davor hatteich Angst: daß die Macht mich verändern würde. Das unddie Trollocs. Und der Blasse. Und... Moiraine Sedai, imNamen des Lichts: Warum kamen die Trollocs nachEmondsfeld?«

Der Kopf der Aes Sedai drehte sich, und sie blickte indie Richtung von Rands Versteck. Die Luft blieb ihm weg.Ihre Augen waren genauso hart wie zu der Zeit, als sie siebedroht hatte, und er hatte das Gefühl, ihr Blick könne diestarken Äste des Lederblatts durchdringen. Licht, waswird sie tun, wenn sie mich hier als Lauscher findet?

Er bemühte sich, mit den tieferen Schatten hinter sichzu verschmelzen. Seine Augen waren auf die Frauengerichtet, und so blieb er mit dem Fuß an einer Wurzelhängen. Er fing sich gerade noch, sonst wäre er in totesUnterholz getaumelt, und das hätte ihn mit einemFeuerwerk zerbrechender Zweige sofort verraten. NachLuft schnappend kroch er auf allen vieren davon. Wieimmer war es vor allem Glück, das es ihm ermöglichte,

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sich lautlos zu bewegen. Sein Herz schlug so stark, daß erfürchtete, es könne ihn verraten. Narr! Eine Aes Sedaibelauschen!

Als er wieder dort war, wo die anderen schliefen,schlich er leise an seinen Platz zurück. Lan bewegte sich,als er sich auf den Boden legte. Der Behüter riß die Deckehoch, ließ sich dann aber mit einem Seufzer wiederzurückfallen. Er hatte sich im Schlaf nur umgedreht. Randstieß einen Stoßseufzer aus.

Einen Augenblick später tauchte Moiraine aus derNacht auf. Sie blieb stehen, als sie die schlummerndenGestalten sah. Das Mondlicht webte einen Strahlenkranzum sie. Rand schloß die Augen und atmete ganzgleichmäßig, während er angestrengt lauschte, ob sichSchritte näherten. Er hörte nichts. Als er die Augenwieder öffnete, war sie weg.

Als der Schlaf endlich kam, schwitzte er und hatteTräume, in denen alle Männer von Emondsfeldbehaupteten, sie seien der Wiedergeborene Drache, undalle Frauen trugen blaue Edelsteine im Haar, die soaussahen wie der von Moiraine. Er versuchte danach niemehr, Moiraine und Egwene zu belauschen.

Der sechste Tag ihrer quälend langsamen Reise brachan. Die blasse, kalte Sonne glitt auf die Baumwipfel zu,während eine Handvoll dünner Wolken hoch droben inRichtung Norden trieb. Der Wind erhob sich zu einer Bö,und Rand zog den Umhang wieder einmal leiseschimpfend über die Schultern. Er fragte sich, ob sie wohljemals Baerlon erreichen würden. Die Entfernung, die sieseit ihrer Flußüberquerung zurückgelegt hatten, wargrößer als von Taren-Fähre bis zum Weißen Fluß, dochLan behauptete stets, es sei eine kurze Reise, kaum wert,eine solche genannt zu werden. Er fühlte sich verloren.

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Lan erschien im Wald vor ihnen. Er kehrte von einemseiner Erkundungsritte zurück. Er straffte die Zügel undließ sein Pferd langsam neben Moiraines Pferdherschreiten, während er den Kopf zu Moirainehinüberneigte.

Rand schnitt eine Grimasse, aber er stellte keine Frage.Lan weigerte sich gewöhnlich, Fragen, die man ihmstellte, zu beantworten.

Von den anderen schien nur Egwene Lans Rückkehrbemerkt zu haben, und sie hielt sich mit Fragen ebenfallszurück. Die Aes Sedai verhielt sich Egwene gegenübervielleicht so, als sei das Mädchen für die Emondsfelderverantwortlich, doch wenn der Behüter seine Berichteablieferte, hatte Egwene nichts zu sagen. Perrin trug MatsBogen. Auch ihn umgab dieses gedankenschwereSchweigen, das sie alle mehr und mehr packte, je weitersie sich von den Zwei Flüssen entfernten. Die langsameGangart der Pferde gestattete es Mat, vor den kritischenAugen Thom Merrilins mit drei kleinen Steinen zujonglieren. Denn der Gaukler hatte sie jeden Abendunterrichtet, genau wie Lan.

Lan beendete seinen Bericht, und Moiraine drehte sichim Sattel um und sah die hinter ihr Reitenden an. Randbemühte sich, sich nicht zu verkrampfen, als ihr Blicküber ihn glitt. Sah sie ihn einen Moment länger an als dieanderen? Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los,daß sie wußte, wer sie in der Dunkelheit jener Nachtbelauscht hatte.

»He, Rand!« rief Mat. »Ich kann mit vierenjonglieren!« Rand winkte ihm zur Antwort zu, ohne sichumzudrehen. »Ich habe dir gesagt, daß ich noch vor dirvier schaffe. Ich – schau!«

Sie hatten die Spitze eines niedrigen Hügels erreicht,

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und unter ihnen, kaum eine Meile weit entfernt, hinterkahlen Bäumen und länger werdenden Schatten, lagBaerlon. Rand schnappte nach Luft, als er versuchte, zurgleichen Zeit zu lächeln und mit offenem Mund zustarren.

Eine Palisadenwand, beinahe drei Spannen hoch, umgabdie Stadt. Hölzerne Wachtürme waren entlang der Palisadeverteilt. Drinnen glitzerten mit Ziegeln und Plattengedeckte Dächer im Licht der sinkenden Sonne, und ausden Schornsteinen trieben federleichte Rauchwölkchenempor. Es waren Hunderte von Schornsteinen. Keinstrohgedecktes Dach war zu sehen. Eine breite Straßeführte nach Osten aus der Stadt hinaus und eine zweitenach Westen. Auf jeder waren zumindest ein DutzendWagen und doppelt so viele Ochsenkarren zu sehen, dieauf die Palisade zu rollten. Um die Stadt herum verstreutlagen Bauernhöfe; die meisten im Norden, während nurwenige im Süden den Wald unterbrachen. Es ist größer alsEmondsfeld und Wachhügel und Devenritt zusammen!Und vielleicht auch noch Taren-Fähre dazu.

»Das ist also eine Stadt«, hauchte Mat und beugte sichüber den Hals seines Pferdes nach vorn, um genauerhinsehen zu können.

Perrin konnte nur den Kopf schütteln. »Wie können soviele Leute in einem Ort wohnen?«

Egwene blickte stumm hinüber. Thom Merrilin sah Matan, rollte mit den Augen und pustete seineSchnurrbartenden hoch. »Stadt!« schnaubte er.

»Und du, Rand?« fragte Moiraine. »Was hältst du aufden ersten Blick von Baerlon?«

»Ich glaube, es ist ziemlich weit von zu Hauseentfernt«, sagte er langsam, was ihm ein hartes Lachenvon Mat einbrachte.

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»Ihr müßt noch viel weiter gehen«, sagte Moiraine.»Viel weiter. Aber ihr habt keine andere Wahl, außer ihrwollt wegrennen und euch verstecken und wiederwegrennen, und das für den Rest eures Lebens. Und eswürde ein kurzes Leben sein. Daran müßt ihr eucherinnern, wenn die Reise beschwerlich wird. Ihr habtkeine andere Wahl.«

Rand, Mat und Perrin sahen sich an. Den Gesichternder anderen nach zu schließen, dachten sie dasselbe wieRand. Wie konnte sie so tun, als hätten sie je eine Wahlgehabt, nach allem, was sie vorher schon gesagt hatte? DieAes Sedai hatte für sie entschieden.

Moiraine fuhr fort, als sei ihr nicht klar, was siedachten. »Die Gefahr beginnt hier erneut. Seid vorsichtig,was ihr innerhalb dieser Mauern sagt. Und was amwichtigsten ist: Erwähnt keine Trollocs oderHalbmenschen und ähnliches. Ihr dürft nicht einmal anden Dunklen König denken. Einige Leute in Baerlonmögen die Aes Sedai noch weniger als die Emondsfelder,und es könnte dort sogar Schattenfreunde geben.« Egweneschnappte nach Luft, und Perrin fluchte vor sich hin. MatsGesicht wurde blaß, doch Moiraine fuhr ganz ruhig fort.»Wir dürfen so wenig Aufmerksamkeit wie möglicherregen.« Lan tauschte seinen zwischen Grau undGrüntönen wechselnden Umhang gegen einen normalenbraunen aus, der allerdings ebenfalls sehr fein geschnittenund gewebt war. Sein farbverändernder Umhangverursachte eine dicke Beule in eine seiner Satteltaschen.»Hier verwenden wir unsere eigenen Namen nicht«,eröffnete ihnen Moiraine. »Man kennt mich hier als Alys,und Lan ist Andra. Merkt euch das. Gut. Wir sollten unsnoch vor Anbruch der Nacht zwischen diesen Mauernbefinden. Die Tore von Baerlon werden von

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Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang geschlossen.«Lan führte sie den Hügel hinunter und durch den Wald

auf die Palisaden zu. Die Straße führte an einem halbenDutzend Bauernhöfen vorbei – keiner sehr nahe, und dieMenschen, die dort ihre letzten Arbeiten verrichteten,schienen die Reisenden nicht zu bemerken – und endete aneinem schweren Holztor, das mit breiten schwarzenEisenriegeln verschlossen war, fest verschlossen, obwohldie Sonne noch nicht untergegangen war.

Lan ritt ganz nahe an die Palisade heran und zog andem ausgefransten Seil, das neben dem Tor herunterhing.Auf der anderen Seite erklang eine Glocke. Unmittelbardarauf blickte ein verschrumpeltes Gesicht unter einerzerknautschten Stoffmütze mißtrauisch von oben auf sieherab. Es befand sich zwischen den abgesägten Endenzweier Pfähle, gute drei Spannen über ihren Köpfen.

»Was soll das heißen, eh? Es ist zu spät am Tag, umdieses Tor zu öffnen. Zu spät, sage ich. Reitet zumWeißbrückentor, wenn ihr...«

Moiraines Stute schritt ein Stück vor, so daß der Mannauf der Mauer sie klar erkennen konnte. Plötzlichverzogen sich seine Runzeln zu einem zahnlosen Lächeln,und er schien zwischen seiner Pflicht und dem, was ersagen wollte, zu schwanken. »Ich wußte nicht, daß Ihr esseid, Herrin. Wartet. Ich komme sofort hinunter. Ichkomme, ich komme!«

Der Kopf verschwand nach unten, und Rand hörtegedämpfte Rufe, sie sollten bleiben, wo sie seien, er kämeja schon. Mit schrillem Quietschen, der vom geringenGebrauch zeugte, schwang der rechte Torflügel langsamauf. Er verhielt in seiner Lage, als die Lücke gerade großgenug war, um ein Pferd durchzulassen, und dann steckteder Torwächter seinen Kopf durch, lächelte sie wieder

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zahnlos an und sprang flink aus dem Weg. Moiraine folgteLan durch das Tor. Egwene kam gleich dahinter.

Rand ließ Wolke hinter Bela hertraben und fand sich ineiner engen Straße wieder, die von hohen Holzzäunen undgroßen fensterlosen Lagerhäusern eingerahmt wurde,deren breite Türen schon zur Nacht geschlossen waren.Moiraine und Lan standen bereits bei dem Torwächter mitdem runzligen Gesicht und unterhielten sich mit ihm. Alsostieg Rand auch ab.

Der kleine Mann, der einen oftmals geflickten Umhangund Mantel trug, hielt seine Stoffmütze zerknüllt in einerHand und verbeugte sich jedesmal, wenn er sprach. E rbetrachtete die anderen, die hinter Moiraine und Lan vonden Pferden stiegen, und schüttelte den Kopf.

»Landpomeranzen.« Er grinste. »Aber, Frau Alys,sammelt Ihr jetzt Landpomeranzen mit Heu im Haar?«Dann erfaßte sein Blick Thom Merrilin. »Ihr seid keinSchafzüchter. Ich erinnere mich, daß ich Euch vor einpaar Tagen durchgelassen habe, tatsächlich. Haben denenda unten Eure Kunststückchen nicht gefallen, Gaukler?«

»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch daran, daß Ihr vergessensollt, uns jemals durchgelassen zu haben, Meister Avin«,sagte Lan und drückte dem Mann eine Münze in die freieHand. »Und auch daß ihr uns wieder hereingelassen habt.«

»Das ist nicht nötig, Meister Andra. Nicht nötig. Ihrhabt mir genug gegeben, als Ihr weggeritten seid. Genug.«Trotzdem ließ Avin die Münze so schnell verschwinden,als sei er auch ein Gaukler. »Ich hab niemanden nixerzählt und werd's auch nicht tun. Ganz besonders nichtden Weißmänteln«, endete er mit finsterem Blick. E rspitzte die Lippen, um auszuspucken, doch nach einemBlick auf Moiraine schluckte er statt dessen.

Rand riß die Augen auf, behielt aber den Mund

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geschlossen. Die anderen brachten das auch fertig, obwohles Mat sehr schwer zu fallen schien. Kinder des Lichts,dachte Rand staunend. Die Geschichten, die Händler undKaufleute und ihre Leibwächter über die Kindererzählten, wechselten im Ausdruck von Bewunderung biszum Haß, aber alle waren sich einig, daß die Kinder dieAes Sedai genauso haßten wie Schattenfreunde. Er fragtesich, ob dies bereits weitere Schwierigkeiten bedeutete.

»Die Kinder sind in Baerlon?« wollte Lan wissen.»Aber sicher.« Der Torwächter nickte. »Kamen am

gleichen Tag, als Ihr weggeritten seid, wenn ich michrichtig erinnere. Ist keiner hier, der sie leiden kann. Diemeisten zeigen's natürlich nicht.«

»Haben sie gesagt, warum sie hier sind?« fragteMoiraine eindringlich.

»Warum sie hier sind?« Avin war so verblüfft, daß erseine Verbeugung diesmal vergaß. »Klar haben sie gesagt,warum... Oh, ich hab's vergessen. Ihr wart ja auf demLand. Habt wahrscheinlich nur Schafgeblöke gehört. Siesagen, sie sind wegen der Vorgänge in Ghealdan hier. DerDrache, wißt Ihr... Also, der halt, der sich Drache nennt.Sie sagen, der Bursche löst eine Menge Böses aus –schätze, das stimmt auch –, und sie sind hier, um dasFeuer auszutreten, bloß daß er ja in Ghealdan ist und nichthier. Bloß 'ne Ausrede, um sich in anderer Leute Sacheneinzumischen, denke ich. Man hat schon den Drachenzahnauf ein paar Türen gesehen.« Diesmal spuckte er aus.

»Haben sie Euch viele Schwierigkeiten bereitet?« fragteLan, und Avin schüttelte lebhaft den Kopf.

»Nicht, daß sie's nicht wollen, schätze ich, aber derStatthalter traut denen genausowenig wie ich. Er läßt nichtmehr als zehn oder so gleichzeitig in die Stadt, und siesind mächtig sauer deswegen. Der Rest hat ein Lager ein

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Stück nördlich, hab ich gehört Wette, daß sich die Bauerndort umgucken müssen. Die paar, die reinkommen,stolzieren nur in diesen weißen Mänteln rum und guckenauf die ehrlichen Leute runter. Geh im Licht, sagen sie,und das ist ein Befehl. Hätte fast schon Schlägereiengegeben mit den Wagenfahrern und den Bergleuten undden Schmelzern und so, ja, und sogar mit der Wache, aberder Statthalter will Frieden, und deshalb ist nix passiert.Wenn sie das Böse jagen, meine ich, warum sind sie dannnicht oben in Saldaea? Ich hab gehört, daß dort oben waslos ist. Oder unten in Ghealdan? Es hat drunten eine großeSchlacht gegeben, sagt man. Eine richtig große.«

Moiraine atmete leise und betont ein. »Ich hatte gehört,daß Aes Sedai nach Ghealdan gingen.«

»Ja, sind sie.« Avin nickte wieder heftig. »Sie sindwirklich nach Ghealdan gegangen, und das hat dieSchlacht ausgelöst, hab ich gehört. Man sagt, einige derAes Sedai sind tot. Vielleicht auch alle. Ich weiß, daßmanche Leute die Aes Sedai nicht mögen, aber ich fragEuch, wer sonst soll 'nen falschen Drachen aufhalten, eh?Und die verdammten Narren, die glauben, sie wärenmännliche Aes Sedai oder so was. Was ist mit denen? Klarsagen ein paar – aber nicht die Weißmäntel und ich auchnicht, aber eben manche Leute –, daß dieser Burschewirklich der Wiedergeborene Drache ist. Ich hab gehört,daß er ein paar Sachen kann. Die Eine Macht benutzen.Tausende folgen ihm schon.«

»Sei kein Narr!« fauchte Lan, und Avins Gesicht nahmeinen verletzten Ausdruck an.

»Ich sag nur, was ich gehört hab, oder? Nur was ichgehört hab, Meister Andra. Sie sagen – ein paar halt –,daß er mit seiner Armee nach Osten und Südenmarschiert, auf Tear zu.« Seine Stimme klang

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bedeutungsschwanger. »Man sagt, er nennt sie dasDrachenvolk.«

»Namen bedeuten wenig«, sagte Moiraine ruhig. Fallssie das Gehörte beunruhigte, ließ sie es sich nach außenhin nicht anmerken. »Du könntest deinen MauleselDrachenvolk nennen, wenn es dir Spaß macht.«

»Unwahrscheinlich, Herrin.« Avin schmunzelte.»Nicht, wenn die Weißmäntel in der Gegend sind,sicherheitshalber. Ich glaube auch nicht, daß irgendjemand sonst den Namen gern hören würde. Ich weißschon, was Ihr meint, aber... O nein, Herrin, nicht meinenMaulesel!«

»Zweifellos eine weise Entscheidung«, kommentierteMoiraine. »Jetzt müssen wir weiter.«

»Und macht Euch keine Sorgen, Herrin«, sagte Avinmit einer tiefen Verbeugung. »Ich hab niemandengesehn.« Er lief zum Tor und schloß es mit schnellenruckartigen Bewegungen. »Hab niemanden und nichtsgesehn.« Das Tor schlug zu, und mit einem Seil zog erden Riegel herunter. »In Wirklichkeit, Herrin, ist diesesTor schon tagelang nicht mehr geöffnet worden.«

»Das Licht leuchte dir, Avin«, sagte Moiraine.Dann führte sie sie vom Tor weg. Rand sah sich einmal

um, und da stand Avin immer noch vor dem Torflügel.Er schien mit einem Zipfel seines Umhangs eine Münze zupolieren und dabei vor sich hin zu lachen.

Der Weg führte sie durch ungepflasterte Straßen, diekaum zwei Wagenstärken breit waren, eingerahmt vonLagerhäusern und hohen Holzzäunen. Rand ging eineWeile neben dem Gaukler her. »Thom, was bedeutet dasganze Gerede über Tear und das Drachenvolk? Tear istdoch eine Stadt ganz unten am Meer der Stürme, nichtwahr?«

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»Der Karaethon-Zyklus«, erwiderte Thomkurzangebunden.

Rands Augen weiteten sich. Die Prophezeiungen desDrachen. »Keiner erzählt die... solche Geschichten imGebiet der Zwei Flüsse. Jedenfalls nicht in Emondsfeld.Die Seherin zöge ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab,wenn sie es täten.«

»Ja, ich glaube, das täte sie«, sagte Thom trocken. E rsah nach Moiraine, die vorn neben Lan einherschritt, sah,daß sie nichts hören konnte, und fuhr fort. »Tear ist dergrößte Hafen am Meer der Stürme, und der Stein vonTear ist die Festung, die ihn bewacht. Man sagt, der Steinsei die erste Festung, die nach der Zerstörung der Weltgebaut wurde, und in dieser langen Zeit ist sie niemalsgefallen, obwohl mehr als eine Armee sie angegriffen hat.Eine der Prophezeiungen behauptet, der Stein von Tearwerde niemals fallen, bis das Drachenvolk kommt. Ineiner anderen Weissagung wird behauptet, der Steinwerde nicht fallen, bis der Drache das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann, in seiner Hand führt.« Thomverzog das Gesicht. »Der Fall des Steins wird einer derwichtigsten Beweise dafür sein, daß der Drachewiedergeboren wurde. Möge der Stein stehen, bis ich zuStaub geworden bin.«

»Das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann?«»So heißt es. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Schwert

ist. Was auch immer: Es liegt im Herzen des Steins, derinneren Zitadelle dieser Festung. Keiner außer denGroßherren von Tear kann diesen Teil betreten, und sieverraten nicht, was dort drinnen liegt. Zumindest verratensie es den Gauklern nicht.«

Rand runzelte die Stirn. »Der Stein kann nicht fallen,bis der Drache das Schwert führt, aber wie kann er das,

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ohne daß die Festung bereits gefallen ist? Erwartet man,daß der Drache ein Großherr von Tear ist?«

»Kaum zu erwarten«, sagte der Gaukler trocken. »InTear haßt man alles, was mit der Macht zu tun hat, sogarnoch mehr als in Amador, und Amador ist die Hochburgder Kinder des Lichts.«

»Wie kann dann die Prophezeiung erfüllt werden?«fragte Rand. »Mir wäre es ja auch recht, wenn der Dracheniemals wiedergeboren würde, aber eine Prophezeiung,die nicht erfüllt werden kann, ergibt nicht viel Sinn. Esklingt nach einer Geschichte, die man den Leuten erzählt,damit sie glauben, daß der Drache niemals wiedergeborenwird. Stimmt das?«

»Junge, du stellst eine Unmenge von Fragen«, sagteThom. »Eine Prophezeiung, die ganz leicht erfüllt werdenkann, wäre doch nicht viel wert, oder?« Plötzlich wurdeseine Stimme fröhlicher. »Jetzt sind wir da.«

Lan war an einem kopfhohen Holzzaun stehengeblieben.Er steckte die Klinge seines Dolchs zwischen zwei derBretter. Plötzlich brummte er zufrieden, zog, und eineTür im Zaun schwang wie ein Tor auf. Es war tatsächlichein Tor, das so gebaut war, daß man es eigentlich nur vonder anderen Seite öffnen konnte. Moiraine trat sogleichein und zog Aldieb hinter sich her. Lan bedeutete denanderen, daß sie folgen sollten, und machte dann denAbschluß, wobei er das Tor hinter sich schloß.

Auf der anderen Seite des Zauns befand sich Rand imStallhof einer Schenke. Aus der Küche erklang lautesTreiben und Klappern. Was ihn verblüffte, war die Größeder Schenke: Sie bedeckte eine Fläche, mehr als doppelt sogroß wie die Weinquellenschenke, und war vierStockwerke hoch. Weit mehr als die Hälfte der Fensterwar in der zunehmenden Dämmerung bereits erleuchtet.

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Er staunte über diese Stadt und daß sie so viele Fremdebeherbergte.

Kaum befanden sie sich mitten in dem Stallhof, daerschienen auch schon drei Männer mit schmutzigenSegeltuchschürzen unter dem breiten Torbogen desriesigen Stalls. Einer, ein drahtiger Bursche und dereinzige, der eine Mistgabel bei sich hatte, kam mitfuchtelnden Armen auf sie zu.

»Hier! Hier! Ihr könnt nicht von dort hereinkommen!Ihr müßt nach vorn gehen!«

Lans Hand bewegte sich wieder auf seinen Geldbeutelzu, aber in diesem Augenblick kam ein weiterer Mann,genauso dick wie Meister al'Vere, aus der Schenke geeilt.Haarbüschel standen hinter seinen Ohren hervor, undseine blendend weiße Schürze wies ihn als den Wirt dieserSchenke aus. »Ist schon gut, Mutch«, sagte derNeuankömmling. »Es ist in Ordnung. Diese Leute sindGäste, die ich erwartet habe. Kümmere dich nur um ihrePferde. Pfleg sie gut!«.

Mutch fuhr sich mürrisch über die Stirn und bedeuteteseinen zwei Begleitern, ihm zu Hilfe zu kommen. Randund die anderen holten hastig ihre Satteltaschen undBettrollen herunter, während sich der Wirt Moirainezuwandte. Er verbeugte sich tief vor ihr und sprach mitehrlich erfreutem Lächeln: »Willkommen, Frau Alys,willkommen! Es ist gut, Euch und Meister Andrawiederzusehen. Sehr gut sogar. Ich habe die feinenGespräche mit Euch vermißt. Ja, wirklich. Ich muß sagen,ich habe mir Sorgen gemacht, weil Ihr dort draußen aufdem Lande wart. Ich meine, in einer solchen Zeit, da dasWetter verrückt spielt und die Wölfe in der Nacht schonvor der Mauer heulen.« Plötzlich klatschte er sich mitbeiden Händen auf den Bauch und schüttelte den Kopf.

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»Hier stehe ich und quatsche, statt Euch hineinzubringen.Kommt! Kommt! Eine heiße Mahlzeit und ein warmesBett, das braucht Ihr jetzt. Und Ihr findet in Baerlonnichts Besseres. Nichts Besseres!«

»Und auch ein heißes Bad, darf ich hoffen, MeisterFitch?« fragte Moiraine.

»Aber natürlich – nur das beste und heißeste in ganzBaerlon!« sagte der Wirt. »Kommt. Willkommen im›Hirsch und Löwen‹. Willkommen in Baerlon!«

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KAPITEL 14

Zum ›Hirsch und Löwen‹

Im Innern war die Schenke mindestens so belebt, wie esdie Geräusche von draußen schon angedeutet hatten. DieGesellschaft aus Emondsfeld folgte Meister Fitch durchden Hintereingang und mußte sich bald neben undzwischen einem Strom von Männern und Frauen in langenSchürzen hindurchwinden, die ihre Tabletts mit Essen undGetränken hoch über die Köpfe hielten. Die Trägermurmelten hastige Entschuldigungen, wenn sie jemandemim Weg waren, aber sie mäßigten ihre Schrittekeineswegs. Einer der Männer erhielt eilige Anweisungenvon Meister Fitch und verschwand im Trab.

»Ich fürchte, die Schenke ist beinahe voll«, sagte derWirt zu Moiraine. »Fast bis zum Dach. Jede Schenke inder Stadt ist überfüllt. Bei dem Winter, den wir hinter unshaben... Na ja, sobald das Wetter so gut war, daß man ausden Bergen herunterkommen konnte, wurden wirregelrecht überschwemmt – ja, das ist das richtige Wort –,überschwemmt von Bergleuten und Schmelzern, die alledie schlimmsten Geschichten erzählten. Wölfe und nochSchlimmeres. Eben die Sachen, die Männer erzählen,wenn sie den ganzen Winter über miteinander eingesperrtwaren. Ich kann nicht glauben, daß dort oben noch irgendjemand lebt, so viele haben wir hier. Aber keine Angst. Esmag ein wenig eng zugehen, aber ich werde mein Bestesfür Euch und Meister Andra tun. Und natürlich auch fürEure Freunde.« Er sah Rand und die anderen ein- oderzweimal neugierig an; außer in Thoms Fall wies die

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Kleidung sie als Landvolk aus, und ThomsGauklerumhang machte ihn für ›Frau Alys‹ und ›MeisterAndra‹ zu einem höchst eigenartigen Reisebegleiter. »Ichwerde mein Bestes tun, da könnt Ihr sicher sein.«

Rand beobachtete das Treiben rundum und bemühtesich zu vermeiden, daß jemand ihn über den Haufenrannte, obwohl die Helfer eigentlich nicht den Eindruckmachten. Er mußte daran denken, wie Meister al'Vere undseine Frau die Weinquellenschenke lediglich mitgelegentlicher Hilfe ihrer Töchter geführt hatten.

Mat und Perrin verdrehten sich die Hälse in Richtungauf den Schankraum, aus dem jedesmal eine Welle vonGelächter, Gesang und freundschaftlichem Geschreierklang, wenn die breite Tür am Ende des Flurs sichöffnete. Nachdem er etwas wie ›Neuigkeiten erfahren‹gemurmelt hatte, verschwand der Behüter mit ernsterMiene durch diese Schwingtür und wurde von einer Welleder Fröhlichkeit verschluckt.

Rand wäre ihm gern gefolgt, doch noch mehr sehnte ersich nach einem heißen Bad. Leute und Gelächter wärenihm wohl gerade recht gewesen, doch die Gäste imSchankraum würden seine Gegenwart in sauberemZustand noch mehr begrüßen. Mat und Perrin wurdenoffensichtlich von denselben Gedanken bewegt; Matkratzte sich verstohlen.

»Meister Fitch«, sagte Moiraine, »ich habe gehört, daßsich Kinder des Lichts in Baerlon aufhalten. Könnte esSchwierigkeiten geben?«

»Oh, macht Euch keine Sorgen deswegen, Frau Alys.Sie machen viel Aufhebens, wie üblich. Behaupten, daßeine Aes Sedai in der Stadt sei.« Moiraine hob eineAugenbraue, und der Wirt breitete die fetten Hände aus.»Sorgt Euch nicht. Sie haben das auch früher schon

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behauptet. Es gibt keine Aes Sedai in Baerlon, und derStatthalter weiß das. Die Weißmäntel glauben, wenn sieeine Aes Sedai vorweisen oder eine Frau, von der sie dasbehaupten, dann wird man sie in unsere Mauernhereinlassen. Na ja, ich schätze, einige täten das gern.Einige schon. Aber die meisten Leute wissen, was dieWeißmäntel vorhaben, und sie unterstützen denStatthalter. Keiner will, daß irgendeine harmlose alte Frauverletzt wird, damit die Kinder eine Ausrede dafür haben,die Leute aufzuhetzen.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Moiraine trocken. Sielegte eine Hand auf den Arm des Wirts. »Ist Min noch da?Wenn ja, möchte ich gern mit ihr sprechen.«

Rand konnte Meister Fitchs Antwort nicht verstehen, dain diesem Moment Bedienstete ankamen, die sie ins Badführen sollten. Moiraine und Egwene verschwanden imSchlepptau einer molligen Frau mit offenem Lächeln undeiner Ladung Handtücher auf dem Arm. Der Gaukler,Rand und seine Freunde wurden von einem schlankendunkelhaarigen Burschen namens Ara geleitet. Randversuchte, Ara über Baerlon auszufragen, doch der Mannwar ziemlich einsilbig. Er erwähnte nur, daß Rand eineneigenartigen Akzent habe, und dann vertrieb der ersteAnblick des Baderaums alle Gedanken an ein Gespräch ausRands Kopf. Ein Dutzend hoher Kupferbadewannen standim Kreis auf dem mit Platten belegten Fußboden, der sichleicht zu einem Abfluß in der Mitte des großen Raums mithohen Steinwänden neigte. Auf einem Hocker hinter jederWanne lagen ein dickes Handtuch und ein großes Stückgelber Seife, und an einer Wand standen große schwarzeEisenkessel voll Wasser auf geöffneten Herdplatten. Ander Wand gegenüber flammten Holzscheite in einem tiefenoffenen Kamin, der noch zu der Wärme im Raum beitrug.

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»Fast so gut wie die Weinquellenschenke zu Hause«,sagte Perrin gönnerhaft, wenn auch nicht geradebesonders wahrheitsgemäß. Thom lachte schallend, undMat spöttelte: »Es klingt, als hätten wir einen Coplinmitgebracht, ohne es zu merken.«

Rand legte seinen Umhang ab und zog sich aus,während Ara vier der Kupferbadewannen füllte. Auch dieanderen zögerten nicht und taten es Rand nach, der alserster seine Wanne auswählte. Sobald die Kleider auf denHockern aufgestapelt lagen, brachte Ara jedem einengroßen Eimer heißen Wassers und eine Schöpfkelle.Danach setzte er sich auf einen Hocker neben der Tür,lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand undblieb so in Gedanken versunken sitzen.

Während sie den Schmutz einer Woche wegschrubbtenund mit Kellen voll heißen Wassers wegspülten, kamkaum ein Gespräch auf. Dann setzten sie sich hinein in dieWannen, um sich darin lange Zeit zu aalen. Ara hatte dasWasser so erhitzt, daß es unter Seufzern desWohlbefindens eine Weile dauerte, bis sie endlich drinlagen. Die sowieso schon warme Luft im Raum wurdelangsam feucht und heiß. Lange Zeit hörte man überhauptnichts, bis auf ein gelegentliches langes Ausatmen, wennsich verspannte Muskeln lösten und das Frösteln, das sieschon für gegeben erachtet hatten, aus ihren Knochenverschwand.

»Braucht ihr noch was?« fragte Ara plötzlich. Er hattekeinen Anlaß, sich über die Akzente anderer auszulassen,denn er und Meister Fitch klangen, als hätten sie denMund voll Brei. »Mehr Handtücher? Noch heißesWasser?«

»Nichts«, sagte Thom in seiner volltönenden Stimme.Die Augen geschlossen, wedelte er großzügig mit der

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Hand. »Geht und genießt den Abend. Später werde ichdafür sorgen, daß Ihr für Eure Dienste mehr alsgroßzügig entlohnt werdet.« Er rutschte tiefer in dieWanne hinein, bis er bis auf Augen- und Nasenhöhe vonWasser bedeckt war.

Ara betrachtete die Hocker hinter den Wannen, aufdenen Kleider und sonstigen Besitztümer aufgestapeltlagen. Er sah den Bogen an, doch am längsten verweiltesein Blick auf Rands Schwert und Perrins Axt. »Gibt es daunten, wo ihr herkommt, auch Unruhen?« fragte erplötzlich. »In den Flüssen oder wie ihr es nennt?«

»Die Zwei Flüsse«, sagte Mat, wobei er jedes Wortbetonte. »Es heißt: die Zwei Flüsse. Was Unruhen betrifft,warum...«

»Was meinst du mit ›auch‹?« fragte Rand. »Gibt es hierirgendwelche Unruhen?«

Perrin, der das Liegen in der Wanne sichtlich genoß,murmelte: »Gut! Gut!« Thom richtete sich ein wenig aufund öffnete die Augen.

»Hier?« schnaubte Ara. »Unruhen? Bergleute, die sichin der Morgendämmerung auf der Straße prügeln,bedeuten noch keine Unruhen. Oder...« Er schwieg undblickte sie einen Moment lang an. »Ich meinte die Art vonUnruhen wie in Ghealdan«, erklärte er schließlich. »Nein,bei euch wahrscheinlich nicht. Nichts als Schafe da unten,wie? Nicht böse gemeint... Ich meinte einfach, daß es beieuch wahrscheinlich ruhig ist. Aber es war schon eineigenartiger Winter. Seltsame Geschichten in den Bergen.Neulich hörte ich, daß oben in Saldaea Trollocsaufgetaucht sind. Aber das ist natürlich eines derGrenzlande, nicht wahr?« Er redete nicht weiter, ließ denMund zunächst offen und klappte ihn dann zu, als sei erselbst überrascht, soviel geredet zu haben.

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Rand hatte sich bei dem Wort Trollocs verkrampft,aber er bemühte sich, es zu verbergen, indem er seinenWaschlappen über dem Kopf auswand. Als der Burscheweitersprach, entspannte er sich wieder. Aber nicht allehielten den Mund.

»Trollocs?« gluckste Mat. Rand spritzte mit Wassernach ihm, doch Mat wischte es sich nur grinsend aus demGesicht. »Laß mich erstmal von Trollocs erzählen!«

Zum ersten Mal, seit er in die Wanne geklettert war,sprach Thom. »Warum kannst du das nicht lassen? Ich bines allmählich leid, meine eigenen Geschichten von dirwieder zu hören.«

»Er ist ein Gaukler«, sagte Perrin, worauf Ara ihmeinen verächtlichen Blick zuwarf.

»Ich habe den Mantel gesehen. Werdet Ihr Eure Kunsthier zeigen?«

»Augenblick mal!« protestierte Mat. »Was soll dasheißen, daß ich Thoms Geschichten erzähle? Seid ihralle...«

»Du erzählst sie eben nicht so gut wie Thom«, schnittihm Rand hastig das Wort ab, und Perrin hieb in dieselbeKerbe. »Du fügst immer Sachen hinzu, um dieGeschichten zu verbessern, aber das schaffst du nicht.«

»Und dann bringst du auch noch alles durcheinander«,fügte Rand hinzu. »Überlaß das am besten Thom.«

Sie sprachen alle so schnell, daß Ara sie mit offenemMund anstarrte. Mat blickte ganz verwirrt drein, als seienalle anderen plötzlich verrückt geworden. Rand fragtesich, wie man ihn wohl zum Schweigen bringen könne,ohne sich mit ihm zu streiten.

Die Tür schlug auf, und Lan trat ein, den braunenMantel über die Schulter geworfen. Mit ihm kam einSchwall kühler Luft, der für einen Augenblick den Dampf

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im Raum etwas lichtete. »Also«, sagte der Behüter undrieb sich die Hände, »genau darauf habe ich gewartet.«Ara ergriff einen Eimer, doch Lan winkte ihm zu, er sollees lassen. »Nein, ich werde mich selbst darum kümmern.«Er ließ seinen Umhang auf einen der Hocker fallen,beförderte den Bediensteten trotz seines Protestes aus demRaum und schloß die Tür fest hinter ihm zu. Er warteteein paar Augenblicke an der Tür, den Kopf zum Lauschengeneigt, und als er sich dann wieder den anderenzuwandte, war seine Stimme kalt, und seine Augenfunkelten Mat an. »Es ist gut, daß ich gerade in diesemAugenblick zurückgekommen bin, Bauernjunge. Hörst dunie auf das, was man dir sagt?«

»Ich habe doch nichts getan«, protestierte Mat. »Ichwollte ihm bloß gerade von den Trollocs erzählen undnicht von...« Er hielt inne und lehnte sich unter dem Blickdes Behüters gegen die Rückseite der Wanne.

»Sag nichts über Trollocs!« befahl Lan ernst. »Denknicht einmal an Trollocs.« Mit ärgerlichem Schnaubenbegann er, eine Wanne für sich zu füllen »Blut und Asche,ihr solltet euch besser daran erinnern, daß der DunkleKönig Augen und Ohren hat, wo man sie am wenigstenerwartet. Und wenn die Kinder des Lichts hören, daßhinter dir die Trollocs her sind, dann brennen sie darauf,dich in die Finger zu bekommen. Für sie würde es imGrunde dasselbe bedeuten, als würde man dichSchattenfreund nennen. Auch wenn es euch schwerfällt –bis wir unser Ziel erreicht haben, traut niemandem, außerFrau Alys oder ich sagen euch etwas anderes.« Mat zucktezusammen, als er den Namen betonte, den Moiraine hierbenutzte.

»Das war etwas, das uns dieser Bursche nicht sagenwollte«, erklärte Rand. »Etwas, das er als Unruhen

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bezeichnete, aber er wollte nicht sagen, was es war.«»Vielleicht die Kinder«, sagte Lan und goß heißes

Wasser in die Wanne. »Die meisten Leute betrachten sieals Unruhestifter. Ein paar allerdings nicht, und er kannteeuch nicht lange genug, um etwas zu riskieren. Was wußteer schon? Ihr hättet ja gleich zu den Weißmänteln rennenkönnen.«

Rand schüttelte den Kopf. Dieser Ort schien bereitsjetzt schlimmer zu sein, als Taren-Fähre jemals werdenkonnte. »Er sagte, es seien Trollocs in... in Saldaea, nichtwahr?« sagte Perrin. Lan warf den leeren Eimer zuBoden, daß es krachte. »Ihr müßt wohl einfach darüberreden, was? In den Grenzlanden gibt es immer Trollocs,Schmied. Und jetzt begreift endlich, daß wir nicht mehrAufmerksamkeit erregen wollen als eine Maus auf demAcker. Vergeßt das nicht. Moiraine will euch alle lebendnach Tar Valon bringen und ich natürlich auch, wennirgend möglich, aber falls ihr Moiraine Schwierigkeitenmacht...«

Der Rest ihres Badevergnügens spielte sich schweigendab, genau wie nachher das Anziehen.

Als sie den Baderaum verließen, stand Moiraine miteinem schlanken Mädchen, kaum größer als sie selbst, amEnde des Flurs. Zumindest hielt Rand sie für einMädchens obwohl das schwarze Haar kurzgeschnitten warund sie ein Männerhemd und Männerhosen trug. Moirainesagte etwas, das Mädchen betrachtete die Männer einenMoment lang genau, nickte Moiraine zu und eilte davon.

»Na also«, sagte Moiraine, als sie näher kamen, »ichbin sicher, das Bad hat euch allen Appetit gemacht.Meister Fitch hat ein eigenes Eßzimmer für unsvorbereitet.« Sie unterhielt sich weiter über belangloseDinge mit ihnen, während sie ihnen den Weg zeigte: über

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ihre Zimmer und die vielen Leute im Ort und daß derWirt hoffe, Thom werde im Schankraum musizieren undein, zwei Geschichten zum besten geben. Sie erwähnte dasMädchen nicht, falls es überhaupt ein Mädchen gewesenwar. Der private Speisesaal wies einen großen glänzendenEichentisch auf, um den ein Dutzend Stühle stand. Aufdem Boden lag ein dicker Teppich. Als sie eintraten,drehte sich eine frischgewaschene Egwene mit glänzen-dem, feuchtem, glatt ausgekämmtem Haar nach ihnen um.Sie hatte sich die Hände an dem im Herd prasselndenFeuer gewärmt. Rand hatte während der langen Stille imBaderaum viel Zeit zum Nachdenken gehabt.

Lans ständige Mahnungen, niemandem zu trauen, undbesonders die Tatsache, daß Ara davor zurückscheute,ihnen zu vertrauen, hatten ihm klargemacht, wie einsamsie nun wirklich waren. Es schien, als könnten sie wirklichniemandem außer sich selbst trauen, und er war sichimmer noch nicht sicher, inwieweit sie Moiraine oder Lanvertrauen konnten. Nur auf sich allein gestellt. UndEgwene war immer noch Egwene. Moiraine behauptete,es sei so oder so geschehen, daß sie die Wahre Quelleberühren würde. Sie konnte das nicht bestimmen, und dashieß: Es war nicht ihre Schuld. Und sie war immer nochdieselbe Egwene wie vorher.

Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, dochEgwene versteifte sich und wandte ihm den Rücken zu,bevor er ein Wort herausbringen konnte. Er blicktemürrisch ihren Rücken an und schluckte hinunter, was erhatte sagen wollen. Auch gut. Wenn sie es so will, dannkann ich nichts daran ändern.

Meister Fitch schlüpfte herein. Vier Frauen in weißenSchürzen folgten ihm. Sie trugen ein Tablett mit dreiBrathähnchen, Silberbestecken, verdeckten Schüsseln und

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Steinguttellern. Die Frauen begannen sofort mit demTischdecken. Derweil verbeugte sich der Wirt vorMoiraine.

»Entschuldigt vielmals, Frau Alys, daß ich Euch sowarten ließ, aber bei so vielen Gästen in meiner Schenkewundere ich mich manchmal, daß überhaupt jemandbedient wird. Ich fürchte, das Essen ist auch nicht das, wasEuch gebührte. Nur die Hähnchen, ein paar Rüben undErbsen und hinterher ein wenig Käse. Nein, es ist wirklichnicht das, was es sein sollte. Ich möchte mich ehrlichentschuldigen.«

»Ein Festessen.« Moiraine lächelte. »In diesen schwerenZeiten ist das aber wirklich ein Festessen, Meister Fitch.«

Der Wirt verbeugte sich wieder. Sein büscheliges Haar,das nach allen Seiten abstand, als fahre er ständig mit denHänden hindurch, machte die Verbeugung eher komisch,doch sein Grinsen war so sympathisch, daß jeder, derlachte, mit ihm und nicht über ihn lachte. »Vielen Dank,Frau Alys, vielen Dank!« Als er sich aufrichtete, runzelteer die Stirn und wischte mit einem Schürzenzipfel eineingebildetes Staubkorn vom Tisch. »Natürlich ist es nichtdas, was ich Euch noch vor einem Jahr auf den Tischgestellt hätte. Nicht annähernd. Der Winter. Ja, derWinter. Meine Keller sind fast leer, und auf dem Marktgibt es kaum etwas zu kaufen. Aber wer kann es denBauern übel nehmen? Wer? Niemand kann vorhersagen,wann sie wieder eine Ernte einfahren können. Niemandweiß es. Und die Wölfe bekommen das Hammelfleischoder Rindfleisch, das eigentlich auf den Tischen derMenschen landen sollte, und...«

Plötzlich schien ihm bewußt zu werden, daß dies wohlkaum das richtige Thema war, um seine Gäste zu einemangenehmen Mahl zu laden. »Ich lasse mich wieder einmal

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hinreißen. Ein alter Windbeutel bin ich. Mari, Cinda, laßtdiese guten Leute in Ruhe speisen.« Gestenreich scheuchteer die Frauen aus dem Raum, und als sie hinauseilten,wandte er sich erneut Moiraine zu und verbeugte sich.»Ich hoffe, Ihr genießt das Mahl, Frau Alys. Falls Ihrirgend etwas anderes braucht, dann sagt es nur, und ichwerde es besorgen. Sagt nur, was Ihr braucht. Es ist einVergnügen, Euch und Meister Andra zu bedienen. EinVergnügen.« Er verbeugte sich noch einmal tief und warweg. Sanft schloß sich die Tür hinter ihm.

Lan hatte sich währenddessen an die Wand gelehnt, alsschliefe er schon beinahe. Nun sprang er auf und war mitzwei langen Schritten an der Tür. Er drückte ein Ohrgegen ein Stück der Türverkleidung, lauschte angespannt,bis er langsam auf dreißig gezählt hatte; dann riß er dieTür auf und steckte den Kopf in den Flur. »Sie sind weg«,sagte er schließlich und schloß die Tür wieder. »Wirkönnen frei sprechen.«

»Ich weiß, daß Ihr sagt, wir könnten keinem trauen«,sagte Egwene, »aber wenn Ihr dem Wirt mißtraut, warumbleiben wir dann hier?«

»Ich mißtraue ihm nicht mehr als jedem anderen«,erwiderte Lan. »Aber wie auch immer, bis wir Tar Valonerreichen, muß ich eben jedem mißtrauen. Dort dann nurnoch jedem zweiten.«

Rand lächelte, da er glaubte, der Behüter wolle einenScherz machen. Dann erkannte er, daß Lans Gesicht keineSpur von Humor zeigte. Er würde wohl tatsächlich selbstMenschen in Tar Valon mißtrauen. Gab es überhaupteinen sicheren Ort?

»Er übertreibt«, sagte ihnen Moiraine zur Beruhigung.»Meister Fitch ist ein guter Mann, ehrlich undvertrauenswürdig. Aber er redet gern, und auch bei den

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besten Absichten kann es geschehen, daß ihm etwasentschlüpft und in falsche Ohren gerät. Und ich habe michnoch nie in einer Schenke aufgehalten, in der nicht dieHälfte aller Stubenmädchen an den Türen lauschten undmehr Zeit damit verbrachten, miteinander zu klatschen,als Betten zu machen. Kommt, setzen wir uns, bevor dasEssen kalt wird.«

Sie nahmen am Tisch Platz. Moiraine saß an einemEnde, Lan am anderen. Eine Zeitlang war jeder zu sehrdamit beschäftigt, seinen Teller zu füllen, als daß eineUnterhaltung aufkam. Es war vielleicht kein wirklichesFestessen, aber nach fast einer Woche Fladenbrot undTrockenfleisch schmeckte alles köstlich.

Nach einer Weile fragte Moiraine: »Was hast du imSchankraum erfahren?« Messer und Gabeln verhieltenmitten in der Luft in der Bewegung, und alle Augenwandten sich dem Behüter zu.

»Wenig Gutes«, antwortete Lan. »Avin hatte recht,jedenfalls bezüglich dessen, was die Leute so erzählen. Esgab eine Schlacht in Ghealdan, und Logain war derSieger. Es sind ein Dutzend verschiedener Geschichtendarüber im Umlauf, aber in diesem Punkt waren sie sichalle einig.«

Logain? Das mußte der falsche Drache sein. Es war daserste Mal, daß Rand den Namen des Mannes hörte. Esklang bei Lan beinahe so, als kenne er ihn persönlich.»Die Aes Sedai?« fragte Moiraine leise, und Lan schüttelteden Kopf.

»Ich weiß nichts. Einige behaupten, sie seien alle getötetworden, andere sagen, keine einzige sei umgekommen.«Er schnaubte. »Es gibt sogar welche, die behaupten, sieseien zu Logain übergelaufen. Es gibt keine zuverlässigenInformationen, und ich wollte auch nicht zuviel Interesse

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zeigen.«»Ja«, sagte Moiraine, »wenig Gutes also.« Sie atmete

tief ein und war wieder hellwach. »Und was gibt es inbezug auf uns selbst?«

»Da habe ich bessere Neuigkeiten. Keine unerklärlichenVorkommnisse, keine Fremden in der Gegend, dievielleicht Myrddraal sein könnten, und ganz gewiß keineTrollocs. Und die Weißmäntel sind damit beschäftigt, demStatthalter Adan Schwierigkeiten zu bereiten, weil er nichtmit ihnen zusammenarbeiten will. Sie werden uns nichtbemerken, wenn wir sie nicht selbst auf uns aufmerksammachen.«

»Gut«, sagte Moiraine. »Das stimmt mit dem überein,was das Bademädchen erzählt hat. Klatsch hat auch seineVorzüge. Nun«, sprach sie die gesamte Gesellschaft an,»wir haben immer noch eine lange Reise vor uns, aber dieletzte Woche war wirklich nicht ganz einfach. So schlageich vor, wir bleiben heute und morgen hier und reitenfrüh am folgenden Morgen wieder los.« Die jüngerenunter ihnen grinsten erfreut – zum ersten Mal in einerStadt! Moiraine lächelte. Trotzdem fragte sie: »Was hältMeister Andra davon?«

Lan sah die grinsenden Gesichter nüchtern an. »InOrdnung, falls sie sich ausnahmsweise einmal daranerinnern, was ich ihnen gesagt habe.«

Thom schnaubte durch seinen Schnurrbart. »DieseLandpomeranzen in eine... eine Stadt loslassen.« E rschnaubte nochmals und schüttelte seinen Kopf.

Da die Schenke so überfüllt war, standen für sie nurdrei Zimmer zur Verfügung, eines für Moiraine undEgwene und zwei für die Männer. Rand teilte sich dasZimmer mit Lan und Thom. Es war hinten im viertenStock, direkt unter dem überhängenden Dach, und aus

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dem kleinen Fenster blickte man auf den Stallhof hinab.Die Nacht hatte sich nun über die Stadt gesenkt, und dasLicht aus der Schenke beleuchtete einen Teil des Hofs. Eswar sowieso schon ein kleines Zimmer, und das Zusatzbettfür Thom, das man hineingestellt hatte, schränkte denRaum noch mehr ein, auch wenn die Betten alle schmalwaren. Und hart. Das fand Rand heraus, als er sich daraufwarf. Ganz bestimmt nicht das beste Zimmer.

Thom blieb nur so lange, wie er brauchte, um Flöteund Harfe auszupacken, dann ging er, wobei er bereitseinige grandiose Gesten ausprobierte. Lan begleitete ihn.

Seltsam, dachte Rand als er sich auf dem unbequemenBett herumwälzte. Noch vor einer Woche wäre er wie derBlitz unten gewesen, um sich die Gelegenheit nichtentgehen zu lassen, einem Gaukler bei der Arbeitzuzusehen. Aber nachdem er Thoms Geschichten eineWoche lang gelauscht hatte, waren sie einfach nicht mehrso interessant. Thom würde außerdem auch morgen dasein und am nächsten Abend, na Ja, und das heiße Badhatte seine Muskeln entspannt, und die erste warmeMahlzeit seit einer Woche machte ihn auch nicht gerademunterer. Schläfrig fragte er sich, ob Lan den falschenDrachen, Logain, wirklich kannte. Von unten hörte ereinen gedämpften Aufschrei. Der Schankraum begrüßteThoms Ankunft, doch Rand war bereits eingeschlafen.

Der Flur zwischen den Steinwänden war düster und vonSchatten erfüllt und – bis auf Rand – leer. Er konnte nichtsagen, woher das Licht kam, das bißchen Helligkeit, dasihn überhaupt sehen ließ; an den grauen Wänden befandensich keine Kerzen oder Lampen, nichts, das denschwachen Lichtschimmer verursachte, der einfach dawar. Die Luft roch abgestanden und modrig, und

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irgendwo in einiger Entfernung tropfte Wasser mit einemstetigen hohlen Plonk auf den Boden. Wo auch immer ersich befand, es war nicht in der Schenke. Er runzelte dieStirn und rieb sich mit der Hand darüber. Schenke? SeinKopf schmerzte, und es fiel ihm schwer, die Gedankenfestzuhalten. Da war etwas mit einer... einer Schenkegewesen! Der Gedanke war weg, wie fortgeblasen.

Er leckte sich die Lippen und wünschte sich etwas zumTrinken herbei. Er war schrecklich durstig, richtigausgetrocknet. Das ständige Tropfen machte ihm dieEntscheidung leicht. Da er keinen anderen Impuls hatte alsseinen Durst, hielt er auf das Plonk-Plonk-Plonk zu. DerFlur zog sich hin, ohne von einem anderen Korridorunterbrochen zu werden und ohne jede Veränderung imAussehen. Die einzigen Merkmale waren die grobenTüren, die paarweise in regelmäßigen Abständenauftauchten, auf jeder Seite eine, das Holz aufgesplittertund trotz der feuchten Luft ganz trocken. Die Schattenzogen sich vor ihm zurück, blieben immer gleich, und dasTropfen wollte nicht näher kommen. Nach langer Zeitentschloß er sich, eine der Türen zu öffnen. Sie öffnetesich ganz leicht, und er betrat ein düsteres Zimmer mitrohen Steinwänden.

Eine Wand öffnete sich in einer Reihe von Bögen zueinem grauen Steinbalkon und dahinter erkannte er einenHimmel, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Zu Streifenzerfledderte Wolken in Schwarz- und Grautönen, in Rotund Orange, strömten vorbei wie vom Sturmwind getrie-ben. Sie trennten sich, verbanden sich wieder miteinanderund lösten sich erneut. Niemand konnte jemals einensolchen Himmel gesehen haben, weil er nicht existierte.

Er riß seinen Blick von dem Balkon los, aber der Restdes Zimmers war auch nicht besser. Eigenartige

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Krümmungen und seltsame Winkel, als habe man dasZimmer beinahe planlos aus dem Fels herausgeschmolzen,und dazu Säulen, die aus dem grauen Fußbodenherauszuwachsen schienen. Im Kamin prasselten Flammenwie das Feuer in einer Schmiede, wenn der Blasebalg mitvoller Kraft bedient würde, aber sie gaben keine Wärmeab. Dieser Kamin war aus seltsamen ovalen Steinengemauert. Wenn er sie von vorn ansah, wirkten sie wieSteine, feucht und schlüpfrig trotz des Feuers, doch ausden Augenwinkeln betrachtet schienen sie Gesichter zubilden, die Gesichter von Männern und Frauen, die sichvor Schmerz wanden und lautlos schrien. Diehochlehnigen Stühle und der mattglänzende Tisch in derMitte des Raums waren wieder ganz normal, aber geradedas betonte die Fremdartigkeit der Umgebung. An derWand hing ein einzelner Spiegel, und der war nunüberhaupt nicht gewöhnlich. Als er hinein blickte, sah ernur einen verschwommenen Schimmer, wo eigentlich seinSpiegelbild sein sollte. Alles andere im Raum wurdescharf umrissen reflektiert, doch er nicht.

Ein Mann stand vor dem Kamin. Als er hereinkam,hatte er den Mann nicht bemerkt. Wenn er nicht genaugewußt hatte, daß das unmöglich war, hätte er behauptet,es sei niemand dagewesen, bis er ihn direkt ansah. Er wardunkel angezogen – die Kleidung von hoher Qualität –und schien sich im besten Mannesalter zu befinden. Randstellte sich vor, daß Frauen den Mann bestimmt alsgutaussehend betrachtet hätten. »Wieder einmal stehen wiruns von Angesicht zu Angesicht gegenüber«, sagte derMann, und einen Augenblick lang wurden seine Augenund sein Mund zu Toren in endlose Flammenhöhlen. Miteinem Schrei warf sich Rand rückwärts aus dem Zimmer,so heftig, daß er über den Flur taumelte, gegen die Tür

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auf der anderen Seite prallte und diese aufstieß. Er drehtesich um und griff nach der Klinke, um sich vor einemSturz auf den Fußboden zu bewahren – und starrte mitweitaufgerissenen Augen in einen Raum mit Steinwänden,Torbögen, die auf einen Balkon führten, einenunmöglichen Himmel dahinter und einen Kamin...

»So leicht kannst du mir nicht entkommen«, sagte derMann.

Rand drehte sich um, taumelte aus dem Zimmer undversuchte sich auf den Beinen zu halten, ohne langsamerzu werden. Diesmal erreichte er keinen Korridor. E rerstarrte verkrümmt unweit des glänzend-poliertenTisches und sah den Mann am Kamin an. Das war besser,als die Steine des Kamins anzusehen oder diesen Himmel.

»Das ist ein Traum«, sagte er beim Aufrichten. Hintersich hörte er das Klicken der sich schließenden Tür. »Esist eine Art Alptraum.« Er schloß die Augen und dachteangespannt an das Erwachen. Als er noch ein Kindgewesen war, hatte ihm die Seherin gesagt, wenn er das ineinem Alptraum fertigbringe, werde der Traumverschwinden. Die... Seherin? Was? Wenn ihm nur dieGedanken nicht so schnell entglitten wären! Wenn nur seinKopf aufgehört hätte zu schmerzen, dann könnte erwieder klar denken.

Wieder öffnete er die Augen. Der Raum war derselbewie vorher mit dem Balkon und dem Himmel und demMann am Kamin. »Ist es ein Traum?« fragte der Mann.»Spielt es eine Rolle?« Wieder wurden seine Augen undsein Mund einen Augenblick lang zu Gucklöchern ineinem Brennofen, der sich in die Ewigkeit erstreckte.Seine Stimme änderte sich nicht; er schien es gar nicht zubemerken.

Rand fuhr diesmal ein wenig zusammen, aber er

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beherrschte sich rechtzeitig, um nicht aufzuschreien. Dasist ein Traum. Es muß so sein. Trotzdem ging er ein paarSchritte rückwärts zur Tür, ohne den Blick von demMann am Feuer abzuwenden, dann drückte er die Klinkehinunter. Die Tür bewegte sich nicht; sie warverschlossen.

»Du scheinst Durst zu haben«, sagte der Mann amKamin. »Trink!«

Auf dem Tisch stand ein Pokal aus glänzendem Gold,mit Rubinen und Amethysten verziert. Er hatte sich schonvorher dort befunden. Wenn er nur nicht jedesmal sozusammengefahren wäre!. Es war doch nur ein Traum. Inseinem Mund schien sich nur Staub zu befinden.

»Ich bin tatsächlich ein wenig durstig«, sagte er undnahm den Pokal. Der Mann beugte sich gespannt vor, eineHand auf der Lehne eines Stuhls, und beobachtete ihn. DerGeruch nach Glühwein machte Rand erst richtig bewußt,wie durstig er war, als hätte er seit Tagen nichts mehr zutrinken bekommen. Stimmt das?

Der Pokal befand sich schon auf halbem Weg zu seinemMund, da hielt er inne. Kleine Rauchwölkchen erhobensich von der Stuhllehne, wo die Finger des Mannes lagen.Und diese Augen beobachteten ihn so genau und wechsel-ten schnell zwischen richtigen Augen und Flammen. Randleckte sich die Lippen und stellte den Wein wieder zurückauf den Tisch. »Ich habe nicht so viel Durst, wie ichglaubte.« Der Mann richtete sich brüsk auf. Sein Gesichtzeigte keine Regung. Seine Enttäuschung hätte nichtdeutlicher sein können, wenn er geflucht hätte. Randfragte sich, was der Wein wohl enthielt. Aber das warnatürlich eine dumme Frage. Dies war ja alles ein Traum.Warum endet er dann nicht? »Was willst du?« fragte erscharf. »Wer bist du?«

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Flammen erhoben sich aus Augen und Mund desMannes. Rand glaubte sie prasseln zu hören. »Einigenennen mich Ba'alzamon.«

Rand stand an der Tür und rüttelte verzweifelt an derKlinke. Alle Gedanken an Träume waren verschwunden.Der Dunkle König. Die Klinke gab nicht nach, aber erhörte nicht auf mit dem Rütteln. »Bist du der, den icherwarte?« fragte Ba'alzamon plötzlich. »Du kannst esnicht vor mir verbergen. Du kannst dich nicht vor mirverstecken, nicht auf dem höchsten Berg oder in dertiefsten Höhle. Ich kenne dich bis zum kleinsten Haar.«

Rand drehte sich um und sah dem Mann – Ba'alzamon –in die Augen. Er schluckte schwer. Ein Alptraum. E rgriff hinter sich, um noch einmal die Klinke zu drücken,dann richtete er sich gerade auf.

