274
Albrecht Ritschl: Vorlesung „Theologische Ethik“

Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

  • Upload
    migue

  • View
    26

  • Download
    3

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Citation preview

Page 1: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Albrecht Ritschl:Vorlesung „Theologische Ethik“

Page 2: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Arbeiten zur Kirchengeschichte

Begründet von

Karl Holl† und Hans Lietzmann†

herausgegeben von

Christian Albrecht und Christoph Markschies

Band 99

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 3: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Albrecht Ritschl:Vorlesung „Theologische Ethik“

Auf Grund des eigenhändigen Manuskriptsherausgegeben von

Rolf Schäfer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Page 4: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

�� Gedruckt auf säurefreiem Papier,das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1861-5996

ISBN 978-3-11-019004-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

� Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-

verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in GermanyUmschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Page 5: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Vorwort

Bei der Vorbereitung meiner Habilitationsschrift über die Theologie Al-brecht Ritschls lieh mir Herr Professor Dr. Dietrich Ritschl (damals Pitts-burgh, später Heidelberg) in großzügiger Weise die in seinem Besitz befind-liche handschriftliche Vorlesungspräparation „Theologische Ethik“ von Albrecht Ritschl. Er gestattete mir den Abdruck einer kurzen Probe aus die-ser Handschrift und stimmte auch grundsätzlich meinem Plan zu, die ganze Handschrift durch Edition der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In den Jahren 1969 und 1970 konnte ich eine Rohfassung des Textes herstellen, für deren Umsetzung in Maschinenschrift mir die Deutsche Forschungsgemein-schaft dankenswerterweise Mittel zur Verfügung stellte.

Im Jahr 1971 kam das Vorhaben ins Stocken. Bei der Suche nach weiteren Materialien wurden mir durch eine Umfrage bei deutschsprachigen Biblio-theken mehrere studentische Nachschriften von späteren Ethikvorlesungen Ritschls zugänglich, die erst in Maschinenschrift übertragen werden muß-ten, ehe über ihre Einbeziehung in das Editionsunternehmen entschieden werden konnte. Das Material nahm schließlich solche Ausmaße an, daß ich es neben meiner beruflichen Arbeit nicht bewältigen konnte. Hinzu kam die methodische Schwierigkeit, daß mit jeder der neu aufgetauchten Vorlesungs-nachschriften unklarer wurde, wie eine Edition aus ihnen gestaltet werden könnte, da sie sowohl von Ritschls Manuskript als auch untereinander stark abwichen. Den Ende der achtziger Jahre erreichten Stand konnte ich 1989 beim Ritschl-Kolloquium in Göttingen vortragen: „Zu Albrecht Ritschls Ethik-Kolleg“.

Unterdessen war nun aber eine Entwicklung eingetreten, die mir Entla-stung versprach. Bei dem erwähnten Göttinger Ritschl-Kolloquium 1989 berichtete Frau Professor Dr. Helga Kuhlmann (Paderborn, damals Mar-burg) über Ritschls Freiheitsbegriff in der Ethik-Vorlesung vom Sommerse-mester 1882, deren Nachschrift durch Albrecht Ritschls Sohn Otto Ritschl sie auswerten konnte. Kurz darauf erschien ihre gründliche Monographie zur Spätgestalt von Ritschls Ethik, in der auch die Absicht ausgesprochen wird, die Vorlesungsnachschrift von 1882 zu veröffentlichen.

Inzwischen war mir, je näher ich die Texte der späteren Vorlesungsnach-schriften kennen lernte, die methodische Undurchführbarkeit einer Edition aller Manuskripte zur Gewißheit geworden, so daß ich mich wieder der ursprünglichen Teilaufgabe zuwenden und mich auf Ritschls Handschrift konzentrieren konnte. Meine anfänglichen Bedenken, daß darin nur ein frü-hes Stadium von Ritschls Entwicklung sichtbar würde, das sich noch deut-

Page 6: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

lich von der ausgereiften Gestalt seiner systematischen Theologie in dem Hauptwerk „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (1870–1874) unterscheiden könnte, zerstreuten sich bei näherem Zusehen, da sich herausstellte, daß Ritschl sein Manuskript bis in die Siebzigerjahre hinein weitergeführt hat. Es spiegelt also sowohl die reife Form seiner Theo-logie als auch deren Werden in den entscheidenden Jahren seiner theologi-schen Entwicklung.

Herrn Professor Dr. Dietrich Ritschl danke ich herzlich für die Geduld, mit der er mir für die Handschrift seines Urgroßvaters eine Ausleihefrist von über vier Jahrzehnten zugestanden hat.

Oldenburg (Oldb), Januar 2007 Rolf Schäfer

VI Vorwort

Page 7: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VInhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIIEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

1. Die Ethikvorlesung im Rahmen von Ritschls Gesamtwerk . XI2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften . . . . . . . . . . . . . . XV3.Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ . . . . . . . . XIX4. Weitere Datierungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIV5. Beschreibung der Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII6. Editorische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII7. Beilagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX8. Überblick über die Disposition und den Inhalt

der Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXILiteraturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVIIAbkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV

Albrecht Ritschl „Theologische Ethik“

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1§ 1 Aufgabe und Stellung der Disciplin zur Dogmatik. . . . . . . . . . . . 1§ 2 Fortsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6§ 3 Schluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9§ 4 Verhältniß der Disciplin zur philosophischen Moral. . . . . . . . . . 11§ 5 Fortsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12§ 6 Schluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18§ 7 Verhältniß der theologischen Ethik zur heiligen Schrift. . . . . . . . 19§ 8 Eintheilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

I. Theil: Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct. . . . . . . . . . . . . . . 28

Erstes Capitel. Die Heiligung oder Wiedergeburt. . . . . . . . . . . . . . . . . 28§ 9 Die Heiligung im Verhältniß zu Gott und zur menschlichen

Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28§ 10 Die Heiligung oder Gerechtmachung nach katholischer

Lehrdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Page 8: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 11 Das Gewissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35§ 12 Die Bekehrung nach lutherischer und reformirter Lehre. . . . . . 38§ 13 Die Bekehrung. Schluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Zweites Capitel. Die Nothwendigkeit der guten Werke aus dem Glauben, und des Gesetzes für den Gläubigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 46§ 14 Die lutherische und die reformirte Lehre über die

Nothwendigkeit der guten Werke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46§ 15 Die lutherische und die reformirte Lehre von der Bedeutung

des Gesetzes für den Wiedergeborenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50§ 16 Die guten Werke im Verhältniß zum Zweck der Seligkeit. . . . . 54

Drittes Capitel. Das Bewußtsein der Rechtfertigung aus dem Glauben und der Heilsgewißheit im Verhältniß zu den Werken und zur Bekehrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57§ 17 Die Unvollkommenheit der guten Werke des Wiedergeborenen. 57§ 18 Das ethische Bedürfniß des Wiedergeborenen nach

Gerechtsprechung durch Christus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61§ 19 Die subjective Vermittlung der Heilsgewißheit im Gläubigen. . . 64§ 20 Fortsetzung. Pietismus und Methodismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Viertes Capitel. Das Reich Gottes als das ethische Princip des Christenthums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73§ 21 Die neutestamentliche Vorstellung vom Reich Gottes. . . . . . . . 73§ 22 Das Verhältniß des Reiches Gottes zum Recht. . . . . . . . . . . . . . 77§ 23 Der Begriff des Reiches Gottes und der Gerechtigkeit

desselben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80Fünftes Capitel. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten als der Inhalt

des Gesetzes Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85§ 24 Begriff der Liebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85§ 25 Die Liebe zum Nächsten und zum Feinde. . . . . . . . . . . . . . . . . 88§ 26 Die Liebe zu Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90§ 27 Die Gesetzgebung Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Sechstes Capitel. Die christliche Familie und Freundschaft. . . . . . . . . . 95§ 28 Die Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95§ 29 Das Verhältniß zwischen Aeltern und Kindern und der Kinder

unter sich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100§ 30 Die Freundschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Siebentes Capitel. Volk und Staat im Verhältniß zum Reiche Gottes . . 103§ 31 Die extremen Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103§ 32 Der ethische Begriff vom Staate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107§ 33 Das christliche Volksthum und der christliche Staat. . . . . . . . . 109

Achtes Capitel. Der sittliche Beruf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

VIII Inhalt

Page 9: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 34 Die Arten des sittlichen Berufes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113§ 35 Das Verhältniß des sittlichen Berufes zum Reich Gottes. . . . . . 118§ 36 Das Vorbild Christi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Neuntes Capitel. Die Kirche als selbstthätige Gemeinschaft. . . . . . . . . 125§ 37 Die Gemeinschaft der Gottesverehrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125§ 38 Der Unterschied und das Verhältniß zwischen Kirche und

Reich Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127§ 39 Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern

Particularkirchen und zu den Secten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128II. Theil: Der Proceß des religiös-sittlichen Willens. . . . . . . . . . . . . . . . 131Zehntes Capitel. Die Gotteskindschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

§ 40 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131§ 41 Der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes. . . . . . . . . . . . . 133§ 42 Die Demuth. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136§ 43 Das Gebet im Namen Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Elftes Capitel. Der religiös-sittliche Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140§ 44 Der Unterschied des Charakters vom Naturell. . . . . . . . . . . . . . 140§ 45 Die Formen des unmoralischen Charakters. . . . . . . . . . . . . . . . 143§ 46 Der innere Maaßstab für die Moralität des Charakters. . . . . . . 145§ 47 Die Formen der Sünde in dem religiös-sittlichen Charakter. . . . 148§ 48 Die Versuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Zwölftes Capitel. Die Tugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155§ 49 A. Allgemeiner Begriff der Tugend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155B. Die Tugenden formaler Charakterbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

§ 50 Die Selbstbeherrschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157§ 51 Die Gewissenhaftigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

C. Die Tugenden materialer Chrakterbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 159§ 52 Die Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159§ 53 Die Besonnenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160§ 54 Die Entschlossenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161§ 55 Die Beharrlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

D. Die Tugend der Gesinnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163§ 56 Im Allgemeinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163§ 57 Im Einzelnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

III. Theil: Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft. . . . . 167Dreizehntes Capitel. Das Sittengesetz und die Arten der Pflicht. . . . . . 167

§ 58 Der Begriff der Pflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167§ 59 Die Rechtspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169§ 60 Die Liebespflicht und die Berufspflicht (im Allgemeinen). . . . . . 171

Inhalt IX

Page 10: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 61 Die bestimmte Liebespflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173§ 62 Das sittlich Erlaubte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176§ 63 Die sog. Collision der Pflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Fünfzehntes Capitel. Die Grundsätze des sittlichen Handelns. . . . . . . . 182§ 64 Im allgemeinen Verkehr mit dem Nächsten. . . . . . . . . . . . . . . . 182§ 65 Die Pflichten innerhalb der Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191§ 66 Die Pflichten gegen und in der Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

BeilagenI. Gestrichene Stücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

1. Erstfassung des IX. Kapitels mit § 37–39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1942. Gestrichener Schluß von § 41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2033. Erstfassung von „§ 42 Die Demuth“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

II. Aus der Nachschrift K. Lange 1867/68 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209III. Exzerpte auf eingelegten Blättern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

1. Gaß, Die Lehre vom Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2112. Thomas von Aquino, Summa theologiae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Register1. Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2172. Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

X Inhalt

Page 11: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Einleitung

Die hier vorgelegte „Theologische Ethik“ von Albrecht Ritschl beruht auf dem eigenhändigen Manuskript, das Ritschl von 1862 an über ein Jahrzehnt seiner Ethikvorlesung zugrunde legte. In der Endgestalt spiegelt das Manuskript Ritschls Theologie in dem zeitlichen Stadium wider, in welchem er mit der Veröffentlichung seines Hauptwerks „Die christliche Lehre von der Recht-fertigung und Versöhnung“ (1870–1874) zum bedeutendsten evangelischen Theologen in Deutschland aufstieg. Zugleich ist es möglich, an Hand der zahl-reichen Streichungen und Zusätze in der Handschrift den Weg nachzuvoll-ziehen, den Ritschl bis dahin zurücklegte. Im Unterschied zu der erwähnten Monographie über die Rechtfertigung, die sich vor allem mit der religiösen Seite des Christentums beschäftigt, bietet die Ethikvorlesung ein Gesamtbild des Christentums sowohl in seiner religiösen als auch – und dies mit beson-derem Nachdruck – in seiner sittlichen Eigenart. Es gibt sonst keinen Text dieses Umfangs, der so anschaulich das Werden des Göttinger Systematikers dokumentiert und den Gesamtrahmen für seine Einzelarbeiten aufspannt wie die Ethikvorlesung. Dies ist deswegen von besonderem Interesse, weil die Nachwirkung Ritschls, die im 20. Jahrhundert unterschätzt wurde, nunmehr gerechter beurteilt werden kann. Die Vorlesung läßt deutlich die Impulse erkennen, die von Ritschl her auf die Sozialethik und die Ökumenische Bewe-gung des 20. Jahrhunderts ausgegangen sind und bis heute ausgehen.

1. Die Ethikvorlesung im Rahmen von Ritschls Gesamtwerk

Albrecht Ritschl (1822–1889) hatte als Hegelianer angefangen und seine er-sten akademischen Schritte als Schüler Ferdinand Christian Baurs unternom-men. Bald jedoch ließ er die Spekulation auf sich beruhen, um auf dem Boden einer philologisch und historisch orientierten Empirie in geduldiger Analyse der Quellen ein Gesamtbild des frühen Christentums zu gewinnen.1

Die Wendung zum Historischen erstreckte sich aber nicht nur auf die Bibel und die Patristik, sondern auch auf die Reformation. Während bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das Denken Luthers mehr oder minder mit der Lehre des Konkordienbuches gleichgesetzt wurde, fing Ritschl in historischen Analysen an, die Schriften der einzelnen Reformatoren auf ihre Besonderheiten hin zu untersuchen. Dabei gelang ihm die Entdeckung, daß

1 SCHÄFER, Art. „Ritschl“, TRE 29, besonders 220–224.

Page 12: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sich Luthers frühe Theologie nicht in die melanchthonisch geprägte lutheri-sche Orthodoxie einebnen läßt. Ritschl wurde damit zum Initiator der neu-en Lutherforschung und der Erschließung von Luthers Schriften mit Hilfe der bis dahin noch fehlenden kritischen Ausgabe. Die neue Sicht des Urchri-stentums und die überraschende Entdeckung von Luthers eigenständiger Theologie bestätigten einander gegenseitig und verdichteten sich zu einer systematischen Gesamtkonzeption, in welcher Exegese, Theologiegeschich-te, Dogmatik und Ethik zusammenstimmten.

Den Weg dahin bahnten neben den weitergeführten biblischen und re-formationsgeschichtlichen Arbeiten vom Jahr 1852 an die systematischen Vorlesungen. Im Wintersemester 1852/53 las Ritschl erstmals „Dogmatik“; 1858 hielt er die erste Vorlesung über „Theologische Moral“, die er anschlie-ßend in „Theologische Ethik“ umbenannte.

Bei den systematischen Darlegungen, also auch in der „Theologischen Ethik“, wirkt Ritschls persönlicher Erkenntnisweg darin nach, daß über-all die exegetische Analyse und die reformationsgeschichtliche Orientierung vorausgehen, ehe es zu den Sätzen über das heute Gültige kommt. Trotz aller Anlehnung im einzelnen geht Ritschl bewußt einen anderen Weg als sein Lehrer Richard Rothe in seinem spekulativ angelegten Werk „Theologische Ethik“ oder als Friedrich Schleiermacher, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner aus der Glaubenserfahrung entwickelten Vorlesung „Die christliche Sitte“ nach wie vor großen Einfluß ausübte.

Anders als die meisten Theologen seiner Zeit hat Ritschl seine beiden gro-ßen systematischen Hauptvorlesungen nie zu Lehrbüchern ausgestaltet und in den Druck gegeben. Die einzige Veröffentlichung, aus der man außerhalb sei-nes Hörsaals einen Überblick über seine Theologie gewinnen konnte, war der als Schulbuch für das Gymnasium konzipierte „Unterricht in der christlichen Religion“ (1875)2. Aus ihm hätte man ein maßstäbliches Bild seiner Dogmatik und Ethik entnehmen können. Freilich stand das wegen seines unmittelbaren Zwecks von der akademischen Welt unterbewertete Kompendium im Schatten des schon früher erschienenen dreibändigen Werks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (1870/74), das als revolutionär empfun-den wurde und die Bildung der sog. Ritschlschen Schule in Gang setzte.

Dieses Werk wurde – da es von Ritschl weder ein Dogmatik- noch ein Ethiklehrbuch gab – als eine erschöpfende Darlegung seiner Theologie angesehen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Monographie über die Versöhnungslehre und über die Rechtfertigungslehre in ihrer gegenseitigen Beziehung und Beschränkung. Die Beschränkung besteht u.a. darin, daß Rechtfertigung und Versöhnung sich primär im gottesdienstlichen Handeln

2 1881 in zweiter, 1886 in dritter Auflage – jeweils verändert – erschienen; neuer-dings wieder zugänglich in der von CHRISTINE AXT-PISCALAR veranstalteten Ausga-be der ersten Auflage Tübingen 2002.

XII Einleitung

Page 13: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

der christlichen Gemeinde auswirken. Dagegen bleibt das aus dem Glauben folgende sittliche Handeln – was wir heute als „Ethik“ bezeichnen – fast ganz ausgeklammert. Nur in seinem „Unterricht in der christlichen Religi-on“ hätte man sich eines besseren belehren können.

Für die Hörer der Vorlesungen in den letzten Bonner Jahren und in der Göttinger Zeit bestanden diese Schwierigkeiten nicht, da Ritschl zwischen dem Dogmatikkolleg, das sich über zwei Semester erstreckte, und der ein-semestrigen Ethik abwechselte, so daß man im Lauf von drei Semestern in der Regel den Überblick über das Ganze seiner Theologie gewinnen konnte. Auch in der Ritschlschen Schule wirkten die Vorlesungen längere Zeit nach, teils durch die aus seinem Auditorium hervorgegangenen akademischen Leh-rer, teils durch die Weitergabe von Kollegnachschriften3. Später verschwand jedoch diese Verstehensvoraussetzung, teils wegen des zeitlichen Abstandes, teils wegen der polemischen Wendung, den die aus der Ritschlschen Schu-le4 hervorgegangenen Bewegungen der Religionsgeschichtlichen Schule und der sog. „Dialektischen Theologie“ nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber Ritschl vollzogen. Es schien ausgemacht, daß die Theologie des 19. Jahrhun-derts, als deren letzter großer Vertreter Ritschl galt, gescheitert sei. Deshalb bestand wenig Neigung, sein stilistisch schwieriges Hauptwerk zu studieren und es als Monographie in Relation zum Gesamtsystem zu gewichten.

Um Ritschls theologische Konzeption zu rekonstruieren, wäre es also wün-schenswert, die beiden systematischen Vorlesungen zugänglich zu machen: die Dogmatik, welche das Christentum im Blick auf die göttliche Offen-barung beschreibt, und die Ethik, welche den entsprechenden Willenspro-zessen nachgeht, die in der menschlichen Gemeinschaft und im Einzelnen ablaufen, wenn die Offenbarung angeeignet wird.