»Erwartest du Ruhm?« fragte Ba'alzamon. »Macht?Haben sie dir gesagt, das Auge der Welt werde dir dienen?Welchen Ruhm oder welche Macht hat denn eineMarionette? Die Fäden, an denen du hängst, sind überJahrhunderte hinweg gewebt worden. Dein Vater wurdeim Weißen Turm auserwählt wie ein Hengst, den maneinfängt und seiner Pflicht zuführt. Deine Mutter warnicht mehr als eine Zuchtstute zur Verwirklichung ihrerPläne. Und diese Pläne führen zu deinem Tod.«

Rands Hände ballten sich zu Fäusten. »Mein Vater istein guter Mann, und meine Mutter war eine gute Frau.Sprich nicht so über sie.«

Die Flammen lachten. »Also steckt doch nochWiderstandsgeist in dir. Vielleicht bist du wirklichderjenige. Es wird dir nicht viel helfen. Der Amyrlin-Sitzwird dich benutzen, bis du verbraucht bist, so wie Davianund Yurian Steinbogen und Guaire Amalasan und RaolinDunkelbann benutzt wurden. So wie sie Logain benutzen.

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Benutzt, bis nichts mehr von dir übrig ist.«»Ich weiß nicht...« Rand drehte den Kopf hin und her.

Dieser eine Moment klaren Denkens, aus dem Zorngeboren, war verflogen. Als er ihn wieder zu erlangensuchte, wußte er nicht mehr, wie er dazu gekommen war.Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er ergriff einendavon wie ein Floß in einem Mahlstrom. Er zwang Worteaus sich heraus. Seine Stimme wurde kräftiger, je mehr ersprach. »Du... bist gebunden... in Shayol Ghul. Du undmit dir alle Verlorenen... gebunden durch den Schöpferbis ans Ende der Zeit.«

»Das Ende der Zeit?« spöttelte Ba'alzamon. »Du lebstwie ein Käfer unter einem Felsbrocken und glaubst, deinSchleim sei das Universum. Der Tod der Zeit wird mirsolche Macht verleihen, wie du sie dir nicht einmalerträumen kannst, Wurm.«

»Du bist gebunden...«»Narr, ich bin niemals gebunden worden!« Die

Flammen loderten so heiß, daß Rand zurücktrat und dasGesicht mit vorgehaltenen Händen schützte. Der Schweißder Handflächen trocknete in der Hitze. »Ich stand anLews Therin Brudermörders Schulter, als er tat, was ihmseinen Namen einbrachte. Ich war es, der ihm sagte, ersolle seine Frau, seine Kinder und alle von seinem Blutund jede lebende Person töten, die ihn liebte oder die erliebte. Ich war es, der ihm einen Moment der Klarheitverschaffte, so daß er erkannte, was er getan hatte.

Hast du jemals einen Mann seine Seele ausschreienhören, Wurm? Er hätte mich in dem Augenblick schlagenkönnen. Er hätte nicht gewonnen, doch er hätte esversuchen können. Statt dessen rief er seine geliebte EineMacht auf sich selbst herab, und dies so heftig, daß dieErde sich auftat und den Drachenberg ausspie, um sein

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Grabstein zu werden.Tausend Jahre später sandte ich die Trollocs nach

Süden, und drei Jahrhunderte lang brandschatzten sie dieWelt. Diese blinden Narren in Tar Valon behaupteten, ichsei am Ende geschlagen worden, aber der Zweite Pakt,der Pakt der Zehn Nationen, war unwiderruflichzerschlagen, und wer war dann noch übrig, mir zuwiderstehen? Ich flüsterte in Artur Falkenflügels Ohr, undlandauf, landab starben die Aes Sedai. Ich flüstertewieder, und der Hochkönig sandte seine Armeen über dasAryth-Meer, über das Weltmeer, und besiegelte zweiSchicksale damit. Sein Traum von einem Land und einemVolk starb mit ihm, und dann noch ein zukünftigerTraum. Ich stand an seinem Totenbett, als seine Beraterihm sagten, nur eine Aes Sedai könne sein Leben retten.Ich sprach, und er befahl, seine Berater hinzurichten. Ichsprach, und die letzten Worte, die der Hochkönig ausrief,waren der Befehl, Tar Valon zu zerstören.

Wenn schon Männer wie diese mir nicht widerstehenkonnten, was willst du dann ausrichten – eine Kröte, dieneben einer Pfütze im Wald kauert? Du wirst mir dienen,oder du wirst nach der Pfeife der Aes Sedai tanzen, bis dustirbst. Und dann wirst du mir gehören. Die Totengehören mir!«

»Nein«, murmelte Rand, »das ist ein Traum. Es ist einTraum.«

»Glaubst du, in deinen Träumen seist du sicher vormir? Schau!« Ba'alzamon streckte befehlend die Hand aus,und Rands Kopf drehte sich in die Richtung, in die erzeigte, obwohl er ihn nicht bewegen wollte; er wollte sichnicht umdrehen.

Der Pokal war vom Tisch verschwunden. Wo er sichbefunden hatte, duckte sich nun eine große Ratte,

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zwinkerte in das grelle Licht und prüfte vorsichtig dieLuft. Ba'alzamon machte den Finger krumm, und miteinem Quietschen krümmte die Ratte den Rücken, hob dieVorderpfoten in die Luft und stand unsicher auf denHinterbeinen. Der Finger krümmte sich noch mehr, unddie Ratte fiel um, strampelte verzweifelt, krallte sich insNichts, quietschte schrill, während sich ihr Rücken immermehr durchbog. Mit einem scharfen Knacken wie beimZerbrechen eines Zweigs zitterte die Ratte noch einmalheftig und lag still, völlig verkrümmt.

Rand schluckte. »In einem Traum kann allesgeschehen«, murmelte er. Ohne sich umzusehen, schwanger erneut die Faust und traf das Tor. Seine Handschmerzte, doch er wachte immer noch nicht auf.

»Dann geh doch zu den Aes Sedai. Geh zum WeißenTurm und erzähl ihnen alles. Erzähl dem Amyrlin-Sitzvon diesem... Traum.« Der Mann lachte, und Rand fühltedie Hitze der Flammen im Gesicht. »Das ist eineMöglichkeit, um ihnen zu entkommen. Sie werden dichdann nicht benutzen wollen. Nein, nicht wenn sie wissen,daß ich alles weiß. Aber werden sie dich am Leben lassen,um zu berichten, was sie tun? Bist du ein solcher Narr,daß du glaubst, sie würden dich am Leben lassen? DieAsche von vielen anderen, die so waren wie du, liegtüberall verstreut auf den Hängen des Drachenbergs.«

»Das ist ein Traum«, keuchte Rand. »Es ist ein Traum,und ich werde erwachen.«

»Tatsächlich?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie sichder Finger des Mannes bewegte und auf ihn deutete.»Wirst du tatsächlich erwachen?« Der Finger krümmtesich, und Rand schrie auf, als sein Körper sich rückwärtsbog. Jeder Muskel zwang ihn weiter nach hinten. »Wirstdu jemals wieder erwachen?«

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Verkrampft zuckte Rand in der Dunkelheit hoch. SeineHände krallten sich in Stoff. Eine Decke. BleichesMondlicht schien durch das einzige Fenster. Dieschattenhaften Umrisse auf den anderen beiden Betten.Von einem erklang ein Schnarchen, als ob Segeltuchzerrisse: Thom Merrilin. Ein paar Kohlen glimmten inder Asche im Kamin. Es war also ein Traum gewesen, wieder Alptraum in der Weinquellenschenke an Bel Tine –alles, was er gehört oder getan hatte, vermischt mit altenGeschichten und blankem Unsinn. Er zog sich die Deckeüber die Schultern, aber die Kälte war es nicht, die ihnzittern ließ. Auch sein Kopf schmerzte. Vielleicht konnteMoiraine etwas gegen diese Träume tun. Sie sagte, siekönne gegen Alpträume etwas unternehmen.

Mit einem Schnauben legte er den Kopf wieder hin.Waren die Träume wirklich so schlimm, daß er eine AesSedai um Hilfe bitten mußte? Andererseits, konnte ihnirgend etwas, was er jetzt tat, noch tiefer in die Sacheverwickeln? Er hatte die Zwei Flüsse verlassen und warmit einer Aes Sedai hierhergekommen. Aber er hattenatürlich keine andere Wahl gehabt. Hatte er nun eineandere Wahl, als ihr zu vertrauen? Einer Aes Sedai?Darüber nachzusinnen, war genauso schlecht wie dieTräume. Er kuschelte sich unter seine Decke undversuchte im Nichts Ruhe zu finden, so wie Tam es ihngelehrt hatte. Doch es dauerte lange, bis er wiedereinschlief.

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KAPITEL 15

Fremde und Freunde

Sonnenschein auf seinem schmalen Bett weckte Randschließlich aus tiefem, aber unruhigem Schlaf auf. Er zogsich ein Kissen über den Kopf, doch es konnte das Lichtnicht abhalten, und er wollte eigentlich auch nicht mehreinschlafen. Nach dem ersten Traum waren noch mehrTräume gekommen. Er konnte sich nur noch an denersten erinnern, aber er wußte, daß er kein Bedürfnishatte, noch weitere zu erleben.

Mit einem Seufzer warf er das Kissen weg und setztesich auf. Beim Strecken verzog er schmerzgeplagt dasGesicht. Alle Schmerzen, die er vermeintlich in derBadewanne losgeworden war, meldeten sich wieder. Undauch sein Kopf tat immer noch weh. Es überraschte ihnnicht. Ein Traum wie jener in dieser Nacht war dazuangetan, jedem Kopfschmerzen zu bereiten. Die anderenTräume waren schon verflogen, doch jener eine nicht.

Die anderen Betten waren leer. Der Sonnenschein kambereits in einem steilen Winkel durch das Fenster. ZuHause auf dem Hof hätte er zu dieser Zeit bereits etwaszum Essen bereitet und mit seinen täglichen Arbeitenbegonnen. Er stieg aus dem Bett, wobei er ärgerlich insich hineinbrummte. Eine Stadt, die man sich ansehensollte, und sie hatten ihn nicht einmal geweckt. Zumindestaber hatte jemand dafür gesorgt, daß in der Kanne Wasserwar, warmes Wasser sogar.

Er wusch sich rasch und zog sich hastig an. Bei TamsSchwert zögerte er für einen Augenblick. Lan und Thom

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hatten ihre Satteltaschen und Bettrollen hinten im Zimmerabgestellt, ganz klar, aber das Schwert des Behüters warnirgends zu finden. Lan hatte sein Schwert auch inEmondsfeld getragen, lange bevor es irgendein Anzeichenfür Schwierigkeiten gab. Er wollte dem Vorbild desälteren Mannes folgen und redete sich ein, es habe nichtsdamit zu tun, daß er sich oft vorgestellt hatte, mit einemSchwert an der Hüfte durch die Straßen einer richtigenStadt zu spazieren. So schnallte er es sich um und warfseinen Umhang wie einen Sack über die Schulter.

Er nahm zwei Treppenstufen mit einem Schritt undeilte hinunter zur Küche. Das war sicher der Ort, an demer am schnellsten etwas zu essen bekam, und an seinemeinzigen Tag in Baerlon wollte er nicht noch mehr Zeitverschwenden, als sowieso schon vertan war. Blut undAsche, sie hätten mich wirklich wecken können.

Meister Fitch stand in der Küche und schimpfte miteiner molligen Frau, deren Arme bis zu den Ellbogen mitMehl bedeckt waren – offensichtlich der Köchin. Dochnein, sie schimpfte mit ihm und hielt ihm den Fingerdrohend unter die Nase. Kellnerinnen und Küchenjungen,Schankkellner und Putzer arbeiteten um sie herum undkümmerten sich nicht darum, was da vor ihnen geschah.»... mein Cirri ist ein guter Kater«, sagte sie gerade inscharfem Ton zu Meister Fitch, »und ich will keineWiderrede hören, verstanden? Ihr beklagt Euch darüber,daß er seine Aufgaben zu gut erfüllt, jawohl, wenn Ihrmich fragt!«

»Es sind Klagen gekommen«, warf Meister Fitch mitMühe ein. »Beschwerden, meine Liebe. Die Hälfte derGäste...«

»Ich will nichts davon hören. Ich will einfach nichtsdavon hören! Wenn sie sich über meine Katze beschweren

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wollen, dann sollen sie doch kochen! Meine arme alteKatze, die nur ihre Aufgaben erfüllt, und ich, wir werdenwoandershin gehen, wo man uns mehr schätzt, paßt nurauf!« Sie band ihre Schürze los und wollte sie über denKopf streifen.

»Nein!« jammerte Meister Fitch und sprang vor, um sieaufzuhalten. Sie tanzten im Kreis herum. Die Köchinversuchte, die Schürze auszuziehen, und der Wirtversuchte, sie ihr wieder anzuziehen. »Nein, Sara!«schnaufte er. »Das ist nicht nötig. Nicht nötig, sage ich!Was fange ich ohne dich an? Cirri ist eine gute Katze.Eine ausgezeichnete Katze. Die beste Katze in Baerlon.Wenn sich noch mal jemand beschwert, werde ich ihmsagen, er soll dankbar sein, daß die Katze ihre Aufgabenerfüllt. Ja, dankbar! Du darfst nicht gehen! Sara? Sara!«

Die Köchin hörte mit der Herumlauferei auf undbrachte es fertig, ihm ihre Schürze zu entreißen. »InOrdnung. Ist schon gut.« Sie hielt ihre Schürze in beidenHänden, band sie sich aber immer noch nicht um. »Aberwenn Ihr wollt, daß bis zum Mittag das Essen fertig ist,dann verschwindet jetzt aus der Küche und laßt micharbeiten. Es ist vielleicht Eure Schenke, aber dies istmeine Küche. Es sei denn, Ihr wollt selbst kochen...« Sietat so, als wolle sie ihm die Schürze reichen.

Meister Fitch trat mit weit gespreizten Armen zurück.Er öffnete den Mund, hielt inne und sah sich zum erstenMal um. Die Küchenhilfen übersahen noch immer – sehrbetont – Köchin und Wirt, während Rand intensiv inseinen Manteltaschen zu suchen begann, obwohl außerMoiraines Münze nichts darin war als ein paarKupferstücke und eine Handvoll Krimskrams. SeinTaschenmesser und der Wetzstein. Zwei Reserve-Bogensehnen und ein Stück Schnur, das er für alle Fälle

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immer dabei hatte.»Ich bin sicher, Sara«, sagte Meister Fitch vorsichtig,

»daß alles so vorzüglich wie immer bei dir schmeckenwird.« Damit blickte er zum letzten Mal die Küchenhilfenmißtrauisch an und verließ den Raum mit aller Würde, dieer aufbringen konnte.

Sara wartete, bis er draußen war, und band sichentschlossen die Schürze wieder um, bevor sie Randanblickte. »Ich schätze, du möchtest etwas zum Essenhaben, wie? Also dann komm rein.« Sie lächelte ihnverschmitzt an. »Ich beiße nicht, wirklich nicht,gleichgültig, was du vielleicht gesehen haben magst, auchwenn es nicht für deine Augen bestimmt war. Ciel, holBrot, Käse und Milch für den Jungen! Das ist alles, wasim Augenblick da ist. Setz dich, Junge. Deine Freundesind alle ausgegangen, außer einem, der sich nicht wohlfühlte, wie man mir sagte, und ich denke, du wirst auchweg wollen.«

Eine der Kellnerinnen brachte ein Tablett, währendsich Rand auf einen Hocker am Tisch setzte. Er aß, unddie Köchin knetete weiter ihren Brotteig. Ihr Wortschwallwar aber keineswegs beendet.

»Du mußt das nicht so ernstnehmen, was du gesehenhast. Meister Fitch ist durchaus ein guter Mann. DieBeschwerden der Leute machen ihn nervös, und worüberbeschweren sie sich? Möchten sie lieber lebendige Rattenfinden als tote? Auch wenn nicht zu Cirri paßt, seineBeute einfach zurückzulassen. Und mehr als ein Dutzend?Cirri würde niemals so viele in die Schenke hereinlassen,er nicht! Dies ist außerdem ein sauberes Haus und wirdvon Ratten nicht so heimgesucht. Und alle mitgebrochenem Rückgrat.« Sie schüttelte den Kopf über soviele Ungereimtheiten.

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Brot und Käse verwandelten sich in Rands Mund zuAsche. »Ihr Rückgrat war gebrochen?«

Die Köchin wedelte mit mehliger Hand. »Denk einfachan schönere Dinge, das ist meine Meinung. Es ist einGaukler da, weißt du. Im Augenblick ist er imSchankraum. Aber ach, du bist ja mit ihm zusammengekommen, nicht wahr? Du bist einer von denen, diegestern abend mit Frau Alys angekommen sind, ja? Dashabe ich mir gedacht. Ich werde nicht viel Gelegenheithaben, dem Gaukler zuzusehen, fürchte ich, nicht beieiner so überfüllten Schenke, und die meisten Gäste nochdazu dieses Pack aus den Bergwerken.« Sie klatschtebesonders heftig auf einen Klumpen Teig. »Nicht dieSorte, die wir sonst gern hereinlassen, nur daß der ganzeOrt voll von ihnen ist. Aber ich denke, so schlimm sindsie auch wieder nicht. Sag mal, ich habe tatsächlich seitder Zeit vor dem Winteranbruch keinen Gaukler mehrgesehen, und...«

Rand aß mechanisch. Er schmeckte nichts und hörte derKöchin nicht zu. Tote Ratten mit gebrochenem Rückgrat.Er beendete hastig sein Frühstück, stammelte einen Dankund eilte hinaus. Er mußte mit jemandem sprechen.

Der Schankraum im ›Hirsch und Löwen‹ hatte außerdem Zweck wenig mit dem der Weinquellenschenkegemein. Er war zweimal so breit und dreimal so lang, undauf die Wände waren farbenfrohe Bilder vongeschmückten Gebäuden mit Gärten voller hoher Bäumeund leuchtender Blumen aufgemalt. Statt eines großenKamins gab es hier an jeder Wand einen, und Dutzendevon Tischen füllten den Raum. Fast jeder Stuhl, jederHocker und jede Bank waren besetzt.

Die Pfeife im Mund und den Krug in der Faust,beugten sich die Gäste vor und richteten die

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Aufmerksamkeit auf dieselbe Gestalt. Thom stand aufeinem Tisch in der Mitte des Raums. Den vielfarbigenUmhang hatte er über einen Stuhl geworfen. SelbstMeister Fitch hielt einen silbernen Krug und einPoliertuch in erstarrten Händen.

»... tänzelnd, silberne Hufe und stolz gekrümmteHälse«, deklamierte Thom und schien dabei irgendwienicht nur auf einem Pferd zu reiten, sondern sich auchnoch in einer langen Prozession von Reitern zu befinden.»Seidenfeine Mähnen flattern, wenn die Köpfe hochge-worfen werden. Tausend flatternde Banner webenRegenbogen in den endlosen Himmel. Hundert messingtö-nende Trompeten lassen die Luft erzittern und Trommelnrasseln wie Donner. Hurrarufe erheben sich Welle umWelle von Tausenden von Zuschauern, ergießen sich überdie Dächer und Türme von Illian, brechen und prallenungehört auf die tausend Ohren von Reitern, deren Augenund Herzen von ihrer heiligen Aufgabe beseelt glänzen.Die Wilde Jagd nach dem Horn reitet hinaus, reitet, umdas Horn von Valere zu suchen, das die Heldenvergangener Zeitalter aus den Gräbern zurückholt, um fürdas Licht zu kämpfen...«

Es war die Darbietung, die der Gaukler das EinfacheLied genannt hatte, als er ihnen in den Nächten neben demFeuer auf ihrem Weg nach Norden von seiner Arbeiterzählt hatte. Geschichten, hatte er gesagt, wurden in dreiFormen erzählt: das Hohe Lied, das Einfache Lied und dasVolkslied, das einfach so erzählt wurde, als berichte maneinem Nachbarn über die Ernteaussichten. Thom erzähltemanchmal Geschichten in der Volksliedform, und eskümmerte ihn nicht, daß in seiner Stimme Verachtungmitschwang.

Rand schloß die Tür, ohne einzutreten, und ließ sich

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gegen die Wand sacken. Von Thom konnte er keinen Raterwarten. Moiraine – was würde sie tun, wenn sie eswüßte?

Er bemerkte, daß ihn die Leute im Vorübergehenanstarrten und daß er Selbstgespräche führte. Er strichseinen Mantel glatt und richtete sich auf. Er mußte mitjemandem sprechen. Die Köchin hatte gesagt, einer deranderen sei nicht mit ausgegangen. Es kostete ihn Mühe,nicht zu rennen.

Als er an die Tür des Zimmers klopfte, wo die anderenJungen geschlafen hatten, und schließlich den Kopfhineinsteckte, war nur Perrin da, der noch unangezogenim Bett lag. Er verdrehte den Kopf auf dem Kissen, umRand anzusehen, und schloß die Augen wieder. MatsBogen und Köcher standen in einer Ecke.

»Ich hörte, daß du dich nicht wohl fühlst«, sagte Rand.Er trat ein und setzte sich auf das danebenstehende Bett.»Ich wollte nur reden. Ich...« Er wußte nicht, wie eranfangen sollte. »Wenn dir schlecht ist«, sagte er halb imAufstehen, »solltest du vielleicht besser schlafen. Ich kannja gehen.«

»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder schlafen werde«,seufzte Perrin. »Ich hatte einen schlimmen Traum, wenndu es schon wissen willst, und ich konnte danach nichtmehr einschlafen. Mat wird es dir bestimmt aucherzählen. Er lachte heute morgen, als ich den anderenerzählte, warum ich zu müde war, um mit ihnenauszugehen, aber er hat auch geträumt. Ich habe ihm einengroßen Teil der Nacht zugehört, denn er wälzte sich imBett hin und her und sprach im Schlaf, und keiner kannmir weismachen, daß er gut geschlafen hat.« Er hielt sicheinen starken Arm vor die Augen. »Licht, bin ichvielleicht müde! Wenn ich ein oder zwei Stunden

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hierbleibe, fühle ich mich vielleicht wohler und kannaufstehen. Mat wird es mir nie verzeihen, wenn ichBaerlon wegen eines Traums nicht anschaue.«

Rand leckte sich die Lippen und fragte: »Hat er eineRatte getötet?«

Perrin senkte den Arm und blickte ihn an. »Du auch?«fragte er schließlich. Als Rand nickte, fügte er hinzu: »Ichwünschte, ich wäre wieder zu Hause. Er erzählte mir... E rsagte... Was sollen wir tun? Hast du es Moiraine erzählt?«

»Nein. Noch nicht. Vielleicht lasse ich es auch bleiben.Ich weiß nicht. Wie steht's mit dir?«

»Er sagte... Blut und Asche, Rand, ich weiß es nicht.«Perrin stützte sich auf den Ellbogen. »Glaubst du, daß Matden gleichen Traum hatte? Er lachte, aber es klanggezwungen, und er schaute mich so komisch an, als icherzählte, ich hätte wegen eines Traums nicht mehrgeschlafen.«

»Vielleicht träumte er das gleiche«, sagte Rand. E rhatte ein schlechtes Gewissen, daß er sich so erleichtertfühlte, nicht der einzige mit Alpträumen zu sein. »Ichwollte Thom um Rat fragen. Er hat viel von der Weltgesehen. Du... du denkst wohl auch, wir sollten esMoiraine nicht erzählen, oder?«

Perrin ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Du hastgehört, was man sich über die Aes Sedai erzählt. Glaubstdu, wir können Thom vertrauen? Wenn wir überhauptjemandem vertrauen können. Rand, wenn wir lebend ausdieser Sache herauskommen, wenn wir jemalsheimkommen und du hörst mich sagen, ich wolleEmondsfeld wieder verlassen – auch wenn es nur für eineReise nach Wachhügel ist –, dann gib mir einen Tritt.Klar?«

»So solltest du nicht sprechen«, sagte Rand. Er verzog

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das Gesicht zu einem Lächeln, so gutgelaunt, wie er esgerade fertigbrachte. »Natürlich kehren wir wieder heim.Komm, steh auf! Wir sind in einer Stadt und haben einenganzen Tag Zeit, sie anzusehen. Wo sind deine Kleider?«

»Geh du nur. Ich will nur eine Weile hierliegenbleiben.« Perrin legte den Arm wieder über dieAugen. »Geh du nur vor. Ich komme in ein oder zweiStunden nach.«

»Du bist der Leidtragende«, sagte Rand beimAufstehen. »Denk mal daran, was du alles versäumst.« E rblieb an der Tür noch einmal stehen. »Baerlon. Wie ofthaben wir darüber gesprochen, daß wir eines TagesBaerlon sehen wollten!« Perrin lag mit bedeckten Augenda und sagte kein Wort. Kurz darauf verließ Rand dasZimmer und schloß die Tür hinter sich.

Im Flur lehnte er sich an die Wand. Sein Lächelnverflog. Sein Kopf schmerzte nach wie vor, und zwarschlimmer als zuvor. Er konnte nicht mehr vielBegeisterung für Baerlon empfinden. Er konnte überhauptkeine Begeisterung für irgend etwas aufbringen.

Ein Zimmermädchen kam mit einem Arm vollerBettlaken an ihm vorbei und sah ihn besorgt an. Bevor sieetwas sagen konnte, eilte er den Flur entlang und schlüpftein seinen Umhang. Thom würde noch stundenlang imSchankraum beschäftigt sein. Er konnte sich alsogenausogut die Stadt anschauen. Vielleicht würde er Mataufspüren und herausfinden, ob Ba'alzamon auch durchseine Träume gegeistert war. Er ging diesmal langsamerdie Treppe hinunter und rieb sich die Schläfen.

Die Treppe führte zur Küche, und so wählte er diesenWeg nach draußen. Er nickte Sara zu, doch dann beeilteer sich, als sie allem Anschein nach ihre Unterhaltungwieder aufnehmen wollte. Der Stallhof war fast leer. Nur

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Mutch, der an der Stalltür stand, und einer derStallknechte, der einen Sack auf der Schulter hatte und ihnin die Ställe trug, befanden sich dort. Rand nickte Mutchzu, aber der Pferdepfleger warf ihm einen gehässigenBlick zu und ging hinein. Er hoffte, die übrigen Städterwürden eher Sara ähneln als Mutch. Er war neugierig,den Charakter dieser Stadt kennenzulernen, undbeschleunigte seine Schritte.

Am offenen Tor des Stallhofes blieb er stehen und sahsich um. Die Straßen waren von Menschen gefüllt wie einPferch mit Schafen. Die Menschen waren bis zu denAugen in Umhänge und Mäntel gehüllt, hatten die Hütezum Schutz gegen die Kälte tief heruntergezogen undbegaben sich mit schnellen Schritten in die Menge hineinoder wieder heraus, als bliese der über die Dächerpfeifende Wind sie immer weiter. Achtlos schoben sie sichaneinander vorbei, grußlos und ohne die anderenanzuschauen. Alles Fremde, dachte er. Keiner von ihnenkennt den anderen.

Auch die Gerüche waren fremdartig, scharf und sauerund süß, alles zu einem Durcheinander vermischt, das ihnin der Nase juckte. Noch nicht einmal auf dem Höhepunkteines Festes hatte er bisher erlebt, daß sich so vieleMenschen zusammendrängten. Nicht einmal halb so viele.Und dies war nur eine einzige Straße. Die ganze Stadt...War es überall so? Er trat langsam vom Tor zurück nachhinten, weg von dieser mit Menschen gefüllten Straße. Eswar nicht richtig, wegzugehen und Perrin krank im Bettzurückzulassen. Und wenn Thom mit dem Erzählen fertigwürde, während er noch draußen in der Stadt war? DerGaukler würde dann vielleicht selbst ausgehen, und Randmußte mit jemandem sprechen. Viel besser, ein wenig zuwarten. Er atmete erleichtert auf, als er der überfüllten

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Straße den Rücken kehrte.Bei seinem Kopfweh hatte er aber auch keine Lust,

zurückzukehren in die Schenke. Er setzte sich auf ein Faß,das umgedreht an der Rückwand der Schenke stand, undhoffte, die kalte Luft möge seinem Kopf guttun. Von Zeitzu Zeit kam Mutch an die Stalltür und starrte ihn an.Sogar auf die Entfernung konnte Rand die böse Miene desBurschen deutlich erkennen. Mochte der Mann keineLeute vom Land? Oder hatte ihn Meister Fitch so inVerlegenheit gebracht, als er sie begrüßte, nachdemMutch versucht hatte, sie zu verscheuchen, als sie von derRückseite her hereingekommen waren? Vielleicht ist erein Schattenfreund, dachte er. Eigentlich hätte er von sicherwartet, bei diesem Gedanken zu schmunzeln, aber nunwar es alles andere als lustig. Er streichelte mit der Handüber den Knauf von Tams Schwert. Es gab überhauptkaum noch etwas Lustiges.

»Ein Schafhirte mit einem Schwert, das einReiherzeichen trägt«, sagte eine leise Frauenstimme. »Dakann man ja gleich alles glauben. In welchenSchwierigkeiten steckst du denn, Junge vom Land?«

Überrascht sprang Rand auf. Es war die junge Frau mitdem kurzgeschnittenen Haar, die bei Moiraine gestandenhatte, als er aus dem Bad kam. Sie trug immer noch Hosenund Mantel eines Jungen. Sie war ein wenig älter als er,wie er glaubte, und hatte dunkle Augen, noch größer alsEgwenes Augen und seltsam intensiv im Blick. »Du heißtRand, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Ich heiße Min.«

»Ich bin nicht in Schwierigkeiten«, sagte er. Er hattekeine Ahnung, was Moiraine ihr alles erzählt hatte, aberer erinnerte sich an Lans Weisung, keine Aufmerksamkeitzu erregen. »Wieso glaubst du, ich sei in Schwierigkeiten?Die Zwei Flüsse sind ein ruhiges Gebiet, und wir sind alle

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ruhige Leute. Kein Ort für Schwierigkeiten, es sei denn,sie hängen mit der Ernte oder den Schafen zusammen.«

»Ruhig?« fragte Min mit leichtem Lächeln. »Ich habegehört, was man über euch Zwei-Flüsse-Leute so sagt. Ichhabe die Witze gehört, die man über holzköpfige Schäfergerissen hat, aber es gibt auch Männer, die wirklich dortunten gewesen sind.«

»Holzköpfe?« fragte Rand mit finsterer Miene. »Wasfür Witze?«

»Diejenigen, die euch kennen«, fuhr sie fort, als habeer nichts gesagt, »berichten, daß ihr immer lächelnd undhöflich herumlauft, so sanft und butterweich imVerhalten. Jedenfalls an der Oberfläche. Darunter, sagensie, seid ihr so zäh wie alte Eichenwurzeln. Wenn du siezu hart anpackst, behaupten sie, beißt du auf Granit. Aberin dir und deinen Freunden liegt der Granit ziemlich ander Oberfläche. Es ist, als hätte ein Sturm die Erdeweggeblasen, die ihn bedeckte. Moiraine hat mir nichtalles erzählt, aber ich habe ja Augen im Kopf.«

Alte Eichenwurzeln? Granit? Das klang kaum nach denGeschichten der Händler und anderer Leute. Der letzteSatz allerdings ließ ihn zusammenfahren.

Er sah sich schnell um. Der Stallhof war leer und dienächsten Fenster geschlossen. »Ich kenne niemandennamens – wie war der Name doch gleich wieder?«

»Also dann eben Frau Alys, wenn dir das lieber ist«,sagte Min mit belustigtem Blick, der Rand die Röte in dieWangen trieb. »Es ist niemand in der Nähe, der unsbelauschen könnte.«

»Wieso glaubst du, daß Frau Alys noch einen anderenNamen hat?«

»Weil sie es mir erzählt hat«, sagte Min so geduldig,daß er schon wieder errötete. »Allerdings hatte sie keine

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andere Wahl, denke ich. Ich erkannte, daß sie... anderswar... gleich vom ersten Augenblick an... als sie auf demWeg zu euch hier vorbeikam. Sie erkannte mich ebenfalls.Ich habe früher schon mit... anderen von ihrer Artgesprochen.«

»Du erkanntest – sie?« fragte Rand.»Na ja, ich glaube nicht, daß du gleich zu den Kindern

rennen wirst. Vor allem, wenn man bedenkt, wer deineReisegenossen sind. Den Weißmänteln würde das, was ichtue, genausowenig gefallen wie das, was sie tut.«

»Ich verstehe nicht.«»Sie sagt, daß ich Teile des Musters sehen kann.« Min

lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Hört sich toll an –zu toll, was mich betrifft. Ich sehe einfach nur Dinge,wenn ich die Leute anblicke, und manchmal weiß ich, wassie wirklich wollen. Ich sehe einen Mann und eine Frauan, die noch nie miteinander gesprochen haben, und weiß,daß sie heiraten werden. Und das tun sie dann auch. Dassind die Dinge, die ich sehe. Sie wollte, daß ich dichkennenlerne. Euch alle zusammen.«

Rand schauderte. »Und was hast du gesehen?«»Wenn ihr alle zusammen seid? Funken schwirren um

euch herum, Tausende, und ein großer Schatten, dunklerals Mitternacht. Diese Erscheinung ist so stark, daß ichmich schon fast frage, warum es nicht jeder sieht. DieFunken versuchen, den Schatten zu füllen, und derSchatten versucht, die Funken zu verschlingen.« Sie zucktedie Achseln. »Ihr seid alle in irgend etwas Gefährlichemverstrickt, und ich kann einfach nicht mehr darüberherausfinden.«

»Wir alle?« murmelte Rand. »Auch Egwene? Aber siewaren nicht hinter... Ich meine...«

Min schien seinen Versprecher nicht zu bemerken.

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»Das Mädchen? Sie gehört auch dazu. Und der Gaukler.Ihr alle. Und du bist in sie verliebt.« Er sah sie entgeistertan. »Das kann ich sagen, ohne mein inneres Augebemühen zu müssen. Sie liebt dich auch, aber sie ist nichtfür dich bestimmt und du nicht für sie. Jedenfalls nicht inder Art, die ihr euch beide wünscht.«

»Was soll das heißen?«»Wenn ich sie ansehe, erblicke ich das gleiche wie bei...

Frau Alys. Auch andere Dinge, die ich nicht verstehe,doch zumindest weiß ich, was das bedeutet. Sie wird esnicht verweigern.«

»Das ist doch alles Unsinn«, sagte Rand unsicher. SeinKopfweh verflog langsam; der Kopf war wie taub, als obman ihn voll Wolle gepackt hätte. Er wollte weg vondiesem Mädchen und den Dingen, die sie sah. Und doch...»Was siehst du, wenn du den Rest von uns anblickst?«

»Alles mögliche«, sagte Min mit einem Lächeln, alswisse sie, was er wirklich fragen wollte. »Der Krieg...äh... Meister Andra hat sieben zerstörte Festungen um denKopf und ein Kind in der Wiege um sich, das ein Schwerthält und...« Sie schüttelte den Kopf. »Männer wie er –verstehst du? – haben so viele Bilder um sich herum, daßein Bild das andere verdrängt. Die stärksten Eindrücke,die den Gaukler umgeben: ein Mann – nicht er selbst –,der Feuer schluckt, und der Weiße Turm. Bei einemMann ergibt das überhaupt keinen Sinn. Die stärkstenEindrücke bei dem großen krausköpfigen Burschen sindein Wolf, eine zerbrochene Krone und Bäume, die um ihnherum blühen. Und bei dem anderen – ein roter Adler,ein Auge auf einer Waagschale, ein Dolch mit einemRubin, ein Horn und ein lachendes Gesicht. Da gibt esnoch mehr, aber ich denke, du siehst, was ich meine.Diesmal kann ich einfach nichts Rechtes damit anfangen.«

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Dann wartete sie, immer noch lächelnd, bis er sichschließlich räusperte und fragte: »Wie steht's bei mir?«

Ihr Lächeln wurde zu einem offenen Lachen.»Dieselben Dinge wie bei den anderen. Ein Schwert, daskein Schwert ist, eine goldene Krone in Form vonLorbeerblättern, ein Bettelstab, du, wie du Wasser aufSand schüttest, eine blutende Hand und ein weißglühendesEisen, drei Frauen, die bei einer Beerdigung an der Bahrestehen, auf der du liegst, schwarzer Fels, naß von Blut...«

»Ist schon gut«, unterbrach er sie verlegen. »Du mußtnicht alles aufzählen.«

»Vor allem sehe ich Blitze um dich herum. Manchezucken auf dich zu, manche kommen aus dir heraus. Ichweiß nicht, was das alles bedeutet, außer bei einer Sache.Du und ich, wir werden uns wiedersehen.« Sie sah ihnfragend an, als verstehe sie auch das nicht.

»Warum auch nicht?« fragte er. »Ich werde auf demHeimweg wieder hier durchkommen.«

»Ich denke schon.« Plötzlich war ihr Lächeln wiederda, versonnen und geheimnisvoll, und sie tätschelte ihmdie Wange. »Aber wenn ich dir alles erzähle, was ich sah,dann wäre dein Haar genauso kraus wie bei deinemFreund mit den breiten Schultern.«

Er zuckte vor ihrer Hand zurück, als sei sie rotglühend.»Was meinst du damit? Siehst du irgend etwas überRatten? Oder Träume?«

»Ratten! Nein, keine Ratten. Und was die Träumebetrifft, vielleicht träumst du so was gern, aber ich habesonst nie davon geträumt.«

Er fragte sich, ob sie übergeschnappt sei, so lächelte sieihn an. »Ich muß gehen«, sagte er und schob sich an ihrvorbei. »Ich... ich muß meine Freunde treffen.«

»Also geh. Aber du wirst nicht entkommen.«

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Er rannte nicht gerade weg, wurde aber doch mitjedem Schritt etwas schneller. »Renn, wenn du willst!«rief sie ihm nach. »Du kannst mir nicht entkommen.«

Ihr Lachen verfolgte ihn über den Hof und hinaus aufdie Straße in das Menschengewühl hinein. Ihre letztenWorte glichen zu sehr denen von Ba'alzamon. Er rempelteLeute an, als er sich durch die Menge schob, was ihmscharfe Blicke und böse Worte einbrachte, aber erverlangsamte seine Schritte nicht, bis er einige Straßenvon der Schenke entfernt war.

Nach einer Weile begann er, wieder auf seineUmgebung zu achten. Sein Kopf fühlte sich an wie einBallon, aber er sah sich trotzdem um und genoß denAnblick. Er fand, Baerlon war schon eine tolle Stadt,wenn auch nicht auf dieselbe Art wie die Städte in ThomsGeschichten. Er wanderte durch breite Straßen, meist mitgroßen Platten gepflastert, und durch kleine gewundeneGassen, wohin auch immer der Zufall und dieMenschenmenge ihn trieben. Es hatte in der Nachtgeregnet, und die ungepflasterten Straßen waren von derMenge bereits zu Matsch zertrampelt worden. Dochschlammige Straßen waren für ihn nichts Neues. Keineder Straßen in Emondsfeld war gepflastert.

Es gab nun bestimmt auch keine Paläste, und nurwenige Häuser waren sehr viel größer als die zu Hause,aber jedes Haus hatte ein Ziegel- oder Schieferdach, dasgenauso schön war wie das der Weinquellenschenke. E rschätzte, daß es in Caemlyn vielleicht ein oder zweiPaläste gab. Was Schenken betraf, so zählte er neun, undkeine davon war kleiner als die Weinquelle. Die meistenwaren genauso groß wie der ›Hirsch und Löwe‹, und esgab ja noch eine Menge Straßen, die er nicht gesehenhatte.

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An jeder Straße gab es Läden mit Markisen, die mitWaren vollgeladene Tische schützten. Man bekam alles –vom Stoff, über Bücher bis zu Töpfen und Stiefeln. Eswar, als hätten hundert Händlerwagen ihren Inhaltverstreut. Er sah sich alles so auffällig an, daß er mehr alseinmal unter den mißtrauischen Blicken einesLadeninhabers flüchten mußte. Beim ersten Ladeninhaberhatte er noch nicht verstanden, warum er ihn so ansah. Alser endlich kapierte, wurde er zuerst wütend, bis er sichdaran erinnerte, daß er hier der Fremde war. Er hättesowieso nicht viel kaufen können. Er schnappte nach Luft,als er sah, wie viele Kupfermünzen man für ein Dutzendverfärbte Äpfel oder eine Handvoll verschrumpelterRüben hinlegen mußte – die man bei den Zwei Flüssen andie Pferde verfüttert hätte, aber die Leute zahlten ganzeifrig.

Es gab hier für seinen Geschmack wirklich mehr alsgenug Leute. Für eine Weile überwältigte ihn der Anblickder Massen beinahe. Einige trugen feinere Kleider, alsirgend jemand in den Zwei Flüssen besaß – beinahe dieQualität von Moiraines Kleidung –, und recht viele warenin pelzbesetzte lange Mäntel gehüllt, die bis zu denKnöcheln reichten. Die Bergarbeiter, von denen man inder Schenke soviel geredet hatte, gingen gebeugt einherwie alle Männer, die unter der Erde gruben. Doch diemeisten Menschen sahen auch nicht anders aus als jene,mit denen er aufgewachsen war, weder was die Gesichternoch was die Kleidung betraf. Er hatte irgendwie mehrUnterschiede erwartet. Und nun erinnerten ihn mancheGesichter so sehr an die Zwei Flüsse, daß er sichvorstellen konnte, sie gehörten der einen oder anderenFamilie an, die er aus der Gegend von Emondsfeld kannte.Ein zahnloser grauhaariger Bursche mit Ohren wie die

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Henkel an einem Bierkrug, der auf einer Bank vor einerSchenke saß und trauernd in den leeren Humpen blickte,hätte sehr wohl ein Vetter Bili Congars sein können. DerSchneider mit dem kantigen Kinn, der vor seinem Ladennähte, mochte Jon Thanes Bruder sein – bis hin zu demkahlen Fleck auf dem Hinterkopf. Ein Beinahe-Spiegelbildvon Samel Crawe drängte sich an Rand vorbei, als er umeine Ecke kam und...

Ungläubig starrte er den kleinen hageren Mann mitlangen Armen und großer Nase an, der sich hastig durchdie Menge schob. Seine Kleider wirkten wie ein BündelLumpen. Die Augen waren von dunklen Ringen umgeben,und das Gesicht wirkte eingefallen, als hätte er tagelangnicht geschlafen und nichts gegessen, aber Rand hätteschwören können... Der zerlumpte Mann sah ihn understarrte mitten im Schritt. Er achtete nicht auf dieMenschen, die ihn aus Versehen beinahe anrempelten.Rands letzter Zweifel verschwand.

»Meister Fain!« rief er. »Wir dachten alle, Ihr wärt...«Schnell wie der Blitz eilte der Händler davon, aber

Rand lief ihm hinterher. Er rief den Leuten, die eranrempelte, über die Schulter Entschuldigungen zu. Durchdie Menge hindurch erhaschte er einen Blick auf Fain, alsdieser gerade in eine Gasse rannte. Rand bog hinter ihm indieselbe Gasse ein. Der Händler war nach ein paarSchritten stehengeblieben. Ein hoher Zaun machte dieGasse zu einer Sackgasse. Als Rand sich abfing und mitMühe stehenblieb, tat Fain so, als wolle er gleich über ihnherfallen. Er duckte sich, zog sich dann aber zurück. Mitschmutzigen Händen bedeutete er Rand, nicht näher zukommen. In seinem Mantel war mehr als ein Riß zuerkennen, und der Umhang war so abgetragen undzerfleddert, als sei er eher mißbraucht als getragen

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worden. »Meister Fain«, fragte Rand zögernd, »was istlos? Ich bin es, Rand al'Thor aus Emondsfeld. Wirdachten alle, die Trollocs hätten Euchgefangengenommen.«

Fain gestikulierte mit abgehackten Bewegungen undrannte gebückt ein paar Schritte in Richtung auf dasoffene Ende der Gasse zu. Er versuchte aber nicht, anRand vorbeizukommen oder sich ihm auch nur zu nähern.»Nicht!« krächzte er. Sein Kopf war ständig in Bewegung,da er sich bemühte, die Straße jenseits von Rand immerim Auge zu behalten. »Erwähne nicht...« Seine Stimmewurde zu einem heiseren Flüstern. Er drehte den Kopfweg und beobachtete Rand von der Seite her. »Erwähnesie nicht! Es sind Weißmäntel in der Stadt.«

»Sie haben keinen Grund, uns zu belästigen«, sagteRand. »Kommt mit zurück zum ›Hirsch und Löwen‹! Ichbin dort mit meinen Freunden. Ihr kennt die meisten vonihnen. Sie werden sich freuen, Euch zu sehen. Wirdachten alle, Ihr wärt tot.«

»Tot?« fauchte der Händler beleidigt. »Nicht PadanFain. Padan Fain weiß, wie man wieder auf den Füßenlandet.« Er richtete seine Lumpenkleider, als seien sie einFesttagsgewand. »Das habe ich immer geschafft, und daswerde ich auch immer schaffen. Ich werde lange leben.Länger als...« Plötzlich straffte sich sein Gesicht, und dieHände verkrampften sich in dem Vorderteil seinesMantels. »Sie haben meinen Wagen und alle Warenverbrannt. Hatten keinen Grund, das zu tun, nicht wahr?Ich konnte meine Pferde nicht holen. Meine Pferde, aberdieser fette alte Wirt ließ sie in seinen Stall sperren. Ichmußte schnell entkommen, um meinen Hals zu retten, undwas habe ich davon? Alles, was mir bleibt, sind dieSachen, die ich anhabe. Ist das etwa anständig? Wirklich?«

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»Eure Pferde sind in Sicherheit in Meister al'VeresStall. Ihr könnt sie jederzeit abholen. Wenn Ihr mit mirzur Schenke kommt, sorgt Moiraine sicher dafür, daß Ihrzu den Zwei Flüssen zurückkommt.«

»Aaaah! Sie ist... sie ist die Aes Sedai, ja?« FainsGesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. »Vielleichtaber auch...« Er schwieg und leckte sich nervös über dieLippen. »Wie lange bleibt Ihr in dieser... Wie heißt das?Wie hast du die Schenke genannt? ›Hirsch und Löwe‹?«

»Wir reisen morgen ab«, sagte Rand. »Aber was hatdas mit...«

»Du kannst das einfach nicht nachfühlen«, winselteFain, »wie du da mit vollem Bauch und nach einer Nachtin einem weichen Bett dastehst. Ich habe seit der bewußtenNacht kaum ein Auge zugetan. Meine Stiefel sind fastdurchgelaufen, und was ich essen mußte...« Sein Gesichtverzog sich. »Ich will mich lieber meilenweit entfernt voneiner Aes Sedai aufhalten« – bei diesem Namen spuckte erbeinahe aus –, »meilenweit, aber vielleicht muß ich doch...Ich habe keine Wahl, nicht wahr? Der Gedanke, daß siemich ansieht, daß sie überhaupt weiß, wo ich michaufhalte...« Er streckte die Hände nach Rand aus, als wolleer ihn am Mantel packen, doch hielt er kurz davorzitternd inne und trat statt dessen einen Schritt zurück.»Versprich mir, daß du ihr nichts erzählst. Ich habe Angstvor ihr. Es ist nicht notwendig, ihr von mir zu erzählen.Eine Aes Sedai muß nicht wissen, daß ich noch lebe. Dumußt es mir versprechen. Du mußt!«

»Ich verspreche es«, sagte Rand in beruhigendem Ton.»Aber Ihr habt keinen Grund, Euch vor ihr zu fürchten.Kommt mit! Zumindest bekommt Ihr dann eine heißeMahlzeit.«

»Vielleicht. Vielleicht.« Fain rieb sich nachdenklich das

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Kinn. »Morgen, sagst du? Während dieser Zeit... Du wirstdein Versprechen doch nicht vergessen? Du erzählst ihrbestimmt nicht...?«

»Ich werde dafür sorgen, daß sie Euch nichts tut«,versprach Rand und fragte sich insgeheim, wie er wohleine Aes Sedai aufhalten sollte, was auch immer sievorhatte.

»Sie wird mir nichts tun«, sagte Fain. »Nein, das wirdsie nicht. Ich lasse es nicht zu.« Wie der Blitz schnellte eran Rand vorbei und verschwand in der Menge.

»Meister Fain!« rief Rand. »Wartet!«Er rannte gerade rechtzeitig aus der Sackgasse heraus,

um einen zerfledderten Mantel um die nächste Eckeherum verschwinden zu sehen. Er rief nochmals nach Fainund rannte hinterher. Als er um die Ecke flitzte, konnte ergerade noch den Rücken eines Mannes sehen, bevor erauch schon mit ihm zusammenstieß. Sie beide landetenaufeinander im Matsch.

»Kannst du nicht aufpassen, wohin du rennst?« kameine Stimme unter ihm hervor, und Rand rappelte sichüberrascht hoch.

»Mat?«Mat setzte sich mit vorwurfsvollem Blick auf und

streifte mit den Händen den Matsch von seinem Umhang.»Du scheinst dich wirklich in einen Stadtmenschen zuverwandeln. Den ganzen Morgen schlafen und dann Leuteüber den Haufen rennen.« Er stand auf, betrachtete seineverschmierten Hände, fluchte leise und wischte sie sich amUmhang ab. »Paß mal auf! Du wirst nie erraten, wen ichgerade eben sah.«

»Padan Fain«, sagte Rand.»Padan Fa... Woher weißt du das?«»Ich habe mit ihm gesprochen, aber er rannte weg.«

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»Also haben die Tro...« Mat hielt inne und sah sichmißtrauisch um, doch die Menge marschierte vorbei, ohneihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Randwar froh, daß Mat ein wenig vorsichtiger geworden war.»Also haben sie ihn nicht erwischt. Ich frage mich, warumer Emondsfeld so heimlich verlassen hat. Möglich, daß erweglief und nicht mehr innehielt, bis er hier ankam. Aberwarum ist er jetzt wieder weggelaufen?«

Rand schüttelte den Kopf und verwünschte dieBewegung gleich wieder. Es war ein Gefühl, als werdeihm der Kopf gleich abfallen. »Ich weiß auch nicht...außer er hat Angst vor M... vor Frau Alys.« Es war nichtleicht, die Zunge immer im Zaum zu halten. »Sie sollnicht erfahren, daß er hier ist. Ich mußte ihmversprechen, daß ich es ihr nicht erzähle.«

»Also, dieses Geheimnis werde ich auch wahren«, sagteMat. »Ich wünschte, sie wüßte auch nicht, wo ich bin.«

»Mat?« Die Leute strömten immer noch vorbei, ohnesie zu beachten, aber Rand senkte trotzdem die Stimmeund beugte sich näher zu Mat hinüber. »Mat, hattest duletzte Nacht einen Alptraum? Von einem Mann, der eineRatte tötete?«

Mat sah ihn mit großen Augen an. »Du auch?« fragte erschließlich. »Und Perrin auch, schätze ich. Ich hätte ihnheute morgen beinahe gefragt, aber... Er muß es auchgeträumt haben. Blut und Asche! Jetzt bringt uns jemanddazu, scheußliche Dinge zu träumen. Rand, ich wünschte,niemand wüßte, wo ich bin.«

»Heute morgen lagen überall in der Schenke tote Rattenherum.« Er fühlte die Angst nicht in solchem Maß in sichaufsteigen, wie er sie vorher beim Erzählen noch gefühlthätte. Er fühlte überhaupt nicht viel. »Ihr Rückgrat wargebrochen.« Die eigene Stimme hallte ihm in den Ohren

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wider. Falls er krank wurde, mußte er zu Moiraine gehen.Er war überrascht, daß ihn der Gedanke, die Eine Machtwerde bei ihm angewandt, nicht weiter störte. Mat holtetief Luft und blickte sich um, als überlege er, wohin ergehen könne. »Was geschieht mit uns, Rand? Was?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde Thom um Rat fragen. Obich... jemandem davon erzählen soll?«

»Nein! Nicht ihr. Vielleicht ihm, aber ihr nicht.«Die Schärfe in Mats Reaktion überraschte Rand. »Dann

hast du ihm geglaubt?« Er mußte gar nicht erklären, wener mit ›ihm‹ meinte; die Grimasse auf Mats Gesichtverriet ihm, daß er verstand.

»Nein«, sagte Mat langsam. »Es sind allesMöglichkeiten... Wenn wir es ihr sagen und er hatgelogen, dann geschieht vielleicht gar nichts. Vielleicht.Aber vielleicht ist die Tatsache, daß er in unserenTräumen war, genug, um... Ich weiß nicht.« Er schwiegund schluckte. »Wenn wir ihr nichts erzählen, haben wirvielleicht weitere Träume. Ratten oder nicht, Träume sindbesser als... Erinnerst du dich an die Fähre? Ich sage, wirhalten den Mund.«

»In Ordnung.« Rand erinnerte sich an die Fähre undauch an Moiraines Drohung, aber alles schien bereits soweit zurückzuliegen. »In Ordnung.«

»Perrin wird nichts verraten, oder?« fuhr Mat fort. E rstellte sich auf die Zehenspitzen. »Wir müssen zu ihmzurück. Wenn er es ihr erzählt, dann kommt es heraus,daß wir alle diese Träume hatten. Du kannst daraufwetten. Komm!« Er marschierte strammen Schrittesdurch die Menge. Rand stand da und blickte ihm nach, bisMat zurückkam und ihn packte. Bei der Berührung durchseinen Arm zwinkerte er und folgte dann dem Freund.

»Was ist mit dir los?« fragte Mat. »Schläfst du schon

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wieder ein?«»Ich denke, ich bin erkältet«, sagte Rand. Sein Kopf

war so angespannt wie ein Trommelfell und fast so leerwie eine Trommel.

»Du kannst etwas Hühnersuppe essen, wenn wir wiederin der Schenke sind«, sagte Mat. Er schwatzte andauerndweiter, während sie sich durch die vollen Straßendrängten. Rand strengte sich an, ihm zuzuhören und sogarvon Zeit zu Zeit etwas einzuwerfen, aber es strengte ihnan. Er war nicht müde; er wollte nicht schlafen. Er fühltesich nur so, als ob er dahintriebe. Nach einer Weilebemerkte er, daß er Mat von Min erzählte. »Ein Dolchmit einem Rubin, eh?« fragte Mat. »Das gefällt mir. Aberich weiß nichts von dem Auge. Bist du sicher, daß sie esnicht erfunden hat? Mir scheint, wenn sie wirklich eineWahrsagerin ist, müßte sie eigentlich wissen, was das allesbedeuten soll.«

»Sie sagte nicht, daß sie Wahrsagerin sei«, sagte Rand.»Ich glaube, sie sieht nur Dinge. Denk daran, Moirainesprach mit ihr, als wir badeten. Und sie weiß, werMoiraine ist.«

Mat sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich dachte, wir solltendiesen Namen nicht benutzen.«

»Nein«, murmelte Rand. Er rieb sich mit beidenHänden den Kopf. Es war so schwer, sich auf irgend etwaszu konzentrieren.

»Ich glaube, du bist wirklich krank«, sagte Mat mithochgezogenen Augenbrauen. Plötzlich hielt er Rand amMantelärmel fest. »Schau mal die an!«

Drei Männer mit Brustpanzer und konisch zulaufendenStahlkappen, die so poliert waren, daß sie wie Silberglänzten, gingen die Straße hinunter auf Rand und Mat zu.Sogar die Kettenringe an ihren Armen glänzten. Ihre

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langen Umhänge, jungfräulich weiß und mit einemaufgestickten goldenen Sonnenaufgang auf der linkenBrust, endeten gerade eben über dem Matsch und denPfützen der Straße. Ihre Hände ruhten auf den Griffenihrer Schwerter, und sie blickten drein, als sähen sie nurDinge, die sich unter einem fauligen Baumstammhervorringelten. Niemand sah sie an. Niemand schien sieauch nur zu bemerken. Trotzdem mußten sich die dreiihren Weg durch die Menge nicht bahnen; sie teilte sichwie zufällig, wich auf beiden Seiten aus und ließ sie so ineinem leeren Raum einherschreiten, der sich mit ihnenweiterbewegte. »Glaubst du, sie gehören zu den Kinderndes Lichts?« fragte Mat mit lauter Stimme. Ein Passantsah Mat böse an und beschleunigte seine Schritte.

Rand nickte. Kinder des Lichts. Weißmäntel. Männer,die Aes Sedai haßten. Männer, die anderen Leutenbefahlen, wie sie zu leben hatten, und allen denenSchwierigkeiten bereiteten, die sich zu gehorchenweigerten. Falls man niedergebrannte Bauernhöfe undnoch Schlimmeres unter ›Schwierigkeiten‹ einordnenwollte. Ich sollte Angst haben, dachte er. Oder neugierigsein. Jedenfalls irgendeine Reaktion zeigen. Statt dessenstarrte er sie nur passiv an.

»Für mich sehen sie nicht so toll aus«, meinte Mat.»Ziemlich von sich eingenommen, nicht wahr?«

»Sie spielen keine Rolle«, sagte Rand. »Die Schenke.Wir müssen mit Perrin sprechen.«

»Wie Eward Congar. Der hat auch immer seine Nase inder Luft.« Plötzlich grinste Mat mit glitzernden Augen.»Erinnerst du dich daran, wie er von der Wagenbrückefiel und klitschnaß nach Hause laufen mußte? Das hat ihnfür einen Monat vom hohen Roß geholt.«

»Was hat das mit Perrin zu tun?«

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»Siehst du das?« Mat deutete auf einen Karren, der ineiner Einfahrt ein Stück von den Kindern entfernt stand.Eine einzige Strebe hielt ein Dutzend gestapelter Fässerauf der Ladefläche des Karrens. »Paß auf!« Lachendverschwand er im Laden eines Messerschmieds zu ihrerLinken.

Rand sah ihm nach und wußte, daß Rand etwas anstellenwürde. Dieser Blick in Mats Augen verhieß immer wiedereinen seiner Streiche. Aber seltsamerweise freute er sichdarauf, was Mat wieder anstellen würde. Irgend etwassagte ihm, daß dieses Gefühl falsch war, ja sogargefährlich, aber trotzdem lächelte er erwartungsvoll.Nach einer Minute erschien Mat über ihm. Er beugte sichaus einem Giebelfenster im Ziegeldach des Ladens. In denHänden hielt er seine Schleuder. Sie begann sich bereits zudrehen. Rands Augen wanderten zu dem Karren zurück.Beinahe im gleichen Moment hörte er einen scharfenKnall und die Strebe, die die Fässer hielt, zerbrach, just indem Moment, als die Weißmäntel sich daneben befanden.Menschen sprangen aus dem Weg, als die Fässer mithohlem Poltern herunterrollten und auf der Straßeaufprallten. Matsch und schmutziges Wasser spritzten nachallen Seiten. Die drei Männer sprangen nicht wenigerschnell als die anderen. Die Überlegenheit in ihrem Blickverwandelte sich in Bestürzung. Ein paar Passanten fielenhin. Es platschte wieder. Doch die drei bewegten sichgeschickt und mieden mühelos den Aufprall der Fässer.Allerdings konnten sie dem herumfliegenden Schmutznicht ausweichen, und so wurden ihre weißen Umhängebespritzt.

Ein bärtiger Mann in einer langen Schürze eilte aus derEinfahrt, schwenkte die Arme und schrie zornig, doch einBlick auf die drei, die vergebens versuchten, den Schmutz

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von ihren Umhängen abzustreifen, und er verschwandschneller wieder in seiner Einfahrt, als erherausgekommen war. Rand sah zu dem Dach des Ladenshinauf; Mat war weg. Es war ein leichter Schuß für einenJungen der Zwei Flüsse gewesen, aber die Wirkungübertraf fast noch die Absicht. Er konnte nicht anders – ermußte lachen. Der Humor schien in Wolle gehüllt, aberdie Szene wirkte trotzdem noch lustig. Als er sich wiederder Straße zuwandte, sahen ihn die drei Weißmäntel an.»Du findest irgend etwas lustig, wie?« Der Sprecher standein wenig vor den anderen. Er wirkte hochmütig, und inseinen Augen stand geschrieben, daß er etwas sehrWichtiges wußte, er allein und niemand anders.

Rands Lachen erstarb. Er und die Weißmäntel standenallein zwischen Matsch und Fässern. Die Menge, die sichvorher noch um sie gedrängt hatte, hatte offenbar dieStraße hinauf oder hinunter Wichtiges zu tun.

»Schweigt deine Zunge aus Angst vor dem Licht?« DerZorn machte das schmale Gesicht des Weißmantels nochschmaler und härter, als es von Haus aus war. Er blickteverächtlich auf den Schwertknauf, der unter RandsUmhang sichtbar war. »Vielleicht bist du dafürverantwortlich, wie?« Im Unterschied zu den anderen truger unter dem Sonnenzeichen noch einen goldenen Knoten.

Rand wollte sein Schwert bedecken, aber statt dessenschob er seinen Umhang nach hinten zurück. ImHinterkopf fragte er sich verzweifelt, was er da tat, aberes war nur ein entfernter Gedanke. »Unfälle geschehennun mal«, sagte er. »Auch bei den Kindern des Lichts.«

Der Mann mit dem schmalen Gesicht hob eineAugenbraue. »Bist du so gefährlich, Jüngling?« Er warnicht viel älter als Rand.

»Das Reiherzeichen, Lord Bornhald«, sagte einer der

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anderen warnend.Der schmalgesichtige Mann sah noch einmal Rands

Schwertknauf an – der bronzene Reiher war klar zu sehen–, und seine Augen weiteten sich für einen Moment. Dannerhob er den Blick zu Rands Gesicht und schniefte vollerVerachtung. »Er ist zu jung. Du bist nicht von hier, wie?«fragte er Rand kalt. »Woher kommst du?«

»Ich bin gerade in Baerlon angekommen.« Ein Schauerrann über Rands Arme und Beine. Er fühlte sich erhitzt,beinahe sommerlich warm. »Ihr kennt wohl keine guteSchenke hier, oder?«

»Du weichst meinen Fragen aus«, fauchte Bornhald.»Was hast du Böses in dir, daß du mir nicht antwortest?«Seine Begleiter traten an seine Seite, die Gesichter hartund ausdruckslos. Trotz der Schmutzflecken auf ihrenUmhängen war jetzt nichts mehr Lustiges an ihnen.

Ein Kribbeln erfüllte Rand; die Hitze war zu einemFieber geworden. Er wollte lachen; das war so ein schönesGefühl. Eine dünne Stimme in seinem Hinterkopf rief ihmzu, daß etwas nicht stimme, aber er konnte nur darandenken, wie energieerfüllt er sich fühlte. Er platztebeinahe vor Energie. Lächelnd verlagerte er sein Gewichtauf die Fersen und wartete darauf, was wohl geschehenwerde. Ganz undeutlich und entfernt fragte er sich, was eswohl sein werde.

Das Gesicht des Anführers verfinsterte sich. Einer deranderen zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide undsagte mit zornbebender Stimme: »Wenn die Kinder desLichts dich etwas fragen, du grauäugiger Bauerntölpel,dann erwarten sie Antworten, oder...« Er hielt inne, alsder schmalgesichtige Mann ihm einen Arm über die Brustlegte. Bornhald bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung,er solle die Straße hinaufblicken.

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Die Stadtwache war eingetroffen, ein Dutzend Männermit runden Stahlkappen und metallbeschlagenenLederwämsern. Sie trugen ihre Schlagstöcke, als wüßtensie damit umzugehen. Sie standen da und beobachtetenschweigend die Szene aus etwa zehn Schritten Entfernung.»Diese Stadt hat das Licht vergessen«, grollte der Mannmit dem halbgezogenen Schwert. Er erhob die Stimmeund rief der Wache zu: »Baerlon steht im Schatten desDunklen Königs!« Auf eine Geste Bornhalds hin rammteer sein Schwert wieder in die Scheide.

Bornhald wandte seine Aufmerksamkeit wieder Randzu. Das Licht der Erkenntnis brannte in seinen Augen.»Schattenfreunde entkommen uns nicht, Jüngling, nichteinmal in einer Stadt, die im Schatten steht. Wir treffenuns wieder. Da kannst du sicher sein!«

Er drehte sich auf der Stelle um und schritt weiter,seine beiden Begleiter dicht hinter ihm, als hätte Rand zuexistieren aufgehört. Zumindest für diesen Augenblick.Als sie den dicht bevölkerten Teil der Straße erreichten,öffnete sich der gleiche scheinbar zufällige Freiraum wiezuvor, um sie durchzulassen. Die Wachen zögerten undsahen Rand an. Dann schulterten sie ihre Schlagstöcke undfolgten den drei Weißgekleideten. Sie mußten sich durchdie Menge schieben und riefen deshalb: »Platz für dieWache!« Nur wenige machten ihnen murrend Platz.

Rand balancierte immer noch auf den Fersen undwartete. Das Prickeln war so stark, daß er beinahezitterte; er fühlte sich so, als verbrenne er innerlich.

Mat trat aus dem Laden und starrte ihn an. »Du bistnicht krank«, sagte er schließlich. »Du bist verrückt!«

Rand atmete tief ein, und mit einem Schlag war allesvorbei wie eine geplatzte Seifenblase. Er taumelte, als ihmbewußt wurde, was er getan hatte. Er leckte sich die

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Lippen und bemühte sich, Mats Blick standzuhalten. »Ichdenke, wir kehren jetzt besser zur Schenke zurück«, sagteer unsicher.

»Ja«, sagte Mat. »Ja, ich glaube auch, das ist das beste.«Die Straße hatte sich langsam wieder gefüllt, und mehr

als ein Passant sah die beiden Jungen an und murmelteeinem Begleiter etwas zu. Rand war sicher, daß sich dieGeschichte wie ein Lauffeuer ausbreiten würde. EinVerrückter hatte versucht, sich mit drei Kindern desLichts herumzustreiten. Das war ein guter Gesprächsstoff.Vielleicht treiben die Träume mich zum Wahnsinn.

Die beiden verliefen sich mehrmals in denunregelmäßig angelegten Straßen, doch nach einer Weileschlossen sie sich Thom Merrilin an, der allein wie eineganze Prozession wirkte, als er so durch die Mengestolzierte. Der Gaukler sagte, er sei hier, um sich etwasdie Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen, aberimmer wenn jemand seinen vielfarbigen Umhang näherbetrachtete, verkündete er mit hallender Stimme: »Ichwerde nur heute abend im ›Hirsch und Löwen‹ auftreten.«

Es war Mat, der ziemlich wirr von dem Traum vonihrem Problem zu erzählen begann und, ob sie Moirainedavon etwas sagen sollten oder nicht, aber Rand griff dannund wann ein, denn es gab Unterschiede in ihrenErinnerungen. Vielleicht war ja auch jeder Traum einbißchen anders, dachte er. Der Hauptteil der Träume warallerdings jeweils der gleiche.

Sie waren mit dem Erzählen noch nicht weitgekommen, als Thom ihnen endlich die volleAufmerksamkeit widmete. Als Rand Ba'alzamonerwähnte, packte der Gaukler beide Jungen an denSchultern und befahl ihnen, den Mund zu halten, erhobsich auf Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge

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blicken zu können, und führte sie dann aus dem Gewühl ineine Sackgasse, die bis auf ein paar Kisten und einenabgemagerten hellbraunen Hund, der in einer Ecke vorder Kälte Schutz suchte, leer war.

Thom blickte in die Menge hinaus und suchte nachLeuten, die möglicherweise stehenblieben, um sie zubelauschen, bevor er sich wieder Rand und Mat zuwandte.Der Blick aus seinen blauen Augen bohrte sich in ihrenBlick, zwischendurch aber wanderte er in RichtungStraßeneinmündung. »Sagt niemals mehr diesen Namen,wenn Fremde zuhören können.« Seine Stimme war leise,aber sehr eindringlich. »Nicht einmal dort, wo einFremder vielleicht zuhören könnte. Es ist ein sehrgefährlicher Name, sogar dann, wenn sich keine Kinderdes Lichts auf den Straßen befinden.«

Mat schnaubte. »Ich könnte dir etwas über die Kinderdes Lichts erzählen«, sagte er mit einem sarkastischenSeitenblick auf Rand. Thom überhörte die Bemerkung.»Wenn nur einer von euch diesen Traum gehabt hätte...«Er zupfte zornig an seinem Schnurrbart. »Sagt mir alles,woran ihr euch erinnern könnt. Jede Einzelheit.«Während er zuhörte, blieb er stets wachsam undbeobachtete die Straße. »... er nannte die Namen vonMännern, die angeblich benutzt wurden«, sagte Randschließlich. Er war sicher, alles andere berichtet zu haben.»Guaire Amalasan. Raolin Dunkelbann.«

»Davian«, fügte Mat hinzu, bevor Rand weitersprechenkonnte. »Und Yurian Steinbogen.«

»Und Logain«, beendete Rand die Aufzählung.»Gefährliche Namen«, sagte Thom leise. Seine Augen

schienen sie noch eindringlicher als zuvor zudurchbohren. »Fast genauso gefährlich wie jener andere,so oder so. Alle sind tot bis auf Logain. Einige davon

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schon lange. Raolin Dunkelbann seit beinahe zweitausendJahren. Aber immer noch gefährlich. Am besten sprechtihr die Namen nicht laut aus, selbst wenn ihr allein seid.Die meisten Leute können nichts damit anfangen, aberwenn der Falsche zuhört...«

»Aber wer waren sie?« fragte Rand.»Männer«, murmelte Thom, »Männer, die an den

Säulen des Himmels rüttelten und die Grundmauern derWelt erschütterten.« Er schüttelte den Kopf. »Es spieltkeine Rolle. Vergeßt sie. Sie sind zu Staub geworden.«

»Haben die... wurden sie benutzt, wie er behauptete?«fragte Mat. »Und getötet?«

»Man könnte sagen, daß der Weiße Turm sie getötethat. Man könnte das durchaus sagen.« Thoms Mundverzog sich einen Augenblick lang, und dann schüttelte ernochmals den Kopf. »Aber benutzt...? Nein, das kann ichnicht behaupten. Das Licht weiß, wie viele Intrigen derAmyrlin-Sitz im Moment wieder schmiedet, aber dieseSache gehörte nicht dazu, soweit ich das sagen kann.«

Mat lief ein Schauer den Rücken hinunter. »Er hatsoviel behauptet. Verrückte Sachen. All das von LewsTherin Brudermörder und Artur Falkenflügel. Und vomAuge der Welt. Was, beim Licht, soll das denn sein?«

»Eine Legende«, sagte der Gaukler langsam.»Vielleicht. Als Legende genauso berühmt wie die vomHorn von Valere, zumindest in den Grenzlanden. Dortdroben gehen junge Männer auf die Suche nach dem Augeder Welt, so wie in Illian die jungen Männer das Hornsuchen. Vielleicht ist es eine Legende.«

»Was sollen wir tun, Thom?« fragte Rand. »Es ihrerzählen? Ich möchte keine weiteren Träume dieser Arterleben. Vielleicht könnte sie etwas tun?«

»Vielleicht würde uns nicht gefallen, was sie tut«,

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grollte Mat.Thom betrachtete sie, überlegte und strich sich dabei

mit einem Finger über den Schnurrbart. »Ich sage, haltetFrieden«, sagte er schließlich. »Erzählt niemandem davon,jedenfalls im Augenblick. Ihr könnt es euch immer nochanders überlegen, wenn es nötig ist, aber wenn ihr eseinmal erzählt habt, dann ist es draußen, und Ihr seidmehr als zuvor an sie... gebunden.« Plötzlich richtete ersich auf. Seine gebückte Haltung verschwand fastvollständig. »Der andere Junge! Ihr sagt, er hatte dengleichen Traum? Ist er vernünftig genug, den Mund zuhalten?«

»Ich denke schon«, sagte Rand zur gleichen Zeit, alsMat heraussprudelte: »Wir wollten zur Schenkezurückgehen und ihn warnen.«

»Ich hoffe beim Licht, daß es nicht zu spät ist!« Mitwehendem Umhang – die Flicken flatterten im Wind –schritt Thom aus der Gasse. Ohne sich aufzuhalten blickteer über die Schulter auf sie zurück. »Also, was ist? Sindeure Füße am Boden festgefroren?«

Rand und Mat eilten ihm hinterher, aber er wartetenicht darauf, daß sie ihn einholten. Diesmal blieb er nichtstehen, wenn Leute seinen Umhang anschauten oder ihnals Gaukler ansprachen. Er bahnte sich einen Weg durchdie überfüllten Straßen, als seien sie leer. Rand und Matmußten beinahe rennen, um ihm folgen zu können. In vielkürzerer Zeit, als Rand erwartet hatte, erreichten sie den›Hirsch und Löwen‹.

Als sie gerade hineingehen wollten, kam Perrinherausgerannt und versuchte beim Rennen seinen Umhangüberzuziehen. Er wäre beinahe gestürzt, so mußte er sichbremsen, um nicht in sie hineinzurennen. »Ich wollte nacheuch suchen«, brachte er schnaufend heraus, nachdem er

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sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.Rand ergriff seinen Arm. »Hast du irgend jemandem

von dem Traum erzählt?«»Sag bitte, daß du es nicht getan hast!« verlangte Mat.»Es ist sehr wichtig«, sagte Thom.Perrin sah sie verwirrt an. »Nein, habe ich nicht. Ich

bin bis vor einer Stunde nicht mal aus dem Bettgekommen.« Seine Schultern sackten nach unten. »Ichhabe schon Kopfschmerzen von der Anstrengungbekommen, nicht daran zu denken, geschweige denndarüber zu reden. Warum habt ihr es ihm erzählt?« E rnickte in Richtung Gaukler.

»Wir mußten einfach mit jemand darüber sprechen,sonst hätten wir durchgedreht«, sagte Rand.

»Ich erkläre es euch später«, fügte Thom mit einembedeutungsvollen Blick auf die Leute hinzu, die in den›Hirsch und Löwen‹ hineingingen oder herauskamen.

»In Ordnung«, antwortete Perrin langsam. Er wirkteimmer noch verwirrt. Plötzlich schlug er sich vor dieStirn. »Jetzt hätte ich beinahe vergessen, weswegen icheuch suchte. Ich vergäße es ja gern, aber... Nynaeve istdrinnen.«

»Blut und Asche!« jaulte Mat auf. »Wie ist siehierhergekommen? Moiraine... Die Fähre...«

Perrin schnaubte. »Glaubst du, eine Kleinigkeit wieeine gesunkene Fähre könnte sie aufhalten? Sie hatHochturm aus dem Bett geworfen – ich weiß nicht, wie erüber den Fluß zurückgekommen ist, aber sie sagte, erhabe sich in seinem Schlafzimmer versteckt und wolltenicht einmal mehr in die Nähe des Flusses gehen –jedenfalls hat sie ihn so eingeschüchtert, daß er ein Bootfür sie und ihr Pferd auftrieb und sie hinüberruderte.Persönlich. Sie hat ihm nur soviel Zeit gelassen, daß er

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einen seiner Helfer holen konnte, um ein zweites PaarRuder zu bedienen.«

»Licht!« hauchte Mat.»Was tut sie da drinnen?« wollte Rand wissen. Mat und

Perrin warfen ihm einmütig einen spöttischen Blick zu.»Sie ist uns gefolgt«, sagte Perrin. »Sie ist jetzt bei... beiFrau Alys und da drinnen ist es kalt genug, daß esschneien könnte.«

»Könnten wir nicht eine Weile woandershin gehen?«fragte Mat. »Mein Pa sagt immer, nur ein Narr stecktseine Hand in ein Hornissennest, wenn er es nichtunbedingt muß.«

Rand warf ein: »Sie kann uns nicht zwingen,zurückzukehren. Die Winternacht sollte ihr zu dieserEinsicht verholfen haben. Wenn nicht, müssen wir es ihrbeibringen.«

Mats Augenbrauen hoben sich bei jedem seiner Worteund als Rand fertig war, stieß er einen leisen Pfiff aus.»Hast du jemals versucht, Nynaeve etwas beizubringen,was sie nicht lernen wollte? Ich hab's probiert. Ich meine,wir sollten bis zum Abend wegbleiben und uns dannhineinschleichen.«

»Nach allem, was ich an dieser jungen Frau beobachtethabe«, sagte Thom, »glaube ich nicht, daß sie aufhörenwird, bevor sie nicht alles gesagt hat. Wenn ihr nichtgestattet wird, schnell alles loszuwerden, dann macht sievielleicht so lange weiter, bis sie eine Aufmerksamkeiterregt, an der keiner von uns Interesse hat.«

Bei der Vorstellung fuhren alle zusammen. Sie sahensich an, atmeten tief durch und marschierten hinein, alserwarteten sie, Trollocs zu sehen.

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KAPITEL 16

Die Seherin

Perrin führte sie in die Tiefe der Schenke hinein. Randkonzentrierte sich so sehr darauf, was er Nynaeve sagenwollte, daß er Min nicht sah, bis sie ihn am Arm packteund zur Seite zog. Die anderen gingen noch ein paarSchritte weiter den Flur entlang, bevor sie bemerkten, daßer stehengeblieben war. Dann blieben auch sie stehen,einerseits ungeduldig, andererseits zögernd.

»Dafür haben wir keine Zeit, Junge«, sagte Thombarsch. Min sah den weißhaarigen Gaukler scharf an.»Geh und vollführe irgendwelche Kunststückchen«, fuhrsie ihn an und zog Rand noch weiter von den anderenweg. »Ich habe wirklich keine Zeit«, sagte Rand zu ihr.»Und ganz bestimmt nicht für närrisches Geschwätz überEntkommen und so was.« Er versuchte, seinen Armloszureißen, aber jedesmal, wenn er ihn befreit hatte,packte sie ihn erneut.

»Und ich habe auch keine Zeit für irgendwelchenBlödsinn. Halte also bitte den Mund!«

Sie betrachtete kurz die anderen, dann näherte sie sichihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Vor kurzem isteine Frau angekommen – kleiner als ich, jung, mitdunklen Augen und sie trägt das dunkle Haar in einemZopf, der ihr bis an die Taille reicht. Sie ist ein Teil desGanzen, genauso wie der Rest von euch.«

Rand starrte sie eine Minute lang an. Nynaeve? Waskann sie damit zu tun haben? Licht, wieso bin icheigentlich darin verwickelt? »Das ist... unmöglich.«

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»Du kennst sie?« flüsterte Min.»Ja, und sie kann nicht in... in was auch immer das alles

bedeutet... verwickelt sein.«»Die Funken, Rand. Sie hat Frau Alys getroffen, als sie

hereinkam, und es gab Funken, obwohl nur sie beidezusammenstanden. Gestern konnte ich keine Funkenwahrnehmen, wenn nicht wenigstens drei oder vier voneuch zusammenkamen, aber heute ist alles klarer undheftiger.« Sie sah Rands Freunde an, die ungeduldigwarteten, und sie schauderte, bevor sie sich wieder zu ihmumdrehte. »Es ist beinahe ein Wunder, daß die Schenkenicht Feuer fängt. Ihr seid alle in größerer Gefahr alsgestern. Seit sie ankam.«

Rand blickte zu seinen Freunden hinüber. Thom, dessenBrauen sich zu einem buschigen V verzogen hatten, beugtesich vor, offensichtlich bereit, etwas zu unternehmen,damit Rand schneller folgen konnte. »Sie wird nichtsunternehmen, was uns verletzen könnte«, sagte er zu Min.»Ich muß jetzt gehen.« Diesmal gelang es ihm, seinenArm zu befreien.

Er mißachtete ihr empörtes Quieken und begab sich zuden anderen. Sie gingen weiter den Korridor hinunter.Rand sah einmal zurück. Min schüttelte die Faust in seineRichtung und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was hatte sie zu sagen?« fragte Mat.»Nynaeve ist ein Teil davon«, sagte Rand ohne

nachzudenken. Dann sah er Mat scharf an und erwischteihn gerade noch mit bereits geöffnetem Mund. DieErleuchtung breitete sich langsam auf Mats Gesicht aus.»Teil wovon?« sagte Thom leise. »Weiß dieses Mädchenetwas?«

Während Rand noch überlegte, was er sagen sollte,sprach Mat bereits: »Natürlich gehört sie dazu«, sagte er

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ärgerlich. »Sie ist ein Teil des Pechs, das wir seit derWinternacht hatten. Vielleicht ist es für euch keine großeSache, die Seherin hier vorzufinden, aber ich sähe beinahenoch lieber die Weißmäntel hier als sie.«

»Sie sah, wie Nynaeve ankam«, sagte Rand. »Sah auch,daß sie sich mit Frau Alys unterhielt, und dachte, siekönne etwas mit uns zu tun haben.« Thom sah ihn von derSeite her an, und sein Schnauben brachte seineSchnurrbarthaare durcheinander, aber die anderenschienen Rands Erklärung zu akzeptieren. Er hatte nichtgern Geheimnisse vor seinen Freunden, aber MinsGeheimnis konnte für sie selbst genauso gefährlich werdenwie für ihre ganze Gruppe.

Perrin blieb plötzlich vor einer Tür stehen, und trotzseiner Größe schien er ängstlich zu zögern. Er atmete tiefein, sah seine Begleiter an, atmete noch einmal durch,öffnete dann langsam die Tür und ging hinein. Einer nachdem anderen folgte ihm. Rand war der letzte, und erschloß die Tür mit äußerstem Widerstreben hinter sich.

Es war der Raum, in dem sie am Abend zuvor gegessenhatten. Im Kamin prasselte ein Feuer. In der Mitte desTisches stand ein glänzendes Silbertablett mit einerSilberkanne und Bechern. Moiraine und Nynaeve saßen anden gegenüberliegenden Tischenden. Keine wandte denBlick von der anderen. Moiraines Hände ruhten auf demTisch, genauso bewegungslos wie ihr Gesicht. NynaevesZopf war über ihre Schulter nach vorn geschlungen, unddas Ende lag in ihrer Faust verborgen. Sie zupfte immerwieder ein wenig daran, so wie sie es zu tun pflegte, wennsie dem Gemeinderat noch sturer als üblicherweisegegenüberstand. Perrin hatte recht. Trotz des Feuers wardie Atmosphäre eisig kalt, und die Kälte ging von denbeiden Frauen am Tisch aus.

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Lan lehnte am Kaminsims, starrte in die Flammen undrieb seine Hände, um sie zu wärmen. Egwene lehnte mitdem Rücken an der Wand. Sie hatte ihren Umhang umund die Kapuze über den Kopf gezogen. Thom, Mat undPerrin blieben unsicher an der Tür stehen.

Rand fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.Doch er zuckte die Achseln und ging zum Tisch.Manchmal muß man den Wolf bei den Ohren packen,machte er sich selbst Mut. Allerdings erinnerte er sichauch an ein anderes Sprichwort: Wenn du einen Wolf anden Ohren hältst, ist es genauso schwer, loszulassen, wiesich festzuhalten. Er fühlte Moiraines Blick und den vonNynaeve, und sein Gesicht begann zu brennen, aber ernahm trotzdem genau zwischen den beiden Platz.

Eine Minute lang bewegte sich absolut nichts im Raum.Dann traten Egwene und Perrin und schließlich auch Matvor, gingen zögernd zum Tisch und setzten sich nebenRand in die Mitte. Egwene zog ihre Kapuze noch weitervor, genug, ihr Gesicht halb zu verbergen, und sie allevermieden es, irgend jemanden anzusehen.

»Also«, schnaubte Thom von seinem Standort nebender Tür her, »soviel wäre nun geschafft.«

»Da nun alle hier sind«, sagte Lan, verließ den Kaminund füllte einen der silbernen Becher mit Wein, »werdetIhr dies vielleicht endlich von mir annehmen.« Er botNynaeve den Becher an. Sie betrachtete ihn mißtrauisch.»Keine Angst«, sagte er geduldig. »Ihr habt gesehen, wieder Wirt den Wein brachte, und keiner von uns hatteGelegenheit, etwas hineinzutun. Er ist ganz rein.«

Der Mund der Seherin verzog sich bei dem Wort Angstzornig, doch sie nahm den Becher und murmelte:»Danke.«

»Ich möchte gern wissen«, sagte er, »wie Ihr uns

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gefunden habt.«»Ich auch.« Moiraine beugte sich gespannt vor.

»Vielleicht seid Ihr jetzt gewillt zu sprechen, nachdemEgwene und die Jungen zu Euch gebracht wurden?«

Nynaeve nippte an dem Wein, bevor sie der Aes Sedaiantwortete. »Ihr konntet nirgendwo anders als nachBaerlon hingehen. Um sicher zu gehen, folgte ich dannaber eurer Spur. Ihr seid ja ganz schön im Zickzackgeritten. Aber ich schätze, ihr hattet kein Interesse daran,anständigen Leuten über den Weg zu laufen.«

»Ihr... seid unserer Spur gefolgt?« sagte Lan, der zumersten Mal, seit Rand ihn kannte, wirklich überraschtwirkte. »Ich muß wohl leichtsinnig geworden sein.«

»Ihr habt nicht viele Spuren hinterlassen, aber ich kannmindestens ebensogut Spuren lesen wie jeder Mann in denZwei Flüssen, vielleicht mit Ausnahme von Tam al'Thor.«Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Bis mein Vater starb,nahm er mich immer mit auf die Jagd und lehrte mich,was er sonst den Söhnen beigebracht hätte, die er niehatte.« Sie sah Lan herausfordernd an, aber er nickte nurbeifällig.

»Wenn Ihr einer Spur folgen könnt, die ich zuverbergen versucht habe, dann hat er Euch gutunterrichtet. Nur wenige schaffen das, selbst in denGrenzlanden.«

Plötzlich verbarg Nynaeve das Gesicht in ihremBecher. Rands Augen weiteten sich. Sie errötete. Nynaevezeigte sich niemals auch nur im geringsten verwirrt.Zornig, ja, oftmals auch wütend, aber niemals aus derFassung gebracht. Doch nun waren ihre Wangen deutlichgerötet, und sie bemühte sich, das durch den Becher zuverdecken.

»Vielleicht«, sagte Moiraine ruhig, »werdet Ihr nun

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einige meiner Fragen beantworten. Ich habe Eure ehrlichgenug beantwortet.«

»Mit einem Haufen Gaukler-Märchen«, schoß Nynaevezurück. »Die einzige Tatsache, die ich feststellen kann, ist,daß vier junge Leute aus einem unerfindlichen Grund voneiner Aes Sedai entführt wurden.«

»Man hat Euch gesagt, daß das hier niemand weiß«,sagte Lan scharf. »Ihr müßt lernen, Eure Zunge zuhüten.«

»Warum sollte ich?« wollte Nynaeve wissen. »Warumsollte ich Euch helfen, Euch oder das, was Ihr seid, zuverbergen? Ich bin gekommen, um Egwene und dieJungen nach Emondsfeld zurückzubringen, und nicht, umEuch zu helfen, sie wegzulocken.«

Thom mischte sich mit Verachtung in der Stimme ein:»Wenn Ihr wollt, daß sie ihr Dorf wiedersehen – und Ihrselbst auch –, dann solltet Ihr vorsichtiger sein. Es gibt inBearlon solche, die sie« – er machte eine schnelleKopfbewegung auf Moiraine zu – »töten würden für das,was sie darstellt. Ihn auch!« Er zeigte auf Lan, und danntrat er plötzlich vor und stemmte die Fäuste auf den Tisch.Er ragte über Nynaeve auf, und sein langer Schnurrbartund die dichten Augenbrauen wirkten mit einemmalbedrohlich.

Ihre Augen weiteten sich und sie wollte sich schon vonihm wegdrehen, doch dann versteifte sie trotzig denRücken. Thom schien es gar nicht zu bemerken; er fuhrmit unheilverheißend sanfter Stimme fort: »Nur einGerücht, ein Flüstern in ein falsches Ohr, würde genügen,und sie würden diese Schenke wie ein Schwarm vorKriegerameisen überschwemmen. Ihr Haß ist so stark, ihrWunsch, jeden von der Sorte dieser beidengefangenzunehmen oder zu töten. Und das Mädchen? Die

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Jungen? Ihr? Ihr hängt alle mit ihnen zusammen.Jedenfalls wäre es genug für die Weißmäntel. Es würdeEuch nicht gefallen, wie sie ihre Fragen stellen, besonderswenn es irgendwie um den Weißen Turm geht. DieFolterknechte der Weißmäntel nehmen von vornherein an,daß Ihr schuldig seid, und für diese Art von Schuld gibt esnur ein Urteil. Sie haben kein Interesse daran, dieWahrheit herauszufinden; sie glauben, diese ohnehinbereits zu kennen. Alles, was sie mit ihren Brandeisen undZangen erreichen wollen, ist ein Geständnis. Also erinnertEuch besser daran, daß manche Geheimnisse zu gefährlichsind, sie laut auszusprechen, selbst wenn Ihr glaubt zuwissen, wer zuhört.« Er richtete sich auf und murmeltenoch: »Wie es scheint, muß ich das in letzter Zeit viel zuoft sagen.«

»Das war gut gesprochen, Gaukler«, sagte Lan. DerBehüter blickte wieder abwägend drein. »Ich binüberrascht, daß Ihr so besorgt seid.«

Thom zuckte die Achseln. »Es ist auch bekannt, daß ichmit Euch gekommen bin. Ich lege keinen Wert darauf,daß mir ein Folterknecht mit einem Brandeisen sagt, ichsolle meinen Sünden bereuen und im Licht wandeln.«

»Das«, warf Nynaeve mit beißender Stimme ein, »istnoch ein Grund mehr, warum sie morgen mit mirheimkehren sollten. Oder schon heute nachmittag. Je eherwir weg sind von Euch und auf dem Rückweg nachEmondsfeld, desto besser.«

»Das können wir nicht«, sagte Rand und war froh, daßseine Freunde alle zur gleichen Zeit protestierten.Nynaeves böser Blick mußte nun wenigstens allengleichermaßen gelten, und sie bekamen ihn auch promptzu spüren. Doch da er zuerst gesprochen hatte, schwiegenalle anderen und sahen ihn an. Selbst Moiraine lehnte sich

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auf ihrem Stuhl zurück und sah ihn über dieverschränkten Finger hinweg an. Es kostete ihn einigeMühe, der Seherin ins Auge zu blicken. »Wenn wir nachEmondsfeld zurückgehen, dann kommen auch die Trollocszurück. Sie... sie jagen uns. Ich weiß nicht, warum, aberes stimmt. Vielleicht werden wir in Tar Valonherausfinden, warum. Vielleicht finden wir auch heraus,wie wir das beenden können. Es ist der einzige Weg.«

Nynaeve hob verzweifelt die Hände. »Du hörst dichgenau wie Tam an. Er ließ sich in die Dorfversammlungtragen und versuchte, alle zu überzeugen. Zuvor hatte erdas schon beim Gemeinderat probiert. Das Licht weiß,wie eure... Frau Alys« – ihre Stimme schüttete eineWagenladung Verachtung über den Namen aus – »esgeschafft hat, ihn zu überzeugen. Normalerweise verfügter über gesunden Menschenverstand, mehr als die meistenanderen Männer. Jedenfalls besteht der Gemeinderat auchsonst aus einem Haufen alter Narren. Aber dafür warenselbst sie nicht närrisch genug, und die anderen auchnicht. Sie stimmten zu, daß man euch suchen müsse. Dannwollte Tam derjenige sein, der euch folgt, dabei konnte ersich noch nicht einmal auf den Beinen halten. EureFamilie muß aus lauter Narren bestehen.«

Mat räusperte sich und nuschelte dann: »Wie steht's mitmeinem Pa? Was hat er gesagt?«

»Er hat Angst, daß du deine Streiche an Ausländernversuchst und dafür eins über den Kopf kriegst. Er schiendavor mehr Angst zu haben, als vor... Frau Alys hier.Aber er war noch nie viel schlauer als du.«

Mat schien sich nicht sicher zu sein, wie er dasverstehen sollte oder was er antworten sollte oder obüberhaupt eine Antwort fällig war.

»Ich erwarte«, begann Perrin zögernd, »ich meine, ich

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denke, Meister Luhhan war auch nicht gerade glücklichüber meine Abreise.«

»Hast du erwartet, daß er sich freut?« Nynaeveschüttelte angewidert den Kopf und sah Egwene an. »Ichsollte mich eigentlich bei diesen drei nicht über solcheidiotischen Einfälle wundern, aber ich dachte, anderehätten etwas mehr Urteilsvermögen.«

Egwene lehnte sich zurück, damit sie von Perrinverdeckt wurde. »Ich habe eine Nachricht hinterlassen«,sagte sie schwach. Sie zupfte an ihrer Kapuze herum, alshabe sie Angst, ihr loses Haar könne sich zeigen. »Ichhabe alles erklärt.« Nynaeves Gesicht lief dunkel an.

Rand seufzte. Die Seherin war drauf und dran, einenihrer Wutanfälle zu bekommen und es sah nach einemganz hochkarätigen aus. Wenn sie sich in ihrem Zorn aufetwas versteifte – wenn sie zum Beispiel sagte, sie werdesie nach Emondsfeld zurückschicken, ganz gleich, wasirgend jemand behauptete –, dann wäre es fast unmöglich,sich dem zu entziehen. Er öffnete den Mund.

»Eine Nachricht!« begann Nynaeve, gerade alsMoiraine sagte: »Ihr und ich, wir müssen uns immer nochunterhalten, Seherin.«

Hätte Rand sich selbst noch am Sprechen hindernkönnen, dann wäre es in diesem Augenblick angebrachtgewesen, doch seine Worte strömten heraus, als habe erstatt seines Mundes ein Wehr geöffnet. »Alles schön undgut, aber es ändert nichts an der Lage. Wir können nichtzurück. Wir müssen weiter.« Das letztere sagte er etwaslangsamer, und seine Stimme sank zu einem Flüstern ab.Die Seherin und die Aes Sedai sahen ihn an. Es war dieArt von Blick, wie er ihn kannte, wenn er auf Frauen traf,die über Angelegenheiten des Frauenzirkels sprachen – dieArt, die ihm sagte, er solle seine Nase nicht in die

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Angelegenheiten anderer stecken. Er lehnte sich zurückund wünschte sich, er sei irgendwo anders.

»Seherin«, sagte Moiraine, »Ihr müßt mir glauben, daßsie bei mir sicherer sind als in den Zwei Flüssen.«

»Sicherer!« Nynaeve schüttelte verächtlich den Kopf.»Ihr seid diejenige, die sie hierher gebracht hat, wo sichdie Weißmäntel aufhalten. Dieselben Weißmäntel, wennder Gaukler die Wahrheit gesagt hat, die ihnenEuretwegen etwas antun könnten. Sagt mir, wieso sie hiersicherer sind, Aes Sedai!«

»Es gibt viele Gefahren, vor denen ich sie nichtbeschützen kann«, stimmte Moiraine zu, »genauso wie Ihrsie nicht vor dem Blitz beschützen könnt, wenn Ihr mitihnen zurückkehrt. Aber es ist nicht der Blitz, vor dem siesich fürchten müssen, und es sind auch nicht dieWeißmäntel. Es sind der Dunkle König und seineAbgesandten. Und vor denen kann ich sie beschützen. Ichkann die Wahre Quelle berühren, kann Saidar benützen,und das gibt mir so wie jeder Aes Sedai die Macht, die zuihrem Schutz notwendig ist.« Nynaeves Mund verzog sichzweifelnd. Auch Moiraines Lippen verzogen sich, abervor Ärger, und doch fuhr sie fort, wenn auch ihre Stimmeklang, als sei sie mit ihrer Geduld am Ende. »Selbst jenearmen Männer, die für kurze Zeit über die Machtverfügen, genießen diesen Schutz. Obwohl Saidin nichtnur beschützt, denn gelegentlich werden sie durch dasVerderben, das daran klebt, auch erst richtig verwundbar.Aber ich kann, wie jede andere Aes Sedai, meinen Schutzauf die ausdehnen, die sich in meiner Nähe befinden. KeinBlasser kann ihnen etwas antun, solange sie sich – so wiejetzt – dicht bei mir aufhalten. Kein Trolloc kann sich aufmehr als eine Viertelmeile nähern, ohne daß Lan esmerkt, denn er fühlt das Böse an ihnen. Könnt Ihr ihnen

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halb soviel bieten, wenn sie mit Euch nach Emondsfeldzurückkehren?«

»Ihr traut Euch reichlich viel zu«, sagte Nynaeve. »Wirhaben ein Sprichwort in den Zwei Flüssen, das heißt: ›Esist gleich, wer gewinnt, der Wolf oder der Bär – dasKaninchen ist immer der Verlierer.‹ Tragt Euren Streitirgendwo anders aus, und laßt die Leute aus Emondsfeldin Frieden.«

»Egwene«, sagte Moiraine nach einem Moment desSchweigens, »geh mit den anderen weg, und laß dieSeherin eine Weile mit mir allein.« Ihr Gesicht sagtenichts aus; Nynaeve machte sich am Tisch breit, als sei siebereit, einen Ringkampf zu beginnen.

Egwene sprang auf die Beine. Ihr Wunsch, sichwürdevoll zu bewegen, stand offenbar mit ihrem Wunschauf dem Kriegsfuß, eine Auseinandersetzung mit derSeherin wegen ihres offen getragenen Haares zuvermeiden. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten; durcheinen Blick die anderen um sich zu versammeln. Mat undPerrin schoben ihre Stühle hastig nach hinten, murmeltenirgendwelche Höflichkeitsfloskeln und bemühten sich,nicht gleich hinauszurennen. Selbst Lan ging auf einZeichen Moiraines zur Tür und zog Thom mit sich.

Rand folgte, und der Behüter schloß die Tür hinterihnen. Dann stand er auf der anderen Seite des FlursWache. Unter Lans argwöhnischen Blicken gingen dieanderen ein kleines Stück weiter den Korridor hinunter.Es durfte auch nicht die geringste Gelegenheit fürjemanden geben, sie zu belauschen. Als sie gerade weitgenug entfernt waren, daß es ihm paßte, lehnte sich derBehüter entspannt gegen die Wand. Auch ohne seinenfarbverändernden Umhang wirkte er so bewegungslos,daß er nur schwer zu bemerken war, außer man stand

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direkt vor ihm.Der Gaukler äußerte, daß er Besseres zu tun habe, und

verließ sie mit einem ernsten: »Erinnert Euch daran, wasich gesagt habe!« über seine Schulter hinweg. Keinanderer schien das Bedürfnis zu haben, sich wegzustehlen.

»Was hat er gemeint?« fragte Egwene abwesend. IhreAugen waren auf die Tür gerichtet, hinter der Moiraineund Nynaeve miteinander sprachen. Sie spielte an ihrenHaaren herum, als sei sie innerlich gespalten: Sollte sieweiterhin die Tatsache verbergen, daß sie die Haare offentrug oder die Kapuze einfach zurückschlagen?

»Er hat uns einige Ratschläge erteilt«, sagte Mat.Perrin sah ihn warnend an. »Er sagte, wir sollten den

Mund nicht aufmachen, bevor wir sicher seien, was wireigentlich sagen wollten.«

»Das klingt nach einem guten Ratschlag«, sagteEgwene, doch sie wirkte dabei ganz eindeutigdesinteressiert. Rand stand in Gedanken versunken da.Wie konnte denn Nynaeve Teil dieses Ganzen sein? Wiekonnte irgendeiner von ihnen überhaupt mit Trollocs undBlassen und einem in den Träumen erscheinendenBa'alzamon zu tun haben? Es war verrückt. Er fragtesich, ob Min Moiraine von Nynaeve berichtet hatte. Wassagen sie dort drinnen?

Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestandenhatte, als sich die Tür endlich öffnete. Nynaeve trat herausund erschrak, als sie Lan bemerkte. Der Behüter sagte ihrleise etwas, was sie ihren Kopf ärgerlich in den Nackenwerfen ließ, und dann schlüpfte er an ihr vorbei durch dieTür.

Sie wandte sich Rand zu, und nun wurde ihm erstbewußt, daß die anderen alle heimlich verschwundenwaren. Er wollte der Seherin nicht allein

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gegenüberstehen, doch jetzt, da sie ihn erblickt hatte, gabes kein Entrinnen mehr. Ein forschender Blick, dachte ererstaunt. Was haben sie nur gesprochen? Er richtete sichauf, als sie sich ihm näherte.

Sie zeigte auf Tams Schwert. »Das scheint heutzutagezu dir zu passen, obwohl es mir lieber wäre, das wärenicht der Fall. Du bist gewachsen, Rand.«

»In einer Woche?« Er lachte, doch es klang gezwungenund sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie nicht. »Hat siedich überzeugt?« fragte er. »Es ist wirklich die einzigeMöglichkeit.« Er unterbrach sich und dachte an MinsFunken. »Kommst du mit uns?«

Nynaeve machte große Augen. »Mit euch kommen?Warum sollte ich? Mavra Mallen ist von Devenrittherübergekommen, um mich zu vertreten, bis ichzurückkehre, aber sie wird zurückkehren wollen, sobaldsie nur kann. Ich hoffe immer noch, daß ich euch zumEinlenken bringe und ihr mit mir heimkommt.«

»Das können wir nicht.« Er glaubte, an der immernoch geöffneten Tür eine Bewegung zu sehen, aber siewaren allein im Flur.

»Das hast du mir schon einmal gesagt, und sie auch.«Nynaeve zog die Stirn in Falten. »Wenn sie nicht darinverwickelt wäre... Aes Sedai kann man nicht trauen,Rand.«

»Du hörst dich an, als ob du uns in Wirklichkeitglaubst«, sagte er bedächtig. »Was ist bei derDorfversammlung geschehen?«

Nynaeve blickte zur Tür zurück, bevor sie antwortete.Dort bewegte sich jetzt nichts. »Es war ein totalesDurcheinander, aber sie muß nicht unbedingt wissen, daßwir unsere eigenen Angelegenheiten nicht besser regelnkönnen. Und ich glaube nur eine Sache: Ihr seid alle in

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Gefahr, solange ihr euch bei ihr befindet.«»Es ist etwas geschehen«, beharrte er. »Warum willst

du, daß wir zurückkommen, wenn du glaubst, es bestündeeine Möglichkeit, daß wir doch recht haben? Und warumüberhaupt du? Man könnte dann genausogut denBürgermeister schicken wie die Seherin.«

»Du bist gewachsen.« Sie lächelte, und das ließ ihneinen Augenblick lang unruhig von einem Fuß auf denanderen treten. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, dahättest du nicht in Frage gestellt, wohin ich zu gehenbeschließe oder was ich tun will, gleich, worum es ging.Das ist gerade eine Woche her.«

Er räusperte sich und fragte stur weiter. »Es ergibtsonst keinen Sinn. Warum bist du wirklich hier?«

Sie sah so halb zu der leeren Türöffnung hinüber undnahm dann seinen Arm. »Laufen wir ein Stück weiter,während wir sprechen.« Er ließ sich von ihr wegführen,und als sie sich weit genug von der Tür entfernt hatten,um nicht mehr belauscht zu werden, begann sie wieder.»Wie ich schon sagte: Die Versammlung war ein einzigesDurcheinander. Alle waren sich einig, daß euch jemandnachgeschickt werden mußte, aber das Dorf war in zweiGruppen gespalten. Die einen wollten, daß ihr gerettetwerdet, obwohl es kräftigen Streit darüber gab, wie dasbewerkstelligt werden könne, wenn man bedenkt, daß ihrbei einer... bei einer von diesen seid.«

Er war froh, daß sie bei der Wahl ihrer Worte sehrvorsichtig war. »Die anderen glaubten Tam?« fragte er.

»Nicht unbedingt, aber sie dachten, ihr solltet euchnicht bei Fremden aufhalten, besonders nicht bei einer wieihr. Was auch immer – beinahe jeder Mann wollte bei derSuchaktion dabei sein. Tam und Bran al'Vere mit denWaagschalen seines Amtes um den Hals, und Haral

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Luhhan, bis Alsbet es fertigbrachte, daß er sich wiederhinsetzte. Sogar Cenn Buie! Das Licht bewahre mich vorMännern, die mit dem Haar auf ihrer Brust zu denkenversuchen! Obwohl ich nicht weiß, ob es überhaupt anderegibt.« Sie schniefte kräftig und blickte anklagend zu ihmauf. »Jedenfalls wurde mir klar, daß es noch einengeschlagenen Tag dauern würde, bis sie zu einerEntscheidung kämen, und irgendwie... irgendwie war ichsicher, daß wir nicht so lange warten durften. Also beriefich den Frauenzirkel ein und sagte ihnen, was geschehenmüsse. Ich kann nicht behaupten, daß es ihnen gefiel, abersie sahen ein: Ich hatte recht. Und deshalb bin ich hier.Die Männer aus Emondsfeld sind sture Wollköpfe. Siestreiten sich vermutlich immer noch darüber, wen sieschicken sollen, obwohl ich hinterließ, daß ich michdarum kümmern werde.«

Nynaeves Geschichte erklärte ihre Anwesenheit, abersie konnte ihn nicht beruhigen. Sie war immer nochentschlossen, mit ihnen zusammen nach Hause zu gehen.

»Was hat sie dir da drinnen gesagt?« fragte er.Moiraine hätte doch sicherlich jedes Argument benützt,aber sollte sie etwas vergessen haben, dann konnte er dasja nachholen.

»Praktisch das gleiche«, erwiderte Nynaeve. »Und siewollte mehr über euch Jungen wissen. Umherauszufinden, warum ihr... diese Art vonAufmerksamkeit erregt habt... sagte sie jedenfalls.« Sielegte eine Pause ein und beobachtete ihn aus denAugenwinkeln. »Sie versuchte, es zu verschleiern, abervor allem wollte sie herausfinden, ob einer von euchaußerhalb der Zwei Flüsse geboren wurde.«

Sein Gesichtshaut spannte sich plötzlich wie einTrommelfell. Er brachte es fertig, heiser zu lachen. »Sie

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hat aber eigenartige Ideen. Ich hoffe, du hast ihrversichert, daß wir alle in Emondsfeld geboren wurden.«

»Natürlich«, antwortete sie. Sie hatte nur einenHerzschlag lang gezögert, bevor sie sprach, so kurz, daßer es gar nicht bemerkt hätte, wenn er nicht daraufgewartet hätte.

Er versuchte krampfhaft, sich etwas einfallen zu lassen,was er sagen konnte, aber seine Zunge fühlte sich an wieein Stück Leder. Sie weiß es. Sie war schließlich dieSeherin, und von einer Seherin nahm man an, daß sie allesüber jeden wußte. Wenn sie davon weiß, dann war es keinFiebertraum. O Licht hilf mir, Vater!

»Ist alles in Ordnung?« fragte Nynaeve.»Er sagte... sagte, daß ich... nicht sein Sohn sei. Als er

im Delirium war... wegen des Fiebers. Er sagte, er habemich gefunden. Ich dachte, es sei nur...« Seine Kehlebegann zu brennen, und er mußte aufhören zu sprechen.

»O Rand!« Sie hielt inne und nahm sein Gesicht in ihrebeiden Hände. Sie mußte ihre Hände dazu nach obenstrecken. »Die Menschen sagen im Fieber die seltsamstenSachen. Verdrehte Sachen. Sachen, die nicht wahr undwirklich sind. Hör auf mich! Tam al'Thor istweggelaufen, um Abenteuer zu suchen, als er ein Jungewar und nicht älter als du. Ich kann mich gerade nochdaran erinnern, wie er zurück nach Emondsfeld kam; einerwachsener Mann mit einer rothaarigen ausländischenFrau und einem Baby in Windeln. Ich erinnere michdaran, daß Kari al'Thor dieses Kind mit so viel Liebe undFreude in den Armen hielt, wie ich es nur jemals bei einerMutter erlebt habe. Ihr Kind, Rand. Du. Nun reiß dichzusammen und höre auf mit solchen Verrücktheiten.«

»Natürlich«, sagte er. Ich wurde außerhalb der ZweiFlüsse geboren. »Natürlich.« Vielleicht hatte Tam einen

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Fiebertraum gehabt, und vielleicht hatte er nach einerSchlacht ein Baby gefunden. »Warum hast du es ihr nichtgesagt?«

»Das geht keinen Ausländer etwas an.«»Sind auch noch andere außerhalb geboren?« Sobald er

die Frage gestellt hatte, schüttelte er auch schon den Kopf.»Nein, antworte nicht. Es geht mich auch nichts an.« Aberes wäre gut, zu wissen, ob Moiraine an ihm ein besonderesInteresse hatte, das über das Interesse an ihnen als Gruppehinausging. Wäre das wirklich gut?

»Nein, es geht dich nichts an«, stimmte Nynaeve zu.»Es braucht auch nichts zu bedeuten. Es kann sein, daß sieeinfach blind nach einem Grund sucht, irgendeinemGrund, warum diese Wesen hinter dir her sind. Hintereuch allen.«

Rand brachte ein schwaches Grinsen fertig. »Dannglaubst du also schon, daß sie uns jagen.«

Nynaeve schüttelte ungerührt den Kopf. »Du hastziemlich gut gelernt, einem das Wort im Mund zuverdrehen, seit du sie kennengelernt hast.«

»Was wirst du tun?« fragte er.Sie betrachtete ihn. Er sah ihr standhaft in die Augen.

»Heute werde ich ein Bad nehmen. Was das andere angeht,werden wir ja sehen.«

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KAPITEL 17

Beobachter und Jäger

Nachdem die Seherin weg war, ging Rand in denSchankraum. Er brauchte den Klang von Lachen in denOhren, um zu vergessen, was Nynaeve gesagt hatte undwelche Schwierigkeiten sie ihnen damit bereiten konnte.

Der Raum war tatsächlich voll, aber niemand lachte,obwohl jeder Stuhl und jede Bank besetzt war und andereLeute an den Wänden standen. Thom trat gerade auf. E rstand auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand.Seine Gesten waren umfassend genug, um den ganzenRaum zu füllen. Es war wieder einmal Die Wilde Jagdnach dem Horn, aber natürlich beklagte sich niemanddarüber. Es gab so viel über jeden der Jäger zu erzählenund so viele Jäger waren auf der Suche nach dem Horn,daß die Geschichte jedesmal anders klang. Es hättesowieso eine Woche oder mehr gedauert, die ganzeGeschichte auf einmal zu erzählen. Der einzige Laut, derneben Stimme und Harfe des Gauklers erklang, war dasPrasseln der Feuer in den Kaminen.

»... Zu den acht Ecken der Welt reiten die Jäger, zu denacht Säulen des Himmels, wo der Wind der Zeit weht unddas Schicksal die Kleinen wie die Großen bei der Stirnpackt. Nun ist Rogosch von Talmour, Rogosch Adlerauge,berühmt am Hof des Hochkönigs, gefürchtet an denHängen des Shayol Ghul, der größte aller Jäger...« DieJäger waren immer gefürchtete Helden – allesamt.

Rand machte seine beiden Freunde aus und quetschtesich neben Perrin an das Ende einer Sitzbank.

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Küchengerüche, die durch den Raum zogen, erinnertenihn an seinen Hunger, doch sogar die Leute, die ihr Essenvor sich stehen hatten, beachteten es kaum. DieKellnerinnen, die eigentlich hätten bedienen sollen,standen verzaubert da, die Hände in die Schürzenverkrampft, und sahen den Gaukler an. Niemand schienetwas dagegen zu haben. Zuhören war besser als essen,ganz gleich, wie gut das Essen auch sein mochte.

›... seit dem Tag ihrer Geburt hat der Dunkle KönigBlaes als sein eigen betrachtet, aber nie wird er ihreZustimmung gewinnen. Blaes von Matuchin ist keinSchattenfreund! Stark wie eine Esche steht sie da, biegsamwie der Zweig einer Weide, schön wie eine Rose.Goldhaarige Blaes. Bereit, zu sterben, um nicht nachgebenzu müssen. Doch lauscht! Von den Türmen der Stadtklingt das Schmettern von Trompeten, ehern und kühn.Ihre Herolde verkünden die Ankunft eines Helden anihrem Hof. Trommelklang rollt, und Beckenschlägeerklingen! Rogosch Adlerauge kommt, um ihr zuhuldigen...‹

›Rogosch Adlerauges Handel‹ neigte sich dem Ende zu,aber Thom unterbrach die Erzählung nur, um seine Kehleaus einem Bierkrug zu befeuchten, und dann erklang›Lians Wehr‹. Dem folgte dann ›Der Fall von Aleth-Loriel‹ und ›Gaidal Cains Schwert‹ und ›Der letzte Rittvon Buad von Albhain‹. Als sich der Abend hinzog,wurden die Pausen länger, und als Thom schließlich dieHarfe weglegte und zur Flöte griff, wußte jeder, daß dieErzählung für diesen Abend beendet war. Zwei Männerbegleiteten Thom auf einer Trommel und einemHackbrett, aber sie saßen neben dem Tisch, während ernoch immer auf ihm stand.

Die drei jungen Männer aus Emondsfeld begannen bei

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den ersten Tönen von ›Der Wind, der die Weide beugt‹mitzuklatschen, und sie waren nicht die einzigen. Es warein besonders beliebtes Lied, sowohl in den Zwei Flüssen,wie auch in Baerlon, schien es. Hier und da fielenStimmen ein, und sie klangen nicht so falsch, daß man siehätte zum Schweigen bringen müssen.

»Meine Liebe ist fort, weggeweht,vom Wind, der die Weide beugt,und alles Land wird niedergedrücktvom Wind, der die Weide beugt.Doch will ich sie halten, fest und treu,

in meiner Erinnerung,ihre Kraft macht meine Seele stark,

ihre Liebe wärmt mein Herz.So steh ich, wo wir einst uns liebten,trotz des Winds, der die Weide beugt.«

Das zweite Lied war nicht so traurig. ›Nur einen EimerWasser‹ schien im Gegensatz dazu sogar noch fröhlicherals sonst üblich, und das hatte der Gaukler ja vielleichtauch bezweckt. Die Leute beeilten sich, Tischewegzuschieben und eine Tanzfläche freizumachen. Baldwarfen sie die Beine im Takt, bis die Wände wackeltenvon all dem Stampfen und Wirbeln. Der erste Tanzendete. Lachende Tänzer verließen die Tanzfläche undhielten sich die Seiten. Neue Tänzer nahmen ihre Plätzeein.

Thom spielte die ersten Takte von ›Der Flug derWildgänse‹ und wartete dann, bis die Leute ihre Plätze inden Reihen eingenommen hatten.

»Ich glaube, ich probier's auch mal«, sagte Rand undstand auf. Perrin schoß sofort auch hoch. Mat bewegte

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sich als letzter, und so mußte er zurückbleiben und auf dieUmhänge, Rands Schwert und Perrins Axt aufpassen.

»Denkt daran, daß ich auch mal tanzen will!« rief Matihnen nach.

Die Tänzer stellten sich in zwei langen Reihengegenüber auf, die Frauen auf der einen und die Männerauf der anderen Seite. Zuerst gab die Trommel denRhythmus an, dann fiel das Hackbrett ein, und alle Tänzerbegannen, im gleichen Takt die Knie zu beugen. DasMädchen gegenüber Rand – sie trug die dunklen Haare inZöpfen und erinnerte ihn an die Heimat – lächelte ihn erstschüchtern an und dann zwinkerte sie ihm gar nicht mehrschüchtern zu. Thoms Flöte schwang sich in die Melodiehinein, und Rand ging vorwärts auf das dunkelhaarigeMädchen zu. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte,als er sie herumwirbelte und an den nächsten Mann in derReihe weiterreichte.

Jeder im Saal lachte, zumindest bildete er sich das ein,während er um seine nächste Partnerin herumtanzte, eineder Kellnerinnen, deren Schürze wild flatterte. Daseinzige ernste Gesicht, das er sah, gehörte einem Mann,der an einem der Kamine kauerte, und dieser Burschehatte eine Narbe quer übers ganze Gesicht, von einerSchläfe bis an die gegenüberliegende Kante seinesUnterkiefers. Sie ließ seine Nase schräg erscheinen undzog einen Mundwinkel herunter. Der Mann sah ihm in dieAugen und verzog das Gesicht. Rand schaute verlegen zurSeite. Vielleicht konnte der Bursche mit einer solchenNarbe nicht mehr lächeln.

Er fing seine nächste Partnerin im Drehen auf undwirbelte sie im Kreis herum, bevor er sie weiterreichte.Drei weitere Frauen tanzten mit ihm, während die Musikimmer schneller wurde, und dann hatte er wieder das

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erste dunkelhaarige Mädchen am Arm, als sie in einerkurzen Promenade die Reihen komplett tauschten. Sielachte immer noch und zwinkerte ihm wieder zu.

Der narbengesichtige Mann sah ihn finster an. SeinSchritt wurde unsicher, und seine Wangen erhitzten sich.Er hatte den Burschen nicht beschämen wollen; er glaubtewirklich nicht, ihn auffällig angestarrt zu haben. E rdrehte sich nach seiner nächsten Partnerin um und vergaßden Mann. Die nächste Frau, die in seine Arme tanzte,war Nynaeve.

Er stolperte in die nächsten Tanzschritte hinein und fielfast über die eigenen Füße. Beinahe wäre er ihr noch aufdie Füße getreten. Sie tanzte leichtfüßig genug, um seineUnbeholfenheit auszugleichen, und lächelte auch nochdabei. »Ich dachte, du seist ein besserer Tänzer«, lachtesie beim Partnerwechsel.

Ihm blieb nur ein Augenblick, sich wiederzusammenzureißen, dann wechselten sie wieder, und ertanzte auf einmal mit Moiraine. Wenn er sich schon beider Seherin unbeholfen angestellt hatte, dann war dasnichts gegen sein Gefühl jetzt beim Tanz mit der AesSedai. Sie glitt elegant über den Tanzboden. Ihr langesKleid schwang um ihre Beine. Er fiel dagegen zweimalbeinahe hin. Sie lächelte ihn mitleidsvoll an, doch das halfnicht – im Gegenteil. Es war eine Erleichterung, dienächste Partnerin weitergereicht zu bekommen, selbstwenn es sich um Egwene handelte.

Er gewann wieder etwas an Haltung. Schließlich hatteer jahrelang mit ihr getanzt. Ihr Haar hing immer nochoffen herunter, doch sie hatte es hinten mit einem rotenBand zusammengebunden. Konnte sich vielleicht nichtentscheiden, ob sie es Moiraine oder Nynaeve rechtmachen sollte, dachte er mürrisch. Ihre Lippen waren

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geöffnet, und sie wirkte, als wolle sie etwas sagen, aber siesprach nicht, und er wollte nicht zuerst sprechen. Nicht,nachdem sie seinen früheren Versuch im Speisesaal soschroff abgewürgt hatte. Sie sahen einander ernüchtert anund bewegten sich wortlos wieder voneinander weg.