Wie es mit einer künftigen Veröffentlichung der handschriftlichen Über-lieferung der „Dogmatik“ steht, ist schwer überschaubar. Gösta Hök hat in

3 WILHELM HERRMANN teilt in der Vorrede seiner „Ethik“ (1. Auflage 1901, S. VI) mit, daß er sich in den Ausführungen über Tugenden und Pflichten an Ritschl angeschlos-sen habe, „dessen Ethik mir in einer Nachschrift aus dem Wintersemester 1867/68 vorgelegen hat“. Herrmann, der selbst nicht bei Ritschl gehört hatte, benutzte also eine Nachschrift derjenigen Vorlesung, aus der auch die in dieser Ausgabe heran-gezogene Nachschrift von Karl Lange stammt. – Ferdinand Kattenbusch berichtet Ritschl am 28. 1. 1879 brieflich über seine erste Ethikvorlesung in Gießen und fügt hinzu: „Ihr Heft hat mir hauptsächlich zur Orientierung verholfen …“ (JOACHIM

WEINHARDT, Albrecht Ritschl 34). Wahrscheinlich nahm Kattenbusch, der 1873 Re-petent in Göttingen wurde, in den Jahren bis 1878 die Gelegenheit wahr, Ritschls Ethik zu hören, wie er auch im WS 1874/75 Ritschls Vorlesung über Symbolik be-suchte und die Nachschrift später in einer Veröffentlichung verwandte (ebd. 8).

4 Zur „Ritschlschen Schule“ vgl. HELGA KUHLMANN, Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls 23–58; SCHÄFER, Art. „Ritschl“, TRE 29, besonders 232–235; JOACHIM

WEINHARDT, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, 7–126; ECK-HARD LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Al-brecht Ritschl bis zur Gegenwart 1,79–116.218–229.304–316.

1. Die Ethikvorlesung im Rahmen von Ritschls Gesamtwerk XIII

Page 14: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

seiner 1942 erschienenen Untersuchung „Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls nach Ursprung und innerem Zusammenhang“ noch mit den frühen Präparationen Ritschls zu seinen Dogmatik-Vorlesungen der fünfziger Jah-re arbeiten können, die dann später nicht mehr auffindbar waren.5 Einen Ersatz könnten die Vorlesungsnachschriften liefern, die in den Nachlässen von Ritschl-Schülern liegen und bisher kaum beachtet worden sind.6 Freilich stammen sie aus den späteren Jahren.

Diese Lücke vermag indessen die Handschrift „Theologische Ethik“ zu schließen. Sie enthält Ritschls Gesamtkonzeption des Christentums in „ethi-scher“ Betrachtung. Während nämlich die „Dogmatik“ das Christentum unter dem Gesichtspunkt der Offenbarung, also vom Standpunkt Gottes aus sieht, ist es die Aufgabe der „Theologischen Ethik“, denselben Stoff so darzubieten, wie er sich in der menschlichen Erfahrung ausnimmt. Da beim Christentum in Ritschls Sicht zwischen zwei nebeneinander stehenden und materialiter verschiedenen, aber miteinander verbundenen Bereichen zu un-terscheiden ist – eines auf Gott gerichteten religiösen (Kirche) und eines auf die Mitmenschen gerichteten sittlichen (Reich Gottes) –, müssen beide sowohl in der Dogmatik als auch in der „Theologischen Ethik“ behandelt werden. Die „Theologische Ethik“ beschreibt also die menschlichen Willensbewegungen und Erfahrungen einerseits im religiösen oder gottesdienstlichen Bereich, an-dererseits nach der sittlichen Seite hin auf dem Gebiet der Selbstdisziplin und des familiären, gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Lebens.7

Es gibt keinen gedruckten Text, in welchem Ritschls praktische Auffas-sung vom Christentum so authentisch, ausführlich, vollständig und ausge-wogen zur Darstellung kommt wie in seiner Vorlesung über die „Theologi-sche Ethik“. Insofern ist es begründet, sie im Druck zugänglich zu machen. Sie erschließt das Umfeld, in welchem „Die christliche Lehre von der Recht-fertigung und Versöhnung“ als Monographie konzipiert wurde, und ist des-halb für deren Verständnis unentbehrlich. Nicht wenige Behauptungen über Ritschls Theologie, die durch die Sekundärliteratur des 19. und 20. Jahrhun-derts fortgeschleppt werden, erweisen sich dann als Fehlinterpretationen.

Daß die „Theologische Ethik“ im Ganzen als Text unbekannt geblieben ist, hat dazu beigetragen, daß das Urteil über Ritschl nach dem Ersten Welt-krieg vorwiegend negativ ausfiel. Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, wie groß Ritschls Einfluß auf das kirchliche Leben und auf die theo-logische Wissenschaft im 20. Jahrhundert tatsächlich gewesen ist. Entschei-

5 Vermutlich sind es die frühen Dogmatik-Manuskripte, auf die sich die Verweise in der Ethik-Vorlesung beziehen.

6 Eine Probe aus Ritschls Dogmatik-Vorlesung 1881/82 s. in: SCHÄFER, Ritschl, Tü-bingen 1968, 186–206.

7 Dieser Grundriß von Ritschl systematischer Theologie wird nicht immer beachtet, so daß der Stellenwert seiner Einzelaussagen oft verkehrt eingeschätzt wird; vgl. SCHÄFER, Ritschl (wie Anm. 6) 114–118.

XIV Einleitung

Page 15: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

dende Impulse sind von seiner „Theologischen Ethik“ sowohl für die öku-menische Bewegung als auch für die christliche Sozialethik ausgegangen. Zwar vermochte Ritschl, dem alles Revolutionäre ohnehin fern lag, den Horizont seiner Zeit ebenso wenig zu überschreiten, wie wir den unsrigen. Gebrauchsfertige Rezepte für das heutige kirchliche Leben darf man bei ihm nicht suchen. Entscheidender ist jedoch, daß durch seine Konzeption des christlichen und des kirchlichen Lebens dessen Weiterentwicklung und die daraus folgende Wandlung der sittlichen Urteile nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich anerkannt und gefördert wurden.

2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften

Ritschls „Theologische Ethik“ ist in zwei Strängen überliefert. Der erste besteht aus zwei eigenhändigen Manuskripten, die Ritschl im Wintersemester 1858/59 und im Wintersemester 1862/63 zur Vorbereitung seiner Vorlesungen anlegte. Der zweite umfaßt Nachschriften von Hörern, denen Ritschl für jeden Para-graphen einen zusammenfassenden Überblick ins Heft diktiert hat. Zwar legte Ritschl für diese Diktate sein Manuskript zugrunde. Da er jedoch sowohl seine Vorträge als auch seine Diktate frei formulierte, unterscheiden sich letztere im Wortlaut nicht nur vom Manuskript, sondern auch untereinander.

Bei der Abwägung, welcher der beiden Stränge für eine Veröffentlichung in Frage kommt, wird hier der eigenhändigen Fassung der Vorzug gegeben. Sie ist nicht nur ausführlicher als die Nachschriften, sondern bietet auf jeden Fall einen authentischen Text, da bei den Diktaten die sich leicht einstellen-den Hörfehler und Lücken, – aber auch Übertragungsfehler bei der Anferti-gung der häuslichen Reinschrift – nicht auszuschließen sind. Hinzu kommt, daß jede Nachschrift nur den augenblicklichen Stand der Gedankenbildung wiedergibt, während die Manuskripte einen Einblick in Ritschls Entwick-lung gewähren. Es ist also zugunsten der eigenhändigen Überlieferung zu entscheiden, wobei im übrigen einer künftigen Veröffentlichung von Nach-schriften nicht präjudiziert ist.

Es wäre zu begrüßen, wenn auch spätere Nachschriften durch Edition zugänglich gemacht würden. Sie dürften zwar, was die Prinzipien angeht, gegenüber der frühen Fassung nichts Neues bringen, wohl aber in den Kon-kretisierungen. Die Monographie von Helga Kuhlmann „Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls“ (1992) wertet die Nachschrift aus, die Otto Ritschl 1882 in der Vorlesung seines Vaters Albrecht Ritschl angefertigt hat, und vermittelt einen Eindruck von dieser späten Fassung.8

8 Da in diesem Buch die Referate und Zitate aus der Ethik-Vorlesung 1882 deren Aufbau folgen, welcher mit dem Aufbau von Ms. B übereinstimmt, ist ein inhaltli-cher Vergleich an vielen Stellen möglich.

2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften XV

Page 16: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Ritschls handschriftliche Vorbereitung „Theologische Ethik“ besteht aus zwei relativ selbständigen Manuskripten (im folgenden als Ms. A und Ms. B unterschieden), von denen jedes einen durchformulierten Entwurf des Ethi-kkollegs enthält. Um die Eigenart und den Stellenwert dieser Manuskripte einzuschätzen, müssen sie in die Reihe von Ritschls Vorlesungen im Fach Ethik eingeordnet werden.

Im Laufe seines akademischen Wirkens las Ritschl neunzehnmal über theologische Ethik: viermal in Bonn und nach dem Ortswechsel 1864 fünf-zehnmal in Göttingen. Um die Übersicht zu behalten, soll hier eine Liste die-ser Vorlesungen eingeschaltet werden. Sie fußt auf den Aufstellungen Otto Ritschls, die auch die Hörerzahlen mitteilen.9

Übersicht über Ritschls Ethik-Vorlesung

VorlesungNummer

Semester Hörerzahl Manuskript

BonnV 1 Sommer 1858 14 Ms. A* „Theologische Moral“V 2 Winter 1859/60 4 von jetzt an: „Theologische Ethik“V 3 Winter 1861/62 15 Ms. AV 4 Winter 1862/63 21 Ms. B*

GöttingenV 5 Sommer 1864 14V 6 Winter 1865/66 32V 7 Winter 1867/68 43 Nachschrift LangeV 8 Sommer 1869 28V 9 Winter 1870/71 14V 10 Sommer 1872 47 Ms. BV 11 Winter 1873/74 25V 12 Sommer 1875 27V 13 Winter 1876/77 26V 14 Sommer 1878 21 Nachschrift EckV 15 Winter 1879/80 46V 16 Sommer 1882 88 Nachschrift Otto RitschlV 17 Winter 1883/84 59V 18 Winter 1885/86 97V 19 Winter 1887/88 97

Die erste Handschrift (Ms. A*) entstand in Bonn im Wintersemester 1858/59 als Vorbereitung der ersten Vorlesung und trug noch den Titel „Theologi-

9 OTTO RITSCHL, Albrecht Ritschls Leben (künftig abgekürzt: OR) 1,448–450; 2,533–535.

XVI Einleitung

Page 17: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sche Moral“.10 Weil diese Handschrift auch für zwei weitere Vorlesungen verwandt wurde – schon bei der zweiten Vorlesung erhielt sie den Titel „Theologische Ethik“11 –, weist sie zahlreiche Veränderungen auf und wird in dieser Endredaktion im folgenden mit Ms. A bezeichnet. Für die vierte Vorlesung (Bonn WS 1862/63) legte Ritschl ein zweites Manuskript an (Ms. B*), wobei er jedoch die Einleitung (§ 1–8, Seite 1–21) nicht neu schrieb, sondern diesen Teil aus Ms. A weiter benutzte.12 Während § 1–8 weiter an der Entwicklung des Textes teilnahmen und damit auch zum Ms. B gehö-ren, wurden § 9–63 von Ms. A nach dem WS 1861/62 nicht mehr benutzt und deshalb auch nicht mehr verändert. Das zweite Manuskript (Ms. B*) wurde seinerseits wieder mehreren Vorlesungen zugrunde gelegt und dem-entsprechend geändert, bis es schließlich die hier edierte abschließende Form (Ms. B) erreichte. Ein weiteres eigenhändiges Manuskript existiert offenbar nicht.

Die Handschriften, die – von den spätesten Zusätzen im Ms. B abgesehen – bis in die kleinsten Änderungen hinein stilistisch ausgefeilt sind, boten nicht nur einen Anhalt für den mündlichen Vortrag, sondern dienten in je-dem Stadium auch als Grundlage für die Zusammenfassungen, die Ritschl nach der akademischen Sitte seiner Zeit seinen Studenten ins Kollegheft diktierte. Von etwa 1866 an änderte Ritschl das Verfahren bei der Vorbe-reitung seiner Diktate. Zwar entwickelte er sein eigenes Manuskript durch sorgfältig formulierte Neufassungen und Zusätze weiter. Auch veränderte er die Disposition, indem er neue Paragraphenzahlen eintrug. Auf die Diktate bereitete er sich jedoch so vor, daß er sich von einem Hörer das Heft der zuvor gehaltenen Vorlesung mit seinen damaligen Diktaten geben ließ, diese abschrieb und sie – mit Abwandlungen – bei der nächsten Vorlesung als Vor-lage für die neuen Diktate benutzte. Für das Dogmatikkolleg ist dieses Vor-gehen durch eine briefliche Äußerung Otto Ritschls belegt.13 Es ist anzuneh-

10 Der Inhalt dieser ersten Fassung wird von Otto Ritschl ausführlich referiert: OR 1,345–362.

11 OR 1,346.449. – Hauptgrund dafür dürfte die Schwierigkeit gewesen sein, daß die „Kirche als selbstthätige Gemeinschaft“ im 9. Kapitel zwar ethisch aufgefaßt werden kann, nicht aber unter die Überschrift „Moral“ paßt.

12 Otto Ritschl vermutete, daß das zweite, undatierte Manuskript 1864 entstanden sei (OR 2,19). Dabei übersah er aber den Vermerk am Ende von § 20 (s. unten S. 73,11 f. im textkritischen Apparat), wo Ritschl als Datum der letzten Vorlesung vor den Weihnachtsferien u.a. eingetragen hat: „1862, 19. December Schluß vor Weihnachten.“

13 OR 2,20f. – GÖSTA HÖK, Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls (1942), teilt S. 120 Anm. 85 eine briefliche Äußerung von Otto Ritschl vom 16. 4. 1935 mit: „Seine Vorlesung hielt er [Albrecht Ritschl] so, daß er zunächst mit oder jedenfalls in seinen späteren Jahren auch ohne Bindung an sein Heft frei vortrug. Dann gab er über das von ihm Vorgetragene ein Diktat, das er aber auch frei gestaltete. So wer-den die Diktate in den verschiedenen Jahren in ihrem Wortlaut mehr oder weniger verschieden von einander ausgefallen sein.“

2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften XVII

Page 18: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

men, daß das Verfahren beim Ethikkolleg dasselbe war. Daraus erklärt sich, warum Ritschl den beiden Manuskripten, in denen sich die Entwicklung der Gedanken jeweils über mehrere Jahre hinweg niedergeschlagen hat, keine weiteren hinzufügte. Umgekehrt weisen aber die starken Gebrauchsspuren bei Ms. B (einschließlich der Einleitung § 1–8) darauf hin, daß Ritschl diese handschriftlichen Präparationen noch über längere Jahre hinweg – und wohl auch parallel zu den aus Hörerheften abgeschriebenen Diktaten – weiter herangezogen hat.

Es mußte also entschieden werden, ob beide Fassungen oder nur eine – und dann welche von beiden – ediert werden sollten. Die nähere Beschäftigung mit dem Inhalt bestätigt die schon von Otto Ritschl gemachte Beobachtung, daß es inhaltlich keinen großen Unterschied zwischen den beiden Fassungen gibt.14 Da es zunächst vor allem darum geht, überhaupt erst einmal eine von Ritschl selbst niedergeschriebene Fassung seiner Ethik zugänglich zu ma-chen, legt es sich nahe, sich auf eine der beiden Fassungen zu beschränken.

In der folgenden Bearbeitung wird der späteren Handschrift (Ms. B) der Vorzug gegeben. Sie hat schon bei der ursprünglichen Niederschrift das Ta-stende des ersten Versuches abgestreift, indem sie auf der Erfahrung aufbau-en konnte, die sich bei dreimaligem Vortrag der Fassung von Ms. A einge-stellt hatte (WS 1858/59, 1859/60, 1861/62).15 Durch die Zusätze zu Ms. B, die im Verlauf weiterer Vorlesungen dazukamen, reicht die hier erkennbare Konzeption mindestens bis in die Zeit der 1867 beginnenden Niederschrift16

des Hauptwerks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöh-nung“ hinein (erschienen 1870 und 1874). Darüber hinaus läßt die von Karl Lange stammende studentische Nachschrift17 der Vorlesung aus dem Winter-semester 1867/68 an Hand der Paragraphenzählung erkennen, daß Ritschl zu diesem Zeitpunkt die Endfassung von Ms. B noch gar nicht erreicht hat. Man kann also davon ausgehen, daß Ritschl in der Letztgestalt des späteren Ma-nuskripts dieselbe systematische Position vertritt wie in seinem Hauptwerk.

Damit empfiehlt sich für die Edition das zweite Manuskript in seiner zu-letzt greifbaren Gestalt (Ms. B). Um seine Entwicklung und zugleich die Ar-beitsweise Ritschls sichtbar zu machen, wird vom ursprünglichen, 1862/63 verfaßten Text dieses Manuskripts (Ms. B*) ausgegangen. Alle Ergänzungen werden dann so eingefügt, daß sie einerseits die fortlaufende Lektüre nicht

14 OR 2, 19.15 OR 1, 449f.16 OR 2,51.17 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. theol.

318 a: 6. Der aus Hoya gebürtige Karl Lange (14.11.1843 bis 15.2.1926) studierte von 1865 bis 1868 in Göttingen Theologie; er war von 1874 an als Pastor in Wips-hausen und von 1878 bis zu seinem Ruhestand 1919 als Pastor in Edemissen (Kreis Einbeck) tätig. Diese biographischen Daten verdanke ich Herrn Ltd. Archivdirek-tor i.K. Dr. Hans Otte, Hannover.

XVIII Einleitung

Page 19: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

behindern, andererseits aber im textkritischen Apparat als spätere Zutaten ausgewiesen werden. Was dabei vom ursprünglichen Text gestrichen wurde, findet sich gleichfalls im textkritischen Apparat sowie unter den Beilagen und kann dort leicht verglichen werden.

Bei der Durchführung zeigte es sich, daß dieses Verfahren unter den mög-lichen Alternativen das sinnvollste sein dürfte. Zwar sind die Ergänzungen, die Ritschl zum ursprünglichen Text hinzugefügt hat, nur in Ausnahmen datierbar. Dies bleibt jedoch erträglich, da die mit Sicherheit erreichte Letzt-gestalt des Wortlautes in die Zeit gehört, in der Ritschls System sich bereits gefestigt hat und ein grundsätzlicher Positionswechsel in der Ethik nicht mehr zu erwarten ist.

3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“

Die nachstehende Synopse ermöglicht einen Überblick über die Entwicklung der Disposition von Ritschls Vorlesung bis 1878. Der synoptische Vergleich wird dadurch erleichtert, daß Ritschl diese Disposition im großen ganzen von Anfang an in allen Vorlesungen beibehalten hat. In der 5. Spalte finden sich die Kapitel- und Paragraphenzahlen samt den Überschriften der hier edierten letzten Fassung des zweiten Manuskripts (Ms. B). Die übrigen Spal-ten enthalten nur die Zahlen der Paragraphen und – falls sie nicht identisch sind – die Kapitelzahlen der inhaltlich mit Manuskript B identischen Texte. Auf eine wörtliche Wiedergabe der Überschriften wird verzichtet, wenn es sich nur um sprachliche Varianten der in der 5. Spalte notierten Formulie-rungen handelt.

Die 1. Spalte enthält die Disposition der ersten Niederschrift von 1858 (V 1) in der ursprünglichen Form (Ms. A*). Die umfangreichen 21 Paragra-phen entsprechen in der Regel den späteren Kapiteln.

Schon bei einer auf Grund dieses ersten Manuskripts gehaltenen Vorle-sung (V 2 oder 3) unterteilte Ritschl die Paragraphen (2. Spalte). Bei un-gefähr identischem Textumfang entstanden so 63 Paragraphen, die in 15 Kapiteln angeordnet waren (Ms. A).

Das hier edierte zweite Manuskript läßt gleichfalls Entwicklungsstufen er-kennen. Seine bei der 4. Vorlesung entstandene ursprüngliche Fassung (Ms. B*, 3. Spalte) beginnt mit § 9, weil für die Einleitung § 1–8 weiterhin Ms. A benutzt wird, und ist – was die Disposition angeht – weithin identisch mit der letzten Fassung (Ms. B, 5. Spalte). Abweichungen sind indessen zu finden: im Bereich der Kapitel III-V, bei § 38, § 41–43 und im dritten Teil, wo ein XVI. Kapitel angehängt wird.18

18 Ritschl hat die Ordnungszahlen der Kapitel in Worten ausgeschrieben. In dieser Übersicht werden sie um der Kürze willen mit römischen Zahlen wiedergegeben.

3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ XIX

Page 20: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

1 2 3 4 5 6 7A* A B* Lange B rote §§ EckV 1 V 4 V 7 V 11 V 14

Einleitung1 1 1 1 § 1 Aufgabe und Stellung der Disciplin zur Dogmatik. 1

2 2 2 § 2 Fortsetzung.

3 3 3 § 3 Schluß.

2 4 4 4 § 4 Verhältniß der Disciplin zur philosophischen Moral. 2

5 5 5 § 5 Fortsetzung.

6 6 6 § 6 Schluß.

3 7 7 7 § 7 Verhältniß der theologischen Ethik zur heiligen Schrift. 3

8 8 8 § 8 Eintheilung. 4

I. Theil: Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct.

4 Erstes Capitel. Die Heiligung oder Wiedergeburt.

9 9 9 § 9 Die Heiligung im Verhältniß zu Gott und zur menschlichen Freiheit.

5 5

10 10 10 § 10 Die Heiligung oder Gerechtmachung nach katholischer Lehrdarstellung.

6 6

11 11 11 § 11 Das Gewissen. 7 7

12 12 12 § 12 Die Bekehrung nach lutherischer und reformirter Lehre. 8 8

13 13 § 13 Die Bekehrung. Schluß. 9 9

5 Zweites Capitel. Die Nothwendigkeit der guten Werke aus dem Glauben, und des Gesetzes für den Gläubigen.

13 14 14 § 14 Die lutherische und die reformirte Lehre über die Nothwendigkeit der guten Werke.

10 10

14 15 15 § 15 Die lutherische und die reformirte Lehre von der Bedeutung des Gesetzes für den Wiedergeborenen.

11 11

15 16 16 § 16 Die guten Werke im Verhältniß zum Zweck der Seligkeit. 12

7 Drittes Capitel. Das Bewußtsein der Rechtfertigung aus dem Glauben und der Heilsgewißheit im Verhältniß zu den Werken und zur Bekehrung.

20 21 17 § 17 Die Unvollkommenheit der guten Werke des Wiedergeborenen.

13 12

21 22 18 § 18 Das ethische Bedürfniß des Wiedergeborenen nach Gerechtsprechung durch Christus.

14 13

22 23 19 § 19 Die subjective Vermittlung der Heilsgewißheit im Gläubigen.

15 14

23 24 20 § 20 Fortsetzung. Pietismus und Methodismus. 16 15

8 Viertes Capitel. Das Reich Gottes als das ethische Princip des Christenthums.

24 25 21 § 21 Die neutestamentliche Vorstellung vom Reich Gottes. 17 16

25 26 22 § 22 Das Verhältniß des Reiches Gottes zum Recht. 18 17

26 27 23 § 23 Der Begriff des Reiches Gottes und der Gerechtigkeit desselben.

19 18

6 Fünftes Capitel. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten als der Inhalt des Gesetzes Christi.

16 17 24 § 24 Begriff der Liebe. 20 19

17 18 25 § 25 Die Liebe zum Nächsten und zum Feinde. 21 20

18 19 26 § 26 Die Liebe zu Gott. 22 21

19 20 27 § 27 Die Gesetzgebung Christi. 23 22

9 Sechstes Capitel. Die christliche Familie und Freundschaft.

27 28 28 § 28 Die Ehe. 24 23

28 29 29 § 29 Das Verhältniß zwischen Aeltern und Kindern und der Kinder unter sich.

25 24

29 30 30 § 30 Die Freundschaft. 26 25

XX Einleitung

Page 21: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

1 2 3 4 5 6 710 Siebentes Capitel. Volk und Staat im Verhältniß zum Reiche Gottes.

30 31 31 § 31 Die extremen Theorien. 27 2631 32 32 § 32 Der ethische Begriff vom Staate. 28 2732 33 33 § 33 Das christliche Volksthum und der christliche Staat. 29 28

11 Achtes Capitel. Der sittliche Beruf.33 34 34 § 34 Die Arten des sittlichen Berufes. 30 2934 35 35 § 35 Das Verhältniß des sittlichen Berufes zum Reich Gottes. 31 3035 36 36 § 36 Das Vorbild Christi. 32 31

12 Neuntes Capitel. Die Kirche als selbstthätige Gemeinschaft.36 37 37 § 37 Die Gemeinschaft der Gottesverehrung. 33 3238 38 38 [Das kirchliche Amt]

§ 38 Der Unterschied und das Verhältniß zwischen Kirche und Reich Gottes.

34 33

37 39 39 § 39 Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern Particularkirchen und zu den Secten.

35 34

II. Theil: Der Proceß des religiös-sittlichen Willens.13 Zehntes Capitel. Die Gotteskindschaft.

39 40 40 § 40 Einleitung. 36 3541 42 42 § 41 Der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes. 37 3640 41 41 § 42 Die Demuth. 38 3742 43 43 § 43 Das Gebet im Namen Jesu. 39 38

14 Elftes Capitel. Der religiös-sittliche Charakter.43 44 44 § 44 Der Unterschied des Charakters vom Naturell. 40 3944 45 45 § 45 Die Formen des unmoralischen Charakters.45 46 46 § 46 Der innere Maaßstab für die Moralität des Charakters. 41 4046 47 47 § 47 Die Formen der Sünde in dem religiös-sittlichen Charakter. 42 4147 48 48 § 48 Die Versuchung. 43 42

15 Zwölftes Capitel. Die Tugend.48 49 49 § 49 A. Allgemeiner Begriff der Tugend. 44 43

16 B. Die Tugenden formaler Charakterbildung. 45 4449 50 50 § 50 Die Selbstbeherrschung.50 51 51 § 51 Die Gewissenhaftigkeit.

17 C. Die Tugenden materialer Chrakterbildung. 46 4551 52 52 § 52 Die Weisheit52 53 53 § 53 Die Besonnenheit.53 54 54 § 54 Die Entschlossenheit.54 55 55 § 55 Die Beharrlichkeit.

18 D. Die Tugend der Gesinnung. 47 4655 56 56 § 56 Im Allgemeinen.56 57 57 § 57 Im Einzelnen.

III. Theil: Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft.19 XIII XIII XIII Dreizehntes Capitel. Das Sittengesetz und die Arten der Pflicht. XIII

(57) 58 58 § 58 Der Begriff der Pflicht. 48 4758 59 59 § 59 Die Rechtspflicht. 49 48

20 XIV XIV [Liebes- und Berufspflicht]59 60 60 § 60 Die Liebespflicht und die Berufspflicht (im Allgemeinen). 50 4960 61 61 § 61 Die bestimmte Liebespflicht.61 62 62 § 62 Das sittlich Erlaubte. 51 50

21 XV XV XIV [Collision der Pflichten]62 63 63 § 63 Die sog. Collision der Pflichten. 52 5163 64 64

XVI XV Fünfzehntes Capitel. Die Grundsätze des sittlichen Handelns. XIV65 65 § 64 Im allgemeinen Verkehr mit dem Nächsten. 53–56 52–5566 66 § 65 Die Pflichten innerhalb der Familie.

67 § 66 Die Pflichten gegen und in der Kirche.

3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ XXI

Page 22: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Daß in der 4. Spalte die zur 7. Vorlesung gehörige Nachschrift Lange 1867/68 aufgeführt wird, ist dadurch begründet, daß in ihr die Disposi-tion gegenüber der ursprünglichen Handschrift (Ms. B*) weiterentwickelt ist, aber die Endform der Bearbeitung (Ms. B) noch nicht erreicht hat. So behandelt § 38 bis zur Nachschrift Lange noch „Das kirchliche Amt“, von Ms. B an jedoch das Thema „Kirche und Reich Gottes“. Dagegen geht im Bereich der großen Umstellung von Kapitel III-V die Nachschrift Lange schon mit Ms. B. Besonders aufschlußreich ist der Befund in Kapitel X, auf den wegen der daraus folgenden Datierungen noch ausführlicher zu-rückzukommen ist. Im Unterschied zu vorhergehenden und zu späteren Fassungen der Vorlesung werden in § 67 die kirchlichen Pflichten behan-delt (s. unten S. 209 Beilage II), woraus sich eine Vorstellung gewinnen läßt, was Ritschl später nach Ms. B zu § 66 vorgetragen hat, der nur aus Stichworten besteht.

In der 6. Spalte sind die mit rotem Farbstift eingetragenen neuen Paragra-phenzahlen („rote Paragraphen“) verzeichnet. Sie stehen in Form von auf-fällig großen Ziffern ohne Benutzung des §-Zeichens neben den bisherigen Pragraphen und den Überschriften (in dieser Edition in Fettdruck wieder-gegeben). Da die Nachschrift der Vorlesung vom Wintersemester 1867/68 (V 7) noch die alte Zählung von Ms. B* vom Winter 1862/63 (V 4) belegt, die Nachschrift von Samuel Eck vom Sommersemester 1878 (V 14)19 jedoch die roten Paragraphenzahlen voraussetzt, müssen diese etwa in der Mitte der siebziger Jahre eingeführt worden sein. Eigenartigerweise fehlt diese neue Bezifferung in der Einleitung. Doch muß sie auch dort gegolten haben, da Ritschl – wie aus den späteren Nachschriften ersichtlich ist – sich wieder der ursprünglichen Form von Ms. A näherte, indem er § 1–6 in zwei Paragra-phen zusammenfaßte und nur die Unterteilung von § 7 und § 8 beibehielt. Auf jeden Fall setzt die neue (rote) Paragraphenzählung mit der Ziffer 5 ein und verläuft dann überwiegend parallel zur älteren Zählung bis zu dem langen § 64, wo sie mit den vier Ziffern 53 bis 56 eine Teilung einführt und zugleich endet. Die späteren Vorlesungen halten sich im wesentlichen an die neue (rote) Zählung, wobei jedoch durch weitere Zusammenfassungen die Endziffer noch leicht reduziert wird (1878: 55 Paragraphen). Wie die Kapitelzählung zur Zeit der „roten“ Paragraphen ausgesehen hat, ist nicht belegt.

Die 7. Spalte gibt die Zählung der Vorlesung des Sommersemesters 1878 (Nachschrift Samuel Eck, V 14) wieder. Bis auf eine Zusammenfassung (§ 11) hält sie sich bei den Paragraphen an die roten Ziffern. Im dritten Teil

19 Universitätsbibliothek Gießen, Nachlaß Samuel Eck Nr. 12. – Samuel Adalbert Eck (geb. 28.12. 1856 in St. Petersburg, gest. 31.12.1919 in Gießen). Studium u.a. in Göttingen, 1883–1904 Pastor in Rußland und in Hessen, 1904 Professor für systematische Theologie in Gießen. – Spätere Nachschriften bleiben hier unberück-sichtigt, weil sie für die Befunde in Ms. B keine zusätzlichen Erkenntnisse bieten.

XXII Einleitung

Page 23: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ist der Sprung der Zählung der Kapitel von XIII auf XV inzwischen bemerkt worden: aus dem XV. ist ein XIV. Kapitel geworden.

Wie sich aus der Gliederung ergibt, läßt sich Ritschl im großen von der Dreiteilung der Ethik bei Schleiermacher und Rothe in Güterlehre, Tugend-lehre und Pflichtenlehre leiten, freilich ohne sie im strengen Sinne zu über-nehmen. In beiden Manuskripten folgt deshalb auf die gemeinsame „Ein-leitung“ mit den Prolegomena (§ 1–8) ein besonders umfangreicher I. Teil mit der Lehre vom Reich Gottes als dem höchsten Gut, umrahmt von der Rechtfertigungslehre und der Lehre von der Kirche. Der II. Teil enthält die Tugendlehre, der III. Teil die Lehre von den Pflichten.

Die mittlere Gliederungsebene der Teile I bis III besteht bei Ms. A aus 15 fortlaufend gezählten Kapiteln, von denen zum I. Teil neun Kapitel gehören, zum II. und zum III. Teil je drei Kapitel.

Ms. B* geht im I. und II. Teil wie Ms. A vor, erweitert aber den III. Teil auf vier Kapitel, so daß die Gesamtzahl anfänglich auf 16 steigt. Frei-lich bleibt die Kapiteleinteilung im Lauf der redaktionellen Veränderungen nicht dieselbe. Ritschl nimmt im I. Teil eine große Umstellung vor, indem er das ursprüngliche III. Kapitel (Gottes- und Nächstenliebe) den Kapiteln IV und V mit der Rechtfertigungslehre und der Lehre vom Reich Gottes nachordnet. Im III. Teil strafft er die Disposition, indem er unter Belassung des Inhalts zwei Kapitelüberschriften schließlich ganz streicht und in Ms. B neben dem XIII. Kapitel nur noch ein weiteres – zunächst versehentlich als „Fünfzehntes“ gezähltes – Kapitel stehen läßt.

Die unterste benutzte Gliederungsebene bilden die fortlaufend gezählten Paragraphen, die in den beigegebenen Überschriften den Inhalt kennzeich-nen. Die den beiden Manuskripten zugehörige Einleitung (§ 1–8) war bei der ersten Niederschrift 1858 nur in drei Paragraphen gegliedert; doch hatte Ritschl sie offenbar früh als zu unübersichtlich empfunden und sie deshalb schon bei der Redaktion im Ms. A unterteilt, so daß die Einteilung der Ein-leitung in 8 Paragraphen bereits dem Ms. A angehört.

Davon ausgehend beginnt im Ms. B der I. Teil mit § 9 und endet mit § 39. Innerhalb dieses Bereichs gibt es zwei größere Umstellungen. Die erste betrifft die Paragraphen 12 und 13 mit dem Problem der Bekehrung; die zweite folgt aus dem Platztausch im Bereich der Kapitel III bis V. Im II. Teil mit § 40 bis 57 werden § 41–43 unter sich mehrfach umge-stellt, während die andern 15 Paragraphen an ihrem Platz verbleiben. Im III. Teil wird die Paragraphenzählung, wie aus den textkritischen Details hervorgeht, von der Änderung der Kapiteleinteilung mitbetroffen. Dabei kommt es von § 63 an zu Zusammenfassungen oder auch neuen Unter-teilungen. Die späteren Vorlesungen, die im übrigen an der Disposition kaum etwas ändern, lassen darauf schließen, daß die letzten Paragraphen – vielleicht auch bedingt durch das Semesterende – nicht immer vorgetra-gen wurden.

3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ XXIII

Page 24: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

4. Weitere Datierungsfragen

Im allgemeinen ergibt sich aus den Zusätzen und Streichungen, die zur Endgestalt von Ms. B führen, nur ein Früher und Später, nicht jedoch eine Datierung in Jahreszahlen. Auch die Nachschrift der Vorlesung 7 vom Win-tersemester 1867/68 (Lange) hilft nicht weiter, da sie auf frei formulierten Diktaten beruht, die nicht ohne weiteres mit Ritschls sehr viel ausführliche-ren eigenhändigen Präparationen identifiziert werden können.

Nun lassen sich aber im X. Kapitel bei § 41–43 so viele Textstufen un-terscheiden, daß der Versuch einer eindeutigen Relation zu den Daten von Ritschls Vorlesungen unternommen werden kann.

Ritschl hat die Themen der drei genannten Paragraphen, die hier abge-kürzt mit „Glaube“, „Demut“ und „Gebet“ überschrieben werden sollen, mehrfach umgestellt, anders gezählt und außerdem den ursprünglichen Text über die „Demut“ auf einem besonderen Blatt neu gefaßt. Wie anhand des textkritischen Apparats nachvollzogen werden kann, lassen sich von der ur-sprünglichen Niederschrift Ms. B* an folgende Stadien unterscheiden.

Stadium

1 § 41 Demut § 42 Vorsehung § 43 Gebet Ms. B*/Lange, V 4–7

2 § 41 Vorsehung § 42 Gebet § 43 Demut V 8

3 § 41 Vorsehung § 42 Gebet § 43 Demut (Blatt) V 9

4 § 41 Vorsehung § 42 Demut (Blatt) § 43 Gebet Ms. B/RuV 3, V 10

5 § 37 Vorsehung § 38 Demut (Blatt) § 39.Gebet rote §§

6 § 36 Vorsehung § 37 Demut (Blatt) § 38 Gebet Eck, V 14

Die sechs Stadien, für die sich aus dem textkritischen Befund zunächst nur eine relative Reihenfolge ermitteln läßt, können mittels der beiden Nach-schriften von Lange und Eck sowie durch die Parallele in RuV 3 genauer datiert werden.

Das 1. Stadium, das bei der ursprünglichen Niederschrift von Ms. B* im Wintersemester 1862/63 die Reihenfolge der Themen aus Ms. A übernahm, blieb mindestens bis zum WS 1867/68 (Nachschrift Lange, V 7) erhalten. Damit gehören auch die beiden dazwischen liegenden Vorlesungen (V 5: SS 1864, V 6: WS 1865/66) diesem Stadium an.

Das 4. Stadium bringt die drei Themen in der Reihenfolge, die auch in RuV 3,542.559.568 befolgt wird. Da die Arbeit an RuV 3 schon Mitte No-vember 1873 abgeschlossen war,20 dürfte die Disposition schon bei der da-

20 OR 2,152.

XXIV Einleitung

Page 25: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

vor liegenden Vorlesung im SS 1872 (V 10) das 4. Stadium erreicht haben.21

Das 2. Stadium fiele bei dieser Überlegung ins SS 1869 (V 8), das 3. Stadium ins WS 1870/71 (V 9).