Er war froh, als der Tanz zu Ende war und er auf dieBank zurückkehren konnte. Die Musik zum nächstenTanz, einer Gigue, begann, als er sich gerade setzte. Mateilte auf die Tanzfläche, und Perrin setzte sich auf diefreigewordene Bank. »Hast du sie gesehen?« begannPerrin, der noch nicht einmal richtig saß. »Hast du?«

»Welche?« fragte Rand. »Die Seherin oder Frau Alys?Ich habe mit beiden getanzt.«

»Mit der Ae... mit Frau Alys auch?« rief Perrin. »Ichhabe mit Nynaeve getanzt. Ich wußte nicht einmal, daß sietanzt. Zu Hause tut sie das nie.«

»Ich frage mich«, sagte Rand nachdenklich, »was derFrauenzirkel wohl davon hielte, wenn die Seherin tanzt?Vielleicht tut sie's deswegen nicht.«

Dann waren Musik und Klatschen und Singen zu laut,um sich weiter zu unterhalten. Rand und Perrin klatschtenmit, als die Tänzer um den Tanzboden kreisten. Mehrmalswurde ihm bewußt, daß der Mann mit der Narbe ihnanstarrte. Der Mann hatte ein Recht darauf, wegen derNarbe empfindlich zu sein, aber Rand fiel nun nichts ein,was er hätte tun können, ohne alles noch schlimmer zumachen. Er konzentrierte sich ganz auf die Musik undvermied es, den Burschen anzusehen.

Tanz und Gesang gingen bis tief in die Nacht hineinweiter. Die Kellnerinnen erinnerten sich schließlich ihrerPflichten; Rand war froh, ein wenig heißen Eintopf undBrot herunterschlingen zu können. Jeder aß, wo er geradesaß oder stand. Rand tanzte noch dreimal, und er

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beherrschte sich besser, wenn er dabei auf Nynaeve undauch auf Moiraine traf. Diesmal lobten beide seineFähigkeiten als Tänzer, und er stammelte verwirrt seinenDank. Er tanzte auch wieder mit Egwene. Sie sah ihn mitihren dunklen Augen an und schien immer etwas auf derZunge zu haben, doch sie sagte kein Wort. Er wargenauso still wie sie, aber er war sich sicher, daß er sienicht irgendwie böse angesehen hatte, auch wenn Mat dasbehauptete, als er zur Bank zurückkehrte.

Gegen Mitternacht ging Moiraine. Egwene bemerkteden resignierenden Blick, den Moiraine in RichtungNynaeve schickte, und eilte ihr nach. Die Seherinbeobachtete beide mit ausdruckslosem Gesicht und tanztedann mit voller Absicht noch einmal, bevor auch sie denSaal verließ. Sie wirkte, als habe sie einen Punktsieg überdie Aes Sedai errungen.

Bald legte Thom seine Flöte in den Kasten unddebattierte freundlich mit denen, die noch weitermachenwollten. Lan kam und holte Rand und die anderen ab.

»Wir müssen früh aufbrechen«, sagte der Behüter, dersich des Lärms wegen ganz nah zu ihnen hinbeugenmußte, »und wir müssen uns so gut wie möglichausruhen.«

»Ein Kerl hat mich angestarrt«, sagte Mat. »Ein Mannmit einer Narbe im Gesicht. Glaubt Ihr, er könnte einerder... Freunde sein, vor denen Ihr uns gewarnt habt?«

»So eine Narbe?« sagte Rand und fuhr sich mit demFinger über die Nase bis zum Mundwinkel. »Er hat michauch angestarrt.« Er blickte sich im Saal um. Die Leutegingen langsam hinaus, und die meisten derer, die immernoch blieben, hatten sich um Thom versammelt. »Er istjetzt nicht mehr da.«

»Ich habe den Mann gesehen«, sagte Lan. »Laut Meister

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Fitch ist er ein Spion der Weißmäntel. Der sollte uns keinKopfzerbrechen bereiten.« Vielleicht nicht, aber Randbemerkte, daß irgend etwas den Behüter störte.

Rand sah Mat an, der wieder diesen unbeweglichenGesichtsausdruck zeigte, der immer bedeutete, daß eretwas verbarg. Ein Spion der Weißmäntel. Konnte es sein,daß Bornhald sich unbedingt an ihnen rächen wollte?»Wir brechen früh auf?« sagte er. »Wirklich früh?«

Vielleicht könnten sie schon weg sein, bevor etwas inder Hinsicht geschah?

»Beim ersten Tageslicht«, antwortete der Behüter.Als sie den Schankraum verließen, sang Mat leise

Bruchstücke von Liedern, und Perrin blieb manchmalstehen, um einen neuen Tanzschritt auszuprobieren, den ergelernt hatte. Thom gesellte sich in bester Laune zu ihnen.Lans Gesicht zeigte keinen Ausdruck, als sie zur Treppegingen.

»Wo schläft Nynaeve?« fragte Mat. »Meister Fitchsagte, er habe uns die letzten Zimmer gegeben.«

»Sie hat ein Bett«, sagte Thom trocken, »bei Frau Alysund dem Mädchen.«

Perrin pfiff durch die Zähne, und Mat knurrte: »Blutund Asche! Ich möchte nicht in Egwenes Haut stecken,selbst wenn sie mir alles Gold in Caemlyn böten!«

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Rand, Mat könnteeinmal ernsthaft mehr als zwei Minuten lang über dieselbeSache nachdenken. Sie fühlten sich im Moment nichtgerade wohl in ihrer Haut. »Ich gehe und hole Milch«,sagte er. Vielleicht würde ihm das beim Einschlafenhelfen. Vielleicht werde ich heute nacht nicht träumen.

Lan sah ihn scharf an. »Irgend etwas stimmt heuteabend nicht. Geh nicht weit weg. Und denk daran: Wirreiten los, gleich, ob du wach genug bist, um aufrecht im

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Sattel zu sitzen, oder ob wir dich festbinden müssen.«Der Behüter ging die Treppe hinauf, und die anderen

folgten ihm mit unterdrückter Fröhlichkeit. Rand standallein im Flur. Nachdem die ganze Zeit so viele Menschenum ihn herum gewesen waren, fühlte er sich nun wirklicheinsam.

Er eilte in die Küche, wo eines der Küchenmädchenimmer noch bei der Arbeit war. Sie goß ihm einen KrugMilch aus einer großen Steinkanne ein. Als er trinkend ausder Küche kam, bewegte sich eine Gestalt in stumpfemSchwarz durch den Flur auf ihn zu. Sie erhob blasseHände und warf die dunkle Kapuze zurück, die dasGesicht darunter verborgen hatte. Der Umhang hingregungslos herunter, während sich die Gestalt bewegte,und das Gesicht... war das Gesicht eines Mannes, dochtotenbleich wie eine Larve unter einem Felsblock. Es hattekeine Augen. Vom fettigschwarzen Haar bis zu denrunden Wangen war es glatt wie eine Eierschale. Randverschluckte sich und verschüttete Milch.

Rand ließ den Krug fallen und trat vorsichtig zurück.Er wollte rennen, aber alles, was er fertigbrachte, war,seine Füße zu einem zögernden Schritt nach dem anderenzu bewegen. Er konnte sich nicht von diesem augenlosenGesicht befreien; sein Blick wurde davon angezogen, undsein Magen drehte sich um. Er versuchte, um Hilfe zurufen, zu schreien, doch seine Kehle war wie ein Stein.Jeder rauhe Atemzug schmerzte.

Der Blasse glitt ohne Eile näher. Seine Schritte zeigteneine sinnlich-tödliche Eleganz, wie bei einer Schlange,wobei die Ähnlichkeit noch durch die überlappendenSchuppen des Brustpanzers betont wurde. Dünne,blutleere Lippen verzogen sich in einem grausamenLächeln. Der Hohn des Lächelns wirkte unter der glatten,

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blassen Haut, wo die Augen sein sollten, besonderseinprägsam. Gegen diese Stimme wirkte die Bornhaldswarm und sanft. »Wo sind die anderen? Ich weiß, daß siehier sind. Rede, Junge, und ich werde dich am Lebenlassen.«

Rands Rücken berührte Holz, eine Wand oder eine Tür;er konnte sich nicht dazu bringen, sich danach umzusehen.Nun, da seine Füße einmal stehengeblieben waren, konnteer sie nicht wieder zum Gehen bringen. Er schauderte undbeobachtete, wie der Myrddraal näher glitt. Bei jedemlangsamen Schritt wurde sein Zittern stärker.

»Sprich, sage ich, oder...«Von oben kam das schnelle Trampeln von Stiefeln, von

der Treppe weiter hinten im Flur her, und der Myrddraalunterbrach sich und wirbelte herum. Der Umhang hingbewegungslos herunter. Einen Augenblick lang beugte derBlasse den Kopf zur Seite, als könne dieser augenloseBlick die Holzwand durchbohren. Ein Schwert erschien inder totenblassen Hand. Die Schneide war genauso schwarzwie der Umhang. Das Licht im Flur trübte sich in derGegenwart dieser Klinge. Das Stiefelgetrampel wurdelauter, und der Blasse fuhr mit einer knochenlos-weichenBewegung wieder zu Rand herum. Die schwarze Klingehob sich; dünne Lippen zogen sich in einem tierischenKnurren hoch. Zitternd wurde Rand klar, daß er sterbenmußte. Mitternachtsstahl zuckte auf seinen Kopf zu... undverhielt.

»Du gehörst dem Großen Herren der Dunkelheit an.«Das von rauhem Atmen durchsetzte Krächzen dieserStimme klang, als kratzten Fingernägel über eineSchieferplatte. »Du gehörst ihm.«

Der Blasse wirbelte verschwommen schwarz herumund eilte den Flur hinunter – weg von Rand. Die Schatten

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am Ende des Flurs streckten Arme aus und zogen ihn ansich, und dann war er verschwunden.

Lan sprang die letzten Stufen herunter und landete miteinem Krachen, das Schwert in der Hand.

Rand rang um Worte. »Ein Blasser«, keuchte er. »Erwar...«

Plötzlich erinnerte er sich an sein Schwert. Solange derMyrddraal ihm gegenübergestanden hatte, war ihm dieserGedanke überhaupt nicht gekommen. Nun zog erunbeholfen die Klinge mit dem Reiherzeichen heraus, undes war ihm gleich, ob es nun zu spät war. »Er ist dorthinunter gerannt!«

Lan nickte abwesend; er schien nach etwas anderem zulauschen. »Ja. Es geht fort, es verschwindet langsam.Keine Zeit zur Verfolgung. Wir reisen ab, Schafhirte.«

Weitere Stiefel polterten die Treppe herunter: Mat undPerrin und Thom mit Decken und Satteltaschen beladen.Mat schnürte im Laufen noch seine Bettrolle; den Bogenhatte er quer unter den Arm geklemmt.

»Abreisen?« fragte Rand. Er steckte das Schwertwieder in die Scheide und nahm Thom seine Sachen ab.»Jetzt? In der Nacht?«

»Willst du warten, bis der Halbmensch zurückkommt,Schafhirte?« sagte der Behüter ungeduldig. »Auf einhalbes Dutzend von ihnen? Es weiß jetzt, wo wir sind.«

»Ich werde wieder mit Euch reiten«, sagte Thom zudem Behüter, »falls Ihr nichts dagegen habt. Zu vieleLeute erinnern sich daran, daß ich mit Euch gekommenbin. Ich fürchte, noch vor Anbruch des Tages wird es sichals schlecht erweisen, als Euer Freund zu gelten.«

»Ihr könnt mit uns oder auch zum Shayol Ghul reiten,Gaukler.« Lans Scheide dröhnte, so heftig rammte er seinSchwert hinein.

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Ein Stallbursche rannte von der Hintertür her an ihnenvorbei, und dann erschien Moiraine mit Meister Fitch unddahinter Egwene mit ihrem zusammengerollten Schal aufden Armen. Und Nynaeve. Egwene sah beinahe zu Tränenverängstigt aus, doch das Gesicht der Seherin war eineMaske aus beherrschtem Zorn.

»Ihr müßt das ernst nehmen«, sagte Moiraine zu demWirt. »Es wird hier spätestens gegen Morgen Ärgergeben. Vielleicht Schattenfreunde, vielleicht auch nochSchlimmeres. Wenn es beginnt, dann macht ihnen ganzschnell klar, daß wir fort sind. Leistet keinen Widerstand.Laßt nur denjenigen, wer es auch sein mag, wissen, daßwir in der Nacht abgereist sind, dann wird man Euchnicht weiter belästigen. Sie sind hinter uns her.«

»Macht Euch keine Sorgen in bezug auf Ärger, wie Ihres nennt«, antwortete Meister Fitch jovial. »Keine Angst.Wenn jemand in meine Schenke kommt und meinenGästen ans Leder will... dann machen meine Burschen undich kurzen Prozeß mit ihnen. Kurzen Prozeß. Und wirwerden ihnen kein Wort darüber sagen, wohin Ihrgeritten oder wann Ihr aufgebrochen seid und noch nichteinmal, daß Ihr überhaupt hier wart. Ich kann so wasnicht ausstehen. Hier wird keiner ein Wort über Euchverlieren. Kein Wort!«

»Aber...«»Frau Alys, ich muß mich jetzt wirklich um Eure

Pferde kümmern, wenn Ihr schnell abreisen wollt.« E rentzog seinen Ärmel ihrem Griff und trabte in RichtungStall.

Moiraine seufzte bedrückt. »Ein schrecklich sturerMann. Er hört einfach nicht auf mich.«

»Glaubt Ihr, daß hier Trollocs nach uns suchenwerden?« fragte Mat.

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»Trollocs!« fuhr Moiraine ihn an. »Natürlich nicht! Esgibt andere Dinge, vor denen wir uns fürchten müssen!Nicht zuletzt, weil man uns hier aufgespürt hat.« Siemißachtete Mats Verärgerung und fuhr gleich fort: »DerBlasse wird nicht glauben, daß wir hier bleiben, nachdemwir nun wissen, daß er uns gefunden hat. Aber MeisterFitch nimmt die Schattenfreunde nicht ernst genug. E rglaubt, sie sind erbärmliche Kriecher, die sich in denSchatten verstecken, aber Schattenfreunde findet man inden Läden und in den Straßen einer jeden Stadt undmanchmal auch in den höchsten Ratsversammlungen. DerMyrddraal schickt sie vielleicht aus, um herauszufinden,was wir planen.« Sie drehte sich auf der Stelle um undging, dicht gefolgt von Lan.

Als sie zu den Ställen weitergingen, lief Rand nebenNynaeve her. Auch sie trug ihre Satteltaschen und Decken.»Also kommst du nun doch mit«, sagte er. Min hatterecht.

»War da wirklich etwas hier unten?« fragte sie ruhig.»Sie behauptete, es sei...« Sie schwieg plötzlich und sahihn an.

»Ein Blasser«, antwortete er. Es überraschte ihn selbst,daß er so ruhig darüber sprechen konnte. »Er war imFlur bei mir, und dann kam Lan.«

Nynaeve zog ihren Umhang zurecht, um sich vor demWind zu schützen, als sie die Schenke verließen.»Vielleicht ist etwas hinter euch her. Aber ich bingekommen, um euch sicher nach Emondsfeldzurückzubringen, euch alle, und ich werde nicht gehen,bevor ich das nicht erreicht habe. Ich lasse euch nicht miteiner von ihrer Art allein.« In den Ställen bewegten sichLaternen, wo die Stallburschen ihre Pferde sattelten.

»Mutch!« rief der Wirt von der Stalltür her, wo er mit

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Moiraine stand. »Beweg deine Knochen!« Er wandte sichwieder ihr zu. Dabei schien er zu versuchen, sie zuberuhigen, anstatt ihr richtig zuzuhören, auch wenn er esauf sehr ehrerbietige Art tat. Zwischen den Befehlen andie Stallknechte verbeugte er sich immer wieder.

Die Pferde wurden herausgeführt. Die Stallknechtebeschwerten sich leise über die Eile und die späte Abreise.Rand hielt Egwenes Bündel und reichte es ihr hinauf, alssie auf Belas Rücken Platz genommen hatte. Sie sah ihnmit großen, angsterfüllten Augen an. Wenigstens glaubtsie jetzt nicht mehr, daß es bloß ein Abenteuer ist.

Er schämte sich, kaum daß ihm dieser Gedankegekommen war. Sie befand sich seinetwegen und deranderen wegen in Gefahr. Selbst allein nach Emondsfeldheimzureiten wäre sicherer, als mit ihnen weiterzuziehen.»Egwene, ich...«

Die Worte erstarben ihm im Mund. Sie war zuhalsstarrig, um jetzt zurückzukehren, nicht, nachdem siegesagt hatte, sie werde bis Tar Valon dabei sein. Wie ist esmit dem, was Min gesehen hat? Sie ist ein Teil desGanzen. Licht, wovon eigentlich?

»Egwene«, sagte er, »es tut mir leid. Ich kann einfachnicht mehr klar denken.«

Sie beugte sich herunter und drückte ihm fest die Hand.Im Licht vom Stall her konnte er ihr Gesicht ganz deutlichsehen. Sie sah nicht mehr so verängstigt aus wie vorher.

Als sie alle aufgesessen waren, bestand Meister Fitchdarauf, sie selbst zum Tor zu führen, während dieStallburschen den Weg mit ihren Laternen beleuchteten.Der rundliche Wirt verabschiedete sich unterVerbeugungen und versicherte ihnen, er werde ihrGeheimnis wahren, und er lud sie ein wiederzukommen.Mutch beobachtete ihren Abschied genauso mürrisch, wie

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er ihre Ankunft beobachtet hatte.Das war einer, dachte Rand, der keineswegs kurzen

Prozeß mit jemandem machen oder überhaupt jemandenabweisen würde. Mutch würde dem ersten, der ihn fragte,erzählen, wann sie losgeritten waren und alles andereaußerdem, was sie betraf. Ein kleines Stück die Straßehinunter blickte er zurück. Eine Gestalt stand noch da, dieLaterne hoch erhoben, und sah ihnen nach. Er mußte dasGesicht nicht sehen, um zu wissen, daß es sich um Mutchhandelte.

Zu dieser Nachtstunde lagen die Straßen Baerlonsverlassen da. Den geschlossenen Fensterläden entkamennur hier und da schwache Lichtstrahlen, und derMondschein veränderte seine Helligkeit ständig durch dievom Wind getriebenen Wolkenfetzen. Gelegentlich bellteein Hund, wenn sie an einer Einfahrt vorbeikamen, aberansonsten störte kein anderer Laut die Nachtruhe, bis aufdas Hufegeklapper ihrer Pferde und den Wind, der überdie Dächer pfiff. Die Reiter schwiegen. Jeder war inseinen Umhang gehüllt und hing seinen eigenen Gedankennach.

Wie gewöhnlich führte der Behüter sie an, undMoiraine und Egwene ritten dicht hinter ihm. Nynaevehielt sich nahe bei dem Mädchen, während die andereneng zusammengedrückt den Schluß bildeten. Lan ließ diePferde eine schnelle Gangart anschlagen.

Rand beobachtete die Straßen um sie herummißtrauisch, und er bemerkte, daß seine Freunde es ihmgleichtaten. Die sich verschiebenden Schatten, die derMond warf, erinnerten ihn an die Schatten am Ende desFlurs und wie sie scheinbar nach dem Blassen gegriffenhatten. Bei jedem gelegentlichen Geräusch in der Ferne,wie einem heruntergefallenen Faß oder dem Bellen eines

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weiteren Hundes, fuhren alle Köpfe ruckartig herum.Langsam und beinahe unmerklich rückten sie bei ihremWeg durch die Stadt immer näher an Lans schwarzenHengst und Moiraines weiße Stute heran.

Am Caemlyn-Tor stieg Lan ab und hämmerte mit derFaust an die Tür eines kleinen, viereckigen Steingebäudes,das an die Stadtmauer angebaut war. Ein müder Wächtererschien. Er rieb sich schläfrig die Augen. Als Lansprach, verschwand seine Schlaftrunkenheit, und er sah andem Behüter vorbei und betrachtete die anderen. »Ihrwollt die Stadt verlassen?« rief er. »Jetzt? Mitten in derNacht? Ihr müßt verrückt geworden sein!«

»Wenn es keinen Befehl des Statthalters gibt, der unsereAbreise verbietet...?« sagte Moiraine. Sie war ebenfallsabgestiegen, aber sie blieb von der Tür weg und mied dasaus ihr auf die dunkle Straße fallende Licht. »Nicht direkt,Herrin.« Der Wächter sah angestrengt nach ihr undverzog das Gesicht bei dem Versuch, ihres zu erkennen.»Aber die Tore sind zwischen Sonnenuntergang undSonnenaufgang geschlossen. Man kann nur bei Tageslichthereinkommen. So lautet der Befehl. Außerdem gibt esdort draußen Wölfe. Letzte Woche haben sie ein DutzendKühe gerissen. Könnten auch einen Menschen ganz leichttöten.«

»Keiner darf hereinkommen, aber der Befehl sagtnichts vom Verlassen der Stadt«, sagte Moiraine, als seidamit das letzte Wort gesprochen. »Seht Ihr? Wirverlangen nicht, daß Ihr dem Befehl des Statthalterszuwiderhandelt.«

Lan drückte dem Wächter etwas in die Hand. »FürEure Mühe«, murmelte er.

»Ich schätze«, sagte der Wächter bedächtig. Er sah aufseine Hand hinunter; Gold glänzte darin, und er steckte

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den Inhalt hastig in seine Tasche. »Ich schätze, der Befehlsagt nichts über das Verlassen der Stadt aus. EinenMoment, bitte.« Er steckte den Kopf durch die Tür.»Arin! Dar! Kommt heraus und helft mir, das Tor zuöffnen. Da sind Leute, die hinaus wollen. Widersprechtnicht! Tut's einfach!«

Zwei weitere Wächter kamen aus dem Haus, bliebenstehen und betrachteten in schläfriger Überraschung dieReisegesellschaft von acht Leuten, die darauf wartete,hinausgelassen zu werden. Unter den Anweisungen desersten Wächters schlurften sie hinüber und drehten dasgroße Rad, mit dem der dicke Riegel heruntergelassenwurde. Dann konzentrierten sie ihre Anstrengungendarauf, das Tor aufzuschieben. Das Sperrad klickte schnellbeim Mitdrehen, aber die gut geölten Torflügelschwangen ansonsten lautlos auf. Bevor sie allerdings auchnur ein Viertel geöffnet waren, sprach eine kalte Stimmeaus der Dunkelheit: »Was soll das bedeuten? Muß diesesTor nicht bis Sonnenaufgang geschlossen bleiben?«

Fünf in weiße Mäntel gehüllte Gestalten traten in denLichtschein aus der Tür des Wachhauses. Ihre Schalswaren hochgezogen und verbargen die Gesichter, aberjeder der Männer hatte eine Hand auf den Griff seinesSchwertes gelegt, und die goldenen Sonnen auf ihrerlinken Brustseite zeigten deutlich, wer sie waren. Matfluchte leise vor sich hin. Die Wächter hörten auf zudrehen und sahen sich unentschlossen an.

»Das geht Euch nichts an«, sagte der erste Wächtergrob. Fünf weiße Kapuzen drehten sich zu ihm hin und erendete mit kläglicher Stimme: »Die Kinder haben hiernichts zu sagen. Der Statthalter...«

»Die Kinder des Lichts«, sagte der Mann im weißenMantel, der zuerst gesprochen hatte, sanft, »haben etwas

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zu sagen, wo auch immer Menschen im Licht wandeln.Nur dort, wo der Schatten des Dunklen Königs regiert,lehnt man die Kinder ab, ja?« Er drehte sich vom Wächterweg Lan zu, und dann plötzlich sah er sich den Behütergenauer und aufmerksamer an.

Der Behüter hatte sich nicht bewegt; im Gegenteil, erwirkte völlig entspannt. Doch nicht viele Menschen warenin der Lage, die Kinder so unbeachtet zu lassen. Lanssteinernes Gesicht hätte genausogut einen Schuhputzeranblicken können. Als der Weißmantel weitersprach,klang es mißtrauisch.

»Welche Art von Menschen will die Mauern einer Stadtzu dieser Nachtzeit und in solchen Zeiten verlassen? WennWölfe in der Dunkelheit lauern und das Geschöpf desDunklen Königs über die Stadt fliegt?« Er betrachtete dasgeflochtene Lederband um Lans Stirn, das seine langenHaare zurückhielt. »Einer aus dem Norden, ja?«

Rand machte sich im Sattel kleiner. Ein Draghkar. Esmußte einer sein, außer der Mann hätte irgend etwas, daser nicht verstand, einfach als ein Geschöpf des DunklenKönigs bezeichnet. Wenn schon ein Blasser im Hirsch undLöwen war, dann sollte man auch einen Draghkarerwarten, doch im Moment wollte er darüber nichtnachdenken. Er glaubte, die Stimme des Weißmantels zuerkennen.

»Reisende«, erwiderte Lan ruhig. »Unwichtig, wasEuch und die Euren betrifft.«

»Für die Kinder des Lichts ist niemand unwichtig.«Lan schüttelte leicht den Kopf. »Wollt Ihr wirklich

noch mehr Schwierigkeiten mit dem Statthalterbekommen? Er hat Eure Anzahl in der Stadt beschränkt,auch wenn Ihr seinen Befehlen hier gehorcht. Was wird ertun, wenn er feststellt, daß Ihr ehrliche Bürger an seinen

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Toren belästigt?« Er wandte sich dem Wächter zu.»Warum habt Ihr aufgehört?« Sie zögerten, legten dieHände auf die Winde und zögerten doch wieder, als derWeißmantel sprach.

»Der Statthalter weiß nicht, was unter seiner eigenenNase geschieht. Es gibt Böses, das er nicht sieht oderriecht. Aber die Kinder des Lichts sehen es.« Die Wächtersahen sich an; ihre Hände öffneten und schlossen sich, alsbedauerten sie, ihre Speere im Wachhaus gelassen zuhaben. »Die Kinder des Lichts riechen das Böse.« DieAugen des Weißmantels kehrten zu den Berittenen zurück.»Wir riechen es und jäten es, wo immer wir das Bösefinden.«

Rand versuchte, sich noch kleiner zu machen, aber dieBewegung erregte die Aufmerksamkeit des Mannes. »Washaben wir denn hier? Jemand, der nicht gesehen werdenmöchte? Was wollt Ihr...? Ah!« Der Mann streifte dieKapuze seines weißen Mantels zurück, und Rand blickte indas Gesicht, von dem er gewußt hatte, daß es da war.Bornhald nickte in offensichtlicher Befriedigung. »Ganzeindeutig, Wächter, habe ich Euch vor einer großenKatastrophe bewahrt. Dies sind Schattenfreunde, denenIhr beinahe geholfen hättet, vor dem Licht zu entfliehen.Ihr solltet dem Statthalter zur Bestrafung gemeldetwerden, oder vielleicht sollte man Euch denFolterknechten zur Befragung überstellen, umherauszufinden, was Ihr heute nacht wirklich geplanthattet.« Er unterbrach sich und sah den Wächter scharfan. Seine Worte schienen jedoch keine Wirkung gehabt zuhaben. »Das wollt Ihr doch nicht, oder? Statt dessen werdeich diese Schurken in unser Lager bringen, damit man sieim Licht befragen kann – statt Eurer, ja?«

»Ihr wollt mich in Euer Lager bringen, Weißmantel?«

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Moiraines Stimme kam plötzlich aus allen Richtungengleichzeitig. Beim Näherkommen der Kinder hatte sie sichin die Nacht zurückgezogen, und sie war von dichtenSchatten eingehüllt. »Ihr wollt mich verhören?« DieDunkelheit verzerrte ihre Gestalt, als sie einen Schrittvorwärts tat; sie ließ sie größer erscheinen. »Ihr wolltmeinen Weg versperren?«

Ein weiterer Schritt, und Rand schnappte nach Luft. Siewar größer. Ihr Kopf befand sich auf einer Höhe mitseinem, obwohl er auf dem Rücken des Grauen saß.Schatten hingen wie Gewitterwolken um ihr Gesichtherum.

»Aes Sedai!« rief Bornhald, und fünf Schwerter fuhrenaus ihren Scheiden. »Stirb!« Die anderen vier zögerten,doch er hieb in Fortführung der Bewegung, mit der ersein Schwert gezogen hatte, bereits nach ihr. Rand schrieauf, als Moiraines Stab sich hob, um die Klingeabzufangen. Dieser fein geschnitzte Holzstab konnte wohlkaum den mit voller Kraft geschwungenen Stahl aufhalten.Schwert und Stab berührten einander, und eineFunkenfontäne sprühte auf. Ein Zischen und Dröhnen,und Bornhald wurde auf seine weißgekleideten Begleitergeschleudert. Alle fünf fielen übereinander. AusBornhalds Schwert erhoben sich Rauchfäden. Das Schwertlag neben ihm am Boden. Die Klinge war im rechtenWinkel verbogen und beinahe in zwei Teile geschmolzen.»Ihr wagt es, mich anzugreifen?« Moiraines Stimme rolltewie Donner. Schatten wand sich um sie und verhüllte siewie ein Kapuzenmantel. Sie ragte so hoch auf wie dieStadtmauer. Ihre Augen glühten auf sie hinunter: einRiese, der Insekten anblickte.

»Weg!« schrie Lan. In einer blitzschnellen Bewegungriß er die Zügel von Moiraines Stute an sich und sprang in

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seinen eigenen Sattel. »Jetzt!« kommandierte er. SeineSchultern streiften die Torflügel, als sein Hengst wie eingeworfener Stein durch die enge Öffnung sauste. EinenMoment lang saß Rand wie angewurzelt da und stierteMoiraine an. Ihr Kopf und ihre Schultern ragten nun überdie Mauer hinaus. Wächter genauso wie Kinder ducktensich und kauerten mit dem Rücken zur Wand an derVorderseite des Wachhauses. Das Gesicht der Aes Sedaiverlor sich in der Nacht, doch ihre Augen, so groß wieVollmonde, zeigten Ungeduld und Ärger, als ihr Blick aufihn fiel. Er schluckte schwer, rammte Wolke die Fersen indie Flanken und galoppierte hinter den anderen her.

Fünfzig Schritte von der Mauer entfernt ließ Lan sienoch einmal anhalten, und Rand blickte zurück. Moirainesschattenhafte Gestalt ragte hoch über der Palisadenwandauf. Kopf und Schultern bildeten ein Stück noch tiefererDunkelheit vor dem Nachthimmel und waren vom Scheindes dahinter verborgenen Mondes wie von einer silbernenAura umrahmt. Als er mit offenem Mund auf die Gestaltstarrte, schritt die Aes Sedai über die Mauer hinweg. DieTorflügel schlossen sich hastig. Sobald ihre Füße denBoden außerhalb der Stadt berührten, hatte sie plötzlichwieder ihre normale Größe.

»Haltet ein!« rief eine unsichere Stimme hinter derMauer. Rand glaubte, es sei Bornhald. »Wir müssen sieverfolgen und gefangennehmen!« Aber die Wächterverlangsamten ihr Arbeitstempo keineswegs. DieTorflügel schlugen zu, und Augenblicke später krachteder Riegel herunter und verschloß das Tor. Vielleichthaben einige der anderen Weißmäntel ein geringeresBedürfnis, sich einer Aes Sedai zum Kampf zu stellen, alsBornhald.

Moiraine eilte zu Aldieb und streichelte der Stute über

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die Nase, bevor sie ihren Stab hinter den Sattelgurt schob.Diesmal mußte Rand gar nicht erst hinsehen, um zuwissen, daß der Stab noch nicht einmal eine Kerbeaufwies.

»Ihr wart größer als ein Riese«, sagte Egwene atemlosund rutschte auf Belas Sattel hin und her. Keiner deranderen sagte etwas, obwohl Mat und Perrin ihre Pferdeein wenig von der Aes Sedai wegtänzeln ließen.»Tatsächlich?« sagte Moiraine abwesend, als sie sich inihren Sattel schwang.

»Ich habe Euch gesehen«, beharrte Egwene.»Der Verstand spielt einem in der Nacht manchen

Streich; das Auge sieht etwas, das nicht da ist.«»Das ist nicht die richtige Zeit für Spiele«, begann

Nynaeve wütend, aber Moiraine unterbrach sie sofort.»Wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für Spiele. Der

Vorsprung, den wir im Hirsch und Löwen gewonnenhaben, ist nun vielleicht wieder verloren.« Sie sah zumTor zurück und schüttelte den Kopf. »Wenn ich nurglauben könnte, daß sich der Draghkar im Moment aufdem Boden befindet.« Mit einem Schnüffeln, das nachSelbstmitleid klang, fügte sie hinzu: »Wenn nur derMyrddraal wirklich blind wäre. Wenn ich mir schonetwas wünsche, kann es doch auch gleich das Unmöglichesein. Ach, spielt keine Rolle. Sie wissen, welchen Weg wirnehmen müssen, aber mit etwas Glück können wir ihnenimmer einen Schritt voraus sein. Lan!«

Der Behüter ritt los – die Straße nach Caemlyn inöstlicher Richtung hinunter. Die anderen folgten dichthinter ihm. Die Hufe trommelten in gleichmäßigemRhythmus auf die festgetrampelte Erde.

Sie behielten ein gleichmäßiges Tempo bei, einenschnellen Trab, den die Pferde stundenlang auch ohne die

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Hilfe einer Aes Sedai durchhalten konnten. Bevor siejedoch nur eine Stunde unterwegs waren, stieß Mat einenSchrei aus und zeigte nach hinten. »Seht dort!«

Sie ließen die Pferde anhalten und blickten zurück.Flammen erhellten die Nacht über Baerlon, als habejemand ein Freudenfeuer von der Größe eines Hausesangelegt. Die Unterseite der Wolken war rot gefärbt. DerWind wirbelte Funkenströme durch die Luft.

»Ich habe ihn gewarnt«, sagte Moiraine, »aber erwollte es nicht ernst nehmen.« Aldieb tänzelte zur Seite.Die Bewegung spiegelte die Enttäuschung der Aes Sedaiwider. »Er wollte es nicht ernst nehmen.«

»Die Schenke?« fragte Perrin. »Das ist der Hirsch undLöwe? Wie könnt Ihr so sicher sein?«

»Wie lange wirst du noch an Zufälle glauben?« fragteThom. »Es könnte auch das Haus des Statthalters sein,aber das ist es nicht. Und es ist kein Lagerhaus oderirgendein Herd, der eine Küche in Brand setzte, und auchnicht der Heustadel deiner Großmutter.«

»Vielleicht leuchtet uns das Licht ein wenig heutenacht«, sagte Lan, und Egwene fuhr ihn zornig an: »Wiekönnt Ihr so etwas sagen? Die Schenke des armen MeisterFitch steht in Flammen! Menschen könnten verletztwerden!«

»Wenn sie die Schenke angegriffen haben«, sagteMoiraine, »dann blieb möglicherweise unser Ritt aus derStadt und mein... Kunststück unbemerkt.«

»Oder das ist genau das, was uns der Myrddraalglauben machen will«, fügte Lan hinzu.

Moiraine nickte in der Dunkelheit. »Vielleicht. Aufjeden Fall müssen wir schnell weiter. Diese Nacht wirdsich keiner von uns ausruhen können.«

»Ihr sagt das so leichthin, Moiraine«, rief Nynaeve.

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»Was ist mit den Menschen in der Schenke? Es mußVerwundete geben, und der Wirt hat seinenLebensunterhalt Euretwegen verloren! Mit all EuremGeschwätz darüber, im Licht zu wandeln, wollt Ihrbereitwillig weiterreiten, ohne an ihn zu denken. Er hatEuretwegen nun Schwierigkeiten!«

»Wegen diesen dreien«, sagte Lan zornig. »Das Feuer,die Verwundeten, alles geschieht wegen diesen dreiBurschen. Die Tatsache, daß ein solcher Preis bezahltwerden muß, zeigt, daß er das Bezahlen wert ist. DerDunkle König will diese Jungen haben, und alles, wonacher so angestrengt sucht, muß von ihm ferngehaltenwerden. Oder überlaßt Ihr sie nun dem Blassen?«

»Beruhige dich, Lan«, sagte Moiraine. »Entspannedich. Seherin, glaubt Ihr, ich könne Meister Fitch und denLeuten in der Schenke helfen? Na ja, Ihr habt recht.«Nynaeve wollte etwas sagen, aber Moiraine wischte es miteiner Handbewegung zur Seite und fuhr fort: »Ich kannallein zurückgehen und helfen. Nicht zu viel natürlich.Das würde die Aufmerksamkeit auf jene lenken, denen ichhelfe, und dafür würden sie mir nicht danken, besondersweil die Kinder des Lichts in der Stadt sind. Dann wäreallerdings nur Lan übrig, euch zu schützen. Er ist sehrfähig, aber es wird doch mehr nötig sein, falls ihr voneinem Myrddraal und einer Faust Trollocs aufgespürtwerdet. Natürlich könnten wir auch alle zurückkehren,obwohl ich bezweifle, daß ich alle unbemerkt wieder nachBaerlon hineinbringen könnte. Das würde euch alle dem-jenigen aussetzen, der das Feuer gelegt hat, von den Weiß-mänteln ganz zu schweigen. Welche Möglichkeit würdetIhr wählen, Seherin, wenn Ihr an meiner Stelle wärt?«

»Ich würde etwas unternehmen«, murmelte Nynaeveundeutlich.

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»Und höchstwahrscheinlich dem Dunklen König seinenSieg schenken«, antwortete Moiraine. »Denkt daran, was –wer – es ist, den er haben will. Wir befinden uns in einemKrieg, genauso wie die Leute in Ghealdan, obwohl dortTausende kämpfen und hier nur acht von uns. Ich werdeMeister Fitch Gold schicken lassen, genug, um den Hirschund Löwen wieder aufbauen zu lassen, Gold, dessen Wegman nicht nach Tar Valon zurückverfolgen kann. Undnatürlich auch Hilfe für alle, die verletzt wurden. Allesweitere würde sie aber nur gefährden. Es ist keineswegseinfach, wie Ihr seht. Lan.« Der Behüter ließ sein Pferdwenden und ritt wieder los.

Von Zeit zu Zeit blickte Rand zurück. Schließlich waralles, was er noch sehen konnte, das Glühen unter denWolken, und dann verlor sich auch das in der Dunkelheit.Er hoffte, daß Min nichts geschehen war.

Alles war immer noch pechschwarz, als Lan sie endlichvon der festgetrampelten Straße wegführte und abstieg.Rand schätzte, daß es nur noch wenige Stunden bis zumMorgen sein konnten. Sie legten den Pferden Fußfesselnan, ließen sie aber voll gesattelt stehen und bereiteten sichein kaltes Lager. »Eine Stunde«, warnte Lan sie, als sichjeder außer ihm in eine Decke wickelte. Er würde Wachestehen, während sie schliefen. »Eine Stunde, dann müssenwir uns wieder auf den Weg machen.« Stille senkte sichüber sie.

Nach ein paar Minuten flüsterte Mat Rand etwas so leisezu, daß er es kaum hören konnte: »Ich frage mich, wasDav mit dem Dachs angefangen hat.« Rand schüttelteschweigend den Kopf, und Mat zögerte. Schließlich sagteer: »Ich dachte, wir seien sicher, weißt du, Rand? KeinAnzeichen einer Verfolgung, seit wir den Tarenüberquerten, und dann waren wir auch noch in einer

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befestigten Stadt. Ich dachte, wir seien in Sicherheit. Unddann dieser Traum. Und ein Blasser. Werden wir jemalswieder sicher sein?«

»Nicht, bevor wir Tar Valon erreichen«, sagte Rand.»Das hat sie uns gesagt.«

»Werden wir uns dann in Sicherheit befinden?« fragtePerrin leise, und alle drei schauten hinüber zu derschattenhaften Erhebung am Boden, die von der Aes Sedaizu sehen war. Lan war mit der Dunkelheit verschmolzen;er konnte überall sein.

Rand gähnte plötzlich anhaltend. Die anderen zucktenbei dem Geräusch nervös zusammen. »Ich glaube, wirsollten ein wenig schlafen«, sagte er. »Wach zu bleibenhilft uns auch nicht, Antworten auf unsere Fragen zufinden.«

Perrin sagte ruhig: »Sie hätte etwas tun sollen.«Keiner antwortete.Rand drehte sich auf die Seite, um eine Wurzel zu

meiden, legte sich auf den Rücken, rollte sich von einemStein weg auf den Bauch und lag schon wieder auf einerWurzel. Sie hatten nicht gerade an einem guten LagerplatzHalt gemacht, keinem wie jene, die der Behüter aufseinem Weg vom Taren nach Norden ausgewählt hatte. E rschlief mit dem Gedanken ein, ob ihn die in seine Rippengebohrten Wurzeln wohl zum Träumen bringen würden,und erwachte, als Lan seine Schulter berührte. SeineRippen schmerzten, und er war dankbar dafür, daß er sichnicht an irgendwelche Träume erinnern konnte, falls erüberhaupt welche gehabt hatte. Es war noch in derDunkelheit kurz vor Anbruch der Dämmerung, doch alsdie Decken eingerollt und hinter die Sättel geschnalltwaren, ließ Lan sie weiter nach Osten zu reiten. BeiSonnenaufgang bereiteten sie sich mit rotgeränderten

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Augen ein Frühstück mit Brot und Käse und Wasser undaßen im Reiten. Ihre Umhänge hatten sie zum Schutzgegen den Wind ganz eng um sich herumgeschlungen.Alle außer Lan natürlich. Er aß, und seine Augen wiesenkeine roten Ränder auf, und er duckte sich nicht in denSattel. Er hatte wieder seinen farbverändernden Umhangangelegt, und der flatterte um seine Gestalt, wechselte vonGrau zu Grün, und er achtete nur insofern darauf, als daßer seinen Schwertarm frei hielt. Sein Gesicht bliebausdruckslos, aber seine Augen suchten fortwährend, alserwarte er ständig einen Überfall.

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KAPITEL 18

Die Straße nach Caemlyn

Die Straße nach Caemlyn unterschied sich nicht wesentlichvon der Nordstraße durch das Gebiet der Zwei Flüsse. Siewar natürlich um einiges breiter und zeigte deutlich mehrMerkmale von Beanspruchung, aber sie bestand immernoch aus festgetrampeltem Lehm und war auf beidenSeiten von Bäumen umrahmt, die man auch in den ZweiFlüssen hätte finden können, besonders jetzt, wo nur dieNadelbäume noch Grün zeigten.

Das umliegende Land sah allerdings anders aus, denngegen Mittag erreichten sie ein Gebiet niedriger Hügel.Zwei Tage lang führte die Straße durch diese Hügel –schnitt sogar manchmal mitten hindurch, wo sie so breitwaren, daß die Straße einen großen Bogen gemacht hätte,und nicht groß genug, um das Durchgraben zu schwierigzu gestalten. Als sich der Einfallswinkel des Sonnenlichtsjeden Tag ein wenig veränderte, wurde ihnen klar, daßsich die so gerade erscheinende Straße auf ihrem Wegnach Osten ganz langsam in Richtung Süden krümmte.Rand hatte sich, wie die Hälfte aller Jungen inEmondsfeld, im Geist immer wieder mit Meister al'Veresalter Landkarte beschäftigt, und er erinnerte sich nundaran, daß sie etwas, genannt die ›Hügel von Abscher‹,umrundete und dann nach Weißbrücke führte.

Von Zeit zu Zeit ließ Lan sie alle auf der Spitze einesHügels absteigen, von wo aus er die Straße voraus undhinter ihnen und natürlich auch das Land um sie herumgut überblicken konnte. Der Behüter sah sich dann alles

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sehr genau an, während die anderen sich die Beinevertraten oder sich unter einen Baum setzten und etwasaßen.

»Ich mochte Käse früher einmal«, sagte Egwene amdritten Tag, nachdem sie Baerlon verlassen hatten: Siehatte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehntund verzog das Gesicht bei diesem Mittagessen. Es wardas gleiche wie beim Frühstück, und das Abendessenwürde auch nicht anders aussehen. »Keine Gelegenheit,wenigstens Tee zu trinken. Schönen heißen Tee.« Sie zogden Umhang enger zusammen und veränderte ihreStellung hinter dem Baum in einem vergeblichen Versuch,dem fauchenden Wind zu entgehen.

»Flachwurz-Tee und Andilei Wurzeln sind die bestenMittel gegen Erschöpfung«, sagte Nynaeve zu Moiraine.»Sie machen den Kopf wieder frei und dämpfen dasBrennen der erschöpften Muskeln.«

»Da bin ich ganz Eurer Meinung«, murmelte die AesSedai und sah Nynaeve von der Seite her an.

Nynaeves Unterkiefer verkrampfte sich, doch sie fuhrim gleichen Tonfall fort. »Wenn man längere Zeit ohneSchlaf auskommen muß...«

»Kein Tee!« sagte Lan in scharfem Ton zu Egwene.»Kein Feuer! Wir können sie noch nicht sehen, aber siesind irgendwo dort hinten, ein oder zwei Blasse und ihreTrollocs, und sie wissen, daß wir uns auf dieser Straßebefinden. Wir müssen ihnen nicht auch noch genau zeigen,wo wir sind.«

»Ich habe keinen Tee verlangt«, murmelte Egwene inihren Umhang hinein. »Ich habe es nur bedauert.«

»Wenn sie wissen, daß wir auf der Straße sind«, fragtePerrin, »warum kürzen wir dann nicht ab und reiten überLand nach Weißbrücke?«

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»Selbst Lan kann querfeldein nicht so schnellvorwärtskommen wie über die Straße«, sagte Moiraineund unterbrach damit Nynaeve, »und vor allem nichtdurch die Hügel von Abscher.« Die Seherin seufzteergeben. Rand fragte sich, was sie wohl plante. Nachdemsie am ersten Tag die Aes Sedai vollständig ignorierthatte, hatte sie anschließend versucht, ständig mit ihr überKräuter zu sprechen. Moiraine entfernte sich von derSeherin, als sie fortfuhr: »Warum glaubt Ihr, daß dieStraße einen Bogen um sie macht? Und wir müßtenschließlich doch wieder auf diese Straße zurückkommen.Es könnte sein, daß sie sich dann vor uns befänden undnicht hinter uns.«

Rand sah zweifelnd drein, und Mat äußerte etwas voneinem »langen Umweg«.

»Habt Ihr heute morgen einen Bauernhof gesehen?«fragte Lan. »Oder wenigstens Rauch aus einemSchornstein? Nein, denn zwischen Baerlon undWeißbrücke liegt nur Wildnis, und in Weißbrücke müssenwir den Arinelle überqueren. Dort ist die einzige Brückeüber den Arinelle südlich von Maradon in Saldaea.«

Thom schnaubte und pustete die Enden seinesSchnurrbarts hoch. »Was kann sie daran hindern,jemanden oder etwas bereits jetzt nach Weißbrücke zuschicken?«

Aus westlicher Richtung kam das durchdringendeWehklagen eines Horns. Lans Kopf fuhr herum, und ermusterte die Straße hinter ihnen. Rand lief es kalt denRücken herunter. Ein Teil seines Verstands jedoch bliebganz ruhig und schätzte die Entfernung auf höchstens zehnMeilen ein.

»Nichts kann sie daran hindern, Gaukler«, sagte derBehüter. »Wir vertrauen dem Licht und unserem Glück.

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Aber nun wissen wir sicher, daß Trollocs hinter uns hersind.«

Moiraine wischte sich die Hände ab. »Es wird Zeit füruns, weiterzureiten.« Die Aes Sedai bestieg ihre weißeStute.

Das löste einen Ansturm auf die Pferde aus, der nochbeschleunigt wurde, als das Horn ein zweites Mal erklang.Diesmal antworteten andere. Die dünnen Töne triebenvom Westen her wie ein Trauerlied durch die Lüfte. Randbereitete sich darauf vor, Wolke gleich in vollem Galopplaufen zu lassen, und die anderen rissen mit der gleichenverzweifelten Mühe an ihren Zügeln. Alle außer Lan undMoiraine. Der Behüter und die Aes Sedai sahen sich langean.

»Laßt sie weiterreiten, Moiraine Sedai«, sagte Lanschließlich. »Ich werde zurückkehren, sobald ich nurkann. Falls ich versage, werdet Ihr es wissen.« Er legteeine Hand auf den Sattel Mandarbs, sprang mit einem Satzauf den Rücken des schwarzen Hengstes und galoppierteden Hügel hinunter. Er ritt gen Westen. Die Hörnererklangen wieder.

»Das Licht sei mit Euch, letzter Lord der SiebenTürme«, sagte Moiraine so leise, daß Rand es kaum hörenkonnte. Sie holte tief Luft und wandte Aldieb in RichtungOsten. »Wir müssen weiter«, sagte sie und ritt inlangsamem, gleichmäßigem Tempo los. Die anderenfolgten ihr in einer Linie.

Rand drehte sich einmal im Sattel um und wollte nachLan sehen, aber der Behüter war bereits zwischen denniedrigen Hügeln und kahlen Bäumen außer Sicht geraten.Letzter Lord der Sieben Türme hatte sie ihn genannt. E rfragte sich, was das heißen mochte. Er hatte nichtgeglaubt, daß noch jemand außer ihm die Worte

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verstanden haben konnte, doch Thom kaute an den Endenseines Schnurrbarts, und sein Gesicht zeigte einenAusdruck, als spekuliere er... Der Gaukler schien eineMenge zu wissen.

Die Hörner riefen und antworteten noch einmal hinterihnen. Rand rutschte im Sattel hin und her. Diesmal warensie näher, da war er sich ganz sicher. Acht Meilen.Vielleicht sieben. Mat und Egwene blickten sich um, undPerrin duckte sich, als erwarte er, daß ihn etwas imRücken treffen werde. Nynaeve ritt schneller, um mitMoiraine sprechen zu können.

»Können wir nicht schneller reiten?« fragte sie. »DieseHörner kommen näher.«

Die Aes Sedai schüttelte den Kopf. »Und warum lassensie uns wissen, daß sie da sind? Vielleicht gerade, damitwir uns beeilen und nicht darüber nachdenken, was uns davorn erwarten mag.«

Sie behielten ihr Tempo gleichmäßig bei. Von Zeit zuZeit schrien die Hörner hinter ihnen auf, und jedesmalklangen sie näher. Rand bemühte sich, nichtnachzurechnen, wie nahe sie sein könnten, aber jedesmal,wenn das blecherne Wehklagen erklang, rechnete seinVerstand ungebeten mit. Fünf Meilen, dachte er geradevoller Grauen, da kam Lan in vollem Galopp hinter ihnenden Hügel hoch.

Auf Moiraines Höhe hielt er den Hengst an.»Mindestens drei Fäuste Trollocs, und jede von einemHalbmenschen angeführt. Vielleicht sind es auch fünf.«

»Wenn Ihr ihnen nahe genug wart, um sie sehen zukönnen«, sagte Egwene besorgt, »dann könnten sie Euchauch gesehen haben. Sie sind Euch vielleicht auf denFersen.«

»Sie sahen ihn nicht.« Nynaeve richtete sich im Sattel

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auf, als alle sie anblickten. »Erinnert Ihr euch? Ich binseiner Spur gefolgt.«

»Ruhe!« befahl Moiraine. »Lan will uns sagen, daß unsvielleicht an die fünfhundert Trollocs folgen.«Erschüttertes Schweigen, und dann sagte Lan: »Und sieholen auf. In einer Stunde oder noch weniger haben sieuns erreicht.«

Die Aes Sedai meinte, mehr zu sich selbst als zu denanderen gewandt: »Wenn sie so viele zur Verfügunghatten, warum wurden sie nicht schon in Emondsfeldeingesetzt? Und wenn nicht, wie haben sie die alle soschnell hierherbekommen?«

»Sie rücken auf breiter Front an, um uns vor sichherzutreiben«, sagte Lan. »Dazu haben sie auch nochKundschafter vorgeschickt.«

»Wohin wollen sie uns treiben?« überlegte Moiraine.Wie zur Antwort erklang im Westen in einigerEntfernung ein Horn wie ein langgezogener Klagelaut, derdiesmal von anderen vor ihnen beantwortet wurde.Moiraine hielt Aldieb an. Die anderen folgten ihremBeispiel. Thom und die Emondsfelder blickten sichangsterfüllt um. Hörnerklang vor ihnen und hinter ihnen.Rand glaubte, aus den Tönen einen gewissen Triumphherauszuhören.

»Was machen wir jetzt?« fragte Nynaeve zornig.»Wohin sollen wir uns wenden?«

»Alles, was noch übrigbleibt, sind der Norden und derWesten«, sagte Moiraine. Es war mehr ein lautes Denkenals eine Antwort auf die Frage der Seherin. »Im Südenliegen die Hügel von Abscher, kahl und tot, und derTaren. Aber es gibt hier keinen Übergang und kein Boot.Im Norden könnten wir den Arinelle vor Einbruch derDunkelheit erreichen, und dort ist es auch möglich, das

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Boot eines Händlers zu finden. Wenn das Eis bei Maradonmittlerweile gebrochen ist.«

»Es gibt einen Ort, an den die Trollocs nicht gehenwerden«, sagte Lan, aber Moiraines Kopf fuhr sofort zuihm herum.

»Nein!« Sie winkte den Behüter heran, und sie stecktendie Köpfe zusammen, um nicht gehört zu werden.

Die Hörner erklangen, und Rands Pferd tänzeltenervös.

»Sie versuchen, uns Angst einzujagen«, murrte Thom,der sich bemühte, sein Pferd zu beruhigen. Er klang halbwütend und halb, als hätten die Trollocs damit Erfolggehabt. »Sie versuchen, uns Angst einzujagen, damit wirin Panik davonlaufen. Dann erwischen sie uns gewiß.«

Egwenes Kopf drehte sich bei jedem Hornstoß. Zuerstsah sie nach vorn, dann nach hinten, als halte sie nach denersten Trollocs Ausschau. Rand wollte eigentlich dasgleiche tun, doch er bemühte sich, den Drang zuunterdrücken. Er trieb Wolke näher zu ihr hin. »Wirreiten nach Norden«, verkündete Moiraine.

Die Hörner tönten schrill, als sie die Straße verließenund zwischen die sie umgebenden Hügel ritten.

Die Hügel waren wohl niedrig, aber es war einständiges Auf und Ab; niemals ein ebenes Stück Wegsdazwischen, die Strecke führte unter Bäumen mit kahlenAsten hinweg und durch totes Unterholz. Die Pferdeerkletterten mühsam einen Hang und galoppierten dennächsten wieder hinunter. Lan gab ein strammes Tempovor; viel schneller als vorher auf der Straße.

Zweige peitschten auf Rands Gesicht und Brust. AlteSchlingpflanzen wickelten sich um seine Arme und zogensogar manchmal seinen Fuß aus dem Steigbügel. Diedurchdringenden Töne aus den Hörnern kamen immer

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näher und erklangen immer häufiger.So sehr sich Lan auch bemühte, sie kamen einfach nicht

sehr schnell vorwärts. Für jeden Schritt nach vorn mußtensie zwei nach oben und wieder einen nach unten tun, undjeder Schritt bedeutete ein mühsames Vorwärtsschieben.Und die Hörner kamen näher. Zwei Meilen, dachte er.Vielleicht noch weniger.

Nach einer Weile blickte Lan unruhig erst in die eineRichtung, dann in die andere. Sein Gesicht zeigte beinaheschon etwas wie Sorge. Einmal stand er aufgerichtet inden Steigbügeln und starrte nach hinten, woher siegekommen waren. Alles, was Rand sehen konnte, warenBäume. Lan setzte sich wieder in den Sattel und schob miteiner unbewußten Geste seinen Umhang zurück, um dasSchwert griffbereit zu haben, während er mit Blicken denWald absuchte.

Rand suchte fragend Mats Blick, aber Mat schnitt nureine Grimasse in Richtung auf den Rücken des Behütersund zuckte hilflos die Achseln.

Dann sagte Lan über seine Schulter hinweg: »Trollocssind nah.« Sie erreichten die Spitze eines Hügels undbegannen den Abstieg. »Einige Kundschafter, die vor denanderen herlaufen. Möglicherweise jedenfalls. Wenn wirauf sie treffen, dann bleibt unter allen Umständen inmeiner Nähe und macht dasselbe wie ich. Wir müssen aufdem einmal eingeschlagenen Weg verbleiben.«

»Blut und Asche!« murrte Thom. Nynaeve gab Egweneein Zeichen, dicht bei ihr zu bleiben.

Verstreute Gruppen von Nadelbäumen boten die einzigewirkliche Deckung für sie. Rand versuchte, in alleRichtungen gleichzeitig zu blicken. Seine Phantasie ließgraue Baumstümpfe, die er aus den Augenwinkelnerblickte, zu Trollocs werden. Auch die Hörner waren

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wieder ein Stück näher. Und direkt hinter ihnen. Da warer sicher. Hinter ihnen, und sie holten weiter auf.

Wieder erreichten sie einen Hügelkamm. Unter ihnenbegannen gerade Trollocs mit langen Stangen, an derenEnden sich Seilschlingen oder große Haken befanden, denHügel hochzumarschieren. Viele Trollocs. Die Linieerstreckte sich weit nach beiden Seiten. Ein Ende warnicht in Sicht, doch in der Mitte, geradewegs vor Lan, rittein Blasser.

Der Myrddraal schien zu zögern, als auf dem Hügeloben die Menschen erschienen, aber im nächstenAugenblick schwang er ein Schwert mit der schwarzenKlinge, an die sich Rand so ungern erinnerte, über seinemKopf. Die Trolloc-Kette rannte los.

Noch bevor sich der Myrddraal bewegte, hatte auchLan sein Schwert in der Hand. »Bleibt bei mir!« schrie er,und dann stürzte sich Mandarb hügelabwärts auf dieTrollocs. »Für die Sieben Türme!« rief Lan.

Rand schluckte und rammte dem Grauen die Fersen indie Flanken. Die ganze Gruppe galoppierte dem Behüterhinterher. Er war überrascht, Tams Schwert plötzlich inseiner Faust zu finden. Von Lans Schlachtruf mitgerissen,fand er einen eigenen: »Manetheren! Manetheren!«

Perrin fiel mit ein. »Manetheren! Manetheren!«Aber Mat rief: »Carai an Caldazar! Carai an Ellisande!

Al Ellisande!«Der Kopf des Blassen wandte sich von den Trollocs den

Reitern zu, die ihn angriffen. Das schwarze Schwerterstarrte über seinem Kopf, und die Öffnung seinerKapuze drehte sich hin und her und suchte die auf ihn zugaloppierenden Reiter ab. Dann hatte Lan den Myrddraalerreicht, und gleichzeitig griffen die Menschen die Reiheder Trollocs an. Die Klinge des Behüters traf auf den

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schwarzen Stahl aus den Schmieden von Thakan'dar. Esgab ein Klingen wie von einer großen Glocke. Der Schlagwurde von den Hügeln als Echo zurückgeworfen, und einblauer Blitz erfüllte die Luft wie Wetterleuchten. Beinahe-Menschen mit Tierschnauzen drängten sich um jeden derMenschen herum. Fangseile und Haken wurden wildumhergeschwenkt. Sie mieden nur Lan und denMyrddraal. Diese beiden fochten in einem freigebliebenenKreis. Die Rappen paßten ihren Schritt jeweils demanderen an, und die Schwerter parierten einander Schlagfür Schlag. In der Luft blitzte und läutete es.

Wolke rollte mit den Augen und wieherte laut. E rbäumte sich und schlug mit den Hufen nach denknurrenden Gesichtern mit ihren scharfen Reißzähnen, dieihn umgaben. Schwere Körper umringten ihn, Schulter anSchulter. Rand ließ den Grauen die Fersen spüren undtrieb ihn rücksichtslos vorwärts. Sein Schwert schwang er– verglichen mit Lan – ungeschickt; er hackte drauflos, alsmüsse er Holz spalten. Egwene! Verzweifelt suchte ernach ihr, als er den Grauen weitertrieb. Er hackte sicheinen Weg durch die haarigen Körper wie durch dichtesUnterholz.

Moiraines weiße Stute galoppierte und schlug bei derleisesten Bewegung der Aes Sedai an ihren Zügeln aus.Moiraines Gesicht war genauso hart wie das Lans, wennsie ihren Stab auf die Gegner richtete. Trollocs wurdenvon Flammen eingehüllt, die dann mit einem Aufbrüllenexplodierten, das nur noch gekrümmte Gestaltenbewegungslos am Boden zurückließ. Nynaeve und Egweneritten in verzweifelter Eile dicht neben der Aes Sedai. Siebleckten die Zähne beinahe genauso wild wie die Trollocsund hatten Dolche in den Händen. Diese kurzen Klingenwurden ihnen überhaupt nichts nützen, wenn ein Trolloc

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ganz nahe kam. Rand versuchte, Wolke in ihre Richtungzu lenken, aber der Graue ging durch. Wiehernd undausschlagend kämpfte er sich weiter vorwärts, gleich, wiestark Rand an den Zügeln zerrte.