Im 5. und 6. Stadium ändert sich die Reihenfolge der Themen nicht mehr, wohl aber die Paragraphenzählung. Das 6. Stadium wurde spätestens bei der Vorlesung SS 1878 (Nachschrift Eck, V 14) erreicht, frühestens jedoch Sommer 1875, wobei dann das 5. Stadium dem Winter 1873/74 zuzuordnen wäre.

Theoretisch wäre es möglich, daß mehrere Stadien aus ein und demsel-ben Bearbeitungsvorgang stammten. Der Befund der Handschrift weist jedoch nicht in diese Richtung. Die Änderungen sind jeweils in Reinschrift eingetragen und haben den Charakter des Endgültigen, auch wenn sie nach einigen Semestern erneut gestrichen und durch andere ersetzt wur-den. Entscheidend ist jedoch, daß sich das 1. Stadium nicht nur dem WS 1862/63 zuweisen läßt, sondern auch für das WS 1867/68 belegt ist und daß das 4. Stadium der Fertigstellung des 3. Bandes von RuV entspricht (Herbst 1873). Dadurch ist wenigstens soviel bewiesen, daß Ritschl auch noch in den beginnenden siebziger Jahren größere Textveränderungen in Reinschrift vorgenommen hat. Was im Bereich von § 41–43 nachweisbar ist, dürfte auch sonst der Fall gewesen sein, und zwar überall dort, wo Ritschl Ms. B* so verändert hat, daß dabei ein durchformulierter Text entstanden ist. Darüber hinaus wächst die Wahrscheinlichkeit, daß die manchmal in flüchtiger Feder oder mit Bleistift eingetragenen stichwort-artigen Randbemerkungen erst in die Mitte oder in die zweite Hälfte der siebziger Jahre gehören. Letzteres scheint vor allem dort zuzutreffen, wo sich diese Notizen mit den Vorarbeiten zur „Geschichte des Pietismus“ berühren.22

Ein zweiter Bereich, in dem sich Entwicklungsstadien unterscheiden las-sen, findet sich bei der Kapiteleinteilung des III. Teils. Wie die folgende Tabelle zeigt, schwankte Ritschl, an welcher Stelle das XIV. und das XV. Kapitel beginnen sollten. Die Tabelle wiederholt den letzten Teil des oben S. 5–7 gegebenen Überblicks über die gesamte Vorlesung, fügt aber zwi-schen den dortigen Spalten 3 (Ms. B*) und 4 (Nachschrift Lange) noch das Zwischenstadium ein, das aus einer gestrichenen Stelle in Ms. B erschlossen werden kann.23

21 Allerdings ist nicht völlig auszuschließen, daß die zum 4. Stadium führende Umstellung erst im Zuge der Endredaktion von RuV 3 stattgefunden und sich dann in der Vorlesung Winter 1873/74 niedergeschlagen hat. An dem wesentli-chen Ergebnis, daß Ms. B mit RuV ungefähr gleichzeitig ist, ändert sich dadurch nichts.

22 Mit diesen Studien befaßte sich Ritschl seit 1876, s. OR 2,290.23 S. unten S. 169,21 (Anfang von § 59).

4. Weitere Datierungsfragen XXV

Page 26: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

WS 1862/63 Ms. B*, V 4

V 5 oder V 6 WS 1867/68 (Lange) V 7

SS 1872 Ms. B V 10

SS 1878 (Eck) V 14

XIII XIII XIII XIII XIII

§ 57 § 58 § 58 § 58 § 47

XIV

§ 58 § 59 § 59 § 59 § 47

XIV

§ 59 § 60 § 60 § 60 § 49

§ 60 § 61 § 61 § 61

§ 61 § 62 § 62 § 62 § 50

XV XV XIV

§ 62 § 63 § 63 § 63 § 51

§ 63 § 64 § 64

XVI XVI XV XV XIV

§ 65 § 65 § 65 § 64 § 52–55

§ 66 § 65 § 66 § 65

§ 67 § 66

Bei der Niederschrift von Ms. B* lehnte sich Ritschl zunächst an die Dis-position von Ms. A an, nur daß er für die „Grundsätze“ ein XVI. Kapitel anfügte. Bei der anschließenden Umarbeitung für das SS 1864 (V 5) oder spätestens für das WS 1865/66 (V 6) schob Ritschl die Überschrift des XIV. Kapitels um einen Paragraphen nach vorn. Weil nun aber das XIII. Kapitel nur noch aus einem einzigen Paragraphen (§ 58) bestand, vereinigte ihn Ritschl mit den folgenden vier Paragraphen (§ 59–62) und vergrößerte so das XIII. Kapitel. Dafür ließ er spätestens in der Vorlesung WS 1867/68 die Überschrift des XIV. Kapitels ganz fallen und änderte die Nummern der folgenden Kapitel in XIV und XV. Da er in der Endredaktion von Ms. B (V 10) die beiden bisherigen Paragraphen des XIV. Kapitels (§ 63 und 64) auf einen einzigen reduzierte (§ 63), schien ihm offenbar dort eine besonde-re Kapitelbezeichnung nicht mehr sinnvoll, so daß er die Überschrift dem neuen Paragraphen 63 gab und die überflüssig gewordene Kapitelnummer XIV strich. Freilich ließ er versehentlich die Nummer XV des folgenden Kapitels stehen, was er erst später korrigierte (Nachschrift Eck).

Der Überblick über die Disposition der Vorlesung „Theologische Ethik“ in den verschiedenen Stadien zwischen 1858 und 1878 bestätigt die Ent-scheidung für Ms. B. Dieses Manuskript vermittelt einen Eindruck von Ritschls Entwicklung bis mindestens in die Mitte der siebziger Jahre, also von den letzten Bonner Jahren bis zum Höhepunkt seiner Wirksamkeit in Göttingen. Da die Form der „Theologischen Ethik“ in dieser Periode von

XXVI Einleitung

Page 27: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

besonderem Interesse ist, kann aus dem Umstand Nutzen gezogen werden, daß Ritschl bis zu diesem Zeitpunkt sein Manuskript so verändert hat, daß immer ein kohärenter, fortlaufender und durchformulierter Text mit gram-matikalisch vollständigen Sätzen erhalten blieb. Es ist also ratsam, diese späte Ebene der Edition zugrundezulegen und im textkritischen Apparat ihre Entstehung zu dokumentieren. Zeitlich darüber hinaus liegen noch diejenigen Entwürfe, die auf dem Rand stichwortartig festgehalten und grammatikalisch nicht mehr in den Haupttext integriert sind; sie sind bei der Edition als eingerückte Absätze möglichst an der Stelle untergebracht, wo sie am Rand neben dem Haupttext stehen und dem Sinn nach zugeord-net werden können.

5. Beschreibung der Manuskripte

Die Manuskripte sind auf einem Papier geschrieben, das kein Wasserzeichen aufweist. Sie bestehen aus 16-seitigen Heften, bei denen jeweils vier Blätter (Ms. A: 46,8 × 29,3 cm; Ms. B: 46,0 × 29,4 cm) quer gefaltet und am Falz mit einem Faden zusammengehalten werden. Bei den ersten beiden Heften von Ms. A und beim gesamten Ms. B ist durch starke Benutzung das Papier am Falz gebrochen, so daß der Faden verlorenging und die Hefte sich teil-weise in Einzelblätter aufgelöst haben. Jedes der beiden Manuskripte besteht aus 9 Heften. Ritschl selbst hat diese Hefte im ganzen jeweils auf der ersten Seite mit arabischen Ziffern versehen (Ms. A mit Tinte, Ms. B mit Bleistift). Von späterer Hand wurden die Seiten einzeln mit Bleistift durchgezählt. Vor der Benutzung wurden die Seiten der Länge nach in der Mitte durch einen Knick markiert, so daß auf jeder Seite zwei ca. 11,7 bzw. 11,5 cm brei-te Kolumnen entstanden. In der linken Kolumne wurde der ursprüngliche Text niedergeschrieben, während die rechte Kolumne – im folgenden kurz „Rand“ genannt – für Korrekturen oder Zusätze bereitstand.

Die Hefte 3 bis 9 von Ms. A befinden sich in gutem Zustand, da sie nur bei den ersten drei Vorlesungen benutzt wurden. Im 9. Heft sind die letzten 11 Seiten leer. Die beschriebenen Seiten sind mit 1 bis 133 durchgezählt. An zwei Stellen sind Blätter eingelegt:1. nach S. 24 ein Doppelquartblatt S. 24 a.b. mit einer Neufassung von

§ 9;2.nach S. 105 ein Doppelquartblatt S. 105 a.b. mit einem gegenüber Ms. A*

neu eingeschobenen „§ 47. Die Versuchung.“Ms. B hat keine selbständige „Einleitung“, vielmehr sind die Seiten 1–21 von Ms. A mit § 1–8 zugleich auch die Einleitung der Neubearbeitung. Ms. B* beginnt also im 1. Heft mit § 9; im 9. Heft sind nur 2 Seiten beschrieben. Der Text (§ 9) beginnt mit der geraden Seitenzahl 22 und endet mit Seite 151, umfaßt also 130 Seiten.

5. Beschreibung der Manuskripte XXVII

Page 28: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Auch in Ms. B sind bei Platzmangel zusätzliche Blätter in Quartformat eingelegt:1. vor S. 28 ein Doppelquartblatt S. 28 a.b mit Reflexionen bei der Lektüre

von Gaß, Die Lehre vom Gewissen 1869 und mit einer Übersicht über Bibelstellen zum Gewissensbegriff (s. unten S. 213 Beilage III.1);

2.nach S. 29 ein Quartblatt S. 29 a.b mit einer Ergänzung zu § 12 und ein Blatt (22,6 × 13,9 cm) S. 29 c.d mit dem Schluß von § 13 (s. unten S. 42,11; 45,18);

3. nach S. 43 ein Doppelquartblatt S. 43 a.b mit Exzerpten aus Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II (s. unten S. 216 Beilage III.2);

4. nach Seite 43 ein Quartblatt S. 43 c.d mit Auszügen aus Bernays, „Theo-phrastos’ Schrift über Frömmigkeit“ zu den Lehren hellenistischer Philo-sophen über die rechte kultische Haltung und über die Einheit des Men-schengeschlechts (zu letzterem s. unten S. 85,21);24

5. nach S. 89 zwei Doppelquartblätter S. 89 a-d mit der Neufassung von § 37–39 (s. unten S. 125,1);

6. vor S. 98 ein Doppelquartblatt (letzte Seite leer) S. 98 a.b mit der Neufas-sung von § 42 (s. unten S. 136,22);

7. nach S. 139 ein Einzelblatt (21,5 × 14 cm, Rückseite leer) S. 139 a mit einem Exzerpt aus Luthers Kirchenpostille (s. unten S. 178,21);

8. nach S. 151 ein Einzelblatt (21,5 × 7,7 cm, Rückseite leer) S. 151 a mit Bleistift: § 66 (s. unten S. 193,3).

6. Editorische Fragen

(1) Text

Die Abkürzungen werden aufgelöst. Wenn die Auflösung nicht eindeutig ist, wird durch einen senkrechten Trennungsstrich die Grenze zwischen Abkür-zung und Ergänzung mitgeteilt (eigentl.: eigentl|ich oder eigentl|iche; d.: d|er oder d|as)25. Die Rechtschreibung folgt dem Manuskript – auch dort, wo sie bei Ritschl uneinheitlich ist (Punkt, Punct). Die Unterstreichungen werden durch Sperrung angezeigt. Korrekturen, Ergänzungen über der Zeile oder am Rand (d.h. auf dem freien Platz in der rechten Kolumne) werden im text-kritischen Apparat wiedergegeben. Wo Ergänzungen am Rand durch Ein-fügungszeichen, Striche oder „NB“ eindeutig zugewiesen sind, werden sie

24 Die Exzerpte werden nur insoweit wiedergegeben, als sie die Erwähnung von An-tiochus von Askalon im Zusammenhang mit der Liebe als dem Gesetz des Reiches Gottes erläutern.

25 Ritschl ließ bei der Überarbeitung seiner Sätze die Abkürzungen auch dann stehen, wenn sie vorher anders aufzulösen waren als nachher. Da der Text jeweils eindeutig ist, werden diese Fälle im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen.

XXVIII Einleitung

Page 29: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

in den Text integriert. Ergänzungen, bei denen eine solche Zuweisung fehlt und die sich auch nicht in den Satzfluß einordnen lassen, werden eingerückt möglichst an der Stelle gebracht, auf die sie sich beziehen oder in deren Nähe sie im Ms. vorkommen. Dabei ist zu beachten, daß der dadurch entstehende Absatz nicht von Ritschl stammt, der innerhalb der Paragraphen keine Ab-sätze bildet. Die mit Tinte oder mit Bleistift gesetzten eckigen Klammern, die oft einer gänzlichen Streichung vorangehen, werden im textkritischen Apparat mitgeteilt.

Die Satzzeichen werden belassen. Der gelegentlich fehlende Schlußpunkt wird zur Vermeidung von Mißverständnissen nachgetragen.

Die in der Einleitung (Ms. A) und im Ms. B von späterer Hand mit Blei-stift vorgenommene Seitenzählung wird in eckigen Klammern in den laufen-den Text eingefügt. Die „roten Paragraphen“ sind in der Nähe der Stellen, wo Ritschl sie eingefügt hat, in Fettdruck wiedergegeben.

(2) Textkritischer Apparat

Das Lemma, aus dem der Umfang der textkritisch relevanten Stelle ersichtlich ist, nimmt auf Sperrung keine Rücksicht. Gestrichene Stellen werden in spitze Klammern (< >) gesetzt; längere Partien sind zur Entlastung des Apparats als Beilagen unter I (unten S. 194) mitgeteilt. Bei Korrekturen wird wenn möglich der ursprüngliche Wortlaut ermittelt. Da Ritschl bei größeren Abänderungen oft möglichst viele Elemente des früheren Textes benutzte, wird nur der ur-sprüngliche Text angeführt, ohne im einzelnen die Streichungen, Ersetzungen, Überschreibungen oder Ergänzungen über der Zeile oder am Rand nachzu-weisen. Kleine Ungenauigkeiten bei der Setzung von Einfügungszeichen blei-ben unberücksichtigt, wenn die Zuordnung des einzufügenden Textes eindeu-tig ist. Bei gestrichenen Stücken begrenzen einfache Anführungszeichen den Text, auf den sich die nachfolgende runde Klammer bezieht.

(3) Sachapparat

Der Sachapparat gibt keinen Kommentar, sondern beschränkt sich auf den Nachweis der Fundorte der offenkundigen Zitate nach den heute gebräuch-lichen Ausgaben.26 Zugleich wird nach Möglichkeit auf Ausgaben und Ti-tel zurückgegriffen, die Ritschl in seinen Werken (RuV, GdP, Gesammelte Aufsätze) benutzt hat. Die wörtlichen Zitate, die nach der Gewohnheit der Zeit sinngemäß abgewandelt oder verkürzt sind, werden nicht berichtigt. Die Stellenangabe bezieht sich in der Regel auf den Anfang des jeweils von Ritschl herangezogenen Zitats. Biblische Zitate werden im Sachapparat nur

26 Den Nachweis des Gregor-Zitats S. 148,9 verdanke ich Herrn Prof. Dr. Ulrich Köpf, Tübingen.

6. Editorische Fragen XXIX

Page 30: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

berücksichtigt, wenn die Stellenangabe im Text fehlt. Bei Schlagworten, die aus dem allgemeinen theologischen Bildungsgut genommen sind, wird auf Quellenangaben verzichtet.

Die Verweise auf die Dogmatikvorlesung können noch nicht entschlüsselt werden. Der aus späteren Nachschriften bekannte Aufbau des Kollegs darf nicht ohne weiteres bei den früheren vorausgesetzt werden, da die Dogma-tikvorlesung bei der Bezifferung der Paragraphen im Lauf der Jahre ähnliche Verschiebungen aufweist wie die Ethikvorlesung.

Bei größeren Umstellungen des Textes, die im einzelnen im textkritischen Apparat nachgewiesen sind, gibt der Sachapparat zusammenfassende Infor-mationen, die den Durchblick durch den Redaktionsvorgang erleichtern.

7. Beilagen

I. Gestrichene Stücke

Es ist das unmittelbare Ziel der Edition, die Anfang der 1870er Jahre er-reichte Endfassung des Textes in eine lesbare Form zu bringen. Der text-kritische Apparat gewährt dabei einen Einblick in die Entwicklung der Ge-danken von 1862 an. Die drei Stücke in Abschnitt I gehören eigentlich wie andere Streichungen in den textkritischen Apparat, werden aber wegen ihres Umfangs als Beilagen abgedruckt, weil sie sonst die Lektüre des Haupttextes zu sehr stören würden.

1. Die „Erstfassung des IX. Kapitels mit § 37–39“ legte Ritschl seiner Vor-lesung bis mindestens WS 1867/68 zugrunde.

2. Als „Gestrichener Schluß von § 41“ wird der Text mitgeteilt, den Ritschl in der Vorlesung vom WS 1867/68 noch vorgetragen, später aber gestrichen hat.27

27 In dieser ursprünglichen Fassung von § 41 ist die nachträglich wieder durchgestri-chene Randbemerkung von Interesse: „Der Werth Christi als Erlösers.“ (s. unten S. 204,3). Sie geht wohl auf den 1864 erschienenen dritten Band des „Mikrokos-mus“ von HERMANN LOTZE zurück, durch dessen Lektüre Ritschl erstmalig zur Be-nutzung des Wertbegriffes angeregt wurde. Von seiner Dogmatik-Vorlesung WS 1864/65 und SS 1865 an benutzte er den Wertbegriff zur Interpretation der Gottheit Christi (OR 2,20f. 25) – freilich ohne daß damit schon die erst später ausgebaute Kategorie des Werturteils verbunden wäre. Die Randbemerkung könnte schon bei der 6. Vorlesung WS 1865/66 eingetragen worden sein. Ihre Streichung wurde wohl dadurch veranlaßt, daß Ritschl den „Werth Christi“ in einem Zusatz am Rand auf derselben Seite ausführlicher als „Bedeutung Christi“ faßte (s. unten S. 204,17). Zur Sache vgl. SCHÄFER, Ritschl 110f. 170–173; HORTON HARRIS, Albrecht Ritschl’s Theology 224–226; MATTHIAS NEUGEBAUER, Lotze und Ritschl 172–183.

XXX Einleitung

Page 31: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

3. Die „Erstfassung von »§ 43. Die Demuth«“ mußte, wie oben S. XXIV näher dargelegt wurde, einer Neufassung auf besonderem Blatt weichen.

II. „Aus der Nachschrift Lange 1867/68“ wird der letzte Paragraph (§ 67) wiedergegeben, der dem letzten Paragraphen (§ 66) in Ritschls Manuskript entspricht. Das Diktat vom WS 1867/68 veranschaulicht, wie Ritschl mit den Stichwortlisten umgegangen ist, auf die sich seine Erweiterungen in der spätesten Schicht seines Manuskriptes beschränkten.

III. Exzerpte auf eingelegten Blättern

1. Die auf einem Doppelquartblatt festgehaltenen Notizen zu „Gaß, Die Lehre vom Gewissen“ vermischen eine Reihe daraus entnommener Stich-worte mit eigenen Reflexionen. Auf die Zuordnung der Exzerpte Ritschls zu seiner Quelle wird hier verzichtet, weil die dafür erforderliche Darstellung der komplexen Gedankengänge zu weitläufig wäre.

2. Von den Auszügen und Bemerkungen zu „Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II“ werden zwar in der Vorlesung „Theologische Ethik“ nur wenige wörtlich zitiert. Insgesamt bilden sie aber den Hintergrund für den Zusammenhang von Gottesbegriff und Ethik sowie für das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe.28

8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung29

Die Einleitung (§ 1–8) entstand schon 1858 bei der ersten Konzeption der Vorlesung und hat sich später – wie der handschriftliche Befund ausweist – erstaunlicherweise nicht mehr grundlegend verändert. Ritschl gibt darin Auskunft über sein Verhältnis zur Geschichte der Disziplin, insbesondere zur Ethik Schleiermachers (§ 2) und definiert das Verhältnis der theologi-schen Ethik zur Dogmatik (§ 3). In § 4–6 klärt er das Nebeneinander von philosophischer und theologischer Ethik und begründet nach zahlreichen Abgrenzungen seine positive Zuwendung zu Immanuel Kants praktischer Philosophie, in deren Zentrum die Begriffe Freiheit, Wille und Pflicht ste-

28 Die Thomas-Zitate erläutern u.a. das, was Ritschl unter katholischer oder mysti-scher Gottesliebe versteht (s. „§ 26 Die Liebe zu Gott.“ unten S. 90,10); zur Frage des Verhältnisses von Gottes- und Nächstenliebe vgl. SCHÄFER, Ritschl 114f. 118f. 180f.; LEE, Die menschliche Liebe zu Gott 216f. 265–267. 270f.

29 Im Unterschied zu der Inhaltsangabe OR 1,346–364, die gelegentlich Ms. B be-rücksichtigt, aber überwiegend Ms. A* paraphrasiert und dabei die Gliederung nachordnet, wird hier die Disposition und ihre Begründung in den Vordergrund gestellt.

8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung XXXI

Page 32: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

hen. Die Bejahung der sittlichen Autonomie schließt jedoch ein positives „Verhältniß der theologischen Ethik zur heiligen Schrift“ (§ 7) nicht aus, indem die sittlichen Grundideen des Neuen Testaments ihre Geltung be-halten.

Schließlich arbeitet sich Ritschl in § 8 zu einer eigenen Disposition vor, in-dem er referierend und kritisierend die einschlägigen Gedanken bei Schleier-macher und Richard Rothe durchkämmt. Weil er bei beiden „die Ignorirung des Begriffes des Willens“ feststellt, kann er ihrer Einteilung des Stoffs in Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre nur bedingt folgen. Abweichend von diesen Vorbildern formuliert er zum Schluß der Einleitung die Über-schriften, mit denen er den Inhalt der drei Hauptteile seiner Ethik vorläufig umreißt:

„I. Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct.

II. Der Proceß des besonderen religiösen Willens.III. Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft.“

Mit der doppelgliedrigen, etwas komplizierten Überschrift des Ersten Teilsversucht Ritschl die Besonderheit seiner Konzeption zu erfassen.

Zum Verständnis empfiehlt es sich, beim zweiten Glied – „sittliche Ge-meinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct“ – zu beginnen. Diese Wen-dung bedeutet, daß Ritschl den ethischen Konzeptionen Schleiermachers und Rothes insoweit zu folgen bereit ist, als er im ersten Teil das Christentum als „sittliche Gemeinschaft“ beschreibt und dabei die von Schleiermacher bevorzugte Kategorie des sittlichen Gutes anwendet, also den Bereich, der heute unter den Titeln Sozialethik oder Ethik der Institutionen verhandelt wird. Ritschl hält auch daran fest, daß das Reich Gottes als das höchste sittliche Gut zu deuten ist, das durch die untergeordneten Güter der Fami-lie, des Volks und des Staats gegliedert wird, in denen dann der Einzelne je nach seinem Beruf die Liebe verwirklicht. Diese sittliche Gemeinschaft wird jedoch nicht primär unter dem ethischen Gesichtspunkt dargestellt, wie sie sich in Willensprozessen und Handlungen vollzieht, sondern „unter dem religiösen Gesichtspunct“, d.h. vom Standpunkt Gottes aus, wie er aus der biblischen Offenbarung zu ersehen ist. Erst auf dem Boden dieser exegetisch fundierten religiösen oder dogmatischen Sicht wird dann in einem zweiten Schritt die ethische Sicht der sittlichen Gemeinschaft möglich.

Die Orientierung an der Kantschen Ethik macht nun aber die Ergänzung der von Schleiermacher übernommene Kategorie des sittlichen Gutes durch das Element des Willens erforderlich. Sie geschieht durch den Blick auf den einzelnen Menschen, der zwar immer ein Glied des Reiches Gottes bleibt, aber diesen Ort nur dadurch einnimmt, daß er kraft seines freien Willens sittlich handelt. Dabei begründet Ritschl die Adoption der Ethik Kants mit dem Hinweis auf deren Wurzeln im Protestantismus. Er fügt der Güterlehre

XXXII Einleitung

Page 33: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

das Element des Willens in der Weise hinzu, daß er auf die evangelische Grundlegung der Ethik im 16. Jahrhundert zurückgreift und die Freiheit zum sittlichen Handeln mit Hilfe der reformatorischen Soteriologie heraus-stellt. Mit der Behandlung von Rechtfertigung und Heiligung in den Kapitel I bis III werden nicht etwa die ausgetretenen Pfade orthodox-protestan-tischen Lehrbuchwissens betreten. Vielmehr beschreibt Ritschl darin die „Heiligung oder Wiedergeburt“ (I. Kapitel) als die Identität von göttlichem und menschlichem Handeln, in welchem die theologische Ethik begründet ist.

Hier schließt sich ein bemerkenswerter Gedankengang an, den Ritschl später in dieser Deutlichkeit und Zuspitzung nicht mehr wiederholt. Er geht davon aus, daß die Heiligung sich nicht empirisch beobachten läßt, sondern nur im praktischen Vollzug der Tat sich als wirklich erweist. Darin gleicht sie der sittlichen Freiheit bei Kant. Die Heiligung durch den Geist im Sinne der reformatorischen Lehre und das Handeln auf Grund der intelligibeln Freiheit im Sinne Kants sind einander nicht nur ähnlich, sondern fallen zu-sammen. „Das Gewissen ist die subjective Gestalt … der Synthese zwischen heiligem Geist und intelligibler Freiheit, in welcher dieselbe auch dem empi-rischen zeitlichen Bewußtsein entgegentritt.“30 Ein Beispiel dafür gibt die in § 12f. besprochene „Bekehrung“: Im religiösen Urteil wird die Bekehrung „auf Gottes Bewirkung zurückgeführt“, in ethischer Betrachtung aber vom Menschen zugleich „als die Bekehrung seiner selbst verstanden“.31

Das erste Glied in der Überschrift des Ersten Teils: „Das religiöse Subject als sittliches“ bezeichnet also die vorrangige Funktion des durch die Heili-gung zur Freiheit befähigten menschlichen Willens innerhalb des Reiches Gottes. „Das religiöse Subject“ ist der Mensch, der sich dank Rechtferti-gung und Versöhnung in religiöser Selbstbeurteilung auf Grund der Offen-barung von Gott geheiligt weiß. Er sieht sich daraufhin in ethischer Betrach-tung zugleich „als sittliches“ Subject an. Diese Gleichsetzung vollzieht sich jedoch nicht als intellektueller Akt, sondern nur als praktische sittliche Tat.

30 S. unten S. 35,4. – Während Ritschl diese Entlehnung aus Kants praktischer Philo-sophie in abgewandelter Form beibehielt, um die Wissenschaftlichkeit der Theolo-gie zu begründen, tauchen Anregungen von Hermann Lotze nur am Rand auf (vgl. oben S. XXX Anm. 27).

31 S. unten S.38,8. – Nach OTTO RITSCHL lassen sich im ersten Entwurf der Dog-matik WS 1853/54 noch keine direkten Einflüsse der Kantschen Philosophie auf Ritschls Theologie nachweisen (OR 1,245). Da die Identifizierung der christlichen Freiheit im theologischen Sinn mit der intelligibeln Freiheit im Sinne Kants in der ursprünglichen Niederschrift der Einleitung (Ms. A*, 1858) schon enthalten ist (s. unten S. 14,27), hat die erste entscheidende Begegnung mit Kants Philosophie zwi-schen 1854 und 1858 stattgefunden. – Die Entlehnung aus Kant ist ein Beispiel für Ritschls Neigung, philosophische Sätze eklektisch zu übernehmen, um theologische Sachverhalte zu begründen, ohne die jeweiligen Kontexte auf ihre wechselweise Verträglichkeit hin zu überprüfen; vgl SCHÄFER, Ritschl 153f.

8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung XXXIII

Page 34: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Der Mensch wird seines Angenommenseins durch Gott dadurch inne, daß er in der Lage ist, als Glied des Reiches Gottes gegen die Kausalität der Triebe und des Eigennutzes selbstlose Liebe zu üben.32

Die Identität von heiligem Geist und intelligibler Freiheit ist damit die Begründung für das Recht, beim einzelnen Menschen aus der religiösen Be-trachtung ethische Folgerungen zu ziehen und umgekehrt. Was aber für den einzelnen Menschen gilt, wird auch auf das Reich Gottes im ganzen ange-wandt. Es ist zugleich die von Gott offenbarte Gemeinschaft und das in frei-er menschlicher Tat von dieser Gemeinschaft verwirklichte sittliche Gut.

Die Überschrift des Ersten Teils läßt sich deswegen so paraphrasieren: (1) Der Mensch, wie ihn die Offenbarung der religiösen Betrachtung zeigt, ist dank der mit der intelligibeln Freiheit identischen Heiligung zum sittlichen Handeln befähigt, so daß er (2) tätig wird als Glied der sittlichen Gemein-schaft des Reiches Gottes, die in religiöser Betrachtung von Gott offenbart ist. Dem ersten Glied der Überschrift ordnen sich Kapitel I-III unter, dem zweiten Glied die Kapitel IV-VIII.

Eine Sonderstellung scheint das IX. Kapitel einzunehmen. Geht man da-von aus, daß Ritschl unterscheidet zwischen (1) dem Reich Gottes als der unsichtbaren sittlichen Gemeinschaft der Christen und (2) der Kirche als der sichtbaren religiösen Kultusversammlung, dann stellt sich die Frage, wie er „Die Kirche als selbständige Gemeinschaft“ innerhalb des Ersten Teils unterbringen kann, der doch die christliche Gemeinschaft ausdrücklich als „sittliche“ beschreibt. Die Antwort findet sich in den Handschriften. 1858 (Ms. A*) lautete die Überschrift des IX. Kapitels: „Die Kirche als sittliche Gemeinschaft“, d.h. die später so stark betonte Unterscheidung zwischen der sittlichen Gemeinschaft des Reiches Gottes und der Kirche als religi-öser Versammlung lag Ritschl zunächst fern. Dabei blieb es sowohl bei der Ausarbeitung der zweiten Handschrift 1862/63 (Ms. B*) als auch in der Vorlesung 1867/68 (Nachschrift Lange). Erst danach änderte Ritschl das „sittliche“ in „selbstthätige“ ab.

Auch so freilich gehört das kirchliche Handeln zum Stoff der Ethik. Wäh-rend die Dogmatik die Kirche unter dem (formal) religiösen Aspekt als die (inhaltlich) religiöse Gemeinschaft der Gerechtfertigten behandelt, die von Gott durch Wort und Sakrament in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenom-men werden, befaßt sich die Ethik mit den daraus folgenden Handlungen, also mit dem (formal) ethischen Aspekt der gottesdienstlichen Gemeinde, in der die Gerechtfertigten sich gegenseitig ihres religiösen Glaubens verge-wissern. Daß bei dieser Konzeption der rechtliche Kirchenbegriff gegenüber dem ethischen sekundär ist, führt zu einer ökumenischen Öffnung, die sich erst viel später auswirken sollte.

32 Vgl. unten S. 209,18.

XXXIV Einleitung

Page 35: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Der Zweite Teil der Vorlesung sollte eigentlich die Tugendlehre zum In-halt haben, was auch im XII. Kapitel der Fall ist. Doch auch hier macht sich der Vorrang des Willens geltend. Schleiermacher hatte in seiner Ethik die Kategorie der Tugend angewandt, um mit ihrer Hilfe anschaulich zu machen, inwieweit beim einzelnen Menschen die Natur durch die Vernunft aus- und umgebildet und dadurch habituell zum sittlichen Handeln dispo-niert ist. Stattdessen stellt Ritschl auch hier den Willen in den Vordergrund: „Der Proceß des religiös-sittlichen Willens“.

Was dann unter dieser Überschrift ausgeführt wird, folgt exakt dieser For-mulierung, indem zuerst die religiösen und dann erst die sittlichen Willens-prozesse abgehandelt werden – also verglichen mit dem Ersten Teil in um-gekehrter Reihenfolge. Das X. Kapitel schildert Glaube, Demut und Gebet als die inneren Vorgänge, die zur religiösen Seite des Christentums gehören und in denen sich die gottesdienstliche Gemeinde konstituiert. Mit den sitt-lichen, dem Reich Gottes zugeordneten Vorgängen beschäftigen sich dann Kapitel XI und XII.

Ziel bei der Ausbildung des individuellen Willens ist der „religiös-sittliche Charakter“, in welchem alle persönlichen Zwecke dem göttlichen Endzweck des Reiches Gottes untergeordnet werden. „Tugend ist die der guten Gesin-nung gemäße Ordnung der Absichten Vorsätze und Entschlüsse, als Product des Willens innerhalb des Charakters selbst“ (s. unten S. 155,17).

Der Dritte Teil der Vorlesung widmet sich schließlich der Pflichtenlehre. Schon Schleiermacher hatte sich unter dieser Überschrift mit der Frage be-faßt, wie die zum Handeln gehörigen Pflichturteile oder Gesetze (Regeln) erkannt werden können. Entsprechend lautet auch Ritschls Überschrift: „Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft“. Er versucht hier, einen Mittelweg einzuschlagen zwischen der Autonomie, die aus dem Kant-schen kategorischen Imperativ folgt, und der inhaltlichen Richtungsangabe des neutestamentlichen Liebesgebots, das dem höchsten Endzweck Gottes entspricht. Das Schwergewicht liegt auch in diesem Teil auf der Zuordnung der Pflichturteile zum Reich Gottes als dem höchsten Gut und den davon umfaßten untergeordneten sittlichen Gütern (Staat, Berufswelt, Familie). Die religiöse Seite des Christentums wird nur anhangsweise in einem letzten Paragraphen der Vorlesung kurz nachgetragen: „Die Pflichten gegen und in der Kirche“. Ritschl scheint freilich die religiöse Pflichtenlehre nicht re-gelmäßig behandelt zu haben. Im handschriftlichen Material findet sie sich erstmals in der Nachschrift Lange 1867/68 als § 67 und dann wieder – aber letztmalig – in Ms. B als § 66 auf einem kleinen eingelegten Blatt mit erwei-tertem Themenkreis, aber nur in Stichworten.

8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung XXXV

Page 36: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)
Page 37: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Literaturverzeichnis

ALLSTED, JOHANN HEINRICH: Theologia casuum, Hanau 1621.AMESIUS, WILHELM: De conscientia et eius iure vel casibus, Amsterdam, 1630.AMESIUS, WILHELM: Medulla theologica, 3. Aufl., Amsterdam 1630.ARNDT, JOHANN: Vier Bücher vom wahren Christenthum, Magdeburg 1610.AUGUSTINUS, AURELIUS: De civitate Dei. In: CChrSL 47.48, Turnhout 1955BAIER, JOHANN WILHELM: Compendium theologiae moralis, Jena 1697.BALDUIN, FRIEDRICH: Tractatus luculentus posthumus, toti rei publicae christianae

utilissimus, de materia rarissime antehac enucleata, de casibus nimirum consci-entiae, Wittenberg ?

Bekenntnisschriften s. Die BekenntnisschriftenBERNAYS, JACOB: Theophrastos’ Schrift über Frömmigkeit, Berlin 1866.BIRKNER, HANS-JOACHIM: Spekulation und Heilsgeschichte. Die Geschichtsauffassung

Richard Rothes (FGLP 10,17) München 1979.The Book of Common Prayer and Administration of the Sacraments According to the

Use of the United Church of England and Ireland, London 1860.BRAUN, FRIEDRICH: Die religiösen und sittlichen Anschauungen von Adam Smith. In:

ThStKr 51, 1878, 254–299.BUDDEUS, JOHANN FRANZ: Institutiones theologiae moralis, Leipzig 1711.CALIXT, GEORG: Epitomes theologiae moralis pars prima, Helmstedt 1634.CALIXT, GEORG: Werke in Auswahl, 3. Band: Ethische Schriften, hg. von INGE MAGER,

Göttingen 1970.CALVIN, JOHANNES: Institutio christianae religionis 1559. CR 30.CALVIN, JOHANNES: Opera selecta, edd. Peter Barth/Wilhelm Niesel, Band 3 und 4: 3.

Auflage München 1967.1968; Band 5: 2. Auflage München 1962.Catechesis Racoviensis, seu liber Socinianorum primarius (1609), ed. GEORG LUDWIG

OEDER, Frankfurt/Leipzig 1739.CHALYBÄUS, HEINRICH MORITZ: System der speculativen Ethik, oder Philosophie der

Familie, des Staates und der religiösen Sitte, 2 Bände, Leipzig 1850.CHEMNITZ, MARTIN: Examen concilii Tridentini, Genf 1641.CICEREO: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia Fasc. 43: De finibus

bonorum et malorum, ed. TH. SCHICHE, Stuttgart 1982DANAEUS, LAMBERT: Ethices christianae libri tres, Genf 1577.DANNHAUER, JOHANN CONRAD: Collegium decalogicum, Straßburg 1669.DENIFLE, HEINRICH SEUSE: Das Buch von geistlicher Armuth, bisher bekannt als Jo-

hann Taulers Nachfolgung des armen Lebens Christi, München 1877.DENZINGER, HEINRICH: Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de

rebus fidei et morum, ed. PETER HÜNERMANN, 40. Aufl. Freiburg/Basel/ Rom/Wien 2005 (DH).

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 12. Aufl., Göttingen 1998 (BSLK).

Page 38: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, ed. ERNST FRIEDRICH KARL MÜLLER

Leipzig 1903 (Nachdruck Zürich 1987) (BSRK).DÜRR, JOHANN CONRAD: Compendium theologiae moralis, Jena 1697.EITZEN, PAUL VAN: Ethicae doctrinae libri quatuor conscripti in usum studiosae iuven-

tutis, Wittenberg 1571. Pelt 276–310ERDMANN, JOHANN EDUARD: Grundriß der Geschichte der Philosophie, 2 Bände, Ber-

lin 1866.FEUERLEIN, EMIL: Die Sittenlehre des Christenthums in ihren geschichtlichen Haupt-

formen. Ein Beitrag zur Geschichte der Theologie und Moral. Tübingen 1855.FRANCKE, AUGUST HERMANN: Anfang und Fortgang der Bekehrung A.H. Francke’s

von ihm selbst beschrieben. In: KRAMER, GUSTAV: Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes, Halle 1861, 28–55.