Um die drei Frauen herum ergab sich ein wenig freierRaum, als Trollocs vor Moiraines Stab flüchteten, dochwie sie auch versuchten, ihr zu entgehen, so folgte sieihnen. Feuer prasselte, und die Trollocs heulten vor Wutund Kampfeslust. Über dem Prasseln und Heulen donnerteder Glockenschlag der Schwerter des Behüters und desMyrddraal; die Luft um sie herum leuchtete blau auf,dann wieder und immer wieder.

Eine Schlinge am Ende einer Stange fuhr auf RandsKopf zu. Mit einem ungeschickten Schlag spaltete er dieStange in zwei Teile und hackte dann auf denziegenbockartigen Trolloc los, der sie hielt. Ein Hakenerwischte seine Schulter von hinten und verfing sich inseinem Umhang, zog ihn mit einem Ruck nach hinten.Verzweifelt paßte er das Sattelhorn, um nicht zu stürzen,wobei er beinahe noch sein Schwert verloren hätte. Wolkewand sich und wieherte schrill. Rand klammerte sichvoller Angst an Sattel und Zügel. Er fühlte, wie erHandbreit um Handbreit abrutschte, von dem Hakengezogen. Wolke drehte sich herum. Einen Augenblicklang sah Rand Perrin, halb aus dem Sattel hängend, dermit drei Trollocs um seine Axt kämpfte. Sie hielten ihn aneinem Arm und beiden Beinen fest. Wolke warf sich nachvorn, und Rands Blickfeld war nur noch von Trollocserfüllt.

Ein Trolloc stürmte auf ihn zu und packte sein Bein. E rzerrte Rands Fuß aus dem Steigbügel. Schwer atmend ließer den Sattel fahren, um den Trolloc zu erstechen. Sofortzog ihn der Haken aus dem Sattel auf Wolkes Hinterhand.

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Nur sein verkrampfter Haltegriff am Zügel hielt ihn nochoben. Wolke bäumte sich auf und wieherte. Und imgleichen Moment hörte das Zerren auf.

Der Trolloc an seinem Bein riß die Hände hoch undschrie. Alle Trollocs schrien – ein Heulen, als seien alleHunde der Welt auf einmal verrückt geworden.

Um die Menschen herum fielen die Trollocs sichwindend zu Boden, rissen an ihrem Haar und zerkratztensich die Gesichter. Alle Trollocs. Sie bissen in den Boden,schnappten nach der leeren Luft und heulten, heulten,heulten.

Dann sah Rand den Myrddraal. Er saß noch aufrecht imSattel seines wie wahnsinnig tänzelnden Pferdes, dasschwarze Schwert schwang noch herum, doch er hattekeinen Kopf mehr.

»Er wird noch bis zum Anbruch der Nacht leben!« Derschwer atmende Thom mußte laut rufen, um über dienicht nachlassenden Schreie hinweg hörbar zu sein. »Erwird noch nicht vollständig sterben. Das habe ichjedenfalls gehört.«

»Reitet!« rief Lan ärgerlich. Der Behüter hatte bereitsMoiraine und die anderen beiden Frauen bei sich, und siebefanden sich schon halb auf dem nächsten Hügel. »Dashier sind nicht alle!« Tatsächlich erklangen nun auch dieHörner wieder, trotz der Schreie der sich am Bodenwindenden Trollocs, und zwar aus Osten und Westen undSüden.

Erstaunlicherweise war Mat der einzige, der nicht mehrauf seinem Pferd saß. Rand trabte zu ihm hinüber, dochMat warf schaudernd eine Schlinge weg, hob seinen Bogenauf und kletterte ohne Hilfe in seinen Sattel, wobei er sichallerdings noch die Kehle rieb.

Die Hörner jaulten wie Hunde auf der Spur eines

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Hirsches. Jagdhunde, die sich ihrem Opfer näherten.Wenn Lan schon vorher ein hohes Tempo gehalten hatte,dann verdoppelte er es jetzt, bis die Pferde schneller dieHügel hinaufgaloppierten, als sie es zuvor bergabgeschafft hatten. Dann warfen sie sich schon fast auf dieandere Seite. Und doch näherten sich die Hörnerweiterhin, bis sie die rauhen Schreie der Verfolger hörenkonnten, wenn die Hörner eine Pause einlegten.Schließlich erreichten die Menschen die Spitze einesHügels in dem Moment, in dem auf dem nächsten Hügelhinter ihnen Trollocs erschienen. Die Hügelspitze war imNu schwarz von Trollocs mit ihren Tierschnauzen, die mitverzerrten Fratzen heulten, und über allen thronten dreiMyrddraal. Nur hundert Spannen trennten die beidenGruppen.

Rands Herz verschrumpelte wie eine alte Traube. Drei!Die schwarzen Schwerter der Myrddraal hoben sich

gleichzeitig. Eine Woge von Trollocs schäumte den Hanghinunter. Heftige, triumphierende Schreie erklangen, undschlingenbewehrte Stangen hüpften über ihren Köpfenbeim Rennen auf und ab.

Moiraine kletterte von Aldiebs Rücken. Ruhig zog sieetwas aus ihrem Brustbeutel und packte es aus. Rand sahdunkles Elfenbein schimmern. Das Angreal. Mit demAngreal in der einen Hand und dem Stab in der anderenstellte sich die Aes Sedai entschlossen hin, sah denheranrennenden Trollocs und den schwertschwingendenBlassen kühl entgegen, hob ihren Stab in die Luft undrammte ihn in die Erde.

Der Boden erzitterte und klang wie ein Eisenkessel, dervon einem Holzhammer getroffen wird. Das hohleKlingen wurde schwächer und verschwand. EinenAugenblick lang war alles still. Alles schwieg, Der Wind

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erstarb. Die Schreie der Trollocs verstummten; sogar ihreAttacke verlangsamte sich und kam zum Stehen. EinenHerzschlag lang wartete alles. Langsam kehrte das stumpfeKlingen wieder, änderte sich zu einem leisen Rumpeln undwuchs an, bis die Erde aufstöhnte.

Der Boden erzitterte unter Wolkes Hufen. Das war dasWerk einer Aes Sedai, wie es im Buch stand. Randwünschte sich hundert Meilen weit fort. Das Zitternwurde zu einem Beben, das die Bäume um sie herumwanken ließ. Der Graue stolperte und stürzte beinahe.Sogar Mandarb und die reiterlose Aldieb torkelten wiebetrunken, und diejenigen, die auf ihren Pferden saßen,mußten sich an Zügeln und Mähnen festklammern, analles, was sie ergreifen konnten, um nicht aus dem Sattelzu fallen.

Die Aes Sedai stand immer noch wie zu Anfang, hieltdas Angreal und den aufrecht in der Hügelspitzesteckenden Stab, und weder sie noch der Stab bewegtensich auch nur eine Handbreit von ihrem Platz, obwohl derBoden wankte und um sie herum erzitterte. Nun wölbtesich der Boden von ihrem Stab weg; wie auf einem Teichrollten Wellen auf die Trollocs zu, Wellen, die schnellwuchsen, alte Büsche wegschwemmten, abgestorbeneBlätter hochwirbelten, weiterwuchsen und als Erdwogenauf die Trollocs zuschwemmten. Die Bäume im Talkesselknickten wie Streichhölzer. Auf dem Abhang stürztenganze Scharen von Trollocs zu Boden und überschlugensich im Wüten der Erde.

Doch als erhöbe sich der Boden überhaupt nicht, sobewegten sich die Myrddraal nebeneinander vorwärts.Ihre nachtschwarzen Pferde verloren ihren Rhythmusnicht; sie hoben jeden Huf im Gleichschritt. Trollocsrollten um die schwarzen Reittiere auf dem Boden herum,

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heulten und griffen nach der kahlen Erde, die sich unterihnen aufbäumte, doch die Myrddraal ritten langsamweiter.

Moiraine hob ihren Stab, und die Erde beruhigte sich,doch sie war nicht fertig. Sie zeigte auf den Einschnittzwischen den Hügeln, und Flammen schossen aus demBoden – eine zwanzig Fuß hohe Flammenfontäne. Siebreitete die Arme aus, und das Feuer breitete sichebenfalls nach rechts und links aus, so weit das Augeblicken konnte. Es wurde zu einer Wand, die Menschenund Trollocs voneinander trennte. Die Hitze war so stark,daß Rand selbst oben auf dem Hügelkamm die Hände vorsGesicht schlug. Die schwarzen Reittiere der Myrddraal,welche seltsamen Kräfte sie auch immer besitzen mochten,wieherten wild, bäumten sich auf und kämpften gegen ihreReiter an, obwohl die Myrddraal auf sie einschlugen undversuchten, sie durch die Flammenwandhindurchzuzwingen. »Blut und Asche«, sagte Mat mitersterbender Stimme. Rand nickte betäubt.

Plötzlich wankte Moiraine und wäre gefallen, wärenicht Lan von seinem Pferd gesprungen und hätte sieaufgefangen. »Reitet weiter«, sagte er zu den anderen. DieHärte seiner Stimme stand in einem merkwürdigenGegensatz zu der Sanftheit, mit der er die Aes Sedai inihren Sattel hob. »Das Feuer wird nicht ewig brennen!Beeilt euch! Jede Minute zählt!«

Die Flammenwand tobte, als wolle sie tatsächlich dieEwigkeit überdauern, aber Rand widersprach nicht. Siegaloppierten nach Norden, so schnell ihre Pferde nurkonnten. Die Hörner schrillten in einiger Entfernung ihreEnttäuschung in den Himmel, als wüßten sie bereits, wasgeschehen war, und dann schwiegen sie.

Lan und Moiraine holten die anderen schnell ein, auch

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wenn Lan Aldieb am Zügel führte, während die Aes Sedaischwankte und sich mit beiden Händen an das Sattelhornklammerte. »Ich bin bald wieder in Ordnung«, sagte sieauf ihre besorgten Blicke hin. Sie klang müde, aberselbstbewußt, und ihr Blick war so unwiderstehlich wieimmer. »Ich bin nicht so stark, wenn ich mit Erde undFeuer arbeiten muß. Eine Kleinigkeit.«

Die beiden begaben sich in schnellem Schritt wieder andie Spitze. Rand glaubte nicht, daß Moiraine bei nochhöherem Tempo im Sattel hätte bleiben können. Nynaeveritt nach vorn neben die Aes Sedai und hielt sie mit einerHand aufrecht. Eine Weile lang, während sie über weitereHügel ritten, flüsterten die beiden Frauen miteinander,dann suchte die Seherin in den Taschen ihres Umhangsund gab Moiraine ein kleines Päckchen. Moiraineentfaltete es und schluckte den Inhalt. Nynaeve sagte nochetwas zu ihr und ließ sich dann zu den anderenzurückfallen, ohne auf ihre neugierigen Blicke zu achten.Trotz der äußeren Umstände glaubte Rand, bei ihr einenleichten Ausdruck von Befriedigung zu entdecken.

Es war ihm eigentlich gleichgültig, was die Seherinmachte. Er rieb ständig über den Griff seines Schwertes,und wenn es ihm bewußt wurde, dann blickte er staunenddarauf hinunter. So also ist eine Schlacht. Er konnte sichkaum an etwas erinnern, jedenfalls nicht an irgendeinebestimmte Einzelheit. Alles floß in seinem Kopf zu einemBrei zusammen, einer geschmolzenen Masse von haarigenGesichtern und Angst. Angst und Hitze. Während desKampfes war es ihm so heiß vorgekommen wie an einemMittsommermittag. Er konnte das nicht verstehen. Dereisige Wind versuchte, Schweißperlen an seinem Körperund Gesicht anzufrieren.

Er sah seine beiden Freunde an. Mat wischte sich mit

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einem Zipfel seines Umhangs Schweiß von der Stirn.Perrin, der in die Ferne zu blicken schien undoffensichtlich den Anblick nicht gerade schön fand, warsich wohl nicht bewußt, daß auch auf seiner StirnSchweißperlen glitzerten.

Die Hügel wurden flacher, und das Land wandelte sichlangsam zu einer Ebene, doch anstatt flott weiterzureiten,hielt Lan an. Nynaeve wollte wieder an Moiraines Seitereiten, doch der Blick des Behüters hielt sie davon ab. E rund die Aes Sedai ritten ein wenig voraus und stecktenwieder die Köpfe zusammen. Aus Moiraines Gesten wurdeersichtlich, daß sie sich stritten. Nynaeve und Thombeobachteten sie. Die Seherin zog besorgt die Stirn inFalten. Der Gaukler führte Selbstgespräche und blickteimmer mal wieder zurück. Die anderen vermieden es, Lanund Moiraine überhaupt anzusehen. Wer wußte schon, wasaus einem Streit zwischen einer Aes Sedai und einemBehüter entstehen konnte?

Nach ein paar Minuten sprach Egwene Rand leise an,wobei sie einen unangenehm berührten Blick auf das sichimmer noch streitende Paar warf. »Diese Sachen, die Ihrden Trollocs entgegengeschrien habt...« Sie hielt inne, alssei sie nicht sicher, wie sie fortfahren solle.

»Was ist damit?« fragte Rand. Er fühlte sich schon einwenig eigenartig dabei – Kriegsgeschrei mochte für dieBehüter selbstverständlich sein, aber Leute von den ZweiFlüssen taten so etwas nicht, was auch immer Moirainesagte – doch wenn sie sich deswegen über ihn lustigmachte... »Mat muß diese Geschichte doch schon zehnmalwiederholt haben.«

»Und zwar schlecht«, warf Thom ein. Mat brummteprotestierend.

»Wie er sie auch erzählt haben mag«, sagte Rand, »wir

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haben sie jedenfalls alle oft genug gehört. Außerdemmußten wir einfach irgend etwas rufen. Ich meine, das tutman eben in dem Fall. Du hast ja Lan gehört.«

»Und wir haben ein Anrecht darauf«, fügte Perringedankenverloren hinzu. »Moiraine sagt, daß wir alleNachkommen dieser Leute von Manetheren sind. Siehaben gegen den Dunklen König gekämpft, und wirkämpfen gegen den Dunklen König. Das gibt uns doch einRecht darauf!«

Egwene schnaubte verächtlich, als wolle sie zeigen, wassie davon hielt. »Davon habe ich doch gar nichtgesprochen. Was... was hast du denn eigentlich gerufen,Mat?«

Mat zuckte unsicher die Achseln. »Ich kann mich nichterinnern.« Er sah sie um Rechtfertigung heischend an.»Na ja, es geht eben nicht. Alles ist verschwommen. Ichweiß nicht, was es war oder woher es kam oder was esbedeutet.« Er lachte über sich selbst. »Ich schätze, es hatnichts zu bedeuten.«

»Doch... ich glaube, es bedeutet etwas«, sagte Egwenelangsam. »Als ihr geschrien habt, dachte ich einenAugenblick lang – ich verstünde euch. Aber nun ist alleswie weggeblasen.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf.»Vielleicht hast du recht. Seltsam, was man sich in einersolchen Situation alles einbilden kann, nicht wahr?«

»Carai an Caldazar«, sagte Moiraine. Alle drehten dieKöpfe zu ihr und sahen sie an. »Carai an Ellisande. A lEllisande. Zur Ehre des Roten Adlers. Zur Ehre der Roseder Sonne. Die Rose der Sonne. Der uralte Schlachtrufvon Manetheren und der Schlachtruf seines letzten Königs.Eldrene nannte man die Rose der Sonne.« MoirainesLächeln galt Mat und Egwene, obwohl ihr Blick vielleichtetwas länger auf ihm ruhte. »Das Blut von Arads Familie

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rinnt immer noch in den Adern der Menschen der ZweiFlüsse. Das alte Blut singt immer noch.«

Mat und Egwene sahen einander an, und alle anderensie beide. Egwene machte große Augen, und ihr Mundverzog sich immer wieder zum Anflug eines Lächelns. Sieverbiß es sich immer wieder, als sei sie nicht sicher, wiesie dieses Gespräch über das alte Blut verstehen solle. Matdagegen war sich sicher, wie man an seiner finsterenMiene ablesen konnte.

Rand glaubte zu wissen, woran Mat dachte. Er dachtedas gleiche. Wenn Mat ein Nachkomme der alten Königevon Manetheren war, dann waren die Trollocs vielleichthinter ihm her und nicht hinter allen dreien. Er schämtesich bei diesem Gedanken. Seine Wangen röteten sich, undals er sah, wie schuldbewußt Perrin das Gesicht verzog, dawußte er, daß Perrin derselbe Gedanke gekommen war.»Ich kann nicht behaupten, daß ich je von so etwas gehörthabe«, sagte Thom nach einer Weile. Er schüttelte sich,und sein Tonfall wurde wieder nüchtern. »Zu eineranderen Zeit würde ich möglicherweise eine Geschichtedaraus machen, aber im Moment... Plant Ihr, den Rest desTages hier zu verbringen, Aes Sedai?«

»Nein«, antwortete Moiraine und ergriff ihre Zügel.Als wolle es ihre Worte unterstreichen, ertönte von

Süden her ein Trolloc-Horn. Weitere Hörner antwortetenaus Osten und Westen. Die Pferde wieherten leise undtänzelten nervös.

»Sie haben das Feuer passiert«, sagte Lan ruhig. E rwandte sich Moiraine zu: »Ihr seid nicht stark genug fürdas, was Ihr vorhabt, jedenfalls noch nicht. Nicht ohneEuch ausgeruht zu haben. Und weder Myrddraal nochTrolloc wird diesen Ort betreten.«

Moiraine hob eine Hand, als wolle sie ihn unterbrechen,

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seufzte aber dann und ließ sie wieder fallen. »Also gut«,sagte sie gereizt. »Ich schätze, du hast recht, aber mirwäre es lieber, wenn wir eine andere Wahl hätten.« Siezog ihren Stab aus der Gurtschlinge ihres Sattels. »Kommtalle her zu mir. So nahe Ihr könnt! Noch näher!«

Rand trieb Wolke näher an die Stute der Aes Sedaiheran. Moiraine bestand darauf, daß sie sich in einemengen Kreis um sie herum versammelten, so daß der Kopfjedes Pferdes über Kruppe oder Widerrist eines anderenhinwegragte. Erst dann war die Aes Sedai zufrieden. Dannstellte sie sich in ihre Steigbügel und schwang wortlos denStab über ihre Köpfe. Sie streckte sich, damit auch jedervollkommen einbezogen wurde.

Rand zuckte jedesmal zusammen, wenn der Stab überihn hinwegging. Bei jedem Kreis durchrann ihn einPrickeln. Er hätte der Bewegung des Stabs folgen können,ohne ihn zu sehen, nur durch das fortlaufende Zittern derMenschen unter ihm. Es überraschte ihn nicht, daß Lander einzige war, den der Stab nicht beeinflußte.

Plötzlich streckte Moiraine den Stab nach Westen aus.Abgestorbene Blätter wirbelten durch die Luft, und Ästepeitschten sie, als folge ein Luftwirbel der Richtung ihresStabs. Als der unsichtbare Wirbelwind in der Entfernungverschwand, setzte sie sich mit einem Seufzer wieder imSattel zurecht. »Den Trollocs«, sagte sie, »wird eserscheinen, als folgten unsere Spuren und Gerüche diesemWind. Der Myrddraal wird es nach einer Weiledurchschauen, aber bis dahin...«

»Bis dahin«, sagte Lan, »haben sie uns längst verloren.«»Euer Stab ist sehr mächtig«, sagte Egwene, was ihr ein

Schnauben von Nynaeve einbrachte.Moiraine schnalzte mit der Zunge. »Ich habe dir gesagt,

Kind, daß Dinge keine Macht haben. Die Eine Macht

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kommt aus der Wahren Quelle, und nur ein lebendigerVerstand kann sie anwenden. Das hier ist nicht einmal einAngreal, sondern lediglich eine Konzentrationshilfe.«Müde steckte sie den Stab wieder in die Gurtschlaufe.»Lan?«

»Folgt mir«, sagte der Behüter, »und verhaltet euchstill. Wenn die Trollocs uns hören, verdirbt es alles.«

Er führte sie wieder nach Norden, nicht in demermüdenden Tempo von zuvor, sondern eher in demschnellen Schritt wie auf der Straße nach Caemlyn. DasLand wurde immer flacher; nur der Wald blieb genausodicht.

Ihr Weg führte sie nicht mehr geradeaus wie zuvor.Lan wählte eine Route, die sich in Schlangenlinien überfesten Boden und Felsausläufer wand. Er ließ sie auchnicht mehr durch das Unterholz reiten und nahm sich stattdessen die Zeit, es zu umgehen. Von Zeit zu Zeit ließ ersich an das Ende ihrer Reihe zurückfallen und betrachteteeingehend ihre Spuren. Wenn jemand auch nur hustete,brachte ihm das ein hartes Räuspern Lans ein.

Nynaeve ritt neben der Aes Sedai und machte einGesicht, als könne sie sich nicht zwischen Abneigung undFürsorge entscheiden.

Und da war noch eine Andeutung von etwas anderem,dachte Rand, so, als sei für die Seherin irgendein Ziel inSicht. Moiraines Schultern hingen nach unten, und sie hieltsich mit beiden Händen an Zügel und Sattel fest. Trotzdemschwankte sie bei jedem Schritt Aldiebs. Es war klar, daßsie die falsche Spur, die sie gelegt hatte, obwohl es nebendem Erdbeben und der Feuerwand nur eine ganz kleineSache gewesen war, eine Menge Energie gekostet hatte,Energie, die zu verlieren sie sich einfach jetzt nicht mehrleisten konnte.

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Rand wünschte sich schon beinahe den Klang derHörner herbei. Zumindest konnte man daran ablesen, wieweit die Trollocs hinter ihnen zurückblieben. Und dieBlassen.

Er sah immer wieder zurück, und so war er nicht dererste, der das erblickte, was vor ihnen lag. Als er es dannsah, war er verblüfft. Eine große, unregelmäßig geformteMasse erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit das Augeblicken konnte. An den meisten Stellen war sie ebensohoch wie die Bäume, die gleich davor wuchsen, und hierund da ragten noch höhere Spitzen daraus hervor. KahleSchlingpflanzen und Ranken in dichten Massen bedecktenalles. Eine Klippe? Die Ranken werden uns das Kletternerleichtern, aber die Pferde bekommen wir niemalshinauf.

Plötzlich, als sie näher kamen, bemerkte er einenTurm. Es war ganz klar ein Turm und keine natürlicheFelsformation. Auf der Spitze befand sich eineeigenartige, spitz zulaufende Kuppel. »Eine Stadt!« sagteer. Und eine Stadtmauer, und die Spitzen warenWachtürme auf dieser Mauer. Sein Unterkiefer klappteherunter. Sie mußte zehnmal so groß sein wie Baerlon.Fünfzig mal so groß.

Mat nickte. »Eine Stadt«, stimmte er zu. »Aber wasmacht eine Stadt mitten in einem solchen Wald?«

»Und ohne Einwohner«, sagte Perrin. Als sie ihnansahen, deutete er auf die Mauer. »Würden EinwohnerSchlingpflanzen über alles hinwegwachsen lassen? Ihrwißt, wie diese Ranken eine Mauer zerstören können. Sehtmal, wie sie eingefallen ist.«

Was Rand sah, ergab nun langsam ein richtiges Bild inseinem Kopf. Es war, wie Perrin gesagt hatte. Unterbeinahe jedem niedrigeren Teil der Mauer befand sich ein

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von Unterholz überwachsener Hügel: Reste derzusammengebrochenen Mauer. Keine zwei Wachtürmehatten noch die gleiche Höhe. »Ich möchte wissen, was füreine Stadt das war«, überlegte Egwene. »Ich frage mich,was damit geschehen ist. Ich kann mich nicht erinnern, sieauf Papas Landkarte gesehen zu haben.«

»Sie wurde Aridhol genannt«, sagte Moiraine. »In denTagen der Trolloc-Kriege war sie ein Verbündeter vonManetheren.« Sie betrachtete die massive Mauer sointensiv, daß sie sich der anderen kaum bewußt schien,nicht einmal Nynaeves, die sie mit einem Arm im Sattelstützte. »Später starb Aridhol, und dieser Ort erhielt einenanderen Namen.«

»Welchen Namen?« fragte Mat.»Hier«, sagte Lan. Er hielt Mandarb vor etwas an, das

früher wohl ein so breites Tor gewesen war, daß fünfzigMänner nebeneinander hindurchmarschieren konnten. Nurdie zerfallenen, von Schlingpflanzen überwuchertenWachtürme waren geblieben; es war kein Überrest derTorflügel zu sehen. »Hier reiten wir hinein.« In einigerEntfernung schrillten Trolloc-Hörner auf. Lan spähte indie Richtung, aus der die Hörnerklänge kamen, und sahdann zur Sonne hoch, die sich bereits auf halbem Wegabwärts zu den Baumwipfeln im Westen befand. »Siehaben herausgefunden, daß es eine falsche Spur war.Kommt, wir müssen vor der Dunkelheit noch einenUnterschlupf finden.«

»Welchen Namen?« fragte Mat noch einmal.Moiraine antwortete, während sie in die Stadt

hineinritten. »Shadar Logoth«, sagte sie. »Sie wird ShadarLogoth genannt.«

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KAPITEL 19

Drohende Schatten

Auseinandergebrochene Pflastersteine knirschten unterden Hufen der Pferde, als Lan sie in die Stadt führte. Diegesamte Stadt lag in Ruinen, jedenfalls soweit Randblicken konnte, und war so verlassen, wie Perrin es gleichbehauptet hatte. Nicht einmal eine Taube flog auf, und inden Rissen der Mauern und Straßen wucherte Unkraut,das nach diesem Winter aber auch schon alt undabgestorben war. Bei mehr als der Hälfte aller Gebäudewar das Dach eingefallen. Aus zusammengebrochenenMauern waren Ziegel und Bausteine in die Straßengestürzt. Türme ragten mit zerfransten Spitzen wieabgebrochene Zahnstummel in den Himmel.Unregelmäßig geformte Schutthaufen, an deren Hängenein paar verkrüppelte Bäume wuchsen, konnten wohl dieÜberreste von Palästen oder vollständigen Wohnblocksdarstellen.

Doch das, was noch stand, war genug, um Rand denAtem zu rauben. Auch das größte Gebäude Baerlonswürde im Schatten beinahe jeden Gebäudes hierverschwinden. Blasse Marmorpaläste mit riesigen Kuppelnobenauf waren überall zu sehen. Jedes Gebäude schienzumindest eine Kuppel zu haben; manche hatten vier oderfünf, und jede hatte eine andere Form. Lange Säulengängezogen sich Hunderte von Schritten bis zu Türmen hin, diein den Himmel zu greifen schienen. An jeder Kreuzungstand ein Bronzebrunnen oder die Alabastersäule einesDenkmals oder eine Statue auf einem Sockel. Obwohl die

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Brunnen ausgetrocknet, die meisten Denkmälerumgestürzt und viele der Statuen abgebröckelt waren,waren die Überreste noch immer so großartig, daß Randnur staunen konnte.

Und ich habe Baerlon für eine Stadt gehalten!Versengen soll mich das Licht, aber Thom muß sich ganzschön über uns amüsiert haben. Moiraine und Lannatürlich auch.

Er war so in seine Betrachtungen versunken, daß es ihnüberraschte, als Lan plötzlich vor einem weißenSteingebäude anhielt, das einst doppelt so groß wie derHirsch und Löwe gewesen war. Man konnte nicht mehrsagen, was es einst dargestellt hatte, als die Stadt bewohntund groß gewesen war – vielleicht sogar eine Schenke.Von den oberen Stockwerken existierte nur noch einhohles Gerüst. Durch die leeren Fensterlöcher – Holz undGlas waren lange schon verschwunden – konnte man denNachmittagshimmel sehen, doch das Erdgeschoß schienstabil genug. Wie alt mag das alles sein? dachte Rand.

Moiraine, die ihre Hände immer noch auf demSattelhorn liegen hatte, betrachtete das Gebäudeeingehend, bevor sie nickte. »Das wird gehen.«

Lan sprang aus dem Sattel und hob die Aes Sedai vonihrem Pferd herunter. »Bringt die Pferde hinein«,kommandierte er. »Sucht Euch einen Raum weiter hintenals Stall heraus. Los, Bauernjungen. Das ist nicht derDorfplatz zu Hause!« Er verschwand mit der Aes Sedaiauf den Armen nach drinnen. Nynaeve kletterte herunterund lief ihm nach. Sie hielt ihren Beutel mit Kräutern undSalben fest in der Hand. Egwene kam ihr sogleich nach.Sie ließen ihre Reittiere einfach stehen.

»Bringt die Pferde hinein«, äffte Thom spöttisch nachund pustete die Enden seines Schnurrbarts von seinen

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Lippen. Er kletterte steif und langsam herab, rieb sich denRücken und seufzte lang. Dann nahm er Aldiebs Zügel.»Na?« sagte er und zog eine Augenbraue hoch, wobei erRand und seine Freunde auffordernd anblickte.

Sie beeilten sich beim Absteigen und trieben dierestlichen Pferde zusammen. Der Torbogen, an dem keinRest einer früheren Tür mehr hing, war mehr als großgenug, um die Tiere hindurchzubringen, sogar immerzwei nebeneinander.

Drinnen fanden sie einen riesigen Saal, so breit wie dasganze Gebäude, mit einem schmutzigen, geplätteltenFußboden und ein paar zerfetzten Wandbehängen, zueinem stumpfen, gleichmäßigen Braun verblaßt, dieaussahen, als würden sie bei einer Berührung gleichzerfallen. Sonst nichts. Lan hatte in der nächstgelegenenEcke für sich und Moiraine einen Lagerplatz mit ihrenUmhängen als Unterlagen gerichtet. Nynaeve schimpfteüber den Staub, kniete neben der Aes Sedai nieder undkramte in ihrem Beutel herum, den ihr Egwene aufhielt.

»Ich kann sie vielleicht nicht leiden, das mag schonstimmen«, sagte Nynaeve zu dem Behüter, als Rand, derBela und Wolke führte, hinter Thom eintrat, »aber ichhelfe jedem, der meine Hilfe braucht, ob ich ihn mag odernicht.«

»Ich habe mich nicht beklagt, Seherin. Ich habe nurgesagt, Ihr sollt mit Euren Kräutern vorsichtig umgehen.«

Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Es ist nun malso, daß sie meine Kräuter braucht, und Ihr ebenfalls.« ZuBeginn klang ihre Stimme bitter, doch dann nahm sieeinen eher beißenden Tonfall an. »Es ist nun mal so, daßsie eben auch nur soviel und nicht mehr tun kann, selbstmit Ihrer Einen Macht, und sie hat schon soviel getan, wiesie nur konnte, ohne zusammenzubrechen. Es ist nun mal

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so, Herr der Sieben Türme, daß Euer Schwert ihr jetztnicht helfen kann, wohl aber meine Kräuter.«

Moiraine legte eine Hand auf Lans Arm. »Entspannedich, Lan. Sie meint es nicht böse. Sie weiß es einfachnicht besser.« Der Behüter schnaubte verächtlich.Nynaeve hörte mit dem Herumkramen in ihrem Beutel aufund sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, dannaber sprach sie Moiraine an. »Es gibt viele Dinge, die ichnicht weiß. Worum geht es hier?«

»Zum einen«, antwortete Moiraine, »brauche ichwirklich nur etwas Ruhe. Zum anderen stimme ich Euchzu. Eure Fähigkeiten und Euer Wissen werden uns mehrnützen, als ich dachte. Wenn Ihr nun noch etwas habt, wasmich eine Stunde lang schlafen läßt, ohne daß ich einenschweren Kopf bekomme...?«

»Ein schwacher Tee aus Fuchsschwanzgras, Marisinund...«

Rand versäumte den Rest, als er Thom in einen zweitenRaum folgte, der genauso groß und noch leerer war alsder erste. Hier gab es nur Staub, dicht und unberührt, bissie kamen. Nicht einmal die Spuren von Vögeln oderKleintieren waren auf dem Fußboden zu sehen.

Rand nahm Bela und Wolke die Sättel ab, Thom sattelteAldieb und seinen Wallach ab und Perrin sein Pferd undMandarb. Alle außer Mat. Er ließ seine Zügel mitten imRaum einfach fallen. Es gab außer der Tür, durch die sieeingetreten waren, noch zwei Ausgänge. »Eine Straße«,verkündete Mat, nachdem er den Kopf zum erstenhinausgestreckt hatte. Das konnten sie alle von ihrenStandpunkten aus sehen. Die zweite Tür war nur einschwarzes Rechteck in der hinteren Wand. Mat ginglangsam durch und kam viel schneller wieder zurück,wobei er sich lebhaft alte Spinnweben vom Haar streifte.

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»Da ist nichts drin«, sagte er und beäugte wieder dieGasse.

»Wirst du dich vielleicht mal um dein Pferdkümmern?« fragte Perrin. Er war bereits mit seinemfertig und hob gerade Mandarbs Sattel ab. Es war seltsam,aber der Hengst mit den wilden Augen machte bei ihmüberhaupt keine Schwierigkeiten, obwohl er Perrin genaubeobachtete. »Keiner wird das für dich erledigen.«

Mat blickte noch einmal zu der Gasse hinüber undwandte sich dann seufzend seinem Pferd zu. Als RandBelas Sattel auf den Boden legte, bemerkte er, daß Matnur trübsinnig in die Luft stierte. Seine Augen schienentausend Meilen weit weg, und er bewegte sich nur ganzmechanisch.

»Bist du in Ordnung, Mat?« sagte Rand. Mat hob denSattel von seinem Pferd und stand gedankenverloren da.»Mat? Mat!«

Mat erschrak und ließ beinahe den Sattel fallen. »Was?Oh! Ich... Ich habe nur nachgedacht.«

»Nachgedacht?« höhnte Perrin von drüben her, wo ergerade Mandarbs Geschirr abschnallte. »Du hastgeschlafen!«

Mat machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe darübernachgedacht, was... was da hinten geschehen ist. Überdiese Worte, die ich...« Alle wandten sich ihm zu, nichtnur Rand, und er trat unsicher von einem Fuß auf denanderen. »Also, ihr habt ja gehört, was Moiraine sagte. Esist, als habe irgendein toter Mann mit meiner Zungegesprochen. Es gefällt mir nicht.« Seine Mieneverfinsterte sich noch mehr, als Perrin lachte.

»Aemons Schlachtruf, sagte sie – richtig? Vielleicht istin dir Aemon wiedergeboren. So wie du immer überEmondsfeld herziehst, wie langweilig es dort ist, denke

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ich, das würde dir gefallen – ein König und wiederge-borener Held zu sein.«

»Sagt so etwas nicht!« Thom holte tief Luft. Jetzt sahjeder ihn an. »Das ist gefährliches, dummes Gerede! DieToten können wiedergeboren werden oder einen lebendenKörper übernehmen, und das ist nichts, worüber man soleichthin sprechen darf.« Er holte noch mal tief Luft, umsich zu beruhigen, bevor er fortfuhr: »Das alte Blut, hatsie gesagt. Das Blut und kein toter Mann. Ich habe gehört,daß so was manchmal geschehen kann. Gehört, wie gesagt,aber ich dachte niemals im Ernst daran... Es waren deineWurzeln, Junge. Das geht zurück über deinen Vater zudeinem Großvater und geradewegs zu Manetheren undvielleicht noch weiter. Na ja, jetzt weißt du, daß deineFamilie alt ist. Damit solltest du es bewenden lassen undeinfach froh sein. Die meisten Leute wissen nicht vielmehr, als daß sie einen Vater hatten.«

Manche von uns können nicht einmal da sicher sein,dachte Rand bitter. Vielleicht hatte die Seherin recht.Licht, ich hoffe, sie hatte recht.

Mat nickte zu den Worten des Gauklers. »Ja, das denkeich auch. Nur... glaubt Ihr, daß es etwas mit dem zu tunhat, was mit uns geschehen ist? Die Trollocs und alles? Ichmeine... ach, ich weiß gar nicht, was ich meine.«

»Ich glaube, du solltest es vergessen und dich daraufkonzentrieren, heil aus allem rauszukommen.« Thom zogseine langstielige Pfeife aus einer Innentasche seinesUmhangs. »Und ich glaube, ich werde ein wenigrauchen.« Er winkte mit der Pfeife in ihre Richtung undverschwand im vorderen Saal.

»Wir stecken alle gemeinsam in dieser Sache, und nichteinzeln«, sagte Rand zu Mat.

Mat schüttelte sich und lachte kurz und hart auf.

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»Richtig. Also, wenn wir schon von gemeinsamen Dingenreden: Jetzt sind wir ja mit den Pferden fertig, warumsollten wir dann nicht herumlaufen und ein bißchen mehrvon dieser Stadt sehen? Eine richtige Stadt und keineMenschenmengen, wo man ständig angerempelt undgetreten wird. Keiner, der uns von oben herab anschaut.Das Tageslicht wird sich noch eine, vielleicht auch zweiStunden lang halten.«

»Vergißt du nicht die Trollocs?« fragte Perrin.Mat schüttelte verächtlich den Kopf. »Lan sagte, sie

kämen nicht hierher; erinnerst du dich nicht mehr? Dumußt auf das hören, was die Leute sagen.«

»Ich erinnere mich«, sagte Perrin. »Und ich pflegezuzuhören. Diese Stadt – Aridhol? – war ein Verbündetervon Manetheren. Siehst du? Ich höre zu.«

»Aridhol muß wohl während der Trolloc-Kriege diegrößte Stadt gewesen sein«, sagte Rand, »wenn dieTrollocs sie immer noch fürchten. Sie hatten keine Angst,die Zwei Flüsse zu betreten, und Moiraine sagte, daßManetheren – wie hat sie das ausgedrückt? – ein Dorn imFuße des Dunklen Königs war.«

Perrin hob die Hände. »Erwähne bitte den Schäfer derNacht nicht. Bitte!«

»Was meint ihr?« lachte Mat. »Gehen wir!«»Wir sollten Moiraine erst fragen«, sagte Perrin, und

Mat hob nun die Hände in einem Anfall vonVerzweiflung. »Moiraine fragen? Denkst du, sie wird unsaus ihrer Sichtweite lassen? Und wie steht's mit Nynaeve?Blut und Asche, Perrin, warum willst du nicht auch nochFrau Luhhan fragen, wenn du schon dabei bist?«

Perrin nickte zögernd, und Mat wandte sich grinsend anRand. »Wie steht's mit dir? Eine richtige Stadt? MitPalästen!« Er lachte hinterhältig. »Und keine Weißmäntel,

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die uns anstarren.«Rand warf ihm einen spöttischen Blick zu, zögerte aber

nur kurz. Diese Paläste hätten aus einer Gauklergeschichtestammen können. »Geht klar!«

Sie bewegten sich ganz leise, damit man sie in demvorderen Saal nicht hören konnte, und verließen dasGebäude über die Gasse. Sie folgten ihr von derVorderfront des Gebäudes bis zu einer Straße auf deranderen Seite. Sie gingen schnell, und als sie sich einenHäuserblock weit von dem weißen Steingebäude entfernthatten, begann Mat plötzlich zu hüpfen und zu tanzen.

»Frei.« Er lachte. »Frei!« Er ging langsamer, bis erschließlich einen Kreis beschrieb und dabei alles um sichherum betrachtete und immer weiter lachte. DieNachmittagsschatten erstreckten sich lang und gezackt,und die sinkende Sonne färbte die in Ruinen liegende Stadtgolden. »Habt ihr euch je einen solchen Ort erträumt?Habt ihr das?«

Perrin lachte auch, aber Rand zuckte nur unangenehmberührt die Achseln. Das glich in nichts der Stadt ausseinem ersten Traum, doch trotzdem... »Wenn wir nochetwas sehen wollen«, sagte er, »dann sollten wirlosmarschieren. Es wird nicht mehr lange Tag sein.«

Mat wollte einfach alles sehen, so schien es jedenfalls,und er riß mit seiner Begeisterung die anderen mit. Siekletterten über verstaubte Brunnen, deren Wasserbeckengroß genug waren, um alle Emondsfelder auf einmalunterzubringen, liefen in Gebäude hinein und wiederheraus, die sie ohne irgendein System per Zufallauswählten, aber es waren immer die größten, die siefinden konnten. Einiges verstanden sie, anderes nicht. EinPalast war immer noch ein Palast, aber was konnte manmit einem Gebäude anfangen, das nur aus einer runden,

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weißen Kuppel bestand, außen so groß wie ein ganzerHügel und mit einem riesenhaften Saal im Inneren? Undwas sollte dieser von Mauern begrenzte Platz ohne Dach,groß genug, um ganz Emondsfeld darin unterzubringen,mit Reihe auf Reihe auf Reihe von Steinbänkenaußenherum?

Mat wurde ungeduldig, als sie nichts außer Staub,Schutt und farblosen Wandbehängen fanden, die bei derleisesten Berührung zerfielen. Einmal waren Holzstühle aneiner Mauer aufgestapelt, doch als Perrin versuchte, einendavon aufzuheben, zerfielen sie alle.

Die Paläste mit ihren riesigen leeren Sälen – in einigendavon hätte man gut die Weinquellenschenke unterbringenkönnen, und es wäre auf allen Seiten und nach oben hinnoch genug Platz geblieben – ließen Rand oft an dieMenschen denken, die sie einst bewohnt hatten. E rglaubte, daß alle Einwohner der Zwei Flüsse unter dieserrunden Kuppel Platz gefunden hätten, und was den Ortmit den Steinbänken betraf... Er konnte sich beinaheplastisch vorstellen, die Menschen in den Schatten zuerkennen, wie sie mißbilligend den drei Eindringlingenzusahen, die ihre Ruhe störten.

Schließlich wurde selbst Mat müde, auch wenn dieGebäude noch so beeindruckend waren, und er erinnertesich daran, daß er in der Nacht zuvor nur eine Stunde langgeschlafen hatte. Alle begannen, sich daran zu erinnern.Gähnend saßen sie auf den Stufen vor einem hohenGebäude, an dessen Vorderseite viele Reihen hoherSteinsäulen aufgestellt waren, und stritten sich darüber,was sie als nächstes machen sollten.

»Zurückgehen«, sagte Rand, »und etwas schlafen.« E rhielt sich den Handrücken vor den Mund. Als er wieder zusprechen in der Lage war, sagte er: »Schlafen. Das ist

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alles, was ich will.«»Du kannst doch immer schlafen«, sagte Mat

zielbewußt. »Schau mal, wo wir uns hier befinden. EineRuinenstadt. Schätze.«

»Schätze?« Perrins Kiefer knackten. »Hier gibt eskeinen Schatz. Es gibt nichts als Staub.«

Rand hob die Hand an die Stirn, damit er nicht von derSonne geblendet wurde, die wie ein roter Ball über denDächern hing. »Es wird spät, Mat. Bald ist es dunkel.«

»Es könnte Schätze geben«, beharrte Mat tapfer. »Aufjeden Fall möchte ich auf einen der Türme steigen. Schautmal den dort drüben an. Er ist unversehrt geblieben. Ichwette, von dort droben kann man meilenweit sehen. Wasmeint ihr?«

»Die Türme sind nicht sicher«, sagte eineMännerstimme hinter ihnen.

Rand sprang auf die Füße und wirbelte herum, wobeier sein Schwert am Griff packte. Die anderen warengenauso schnell. Ein Mann stand im Schatten unter denSäulen oben an der Treppe. Er trat einen halben Schrittvor, hob die Hand, um seine Augen zu schützen, und tratwieder zurück. »Vergebt mir«, sagte er weich. »Ich bineine ganze Zeit drinnen im Dunkeln gewesen. MeineAugen sind noch nicht an das Licht gewöhnt.«

»Wer seid Ihr?« Rand hielt den Akzent des Mannes füreigenartig, sogar nach dem, was sie in Baerlon gehörthatten; er betonte einige Worte so seltsam, daß Rand siekaum verstehen konnte. »Was macht Ihr hier? Wirdachten, die Stadt sei leer.«

»Ich heiße Mordeth.« Er legte eine Pause ein, alserwarte er, daß sie den Namen erkannten. Als keiner vonihnen ein Anzeichen dafür zeigte, murmelte er etwas vorsich hin und fuhr fort: »Ich könnte Euch dasselbe fragen.

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Es ist schon lange niemand mehr in Aridhol gewesen.Lange, lange Zeit. Ich hätte nicht gedacht, daß ich auf derStraße drei junge Männer finde.«

»Wir sind auf dem Weg nach Caemlyn«, sagte Rand.»Wir sind hier geblieben, um uns ein Nachtquartier zusuchen.«

»Caemlyn«, sagte Mordeth langsam und rollte denNamen um seine Zunge herum. Dann schüttelte er denKopf. »Ein Nachtquartier, sagt Ihr? Vielleicht schließt IhrEuch mir an?«

»Ihr habt noch immer nicht gesagt, was Ihr hiermacht«, sagte Perrin.

»Also, ich bin natürlich Schatzsucher.«»Habt Ihr einen gefunden?« wollte Mat aufgeregt

wissen.Rand glaubte, Mordeth lächeln zu sehen, aber er konnte

im Schatten nicht sicher sein. »Habe ich«, sagte der Mann.»Mehr als ich erwartete. Viel mehr. Mehr als ichwegtragen kann. Ich habe nicht erwartet, drei kräftige,gesunde junge Männer zu finden. Wenn Ihr mir helft, das,was ich wegtragen kann, zu meinen Pferden zu schleppen,könnt Ihr alle einen Teil des Rests bekommen. Soviel Ihrtragen könnt. Was ich auch zurücklasse, wird schnell wegsein, von einem anderen Schatzsucher weggeschleppt,bevor ich zurückkommen und es holen kann.«

»Ich habe euch gesagt, daß es an einem solchen OrtSchätze geben muß«, rief Mat. Er schoß die Treppe hoch.»Wir werden Euch helfen, ihn zu tragen. Bringt uns nurdorthin.« Er und Mordeth gingen tiefer in die Schattenunter den Säulen hinein. Rand sah Perrin an. »Wir könnenihn nicht allein lassen.« Perrin sah hinüber zu dersinkenden Sonne und nickte.

Sie gingen mißtrauisch die Treppe hoch. Perrin

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lockerte die Axt in seiner Gürtelschlaufe. Rand spanntedie Hand um den Griff seines Schwertes. Mat undMordeth warteten zwischen den Säulen. Mordeth hatte dieArme vor der Brust verschränkt, während Matungeduldig nach innen spähte.

»Kommt«, sagte Mordeth. »Ich zeige Euch den Schatz.«Er schlüpfte hinein, und Mat folgte ihm. Den anderenblieb nichts anderes übrig, als ebenfalls nachzukommen.

In dem Saal drinnen herrschte Düsternis, aber Mordethwandte sich sofort zur Seite und betrat eine enge Treppe,die sich in vielen Windungen durch immer tiefereDunkelheit nach unten zog. Schließlich ertasteten sie sichden Weg durch pechschwarze Nacht. Rand tastete miteiner Hand an der Wand entlang und war sich nie sicher,ob eine weitere Stufe kommen würde, bis sein Fuß sieschließlich fand. Selbst Mat fühlte sich nicht mehr wohl inseiner Haut. Man hörte es seiner Stimme an, als er sagte:»Es ist schrecklich dunkel hier unten.«

»Ja, ja«, antwortete Mordeth. Der Mann schien in derDunkelheit überhaupt keine Probleme zu haben. »Untengibt es Lichter. Kommt.«

Tatsächlich mündete die Wendeltreppe plötzlich ineinen Korridor, der durch verstreute, qualmende Fackelnin Eisenhaltern an den Wänden trübe beleuchtet wurde.Im Licht der flackernden Fackeln hatte Rand erstmalsGelegenheit, Mordeth, der ohne Unterbrechungweiterhastete, genauer zu betrachten. Er winkte ihnen zu,ihm zu folgen.

Er hatte etwas Eigenartiges an sich, dachte Rand, aberer konnte nicht genau sagen, was es war. Mordeth war eingepflegter, etwas molliger Mann. Seine Augenlider warenhalb geschlossen, und so schien es, als verstecke er sichhinter irgend etwas und blicke dahinter hervor. Er war

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klein und hatte eine vollständige Glatze, doch er gingeinher, als sei er größer als sie alle. Seine Kleidung sahganz sicher anders aus als jede, die Rand zuvor gesehenhatte. Enge schwarze Kniebundhosen und weiche roteStiefel, deren Stulpen an den Knöcheln heruntergeschlagenwaren. Eine lange, rote, mit Gold reich bestickte Westeund ein schneeweißes Hemd mit weiten Ärmeln. DieEnden seiner Manschetten hingen beinahe in Kniehöhe.Ganz bestimmt keine Kleidung, in der man eineRuinenstadt nach Schätzen durchsucht. Aber das war esnoch nicht einmal, was ihn so fremdartig wirken ließ.Dann mündete der Korridor in einen gekachelten Raum,und er vergaß alles Eigenartige, was er an Mordethentdeckt hatte. Sein Keuchen glich dem seiner Freunde.Auch hier stammte das Licht von einigen Fackeln, die dieDecke des Zimmers mit Ruß schwärzten und von jedemmehr als einen Schatten erzeugten, aber dieses Lichtwurde tausendmal reflektiert von den Edelsteinen unddem Gold, die am Boden aufgehäuft lagen: Hügel vonMünzen und Schmuck, Pokale und Teller und Platten,vergoldete, mit Edelsteinen verzierte Schwerter undDolche, alles unachtsam hüfthoch aufgehäuft. Mit einemAufschrei rannte Mat vor und fiel vor einem der Stapelauf die Knie nieder. »Säcke«, sagte er atemlos und stecktedie Hände in all das Gold. »Wir werden Säcke brauchen,um all das zu tragen.«

»Wir können nicht alles tragen«, sagte Rand. Er blicktesich hilflos um; alle Schmuckhändler, die während einesJahres nach Emondsfeld kamen, hätten nicht einTausendstel auch nur eines dieser Stapel zusammenbringenkönnen. »Nicht jetzt. Es ist fast dunkel.«

Perrin zog eine Axt heraus und warf nichtachtend dieGoldketten zurück, die sich darum verwickelt hatten.

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Juwelen glitzerten an ihrem glänzend-schwarzen Griff,und die Doppelschneide war mit feinen Goldgravurenverziert. »Also morgen«, sagte er und schwang grinsenddie Axt. »Moiraine und Lan werden uns verstehen, wennwir ihnen das zeigen.«

»Ihr seid nicht allein?« fragte Mordeth. Er hatte sie ansich vorbeigelassen, als sie in die Schatzkammer stürzten,doch nun folgte er ihnen. »Wer ist noch bei Euch?«

Mat, dessen Arme tief in den Reichtümern vor ihmsteckten, antwortete abwesend: »Moiraine und Lan. Unddann noch Nynaeve und Egwene und Thom. Er istGaukler. Wir reiten nach Tar Valon.«

Rand hielt die Luft an. Dann ließ ihn MordethsSchweigen den Mann anblicken. Wut und Angstverzerrten Mordeths Gesicht. Seine Lippen öffneten sichund gaben die Zähne frei. »Tar Valon!« Er schütteltegeballte Fäuste nach ihnen. »Tar Valon! Ihr habt gesagt,Ihr wolltet nach diesem... diesem... Caemlyn reiten! Ihrhabt mich angelogen!«

»Wenn Ihr immer noch wollt«, sagte Perrin zuMordeth, »dann kommen wir morgen zurück und helfenEuch.« Vorsichtig legte er die Axt auf den Stapeljuwelengeschmückter Schalen und Ringe und Kettenzurück. »Wenn Ihr wollt.«

»Nein. Das heißt...« Schwer atmend schüttelte Mordethden Kopf, als könne er sich nicht entscheiden. »Nehmt,was Ihr wollt. Außer... außer...«

Plötzlich war Rand klar, was ihn die ganze Zeit an demMann gestört hatte. Die verstreuten Fackeln in demKorridor hatten jedem von ihnen einen Ring von Schattenverliehen, genau wie die Fackeln in der Schatzkammer.Nur... Er war so entsetzt, daß er es laut aussprach: »Ihrhabt keinen Schatten!«

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Ein Pokal fiel mit lautem Krach aus Mats Hand.Mordeth nickte, und zum erstenmal öffneten sich seine

fleischigen Augenlider ganz. Sein schmales Gesichterschien auf einmal eingefallen und hungrig. »Also.« E rrichtete sich auf. Er schien nun größer als zuvor. »DieEntscheidung ist gefallen.« Plötzlich war aller Scheinverschwunden. Mordeth schwoll wie ein Ballon an,verzerrte sich, der Kopf stieß an die Decke, die Schulternwurden von den Wänden aufgehalten, und so füllte er daseine Ende des Raums und schnitt ihnen den Fluchtweg ab.Mit eingefallenen Wangen und in einem starren Fauchengebleckten Zähnen streckte er Hände nach ihnen aus, diegroß genug waren, um den Kopf eines Mannes in ihnen zuhalten.

Mit einem Schrei sprang Rand zurück. Seine Füße ver-fingen sich in einer Goldkette, und er stürzte zu Boden.Die Luft blieb ihm weg. Er versuchte, wieder zu Atem zukommen, und gleichzeitig griff er nach seinem Schwert,wobei er seinen Umhang wegreißen mußte, der sich umdie Scheide gewickelt hatte. Die Schreie seiner Freundeerfüllten den Raum, und dazu ertönte das Klappern vonGoldtellern und Pokalen, die über den Fußboden rollten.Plötzlich gellte ein Schmerzensschrei in Rands Ohren.

Fast schon schluchzend brachte er es endlich fertig, tiefLuft zu holen, gerade in dem Augenblick, als er auch dasSchwert aus der Scheide gezogen hatte. Vorsichtig stander auf und fragte sich, von welchem seiner Freunde derSchrei hergerührt hatte. Perrin sah ihn mit weitaufgerissenen Augen von der anderen Seite des Raums heran, wo er mit der Axt in seiner Hand kauerte, als wolle ereinen Baum fällen. Mat blickte hinter der Seite einesSchatzhaufens hervor, und seine Hand umklammerte einenDolch, den er aus dem Schatz herausgezogen hatte.

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Etwas bewegte sich dort, wo der Schatten, den dieFackeln übriggelassen hatten, am tiefsten war. Sie fuhrenalle herum. Es war Mordeth, der seine Knie an die Brustgezogen hatte und sich so weit wie möglich in dieentfernteste Ecke drückte.

»Er hat uns betrogen«, keuchte Mat. »Es war alles eineFalle.«

Mordeth warf den Kopf zurück und schrie jammerndauf. Die Wände zitterten, und Staub rieselte herunter. »Ihrseid alle tot!« rief er. »Alle tot!« Und er sprang auf undhechtete durch den Raum.

Rands Unterkiefer klappte herab, und beinahe hätte erdas Schwert fallen lassen. Als Mordeth durch die Luftschoß, streckte und verdünnte sich sein Körper wie eineRauchfahne. So dünn wie ein Finger traf er auf einenSpalt zwischen den Kacheln an der Wand und verschwanddarin. Ein letzter Schrei wehte noch durch den Raum, alser verschwand, und wurde langsam immer leiser,nachdem er weg war.

»Ihr seid alle tot!«»Wir müssen hier raus«, sagte Perrin schwach. E r

festigte seinen Griff um den Axtstiel und bemühte sich,gleichzeitig in alle Richtungen zu sehen. Goldzierat undEdelsteine knirschten unbeachtet unter seinen Füßen.

»Aber der Schatz«, protestierte Mat. »Wir können ihnnicht einfach so liegen lassen.«

»Ich will nichts davon«, sagte Perrin, der sich immernoch von einer Seite zur anderen drehte. Er erhob dieStimme und schrie die Wände an:

»Es ist Euer Schatz, hört Ihr mich? Wir nehmen nichtsdavon mit!«

Rand sah Mat zornig an. »Willst du, daß er unsnachkommt? Oder willst du hier warten und dir die

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Taschen vollstopfen, bis er mit zehn anderen von seinerSorte zurückkommt?«

Mat deutete auf all das Gold und die Edelsteine. Bevorer jedoch etwas sagen konnte, packte Rand einen seinerArme und Perrin den anderen. Sie zerrten ihn aus demRaum. Mat wehrte sich und rief etwas über den Schatz.

Bevor sie auch nur zehn Schritte den Gang hinuntergetan hatten, erlosch das sowieso trübe Licht hinter ihnenallmählich. Die Fackeln in der Schatzkammer gingen aus.Mat hörte auf zu schreien. Sie beschleunigten ihreSchritte. Die erste Fackel außerhalb der Schatzkammerging aus, dann die nächste. Als sie die Wendeltreppeerreicht hatten, mußten sie Mat nicht mehr zerren. Sierannten alle, und hinter ihnen schloß sich die Dunkelheit.Sogar die pechschwarze Dunkelheit an der Treppe ließ siekeinen Moment zögern. Dann rannten sie hoch undschrien mit aller Kraft. Sie schrien, um alleswegzuscheuchen, was dort auf sie warten mochte, und umsich selbst daran zu erinnern, daß sie noch immer lebten.

Sie rannten in den Saal oben, rutschten und stürzten aufdem staubigen Marmorboden, krabbelten zwischen denSäulen hindurch nach draußen und landeten in einemaufgeschürften Gewirr auf der Straße. Rand befreite sichund hob Tams Schwert vom Pflaster auf, wobei er sichmißtrauisch umblickte. Weniger als die halbe Sonnen-scheibe zeigte sich noch über den Dächern. Schattengriffen wie dunkle Hände nach ihnen, erschienen im nochvorhandenen Licht noch dunkler. Sie füllten die Straße.Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Schatten sahenwie Mordeth aus, als griffe er nach ihnen. »Wenigstenssind wir draußen.« Mat stand auf und klopfte sich in einerzittrigen Imitation seiner üblichen Geste den Staub aus derKleidung. »Und zumindest ich...«

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»Tatsächlich?« fragte Perrin.Rand wußte, daß es diesmal nicht seine Einbildung war.

Sein Nacken prickelte. Irgend etwas beobachtete sie ausdem Schatten der Säulen heraus. Er fuhr herum undbetrachtete die Gebäude auf der anderen Straßenseite.Auch von dort her konnte er Blicke auf sich ruhen fühlen.Sein Griff um den Schwertknauf festigte sich, obwohl ersich fragte, was das wohl bringen würde. Von überall herschienen sie beobachtet zu werden. Die anderen sahen sichmißtrauisch um; er wußte, daß auch sie dasselbe fühlten.

»Wir bleiben in der Straßenmitte«, sagte er heiser. Siesuchten seinen Blick und sahen dabei genauso verängstigtaus, wie er sich fühlte. Er schluckte schwer. »Wir bleibenin der Straßenmitte, halten uns soweit wie möglich vonden Schatten fern und gehen schnell.«

»Gehen sehr schnell«, stimmte ihm Mat leidenschaftlichzu.

Die Beobachter folgten ihnen. Oder aber es gab großeMengen an Beobachtern, denn aus beinahe jedem Gebäudewurden sie von vielen Augen angestarrt. Rand konntebeim besten Willen keine Bewegung entdecken, aber erfühlte die Augen, gierige, hungrige Augen. Er wußtenicht, was schlimmer war: Tausende von Augen oder nurwenige, die ihnen folgten.

An offenen Stellen, wo der Sonnenschein sie nocherreichte, gingen sie etwas langsamer, allerdings nur einwenig, und blinzelten nervös in die Dunkelheit, diefortwährend vor ihnen lag. Keiner von ihnen hatte eseilig, in die Schatten zu treten; keiner war sich ganzsicher, ob nicht doch etwas dort auf sie lauerte. Wannimmer Schatten die ganze Straße bedeckten und ihren Wegversperrten, war die Vorfreude der Beobachter beinahegreifbar zu spüren. Sie rannten schreiend über diese

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dunklen Stellen. Rand bildete sich ein, trockenes,raschelndes Lachen zu hören.

Endlich – die Dämmerung neigte sich schon ihremEnde zu – kam das weiße Steingebäude in Sicht, das siescheinbar vor Tagen verlassen hatten. Plötzlich waren dieAugen der Beobachter weg. Von einem Schritt auf denanderen verschwanden sie in einem Wimpernschlag.

Wortlos begann Rand zu laufen, von seinen Freundengefolgt, und dann rannten sie aus Leibeskräften, bis siedurch die Tür hetzten und schnaufend zusammensanken.

Mitten auf dem geplättelten Fußboden brannte einkleines Feuer. Der Rauch verschwand durch ein Loch inder Decke, und zwar auf solche Weise, daß es Randunangenehm an Mordeth erinnerte. Alle außer Lan warenda und um das Feuer herum versammelt. Ihre Reaktionenunterschieden sich allerdings erheblich. Egwene, die sichdie Hände am Feuer wärmte, erschrak, als die drei in denRaum platzten. Sie umklammerte erschrocken ihren Hals,aber als sie sah, wer es war, verdarb ein Seufzer derErleichterung ihren Versuch eines tödlich wirkendenBlickes. Thom murmelte nur etwas mit der Pfeife imMund, doch Rand konnte das Wort ›Narren‹ heraushören,bevor der Gaukler wieder dazu zurückkehrte, mit einemStock in den Flammen herumzustochern.

»Ihr wollköpfigen Nichtsnutze!« schimpfte die Seherin.Sie schien von Kopf bis Fuß Funken zu sprühen, ihreAugen glitzerten, und auf ihren Wangen glühten dickerote Flecken. »Warum, zum Licht noch mal, seid ihr sodavongerannt? Stimmt's bei euch noch da oben? Habt ihrüberhaupt kein Hirn mehr? Lan sucht jetzt nach euch, undihr habt mehr Glück, als ihr verdient, wenn er euch beiseiner Rückkehr nicht die Vernunft in eure dicken Schädelprügelt!«

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Das Gesicht der Aes Sedai verriet überhaupt keineErregung, aber bei ihrem Anblick hatten sich die in ihrKleid verkrampften Hände gelöst. Was Nynaeve ihr auchgegeben haben mochte, hatte geholfen, denn sie warwieder auf den Beinen. »Das hättet ihr nicht tun sollen«,sagte sie mit einer Stimme, die so klar und ruhig klangwie Oberfläche eines Sees im Wasserwald. »Wir werdenspäter darüber sprechen. Dort draußen muß etwasgeschehen sein, denn sonst würdet ihr nicht so über dieeigenen Füße stolpern. Was war los?«

»Ihr habt gesagt, wir seien in Sicherheit«, beklagte sichMat, wobei er sich wieder hochrappelte. »Ihr sagtet,Aridhol war ein Verbündeter von Manetheren und dieTrollocs würden nicht in die Stadt kommen und...«

Moiraine trat so unvermittelt einen Schritt vor, daß Matseinen Redefluß mit offenem Mund abbrach und Rand undPerrin mitten in der Bewegung des Aufstehensinnehielten, der eine noch gebückt und der andere auf denKnien. »Trollocs? Habt ihr Trollocs innerhalb der Mauerngesehen?«

Rand schluckte. »Keine Trollocs«, sagte er, und dannbegannen alle drei auf einmal, aufgeregtdurcheinanderzusprechen.

Jeder begann an einem anderen Punkt. Mat erzähltezuerst davon, wie sie den Schatz gefunden hatten, und esklang fast so, als sei es allein sein Verdienst gewesen.Perrin erklärte zuerst, warum sie sich anfangsdavongestohlen hatten, ohne jemandem Bescheid zu sagen.Rand kam gleich zu dem Punkt, der ihm wichtig erschien.Er berichtete von ihrem Treffen mit dem Fremden unterden Säulen. Aber sie waren alle derart erregt, daß keinerdie richtige Reihenfolge einhielt. Wann immer einem vonihnen etwas einfiel, sprudelte er es heraus, ohne darauf zu

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achten, was davor oder danach kam oder wer was sagte.Die Beobachter. Sie stammelten alle etwas vonBeobachtern.

Die ganze Erzählung wirkte ziemlichzusammenhanglos, aber ihre Furcht wurde trotzdemdeutlich. Egwene begann, unsicher zu den leeren Fensternan der Straßenseite hinüberzublicken. Dort draußenverblaßten die letzten Reste der Dämmerung; das Feuererschien ihnen nun sehr klein und düster. Thom nahm diePfeife aus dem Mund und lauschte mit düsterer Miene undgeneigtem Kopf. Moiraines Augen sahen besorgt drein,aber nicht zu sehr. Bis...

Plötzlich zischte die Aes Sedai und packte RandsEllenbogen ganz fest. »Mordeth! Bist du sicher, daß er sohieß? Ihr müßt euch alle jetzt ganz sicher sein. Mordeth?«

Sie murmelten im Chor ihr ›Ja‹, durch die Erregungder Aes Sedai erschreckt.

»Hat er euch berührt?« fragte sie. »Hat er euch irgendetwas gegeben, oder habt ihr etwas für ihn getan? Ich mußdas wissen!«

»Nein«, sagte Rand. »Niemand. Nichts von alledem.«Perrin nickte zustimmend und fügte hinzu: »Alles, was

er versuchte, war, uns umzubringen. Ist das nicht genug?Er schwoll an, bis er den halben Raum ausfüllte, schrie,wir seien alle tote Männer, und verschwand dann.« E rzeigte es mit einer Handbewegung an. »Wie Rauch.«Egwene kreischte auf. Mat drehte sich gereizt ab. »Sicher,habt Ihr gesagt! All das Gerede, die Trollocs kämen nichthierher. Was sollten wir denn sonst denken?«

»Offensichtlich habt ihr überhaupt nicht gedacht«, sagtesie wieder ganz kühl und beherrscht. »Jeder mit einbißchen Verstand würde sich an einem Ort vorsehen, denselbst Trollocs aus Angst nicht zu betreten wagen.«

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»Mats Verdienst«, sagte Nynaeve mit Sicherheit in derStimme. »Er überredet sie immer zu irgendwelchemBlödsinn, und die anderen schalten das bißchen Verstand,das sie haben, ab, wenn sie bei ihm sind.«

Moiraine nickte kurz, doch ihre Augen ruhten weiterauf Rand und seinen beiden Freunden. »Gegen Ende derTrolloc-Kriege lagerte eine Armee in diesen Ruinen –Trollocs, Schattenfreunde, Myrddraal, Schattenlords, vieleTausende. Als sie nicht mehr herauskamen, schickte manKundschafter hinter die Mauern. Die Kundschafter fandenWaffen, Teile von Rüstungen und überall Blutspritzer.Und Botschaften in der Trolloc-Sprache, die in die Wändegekratzt waren, Gebete an den Dunklen König, er mögeihnen in ihrer letzten Stunde helfen. Männer, die späterdorthin kamen, fanden keine Spur mehr von Blut odervon den Botschaften. Alles war entfernt worden.Halbmenschen und Trollocs denken noch immer daran.Das hält sie von diesem Ort fern.«

»Und den habt Ihr erwählt, um uns zu verstecken?«fragte Rand ungläubig. »Wir wären sicherer dort draußenbei dem Versuch, ihnen davonzulaufen.«

»Wenn ihr nicht davongerannt wärt«, sagte Moirainegeduldig, »hättet ihr erfahren, daß ich um dieses Gebäudeherum Amulette plaziert habe. Ein Myrddraal würde nochnicht einmal wissen, daß sich diese Amulette hierbefinden, denn sie sollen eine andere Form des Bösenaufhalten, aber was sich hier in Shadar Logoth befindet,wird sie nicht überschreiten oder ihnen auch nur nahekommen. Am Morgen wird es sicher genug sein, daß wirgehen können – diese Dinge können das Sonnenlicht nichtertragen. Sie werden sich tief in der Erde verstecken.«

»Shadar Logoth?« sagte Egwene unsicher. »Ich glaubte,Ihr hättet gesagt, diese Stadt hieße Aridhol.«

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»Einst wurde sie Aridhol genannt«, antworteteMoiraine, »und war eine der Zehn Nationen, der Länderdes Zweiten Paktes, der Länder, die sich von den erstenTagen nach der Zerstörung der Welt an gegen denDunklen König stellten. In den Tagen, da Thorin al Torenal Ban König von Manetheren war, war Balwen Mayel,Balwen Eisenhand, König von Aridhol. Im Aufdämmernder Verzweiflung während der Trolloc-Kriege schien es,daß der Vater der Lügen sicher gewinnen würde, und injener Zeit kam ein Mann namens Mordeth an BalwensHof.«

»Derselbe Mann?« rief Rand, und Mat sagte: »Das kannnicht sein!« Ein Blick Moiraines brachte sie zumSchweigen. Stille erfüllte den Raum, und die Stimme derAes Sedai erklang wieder. »Mordeth war noch nicht langein der Stadt, da lieh ihm der König sein Ohr, und baldwar er der zweite Mann im Staat nach Balwen. MordethsStimme war wie Gift für Balwen, und Aridhol verändertesich allmählich. Aridhol zog sich in sich selbst zurück undverhärtete. Man sagte, viele sähen noch lieber Trollocskommen als die Männer aus Aridhol. Der Sieg des Lichtsist alles, was zählt. Das war der Schlachtruf, den Mordethihnen mitgab, und die Männer von Aridhol schrien ihnhinaus, während ihre Taten dem Licht Hohn sprachen.

Die Geschichte ist zu lang, um sie ganz zu erzählen, undauch zu grausig. Nur Bruchstücke davon sind bekannt,sogar in Tar Valon. Wie Thorins Sohn Caar kam, umAridhol wieder für den Zweiten Pakt zurückzugewinnen,und wie Balwen auf seinem Thron saß, eine ausgelaugteHülle mit dem Licht des Wahnsinns, das aus den Augenleuchtete, wie er lachte und Mordeth an seiner Seitelächelte und den Tod Caars und der Abgesandten alsFreunde der Dunkelheit befahl. Wie Prinz Caar den

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Namen Caar Einhand erhielt. Wie er aus den Verließenvon Aridhol entkam und allein in die Grenzlande flüchtetemit Mordeths unnatürlichen Mördern auf den Fersen. Wieer dort Rhea traf, die nicht wußte, wer er war, und sieheiratete und damit den Faden in das Muster verwebte,der zu seinem Tod durch ihre Hand und zu ihrem eigenendurch ihre Tat vor seiner Gruft führte, und zum Fall vonAlethloriel. Wie die Armee von Manetheren anrückte, umCaar zu rächen, und die Tore von Aridhol niedergerissenfand, kein Leben mehr in seinen Mauern, aber dafüretwas, das schlimmer war als der Tod. Kein Feind warnach Aridhol gekommen, Aridhol hatte sich selbstzerstört. Aus Mißtrauen und Haß war etwas geborenworden, das die verzehrte, die es erschaffen hatten, unddas im Muttergestein unter der Stadt lebte. Mashadarwartet immer noch dort und ist hungrig. Die Menschensprachen nicht mehr von Aridhol. Sie nannten es ShadarLogoth, den Ort An-Dem-Der-Schatten-Wartet, odereinfacher: Wartende Schatten.

Nur Mordeth wurde nicht von Mashadar verzehrt, docher wurde von ihm in die Falle gelockt, und so hat auch erin diesen Mauern jahrhundertelang gewartet. Anderehaben ihn gesehen. Einige hat er durch Geschenkebeeinflußt, die den Verstand verdrehen und den Geistverderben. Diese Verderbnis nimmt zu und scheint wiederzu verschwinden, wieder und wieder, bis sie herrscht...oder tötet. Wenn er jemanden dazu bringt, ihn zu denMauern zu begleiten, zur Grenze von MashadarsMachtbereich, ist er in der Lage, die Seele dieser Personzu verzehren. Mordeth kann dann die Stadt im Körperdessen verlassen, den er nicht nur einfach getötet hat, umwieder Unheil in der Welt anzurichten.«

»Der Schatz«, stammelte Perrin, als sie schwieg. »Er

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wollte, daß wir ihm helfen, den Schatz zu seinen Pferdenzu tragen.« Sein Gesicht trug einen gequälten Ausdruck.»Ich wette, sie sollten irgendwo außerhalb der Stadtangeblich auf ihn warten.« Rand lief es kalt den Rückenhinunter. »Aber jetzt sind wir sicher, nicht wahr?« fragteMat. »Er hat uns nichts gegeben und uns auch nichtberührt. Wir sind durch die Amulette, die Ihr hinterlassenhabt, in Sicherheit, ja?«

»Wir sind sicher«, stimmte Moiraine zu. »Er kann dieAbwehrlinie nicht überschreiten, genau wie die anderenBewohner dieses Orts. Und sie müssen sich vor demSonnenlicht hüten, so daß wir hier gefahrlos weg können,sobald es Tag ist. Versucht jetzt zu schlafen. Die Amulettewerden uns beschützen, bis Lan zurückkehrt.«

»Er ist aber schon lange weg.« Nynaeve blickte besorgtin die Nacht hinaus. Es war jetzt vollkommen dunkel –pechschwarz.

»Lan geht es gut«, sagte Moiraine beruhigend undbreitete ihre Decken beim Sprechen neben dem Feuer aus.»Für ihn wurde ein Gelübde abgelegt, daß er gegen denDunklen König kämpfen müsse, noch bevor er die Wiegeverließ. Ein Schwert wurde in seine Kinderhände gelegt.Außerdem wüßte ich es im selben Augenblick, wenn erstirbt, und auch, wie er ums Leben kommt. Genausowüßte er es von mir. Ruhe dich jetzt aus, Nynaeve. Alleswird gut.« Doch als sie sich in die Decken rollte, hielt sieeinen Moment lang inne und blickte auf die Straße hinaus,als hätte auch sie gern gewußt, was den Behüter so langeaufhielt.

Rands Arme und Beine waren bleischwer, und seineAugen wollten sich immer wieder von allein schließen,und doch dauerte es eine Weile, bis er einschlief, und alses soweit war, träumte er, redete im Schlaf und strampelte

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seine Decken weg. Er erwachte dann ganz unvermitteltund sah sich einen Augenblick lang um, bevor er sichdaran erinnerte, wo er sich befand. Der Mond stand amHimmel. Es war die letzte dünne Sichel vor demNeumond. Die Nacht besiegte seinen schwachen Schein.Alle anderen schliefen noch, wenn auch manche rechtunruhig. Egwene und seine beiden Freunde wälzten sichherum und murmelten kaum hörbar im Schlaf. ThomsSchnarchen, ausnahmsweise einmal leise, wurde von Zeitzu Zeit durch halbgeformte Worte unterbrochen. Es warimmer noch keine Spur von Lan zu sehen.

Plötzlich hatte er ein Gefühl, als seien die Amuletteüberhaupt kein Schutz. Alles konnte sich dort draußen inder Dunkelheit herumtreiben. Er sagte sich, das seinärrisch, und legte frisches Holz auf die letzten Kohlendes Feuers. Es war zu klein, um viel Wärme abzugeben,aber es erzeugte mehr Licht.

Er hatte keine Ahnung, was ihn aus seinemunangenehmen Traum gerissen hatte. Er war wieder einkleiner Junge gewesen, der Tams Schwert trug und demman eine Wiege auf den Rücken geschnallt hatte, und errannte durch leere Straßen, von Mordeth verfolgt, undder schrie, er wolle nur seine Hand. Und dann war danoch ein alter Mann gewesen, der hatte sie beobachtet unddie ganze Zeit wie ein Verrückter gelacht.

Er zog seine Decken zurecht, legte sich wieder hin undblickte die Decke an. Er hätte so gerne geschlafen, selbstauf die Gefahr hin, noch mehr solche Träume wie denletzten zu erleben, doch er konnte einfach die Augen nichtschließen.

Plötzlich trat der Behüter leise aus der Dunkelheit inden Saal. Moiraine erwachte und setzte sich auf, als habeer eine Glocke geläutet. Lan öffnete die Hand; drei kleine

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Gegenstände fielen vor ihr auf die Fußbodenplatten. DasKlicken ihres Aufpralls hörte sich nach Eisen an. Eswaren drei blutrote Abzeichen in Form gehörnterSchädel.

»Es sind Trollocs innerhalb der Stadtmauern«, sagteLan. »Sie werden in wenig mehr als einer Stunde hiersein. Und die Dha'vol sind die schlimmsten unter ihnen.«Er weckte die anderen auf.

Moiraine fing ungerührt an, ihre Deckenzusammenzufalten. »Wie viele? Wissen sie, daß wir hiersind?« Sie klang, als habe sie es gar nicht eilig.

»Ich glaube nicht«, antwortete Lan. »Es sind guthundert, und sie haben solche Angst, daß sie alles tötenwürden, was sich bewegt, einschließlich anderer Trollocs.Die Halbmenschen müssen sie mühsam vorwärts treiben –vier, um nur eine Handvoll zu befehligen –, und selbst dieMyrddraal scheinen sich nichts sehnlicher zu wünschen,als die Stadt so schnell wie möglich zu durchqueren unddann wieder zu verlassen. Sie weichen nicht von ihremeingeschlagenen Weg ab, um nach uns zu suchen, und siesind so nachlässig! Wenn sie nicht geradewegs auf unszumarschierten, würde ich sagen, wir müßten unskeinerlei Sorgen machen.« Er zögerte.

»Gibt es noch etwas?«»Nur soviel«, sagte Lan bedächtig. »Die Myrddraal

zwangen die Trollocs in die Stadt hinein. Was hat dieMyrddraal gezwungen?«

Alle hatten schweigend gelauscht. Jetzt fluchte Thomleise vor sich hin, und Egwene hauchte eine Frage: »DerDunkle König?«

»Sei kein Narr, Mädchen«, fauchte Nynaeve. »DerDunkle König liegt in Shayol Ghul in Ketten, wo ihn derSchöpfer gefangennahm.«

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»Im Augenblick jedenfalls«, stimmte Moiraine zu.»Nein, der Vater der Lügen ist nicht dort draußen, aberwir müssen in jedem Fall fort.«

Nynaeve blickte sie scharf an. »Den Schutz derAmulette verlassen und Shadar Logoth bei Nachtdurchqueren.«

»Oder hier bleiben und uns den Trollocs stellen«, sagteMoiraine. »Sie von hier fernzuhalten, das könnte nur mitHilfe der Einen Macht geschehen. Das würde die Amulettezerstören und genau das anlocken, wogegen sie unsschützen sollen. Außerdem könnten wir dann gleich aufeinem der Türme ein Leuchtfeuer entzünden, das jederHalbmensch auf zwanzig Meilen Umkreis sieht. Ich rennenicht gern weg, doch wir sind die Hasen, und die Hundebestimmen die Jagd.«

»Was ist, wenn außerhalb der Mauern noch mehrwarten?« fragte Mat. »Was machen wir dann?«

»Wir werden uns an meinen ursprünglichen Planhalten«, sagte Moiraine. Lan sah sie an. Sie hob eine Handund fügte hinzu: »Ich war nur zu müde, um mich vorherschon daran zu halten. Aber nun bin ich dank der Seherinausgeruht. Wir machen uns auf den Weg zum Fluß. Dortwird uns das Wasser den Rücken decken, und ich kann einkleineres Amulett anfertigen, das die Trollocs undHalbmenschen abhält, bis wir Flöße gebaut und den Flußüberquert haben. Oder was noch besser wäre: Vielleichtkönnen wir uns einem Händlerboot bemerkbar machen,das von Saldaea herunterkommt, und mitfahren.«

Die Gesichter der Emondsfelder drücktenUnverständnis aus. Lan bemerkte das.

»Trollocs und Myrddraal verabscheuen tiefes Wasser.Trollocs haben schreckliche Angst davor. Keiner vonihnen allen kann schwimmen. Ein Halbmensch watet

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höchstens durch hüfthohes Wasser, vor allem, falls eineStrömung herrscht. Trollocs machen noch nicht einmaldas, wenn sie es vermeiden können.«

»Also sind wir in Sicherheit, sobald wir über den Flußkommen«, sagte Rand, und der Behüter nickte.

»Die Myrddraal werden beinahe genauso großeSchwierigkeiten damit haben, die Trollocs Flöße bauen zulassen, wie damit, sie nach Shadar Logothhineinzubringen, und wenn sie trotzdem versuchen, sie aufdiesem Weg über den Arinelle zu bringen, dann läuftihnen die Hälfte weg, und der Rest wird vermutlichertrinken.«

»Auf die Pferde«, sagte Moiraine. »Wir sind noch nichtüber den Fluß.«

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KAPITEL 20

Wie Staub im Wind

Als sie das weiße Steingebäude auf ihren nervöstänzelnden Pferden verließen, kam der eisige Wind inBöen, seufzte über die Dächer, peitschte Umhänge wieFlaggen und trieb dünne Wolkenfetzen über die feineSichel des Mondes. Nach einem leisen Befehl, nahebeieinander zu bleiben, führte Lan sie die Straße hinunteran. Die Pferde bewegten sich unruhig und zogen an ihrenZügeln. Sie wollten schnell weg von diesem Ort.

Rand lugte mißtrauisch hinauf zu den Gebäuden, andenen sie vorbeikamen. Sie ragten hoch in die Nachthinein, und ihre leeren Fenster wirkten wie dieAugenhöhlen eines Schädels. Schatten schienen sich zubewegen. Gelegentlich hörte man etwas klappern – Schutt,den der Wind zum Abrutschen gebracht hatte. Wenigstenssind die Augen weg. Es war nur eine kurze Erleichterung,die er da spürte. Warum sind sie weg?

Thom und die Emondsfelder hielten sich dichtbeieinander. Sie waren sich so nahe, daß sie sich fastberühren konnten. Egwenes Schultern waren eingezogen,als bemühe sie sich, den Hufschlag Belas auf dem Pflasternoch leichter zu machen. Rand hätte am liebsten gar nichtgeatmet. Geräusche könnten die Aufmerksamkeit auf sielenken. Plötzlich wurde ihm klar, daß sich vor ihnen eineLücke aufgetan hatte, die sie von dem Behüter und derAes Sedai trennte. Die beiden waren nur als undeutlicheGestalten gute dreißig Schritte vor ihnen zu erkennen.

»Wir bleiben zurück«, murmelte er und klatschte mit

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den Stiefeln auf Wolkes Flanken, um diesen zu einerschnelleren Gangart zu bewegen. Ein dünner, silbergrauerNebelfaden trieb in geringer Höhe über die Straße vorihm. »Halt!« Das kam als ein unterdrückter Schrei vonMoiraine, scharf und dringlich, aber so gehalten, daß ernicht weit hörbar war.

Unsicher hielt er Wolke an. Der Nebelsplitter lag nunquer über der Straße und wurde langsam dicker, alsquölle immer mehr davon aus den Gebäuden zu beidenSeiten der Straße. Jetzt war er so dick wie der Arm einesausgewachsenen Mannes. Wolke wieherte leise undversuchte, nach hinten auszuweichen, während Egweneund Thom und die anderen sie einholten. Auch ihrePferde warfen die Köpfe hoch und wehrten sich dagegen,dem Nebel zu nahe zu kommen.

Lan und Moiraine ritten langsam auf den Nebel zu, dermittlerweile so stark wie ein Bein geworden war, undhielten dann auf der gegenüberliegenden Seite in einigemAbstand an. Die Aes Sedai betrachtete den Nebelarm, dersie trennte, ganz genau. Rand zuckte nervös, als sichzwischen seinen Schulterblättern ein Juckreiz, wohl ausAngst, bemerkbar machte. Der Nebel wurde von einemschwachen Leuchten umgeben, dessen Helligkeit zunahm,als der neblige Tentakel fetter wurde. Aber das Leuchtenwar trotzdem nicht viel stärker als der Mondschein. DiePferde waren unruhig; sogar Aldieb und Mandarb.

»Was ist das?« fragte Nynaeve.»Das Böse an Shadar Logoth«, antwortete Moiraine.

»Mashadar. Es sieht nichts, denkt nicht und bewegt sichgenauso ziellos durch die Stadt wie ein Wurm sich durchden Boden bohrt. Wenn es dich berührt, mußt dusterben.« Rand und die anderen ließen schnell ihre Pferdeein paar Schritte rückwärtstänzeln, aber nicht zu weit. So

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sehr sich Rand auch wünschte, die Aes Sedai los zu sein:Verglichen mit dem, was da vor ihnen lag, wirkte sie wieein Hort der Sicherheit.

»Wie sollen wir dann zu Euch hinüberkommen?« fragteEgwene. »Könnt Ihr es töten... den Weg freimachen?«

Moiraines Lachen klang bitter und war kurz.»Mashadar ist riesengroß, Mädchen, so groß wie ShadarLogoth selbst. Der ganze Weiße Turm könnte es nichttöten. Wenn ich es in dem Maße verletze, wie es nötig ist,um Euch herüberkommen zu lassen, dann würde dieverbrauchte Menge der Einen Macht wie ein Signalfeuerdie Halbmenschen anlocken. Und Mashadar würdeherbeistürzen, um den Schaden, den ich angerichtet hätte,zu heilen und uns vielleicht in seinem Netz zu fangen.«

Rand tauschte einen Blick mit Egwene und stellte dannihre Frage nochmals. Moiraine seufzte, bevor sieantwortete.

»Es gefällt mir nicht, aber was sein muß, muß sein.Dieses Ding wird sich nicht überall oben aufhalten.Andere Straßen sollten frei sein. Seht Ihr diesen Stern?«Sie drehte sich im Sattel herum und deutete auf einenroten Stern, der sich in niedriger Höhe am Osthimmelzeigte. »Haltet auf diesen Stern zu, und er wird Euch zumFluß führen. Was auch geschieht, ihr müßt versuchen, denFluß zu erreichen. Reitet so schnell Ihr könnt, doch machtvor allem keinen Lärm. Die Trollocs sind auch noch da,denkt daran. Und vier Halbmenschen.«

»Aber wie finden wir Euch wieder?« wandte Egweneein.

»Ich werde Euch finden«, sagte Moiraine. »Ihr könntsicher sein, daß ich Euch finden kann. Jetzt reitet los.Dieses Ding hat wohl überhaupt keinen Verstand, aber eskann die Anwesenheit von Futter fühlen.« Tatsächlich

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hatten sich silbergraue Fäden aus dem größerenNebelkörper gelöst. Sie trieben, die Richtung ständigwechselnd, durch die Luft wie die Tentakel einesHundertarms am Grund eines Wasserwald-Teiches.

Als Rand von dem dicken Strang durchscheinendenNebels aufblickte, waren der Behüter und die Aes Sedaifort. Er leckte sich die Lippen und sah seinen Gefährten indie Augen. Sie waren genauso nervös wie er. Und nochschlimmer: Sie schienen alle darauf zu warten, daß einervon ihnen die Führung übernahm. Nacht und Ruinenumgaben sie. Dort draußen irgendwo waren die Blassenund die Trollocs; vielleicht schon hinter der nächstenEcke. Die Nebel-Tentakel trieben heran, waren schon aufhalbem Weg zu ihnen und suchten nicht länger. Sie hattenihre Beute ausgemacht. Plötzlich vermißte er Moirainesehr.

Alle saßen immer noch auf den Pferden undbeobachteten und fragten sich, welchen Weg sie wählensollten. Er drehte Wolke um, und der Graue verfiel ineinen leichten Trab. Er wehrte sich gegen die Zügel undwollte schneller rennen. Als habe ihn die Tatsache, daß erdie Initiative ergriffen hatte, zu ihrem Anführer gemacht,folgten ihm alle.

Da Moiraine nicht dabei war, hatten sie niemanden, dersie beschützen konnte, sollte Mordeth wieder auftauchen.Und die Trollocs. Und... Rand zwang sich dazu, nichtmehr nachzugrübeln. Er würde dem roten Stern folgen.An den Gedanken konnte er sich klammern.

Dreimal mußten sie umkehren und sich einen neuenWeg suchen. Jedesmal war eine Straße komplett durcheinen Schutthügel und lose Steine blockiert. Die Pferdekonnten diese Hindernisse nicht überwinden. Rand konntedas Atmen der anderen hören; kurz und abgehackt, der

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Panik nahe. Er biß die Zähne zusammen, damit man seinSchnaufen nicht hörte. Du mußt sie wenigstens glaubenmachen, daß du keine Angst hast. Du leistest gute Arbeit,Wollkopf. Du wirst alle sicher hinausbringen.

Sie kamen um die nächste Ecke. Eine Nebelwandübergoß das zerborstene Pflaster mit einem Leuchten, dasso hell war wie das des Vollmonds. Nebelfinger, so starkwie der Leib ihrer Pferde, lösten sich und trieben auf siezu. Niemand wartete. Sie wirbelten herum undgaloppierten in einer engen Traube los, ohne auf dasKlappern der Hufe zu achten.

Zwei Trollocs traten vor ihnen auf die Straße, keinezehn Spannen entfernt.

Einen Augenblick lang starrten sich Menschen undTrollocs nur gegenseitig entgeistert an. Einer warüberraschter als der andere. Ein weiteres Paar Trollocserschien und noch eines und noch eines. Die hinterenrempelten die vor ihnen Stehenden an, und es entstandeine durch den Anblick der Menschen erschreckte Menge.Allerdings erstarrten sie eben nur diesen Augenblick lang.Kehliges Heulen hallte von den Gebäuden wider, und dieTrollocs stürmten vorwärts. Die Menschen stobenauseinander wie aufgescheuchte Hühner. Rands Grauerbrauchte nur drei Schritte, um in vollem Galopploszujagen. »Hier entlang!« schrie er, doch er hörte dengleichen Ruf aus fünf weiteren Kehlen. Ein hastiger Blicknach hinten zeigte ihm, daß seine Begleiter jeder in eineandere Richtung verschwanden. Trollocs verfolgten alle.

Drei Trollocs blieben ihm auf den Fersen. Ihreschlingenbewehrten Stangen wedelten durch die Luft. Ihmsträubten sich die Haare, als er erkannte, daß sie Schrittfür Schritt mit Wolke mithalten konnten. Er beugte sichtief über Wolkes Hals und trieb den Grauen voran, von

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kehligen Schreien gejagt.Voraus verengte sich die Straße. Gebäude mit

eingestürzten Dächern neigten sich gefährlich zur Straßehin. Langsam füllten sich die leeren Fenster mit silbrigemLeuchten. Ein dichter Dunst schob sich aus ihnen hervor.Mashadar.

Rand riskierte einen weiteren Blick zurück. DieTrollocs rannten ihm immer noch in etwa fünfzigSchritten Abstand hinterher; das Leuchten des Nebelsreichte aus, um sie deutlich zu sehen. Hinter ihnen ritt nunein Blasser, und sie schienen im gleichen Maße vor demHalbmenschen zu fliehen, wie sie Rand verfolgten. EinStück vor Rand schob sich ein halbes Dutzend grauerFühler schwankend aus den Fenstern, dann ein Dutzend.Sie prüften die Luft. Wolke warf den Kopf hoch undwieherte, doch Rand hieb ihm brutal die Fersen in dieFlanken, und das Pferd stürmte wild vorwärts.

Die Fühler versteiften sich, als Rand zwischen ihnenhindurchgaloppierte, aber er beugte sich tief über WolkesHals und weigerte sich, sie anzusehen. Der Weg dahinterwar frei. Wenn einer davon mich berührt... Licht! Er ließWolke noch härter die Stiefel fühlen, und das Pferdsprang vorwärts in die willkommenen Schatten hinein. Invollem Galopp blickte Rand zurück, sobald das LeuchtenMashadars nachließ.

Die schwankenden grauen Fühler Mashadarsversperrten die halbe Straße, und die Trollocs wichenzurück, doch der Blasse riß eine Peitsche von seinemSattelhorn und ließ sie wie einen Blitz über den Köpfender Trollocs knallen. Funken stoben durch die Luft. DieTrollocs krümmten sich zusammen und stürmten wiederhinter Rand her. Der Halbmensch zögerte. Die schwarzeKapuze betrachtete Mashadars ausgestreckte Arme, bevor

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auch er seinem Pferd die Sporen gab.Die sich verstärkenden Nebeltentakel schwangen einen

Augenblick lang unsicher hin und her, und dann schlugensie wie Vipern zu. Mindestens zwei saugten sich an jedemder Trollocs fest und übergossen sie mit grauemLeuchten; schnauzenbewehrte Köpfe legten sich in dieNacken, um zu heulen, doch der Nebel rollte in diegeöffneten Mäuler und verschlang das Heulen. Vierbeinstarke Tentakel wickelten sich um den Blassen, undder Halbmensch und auch sein Pferd wanden sich wie imTanz, bis die Kapuze zurückfiel und das blasse, augenloseGesicht enthüllte. Der Blasse kreischte.

Das Kreischen war völlig lautlos, genau wie bei denTrollocs, aber etwas kam doch durch: eindurchdringendes Schrillen gerade jenseits desHörbereichs, wie das Surren aller Hornissen der Weltzusammengenommen, das in Rands Ohren drang und inihm ein Höchstmaß an Angst erzeugte. Wolke krümmtesich, als habe auch er den Laut gehört, und er galoppiertenoch schneller als zuvor. Rand hielt sich ächzend fest.Seine Kehle war trocken wie Sand.

Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er den lautlosenTodesschrei des Blassen nicht mehr hören konnte, undplötzlich kam ihm das Hufegeklapper so laut vor, als ob erschrie. Er riß an den Zügeln, und Wolke blieb an einerzerbröckelnden Mauer stehen, genau an einerStraßenkreuzung. Ein namenloses Standbild erhob sichvor ihm in der Dunkelheit. Im Sattel zusammengesunken,lauschte er, aber es gab nichts zu hören als das Blut, das inseinen Schläfen pochte. Kalter Schweiß lief ihm über dieStirn, und er zitterte vor Kälte, als der Wind seinenUmhang flattern ließ.

Schließlich richtete er sich wieder auf. Sterne glitzerten

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am Himmel, wo sie nicht von den Wolken verdecktwurden, und der rote Stern, der so niedrig im Ostenstand, war leicht auszumachen. Lebt sonst noch irgendjemand, der ihn sehen kann? Waren sie frei oder denTrollocs in die Hände gefallen? Egwene, Licht blendemich, warum bist du mir nicht gefolgt? Wenn sie amLeben und frei waren, würden sie diesem Stern folgen.Wenn nicht... Die Ruinenfelder waren ausgedehnt. E rkönnte tagelang suchen, ohne jemanden zu finden, falls ersich von den Trollocs fernhalten konnte. Und von denBlassen und Mordeth und Mashadar. Zögernd entschloß ersich, zum Fluß zu reiten.

Er ergriff die Zügel. Auf der Querstraße fiel ein Steinmit einem scharfen Klicken auf einen anderen. E rerstarrte; atmete nicht einmal. Er war im Schattenverborgen, nur einen Schritt von der Ecke entfernt.Verzweifelt überlegte er, ob er nach hinten ausweichensollte. Aber was befand sich hinter ihm? Was konntevielleicht ein Geräusch verursachen und ihn damitverraten? Er konnte sich an nichts erinnern und fürchtetesich davor, den Blick von der Ecke des Gebäudes zuwenden.

Die Dunkelheit an der Ecke beulte sich aus, und dielängere Dunkelheit einer Stange stach daraus hervor. EineSchlaufenstange! Im selben Moment, als dieser Gedankedurch Rands Kopf fuhr, hieb er auch schon Wolke dieFersen in die Flanken, und das Schwert flog aus seinerScheide. Sein Angriff wurde von einem wortlosen Schreibegleitet, und er schwang das Schwert mit aller Kraft.Nur mit einer verzweifelten Anstrengung hielt er dasSchwert zurück, bevor es auftraf. Mit einem Aufschreitaumelte Mat rückwärts, fiel beinahe vom Pferd undverlor fast seinen Bogen.

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Rand atmete tief durch und senkte das Schwert. SeinArm zitterte. »Hast du sonst noch jemanden gesehen?«brachte er heraus.

Mat schluckte schwer, bevor er sich wieder unbeholfenin den Sattel zog. »Ich... ich... Nur Trollocs.« Er legteeine Hand an seine Kehle und leckte sich die Lippen. »NurTrollocs. Und du?«

Rand schüttelte den Kopf. »Sie werden versuchen, denFluß zu erreichen. Wir sollten das auch tun.« Mat nickteschweigend, wobei er immer noch über seine Kehle strich,und sie starrten den roten Stern an. Bevor sie auch nurhundert Spannen weit gekommen waren, hörten sie denschrillen Ruf eines Trolloc-Horns hinter ihnen in denTiefen der Stadt. Ein anderes antwortete von außerhalbder Stadtmauer.

Rand zitterte, doch er behielt die langsame Gangart beiund beobachtete die dunkleren Stellen, um sie nachMöglichkeit zu umgehen. Nach einem Ruck an seinenZügeln, so, als ob er weggaloppieren wolle, tat Mat es ihmnach.

Keines der Hörner erklang nochmals, und so kamen siein völliger Stille an eine Öffnung in der von Rankenüberwachsenen Mauer, wo sich einst ein Tor befundenhatte. Nur die Türmchen waren geblieben und ragten nunmit abgebrochenen Spitzen in den schwarzen Himmel.

Mat zögerte an diesem Tor, doch Rand sagte leise: »Istes hier drinnen sicherer als dort draußen?« Er ließ denGrauen weiterschreiten, und nach einem Augenblickfolgte Mat ihm aus Shadar Logoth hinaus. Er versuchtewieder, nach allen Richtungen gleichzeitig zu schauen.Rand stieß die Luft langsam aus; sein Mund war trocken.Wir werden es schaffen. Licht, wir schaffen es!

Die Mauern verschwanden hinter ihnen, wurden von

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der Nacht und dem Wald verschluckt. Rand lauschte aufdas kleinste Geräusch und behielt immer den roten Sternvor sich. Plötzlich galoppierte Thom von hinten her anihnen vorbei. Er verlangsamte sein Tempo nur langgenug, um zu rufen: »Reitet, ihr Narren!« EinenAugenblick später verrieten Jagdrufe und Krachen imUnterholz hinter ihm die Anwesenheit von Trollocs, dieihn verfolgten.

Rand gab Wolke die Fersen, und das Pferd galoppiertehinter dem Wallach des Gauklers her. Was geschieht,wenn wir ohne Moiraine an den Fluß kommen? Licht,Egwene!

Perrin saß im Schatten auf seinem Pferd, beobachteteden offenen Torbogen, der sich in geringer Entfernungzeigte, und fuhr abwesend mit dem Daumen an derSchneide seiner Axt entlang. Er schien einenungehinderten Weg aus der Ruinenstadt zu bieten, dochnun saß er schon fünf Minuten lang hier und hieltAusschau. Der Wind spielte mit seinen verfilzten Lockenund bemühte sich, seinen Umhang wegzuwehen, aber erzog ihn wieder um sich herum zusammen, ohne eigentlichzu bemerken, was er tat.

Er wußte, daß Mat und die meisten anderen Leute inEmondsfeld ihn für ziemlich langsam im Denken hielten.Zum Teil kam das daher, weil er so groß war und sichnormalerweise bedächtig bewegte – er fürchtete immer,aus Versehen etwas zu zerbrechen oder jemanden zuverletzen, da er um so vieles größer war als die Jungen,mit denen er aufwuchs –, aber er zog es wirklich vor, dieDinge folgerichtig zu durchdenken, wenn er die Zeithatte. Vorschnelle, leichtsinnige Entschlüsse hatten Matein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht, und MatsBlitzentscheidungen hatten gewöhnlich Rand oder ihn oder

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sie beide mit in den Schlamassel hineingezogen. Sein Halszog sich zusammen. Licht, jetzt bloß nicht sovielnachdenken! Er versuchte, sich wieder zu beruhigen.Sorgfältiges Überlegen war angesagt. Vor dem Tor hattesich einst ein großer Platz befunden, in dessen Mitte einriesiger Brunnen stand. Ein Teil des Brunnens war nochvorhanden; eine Gruppe abgebrochener Statuen stand ineinem großen, runden Becken. Auch die Einfassungaußenherum war rund. Um das Tor zu erreichen, mußteer fast einhundert Spannen weit reiten, nur durch dieNacht vor den Augen von Beobachtern geschützt. Auchdas war kein angenehmer Gedanke. Er erinnerte sich nochzu gut an die unsichtbaren Beobachter.

Er dachte an die Hörner, die er kurze Zeit zuvor in derStadt gehört hatte. Beinahe wäre er zurückgeritten beidem Gedanken daran, daß vielleicht einige der anderengefangengenommen worden waren, doch dann wurde ihmklar: In diesem Fall konnte er allein nichts ausrichten.Nicht gegen – was sagte Lan? – hundert Trollocs und vierBlasse. Moiraine Sedai sagte, wir sollten zum Flußkommen.

Er wandte sich wieder dem Torbogen zu. SorgfältigesNachdenken hatte ihn nicht weitergebracht, doch seinEntschluß stand nun fest. Er ritt aus dem tieferen Schattenin die etwas lichtere Dunkelheit. In dem Moment erschienauf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein anderesPferd und verharrte. Er blieb ebenfalls stehen und fühltenach seiner Axt; ein besonderes Gefühl der Sicherheitverlieh sie ihm allerdings nicht. Falls diese dunkle Gestaltein Blasser war...

»Rand?« erklang ein leiser, zögernder Ruf.Er atmete langsam und erleichtert aus. »Hier ist Perrin,

Egwene«, rief er genauso leise zurück. In der Dunkelheit

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klang es immer noch zu laut. In der Nähe des Brunnenstrafen sich die Pferde. »Hast du noch jemand anderesgesehen?« fragten sie beide gleichzeitig, und beideantworteten mit einem Kopfschütteln.

»Es wird ihnen schon gut gehen«, meinte Egwene undtätschelte Belas Hals. »Oder?«

»Moiraine Sedai und Lan werden sich um siekümmern«, erwiderte Perrin. »Sie werden sich um unsalle kümmern, sobald wir den Fluß erreichen.« Er hofftees zumindest.

Er fühlte sich erleichtert, als sie sich auf der anderenSeite des Torbogens befanden, selbst wenn sich wirklichTrollocs im Wald aufhielten. Oder Blasse. Er unterbrachdiesen Gedankengang. Die kahlen Äste konnten nichtverhindern, daß er auf den roten Stern zuhielt, und letztenEndes befanden sie sich nun außerhalb der Reichweite vonMordeth. Der hatte ihm mehr Angst eingejagt als alleTrollocs zuvor.

Bald würden sie den Fluß erreichen und Moirainetreffen, und sie würde sie auch aus der Reichweite derTrollocs hinausbringen. Daran glaubte er, weil er diesenGlauben einfach brauchte. Der Wind ließ Ästegegeneinanderknirschen und die Blätter rascheln. Dereinsame Ruf eines Nachtfalken schallte durch dieDunkelheit, und Egwene und er brachten ihre Pferdenäher aneinander, als suchten sie Wärme. Sie waren sehrallein.

Ein Trolloc-Horn erklang irgendwo hinter ihnen –schnelle, klagende Töne – und forderte die Jäger zur Eileauf. Dann ertönte kehliges, halbmenschliches Heulen aufihrer Spur, vom Horn angetrieben. Das Heulen wurdeschärfer im Tonfall, als ihre Verfolger den Geruch vonMenschen wahrnahmen.

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Perrin ließ sein Pferd galoppieren und rief: »Komm!Los!« Egwene kam, und beide gaben ihren Pferden dieFersen, ohne auf das Geräusch der Hufe oder die Äste zuachten, die ihnen ins Gesicht klatschten.

Als sie so zwischen den Bäumen hindurchgaloppierten,gleichermaßen von ihrem Instinkt wie von dem düsterenMondlicht geleitet, fiel Bela zurück. Perrin blickte nachhinten. Egwene trat die Stute und ließ die Zügel auf denHals des Tieres klatschen, aber es half nicht viel. DenGeräuschen nach zu urteilen, kamen die Trollocs näher.Er ließ sein Pferd langsamer galoppieren, um sie nichtzurückzulassen. »Beeil dich!« schrie er. Er konnte dieTrollocs nun erkennen, riesige, dunkle Gestalten, diezwischen den Bäumen einhersprangen und bellten undfauchten, daß einem das Blut gefrieren konnte. Er packteden Griff seiner Axt, die am Gürtel hing, so fest, daßseine Knöchel schmerzten. »Schnell, Egwene! Schnell!«

Plötzlich wieherte sein Pferd, und er stürzte, taumelteaus dem Sattel, als das Pferd unter ihm plötzlichwegsackte. Er breitete die Arme aus, um sich abzufangen,und klatschte mit dem Kopf voraus in eiskaltes Wasser. E rwar geradewegs über die Kante einer steilen Klippe in denArinelle geritten.

Der Schock des eisigen Wassers ließ ihn keuchen, under schluckte eine ganze Menge, bevor er es schaffte, sichwieder an die Oberfläche zu kämpfen. Das andereKlatschen fühlte er mehr, als daß er es hörte. Er glaubte,Egwene müsse gleich nach ihm in den Fluß gestürzt sein.Schnaufend und prustend trat er Wasser. Es war nichtleicht, an der Oberfläche zu bleiben; Mantel und Umhangwaren bereits durchnäßt, und seine Stiefel hatten sich mitWasser gefüllt. Er sah sich nach Egwene um, doch erkonnte nur das Glitzern des Mondscheins auf dem vom

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Wind gerippten schwarzen Wasser erkennen.»Egwene? Egwene!«Ein Speer huschte gerade vor seinen Augen vorbei und

spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Weitere klatschten umihn herum ins Wasser. Kehlige Stimmen stritten sich amUfer herum, und es kamen keine Trolloc-Speere mehrgeflogen, aber er gab es fürs erste auf, nach Egwene zurufen.

Die Strömung trieb ihn flußabwärts, aber diegurgelnden Rufe und das Fauchen folgten ihm am Ufer,hielten Schritt mit ihm. Er löste seinen Umhang undüberließ ihn dem Fluß – ein bißchen weniger Gewicht, dasihn hinunterziehen konnte. Verbissen begann er, auf dasentfernte Ufer zuzuschwimmen. Dort waren keineTrollocs – hoffte er.

Er schwamm so, wie sie es zu Hause in den Seen desWasserwalds taten, zog beide Arme durchs Wasser undschlug kräftig mit beiden Beinen aus, wobei der Kopf ausdem Wasser schaute. Zumindest versuchte er, den Kopfüber Wasser zu halten; es war nicht leicht. Auch ohneseinen Umhang schienen Mantel und Stiefel zusammengenausoviel zu wiegen wie er selbst. Und die Axt zerrte anseiner Hüfte. Sie drohte, ihn herumzudrehen oder garhinunterzuziehen. Er spielte mit dem Gedanken, sie auchdem Fluß zu opfern; mehrmals ging ihm das durch denKopf. Es wäre leicht, viel leichter, als sich beispielsweisedie Stiefel abzustreifen. Aber jedesmal, wenn ihm dieserGedanke kam, stellte er sich vor, wie er auf das andereUfer kroch und lauernden Trollocs in die Hände fiel. DieAxt könnte ihm im Kampf gegen ein halbes DutzendTrollocs kaum viel helfen – vielleicht noch nicht einmalgegen einen –, aber es war immer noch besser, als mitbloßen Händen zu kämpfen.

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Nach einer Weile war er sich nicht mehr sicher, ob erdie Axt überhaupt noch schwingen konnte, falls dortTrollocs wären. Seine Arme und Beine wurdenbleischwer; es kostete Mühe, sie zu bewegen, und seinGesicht hob sich nicht mehr bei jedem Armzug aus demWasser. Er hustete, als ihm Wasser in die Nase kam. KeinVergleich mit einem Tag in der Schmiede, dachte ererschöpft, und in diesem Augenblick traf sein Fuß aufirgend etwas Festes. Erst beim nächsten Schwimmzugerkannte er, was es gewesen war: der Grund. Er war inseichtem Wasser. Er war am anderen Ufer angelangt.

Er holte durch den Mund Luft und versuchte, zustehen. Als seine Beine fast versagten, mußte er um sichschlagen. Er fuchtelte herum, bis er die Axt aus ihrerSchlaufe hatte, und stieg aus dem Fluß. Er zitterte imWind. Trollocs sah er nicht. Er sah auch Egwene nicht.Nur ein paar vereinzelte Bäume am Ufer und einenStreifen Mondlicht auf dem Wasser.

Als er wieder zu Atem gekommen war, rief er wiederund wieder die Namen seiner Freunde. Schwach hörbareRufe von der anderen Seite her antworteten ihm; sogarauf diese Entfernung konnte er die harten Stimmen vonTrollocs erkennen. Seine Freunde antworteten dagegennicht.

Der Wind frischte auf. Sein Heulen übertönte dieTrollocs, und er zitterte. Es war nicht kalt genug, um dasWasser in seiner durchnäßten Kleidung gefrieren zulassen, aber er fühlte sich trotzdem so; der Wind schnittihm mit einer eisigen Klinge bis auf die Knochen. DieArme fest um den Oberkörper zu schlingen war nur eineGeste, die das Zittern nicht verhindern konnte. Einsamund müde erkletterte er die Uferböschung, um einenSchutz vor dem Wind zu suchen.

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Rand tätschelte Wolkes Hals und flüsterte beruhigend aufihn ein. Das Pferd warf den Kopf hoch und tänzelteleichtfüßig. Die Trollocs hatten sie hinter sich gelassen –so schien es jedenfalls –, aber Wolke spürte ihren Geruchnoch in seinen Nüstern. Mat ritt mit einem Pfeil auf derSehne und hielt Ausschau, um nicht aus der Nacht herausüberrascht zu werden, während Rand und Thom durch dieZweige spähten und nach dem roten Stern suchten, derihnen die Richtung wies. Ihn im Auge zu behalten, wartrotz der dichten Zweige über ihren Köpfen einigermaßenleicht gewesen, jedenfalls solange sie geradewegs auf ihnzu ritten. Aber dann waren weitere Trollocs vor ihnenaufgetaucht, und so galoppierten sie zur Seite weg; gefolgtvon zwei heulenden Horden. Die Trollocs konnten miteinem Pferd Schritt halten, aber nur etwa hundertSchritte, und so ließen sie schließlich die Verfolger unddas Heulen hinter sich. Doch bei all dem Zickzackreitenhatten sie ihren Leitstern aus den Augen verloren.

»Ich behaupte immer noch, er ist dort drüben«, sagteMat und zeigte nach rechts. »Wir sind am Ende nachNorden geritten, und das bedeutet, wir müssen uns jetzt inöstliche Richtung halten.«

»Da ist er«, sagte Thom plötzlich. Er deutete zwischenden verschlungenen Zweigen zu ihrer Linken hindurchgenau auf den roten Stern. Mat fluchte unterdrückt.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Rand die Bewegung,als ein Trolloc lautlos hinter einem Baum hervorsprangund seine Schlaufenstange schwang. Rand gab seinemPferd die Fersen, und der Graue sprang vorwärts, geradeals zwei weitere aus dem Schatten hinter dem erstenherausstürmten. Eine Schlinge strich über Rands Nackenund jagte ihm einen Schauder über den Rücken.

Eine der Tierfratzen hatte plötzlich einen Pfeil im

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Auge, und dann war Mat an seiner Seite, als die Pferdedurch den Wald galoppierten. Sie ritten auf den Fluß zu,das wurde ihm schnell klar, aber er war sich nicht sicher,ob ihnen das helfen wurde. Die Trollocs hetzten hinterihnen her. Sie waren fast schon nahe genug, um nach denflatternden Pferdeschwänzen zu greifen. Wenn sie nocheinen halben Schritt aufholten, dann konnten sie sie beidemit ihren Fangstangen aus den Sätteln holen.

Er beugte sich tief über den Hals des Grauen, um mehrAbstand zwischen seinen Hals und die Schlingen zubringen. Mats Gesicht war beinahe in der Mähne seinesPferdes vergraben. Aber Rand fragte sich, wo Thomabgeblieben war. Hatte sich der Gaukler überlegt, daß erallein auf sich gestellt besser dran war, da alle dreiTrollocs hinter den Jungen her waren?

Plötzlich galoppierte Thoms Wallach aus der Nachtheraus, direkt hinter den Trollocs. Die Trollocs hattengerade noch Zeit, sich überrascht umzusehen, doch dannhoben sich die Arme des Gauklers und fuhren inblitzschneller Bewegung wieder nach unten. Mondscheinschimmerte auf blankem Stahl. Ein Trolloc taumeltevorwärts und überschlug sich mehrmals, bevor erunbeweglich liegenblieb, während ein zweiter mit einemSchrei auf die Knie fiel und sich mit beiden Händen aufden Rücken griff. Der dritte knurrte und zeigte eineSchnauze voll scharfer Zähne, doch als seine Begleiterfielen, rannte er fort, in die Dunkelheit hinein. ThomsHand wiederholte die peitschende Bewegung, und derTrollocs schrie, doch die Schreie verklangen schließlich inder Ferne.

Rand und Mat verhielten ihre Pferde und sahen denGaukler an.

»Meine besten Messer«, brummte Thom, aber er

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machte sich nicht die Mühe, abzusteigen und sie wieder zuholen. »Der wird die anderen hierher führen. Ich hoffe,es ist nicht zu weit bis zum Fluß. Ich hoffe...« Statt zusagen, was er noch hoffte, schüttelte er den Kopf und rittin schnellem Trab los. Rand und Mat schlossen sich ihman.

Bald erreichten sie eine niedrige Uferböschung, woBäume bis an den Rand des nachtschwarzen Wasserswuchsen, dessen vom Mondschein übergossene Oberflächeim Wind kleine Wellen schlug. Rand konnte das entfernteUfer nicht erkennen. Ihm gefiel es nicht, in derDunkelheit auf einem Floß den Fluß zu überqueren, aberhier auf dieser Seite zu bleiben, gefiel ihm noch weniger.Wenn ich muß, werde ich eben schwimmen.

Irgendwo, ein Stück vom Fluß entfernt, erklang einTrolloc-Horn, scharf, schnell und drängend durch dieDunkelheit. Es war der erste Hörnerklang, seit sie dieRuinen verlassen hatten. Rand fragte sich, ob dasbedeutete, daß einige der anderen gefangen wordenwaren. »Es hat keinen Zweck, die ganze Nachthierzubleiben«, sagte Thom. »Wählt eine Richtung.Flußaufwärts oder flußabwärts?«

»Aber Moiraine und die anderen könnten überall sein«,protestierte Mat. »Jeder Weg, den wir wählen, führt unsvielleicht weiter von ihnen weg.«

»Das stimmt.« Thom schnalzte mit der Zunge undlenkte seinen Wallach flußabwärts am Ufer entlang. »Dasstimmt.« Rand sah Mat an. Der zuckte die Achseln, und soritten sie ihm nach.

Eine Zeitlang änderte sich nichts um sie herum. DieUferböschung war an einigen Stellen höher, an anderenniedriger, die Bäume wuchsen dichter oder lichteten sich,aber die Nacht und der Fluß blieben gleich: kalt und

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schwarz. Und keine Trollocs. Das war eine Abwechslung,über die Rand froh war.

Dann sah er ein Licht voraus; nur einen einzelnenLichtpunkt. Als sie näher kamen, konnten sie erkennen,daß sich das Licht in einiger Höhe über dem Fluß befand,als sei es in einem Baum. Thom beschleunigte den Trabund summte leise vor sich hin.

Schließlich konnten sie die Lichtquelle ausmachen: eineLaterne, die hoch am Mast eines Frachtkahns hing, der fürdie Nacht neben einer kleinen Lichtung am Uferfestgemacht hatte. Der Kahn, gut achtzig Fuß lang,schwankte leicht in der Strömung und zerrte an den anBäumen befestigten Haltetauen. Die Takelage summte undknarrte im Wind. Die Laterne verdoppelte die Helligkeitdes Mondes auf dem Deck, aber es war niemand in Sicht.

»Also«, sagte Thom beim Absteigen, »das ist ja wohlnun besser als das Floß einer Aes Sedai, oder?« Er standda, die Hände in die Hüften gestützt, und sogar in derDunkelheit konnte man seine Selbstgefälligkeit erkennen.»Es macht nicht den Eindruck, als sei dieses Schiff fürPferde geeignet, aber wenn man bedenkt, in welcherGefahr er sich befindet, vor der wir ihn natürlich warnenwerden, sollte der Kapitän eigentlich vernünftig sein. Laßtmich nur mit ihm reden. Und bringt für den Fall der Fälleeure Decken und Satteltaschen mit.«

Rand stieg ab und begann, die Sachen hinter seinemSattel abzuschnallen. »Du denkst doch nicht daran, ohnedie anderen abzufahren?«

Thom hatte keine Gelegenheit, zu sagen, was ervorhatte. Zwei Trollocs brachen aus dem Unterholzheraus auf die Lichtung, heulten und schwenkten ihreFangstangen, und hinter ihnen kamen nochmals vier. DiePferde bäumten sich auf und wieherten. Rufe in der Ferne

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zeigten ihnen, daß noch mehr Trollocs unterwegs waren.»Auf das Schiff!« schrie Thom. »Schnell! Laßt alles

zurück! Rennt!« Er hielt sich an seine eigenen Worte undrannte zu dem Kahn, wobei die Enden seinesFlickenumhangs flatterten und die Instrumentenkästen aufseinem Rücken hüpften. »Ihr da auf dem Schiff!« schrieer. »Aufwachen, ihr Narren! Trollocs!«

Rand riß seine Deckenrolle und die Satteltasche vondem letzten Riemen los und war dem Gaukler im Nu aufden Fersen. Er warf sein Gepäck über die Reling undsprang mit einem Satz hinterher. Er hatte gerade nochZeit, einen Mann zu bemerken, der zusammengerollt anDeck lag und sich aufzurichten begann, als sei er erst indiesem Moment erwacht, und dann trat er auch schon mitbeiden Füßen auf den Burschen. Der Mann grunzte laut,Rand stolperte, und eine hakenbewehrte Fangstangekrachte gerade dort auf die Reling, wo erdarübergesprungen war. Auf dem ganzen Kahn wurdenRufe laut, und Füße trampelten über das Deck.

Haarige Hände erfaßten die Reling gleich neben derFangstange, und ein Kopf mit Ziegenhörnern tauchtedazwischen auf. Aus dem Gleichgewicht geraten undstolpernd konnte Rand trotzdem noch sein Schwert ziehenund schwingen. Mit einem Schrei fiel der Trolloc wiederzurück.

Männer rannten überall auf dem Kahn herum, schrienund hackten mit Äxten auf die Haltetaue los. Der Kahnschwankte und schwang herum, als sei er froh, hierwegzukommen. Oben am Bug kämpften drei Männer miteinem Trolloc. Jemand stach mit einem Speer über dieBordwand, aber Rand konnte nicht erkennen, was ertreffen wollte. Eine Bogensehne sang und sang nochmals.Der Mann, auf den Rand getreten war, kroch auf Händen

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und Knien von ihm weg und hob dann die Hände, als ersah, daß Rand ihn anblickte.

»Verschone mich!« rief er. »Nimm alles, was du willst,nimm das Schiff, nimm alles, aber verschone mich!«

Plötzlich schlug etwas auf Rands Rücken undschmetterte ihn auf das Deck. Das Schwert rutschte ihmaus der ausgestreckten Hand. Sein Mund war offen; errang vergebens nach Luft und versuchte, das Schwert zuerreichen. Seine Muskeln reagierten mit schmerzerfüllterLangsamkeit; er wand sich wie eine Schnecke. DerBursche, der verschont werden wollte, sah das Schwertkurz, ängstlich und gleichzeitig gierig an und verschwanddann im Schatten.