FREYLINGHAUSEN, JOHANN ANASTASIUS: Grundlegung der Theologie, 14. Auflage 1774 (Nachdruck der Ausgabe Halle 1703: Hildesheim/Zürich/New York 2005).

FRIEDBERG, EMIL ALBERT: Die mittelalterlichen Lehren über das Verhältniß von Staat und Kirche. Augustinus Triumphus. Marsilius von Padua. In: ZKR 8, 1869, 69–138

GASS, WILHELM: Geschichte der Protestantischen Dogmatik in ihrem Zusammen-hange mit der Theologie überhaupt, 4 Bände, Berlin 1854–1867.

GASS, WILHELM: Die Lehre vom Gewissen. Ein Beitrag zur Ethik, Berlin 1869.GEISLER, RALF: Kants moralischer Gottesbeweis im protestantischen Positivismus,

Göttingen 1992.GERHARD, JOHANN: Loci theologici, ed. JOHANN FRIEDRICH COTTA, 20 Bände, Tübin-

gen 1762–1781.GERHARD, JOHANN: Loci theologici, ed. EDUARD PREUSS, Band 1–8: Berlin 1863–1870,

Band 9: Leipzig 1875.GOEBEL, MAX: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen

evangelischen Kirche, 3 Bände, Koblenz 1849–1860 (Nachdruck Gießen 1992).GREGOR DER GROSSE: Expositiones in librum primum Regum PL 79,17–468; CChrSL

ed. P. Verbraken, Turnhout 1963,GRÜNEISEN, CARL: Abriß einer Geschichte der religiösen Gemeinschaften in Württem-

berg mit besonderer Rücksicht auf die neuen Taufgesinnten. In: ZHTh 11 (=NF 5) 1841, 63–142.

GUERIKE, HEINRICH ERNST FERDINAND: August Hermann Francke, Halle 1827HARLESS, GOTTLIEB CHRISTOPH ADOLF VON: Christliche Ethik, 6. Auflage, Stuttgart

1864.HARRIS, HORTON: Albrecht Ritschl’s Theology. An investigation into its Origin and

Development, theologische Dissertation Göttingen 1970.HARTENSTEIN, GUSTAV: Die Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften, Leipzig

1844.HASE, KARL AUGUST (Hg.): Libri symbolici ecclesiae evangelicae, Leipzig 1827.HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH: Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder

Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, ed. EDUARD GANS, in: Werke, Band 8, Berlin 1833.

HEMMING, NICOLAUS: De lege naturae apodictica methodus, Wittenberg 1562.HEMMING, NICOLAUS: Enchiridion theologicum, Wittenberg 1557.HENGSTENBERG, ERNST WILHELM: Vorwort. In: EKZ 26, 1840, 1–4.9–13.17–22.25–

31.33–38.41–46.49–62.

XXXVIII Literaturverzeichnis

Page 39: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

HENKE, ERNST LUDWIG THEODOR: Georg Calixtus und seine Zeit, 2 Bände, Halle 1853.1856.

HÖK, GÖSTA: Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls nach Ursprung und innerem Zusammenhang (UUÅ 1942:3) Uppsala/Leipzig 1942.

HOLLATZ, DAVID: Examen theologicum acroamaticum, ed. Teller, Stockholm/Leipzig 1750.

HOLLATZ, DAVID: Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707 (Nachdruck Darmstadt 1971).

JACOBY, LUDWIG SIGISMUND: Handbuch des Methodismus enthaltend die Geschichte, Leben, das Kirchenregiment und eigenthümliche Gebräuche desselben, 2. Aufla-ge, Bremen 1855.

KANT, IMMANUEL: Sämmtliche Werke, hg. von GUSTAV HARTENSTEIN, 8 Bände, Leipzig 1867–1868.

KNAPP, ALBERT: Lebensbild. Eigene Aufzeichnungen fortgeführt und beendigt von seinem Sohne JOSEPH KNAPP, Stuttgart 1867.

KÖSTLIN, JULIUS: Art. „Irving/Irvingianismus“, in: RE 2. Aufl. Bd. 7 (1880) 152–160.

KÖSTLIN, JULIUS: Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ih-rem inneren Zusammenhang, 2 Bände, Stuttgart 1863.

KRAMER, GUSTAV: Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes s. FRANCKE.KUHLMANN, HELGA: Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls, München 1992.KUHLMANN, HELGA: Zum Freiheitsbegriff Albrecht Ritschls in der Vorlesung „Theo-

logische Moral“ aus dem Sommersemester 1882. In: RINGLEBEN, JOACHIM: Gottes Reich 93–111.

LEE, KI-SEONG: Die menschliche Liebe zu Gott als Thema der evangelischen Theolo-gie, Aachen 2002.

LESSING, ECKHARD: Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Band 1: 1870–1918, Göttingen 2000.

Libri symbolici s. HASE

LODENSTEYN, JODOCUS VAN: Beschouwinge van Zion, hg. von HENDRIK PETRUS SCHOL-TE, Amsterdam 1839.

LOTZE, HERMANN: Mikrokosmus, 3 Bände, Leipzig 1856–1864.LUTHER, MARTIN: Opera omnia, Band 2, Wittenberg 1546.LUTHER, MARTIN: Sämtliche Schriften, ed. JOHANN GEORG WALCH, 1. Aufl., 24 Bände,

Halle 1740–1753.LUTHER, MARTIN: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff.MAJOR, GEORG: Antwort auff des Ehrwirdigen Herren Niclas von Ambsdorff schrift,

Wittenberg 1552.MALIBABO, BALIMBANGA: Reich Gottes und menschliche Selbsttätigkeit. Zum Verhält-

nis zwischen christlichem Glauben und moralischem Handeln in der Theologie Albrecht Ritschls, Würzburg 2003.

MARTENSEN, HANS LASSEN: Meister Eckart. Eine theologische Studie, Hamburg 1842.

MASTRICHT, PETRUS VAN: Theoretico-practica theologia, editio nova. Utrecht 1699.MELANCHTHON, PHILIPP: Ethicae doctrinae elementa et enarratio libri quinti ethi-

corum, Wittenberg 1550. In: CR 16,165–276. 363–416.

Literaturverzeichnis XXXIX

Page 40: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

MELANCHTHON, PHILIPP: Loci praecipui theologici (tertia aetas 1543–1559) CR 21, 601–1050; ed. Stupperich 2 (2. Auflage 1978), 186–816.

MELANCHTHON, PHILIPP: Philosophiae moralis Epitome, Straßburg 1538; CR 16,21–64.

MELANCHTHON, PHILIPP: Unterricht der Visitatorn an die Pfarhern ym Kurfurstent-hum zu Sachssen 1528. In: CR 26,51–96; ed. Stupperich 1,215–271.

MELANCHTHON, PHILIPP: Werke in Auswahl, ed. ROBERT STUPPERICH, 7 Bände (in 9), Gütersloh 1951–1975 (Band 2/1 und 2: 2. Auflage 1978).

MERZ, HEINRICH: Das System der christlichen Sittenlehre in seiner Gestaltung nach den Grundsätzen des Protestantismus im Gegensatze zum Katholicismus, Tübin-gen 1841.

MÜLLER, ERNST FRIEDRICH KARL (Hg.): Die Bekenntnisschriften der reformierten Kir-che, Leipzig 1903 (Nachdruck Zürich 1987) (BSRK).

NEUGEBAUER, MATTHIAS: Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachi-dealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus (Beiträge zur rationalen Theologie 11) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002.

NIEMEYER, HERMANN AGATHON (Hg.): Collectio confessionum in ecclesiis reformatis publicatarum, Leipzig 1840.

NITZSCH, CARL IMMANUEL: System der christlichen Lehre, 6. Auflage, Bonn 1851.OSIANDER, JOHANN ADAM: Theologia casualis, Tübingen 1680.PALMER, CHRISTIAN: Die christliche Lehre vom höchsten Gut und die Stellung der

Güterlehre in der theologischen Ethik. In: JDT 5, 1860, 436–486.PASCAL, BLAISE: Werke (Heidelberger Ausgabe) ed. KARL AUGUST OTT, Band 3: Hei-

delberg 1990.PELT, ANTON FRIEDRICH LUDWIG: Die christliche Ethik in der lutherischen Kirche vor

Calixt und die Trennung der Moral von der Dogmatik durch denselben. In: ThSt-Kr 21, 1848, 271–319.

PEZEL, CHRISTOPH: Epitomae philosophiae moralis sive ethice Philippi Melanchthonis cum explicationibus ad discentium usum accomodatis et in Gymnasio Bremensi traditis, Zerbst 1589.

POLANUS VON POLANSDORF, AMANDUS: Syntagma theologiae christianae, Hanau 1609.

PRAETORIUS, STEPHAN: Achtundfünfzig schöne auserlesene geist- und trostreiche Trac-tätlein, ed. JOHANN ARNDT, 2 Bände, Lüneburg 1622.

PRAETORIUS, STEPHAN: Opuscula sacra Praetoriana selecta, ed. Christoph Meurer, Soltquellae (Salzwedel) 1724.

QUENSTEDT, JOHANN ANDREAS: Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1691.REICHEL, GOTTLIEB BENJAMIN: Leben des Grafen von Zinzendorf, Stifters der Brüder-

gemeine, Leipzig 1790.RINGLEBEN, JOACHIM (Hg.): Gottes Reich und menschliche Freiheit. Ritschl-Kolloqui-

um (Göttingen 1989). Göttingen 1990.RITSCHL, ALBRECHT: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung,

Band 1: 1. Auflage Bonn 1870, 2. Auflage Bonn 1882; Band 2: 1. Auflage Bonn 1874, 2. Auflage Bonn 1882, 3. Auflage Bonn 1889; Band 3: 1. Auflage Bonn 1874, 2. Auflage Bonn 1883, 3. Auflage Bonn 1888. (RuV).

XL Literaturverzeichnis

Page 41: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

RITSCHL, ALBRECHT: Gesammelte Aufsätze, ed. OTTO RITSCHL, Freiburg/Leipzig 1893.

RITSCHL, ALBRECHT: Gesammelte Aufsätze. Neue Folge, ed. OTTO RITSCHL, Freiburg/Leipzig 1896.

RITSCHL, ALBRECHT: Geschichte des Pietismus, 3 Bände, Bonn 1880–1886 (GdP).RITSCHL, ALBRECHT: Prolegomena zu einer Geschichte des Pietismus. In: ZKG 2,

1878, 1–55.RITSCHL, ALBRECHT: Die Rechtfertigungslehre des Andreas Osiander, in: JDTh

2,1857, 795–829.RITSCHL, ALBRECHT: Artikel „Reich Gottes“. In: RE 2. Aufl. Band 12, Leipzig 1883,

599–606.RITSCHL, ALBRECHT: Ueber das Gewissen. Ein Vortrag, Bonn 1876. Abgedruckt in:

ALBRECHT RITSCHL: Gesammelte Aufsätze, Neue Folge, 177–203.RITSCHL, ALBRECHT: Ulrich Zwingli. Ein Vortrag. In: JDTh 17, 1872, 121–137.RITSCHL, ALBRECHT: Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 1875. (Studienaus-

gabe ed. CHRISTINE AXT-PISCALAR, UTB 2311, Tübingen 2002).RITSCHL, ALBRECHT: Untersuchung des Buches von geistlicher Armuth. In: ZKG 4,

1880, 337–359.RITSCHL, OTTO: Albrecht Ritschls Leben, 2 Bände, Freiburg 1892, Freiburg/Leipzig

1896 (OR).ROTHE, RICHARD: Theologische Ethik, 3 Bände, Wittenberg 1845–1848; 2. Aufl. 5

Bände, Wittenberg 1867–1871 (Nachdruck der 2. Auflage: Waltrop 1991).SCHÄFER, ROLF: Artikel „Ritschl, Albrecht (1822–1829)/ Ritschlsche Schule“ in: TRE

29, 1998, 220–238.SCHÄFER, ROLF: Ritschl. Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems,

Tübingen 1968.SCHÄFER, ROLF: Zu Albrecht Ritschls Ethik-Kolleg. In: RINGLEBEN, JOACHIM: Gottes

Reich 83–92.SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evange-

lischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermacher’s handschrift-lichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Lud-wig Jonas, 2. Auflage, Berlin 1884 (Sämmtliche Werke I/12; Nachdruck Waltrop 1999).

SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. von ALEXAN-DER SCHWEIZER, in: Schleiermacher, Sämmtliche Werke III/5, Berlin 1835.

SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Ethik (1812/1813) hg. von HANS-JOACHIM BIRKNER, 2. Aufl. Hamburg 1990.

SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980ff. (KGA).

SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Auf-lage, Berlin 1830; KGA I/6,

SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 erschienene Bän-de in 31, Berlin 1834–1864.

SCHNECKENBURGER, MATTHIAS: Vergleichende Darstellung des lutherischen und refor-mirten Lehrbegriffs. Aus dessen handschriftlichem Nachlasse zusammengestellt und herausgegeben durch MAX GÜDER, 2 Bände, Stuttgart 1855.

Literaturverzeichnis XLI

Page 42: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

SCHNECKENBURGER, MATTHIAS: Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren Kir-chenparteien, hg. von KARL BERNHARD HUNDESHAGEN, Frankfurt am Main 1863.

SCHWARZ, KARL: Melanchthon und seine Schüler als Ethiker. In: ThStKr 26, 1853, 7–45.

SCHWARZ, KARL: Thomas Venatorius und die ersten Anfänge der protestantischen Ethik im Zusammenhang mit der Entwickelung der Rechtfertigungslehre. In: ThStKr 23, 1850, 79–142.

SCHWEIZER, ALEXANDER: Die Entwickelung des Moralsystems in der reformirten Kir-che. In: ThStKr 23, 1850, 5–78.288–327.554–580.

SCHWEIZER, ALEXANDER: Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformirten Kirche, 2 Bände, Zürich 1854.1856.

SCHWEIZER, ALEXANDER: Schneckenburgers vergleichende Darstellung des lutheri-schen und reformirten Lehrbegriffs. In: ThJb(T) 15, 1856, 1–31.163–193.

SEMLER, JOHANN SALOMO: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt, 2 Bände, Halle 1781.1782.

SPANGENBERG, AUGUST GOTTLIEB: Idea fidei fratrum oder kurzer Begrif der christli-chen Lehre in den evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1789.

STRAUSS, DAVID FRIEDRICH: Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, Leipzig 1864.

STRAUSS, DAVID FRIEDRICH: Die Halben und die Ganzen, Berlin 1865.STRIGEL, VICTORIN: In epitomen philosophiae moralis Philippi Melanchthonis hy-

pomnemata. Excepta de ore ipsius in praelectionibus publicis et edita opera et studio Christophori Pezelii, Neapoli Casimiriana (Neustadt a.d. Hardt) 1580.

TAULER, JOHANN s. DENIFLE.THOLUCK, FRIEDRICH AUGUST GOTTREU: Das kirchliche Leben des 17. Jahrhunderts,

2 Bände, Berlin 1861.1862.THOMAS VON AQUIN: Opera omnia, ed. R. BUSA, 7 Bände, Stuttgart-Bad Cannstatt

1980.THOMAS A KEMPIS: De imitatione Christi, ed. TIBURZIO LUPO, Città del Vaticano

1982.TRENDELENBURG, ADOLF: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860.VARNHAGEN VON ENSE, AUGUST: Leben des Grafen Ludwig von Zinzendorf (Biogra-

phische Denkmale 5) 2. Auflage, Berlin 1846.VENATORIUS, THOMAS: De sola fide iustificante nos in oculis dei, ad Joannem Haner-

um epistola apologetica, Nürnberg 1534.VENATORIUS, THOMAS: De virtute christiana, Nürnberg 1529.WEINHARDT, JOACHIM (Hg.): Albrecht Ritschl – Ferdinand Kattenbusch. Briefwechsel

1878–1889, Egelsbach/Frankfurt a.M./ München/New York 2000.WEINHARDT, JOACHIM: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tü-

bingen 1996.WEISS, BERNHARD: Die Gesetzesauslegung Christi in der Bergpredigt. In: ThStKr 31,

1858, 50–94.WENDT, HANS HINRICH: Ueber die richtige Methode der Anwendung der heiligen

Schrift in der theologischen Ethik. In: JDTh 22, 1877, 480–493.ZWINGLI, ULRICH: Huldreich Zwinglis Werke, edd. MELCHIOR SCHULER/JOHANNES

SCHULTHESS, 8 Bände, Zürich 1828–1842.ZWINGLI, ULRICH: Sämtliche Werke, edd. Emil Egli u.a., CR 88–101, Zürich 1905ff.

XLII Literaturverzeichnis

Page 43: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

HandschriftenAlbrecht Ritschl, Theologische Ethik (Privatbesitz)Karl Lange, Nachschrift WS 1867/68: Niedersächsische Staats- und Universitäts-

bibliothek Göttingen, Cod. Ms. theol. 318 a: 6 (stud. theol. K. Lange)Samuel Eck, Nachschrift SS 1878: Universitätsbibliothek Gießen, Nachlaß Samuel

Eck Nr. 12

Literaturverzeichnis XLIII

Page 44: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)
Page 45: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Abkürzungen

Kursiv gesetzte Texte stammen vom Herausgeber. Die verwandten Abkür-zungen richten sich im allgemeinen nach: Theologische Realenzyklopädie Abkürzungsverzeichnis, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage zusam-mengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin/New York 1994.

| Trennstrich zwischen dem Buchstabenbestand des Ms.s und der Ergänzung der Edition

/ Zeilenwechsel// Absatzwechsel<> gestrichen

unsichere Lesart] Lemmazeichena articulusApol. ApologiaBSLK Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen KircheBSRK Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirchec. cap. KapitelCA Confessio AugustanaCChrSL Corpus Christianorum. Series Latinacf. confer, vergleicheConf. ConfessioCR Corpus ReformatorumDH Denzinger, Heinrich, Enchiridion symbolorumed., edd. edidit, edideruntEpit. EpitomeExpos. Simpl. Expositio simplex (Confessio Helvetica posterior)FC Formula ConcordiaeGdP Ritschl, Albrecht, Geschichte des PietismusHg., Hgg., hg. Herausgeber, herausgegeben vonKap. KapitelKGA Kritische GesamtausgabeMPL Migne, Patrologia LatinaMs. A Manuskript A (letzte Fassung)Ms. A* Manuskript A (erste Fassung)Ms. B Manuskript B (letzte Fassung)Ms. B* Manuskript B (erste Fassung)OR Ritschl, Otto, Albrecht Ritschls Lebenp. paginaq quaestior recto

Page 46: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

RuV Ritschl, Albrecht, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung

Sol. Decl. Solida DeclaratioS., s. Seite, Siehe, siehesc. scilicet, nämlichSS Sommersemesterv versoWA Luther, Martin, WerkeWS Wintersemester

XLVI Abkürzungen

Page 47: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)
Page 48: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Faksimile 1 (auf die Hälfte verkleinert): Die stark vergilbte Seite 1 (s. unten S. 1,1) gehört zugleich zu Ms. A und Ms. B.

Bei der Überschrift ist erkennbar, daß der ursprüngliche Begriff Moral mittels kräftiger Tinte mit Ethik überschrieben ist.

Page 49: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Faksimile 2 (Ausschnitt, Originalgröße): Oberer linker Teil von S. 22 mit dem Beginn von Ms. B (s. unten S. 28,1). In der 5. Zeile ist rechts die mit rotem Farbstift eingetragene spätere Paragraphenzählung 5 zu erkennen.

Page 50: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)
Page 51: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[1] T h e o l o g i s c h e E t h i k 1858, 15. October

E i n l e i t u n g . Seite 1–21.

§ 1. A u f g a b e u n d S t e l l u n g d e r D i s c i p l i n z u r D o g m a t i k .

Das Ve r h ä l t n i ß d e r M o r a l z u r D o g m a t i k ist erst fraglich gewor-den, seitdem die Trennung beider Disciplinen in der evangelischen Theologie vollzogen worden ist. Ebenso wenig wie die Theologen des Mittelalters Thomas von Aquino halten die Reformatoren in ihren Lehrbüchern den Stoff auseinan-dergesetzt. Unter M e l a n c h t h o n s (24) Loci sind auch die ethischen Proble-me befaßt, in der dritten Gestalt (von 1543 an) so daß in 5. de Peccato auch die Beurtheilung der Thatsünden, 6. de lege divina der Dekalog, das Naturgesetz, die evangelischen Räthe, die Rache, Armuth, Keuschheit verhandelt werden; ferner 9. de bonis operibus, 11. de discrimine peccatorum, mortalis et venialis, 12 de ec-

1 Der ursprüngliche Titel Theologische Moral ist die Übersetzung von theologia mo-ralis vgl. den textkritischen Apparat zu Zeile 5. Nach OR 1,449 wurde jedoch schon bei der Wiederholung der Vorlesung WS 1859/60 der Titel Theologische Ethik benutzt.1 Nach der Rückkehr von einer Reise am 11. Oktober (OR 1,316) bezeichnet das Da-tum wohl den Beginn der Niederschrift.3 § 1. bildete im ursprünglichen Ms. A* den 1. Absatz von § 1.7 Thomas von Aquino behandelt in Pars Secunda Secundae seiner Summa theologiae die Ethik im Schema der drei theologischen Tugenden (fides, spes, caritas) und der vier Kardinaltugenden (sapientia, iustitia, fortitudo, temperantia).9 Melanchthon, Loci 1559, CR 21, 601–1050; ed. Stupperich 2,186–816. Ritschl be-nutzt die in CR 21 vom Hg. eingefügte Zählung von 24 Loci.

1 Ethik] korr. aus Moral4 zur Dogmatik] am Rand5 Das] davor <1. Die Unsicherheit in der Placirung der theologischen Moral erscheint schon in der Verschiedenartigkeit der Namen, mit denen man den gemeinten Umfang von Erkenntnissen bezeichnet. Gleichgültig freilich ist es, Ethik zu sagen oder Moral, aber nicht, ob man sagt: christliche oder theologische Moral; und es ist nicht dasselbe, wenn man sagt theologia moralis oder theologische Moral (Ethik). Die Entscheidung über den ‚richtigen‘ (korr. aus N) Namen schließt aber in sich die Bestimmung des Ver-hältnisses unserer Disciplin zur Dogmatik und zur philosophischen Moral.>7 Theologen] korr. aus Theologie7f. Thomas … Aquino] über der Zeile11 Thatsünden] folgt <(mortalia, venialia)>11 6.] über der Zeile

5

10

Page 52: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

clesia, welche Lehre ganz ethisch und nicht dogmatisch gehalten ist; 18. de cala-mitatibus et de cruce, et de veris consolationibus, 19. de invocatione; 20. de ma-gistratibus politicis; 21. de ceremoniis humanis in ecclesia 22 de mortificatione carnis; 23. de scandalo; 24 de libertate christiana. C a l v i n giebt im 3. Buch der Institutio, cap. 6–10 ethische Lehren im Anschluß an den Begriff der Wiederge-burt und im 4. Buch die Lehre von der Kirche nicht in rein dogmatischer Weise, sondern mit Einschluß der Lehre von Verfassung und Disciplin. [2] Diese Metho-de ist aber nicht blos aus dem Vorgang der Mittelalterlichen Theologie zu erklä-ren, noch auch als ein blos formales Ungeschick aufzufassen, sondern hat ihren Grund darin, daß die Reformation zum erstenmal dogmatisch-kirchliche Ent-scheidungen über ethische Fragen, oder über den Zusammenhang der mensch-lich-sittlichen Thätigkeit mit der religiösen Bestimmtheit aufgestellt hat. Fast alle die bei Melanchthon erwähnten Punkte finden auch in den reformatorischen Symbolen ihre Abhandlung; und die reformatorische Idee von der Rechtferti-gung durch den Glauben ist nothwendig ergänzt durch die Bestimmung des Ver-hältnisses der Werke zur Rechtfertigung also durch einen ethischen Grundsatz.

Ebenso das Recht der Obrigkeit oder des Staates in der christlichen Gesell-schaft gegen die Wiedertäufer, indirect gegen die katholische Ansicht.

Wenn also die Reformation kirchliche Grundsätze, d.h. Dogmen über ethische Verhältnisses producirte, so mußte auch die dogmatische (thetische, positive, di-daktische) Theologie der Reformation welche deren Dogmen zu reproduciren, zu begründen und vertheidigen hatte aus innerer Nothwendigkeit sich der Trennung beider Disciplinen enthalten, je stärker der ursprüngliche reformatorische Impuls nachwirkte, bevor das theoretische metaphysische und juristische Interesse über-wog. Jene Rücksicht auf die d o g m a t i s c h e Fixirung ethischer Probleme wirkt auch noch immer auf die getrennte Behandlung beider Disciplinen ein und trägt dazu bei, die methodische Behandlung der Trennung zu trüben. Neben dieser

4 Calvin, Institutio III, 6–10; CR 30, 501–532, ed. Barth 4, 146–181; Institutio IV, darin cap. 11 „De ecclesiae iurisdictione …“ und cap. 12 „De ecclesiae disciplina …“ CR 30, 891–905.905–924; ed. Barth 5, 195–212.212–237

3 21. … ecclesia] am Rand3 22] über der Zeile11f. der … Thätigkeit] korr. aus des menschlich-sittlichen Lebens17f. Ebenso … Ansicht.] am Rand21 zu] korr. aus und23 reformatorische] korr. aus Re24 und juristische] am Rand26 immer] folgt <, auch>27–3,4 zu … Sinne.] am Rand statt <zu trüben. Aber schon vor der Augsburger Confes-sion findet sich der Versuch einer protestantischen Ethik, auf welche Schwarz in Jena (Studien und Kritiken 1850 Heft 1.) aufmerksam gemacht hat: Thomae Venatorii (in Nürnberg) de virtute christiana libri III. 1529. Venatorius hat unter dem Einfluß von Osiander und nicht im Widerspruch mit der damaligen Tendenz Luthers den Glauben so-

5

10

15

20

25

2 Einleitung

Page 53: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Entwicklung der theologischen Gesammtwissenschaft, welche sich durch die gan-ze orthodoxe Epoche hindurch erstreckt, hat Melanchthon den Anstoß zu einer gesonderten Behandlung der Moral gegeben, aber mehr im philosophischen als im theologischen Sinne. [3] So lange Melanchthon unter Luthers Einfluß an der Prädestinationslehre festhielt, hatte er kein Interesse am Gebiete der Ethik. Aber sein allmählicher Uebergang zum Synergismus, und seine schließl|iche positive Behauptung, daß die guten Werke conditio sine qua non des ewigen Lebens seien, hält mit seinem erneuerten Interesse an Aristoteles Ethik gleichen Schritt (cf. Schwarz, Melanchthon und seine Schüler als Ethiker. Studien und Kritiken 1853 Heft 1). Die Frucht dieser Entwicklung war zuerst Epitome philosophiae moralis, 1538, Corpus Reformatorum vol. XVI. Allerdings hält er den Unterschied zwi-schen Philosophie und Evangelium insofern aufrecht, als er den Standpunct der ersteren eigentlich mit dem Gesetze identificirt, welches den gefallenen Menschen

2,27 Zum gestrichenen Text (s. textkritischen Apparat): Karl Schwarz, Thomas Vena-torius 85f. über Thomas Venatorius, De virtute christiana, und ders.: De sola fide9 Karl Schwarz, Melanchthon10 Melanchthon, Philosophiae moralis Epitome

wohl als die Erkenntniß der Wahrheit, wie als die Grundtugend dargestellt, welche sich nothwendig in der Liebe äußert, welche in der Gebundenheit durch den heiligen Geist die wahre Freiheit hat, und den Cardinaltugenden der prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia erst [3] ihren Werth giebt. Diese Grundgedanken unterscheiden sich von der katholischen Ausdeutung des gemeinsamen Augustinischen Begriffs von der fides als vir-tus, durch die Beseitigung des quantitativen Unterschieds von fides informis und forma-ta. D e r Glaube allein gilt dem Venatorius in welchem man durch Christus gerechtfertigt ist, aber die declaratorische Bedeutung der Rechtfertigung tritt in dieser Schrift zurück, und auch wo er sich ausdrücklich zu derselben bekennt, (Epistola apologetica ad Johan-nem Hanerum de sola fide iustificante nos in oculis dei. 1534) setzt er in Osiandrischer Weise den Glauben als das Princip des neuen Lebens, demgemäß er den Impuls zum An-bau der Moral empfing. Auf seiner Spur aber ist die theologische Arbeit an dieser Disci-plin nicht weiter gegangen, weil der dogmatische Fehler Osianders die lutherische Kirche zu einer derartigen Lehrbildung antrieb, welche auch die richtige ethische Tendenz Osi-anders in den Schatten stellte, zu großem Schaden der lutherischen Kirche und (folgt <zum>) nicht zum Nutzen für die Gestaltung einer selbständigen Moraltheologie.>7 seien,] korr. aus Î ù11 Corpus … XVI.] mit Bleistift am Rand statt <welche in Anlehnung an Aristoteles den Begriff der Tugend bearbeitet hat.>11 er] korr. aus Îdenù12 aufrecht,] folgt <welche>13–4,9 welches … Pezel).] am Rand statt <welches doch nur unter Bedingung der Kraft des Evangeliums wirksam ist, und entwickelt den Tugendbegriff demnach aus dem Dekalog, aber die Anerkennung (folgt <eines>) des philosophischen Naturgeset-zes, die hierin implicirt ist bedeutet die Anerkennung der sittlichen Freiheit als Voraus-setzung [4] des Gnadenstandes und öffnet also die Aussicht auf eine Ethik, in welcher doch das christliche Princip die Grundsätze der natürlichen Sittlichkeit befruchten soll. ‚Der Mensch ist Bild Gottes, sein Zweck ist, die Ehre Gottes durch Anerkennung Got-tes und Gehorsam zu verwirklichen‘ (am Rand) In den Ethicae doctrinae elementa,

5

10

3§ 1 Aufgabe und Stellung zur Dogmatik

Page 54: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ohne die Kraft des Evangeliums nur zur justitia civilis anleitet, aber doch die Ehre Gottes als den Zweck des Menschen darstellt, dem sich der aristotelische Begriff der Tugend als des höchsten Zweckes eingliedert. Demgemäß hat diese halb theo-logische halb philosophische Moral nur [4] eine propädeutische Stellung zur ei-gentlichen Theologie, enthält eine Menge Fragen zum Naturrecht, und ist nichts weniger als eine solche Gestalt der Ethik, welche dem Zusammenhang der loci theologici Concurrenz macht. Wesentlich denselben Standpunkt und dieselben Themata bietet die zweite Schrift dar: Ethicae doctrinae elementa, 1550. (Com-mentare zu dieser Schrift von Victorin Strigel und Christoph Pezel). Also gab es eine halb philosophische, halb theologische Ethik, aber nicht neben einer Dogma-tik Melanchthons, sondern neben einem lockeren Gesammtsystem der Religions-lehre. Ein solches hat Melanchthons Schüler Nicolaus Hemming in Kopenhagen in strengerer Gliederung gegeben: Enchiridion theologicum 1557. Der erste ei-gentl|ich dogmatische Theil ist dem Begriff des Gnadenbundes und Reiches Got-tes untergeordnet, also Heilsgut, der zweite (communis formandae vitae regula) enthält Tugend- und Pflichtenlehre, der dritte und vierte enthalten die Lehren von der Kirche und dem bürgerlichen und staatlichen Leben. Die Ethik, die er dane-ben gab, de lege naturae apodictica methodus, 1562, zeichnet sich durch die An-knüpfung der ethischen Probleme an die anthropologischen Grundlagen aus, und durch den Umfang der ins Auge gefaßten Aufgaben (häusliches bürgerliches geistliches Leben). Auch die Ethicae doctrinae libri IV. 1571 von Paul von Eitzen, einem Schüler Melanchthons, erheben sich nicht über ein lockeres und principlo-ses Aggregat von philosophischen und theologischen Thematen (Pelt, Die christli-che Ethik in der lutherischen Kirche vor Calixt. Studien und Kritiken 1848, 2 Heft). Vielleicht urtheilt Schwarz (Studien und Kritiken 1850, S. 139) richtig, daß

8 Melanchthon, Ethicae doctrinae elementa8 Victorin Strigel, In epitomen philosophiae moralis Philippi Melanchthonis hypomne-mata; Christoph Pezel, Epitomae philosophiae moralis sive ethice Philippi Melanchtho-nis; vgl. CR 16,15/16.12 Nicolaus Hemming, Enchiridion Theologicum17 Nicolaus Hemming, De lege naturae apodictica methodus21 Paul van Eitzen, Ethicae doctrinae libri quatuor; s. Pelt, Die christliche Ethik 276–31023 Anton Friedrich Ludwig Pelt, Die christliche Ethik

1550 schreitet er zur Theologisirung der Ethik weiter vor, indem er die Frage nach dem höchsten Gute dahin beantwortet, daß es Gott als die das Recht setzende Weisheit und als der immer das Rechte wollende Wille sei. Demnach ist auch der nach dem Dekalog bestimmte Begriff der Tugenden viel theologischer gehalten, als in der ersten Schrift.>10 halb … theologische] am Rand19 aus,] folgt <die ihm>21 Leben).] folgt <Bis jetzt haben wir also eine philosophische Ethik neben einem theologischen Gesammtsystem entstehen sehen. Diese Methode hat erst Georg Calix-tus unterbrochen. Denn>21 Auch] korr. aus auch25 Vielleicht urtheilt] am Rand

5

10

15

20

25

4 Einleitung

Page 55: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

die Concordienformel mit ihrer juristischen Zuspitzung der Rechtfertigungslehre das Interesse an theologisch ethischen Bestrebungen hemmte. Es ist vielfach be-hauptet worden, daß die besondere Ausbildung der Moral von den Reformirten ausgegangen sei, und man verweist dabei [5] auf Lambert Danaeus Ethices chri-stianae libri tres, 1577. Aber diesem Werke mangelt doch der speciel theologische Charakter in seinem Gegensatz gegen die philosophische Ethik (vgl. den Auszug bei Schweizer, Entwicklung des Moralsystems in der reformirten Kirche Studien und Kritiken 1850. 1 Heft, S. 22ff). Die Auseinandersetzung des theologischen Stoffes in die res credendae und die res faciendae oder de fide und de observantia liegt freilich zu Grunde bei Amesius, Medulla theologica 4. Auflage 1630 und bei Polanus Syntagma theologiae christianae 1609. Daneben die Casuistik: Friedrich B a l d u i n de casibus conscientiae 1638. D a n n h a u e r , Collegium decalogi-cum 1669. I.A. O s i a n d e r Theologia casualis 1680. A m e s i u s De conscien-tia Johann Heinrich A l s t e d theologia casuum 1621. Soviel bleibt aber beste-hen, daß die gesonderte Behandlung der theologischen Moral unter jenem rein theologischen Gesichtspuncte von Calixtus zuerst unternommen, wenn auch nicht vollendet ist Epitomes theologiae moralis Pars I. 1634.

Henke Calixt I, 508ff. 514.Zwei Theile: 1. Das Subject der christlichen Ethik. 2. Die Gesetze, nach de-nen der wiedergeborene Mensch handeln soll. In diesem zweiten hat sich

4,25 Karl Schwarz, Thomas Venatorius 1394 Lambert Danaeus, Ethices christianae libri tres7 Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 22–4510 Wilhelm Amesius: Medulla theologica11 Amandus Polanus von Polansdorf, Syntagma theologiae christianae, s. Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 53–5611 Friedrich Balduin, Tractatus luculentus12 Johann Conrad Dannhauer, Collegium decalogicum13 Johann Adam Osiander, Theologia casualis13 Wilhelm Amesius, De conscientia et eius iure vel casibus; s. Schweizer, Die Ent-wickelung des Moralsystems 50–5314 Johann Heinrich Allsted, Theologia casuum16 Georg Calixt, Epitomes theologiae moralis pars prima (nicht mehr erschienen), in: Werke in Auswahl 3 ed. Mager 28–14218 Ernst Ludwig Theodor Henke, Georg Calixtus19 Georg Calixt hat seine Epitomes theologiae moralis pars prima nur durch zwei Überschriften untergliedert: „De subjecto theologiae moralis“ und „De legibus“ 3.45; ed. Mager 30.66.

4,25 S. 139)] folgt <urtheilt>4 man] über der Zeile9 oder … observantia] am Rand10 theologica] korr. aus theologiae11–14 Daneben … 1621.] am Rand (Titel untereinander geschrieben)18 Henke … 514.] am Rand19–6,3 Zwei … Casuistiker. –] am Rand

5

10

15

20

5§ 1 Aufgabe und Stellung zur Dogmatik

Page 56: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Calixt in allgemeinere Betrachtungen über das Gesetz verloren und viel-leicht deßhalb die Vollendung des Ganzen aufgegeben. (Sachlich auf dem Standpunkt der Casuistiker). –

Gegenstand derselben ist nicht mehr das göttliche Sittengesetz, auch nicht der sittliche Mensch im Allgemeinen oder der Mensch als sittliches Wesen, son-dern der gläubige und wiedergeborne Mensch, sofern er seinen Glauben er-hält, und seine Berufung befestigt.

vgl. oben Calvin.Dieser Gesichtspunct beherrscht nun auch die gesonderte Behandlung der Moral in der orthodoxen Epoche beider evangelischen Confessionen, z.B. D ü r r , Compendium theologiae moralis B a i e r , Compendium theologiae moralis B u d d e u s , Institutiones theologiae moralis 1711, Pars I. cap. 3. sanctitas fidelium finis theologiae moralis. – Subiectum sanctitatis homo re-genitus. Cap. 1 enthält eine überwiegend dogmatische aber an den einzelnen geistigen Fähigkeiten durchgeführte Darstellung de natura et gratia; der 3. Theil de prudentia christiana, – ecclesiastica et pastorali. Durch den Pietis-mus angeregt. (Gaß Geschichte der protestantischen Dogmatik III. S. 213ff.) Petrus van Mastricht, theoretico-practica theologia 1699. –

§ 2. F o r t s e t z u n g

Hiemit haben wir aber vielmehr einen Gegensatz der t h e o l o g i s c h e n Mo-ral gegen die philosophische gefunden, als die Einsicht in die genaue Abgrän-zung zwischen Dogmatik und Moral. Denn indem die Moral als Darstellung

8 Vgl. oben S. 2,411 Johann Conrad Dürr, Compendium theologiae moralis11 Johann Wilhelm Baier, Compendium theologiae moralis12 Johann Franz Buddeus, Institutiones theologiae moralis17 Wilhelm Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 3,214–21718 Petrus van Mastricht, Theoretico–practica theologia; s. Schweizer, Die Entwicke-lung des Moralsystems 290–29819 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier der 2. Absatz von § 1.