Unter Schmerzen brachte Rand es fertig, über seineSchulter nach oben zu blicken, und da wußte er, daß seinGlück versagt hatte. Ein Trolloc mit Wolfsschnauze standauf der Reling, blickte auf ihn hinunter und hielt dasabgebrochene Ende der Fangstange in der Hand, mit derer Rand zu Boden geschlagen hatte. Rand bemühte sichverzweifelt, das Schwert zu erreichen, sich überhaupt zubewegen, doch seine Arme und Beine bewegten sich nurzuckend und nicht so, wie er wollte. Sie gaben nach undstanden in unmöglichen Richtungen ab. Seine Brust schienzwischen Eisenreifen eingespannt zu sein, und vor seinenAugen schwammen silberne Flecken. Er suchte vollerVerzweiflung nach einer Möglichkeit, zu entkommen. DieZeit schien sich zu verlangsamen, als der Trolloc diezersplitterte Stange hob, um ihn damit aufzuspießen. Randschien es, als bewege sich die Kreatur wie im Traum. E rbeobachtete, wie sich der kräftige Arm nach hintenbewegte. Er konnte bereits den abgebrochenen Schaftdurch sein Rückgrat stechen fühlen und den Schmerz,wenn er seinen Körper aufriß. Er glaubte, seine Lunge

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müsse bersten. Ich werde sterben! Licht hilf mir, ichwerde...! Der Arm des Trollocs mit dem gesplittertenSchaft fuhr nach vorn, und Rand hatte genug Luft geholt,um zu schreien: »Nein!«

Plötzlich schwankte das Schiff stark, und aus demSchatten schwenkte eine Segelstange heran und traf denTrolloc auf die Brust. Knochen barsten knackend, und erwurde über die Reling gefegt.

Einen Augenblick lang lag Rand keuchend da undbetrachtete die Segelstange, die über ihm vor und zurückschwang. Jetzt habe ich all mein Glück verbraucht, dachteer. Danach kann ich nicht noch mehr haben. Zitterndstand er auf und hob sein Schwert auf. Diesmal hielt er esin beiden Händen, wie Lan es ihm beigebracht hatte, aberes war nichts mehr da, wogegen er hätte kämpfen können.Die mit schwarzem Wasser gefüllte Lücke zwischen demKahn und dem Ufer wurde schnell breiter; die Rufe derTrollocs verklangen hinter ihnen in der Nacht.

Als er sein Schwert in die Scheide steckte und sich andie Reling lehnte, schritt ein breitschultriger Mann ineinem Mantel, der ihm bis an die Knie reichte, über dasDeck auf ihn zu und sah ihn zornig an. Langes Haar, dasihm auf die breiten Schultern fiel, und ein Bart, der dieOberlippe frei ließ, umrahmten ein rundes Gesicht. Rund,aber nicht weich. Die Segelstange schwenkte wiederheran, und der Bärtige lenkte einen Teil seines Zornesdarauf, als er sie abfing; sie klatschte in seine breiteHandfläche.

»Gelb!« brüllte er. »Glück! Wo du sein, Gelb?« E rsprach so schnell und die Worte flossen alle ineinander,daß ihn Rand kaum verstehen konnte. »Du kann nichtverstecken vor mir auf eigenem Schiff! Bringt FloranGelb her!«

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Ein Besatzungsmitglied erschien mit einer rundenLaterne, und zwei weitere schoben einenschmalgesichtigen Mann in deren Lichtkreis. Randerkannte den Burschen, der ihm das Schiff angebotenhatte. Die Augen des Mannes blickten unruhig drein; erwechselte ständig die Blickrichtung und sah dem kräftigenMann nicht in die Augen. Der Kapitän, dachte Rand. AufGelbs Stirn wuchs eine Beule, wo ihn einer von RandsStiefeln erwischt hatte. »Sollen du nicht diese Rahebefestigen, Gelb?« fragte der Kapitän überraschend ruhig,wenn auch genauso schnell wie vorher.

Gelb blickte ehrlich überrascht drein. »Aber das habeich getan. Hab sie richtig festgebunden. Ich geb' zu,Kapitän Domon, daß ich hier und da mal ein bißchenlangsam bin, aber ich tue, was man mir aufgetragen hat.«

»Also sein du langsam, ja? Nicht so langsam imSchlafen. Schlafen, wenn du Wache solltest halten. BeiWachsamkeit deiniges könnten wir alle ermordet sein.«

»Nein, Kapitän, nein! Das war er.« Gelb deutetegeradewegs auf Rand. »Ich war auf Wache, wie man esvon mir erwartete, und dann schlich er sich an und schlugmich mit einem Knüppel nieder.« Er berührte die Beulean seinem Kopf, zuckte zusammen und sah Rand böse an.»Ich habe gegen ihn gekämpft, aber dann kamen dieTrollocs. Er arbeitet mit ihnen zusammen, Kapitän. EinSchattenfreund. Mit den Trollocs verbündet.«

»Mit meiner Großmutter verbündet!« brüllte KapitänDomon. »Nicht ich warnen dich letztes Mal, Gelb? InWeißbrücke verschwinden du! Aus meinen Augen jetzt,sonst ich dich gleich rausschmeißen!« Gelb eilte aus demLichtkreis der Laterne, während Domon noch dastand unddie Hände öffnete und schloß, den Blick ins Leeregerichtet. »Diese Trollocs mir folgen. Warum sie mich

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nicht sein lassen können? Warum?«Rand blickte über die Reling hinaus und bemerkte

überrascht, daß das Ufer bereits außer Sicht war. ZweiMänner standen an dem langen Steuerruder, das am Heckhinunter ins Wasser stach, und an der einen Seite rudertennun sechs Besatzungsmitglieder, um das Schiff wie einenWasserfloh weiter auf den Fluß hinauszudrehen.

»Kapitän«, sagte Rand, »wir haben dort draußen nochFreunde. Wenn Ihr zurückkehrt und sie aufnehmt, bin ichsicher, sie werden Euch reich belohnen.«

Das runde Gesicht des Kapitäns wandte sich Rand zu,und als dann Thom und Mat auch noch erschienen, schloßer sie in seinen ausdruckslosen Blick mit ein.

»Kapitän«, begann Thom nach einer Verbeugung,»erlaubt mir...«

»Ihr kommen runter«, sagte Kapitän Domon, »wo ichsehen, was für eine Art Ding auf mein Deck gefallen sein.Kommt. Glück verlaß mich, jemand sichern diesehornverfluchte Rahe!« Als Besatzungsmitgliederherbeieilten, um die Rahe festzuzurren, stampfte er inRichtung Heck los. Rand und seine beiden Begleiterfolgten.

Kapitän Domon hatte im Heck eine saubere und gutaufgeräumte Kabine, die sie über eine kurze Leitererreichten, wo alles an seinem Platz war, bis hin zu denMänteln und Umhängen, die auf der Rückseite der Tür anHaken aufgehängt waren. Die Kabine erstreckte sich überdie ganze Breite des Kahns. An einer Seite war ein breitesBett eingebaut und an der anderen ein massiver Tisch. Esgab nur einen Stuhl mit hoher Lehne und dickenArmstützen, und den beanspruchte der Kapitän für sich.Er bedeutete den anderen, sich selbst Plätze aufverschiedenen Truhen und Bänken zu suchen, die das

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einzige Mobiliar darstellten. Ein lautes Räuspern hielt Matdavon ab, sich auf das Bett zu setzen.

»Also«, sagte der Kapitän, als sie sich alle gesetzthatten, »mein Name sein Bayle Domon, Kapitän undBesitzer der Gischt, was sein dieses Schiff. Nun wer seinIhr und was Ihr wollen hier in der Mitte von Nirgendwound warum ich nicht sollen Euch werfen über Bord fürSchwierigkeiten Ihr mir bringen?«

Rand hatte immer noch genausogroße Schwierigkeiten,Domon zu verstehen, wie zuvor. Er sprach dazu noch sehrschnell. Als ihm klar wurde, was der Kapitän zuletztgesagt hatte, riß er überrascht die Augen auf. Uns überBord werfen?

Mat sagte schnell: »Wir wollten Euch keineUngelegenheiten bereiten. Wir sind auf dem Weg nachCaemlyn und dann nach...«

»Und dann, wohin uns der Wind immer treibt«,unterbrach ihn Thom gewandt. »So reisen wir Gaukler,wie Staub im Wind. Damit wißt Ihr, daß ich ein Gauklerbin. Mein Name ist Thom Merrilin.« Er zupfte an seinemUmhang, so daß sich die vielfarbigen Flicken bewegten,als könnte der Kapitän sie vorher übersehen haben. »Diesebeiden Burschen vom Land wollen meine Lehrlingewerden, auch wenn ich da noch nicht sicher bin, ob ich sieüberhaupt will.« Rand sah Mat an, und der grinste.

»Das sein alles gut und schön, Mann«, sagte KapitänDomon gelassen, »aber es mir sagen nichts. Weniger.Glück piekse mich, dieser Ort sein an keiner Straße nachCaemlyn von irgendwoher, von der ich jemals hören.«

»Also, das ist eine Geschichte für sich«, sagte Thom,und dann begann er sie auch schon lang und breit zuerzählen.

Thom erzählte, daß er vom Schneefall dieses Winters in

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einer kleinen Bergwerksstadt in den VerschleiertenBergen hinter Baerlon überrascht worden war. Dort hörteer Legenden über einen Schatz aus der Zeit der Trolloc-Kriege in den verschollenen Ruinen einer Stadt namensAridhol. Nun ergab es sich, daß er die Lage Aridhols voneiner Landkarte her kannte, die ihm viele Jahre zuvor voneinem sterbenden Freund aus Illian anvertraut wordenwar, dessen Leben er einst gerettet hatte, ein Mann, derstarb, nachdem er gerade noch hauchen konnte, die Kartewerde Thom reich machen. Thom hatte das nichtgeglaubt, bis er nun von der Legende hörte. Als genugSchnee geschmolzen war, habe er sich mit einigenBegleitern auf den Weg gemacht, darunter auch seinenbeiden Möchtegern-Lehrlingen, und nach vielen Strapazenschließlich die Ruinenstadt gefunden. Aber es stellte sichheraus, daß der Schatz einem der Schattenlords selbstgehört hatte und Trollocs ausgeschickt worden waren, umihn nach Shayol Ghul zurückzuholen. Beinahe jede derGefahren, denen sie wirklich ausgesetzt gewesen waren,tauchte in Thoms Geschichte an der einen oder anderenStelle auf – Trollocs, Myrddraal, Draghkar, Mordeth,Mashadar – aber so, wie Thom es erzählte, war allesgegen ihn persönlich gerichtet und von ihm mit großemGeschick bewältigt worden. Mit großer Kühnheit – vorallem Thoms – waren sie entkommen, von Trollocsverfolgt, und waren in der Nacht voneinander getrenntworden. Schließlich suchten Thom und seine beidenübriggebliebenen Begleiter Zuflucht am letzten Ort, derihnen noch geblieben war: Kapitän Domons von Herzenwillkommenen Schiff.

Als der Gaukler fertig war, kam es Rand zuBewußtsein, daß er eine ganze Weile mit offenem Munddagesessen hatte. Er schloß ihn mit hörbarem Knacken.

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Ein Blick auf Mat zeigte ihm, daß sein Freund denGaukler mit großen Augen anstarrte.

Kapitän Domon trommelte mit den Fingern auf dieArmstütze seines Stuhls. »Das sein eine Geschichte, dienicht glauben viele Leute. Natürlich, ich die Trollocsgesehen habe, ist richtig.«

»Jedes Wort daran ist wahr«, sagte Thom verbindlich,»und stammt von jemandem, der das selbst erlebt hat.«

»Kann sein, Ihr habt etwas von Schatz bei Euch?«Thom spreizte bedauernd die Hände. »Leider war das

wenige, das wir mitnehmen konnten, bei unseren Pferden,und die rannten weg, als die letzten Trollocs erschienen.Alles, was ich noch habe, sind meine Flöte und meineHarfe, ein paar Kupfermünzen und die Kleider, die ichtrage. Aber glaubt mir, dieser Schatz wäre nichts fürEuch. Er ist vom Dunklen König verflucht. Am besten istes, ihn den Ruinen und den Trollocs zu überlassen.«

»Also Ihr kein Geld haben, um die Reise zu bezahlen.Ich nicht mal eigenen Bruder mitfahren lassen, wenn nichtbezahlen für Passage, besonders, wenn er bringenTrollocs her, die Reling zerhacken und Takelage kappen.Warum ich nicht sollen Euch lassen zurückschwimmen,wo Ihr kommen her, um loszuwerden Euch?«

»Ihr würdet uns doch nicht am Ufer absetzen?« sagteMat. »Nicht, wenn dort Trollocs warten!«

»Wer sagen etwas von Ufer?« antwortete Domontrocken. Er betrachtete sie einen Moment lang und legtedann die Hände mit den Handflächen nach unten auf denTisch. »Bayle Domon sein ein vernünftiger Mann. IchEuch nicht über Bord werfen, wenn anderer Wegmöglich. Nun, ich sehen, einer von euren Lehrlingenhaben Schwert. Ich brauchen gutes Schwert, und ich seingutherziger Mann. Ihr können Passage nach Weißbrücke

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dafür haben.«Thom öffnete den Mund, doch Rand kam ihm zuvor.

»Nein!« Tam hatte es ihm nicht gegeben, damit er esweiterverhökerte. Er fuhr mit der Hand über den Griffund fühlte nach dem Bronzereiher. Solange er es hatte,war es, als sei Tam bei ihm.

Domon schüttelte den Kopf. »Na ja, wenn nein, danneben nicht. Aber Bayle Domon nicht geben freie Passage,nicht mal eigene Mutter.«

Zögernd leerte Rand seine Taschen. Es war nicht viel,was da zum Vorschein kam: ein paar Kupfermünzen unddie Silbermünze, die Moiraine ihm gegeben hatte. Er hieltsie dem Kapitän hin. Einen Moment später tat Mat es ihmnach. Thom blickte böse drein, lächelte dann aber ganzschnell wieder, so daß Rand sich nicht sicher war, ob ersich den wütenden Blick nur eingebildet hatte. KapitänDomon nahm den Jungen flink die beiden dickenSilbermünzen aus den Händen und holte eine kleine Waagehervor und einen klimpernden Beutel, den er in einermessingbeschlagenen Truhe hinter seinem Stuhl verstautgehabt hatte. Er wog die Münzen sorgfältig ab, ließ sie inden Beutel fallen und gab jedem einige kleine Silber- undKupfermünzen heraus. Vor allem Kupfermünzen. »BisWeißbrücke«, sagte er und trug alles säuberlich in eineledergebundene Kladde ein.

»Das ist aber eine teure Fahrt nach Weißbrücke«,murrte Thom.

»Plus Beschädigung von Schiff meiniges«, antworteteder Kapitän gelassen. Er legte Waage und Beutel in dieTruhe zurück und schloß sie befriedigt. »Plus etwas fürbringen Trollocs zu mir, daß ich nachts flußabwärts mußflüchten, obwohl da sein genug Untiefen, wo ich kannauflaufen.«

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»Wie steht es mit den anderen?« fragte Rand. »WerdetIhr sie auch mitnehmen? Sie sollten mittlerweile den Flußebenfalls erreicht haben, oder sie werden ihn balderreichen, und dann werden sie die Laterne an EuremMast entdecken.«

Kapitän Domons Augenbrauen hoben sich überrascht.»Ihr etwa glauben, wir stehen still, Mann? Glück stechmich, aber wir sein drei, vier Meilen flußabwärts von woIhr gekommen an Bord. Trollocs haben meine Burschengemacht rudern sehr stark – sie Trollocs besser kennen alsmögen – und Strömung auch helfen. Aber das nichtsmachen. Ich nicht wieder an Ufer, selbst wenn alteGroßmutter sein dort. Ich vielleicht nicht mehr an Ufer,bis wir in Weißbrücke. Ich genug haben von Trollocs aufmeinen Fersen schon vor heute nacht, und ich werdevermeiden, wenn ich kann.«

Thom beugte sich interessiert vor. »Ihr habt schonzuvor Zusammenstöße mit Trollocs gehabt? In letzterZeit?«

Domon zögerte und musterte Thom genau, doch als erdann antwortete, klang es lediglich etwas verärgert. »Ichüberwintern in Saldaea, Mann. Ich nicht wollen, aber Flußfrüh gefroren und Eis brechen auf sehr spät. Leute sagen,du kannst sehen Große Fäule von höchsten Türmen inMaradon, aber ich kein Interesse daran. Ich schon vorhermal dort sein und sie immer erzählen, daß Trollocs einenBauernhof oder so haben überfallen. Aber diesen Winterjede Nacht Bauernhöfe brennen. Ja, und ganze Dörfermanchmal auch. Sie sogar kommen bis an Stadtmauer.Und nicht schlimm genug, Leute alle sagen, bedeuten daßDunkler König kommt, daß Letzte Tage angebrochen.« E rschüttelte sich und kratzte sich am Kopf, als habe derbloße Gedanke seine Kopfhaut zum Jucken gebracht. »Ich

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nicht kann warten um kommen zurück, wo Leute glauben,Trollocs sein nur Märchen. Sie glauben, Geschichte ichihnen erzählen sein nur Schiffergarn.«

Rand hörte nicht mehr weiter zu. Er starrte die Wandgegenüber an und dachte an Egwene und die anderen. Esschien ihm einigermaßen ungerecht, daß er sich inSicherheit an Bord der Gischt befinden sollte, während sienoch immer irgendwo da hinten in der Nacht waren. DieKabine des Kapitäns erschien ihm nun nicht mehr sogemütlich.

Er war überrascht, als Thom ihn auf die Füße zog. DerGaukler schob Mat und ihn in Richtung Leiter undentschuldigte sich bei Kapitän Domon für dieLandpomeranzen. Rand kletterte wortlos hinauf.

Gleich als sie an Deck waren, sah sich Thom schnellum, ob ihn jemand belauschen konnte, und schimpftedann: »Ich hätte uns die Passage mit ein paar Liedern undGeschichten erkaufen können, wenn ihr beide es nicht soeilig gehabt hättet, Silber vorzuzeigen.«

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Mat. »Für mich hater sich ernsthaft angehört, als er etwas von ›in den Flußwerfen‹ sagte.«

Rand ging langsam hinüber zur Reling und lehnte sichdagegen. Er blickte hinauf in den nachtdunklen Himmel.Er konnte nur Schwarz erkennen – nicht einmal ein Ufer.Eine Minute später legte Thom ihm eine Hand auf dieSchulter, doch Rand rührte sich nicht.

»Es gibt nichts, was du tun könntest, Junge. Außerdemsind sie wahrscheinlich mittlerweile in Sicherheit beider... bei Moiraine und Lan. Kannst du dir jemandBesseres vorstellen, um sie aus allem rauszuholen?«

»Ich habe versucht, sie zu überreden, nichtmitzukommen«, sagte Rand.

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»Du hast dein Bestes gegeben, Junge. Keiner kann mehrvon dir verlangen.«

»Ich sagte, ich würde auf sie aufpassen. Ich hätte michmehr anstrengen sollen.« Das Knarren der Ruder und dasSummen der Takelage im Wind fügte sich zu einertraurigen Melodie zusammen. »Ich hätte mich mehranstrengen sollen«, flüsterte er.

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KAPITEL 21

Lausche dem Wind

Sonnenschein, der sich über den Fluß Arinelle schob, fandden Weg in die Senke nicht weit von der Uferböschung,wo Nynaeve mit dem Rücken an den Stamm einer jungenEiche gelehnt saß und ruhig atmend schlief. Auch ihrPferd schlief, den Kopf gesenkt und die Beine leichtgespreizt, wie es die Art der Pferde ist. Die Zügel hattesie um ihr Handgelenk gewickelt. Als der Sonnenscheinauf die Augenlider des Pferdes fiel, öffnete das Tier dieAugen und hob den Kopf, wobei es einen heftigen Ruckam Zügel gab. Nynaeve erwachte schlagartig.

Einen Augenblick lang blickte sie orientierungslos umsich und fragte sich, wo sie sei, und als sie sich dann daranerinnerte, sah sie sich noch erschrockener um. Aber sieerblickte nur die Bäume und ihr Pferd und einen Teppichalter, trockener Blätter am Boden der Senke. Wo derSchatten am tiefsten war, wuchsen einige der noch ausdem letzten Jahr stammenden Schattenhand-Pilze inRingen auf einem umgestürzten Stamm.

»Das Licht erhalte dich, Frau«, murmelte sie und ließsich zurücksacken, »wenn du nicht einmal eine Nachtwach bleiben kannst.« Sie band den Zügel los undmassierte beim Aufstehen ihr Handgelenk. »Du hättestauch im Kochtopf eines Trollocs erwachen können.«

Die abgestorbenen Blätter raschelten, als sie den sanftenAbhang der Senke hinaufkletterte und über den Randspähte. Nur eine Handvoll Eschen standen zwischen ihremStandpunkt und dem Fluß. Mit ihrer rissigen Rinde und

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den kahlen Asten wirkten sie wie tot. Dahinter floß derbreite Strom mit seinem blaugrünen Wasser. Leer. Nichtszu sehen. Vereinzelte Gruppen von Nadelbäumen, Tannenund auch ein paar Weiden boten dem Auge auf deranderen Seite des Flusses etwas Abwechslung. Aber esschienen dort drüben weniger Bäume zu wachsen als hierauf ihrer Seite. Falls Moiraine oder irgendeiner derJungen dort drüben war, hatten sie sich gut versteckt.Natürlich gab es keinen Grund, warum sie den Flußausgerechnet in ihrer Sichtweite hätten überqueren müssenoder es auch nur versuchen sollten Sie konnten sichüberall befinden, zehn Meilen flußaufwärts oderflußabwärts... Wenn sie überhaupt noch am Leben sindnach dieser letzten Nacht.

Sie ärgerte sich über sich selbst, daß sie überhaupt aneine solche Möglichkeit dachte, und ließ sich zurück in dieSenke hinunterrutschen. Nicht einmal die Winternachtoder die Schlacht vor dem Erreichen von Shadar Logothhatte sie auf die vergangene Nacht und auf dieses Ding –Mashadar – vorbereitet. Diese verzweifelte Flucht, dieständige Frage, ob noch jemand von den anderen amLeben sei; das Warten darauf, daß sie plötzlich einemBlassen oder den Trollocs von Angesicht zu Angesichtgegenüberstünde... Sie hatte die Trollocs in einigerEntfernung knurren und schreien gehört, und daszitternde Schrillen der Trolloc-Hörner war ihr eisiger denRücken hinuntergelaufen, als es der Wind je fertigbringenwürde, aber von jenem ersten Zusammentreffen mit denTrollocs in den Ruinen abgesehen sah sie nur einmal nochwelche, und das außerhalb der Stadt. Zehn oder mehrschienen plötzlich – keine dreißig Spannen weit vor ihr –aus dem Boden aufzutauchen. Sie sprangen in der gleichenSekunde auf sie zu, heulten und schrien und schwenkten

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hakenbewehrte Fangstangen. Doch als sie ihr Pferdherumriß, schwiegen sie unvermittelt und hoben dieSchnauzen, um die Luft zu prüfen. Sie war zu verblüfft,um schnell wegzureiten. Statt dessen beobachtete sie, wiedie Trollocs ihr den Rücken kehrten und in der Nachtverschwanden. Und das hatte sie von allem am meistengeängstigt.

»Sie kennen den Geruch von denen, die sie verfolgen«,sagte sie zu dem Pferd, als sie wieder in der Senke stand,»und ich gehöre nicht dazu. Die Aes Sedai hatte recht, wiees scheint, der Schäfer der Nacht verschlinge sie!«

Sie entschloß sich, flußabwärts zu gehen und ihr Pferdhinter sich herzuführen. Sie bewegte sich langsam undbeobachtete aufmerksam den sie umgebenden Wald. Nur,weil die Trollocs sie letzte Nacht hatten laufen lassen,mußte das nicht bedeuten, daß sie sie auch bei einemerneuten Zusammentreffen wieder ungeschoren lassenwürden. Soviel Aufmerksamkeit sie auch dem Waldschenkte – noch mehr widmete sie dem Boden vor ihr.Falls die anderen im Laufe der Nacht hier durchge-kommen waren, sollte sie einige Anzeichen dafürentdecken können, die sie vom Rücken des Pferdes ausnicht sehen konnte. Vielleicht traf sie ja auch auf dieserSeite des Flusses die ganze Gruppe. Wenn sie aberniemanden fand, dann würde der Fluß sie irgendwannnach Weißbrücke führen, und von da gab es eine Straßenach Caemlyn und auch bis Tar Valon, falls es sein mußte.

Die Aussichten waren schon ziemlich nieder-schmetternd. Früher war sie noch nie weiter vonEmondsfeld weggewesen als die Jungen. Taren-Fähre warihr fremd vorgekommen; in Baerlon hätte sie sich nurstaunend umgesehen, wäre sie nicht so darauf bedachtgewesen, Egwene und die anderen zu finden. Aber sie ließ

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nicht zu, daß irgend etwas ihren Entschluß ins Wankenbrachte. Früher oder später würde sie Egwene und dieJungen finden, oder einen Weg, die Aes Sedai für alles zurRechenschaft zu ziehen, was ihnen zustieß. Entweder daseine oder das andere, schwor sie sich.

In Abständen fand sie Spuren, eine ganze Menge sogar.Doch für gewöhnlich konnte sie beim besten Willen nichtsagen, ob diejenigen, die sie verursacht hatten, gesuchtoder etwas gejagt hatten oder vielleicht selbst verfolgtwurden. Einige stammten von Stiefeln, wie sie sowohl vonMenschen als auch von Trollocs getragen wurden. Anderewaren Hufspuren wie von Ziegen oder Rindern; das warennatürlich Trollocs gewesen. Aber es gab nie ein klaresAnzeichen, um sicher behaupten zu können, es stammevon einem der Gesuchten. Sie hatte vielleicht vier Meilenzurückgelegt, als der Wind ihr den Geruch einesHolzfeuers zuwehte. Er kam von weiter drunten am Fluß,und das Feuer konnte nicht weit entfernt sein, dachte sie.Sie zögerte nur einen Moment lang, dann band sie dasPferd an eine Tanne, ein ganzes Stück vom Fluß entferntin einem kleinen, dichten Nadelgehölz, in dem das Tiergut verborgen war. Der Rauch konnte Trollocs bedeuten,aber der einzige Weg, das herauszufinden, war,nachzusehen. Sie bemühte sich, nicht darübernachzudenken, wozu Trollocs möglicherweise ein Feuerbenützten.

Gebückt schlich sie sich von einem Baum zum anderenund verfluchte im Geist den Rock, den sie hochhebenmußte, um nicht hängenzubleiben. Kleider waren nichtfürs Anschleichen geeignet. Ein Geräusch von einemPferd ließ sie ihr Tempo verlangsamen, und als sieschließlich vorsichtig hinter dem Stamm einer Eschehervorspähte, stieg gerade der Behüter in einer kleinen

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Lichtung nahe dem Ufer von seinem schwarzen Streitroß.Die Aes Sedai saß auf einem umgestürzten Baumstammneben einem kleinen Feuer. Das Wasser in einem Kesselbegann gerade zu kochen. Ihre weiße Stute fraß hinter ihrdas dürftige Unkraut ab. Nynaeve blieb, wo sie war.

»Sie sind alle weg«, verkündete Lan ernst. »VierHalbmenschen sind etwa zwei Stunden vor Tagesanbruchnach Süden aufgebrochen, jedenfalls soweit ich dasbeurteilen kann – sie hinterlassen nicht viele Spuren –,aber die Trollocs sind verschwunden. Sogar die Leichen,und die Trollocs sind nicht gerade bekannt dafür, daß sieihre Toten mitnehmen. Es sei denn, sie haben Hunger.«

Moiraine warf eine Handvoll von irgend etwas in daskochende Wasser und zog den Kessel vom Feuer. »Mankann noch immer darauf hoffen, daß sie nach ShadarLogoth zurückgegangen sind und davon verschlungenwurden, aber wahrscheinlich wäre das zuviel verlangt vonunserem Glück.«

Der köstliche Duft von Tee trieb zu Nynaeve herüber.Licht, hoffentlich knurrt mein Magen nicht zu laut!

»Es gab keine klare Spur der Jungen oder der anderen.Die Spuren sind einfach zu verwischt, um genaueres zusagen.« In ihrem Versteck lächelte Nynaeve; wenn derBehüter nichts herausgefunden hatte, war das Labsal aufihre Wunden. »Aber etwas anderes ist wichtig, Moiraine«,fuhr Lan mit ernster Miene fort. Er lehnte das Angeboteiner Tasse Tee von der Aes Sedai mit einer Handbewe-gung ab und begann, vor dem Feuer auf- und abzulaufen,eine Hand auf seinem Schwertknauf und mit einem beijeder Drehung die Farbe ändernden Umhang. »Ich kann janoch Trollocs im Gebiet der Zwei Flüsse akzeptieren, so-gar hundert davon. Aber dies hier? Gestern müssen bei-nahe tausend an der Jagd auf uns beteiligt gewesen sein!«

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»Wir hatten Glück, daß nicht alle dablieben und inShadar Logoth nach uns suchten. Die Myrddraal müssenZweifel gehabt haben, daß wir uns gerade dort verbergenwürden, aber sie hatten sicher auch Angst davor, nachShayol Ghul zurückzukehren, ohne zuvor jede noch sokleine Möglichkeit untersucht zu haben. Der DunkleKönig war noch nie für seine Nachsicht bekannt.«

»Versuche nicht, auszuweichen. Du weißt, was ichsagen will. Wenn diese tausend Trollocs hier waren, hätteer sie auch zu den Zwei Flüssen schicken können. Warumtat er das nicht? Es gibt nur eine mögliche Antwort. Siewurden erst ausgesandt, als wir den Taren überquerthatten und er wußte, daß ein Myrddraal und hundertTrollocs nicht ausreichten. Wie? Wie wurden sie hierherausgesandt? Wenn tausend Trollocs von der Großen Fäuleaus so schnell und ungesehen so weit nach Süden gebrachtwerden können – ganz zu schweigen davon, daß siegenauso schnell wieder weggeholt werden können –, kanner dann nicht auch zehntausend ins Herz von Saldaea oderArafel oder Schienar schicken? Die Grenzlande wäreninnerhalb eines Jahres überrannt.«

»Die ganze Welt wird in fünf Jahren überrannt, wennwir diese Jungen nicht finden«, sagte Moiraine ganzeinfach. »Mir bereitet diese Frage auch Kopfzerbrechen,aber ich kenne die Antwort nicht. Die Wege des Geistessind geschlossen, und seit der Zeit des Wahns hat es keineAes Sedai mehr gegeben, die stark genug war, um aufdiesem Weg zu reisen. Falls nicht eine der Verlorenen imSpiel ist – was das Licht verhüten möge, jetzt und fürimmer –, gibt es immer noch niemanden, der das kann.Und außerdem glaube ich nicht, daß selbst alle Verlorenenzusammen tausend Trollocs auf einmal befördern könnten.Laß uns versuchen, die Probleme zu lösen, denen wir uns

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hier und jetzt gegenübersehen; alles andere muß warten.«»Die Jungen.« Es war nicht als Frage gemeint.»Ich war nicht untätig, während du weg warst. Einer ist

auf der anderen Seite des Flusses und lebt. Was die ande-ren betrifft, so gab es flußabwärts eine schwache Spur,aber die verflog, als ich sie fand. Die Verbindung warschon Stunden vor Beginn meiner Suche abgebrochen.«

Hinter ihrem Baum zusammengekauert, zog Nynaeveverwirrt die Stirn in Falten. Lan hörte mit demHerumlaufen auf. »Glaubst du, daß die Halbmenschen, dienach Süden zogen, sie gefangen haben?«

»Vielleicht.« Moiraine goß sich eine Tasse Tee ein,bevor sie weitersprach. »Aber ich wehre mich gegen dieMöglichkeit, daß sie tot sein könnten. Ich kann das nichtglauben. Ich wage es nicht. Du weißt, wieviel auf demSpiel steht. Ich muß diese jungen Männer haben. Natürlicherwarte ich, daß Shayol Ghul sie jagt. Auch eineOpposition innerhalb des Weißen Turms erwarte ich,genauso wie Widerstand selbst vom Amyrlin-Sitz. Es wirdimmer Aes Sedai geben, die nur eine Lösung akzeptieren.Aber...« Plötzlich stellte sie ihre Tasse weg und richtetesich mit einer Grimasse auf. »Wenn du den Wolf zuscharf beobachtest«, stellte sie fest, »dann beißt dich eineMaus in den Fuß.« Und damit sah sie genau den Baum an,hinter dem sich Nynaeve versteckte. »Frau al'Meara, Ihrkönnt nun herauskommen, wenn Ihr wünscht.«

Nynaeve stand auf und klopfte sich hastig abgestorbeneBlätter vom Kleid. Lan war herumgewirbelt und hatte denBaum angesehen, sobald Moiraines Blick herüberge-wandert war. Er hatte sein Schwert in der Hand, bevor sieNynaeves Namen noch ausgesprochen hatte. Nun steckteer es etwas unbeherrschter als notwendig in die Scheidezurück. Sein Gesicht war beinahe so ausdruckslos wie

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immer, doch Nynaeve glaubte, im Ausdruck seinesMundes einen Hauch von Ärger über sich selbst erkennenzu können. Sie fühlte ein wenig Befriedigung; zumindesthatte der Behüter nicht gemerkt, daß sie dagewesen war.

Die Befriedigung hielt sich allerdings nur einenMoment lang. Sie wandte ihren Blick Moiraine zu undging zielbewußt zu ihr hin. Sie wollte kühl und beherrschtbleiben, doch ihre Stimme zitterte vor Zorn. »In was habtIhr Egwene und die Jungen da hineingezogen? Für welcheschmutzige Aes Sedai-Intrige wollt Ihr sie benützen?«

Die Aes Sedai nahm ihre Tasse und schlurfte gelassenihren Tee. Als Nynaeve ihr allerdings zu nahe kam,streckte Lan einen Arm aus und hinderte sie amWeitergehen. Sie versuchte, das Hindernisbeiseitezuschieben, und war überrascht, als sich der Armdes Behüters nicht mehr bewegte, als es der Ast einerEiche getan hätte. Sie war nicht schwach, doch seineMuskeln schienen wie aus Eisen.

»Tee?« bot ihr Moiraine an.»Nein, ich will keinen Tee. Ich würde Euren Tee nicht

trinken, und wenn ich vor Durst stürbe. Ihr werdet keineLeute aus Emondsfeld für Eure schmutzigen Aes Sedai-Pläne mißbrauchen!«

»Ihr solltet lieber nicht soviel reden, Seherin.«Moiraine zeigte mehr Interesse an ihrem heißen Tee als andem, was sie sagte. »Ihr könnt schließlich selbst die EineMacht auf gewisse Weise anwenden.«

Nynaeve drückte wieder gegen Lans Arm. Der rührtesich noch immer nicht, und so entschloß sie sich, ihn zuignorieren. »Warum behauptet Ihr nicht gleich, ich sei einTrolloc?«

Moiraines Lächeln war so überlegen, daß Nynaeve sieam liebsten geschlagen hätte. »Glaubt Ihr, ich kann mich

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Auge in Auge einer Frau gegenübersehen, die die WahreQuelle berühren und die Eine Macht lenken kann – wennauch nur manchmal – ohne zu merken, was sie ist? Genauwie Ihr Egwenes Fähigkeiten fühlen konntet. Wieso,glaubt Ihr, habe ich gewußt, daß Ihr hinter jenem Baumstandet? Wenn ich nicht abgelenkt gewesen wäre, hätte iches schon in dem Moment gefühlt, als Ihr näher kamt. Ihrseid ganz sicher kein Trolloc, denn ich fühle das Böse desDunklen Königs, wenn es nahe ist. Also, was kann ichsonst gefühlt haben, Nynaeve al'Meara, Seherin vonEmondsfeld und unbewußte Lenkerin der Einen Macht?«

Lan sah mit einem Ausdruck auf Nynaeve herunter, derihr nicht gefiel; überrascht und abschätzend, so schien esihr, obwohl sich an seinem Gesicht nichts verändert hatteals nur der Ausdruck seiner Augen. Egwene war etwasBesonderes, das hatte sie immer schon gewußt. Egwenewürde eine feine Seherin abgeben. Sie arbeiten zusammen,dachte sie, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.»Ich werde mir das nicht länger anhören. Ihr...«

»Ihr müßt zuhören«, sagte Moiraine nachdrücklich.»Ich vermutete das schon in Emondsfeld, bevor ich Euchtraf. Die Leute erzählten mir, wie verstört ihre Seherinsei, daß sie den harten Winter und den späten Frühlingnicht vorhergesehen hatte. Sie sagten mir, wie gut sieüblicherweise das Wetter und die Ernte vorhersagenkönne. Sie sagten mir, wie wunderbar ihre Heilmittelseien, wie sie manchmal Verletzungen heilte, die sonsteinen Krüppel aus dem Betroffenen machen würden; dankihrer Hilfe sehe man kaum eine Narbe, kein Hinken oderZucken. Das einzig Negative, das ich über Euch hörte,kam von einigen, die Euch für zu jung für dieseVerantwortung hielten, und das bestärkte nur meinenVerdacht. So jung und schon solche Fähigkeiten!«

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»Frau Barran hat mich gut unterrichtet.« Sie versuchte,Lan anzusehen, doch dessen Blick machte sie immer nochunsicher. Also blickte sie über den Kopf der Aes Sedaihinweg zum Fluß hinüber. Wie können die im Dorf eswagen, vor einer Ausländerin solchen Klatschauszubreiten! »Wer behauptete, ich sei zu jung?« wolltesie wissen.

Moiraine lächelte, ließ sich aber nicht ablenken. »ImGegensatz zu den meisten Frauen, die behaupten, siekönnten aus dem Wind lesen, könnt Ihr das wirklichmanchmal. Oh, natürlich hat das nichts mit dem Wind zutun. Ihr fühlt die Kräfte von Luft und Wasser. Ihrbrauchtet darin nicht unterrichtet zu werden; es ist Euchangeboren, genau wie bei Egwene. Doch Ihr habt gelernt,damit umzugehen, und das steht ihr noch bevor. ZweiMinuten, nachdem ich Euch erstmals gegenüberstand,wußte ich Bescheid. Erinnert Ihr euch daran, wie ichEuch plötzlich fragte, ob Ihr die Seherin seid? Warumhabe ich das wohl getan? Es gab nichts, woran man Euchvon jeder anderen hübschen jungen Frau hätteunterscheiden können, die sich für das Fest zurechtmachte.Obwohl ich eine junge Seherin erwartet hatte, dachte ichdoch, sie sei wenigstens um die Hälfte älter als Ihr.«

Nynaeve erinnerte sich nur zu gut an diesesZusammentreffen: diese Frau, selbstbewußter imAuftreten als jedes Mitglied des Frauenzirkels, in einemschöneren Kleid, als sie jemals eines gesehen hatte, unddann sprach sie sie als ›Kind‹ an. Und dann hatte Moiraineplötzlich ganz überrascht dreingeschaut und aus demBlauen heraus die Frage gestellt...

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.Beide sahen sie an. Das Gesicht des Behüters warundurchschaubar wie ein Stein, während das der Aes Sedai

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bei aller Eindringlichkeit Sympathie verriet. Nynaeveschüttelte den Kopf. »Nein! Nein, das ist unmöglich. Ichwürde es wissen. Ihr versucht nur, mich hereinzulegen,und damit habt ihr bei mir sicher keinen Erfolg.«

»Natürlich wißt Ihr nichts davon«, sagte Moiraineberuhigend. »Wie solltet Ihr das auch nur vermuten? Euerganzes Leben lang habt Ihr nur davon gehört, dem Windzu lauschen. Außerdem – Ihr würdet noch eher vor allenEmondsfeldern behaupten, Ihr seid ein Schattenfreund, alsauch nur Euch selbst einzugestehen – und wenn es auchnur im letzten Hinterstübchen Eures Verstands wäre –,daß Ihr etwas mit der Einen Macht oder den gefürchtetenAes Sedai zu tun habt.« Etwas wie Belustigung huschteüber Moiraines Gesicht. »Aber ich kann Euch sagen, wiealles begann.«

»Ich will Eure Lügen nicht mehr hören«, sagte sie,aber die Aes Sedai fuhr einfach fort.

»Vielleicht war es vor acht oder zehn Jahren – dasAlter ist unterschiedlich, doch es kommt immer in derJugend –, da gab es etwas, das Ihr unbedingt wolltet, mehrals alles in der Welt, etwas, das Ihr brauchtet. Und Ihrhabt es bekommen. Ein Ast, der plötzlich herunterfiel, sodaß Ihr Euch daran aus einem See ziehen konntet, anstattzu ertrinken. Ein Freund oder ein Haustier, das wiedergesund wurde, obwohl jeder geglaubt hatte, es werdesterben...

Zu der Zeit habt Ihr nichts weiter gefühlt, doch eineWoche oder zehn Tage später kam die Reaktion auf Eureerste Berührung mit der Wahren Quelle. Vielleicht war esFieber oder Schüttelfrost, was Euch plötzlich ans Bettfesselte und dann, nach nur ein paar Stunden, wiederverschwand. Keine der Reaktionen, und da gibt es eineganze Reihe von Möglichkeiten, dauert länger als ein paar

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Stunden. Kopfschmerzen und ein taubes Gefühl im Kopfund freudige Erregung, alles durcheinander, und Ihrriskiert irgend etwas ganz Dummes oder bewegt Euchtaumelnd, schwindlig. Überhaupt dieses Schwindelgefühl:Ihr seid bei jeder Bewegung herumgetaumelt undgestolpert und habt keinen vollständigen Satzherausgebracht, sondern nur gelallt. Es gibt noch mehrAnzeichen. Erinnert Ihr Euch?«

Nynaeve sackte zu Boden. Ihre Beine trugen sie nichtmehr. Sie erinnerte sich an alles, und trotzdem schütteltesie den Kopf. Es mußte Zufall sein. Oder hatte Moirainein Emondsfeld noch mehr herumgefragt, als sie dachte?Die Aes Sedai hatte eine Menge Fragen gestellt. Das mußtees sein. Lan bot ihr seine Hand, doch sie bemerkte es nochnicht einmal.

»Ich gehe noch weiter«, sagte Moiraine, als Nynaeveschwieg. »Ihr habt die Macht einmal benützt, um entwederPerrin oder Egwene zu heilen. Eine Verbindung istentstanden. Ihr könnt die Gegenwart eines Menschenfühlen, den Ihr geheilt habt. In Baerlon seid Ihrgeradewegs zum Hirsch und Löwen gekommen, obwohl eskeineswegs die nächste Schenke an einem der Tore war,durch das Ihr die Stadt betreten konntet. Von denEmondsfeldern waren nur Perrin und Egwene bei EurerAnkunft in der Schenke. War es Perrin oder Egwene?Oder beide?«

»Egwene«, murmelte Nynaeve. Sie hatte es immer fürgegeben erachtet, daß sie manchmal wußte, wer sich ihrnäherte, auch wenn sie die Person noch nicht sehenkonnte. Bis jetzt war es ihr nie in den Sinn gekommen,daß es immer jemand war, den sie auf wunderbare Weisegeheilt hatte. Und sie hatte auch immer gewußt, wenn einMedikament über alle Erwartungen gut anschlagen würde,

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war sich immer sicher gewesen, wenn sie behauptete, eineErnte werde besonders gut ausfallen oder der Regenwerde diesmal früher oder später eintreffen. So mußte esdoch sein, dachte sie. Nicht alle Seherinnen konnten demWind lauschen, aber die besten schon. Das hatte FrauBarran immer gesagt, und sie hatte hinzugefügt, Nynaevewerde zu den Besten gehören.

»Sie hatte Wundfieber.« Sie sprach mit gesenktemKopf. »Ich war immer noch Frau Barrans Lehrling, undsie ließ mich über Egwene wachen. Ich war jung undwußte nicht, daß die Seherin alles gut im Griff hatte. Esist furchtbar, jemanden mit Wundfieber zu beobachten.Das Kind war schweißgebadet, stöhnte und wand sich, bisich kaum noch verstand, warum ich ihre Knochen nichtbrechen hören konnte. Frau Barran hatte mir gesagt, dasFieber werde in einem, höchstens zwei Tagen nachlassen,doch ich glaubte, sie habe mich nur trösten wollen. Ichglaubte, Egwene läge im Sterben. Ich hatte sie manchmalbeaufsichtigt, als sie noch ein Kleinkind war und wennihre Mutter weg mußte, und so begann ich zu weinen, weilich sie nicht sterben sehen wollte. Als Frau Barran eineStunde später wiederkam, war das Fieber weg. Sie warüberrascht und kümmerte sich mehr um mich als umEgwene. Ich dachte immer, sie glaubte, ich habe demKind etwas gegeben und traute mich nicht, es zuzugeben.Ich dachte immer, sie wolle mich beruhigen und mirklarmachen, daß ich Egwene nicht geschadet hatte. EineWoche später kippte ich in ihrem Wohnzimmer um,zitterte und glühte abwechselnd. Sie brachte mich ins Bett,doch beim Abendessen war alles wieder in Ordnung.«

Sie ließ den Kopf in die Hände fallen, als sie fertig war.Die Aes Sedai hat ein gutes Beispiel gewählt, dachte sie.Das Licht verbrenne sie! Die Macht wie eine Aes Sedai

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benützen! Eine schmutzige, Schattenfreund-Aes Sedai!»Ihr habt viel Glück gehabt«, sagte Moiraine, und

Nynaeve setzte sich mit einem Ruck auf. Lan drehte sichweg, als ginge ihn das, worüber sie sprachen, nichts an,und machte sich an Mandarbs Sattel zu schaffen. Er sahnicht einmal zu ihnen herüber.

»Glück!«»Ihr habt eine grobe Kontrolle über Eure Kräfte

erlangt, auch wenn die Berührung der Wahren Quellenoch immer in unregelmäßigen Abständen erfolgt. WennIhr das nicht geschafft hättet, wärt Ihr irgendwann darangestorben. So, wie es Egwene umbringen wird, wenn Ihres schafft, sie davon abzuhalten, daß sie Tar Valonerreicht.«

»Wenn ich lernte, die Gabe zu kontrollieren...«Nynaeve schluckte schwer. Das war, als gäbe sie erneutzu, alles das tun zu können, was die Aes Sedai behauptete.»Wenn ich lernte, es zu kontrollieren, dann kann sie dasauch. Sie muß deswegen nicht nach Tar Valon gehen undsich in Eure Intrigen verwickeln lassen.«

Moiraine schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Aes Sedaisuchen genauso dringend nach Mädchen, die die WahreQuelle ohne Hilfe berühren können, wie auch nachMännern mit der gleichen Fähigkeit. Es ist nicht derWunsch, unsere Anzahl zu vergrößern – oder zumindestnicht nur das – und auch nicht die Angst, daß diese Frauendie Macht mißbrauchen werden. Die geringe Kontrolleüber die Macht, die sie erlangen können, wenn das Lichtauf sie scheint, reicht kaum aus, um viel Schadenanzurichten, besonders weil die wirkliche Berührung derQuelle von ihnen ohne Lehrer nicht bewußt gemeistertwerden kann und nur wahllos erfolgt. Und natürlichleiden sie nicht an dem Wahn, der die Männer zu bösen

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oder verrückten Taten treibt. Wir wollen ihre Lebenretten. Die Leben jener, die niemals eine wirksameKontrolle erlangen.«

»Das Fieber und der Schüttelfrost, die ich hatte,könnten niemanden töten«, beharrte Nynaeve. »Nicht indrei oder vier Stunden. Ich habe auch die anderenWirkungen erlebt, und auch sie würden niemandenumbringen. Und nach ein paar Monaten hörte alles auf.Wie steht es damit?«

»Das waren nur Reaktionen«, sagte Moiraine geduldig.»Jedesmal kommt die Reaktion schneller nach derBerührung der Quelle, bis beides fast gleichzeitiggeschieht. Danach gibt es keine weiteren sichtbarenReaktionen, aber es ist, als habe eine Uhr zu tickenangefangen. Ein Jahr. Zwei Jahre. Ich kenne eine Frau,bei der es fünf Jahre dauerte. Von vieren, die dieseangeborene Fähigkeit haben wie Ihr und Egwene, sterbendrei, falls wir sie nicht finden und ausbilden. Ihr Tod istnicht so furchterregend wie bei den Männern, aber schönist er nicht, falls man überhaupt einen Tod schön nennenkann. Krämpfe. Schreien. Es dauert Tage, und wenn eseinmal begonnen hat, kann man nichts mehr dagegen tun,nicht einmal alle Aes Sedai in Tar Valon gemeinsam.«

»Ihr lügt! Alle diese Fragen in Emondsfeld. Ihr habtvon Egwenes Heilung und meinem Fieber undSchüttelfrost gehört! Ihr habt alles erfunden!«

»Ihr wißt genau, daß das nicht stimmt«, sagte Moirainesanft.

Zögernd, eingeschüchterter als je zuvor in ihremLeben, nickte Nynaeve. Es war ein letzter starrköpfigerVersuch gewesen, zu leugnen, was eigentlich klar war,und so was ist niemals gut, so unangenehm die Wahrheitauch sein mag. Frau Barrans erstes Lehrmädchen war so

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gestorben, wie die Aes Sedai es beschrieben hatte, alsNynaeve noch mit Puppen spielte, und in Devenritt war esvor nur wenigen Jahren einer jungen Frau ebensoergangen. Auch sie war Lehrmädchen bei einer Seheringewesen, eine, die dem Wind lauschen konnte.

»Ich glaube, Ihr habt große Fähigkeiten«, fuhrMoiraine fort. »Richtig geführt, könntet Ihrmöglicherweise noch mächtiger werden als Egwene, undich denke, aus Ihr kann schon eine der mächtigsten AesSedai werden, die es in den letzten Jahrhunderten gegebenhat.«

Nynaeve zuckte vor der Aes Sedai zurück wie vor einerGiftschlange. »Nein! Ich will nichts zu tun haben mit...«Womit? Mir selbst? Sie sank zurück, und ihre Stimmewurde unsicher. »Ich möchte Euch bitten, niemandemdavon zu erzählen. Bitte!« Das Wort blieb ihr beinahe imHals stecken. Ihr wäre es lieber gewesen, Trollocs wärengekommen, als daß sie zu dieser Frau ›bitte‹ sagen mußte.Aber Moiraine nickte nur zustimmend, und etwas vonihrem Kampfgeist kehrte wieder. »Nichts von dem allenerklärt, was Ihr mit Rand, Mat und Perrin anfangenwollt.«

»Der Dunkle König will sie haben«, antworteteMoiraine. »Wenn der Dunkle König etwas haben will,stelle ich mich dagegen. Kann es einen einfacheren oderbesseren Grund geben?« Sie trank den Rest Tee aus undblickte Nynaeve über den Rand ihrer Tasse hinweg an.»Lan, wir müssen aufbrechen. Nach Süden, denke ich. Ichfürchte, die Seherin wird uns nicht begleiten.«

Nynaeves Mund zog sich zu einer schmalen Liniezusammen, als sie hörte, wie die Aes Sedai das Wort›Seherin‹ betonte, so, als ob sie den großen Dingen denRücken kehrte und etwas Unbedeutendes vorzog. Sie will

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mich nicht dabei haben. Sie versucht mich abzuschrecken,so daß ich heimgehe und sie ihr überlasse. »O ja, ich gehemit Euch. Ihr könnt mich nicht davon abhalten.«

»Niemand wird Euch davon abhalten«, sagte Lan, als erwieder zu ihnen stieß. Er leerte den Teekessel über demFeuer aus und stocherte mit einem Stock in der Ascheherum. »Ein Teil des Musters?« fragte er Moiraine.

»Vielleicht«, sagte sie gedankenverloren. »Ich hättenoch mal mit Min sprechen sollen.«

»Ihr seht, Nynaeve, Ihr seid uns willkommen.« Lanzögerte kurz, als er ihren Namen sagte – da war eineAndeutung eines unausgesprochenen ›Sedai‹ zu bemerken.

Nynaeve, die es als Spott auffaßte, schnaubte vor Wut,auch weil sie so vor ihr über Dinge sprachen, von denensie nichts wußte, ohne ihr die Höflichkeit einer Erklärungangedeihen zu lassen, doch sie wollte ihnen nicht denGefallen tun, danach zu fragen. Der Behüter fuhr mit denVorbereitungen für den Aufbruch fort. Seine Bewegungenwaren sparsam, doch sicher und schnell, so daß er baldfertig war. Satteltaschen, Decken und alles andere warenhinter den Sätteln von Mandarb und Aldieb festgeschnallt.

»Ich werde Euer Pferd holen«, sagte er zu Nynaeve, alser den letzten Gurt angezogen hatte.

Er ging die Böschung hinauf, und sie erlaubte sich einkleines Lächeln. Nachdem sie ihn unentdeckt beobachtethatte, versuchte er nun, ohne Hilfe ihr Pferd zu finden. E rwürde merken, daß sie wenig Spuren hinterließ, wenn siejemanden belauerte. Es wäre ein Vergnügen, ihn mitleeren Händen zurückkommen zu sehen.

»Warum nach Süden?« fragte sie Moiraine. »Ich hörteEuch sagen, einer der Jungen sei auf der anderen Seite desFlusses. Woher wißt Ihr das?«

»Ich gab jedem der Jungen eine Münze. Das schuf eine

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Art von Verbindung zwischen ihnen und mir. Solange sieam Leben sind und diese Münze bei sich tragen, werde ichin der Lage sein, sie zu finden.« Nynaeves Blick wandertein die Richtung, in die der Behüter gegangen war, undMoiraine schüttelte den Kopf. »Nicht so. Es erlaubt mirnur herauszufinden, ob sie noch am Leben sind, und sie zufinden, falls wir getrennt werden. Eine wichtigeVorsichtsmaßnahme unter den gegebenen Umständen,findet Ihr nicht auch?«

»Mir gefällt nichts, was Euch mit jemandem ausEmondsfeld verbindet«, sagte Nynaeve stur. »Aber wennes uns hilft, sie zu finden...«

»Es wird. Wenn ich könnte, würde ich zuerst denjungen Mann von der anderen Seite des Flussesaufgabeln.« Einen Moment lang prägte Enttäuschung dieStimme der Aes Sedai. »Er befindet sich nur ein paarMeilen von uns entfernt. Aber ich kann mir denZeitaufwand einfach nicht leisten. Er sollte den Weg nachWeißbrücke jetzt, wo die Trollocs fort sind, in Sicherheitzurücklegen können. Die beiden, die sich flußabwärtsbewegen, brauchen vielleicht meine Hilfe nötiger. Siehaben ihre Münzen verloren, und Myrddraal verfolgen sieentweder oder versuchen, uns in Weißbrückeabzufangen.« Sie seufzte. »Ich muß das Nötigste zuersterledigen.«

»Die Myrddraal könnten... könnten sie getötet haben«,sagte Nynaeve. Moiraine schüttelte leicht den Kopf undverwarf den Gedanken, als sei er zu unbedeutend, um ihmBeachtung zu schenken. Nynaeves Mund verzog sich.»Und wo ist dann Egwene? Ihr habt sie nicht einmalerwähnt.«

»Ich weiß es nicht«, gab Moiraine zu, »aber ich hoffe,sie ist in Sicherheit.«

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»Ihr wißt es nicht? Ihr hofft? All das Gerede darüber,ihr Leben zu retten, indem Ihr sie nach Tar Valon bringt,und nun könnte sie genausogut auch schon tot sein!«

»Ich könnte nach ihr suchen und damit den Myrddraalmehr Zeit geben, bevor ich ankomme und den beidenjungen Männern helfe, die nach Süden unterwegs sind.Der Dunkle König sucht nach ihnen, nicht nach ihr. Siewürden sich nicht um Egwene kümmern, solange ihrewirkliche Beute ungefangen bleibt.«

Nynaeve erinnerte sich an ihr eigenesZusammentreffen, doch sie weigerte sich, den Sinn vonMoiraines Worten anzuerkennen. »Also ist das Beste, wasIhr mir bieten könnt, daß sie vielleicht noch am Leben ist,wenn sie Glück hatte. Lebendig, vielleicht allein,verängstigt, sogar verletzt, Tage vom nächsten Dorf odervon Hilfe entfernt, außer eben von uns. Und Ihr plant, sieim Stich zu lassen.«

»Genausogut könnte sie sich auch in Sicherheit bei demJungen auf der anderen Seite befinden. Oder auf dem Wegnach Weißbrücke mit den beiden anderen. In jedem Fallbefinden sich keine Trollocs mehr hier, die sie bedrohen,und sie ist stark und intelligent und durchaus in der Lage,notfalls allein nach Weißbrücke zu gelangen. Wollt Ihrlieber hierbleiben, weil sie möglicherweise Hilfe braucht,oder versuchen, denen zu helfen, von denen wir wissen,daß sie in Not sind? Wollt Ihr, daß ich sie suche, anstattmich um die Jungen – und auch um die Myrddraal, die sieauf jeden Fall verfolgen – zu kümmern? So sehr ich auchhoffe, Nynaeve, daß Egwene in Sicherheit ist, so gilt meinKampf doch dem Dunklen König, und das bestimmt jetztmeinen Weg.«

Moiraine verlor nie die Ruhe, während sie dieschrecklichen Alternativen schilderte. Nynaeve hätte sie

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anschreien können. Sie schluckte Tränen hinunter unddrehte das Gesicht weg, so daß die Aes Sedai es nichtsehen konnte. Licht, man erwartet von einer Seherin, daßsie sich um all die ihr anvertrauten Menschen kümmert.Warum stehe ich vor einer solchen Wahl?

»Lan ist wieder da«, sagte Moiraine, erhob sich undzog sich den Umhang über.

Es war nur ein kleiner Schlag für Nynaeve, als derBehüter ihr Pferd aus dem Wäldchen führte. Trotzdemhatte sie ganz schmale Lippen, als er ihr die Zügel reichte.Es hätte ihre Laune wenigstens ein kleines bißchenverbessert, wenn auf seinem Gesicht nur eine Spur vonÄrger bemerkbar gewesen wäre, anstatt dieserunerträglichen, steinernen Ruhe. Seine Augen weitetensich, als er ihr Gesicht sah, und sie wandte ihm denRücken zu, um sich die Tränen von den Wangen zuwischen. Wie kann er sich über mein Weinen lustigmachen!

»Kommt Ihr jetzt, Seherin?« fragte Moiraine kühl.Sie warf einen letzten langen Blick auf den Wald und

fragte sich, ob Egwene dort draußen sei, bevor sie traurigauf ihr Pferd stieg. Lan und Moiraine waren bereitsaufgesessen und richteten ihre Pferde nach Süden aus. Siefolgte mit steifem Rücken und weigerte sich, noch einmalzurückzusehen. Statt dessen behielt sie Moiraine im Auge.Die Aes Sedai hatte soviel Vertrauen in ihre Kräfte undihre Pläne, dachte sie, aber wenn sie Egwene und dieJungen nicht fänden, alle, lebendig und unversehrt, dannwürde all ihre Kraft nicht reichen, um sie zu beschützen.Nicht einmal ihre Macht. Ich kann sie auch benützen,Frau! Das habt Ihr mir selbst gesagt. Ich kann sie gegenEuch benützen!

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KAPITEL 22

Der eingeschlagene Weg

In einem kleinen Hain, bedeckt von in der Dunkelheitgrob zurechtgeschnittenen Zedernzweigen, schlief Perrinbis lang nach Sonnenaufgang. Es waren die Zedernnadeln,die durch seine immer noch feuchte Kleidunghindurchpieksten, die schließlich auch seine Erschöpfungdurchdrangen und ihn weckten. Direkt aus einem Traumvon Emondsfeld gerissen – er hatte in Meister LuhhansSchmiede gearbeitet –, öffnete er die Augen und blickteverständnislos auf die süß duftenden Zweige, die überseinem Gesicht lagen und durch die nun Sonnenscheinhereinblinzelte.

Die meisten Zweige fielen herunter, als er sichüberrascht aufsetzte, aber ein paar blieben auch an seinenSchultern und sogar an seinem Kopf hängen, was ihnselbst wie eine Art Baum aussehen ließ. Emondsfeldverblaßte mit der Rückkehr der Erinnerung, die ihn mitsolcher Lebhaftigkeit überfiel, daß die vergangene Nachteinen Moment lang realer wirkte als seine jetzigeUmgebung.

Keuchend und verwirrt kramte er in dem HaufenZweige nach seiner Axt. Er packte sie mit beiden Händenund sah sich vorsichtig um, wobei er sogar die Luftanhielt. Nichts bewegte sich. Der Morgen war kalt undruhig. Falls sich auf der Ostseite des Arinelle Trollocsbefanden, dann waren sie nicht unterwegs, zumindest nichtin seiner Nähe. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen,senkte die Axt auf Kniehöhe und wartete einen Moment,

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bis sein Herz nicht mehr so hämmerte.Der kleine Nadelholzhain, der ihn umgab, hatte ihm

vergangene Nacht das erste Obdach geboten, das er findenkonnte. Es war so dürftig, daß es kaum Schutz vorBeobachtern bot, wenn er aufstand. Er pflückte sich dieZweige von Kopf und Schultern, schob den Rest seinerstachligen ›Decke‹ zur Seite und krabbelte auf allen vierenzum Rand des Hains. Dort lag er, beobachtete das Uferund kratzte sich, wo ihn die Nadeln gepiekst hatten.

Der schneidende Wind der Nacht hatte sich so weitgelegt, daß nur noch eine leichte Brise wehte, die kaumdie Wasseroberfläche bewegte. Der Fluß strömte ruhigund glatt vorbei. Und breit. Sicherlich war er zu breit undtief für die Blassen, so daß sie ihn nicht überquerenkonnten. Das gegenüberliegende Ufer wirkte wie einesolide Wand aus Bäumen, so weit er flußaufwärts undflußabwärts sehen konnte. Innerhalb seiner Sichtweitebewegte sich dort absolut nichts.

Er war sich nicht sicher, was er davon zu halten hatte.Er konnte ganz gut ohne die Gesellschaft von Trollocs undBlassen auskommen, selbst auf der anderen Flußseite, aberseine Sorgen würden sich im Nu verflüchtigen, wenn dieAes Sedai oder der Behüter oder noch besser einer seinerFreunde dort auftauchten. Wenn Wünschen Flügelwüchsen, würden Schafe fliegen. Das hatte Frau Luhhanimmer gesagt.

Er hatte kein Lebenszeichen seines Pferdes entdeckt,seit er über die Klippe geritten war – er hoffte, daß es denFluß sicher durchschwommen hatte –, aber er warsowieso mehr ans Laufen gewöhnt als ans Reiten, undseine Stiefel waren stabil und hatten gute Sohlen. Er hattenichts zu essen, trug jedoch seine Schleuder noch an derHüfte und außerdem die Fangschlinge in der Tasche. Da

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war doch sicher bald ein Kaninchen fällig. Alles, womit erein Feuer hätte entzünden können, war mit seinenSatteltaschen verschwunden, doch aus den Zedern würdesich mit ein bißchen Mühe Zunder und ein Feuerbogenherstellen lassen.

Er zitterte, als der Wind in sein Versteck blies. SeinUmhang befand sich irgendwo im Fluß, und sein Mantel,wie auch alles andere, was er am Leib trug, war immernoch klamm und feucht von dem unfreiwilligen Bad imFluß. Letzte Nacht war er zu müde gewesen, als daß ihnKälte und Feuchtigkeit gestört hätten, aber jetzt fror ererbärmlich. Trotzdem entschied er sich dagegen, seineKleider zum Trocknen über die Äste zu hängen. Der Tagwar nicht unbedingt kalt; allerdings konnte man ihn auchnicht gerade warm nennen.

Es war eben eine Frage der Zeit, dachte er seufzend.Trockene Kleidung, ein wenig Ruhe, ein Kaninchen undein Feuer, um es daran zu rösten, und noch mal einbißchen Ruhe. Sein Magen grollte, und er bemühte sich,jeden Gedanken an Essen fallenzulassen. Er hatteWichtigeres zu tun. Alles zu seiner Zeit, und dasWichtigste hatte Vorrang. Das war typisch für ihn.

Sein Blick folgte der starken Strömung des Arinelleflußabwärts. Er war ein besserer Schwimmer als Egwene.Falls sie es hier herüber geschafft hatte... Nein, nicht falls.Der Ort, an dem sie angekommen sein mußte, dürfte sichweiter flußabwärts befinden. Er trommelte mit denFingern auf den Boden, überlegte, wog ab.

Als er seine Entscheidung getroffen hatte, verlor erkeine Zeit mehr, sondern hob seine Axt auf und setzte sichden Fluß entlang in Marsch.

Auf dieser Seite des Arinelles gab es keinen dichtenWald wie auf der anderen. Baumgruppen erhoben sich

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vereinzelt aus etwas, das man, sollte der Frühling jemalskommen, als Grasland bezeichnen konnte. Manche warengroß genug, daß man sie schon als Dickicht bezeichnenkonnte. Gruppen von Nadelbäumen standen neben kahlenEschen, Erlen und Süßholzsträuchern. Weiter unten amFluß waren die Haine kleiner und noch nicht einmal sodicht wie diese hier. Sie gaben wenig Deckung, stelltenaber immerhin die einzig mögliche Deckung dar. E rhuschte gebückt von einem Wäldchen zum anderen. Wenner sich zwischen Bäumen befand, warf er sich zu Boden,um die Ufer zu beobachten, sowohl die andere Seite alsauch die, auf der er war. Der Behüter hatte behauptet, derFluß werde für die Trollocs und Blassen einunüberwindliches Hindernis darstellen aber stimmte daswirklich? Wenn sie ihn sähen, würde das vielleichtausreichen, um ihre Hemmungen, tiefes Wasser zuüberqueren, zu überwinden. Also beobachtete er ganzgenau und rannte von einem Versteck zum nächsten,schnell und geduckt.

Auf diese Weise legte er mehrere Meilen zurück, bis erplötzlich auf halbem Weg zu einer Gruppe von Weidenstehenblieb und zu Boden starrte. Flecken nackter Erdedurchsetzten das fahle Braun des letztjährigen Grases, undin der Mitte eines solchen Flecks, direkt vor seiner Nase,befand sich ein deutlich sichtbarer Hufabdruck. Langsamverbreitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. EinigeTrollocs hatten Hufe, doch er bezweifelte, daß siebeschlagen waren, und sie würden wohl kaum Hufeisenmit den doppelten Kreuzstreben tragen, die MeisterLuhhan zur Verstärkung daran anbrachte. Er vergaß diemöglichen Beobachter auf der anderen Seite und suchtenach weiteren Spuren. Auf der dünnen Matteabgestorbenen Grases hielten sich Spuren nicht sehr gut,

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doch seine scharfen Augen spürten sie trotzdem auf. Derdürftige Pfad führte ihn geradewegs vom Fluß weg zueinem dichten Gehölz. Lederblattbäume und Zedernbildeten eine Mauer gegen den Wind oder gegenneugierige Blicke. In der Mitte thronte mit ausgebreitetenAsten eine Schierlingstanne. Er grinste noch immer, als ersich seinen Weg durch die übereinanderstehenden Ästebahnte, gleich, wieviel Lärm er auch machte. Plötzlichtrat er in eine kleine Lichtung unter der Schierlingstanneund blieb stehen. Hinter einem kleinen Feuer kauerteEgwene mit grimmig entschlossenem Gesicht, einendicken Ast wie einen Knüppel in den Händen und denRücken an Belas Flanke gelehnt.

»Ich schätze, ich hätte doch rufen sollen«, meinte er mitverlegenem Achselzucken. Sie warf ihren Knüppel weg,rannte auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich dachte, du wärstertrunken. Du bist ja immer noch naß. Hier, setz dich ansFeuer, und wärme dich auf. Du hast dein Pferd verloren,nicht wahr?«

Er ließ sich von ihr ans Feuer schieben und rieb sichdie Hände über den Flammen, dankbar für die Wärme. Sieholte ein in Ölpapier gewickeltes Päckchen aus ihrerSatteltasche und gab ihm etwas Brot und Käse. DasPäckchen war so gut eingewickelt gewesen, daß das Essensogar nach dem Tauchbad noch trocken war. Und du hastdir ihretwegen Sorgen gemacht! Sie ist besserdavongekommen als du.

»Bela hat mich herübergebracht«, sagte Egwene undtätschelte die struppige Stute. »Sie ist vor den Trollocsdavongerannt und hat mich mitgerissen.« Sie schwiegeinen Moment lang. »Ich habe keinen von den anderengesehen, Perrin.«

Er hörte die unausgesprochene Frage. Er beäugte

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bedauernd das Päckchen, das sie nun wieder einwickelte,und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern, bevorer sagte: »Ich habe seit gestern niemanden außer dirgesehen. Immerhin auch keine Blassen und Trollocs.«

»Rand geht es bestimmt gut«, sagte Egwene und fügtedann schnell hinzu: »Den anderen auch. Ganz bestimmt.Vielleicht suchen sie jetzt nach uns. Sie könnten uns jedenMoment finden. Schließlich ist Moiraine eine Aes Sedai.«

»Ich werde ständig daran erinnert«, sagte er.»Versengen soll mich das Licht, ich wünschte, ich könntees vergessen!«

»Ich habe nicht gehört, daß du dich beklagt hast, als siedie Trollocs davon abhielt, uns zu fangen«, sagte Egweneschnippisch.

»Ich wünsche mir nur, wir könnten ohne sieauskommen.« Er zuckte die Achseln, von ihrem stetigenBlick unangenehm berührt. »Aber das können wir wohlnicht. Ich habe nachgedacht.« Ihre Augenbrauen hobensich, doch er war an die Überraschung gewöhnt, dieandere zeigten, wenn er behauptete, eine Idee zu haben.Selbst wenn seine Ideen genauso gut waren wie die ihren,dachten sie immer daran, wie lange es dauerte, bis sie ihmeingefallen waren. »Wir können darauf warten, daß Lanund Moiraine uns finden.«

»Natürlich«, unterbrach sie ihn. »Moiraine Sedai sagte,sie werde uns finden, falls wir getrennt würden.«

Er ließ sie ausreden und fuhr dann fort: »Oder dieTrollocs könnten uns zuerst finden. Moiraine könnte auchtot sein. Das gilt für alle. Nein, Egwene. Es tut mir leid,aber das ist durchaus möglich. Ich hoffe sie sind alle inSicherheit. Ich hoffe, sie kommen alle in ein paar Minutenhierher ans Feuer. Aber die Hoffnung ist wie ein dünnerFaden, wenn du ertrinkst; er reicht nicht aus, um sich

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daran herauszuziehen.«Egwene schloß den Mund und blickte ihn mit

vorgeschobenem Kinn an. Schließlich sagte sie: »Du willstflußabwärts nach Weißbrücke gehen? Wenn uns MoiraineSedai hier nicht findet, wird das der nächste Ort sein, andem sie uns sucht.«

»Ich denke«, sagte er bedächtig, »wir sollten nachWeißbrücke gehen. Aber das wissen wohl auch dieBlassen. Sie werden gerade dort suchen, und diesmalhätten wir keine Aes Sedai und keinen Behüter dabei, umuns zu beschützen.«

»Also, dann schlägst du vor, daß wir irgendwohin insBlaue davonrennen, wie Mat es wollte? Uns irgendwoverstecken, wo Blasse und Trollocs uns nicht finden? Undauch Moiraine Sedai nicht, ja?«

»Glaube nicht, daß ich nicht daran gedacht habe«, sagteer ruhig. »Aber jedesmal, wenn wir glauben, wir hättensie los, finden uns die Blassen und die Trollocs wieder.Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Ort gibt, an dem wir unsvor ihnen verstecken könnten. Es gefällt mir wohl nichtsehr, aber wir brauchen Moiraine.«

»Dann verstehe ich nichts mehr. Wohin sollen wirgehen?«

Er blinzelte überrascht. Sie wartete auf seine Antwort.Wartete darauf, daß er ihr sagte, was sie tun sollten. DerGedanke war ihm völlig neu, daß sie ihn die Führungübernehmen lassen wollte. Egwene hatte es noch niegepaßt, tun zu müssen, was jemand anderes geplant hatte,und sie ließ sich nie von anderen vorschreiben, was sie zutun habe. Eine Ausnahme machte sie vielleicht nur bei derSeherin, und er glaubte, daß sie sich manchmal auchdagegen sträubte. Er strich die Erde vor ihnen mit derHand glatt und räusperte sich ungeschickt.

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»Das ist der Ort, an dem wir uns jetzt befinden, undhier ist Weißbrücke.« Er drückte mit dem Finger zweiZeichen in den Boden. »Dann müßte Caemlyn irgendwo indieser Gegend sein.« Er machte ein drittes Zeichen,diesmal ein Stück entfernt von den anderen. Er hielt inneund sah die drei Abdrücke in der Erde an. Sein gesamterPlan hing davon ab, wie gut er sich an die alte Landkarteihres Vaters erinnern konnte. Meister al'Vere hattegemeint, sie sei nicht genau, und außerdem hatte er niesoviel darüber gehockt und geträumt wie Rand und Mat.Doch Egwene schwieg. Als er aufblickte, beobachtete sieihn immer noch und hatte die Hände in den Schoß gelegt.»Caemlyn?« Ihre Stimme klang verblüfft.

»Caemlyn.« Er verband zwei der Abdrücke auf demBoden durch eine Linie. »Weg vom Fluß und quer rüber.Keiner würde das erwarten. Wir warten in Caemlyn aufsie.« Er klopfte sich den Schmutz von den Händen undwartete. Er glaubte, es sei ein guter Plan, aber sicher hattesie Einwände. Er erwartete, daß sie jetzt die Führungübernahm – sie trieb ihn immer zu irgend etwas an –, undes war ihm recht.

Zu seiner Überraschung nickte sie. »Es muß Dörfergeben. Wir können uns nach dem Weg erkundigen.«

»Was mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Perrin, »ist:Was wollen wir tun, wenn uns die Aes Sedai dort nichtfindet? Licht, wer hätte je geglaubt, daß ich mir mal denKopf über so was zerbrechen würde? Was geschieht, wennsie nicht nach Caemlyn kommt? Vielleicht hält sie uns fürtot? Vielleicht bringt sie Rand und Mat geradewegs nachTar Valon?«

»Moiraine Sedai sagte, sie könne uns finden«, sagteEgwene mit Nachdruck. »Wenn sie uns hier finden kann,kann sie es auch in Caemlyn, und das wird sie.«

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Perrin nickte langsam. »Meinst du? Aber wenn sie nachein paar Tagen in Caemlyn nicht auftaucht, dann gehenwir weiter nach Tar Valon und bringen unseren Fall vorden Amyrlin-Sitz.« Er atmete tief durch. Vor zweiWochen hast du noch nicht einmal eine Aes Sedai gesehen,und nun sprichst du über den Amyrlin-Sitz! Licht! »NachLans Aussage gibt es eine gute Straße von Caemlyn aus.«Er sah das Ölpapierpäckchen neben Egwene an undräusperte sich. »Wie steht es mit noch ein wenig Brot undKäse?«

»Das muß vielleicht ziemlich lange reichen«, sagte sie,»es sei denn, du hast mehr Glück im Fallenstellen als ichvergangene Nacht. Na, wenigstens war es leicht, Feuer zumachen.« Sie lachte vergnügt, als habe sie einen Scherzgemacht, und steckte das Päckchen zurück in dieSatteltasche.

Offensichtlich gab es eine Grenze in bezug auf ihreBereitschaft, einen anderen die Führung übernehmen zulassen. Sein Magen grollte wieder. »In diesem Fall«, sagteer und stand auf, »können wir genausogut jetzt gleichaufbrechen.«

»Aber du bist noch naß!« wandte sie ein.»Ich werde schon beim Laufen trocknen«, sagte er

entschlossen und schob mit den Füßen Erde auf das Feuer.Wenn er der Anführer war, dann wurde es Zeit, das unterBeweis zu stellen. Der Wind vom Fluß her frischte auf.

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GLOSSAR

Der Tomanische Kalender (von Toma dur Ahmidentworfen) wurde ungefähr zwei Jahrhunderte nach demTod des letzten männlichen Aes Sedai eingeführt. E rzählte die Jahre Nach der Zerstörung der Welt (NZ).Während der Trolloc-Kriege wurden viele Aufzeich-nungen zerstört, so daß man sich nach dem Ende dieserKriege nicht mehr sicher war, in welchem Jahr der altenZeitrechnung der neue Kalender einsetzte. Tiam vonGazar schlug die Einführung eines neuen Kalenders vor,der die damals angenommene Befreiung von derBedrohung durch die Trollocs feierte und jedes Jahr alsein Freies Jahr (FJ) zählte. Innerhalb der zwanzig auf dasKriegsende folgenden Jahre fand der GazarenischeKalender weitgehende Anerkennung. Artur Falkenflügelbemühte sich, einen neuen Kalender durchzusetzen, derauf seiner Reichsgründung basierte (VG, Von derGründung an), aber dieser Versuch ist heute nur noch denHistorikern bekannt. Nach weitreichender Zerstörung,Tod und Aufruhr während des Hundertjährigen Kriegswurde ein vierter Kalender von Uren din Jubai FliegendeMöwe entworfen, einem Gelehrten der Meerleute, undvon dem Panarch Farede von Tarabon weiterverbreitet.Der Farede-Kalender, der von dem willkürlichangenommenen Ende des Hundertjährigen Kriegs anrechnet und die Jahre seither als Neue Ära (NÄ) führt, istmomentan in Gebrauch.

Adan, Heran (Ei-dan): Gouverneur von Baerlon.

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Aera-Gewebe: siehe Muster eines Zeitalters.Aes Sedai (Aies Sehdai): Träger der Einen Macht. Seit

der Zeit des Wahnsinns sind alle Überlebenden AesSedai Frauen. Man mißtraut ihnen und fürchtet, ja, haßtsie. Viele geben ihnen die Schuld an der Zerstörung derWelt, und allgemein glaubt man, sie würden sich in dieAngelegenheiten ganzer Staaten einmischen.Gleichzeitig aber findet man nur wenige Herrscherohne Aes Sedai-Berater, selbst in Ländern, wo schondie Existenz einer solchen Verbindung geheimgehaltenwerden muß. Als Anrede wird benützt: Sheriam Sedai;als Ehrentitel: Sheriam Aes Sedai (siehe auch: Ajah;Amyrlin-Sitz).

Agelmar; Lord Agelmar (Eigelmar) aus dem HauseJagad: Herr von Fal Dara. Im Wappen führt er dreirennende Rotfüchse.

Aiel (Aiiehl): die Bewohner der Aiel-Wüste; gelten alswild und zäh. Man nennt sie auch Aielmänner. Vor demTöten verschleiern sie die Gesichter. Das führte zu derRedensart: ›Er benimmt sich wie ein Aiel mitschwarzem Schleier‹, um einen gewalttätigen Menschenzu beschreiben. Sie nehmen kein Schwert in die Hand,sind aber tödliche Krieger, ob mit Waffen oder mitbloßen Händen. Während sie in die Schlacht ziehen,spielen ihre Spielleute Tanzmelodien auf. Die Aiel-männer benützen für die Schlacht das Wort ›der Tanz‹.

Aiel-Wüste: das rauhe, zerrissene und fast wasserloseGebiet östlich des Rückrats der Welt. Nur wenigeAußenseiter wagen sich dorthin, weil es für jemandender nicht dort geboren wurde, fast unmöglich istWasser zu finden, und weil die Aiel sich im ständigenKriegszustand mit allen anderen Völkern befinden undFremde ablehnen.

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Ajah: Gesellschaftsgruppen unter den Aes Sedai. Jede AesSedai gehört einer solchen Gruppe an. Sieunterscheiden sich durch ihre Farben: Blaue Ajah, RoteAjah, Weiße Ajah, Grüne Ajah, Braune Ajah, GelbeAjah und Graue Ajah. Jede Gruppe folgt ihrer eigenenAuslegung in bezug auf die Anwendung der EinenMacht und die Existenz der Aes Sedai. Zum Beispielsetzen die Roten Ajah ihre ganze Kraft dazu ein,Männer zu finden und zu beeinflussen, die versuchen,die Macht auszuüben. Eine Braune Ajah andererseitsleugnet alle Verbindung zur Außenwelt und verschreibtsich ganz der Suche nach Wissen. Es gibt Gerüchte(vehement verneint und um keinen Preis vor einer AesSedai zu erwähnen) über eine Schwarze Ajah, die demDunklen König dient.

Aldieb: in der Alten Sprache ›Westwind‹, der Wind, derden Frühlingsregen bringt.

Al Ellisande!: in der Alten Sprache ›Für die Rose derSonne!‹

al'Meara, Nynaeve (Almehra, Nainiev): die Seherinvon Emondsfeld.

al'Thor, Rand: ein junger Bauer und Schäfer aus demGebiet der Zwei Flüsse.

al'Vere, Egwene (Alwier, Egwain): jüngste Tochter desWirts von Emondsfeld.

Amyrlin, die: (1.) Titel der Anführerin der Aes Sedai.Auf Lebenszeit vom Turmrat gewählt, dem höchstenGremium des Aes Sedai; dieser besteht aus je dreiAbgeordneten der sieben Ajahs. Die Amyrlin hat,jedenfalls theoretisch, unter den Aes Sedai beinaheuneingeschränkte Macht; in etwa vom Rang einerKönigin.(2.) Thron der Anführerin der Aes Sedai.

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Andor: das Reich, innerhalb dessen das Gebiet der ZweiFlüsse liegt. Im Wappen führt Andor einensprungbereiten weißen Löwen auf rotem Feld.

Angreal: ein sehr seltenes Objekt. Es erlaubt einerPerson, die die Eine Macht lenken kann, einenstärkeren Energiefluß zu meistern, als das sonst ohneHilfe und ohne Lebensgefahr möglich ist. Relikte desZeitalters der Legenden. Es ist heute nicht mehrbekannt, wie sie angefertigt wurden (siehe auch:sa'Angreal).

Arafel: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Arafeldrei weiße Rosen auf rotem Feld und diagonalgegenüber drei rote Rosen auf weißem Feld.

Aram (Eiram): ein junger Mann der Tuatha'an.Augenlosen, die: siehe Myrddraal.Avendesora: in der alten Sprache der Baum des Lebens;

wird in vielen Geschichten und Legenden erwähnt.Aybara, Perrin: ein junger Schmiedlehrling aus

Emondsfeld.Ba'alzamon: in der Trolloc-Sprache ›Herz der

Dunkelheit‹. Es wird angenommen, dies sei derTrolloc-Name für den Dunklen König.

Baerlon: eine Stadt in Andor an der Straße von Caemlynzu den Minen in den Nebelbergen.

Barran, Doral: die Seherin von Emondsfeld vorNynaeve al'Meara.

Behüter: ein Krieger, der einer Aes Sedai zugeschworenist. Das geschieht mit Hilfe der Einen Macht, und ergewinnt dadurch Fähigkeiten wie schnelles Heilen vonWunden, er kann lange Zeiträume ohne Wasser,Nahrung und Schlaf auskommen und den Einfluß desDunklen Königs auf größere Entfernung spüren. Solange er am Leben ist, weiß die mit ihm verbundene

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Aes Sedai, daß er lebt, auch wenn er noch so weitentfernt ist, und sollte er sterben, dann weiß sie dengenauen Zeitpunkt und auch den Grund seines Todes.Allerdings weiß sie nicht, wie weit von ihr entfernt ersich befindet oder in welcher Richtung. Die meistenAjahs gestatten einer Aes Sedai den Bund mit nur einemBehüter. Die Roten Ajah allerdings lehnen die Behüterfür sich selbst ganz ab, während die Grünen Ajah eineVerbindung mit so vielen Behütern gestatten, wie dieAes Sedai es wünscht. An sich muß der Behüter derVerbindung freiwillig zur Verfügung stehen, es gabjedoch auch Fälle, in denen der Krieger dazugezwungen wurde. Welche Vorteile die Aes Sedai ausder Verbindung ziehen, wird von ihnen als strenggehütetes Geheimnis behandelt. (siehe auch Aes Sedai).

Bel Tine (Behltein): Frühlingsfest im Gebiet der ZweiFlüsse.

Biteme: ein winzig kleines, stechendes, sehr lästigesInsekt.

Blassen, die: siehe Myrddraal.Blattverderber: siehe Dunkler König.Blaue Ajah: siehe Ajah.Bornhald, Dain: ein Offizier der Kinder des Lichts,

Sohn von Geofram Bornhald.Bornhald, Geofram: ein Oberkommandierender

Hauptmann der Kinder des Lichts.Bryne, Gareth: General und Hauptmann der königlichen

Garde von Andor. Dient Morgase auch als der ErstePrinz des Schwertes. Im Wappen führt er drei goldeneSterne mit jeweils fünf Strahlen.

Byar, Jaret: ein Offizier der Kinder des Lichts.Caemlyn: die Hauptstadt von Andor.Cairhien: sowohl eine Nation am Rückrat der Welt wie

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auch die Hauptstadt dieser Nation. Die Stadt wurde imAielkrieg (976–978 NÄ) niedergebrannt undgeplündert. Im Wappen führt Cairhien eine goldeneSonne mit vielen Strahlen, die sich vom unteren Randeines himmelblauen Feldes erhebt.

Carai an Caldazar!: In der Alten Sprache ›Zur Ehredes Roten Adlers!‹ Der uralte Schlachtruf vonManetheren.

Carai an Ellisande!: In der Alten Sprache ›Zur Ehreder Rose der Sonne!‹ Der Schlachtruf des letztenKönigs von Manetheren.

Cauthon, Matrim (Mat): ein junger Bauer von den ZweiFlüssen.

Charin, Jain (Dschain): siehe Fernstreicher, Jain.Cuendillar: siehe Herzstein.Dämpfung: Wenn ein Mann die Anlage zeigt, die Eine

Macht zu beherrschen, müssen die Aes Sedai seineKräfte ›dämpfen‹, also komplett unterdrücken, da ersonst wahnsinnig wird, vom Verderben der Saidingetroffen, und möglicherweise schreckliches Unheil mitseinen Kräften anrichten wird. Ein Mann, der derDämpfung unterzogen wurde, kann die Eine Machtnoch spüren, sie aber nicht mehr benutzen. Wenn vorder Dämpfung der beginnende Wahnsinn eingesetzt hat,kann er durch den Akt der Dämpfung aufgehalten,jedoch nicht geheilt werden. Hat die Dämpfung frühgenug stattgefunden, kann das Leben des Mannesgerettet werden.

Damodred, Lord Galadedrid: der einzige Sohn vonTaringail Damodred und Tigraine; Halbbruder vonElayne und Gawyn. Im Wappen führt er ein geflügeltessilbernes Schwert, das nach unten zeigt.

Damodred, Prinz Taringail: ein königlicher Prinz

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von Cairhien; er heiratete Tigraine und zeugte Galade-drid. Als Tigraine verschwand und für tot erklärt wur-de, heiratete er Morgase und zeugte Elayne und Gawyn.Er verschwand unter mysteriösen Begleitumständenund wird seit vielen Jahren für tot gehalten. SeinWappen war eine doppelschneidige goldene Streitaxt.

Dha-vol, Dhai-mon: siehe Trollocs.Djevik K'Shar: in der Trolloc-Sprache ›Der Sterbende

Boden‹; Trollocname für die Aielwüste.Domon, Bayle (Beil): Kapitän der Gischt.Drache, der: Ehrenbezeichnung für Lews Therin

Telamon während des Schattenkriegs. Als derWahnsinn alle männlichen Aes Sedai befiel, tötete LewsTherin alle Personen, die etwas von seinem Blut in sichtrugen, und jede Person, die er liebte. So bezeichneteman ihn anschließend als Brudermörder. Heute wirddie Redensart ›vom Drachen besessen‹ benutzt, wennman sagen will, daß jemand seine Mitmenschengrundlos gefährdet oder bedroht (siehe auchWiedergeborener Drache).

Drache, falsch: Manchmal behaupten Männer, derWiedergeborene Drache zu sein, und manch einergewinnt so viele Anhänger, daß ihn nur eine Armeebesiegen kann. Einige haben schon Kriege begonnen, indie viele Nationen verwickelt wurden. In den letztenJahrhunderten waren die meisten falschen Drachennicht in der Lage, die Eine Macht richtig anzuwenden,aber es gab doch ein paar, die es konnten. Alle jedochverschwanden oder wurden gefangen oder getötet, ohneeine der Prophezeiungen erfüllen zu können, die sichum die Wiedergeburt des Drachen ranken. DieseMänner nennt man falsche Drachen (siehe auchWiedergeborener Drache).

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Drachenzahn: ein stilisiertes Zeichen, meist schwarz, inForm einer auf der Spitze stehenden Träne. Wenn esauf eine Tür oder ein Haus gezeichnet wird, gilt das alsAnschuldigung, daß die Bewohner dem Bösen dienen.

Dunkler König: gebräuchlichste Bezeichnung, in allenLändern verwendet, für Shai'tan, die Quelle des Bösen,Antithese des Schöpfers. Im Augenblick der Schöpfungwurde er vom Schöpfer in ein Verlies am Shayol Ghulgesperrt. Ein Versuch, ihn aus diesem Kerker zubefreien, führte zum Schattenkrieg, dem Verderben derSaidin, der Zerstörung der Welt und dem Ende desZeitalters der Legenden.

Dunklen König nennen, den: Wenn man denwirklichen Namen des Dunklen Königs erwähnt(Shai'tan), zieht man seine Aufmerksamkeit auf sich,was unweigerlich dazu führt, daß man Pech hat oderschlimmstenfalls eine Katastrophe erlebt. Aus diesemGrund werden viele Euphemismen verwendet, wie z. B.der Dunkle König, der Vater der Lügen, derSichtblender, der Herr der Gräber, der Schäfer derNacht, Herzensbann, Herzfang, Grasbrenner undBlattverderber. Jemand, der das Pech anzuziehenscheint, ›nennt den Dunklen König‹.

Easar, König Easar aus dem Hause Togita: Königvon Schienar. In seinem Wappen führt er den weißenHirsch, der nach einer schienarischen Sitte auch –zusammen mit dem schwarzen Falken – das gesamteLand repräsentiert.

Eine Macht, die: die Kraft aus der Wahren Quelle. Diegroße Mehrheit der Menschen ist absolut unfähig, zulernen, wie man die Eine Macht anwendet. Eine sehrgeringe Anzahl von Menschen kann die Anwendungerlernen, und noch weniger besitzen diese Fähigkeit

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von Geburt an. Diese wenigen müssen ihren Gebrauchnicht lernen, denn sie werden die Wahre Quelleberühren und die Eine Macht benutzen, ob sie wollenoder nicht, vielleicht sogar ohne zu bemerken, was sieda tun. Diese angeborene Fähigkeit taucht meist zuerstwährend der Pubertät auf. Wenn man dann nicht dieKontrolle darüber erlernt – durch Lehrer oder auchganz allein (extrem schwierig, die Erfolgsquote liegtbei eins zu vier) –, ist die Folge der sichere Tod. Seitder Zeit des Wahns hat kein Mann es gelernt, die EineMacht kontrolliert anzuwenden, ohne dabei auf dieDauer auf schreckliche Art dem Wahnsinn zu verfallen.Selbst wenn er in gewissem Maß die Kontrolle erlangthat, stirbt er an einer Verfallskrankheit, bei der er beilebendigem Leib verfault. Auch diese Krankheit wird,genau wie der Wahnsinn, von dem Verderben hervor-gerufen, das der Dunkle König über die Saidin brachte.Bei Frauen ist der Tod mangels Kontrolle der EinenMacht etwas erträglicher, aber sterben müssen auch sie.Die Aes Sedai suchen nach Mädchen mit diesenangeborenen Fähigkeiten, zum einen um ihre Leben zuretten und zum anderen, um die Anzahl der Aes Sedaizu vergrößern. Sie suchen nach Männern mit dieserFähigkeit, um zu verhindern, daß sie Schrecklichesdamit anrichten, wenn sie dem Wahn verfallen (sieheauch Zeit des Wahns, die Wahre Quelle).

Elaida: eine Aes Sedai-Ratgeberin der Königin Morgasevon Andor.

Elayne: Königin Morgases Tochter, die Tochter-Erbindes Throns von Andor. Sie führt im Wappen einegoldene Lilie.

Else, Else Grinwell: eine Bauerntochter, die in derNähe der Straße nach Caemlyn wohnt.

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Erster Prinz des Schwertes: Titel – normalerweise –des ältesten Bruders der Königin von Andor, der seitseiner Kindheit darauf vorbereitet wurde, im Krieg dieArmee der Königin zu kommandieren und im Friedenals ihr Ratgeber zu fungieren. Falls die Königin keinenüberlebenden Bruder hat, bestimmt sie jemanden fürdiese Position.

Fäule: siehe Große Fäule.Fain, Padan: ein Hausierer, der gerade rechtzeitig zur

Winternacht in Emondsfeld ankommt.Falkenflügel, Artur: ein legendärer König, der alle

Länder westlich des Rückgrats der Welt und einige vonjenseits der Aiel-Wüste einte. Er sandte sogar eineArmee über das Aryth-Meer, doch verlor man beiseinem Tod, der den Hundertjährigen Krieg auslöste,jeden Kontakt mit diesen Soldaten. Er führte einenfliegenden goldenen Falken im Wappen (siehe auch:Hundertjähriger Krieg).

Far Dareis Mai: wörtlich ›Töchter des Speers‹, einevon mehreren Kriegergemeinschaften der Aiel. Andersals bei den übrigen werden ausschließlich Frauenaufgenommen. Sollte sie heiraten, darf eine Frau nichtmehr Mitglied bleiben. Während einer Schwangerschaftdarf ein Mitglied nicht kämpfen. Jedes Kind einesMitglieds wird von einer anderen Frau aufgezogen, sodaß niemand mehr weiß, wer die wirkliche Mutter war.(›Du darfst keinem Manne angehören, und kein Mannoder Kind darf dir angehören. Der Speer ist deinLiebhaber, dein Kind und dein Leben.‹) Diese Kindersind hochangesehen, denn es wurde prophezeit, daß einKind einer Tochter des Speers die Clans vereinen undzu der Bedeutung zurückführen wird, die sie imZeitalter der Legenden besaßen.

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Faust: grundlegende militärische Einheit der Trollocs.Die Anzahl der Krieger ist unterschiedlich: Es sindimmer mehr als 100, aber nie mehr als 200. Eine Faustwird gewöhnlich, wenn auch nicht immer, von einemMyrddraal befehligt.

Fernstreicher, Jain: ein Held aus dem hohen Norden,der viele Länder bereiste und viele Abenteuer erlebte;Autor mehrerer Bücher und selbst Hauptperson inBüchern und Geschichten. Er verschwand 994 NÄ,nachdem er von einer Reise in die Große Fäulezurückgekehrt war, von der behauptet wird, sie habeihn bis zum Shayol Ghul geführt.

Flamme von Tar Valon: das Symbol für Tar Valonund die Aes Sedai. Die stilisierte Darstellung einerFlamme; eine weiße, nach oben gerichtete Träne.

Frauenzirkel: eine Gruppe von Frauen, die von denFrauen des Dorfs gewählt werden und die fürFrauenangelegenheiten im Dorf verantwortlich sind (z.B. wann Aussaat und Ernte durchgeführt werden). DerFrauenzirkel ist dem Gemeinderat gleichgestellt, hataber ganz klar vorgeschriebene Sachgebiete undVerantwortlichkeiten. Steht oft im Gegensatz zumGemeinderat (siehe auch Gemeinderat).

Fünf Mächte: die Stränge der Einen Macht. Jeder, derdie Eine Macht anwenden kann, wird einige dieserStränge besser als die anderen handhaben können. DieseStränge nennt man nach den Dingen, die man durchihre Anwendung beeinflussen kann: Erde, Luft, Feuer,Wasser, Geist – die Fünf Mächte. Wer die Eine Machtanwenden kann, beherrscht gewöhnlich einen oder zweidieser Stränge besonders gut und hat Schwächen in derAnwendung der übrigen. Einige wenige beherrschenauch drei davon, aber seit dem Zeitalter der Legenden

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gab es niemanden mehr, der alle fünf in gleichem Maßebeherrschte. Und auch dann war das eine großeSeltenheit. Das Maß, in dem diese Stränge beherrschtwerden und Anwendung finden, ist individuell ganzverschieden; einzelne dieser Personen sind sehr vielstärker als die anderen. Wenn man bestimmteHandlungen mit Hilfe der Einen Macht vollbringenwill, muß man einen oder mehrere bestimmte Strängebeherrschen. Wenn man beispielsweise ein Feuerentzünden oder beeinflussen will, braucht man denFeuer-Strang; will man das Wetter ändern, muß mandie Bereiche Luft und Wasser beherrschen, währendman für Heilungen Wasser und Geist benutzen muß.Während Männer und Frauen in gleichem Maße denGeist beherrschten, war das Talent in bezug auf Erdeund/oder Feuer besonders oft bei Männern ausgeprägtund das für Wasser und/oder Luft bei Frauen. Es gabAusnahmen, aber trotzdem betrachtete man Erde undFeuer als die männlichen Mächte, Luft und Wasser alsdie weiblichen. Im allgemeinen werden die Fähigkeitenals gleichwertig betrachtet, doch unter den Aes Sedaigibt es ein Sprichwort: ›Es gibt keinen Felsen, der sofest ist, daß Wind und Wasser ihn nicht abtragenkönnten, und kein Feuer, das nicht von Wasser oderWind gelöscht werden kann.‹ Es soll nicht unerwähntbleiben, daß dieses Sprichwort erst lange nach dem Toddes letzten männlichen Aes Sedai aufkam. Irgendeinmögliches Äquivalent bei den männlichen Aes Sedai istnicht mehr bekannt.

Galad: siehe Damodred, Lord Galadedrid.Gaukler: fahrende Märchenerzähler, Musikanten,

Jongleure, Akrobaten und Alleinunterhalter. IhrAbzeichen ist die aus bunten Flicken zusammengesetzte

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Kleidung. Sie besuchen vor allem Dörfer undKleinstädte, da in den größeren Städten schon zuvielandere Unterhaltung geboten wird.

Gawyn: Sohn der Königin Morgase, Bruder von Elayne,der bei Elaynes Thronbesteigung Erster Prinz desSchwertes wird. Er führt einen weißen Keiler imWappen.

Gemeinderat: In den meisten Dörfern wird eine Gruppevon Männern in den Gemeinderat gewählt, der für alleEntscheidungen zuständig ist, die das gesamte Dorfoder Verhandlungen mit anderen Dörfern betreffen.Vorsitzender ist der Bürgermeister oder Dorfälteste.Der Gemeinderat streitet häufig mit dem Frauenzirkeldes Dorfes. Diese Auseinandersetzungen haben schonfast Tradition (siehe auch Frauenzirkel).

Gewebe der Zeiten: auch Zeitgewebe genannt (sieheGroßes Muster).

Grenzlande: die an die Große Fäule angrenzendenNationen: Saldaea, Arafel, Kandor und Schienar.

Große Fäule: eine Region im hohen Norden, die durchden Dunklen König vollständig verdorben wurde. Siestellt eine Zuflucht für Trollocs, Myrddraal und andereKreaturen des Dunklen Königs dar.

Großer Herr der Dunkelheit: Diese Bezeichnungverwenden die Schattenfreunde für den Dunklen König.Sie behaupten, es sei Blasphemie, seinen wirklichenNamen zu benützen.

Großes Muster: Das Rad der Zeit verwebt die Musterder einzelnen Zeitalter zum Großen Muster, in dem diegesamte Existenz und Realität, Vergangenheit,Gegenwart und Zukunft festgelegt sind. Auch alsGewebe der Zeiten oder Zeitengewebe bekannt (sieheauch Muster eines Zeitalters, Rad der Zeit).

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Große Schlange: ein Symbol für die Zeit und dieEwigkeit, das schon uralt war, bevor das Zeitalter derLegenden begann. Es zeigt eine Schlange, die deneigenen Schwanz verschlingt.

Halbmensch: siehe Myrddraal.Herzensbann, Herzfang: siehe Dunkler König.Herzstein: eine unzerstörbare Substanz, die während des

Zeitalters der Legenden erschaffen wurde. Jedebekannte Kraft, die dazu benutzt wird, den Herzstein zuzerstören, wird von ihm absorbiert und stärkt die Kraftdes Herzsteins.

Horn von Valere: das legendäre Ziel der Wilden Jagdnach dem Horn. Man nimmt an, das Horn könne toteHelden zum Leben erwecken, damit sie gegen denSchatten kämpfen.

Hundert Gefährten: hundert männliche Aes Sedai,ausgewählt aus den Mächtigsten des Zeitalters derLegenden, die – von Lews Therin Telamon geführt –den letzten Angriff durchführten und den Schattenkriegbeendeten, indem sie den Dunklen König erneut inseinen Kerker sperrten und diesen versiegelten. DerGegenangriff verdarb die Saidin; die HundertGefährten verfielen dem Wahnsinn und begannen mitder Zerstörung der Welt.

Hundertjähriger Krieg: eine Reihe sichüberschneidender Kriege, geprägt von sich ständigverändernden Bündnissen, ausgelöst durch den Tod vonArtur Falkenflügel und die darauffolgendenAuseinandersetzungen um seine Nachfolge. Er dauertevon 994 FJ bis 1117 FJ. Der Krieg entvölkerte weiteLandstriche zwischen dem Aryth-Meer und der Aiel-Wüste, zwischen dem Meer der Stürme und der GroßenFäule. Die Zerstörungen waren so schwerwiegend, daß

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über diese Zeit nur noch fragmentarische Berichtevorliegen. Das Reich Artur Falkenflügels zerfiel, unddie heutigen Staaten bildeten sich heraus.

Illian: ein großer Hafen am Meer der Stürme, Hauptstadtder gleichnamigen Nation. Im Wappen von Illian findetman neun goldene Bienen auf dunkelgrünem Feld.

Ingtar, Lord Ingtar aus dem Hause Schinowa: einKrieger aus Schienar, der in Fal Dara auftaucht.

Kandor: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Kandorein sich aufbäumendes rotes Pferd auf blaßgrünemFeld.

Kesselflicker: siehe Tuatha'an.Kinch, Hyam (Kinsch, Haiam): ein Bauer, der nahe der

Straße nach Caemlyn wohnt.Kinder des Lichts: eine Gemeinschaft von Asketen, die

sich den Sieg über den Dunklen König und dieVernichtung aller Schattenfreunde zum Ziel gesetzt hat.Die Gemeinschaft wurde während des HundertjährigenKriegs von Lothair Mantelar gegründet, der gegen dieansteigende Zahl der Schattenfreunde als Predigeranging. Während des Kriegs entwickelte sich darauseine vollständige militärische Organisation, extremstreng ideologisch ausgerichtet und fest in demGlauben, nur sie dienten der absoluten Wahrheit unddem Recht. Sie hassen die Aes Sedai und halten siesowie alle, die sie unterstützen oder sich mit ihnenbefreunden, für Schattenfreunde. Sie werdengeringschätzig Weißmäntel genannt. Im Wappen führensie eine goldene Sonne mit Strahlen auf weißem Feld.

Ko'bal: siehe Trollocs.Lan, al'Lan Mandragoran: ein Krieger aus dem

Norden, Gefährte von Moiraine.Luc, Lord Luc aus dem Hause Mantear: Tigraines

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Bruder, der ihr Erster Prinz des Schwertes gewordenwäre, hätte sie den Thron bestiegen. Man glaubtallgemein an eine Verbindung zwischen seinemVerschwinden in der Großen Fäule und Tigrainesspäterem Verschwinden. Er führte eine Eichel imWappen.

Lurk: siehe Myrddraal.Macherax Elyas: ein Mann, den Perrin und Egwene im

Wald treffen.Mahdi: in der Alten Sprache ›Sucher‹; Titel eines

Karawanenführers bei den Tuatha'an.Malkier: eine Nation, einst eins der Grenzlande,

mittlerweile Teil der Großen Fäule. Im Wappen führteMalkier einen fliegenden goldenen Kranich.

Mandarb: in der Alten Sprache ›Klinge‹.Manetheren: eine der Zehn Nationen, die den Zweiten

Pakt schlossen; Hauptstadt des gleichnamigen Staates.Sowohl die Stadt als auch die Nation wurden in denTrolloc-Kriegen vollständig zerstört.

Maradon: Hauptstadt von Saldaea.Meerleute, Meervolk: Bewohner der Inseln im Aryth-

Meer und im Meer der Stürme. Sie verbringen wenigZeit auf diesen Inseln und leben statt dessen meist aufihren Schiffen. Sie beherrschen den Seehandel fastvollständig.

Meile: Längenmaß, gleich eintausend Spannen (siehe auchSpanne).

Merrilin, Thom: ein Gaukler, der nach Emondsfeldkommt, um dort seine Kunst beim Bel Tine zu zeigen.

Min: eine junge Frau im Hirsch und Löwen in Baerlon.Moiraine (Moarän): eine Besucherin, die vor

Winternacht nach Emondsfeld kommt.Morgase (Morgeis): von der Gnade des Lichts, Königin

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von Andor, Hochsitz des Hauses Trakand. Sie führt dreigoldene Schlüssel im Wappen. Das Wappen des HausesTrakand zeigt einen silbernen Grundpfeiler.

Muster eines Zeitalters: Das Rad der Zeit verwebt dieStränge menschlichen Lebens zum Muster eines Zeital-ters, das die Substanz der Realität dieser Zeit bildet;auch als Zeitengewebe bekannt (siehe auch Ta'veren).

Myrddraal: Kreaturen des Dunklen Königs,Kommandanten der Trolloc-Heere. Nachkommen vonTrollocs, bei denen das Erbe der menschlichenVorfahren wieder stärker hervortritt, die man benutzthat, um die Trollocs zu erschaffen. Trotzdem deutlichvom Bösen dieser Rasse gezeichnet. Sie sehen äußerlichwie Menschen aus, haben aber keine Augen. Sie könnenjedoch im Hellen wie im Dunklen wie Adler sehen. Siehaben gewisse, vom Dunklen König stammende Kräfte,darunter die Fähigkeit, mit einem Blick ihr Opfer vorAngst zu lähmen. Wo Schatten sind, können siehineinschlüpfen und sind nahezu unsichtbar. Eine ihrerwenigen bekannten Schwächen besteht darin, daß sieSchwierigkeiten haben, fließendes Wasser zuüberqueren. Man kennt sie unter vielen Namen in denverschiedenen Ländern, z. B. als Halbmenschen, als dieAugenlosen, Schattenmänner, Lurk und die Blassen.

Pakt der Zehn Nationen: eine Liga, die in denJahrhunderten nach der Zerstörung der Welt entstand(ca. 200 NZ); dem Sieg über den Dunklen Königverschrieben; zerbrach während der Trolloc-Kriege.

Rad der Zeit: Die Zeit stellt man sich als ein Rad mitsieben Speichen vor – jede Speiche steht für einZeitalter. Wie sich das Rad dreht, so folgt Zeitalter aufZeitalter. Jedes hinterläßt Erinnerungen, die zuLegenden verblassen, zu bloßen Mythen werden und

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schließlich vergessen sind, wenn dieses Zeitalterwiederkehrt. Das Muster eines Zeitalters wird bei jederWiederkehr leicht verändert, doch auch wenn dieÄnderungen einschneidender Natur sein sollten, bleibtes doch das gleiche Zeitalter.

Rote Ajah: siehe Ajah.Rückgrat der Welt: eine hohe Bergkette, über die nur

wenige Pässe führen. Sie trennt die Aiel-Wüste von denwestlichen Ländern.

Sa'angreal: ein extrem seltenes Objekt, das es einemMenschen erlaubt, die Eine Macht in viel stärkeremMaße als sonst möglich zu benutzen. Ein Sa'angreal istähnlich, doch ungleich stärker als ein Angreal. Reliktdes Zeitalters der Legenden. Es ist nicht mehr bekannt,wie es angefertigt wurde.

Saidar, Saidin: siehe Wahre Quelle.Saldaea: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Saldaea

drei silberne Fische auf dunkelblauem Feld.Schäfer der Nacht: siehe Dunkler König.Schattenfreunde: die Anhänger des Dunklen Königs. Sie

glauben, große Macht und andere Belohnungen zuempfangen, wenn er aus seinem Kerker befreit wird.

Schattenkrieg: auch als der Krieg um die Machtbekannt; mit ihm endet das Zeitalter der Legenden. E rbegann kurz nach dem Versuch, den Dunklen König zubefreien, und erfaßte bald die ganze Welt. In einerWelt, die selbst die Erinnerung an den Krieg vergessenhatte, wurde nun der Krieg in allen seinen Formenwiederentdeckt. Er war besonders schrecklich, wo dieMacht des Dunklen Königs die Welt berührte, und auchdie Eine Macht wurde als Waffe verwendet. Der Kriegwurde beendet, als der Dunkle König wieder in seinenKerker verbannt werden konnte.

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Schattenlords: diejenigen Männer und Frauen, die derEinen Macht dienten und sie anwenden konnten, aberwährend der Trolloc-Kriege zum Schatten überliefenund die Trolloc-Streitkräfte kommandierten.

Schattenmänner: siehe Myrddraal.Schicksalsgewebe: eine große Änderung im Muster

eines Zeitalters, von einem oder mehreren Menschenausgehend, die Ta'veren sind.

Schienar: eines der Grenzlande. Im Wappen vonSchienar sieht man einen sich herabstürzendenschwarzen Falken.

Schufa: ein Kleidungsstück der Aiel, ein Tuch,gewöhnlich sand- oder felsfarben, das man um Kopfund Hals wickelt. Nur das Gesicht bleibt frei.

Schwarze Ajah: siehe Ajah.Seherin: eine Frau, die in den Frauenzirkel ihres Dorfs

berufen wird, weil sie die Fähigkeit des Heilens besitzt,das Wetter vorhersagen kann und auch sonst als klugeFrau anerkannt ist. Ihre Stellung fordert großesVerantwortungsbewußtsein und verleiht ihr vielAutorität. Allgemein wird sie dem Bürgermeistergleichgestellt, in manchen Dörfern steht sie sogar überihm. Im Gegensatz zum Bürgermeister wird sie aufLebenszeit gewählt. Es ist äußerst selten, daß eineSeherin vor ihrem Tod aus ihrem Amt entfernt wird.Ihre Auseinandersetzungen mit dem Bürgermeister sindauch zur Tradition geworden (siehe auch Frauenzirkel).

Shadar Logoth: in der Alten Sprache ›der Ort, an demder Schatten wartet‹. Eine seit den Trolloc-Kriegenverlassene und gemiedene Stadt. Wird auch ›WartendeSchatten‹ genannt.

Shai'tan: siehe Dunkler König.Shayol Ghul: ein Berg im Versengten Land; dort

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befindet sich der Kerker, in dem der Dunkle Königgefangengehalten wird.

Sheriam: eine Aes Sedai von den Blauen Ajah.Sichtblender: siehe Dunkler König.Spanne: Längenmaß; entspricht ungefähr zwei Schritten.

Tausend Spannen ergeben eine Meile.Sonnentag: ein weithin verbreitetes Mittsommerfest.Stedding: eine Ogier-Enklave. Viele Stedding sind seit

der Zerstörung der Welt verlassen worden. InErzählungen und Legenden werden sie alsZufluchtsstätte bezeichnet, und das aus gutem Grund.Auf eine heute nicht mehr bekannte Weise wurden sieabgeschirmt, so daß in ihrem Bereich kein Aes Sedaidie Eine Macht anwenden kann und nicht einmal eineSpur der Wahren Quelle wahrnimmt. Versuche, vonaußerhalb eines Stedding mit Hilfe der Einen Macht imInneren einzugreifen, bleiben erfolglos. Kein Trollocwird ohne Not ein Stedding betreten, und selbst einMyrddraal betritt es nur, wenn er dazu gezwungen ist,und auch dann nur zögernd und mit größtem Abscheu.Sogar echte Schattenfreunde fühlen sich in einemStedding nicht wohl.

Stein von Tear: die Festung über der Stadt Tear. Mansagt, sie sei die erste Festung gewesen, die nach der Zeitdes Wahns gebaut wurde. Manche behaupten sogar, siesei während der Zeit des Wahns erbaut worden (sieheauch Tear).

Tallanvor, Martyn: Gardeleutnant aus der Leibgardeder Königin; wir treffen ihn in Caemlyn.

Ta'maral'ailen: in der Alten Sprache›Schicksalsgewebe‹.

Tanreall, Artur Paendrag: siehe Falkenflügels Artur.Tar Valon: eine Stadt auf einer Insel im Fluß Erinin.

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Mittelpunkt der Macht der Aes Sedai. Von hier ausregiert der Amyrlin-Sitz.

Ta'veren: eine Person im Zentrum des Gewebes vonLebenssträngen aus ihrer Umgebung, möglicherweisesogar aller Lebensstränge, die vom Rad der Zeit zueinem Schicksalsgewebe zusammengefügt wurden (sieheauch Muster eines Zeitalters).

Tear: ein großer Hafen am Meer der Stürme. DasWappen von Tear zeigt drei weiße Halbmonde auf rot-und goldgemustertem Feld.

Telamon, Lews Therin: siehe auch Drache.Thakan'dar: ein ewig von Nebel verhülltes Tal unterhalb

des Shayol Ghul.Tigraine (Tigrän): Als Tochter-Erbin von Andor

heiratete sie Taringail Damodred und gebar seinenSohn Galadedrid. Ihr Verschwinden im Jahr 972 NÄ,kurz nachdem ihr Bruder Luc in der Fäule verschwand,löste einen Kampf um ihre Nachfolge in Andor aus undverursachte die Geschehnisse in Cairhien, dieschließlich zum Aiel-Krieg führten. Sie zeigte imWappen eine Frauenhand, die den Stiel einer Rose mitweißer Blüte umfaßt.

Tochter-Erbin: Titel der Erbin des Throns von Andor.Die älteste Tochter der Königin folgt ihrer Mutter aufden Thron. Sollte keine Tochter geboren werden oderam Leben sein, geht der Thron an die nächsteBlutsverwandte der Königin über.

Trolloc-Kriege: eine Reihe von Kriegen, die etwagegen 1000 NZ begannen und sich über mehr als 300Jahre hinzogen. Trolloc-Heere verwüsteten die Welt.Schließlich aber wurden die Trollocs entweder getötetoder in die Große Fäule zurückgetrieben. MehrereStaaten wurden im Rahmen dieser Kriege ausgelöscht

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oder entvölkert. Alle Aufzeichnungen aus dieser Zeitsind fragmentarisch (siehe auch Pakt der ZehnNationen).

Trollocs: Kreaturen des Dunklen Königs, die er währenddes Schattenkriegs erschuf. Sie sind körperlich sehrgroß und außerordentlich bösartig. Sie stellen einehybride Kreuzung zwischen Tier und Mensch dar undtöten aus purer Mordlust. Nur diejenigen, die selbst vonden Trollocs gefürchtet werden, können diesen trauen.Trollocs sind schlau, hinterhältig und verräterisch. Sieessen alles, auch jede Art von Fleisch, das vonMenschen und anderen Trollocs eingeschlossen. Da siezum Teil von Menschen abstammen, sind sie zumGeschlechtsverkehr mit Menschen imstande, doch diemeisten einer solchen Verbindung entspringendenKinder werden entweder tot geboren oder sind kaumlebensfähig. Die Trollocs leben in stammesähnlichenHorden. Die wichtigsten davon heißen: Ahf'frait,Al'ghol, Bhan'sheen, Dha'vol, Dhai'mon, Dhjin'nen,Ghar'ghael, Ghob'hlin, Gho'hlem, Ghraem'lan, Ko'balund Kno'mon.

Tuatha'an: ein Nomadenvolk, auch als die Kesselflickeroder das Wandernde Volk bekannt. Sie wohnen inbuntbemalten Wagen und folgen einer pazifistischenWeltanschauung, die sie den Weg des Blattes nennen.Die von den Kesselflickern reparierten Gegenständesind häufig besser als vorher, aber viele Dörfer bleibenihnen verschlossen, da Geschichten im Umlauf sind, siestählen Kinder und verführten junge Leute, ihnen zufolgen.

Vater der Lügen: siehe Dunkler König.Verlorenen, die: Name für die dreizehn der mächtigsten

Aes Sedai, die es jemals gab, die während des

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Schattenkriegs zum Dunklen König überliefen, weil erihnen dafür die Unsterblichkeit versprach. SowohlLegenden wie auch fragmentarische Berichte stimmendarin überein, daß sie zusammen mit dem DunklenKönig eingekerkert wurden, als dessen Gefängniserneut versiegelt wurde. Ihre Namen werden heutenoch gebraucht, um Kinder zu erschrecken.

Versengte Land: verwüsteter Landstrich in derUmgebung des Shayol Ghul, jenseits der Großen Fäule.

Wahre Quelle: die treibende Kraft des Universums, diedas Rad der Zeit antreibt. Sie teilt sich in einemännliche (Saidin) und eine weibliche Hälfte (Saidar),die gleichzeitig miteinander und gegeneinanderarbeiten. Nur ein Mann kann von Saidin Energiebeziehen und nur eine Frau von Saidar. Seit demBeginn der Zeit des Wahns ist Saidin von der Hand desDunklen Königs gezeichnet (siehe auch Eine Macht).

Wanderndes Volk: siehe Tuatha'an.Weiße Ajah: siehe Ajah.Weiße Burg: der Palast des Amyrlin-Sitzes in Tar

Valon.Weißmäntel: siehe Kinder des Lichts.Wiedergeborener Drache: Nach der Prophezeiung und

der Legende wird der Drache dann wiedergeborenwerden, wenn die Menschheit in größter Not ist und erdie Welt retten muß. Das ist nichts, worauf sich dieMenschen freuen, denn die Prophezeiung sagt, daß dieWiedergeburt des Drachen zu einer neuen Zerstörungder Welt führen wird, und außerdem erschrecken dieMenschen beim Gedanken an Lews TherinBrudermörder, den Drachen, auch wenn er schon mehrals dreitausend Jahre tot ist (siehe auch Drache).

Wilde Jagd nach dem Horn: ein Zyklus von

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Erzählungen über die legendäre Suche nach dem Hornvon Valere in den Jahren zwischen dem Ende derTrolloc-Kriege und dem Beginn des HundertjährigenKriegs. Um sie vollständig zu erzählen, benötigt manviele Tage.

Zeit des Wahns: siehe Zerstörung der Welt.Zeitalter der Legenden: das Zeitalter, welches von

dem Krieg des Schattens und der Zerstörung der Weltbeendet wurde. Eine Zeit, in der die Aes Sedai Wundervollbringen konnten, von denen man heute nur träumenkann (siehe auch: Rad der Zeit).

Zerstörung der Welt: Als Lews Therin Telamon unddie Hundert Gefährten das Gefängnis des DunklenKönigs wieder versiegelten, fiel durch denGegenangriff ein Schatten auf die Saidin. Schließlichverfiel jeder männliche Aes Sedai auf schreckliche Artdem Wahnsinn. In ihrem Wahn veränderten dieseMänner, die die Eine Macht in einem heuteunvorstellbaren Maße beherrschten, die Oberfläche derErde. Sie riefen furchtbare Erdbeben hervor,Gebirgszüge wurden eingeebnet, neue Berge erhobensich, wo sich Meere befunden hatten, entstand Festland,und an anderen Stellen drang der Ozean in bewohnteLänder ein. Viele Teile der Welt wurden vollständigentvölkert und die Überlebenden wie Staub vom Windzerstreut. Diese Zerstörung wird in Geschichten,Legenden und Geschichtsbüchern als die Zerstörungder Welt bezeichnet (siehe auch Hundert Gefährten).

Zweifler: ein Orden innerhalb der Gemeinschaft derKinder des Lichts. Sie sehen ihre Aufgabe darin, dieWahrheit im Wortstreit zu erkennen undSchattenfreunde zu entdecken. Ihre Suche nach derWahrheit und dem Licht, so wie sie die Dinge sehen,

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wird noch eifriger betrieben, als das bei den Kinderndes Lichts allgemein üblich ist. Ihre normaleBefragungsmethode ist die Folter, wobei sie derAuffassung sind, daß sie selbst die Wahrheit bereitskennen und ihre Opfer nur dazu bringen müssen, sie zugestehen. Die Zweifler bezeichnen sich als die Hand desLichts und verhalten sich gelegentlich so, als seien sievöllig unabhängig von den Kindern und dem Rat derGesalbten, der die Gemeinschaft leitet. Das Oberhauptder Zweifler ist der Hochinquisitor, der einen Sitz imRat der Gesalbten hat.

Zweiter Pakt: siehe Pakt der Zehn Nationen.