1 über … Gesetz] über der Zeile4 das … der] am Rand4 göttliche] über der Zeile8 vgl. … Calvin.] am Rand11f. Dürr … moralis] am Rand12–17 Pars I.… S. 213ff.)] am Rand14f. aber … durchgeführte] über der Zeile19 § 2.] korr. aus 2.19 Fortsetzung] über der Zeile20f. Moral] korr. aus Î ù

5

10

15

20

6 Einleitung

Page 57: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

des Handelns des Wiedergeborenen vollzogen wurde, blieben der Dogmatik alle die Themata, deren ethischer Character unzweifelhaft ist über Buße und Glaube, Nothwendigkeit der guten Werke, Bedeutung des Gesetzes für d|en Wiedergebornen nach wie vor zugewiesen als credenda, während in der Lehre von der Heilsordnung und von der Kirche manches enthalten ist, was viel-mehr Norm des facere als des credere ist, und in der Dogmatik nur deßhalb blieb weil es in den Symbolen tractirt war. Hierüber ist bis auf die Gegenwart keine allgemeine Verständigung erreicht, vielmehr haben die Wechselfälle in der Geschichte der Theologie theils die Vermischung der theologischen und philosophischen Moral, theils ihre Zusammenfassung mit der Dogmatik, theils falsche Motive ihrer Ausein[6]andersetzung ergeben. Ueber den zweiten und dritten Fall folgendes. Schleiermacher (Kurze Darstellung des theologi-schen Studiums § 223–231) erklärt die Trennung beider Disciplinen nicht als wesentlich wie sie auch in der evangelischen Kirche nichts ursprüngliches sei. Denn 1. die christlichen Lebensregeln sind ebenso gut theoretisch wie die Dogmen als Entwicklungen vom christlichen Begriff des Guten; und sie sind nicht minder Glaubenssätze, wie die eigentlichen dogmatischen, da sie es mit demselben christlich frommen Selbstbewußtsein zu thun haben, nur so wie es sich als Antrieb kund giebt. Ferner 2. könne die getrennte Behandlung den Irr-thum bestärken, daß bei Verschiedenheit der Glaubenslehre doch Identität der Sittenlehre stattfinden könne. Während also Schleiermacher einen i n n e r n Grund für die Trennung nicht anerkennen will und einen ä u ß e r n gegen die-selbe, so findet er doch auch ä u ß e r e G r ü n d e f ü r d i e Tr e n n u n g , einmal 1., sofern die Bewährung aus Bibel und Symbol bei den ethischen Sät-zen sich anders gestaltet als bei den dogmatischen, dann 2., sofern die wissen-schaftlichen Mittel aus verschiedenen philosophischen Disciplinen, aus der Metaphysik und der Ethik abstammen. Zur Beurtheilung zweierlei. 1. Die ethischen Sätze sind nicht Glaubenslehren, denn sofern sie auf das christliche

12 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Auflage, Berlin 1830, 94–98; KGA I/6, 404–407

2 ist] korr. aus waren2–4 über … Wiedergebornen] am Rand4 nach] korr. aus doch8f. in … Geschichte] am Rand15 1.] nachträglich eingefügt16 Dogmen] Ms.: Dogmen,16 als … Guten;] am Rand19 2.] über der Zeile22 für] über der Zeile24 1.] über der Zeile25 2.] über der Zeile27 1.] über der Zeile28 auf] über der Zeile

5

10

15

20

25

7§ 2 Aufgabe (Fortsetzung)

Page 58: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Subject unter dem Gesichtspunkt des Antriebes zurückgehn, unterscheiden sie sich von den Sätzen, welche den frommen Zustand des Subjects als durch Gott gesetzt bezeichnen. Dies würde also vielmehr auf einen innern Grund der Trennung hinweisen. Dann 2. ist aber der Grund der Trennung zurückzuwei-sen daß auf beide Disciplinen verschiedene philosophische Mittel angewandt werden müssen. Denn die Metaphysik oder die zu ihr gehörende rationale Theologie, wenn sie nicht die Principien der Ethik, also den Freiheitsbegriff in sich schließt ist auch zum Begreifen der Glaubenssätze nicht dienlich, und für alle Hauptfragen der Dogmatik muß man auf ethische Begriffe zurückführen. – Während also S c h l e i e r m a c h e r nur aus Z w e c k m ä ß i g k e i t s -g r ü n d e n die Trennung genehm hält, so fordert sie Rothe Theologische Ethik 1. Theil § 4,

2. Ausgabe § 15weil bei Identität des Stoffes Gegensatz der Methode obwalte, die Ethik spe-culativ, die Dogmatik historisch sei. [7] 1. Das Verhältniß der Dogmen unter-einander zu begreifen und zu organisiren ist aber Sache der Dogmengeschich-te, und theologia dogmatica ist nicht Wissenschaft von den Dogmen. Ebenso-wenig ist die Ethik rein speculativ, denn auch in ihr Gebiet reicht die Dog-menbildung hinein. Ferner 2. aber wird weder das Gebiet der einen noch der andern durch die Dogmenbildung erschöpft, sondern wenn dies auch quanti-tativ mehr die Ethik betrifft, so doch auch zum Theil die Dogmatik (von Gott, von den letzten Dingen). Endlich 3. ist die prätendirte Apriorität der Speculation im Gegensatz zur Geschichtlichkeit der theologischen Erkennt-niß ein reines Phantom. Also wenn die sogenannte Dogmatik an bestimmten Punkten n i c h t von Dogmen geleitet und die Ethik an bestimmten Punkten von Dogmen geleitet ist, so folgt daraus entweder die Unmöglichkeit beide zu trennen, oder es ist ein anderer Gesichtspunct der Trennung zu suchen, als welcher nur in der Methode zu finden wäre. –

11 Rothe, Theologische Ethik 1,38–4313 Rothe, Theologische Ethik 2. Auflage 1,61–68

7,28 das] korr. aus dies4 2.] über der Zeile4 aber der] folgt <äußere oder vielmehr innere>5 verschiedene] folgt <theologische>13 2. … § 15] am Rand14 Stoffes] folgt <die Ethik>15 1.] über der Zeile15 der Dogmen] korr. aus zu den19 2.] über der Zeile21 Theil] folgt <das Gebiet>22 3.] nachträglich hinzugefügt24 wenn] folgt <auch>24 sogenannte] am Rand

5

10

15

20

25

8 Einleitung

Page 59: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 3. S c h l u ß .

Ein Haupthinderniß des Verständnisses bilden die termini technici. Wenn man für gewöhnlich theologia dogmatica und moralis einander entgegensetzt, also coordinirt, so ergiebt die nähere Betrachtung die logische Unvollziehbarkeit dieses so bezeichneten Gegensatzes. Mag man Dogmatik als Wissenschaft von den Dogmen, oder als die positiv wissenschaftliche Erkenntniß der christli-chen Religion deuten, immer wird eine Lehre vom religiös sittlichen Subjekt oder die individuelle Heilsordnung, also, wie es scheint, ein Theil der Ethik unter die Dogmatik kommen. Wenn man also denselben in der Ethik nicht wiederholt, so wird deren Tugend- und Pflichtenlehre kopflos. Also scheint die Ethik überhaupt keinen neuen Anfang gegen die Dogmatik haben zu können, d.h. ihre selbständige Abgrenzung gegen diese ist innerlich unbegründet. Aber die Unterscheidung muß eben nicht zwischen zwei Coordinaten, sondern durch die Unterordnung der Ethik unter die Dogmatik vollzogen werden. Die Titulatur stellt sich: (Dogmatische) Theologie, – Theologische Ethik oder Mo-ral. Das heißt: [8] Die Theologie im engsten Sinne oder die Dogmatik hat Göttliches Thun zum Gegenstand, die Moral das menschliche Thun, welches auf jenes göttliche Thun begründet ist. In gleichem Sinne hat Schleiermacher an einem anderen Orte, in den Vorlesungen über die christliche Sitte S. 23 ausgesprochen: Die Formel der dogmatischen Aufgabe ist die Frage: Was muß s e i n , weil der religiöse Gemüthszustand i s t ; die Formel der ethischen Auf-gabe: Was muß w e r d e n , weil das religiöse Selbstbewußtsein i s t . Die Dog-matik hat allerdings auch eine Lehre von dem religiösen Subject, aber der gan-zen Anlage der Dogmatik entspricht es, daß dasselbe nur betrachtet wird, so-fern es von Gott durch Christus und den heiligen Geist bestimmt i s t , nicht sofern es sich nun auf Grund dessen selbst bestimmt. Rothe S. 40 bemerkt

1 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier der 3. Absatz von § 1.18 Schleiermacher, Die christliche Sitte 23

1 § 3.] korr. aus 3.1 Schluß.] über der Zeile3f. also coordinirt,] am Rand5 bezeichneten] korr. aus bezeichnet7f. eine … scheint,] am Rand8 Ethik] folgt <wenigstens>13 die] korr. aus der13f. Unterscheidung … werden.] am Rand statt <Gegensatz, wie wir ihn zu bezeich-nen versucht haben, ist durch die blosen Adjective zu theologia ‚nicht vollständig und‘ (am Rand) richtig bezeichnet. Was freilich <im rein> in meiner Ankündigung im Cata-log nicht geschehen ist,>14 Die] korr. aus die16 Das] korr. aus ÎDiesù25 den] korr. aus he

5

10

15

20

25

9§ 3 Aufgabe (Schluß)

Page 60: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

zwar gegen diese Schleiermachersche Definition, die Dogmatik werde sich die Lehre von der Heiligung (im gewöhnlichen falschen Sinne) nicht aus der Hand winden lassen, aber diesen Einwand macht er von seiner falschen An-sicht aus, daß die Dogmatik die Wissenschaft der Dogmen sei.

Nitzsch System S. 4. Die Möglichkeit und Nothwendigkeit der gesonderten Bearbeitung ist begründet, weil die Richtung des Bewußtseins und Den-kens auf das Sein, Schaffen und Wirken Gottes im Ganzen eine andere ist als die Richtung auf den sein Wesen und seine Bestimmung verwirklichen-den Menschen. Daneben behauptet Nitzsch die Möglichkeit des Gesammt-systems aus dem i n n e r n Grunde, weil das christliche Leben eine Einheit bleibt, und sich Erkennen und Handeln darin ähnlich bedingen, wie einzel-ne Theile beider Thätigkeiten. Die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens be-ruht nach Nitzsch auf der äußeren Rücksicht, daß etwa die Ethik ihre Ab-hängigkeit von der Glaubenslehre, oder daß die Dogmatik ihre Beziehung auf die Sittenlehre sehr vergessen hätte. – Ebenso Harleß: Die Dogmatik beschäftigt sich mit der Erkenntniß Gottes und seines objectiven Willens in Christo über die Welt; die Ethik mit der christlichen Selbsterkenntniß und der Erkenntniß des subjectiven Christenstandes in dieser Welt.

Wenn aber das einzelne religiöse Subject und die religiöse Gemeinschaft In-halt eigentl|icher theologischer Sätze sind, sofern sie Object der göttlichen Wirksamkeit durch den heiligen Geist sind; und wenn schon die dogmatisch festgesetzte Lehre, wie sich das so bestimmte Subject in seinem selbstthätigen Leben und wie sich die religiöse Gemeinschaft selbstthätig verhält, in die Ethik gehören, so hat diese Disciplin auch einen neuen Anfang, und in dem richtigen Verständniß der Titel: Theologie und theologische Ethik ist dem-nach das innere Recht der Zusammenfassung beider Disciplinen ausgeschlos-sen. Es wird sich zeigen, daß nur durch d i e s e Trennung eine Masse von Confusion von übeln practischen Folgen beseitigt werden kann. Denn wenn man auch meint, uno tenore alle dogmatischen und ethischen Probleme ab-handeln zu können, so wird man doch in dem locus vom heiligen Geiste die zwei Gesichtspuncte entgegensetzen müssen, durch welche sich überhaupt die theologische Moral von der Theologie unterscheidet.

9,26 Rothe, Theologische Ethik 1,405 Nitzsch, System 4 Anm. 29 Nitzsch, System 315 Harleß, Christliche Ethik 3

5–18 Nitzsch … Welt.] am Rand7 andere] korr. aus Andere11 bleibt] korr. aus bil14 Glaubenslehre,] folgt <thei>21 wenn] über <wie>28 practischen] korr. aus P

5

10

15

20

25

30

10 Einleitung

Page 61: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[9] § 4. Ve r h ä l t n i ß d e r D i s c i p l i n z u r p h i l o s o p h i s c h e n M o r a l .

1. Die vielfache Vermischung beider, z.B. in der Schule Melanchthons, Wolfs, Kants, Hegels läßt die Unterscheidung beider als sehr schwierig erscheinen. Die Theologie ist nur Wissenschaft durch Anwendung philosophischer Be-griffe auf das religiöse Verhältniß und auf die dasselbe ausdrückenden Vor-stellungen, also ist auch die theologische Moral von der philosophischen ab-hängig. Dieser Behauptung treten zwei äußerste Gegensätze von Einwendun-gen entgegen. Entweder wird die theologische Ethik als blose Modification der philosophischen Ethik und deßhalb als besondere Wissenschaft überflüs-sig erscheinen oder wird nach Kant als Darstellung eines Handelns auf Auto-rität gar nicht des wissenschaftlichen Charakters fähig sein. Denn unter Vor-aussetzung der Identität des Stoffes würde sich nicht sagen lassen, daß die philosophische Moral a p r i o r i s c h , die theologische positiv-empirisch wäre. Denn einen Apriorismus der nicht mit der Empirie sich sättigte giebt es in Anwendung auf das sittliche Wesen des Menschen nicht. Auch ist die phi-losophische Ethik nicht s u b j e c t i v die theologische nothwendig subjectiv-objektiv, sondern auch jene erhebt sich zum Gedanken des objectiven Sitten-gesetzes und zur Würdigung objectiver Sittlichkeit. Am wenigsten läßt sich der Gegensatz des U n c h r i s t l i c h e n und Christlichen auf beide Discipli-nen anwenden. Denn wie die Philosophie ihren Grund und ihr Maaß an der Culturstufe hat, der sie angehört, so ist sie auch christlich geworden. Nicht nur, daß sie einzelne Lebensordnungen die durch das Christenthum erst ethisch begründet sind, z.B. die Monogamie als dem menschlichen Wesen ge-mäß begreift, nicht nur daß sie die Religion und Kirche in specifisch-christli-cher Gestalt anerkennen kann und muß, sondern daß sie das sittliche Wesen im persönlichen Willen anerkennt ist nur Frucht der christlichen Bildung.

1 § 4 bildete im ursprünglichen Ms. A* von § 2 den 1. Absatz, dessen Zählung verse-hentlich stehen blieb.

1 § 4.] korr. aus § 2.5 Anwendung] folgt <der>7 theologische] korr. aus philosophische7f. abhängig] korr. aus A8–12 Dieser … sein.] am Rand statt <Wenn nun aber auch vom theologischen Princip aus alle Ordnungen des menschlichen Lebens construirt werden sollen, jenes aber nur in Uebereinstimmung mit philosophischen Grundsätzen wissenschaftliche Gestalt hat, so erscheint also die theologische Moral nur als Modification der philosophischen, und würde sich nur durch den praktischen Zweck der Kirchenleitung von jener unterschei-den. Rein wissenschaftlich angesehen würde sie also überflüssig sein, was die Dogma-tik neben der Religionsphilosophie nicht ist.>18f. zum … und] am Rand

5

10

15

20

25

11§ 4 Verhältniß zur Philosophie

Page 62: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Die Ethik der alten Welt ist in demselben Maaß mit Physik und Politik ver-flochten, als es der griechisch-römischen Philosophie nicht gelingt, die Ein-heit des geistigen Selbstbewußtseins zu erkennen. Harleß S. 48.

Aber freilich läßt sich mit diesen Allgemeinheiten nichts anfangen. Denn die philosophische Moral auch in der christlichen Welt hat oft genug Principien aufgestellt, die [10] indem sie unter dem Niveau des Christenthums bleiben, nicht zur Construction theologischer Moral angewandt werden dürfen. Wel-che Kriterien lassen also gewisse Moralprincipien als unterchristlich und demnach als untheologisch erscheinen.

§ 5. F o r t s e t z u n g .

– Der wiedergeborne und geheiligte Gläubige dessen sittliches Werden die theologische Moral darzustellen hat ist nicht nur im theologischen Sinne über-natürlich bestimmt, sondern auch im philosophischen Sinne nicht nach seinem Naturell bestimmt, sondern des höchsten sittlichen (über seine Individualität wie über die jeweilige Verfassung des Gemeinwesens übergreifenden) End-zwecks bewußter Charakter. Unter dem theologischen Niveau bleiben also alle die moralischen Theorien, welche irgend eine Seite des menschlichen Na-turells, also einen menschlichen Trieb zum Princip der Moral machen. Der Selbsterhaltungstrieb, der sein Wirken durch das Streben nach Lust und Ver-meidung der Unlust kundgiebt, ist das Princip der Glückseligkeitslehre, philo-sophisch ausgeführt durch die Schulen der Cyrenaiker (Aristipp) und Epikure-er, aufgenommen von den französischen Moralisten und wirksam auch bei den theologischen Naturalisten in Deutschland. Der Trieb der Persönlichkeit in der negativen Richtung als Unabhängigkeit ist von den Cynikern (Antisthe-nes) und Stoikern zum Princip gemacht; in der positiven Richtung als Selbst-liebe von Helvetius, ausgeprägter von Aristoteles, der die geistige Energie des

3 Harleß, Christliche Ethik 4810 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 2 der 2. Absatz. Bei der Neueintei-lung wurde die Ziffer 2. ausradiert und durch den Gedankenstrich ersetzt.21 Zu Cyrenaiker (Aristipp) s. Erdmann, Grundriß 1,78–8121 Zu Epikureer s. Erdmann, Grundriß 1,161f.24 Zu Cynikern (Antisthenes) s. Erdmann, Grundriß1, 82f.25 Zu Stoikern s. Erdmann, Grundriß 1,166–16826 Zu Helvetius s. Erdmann, Grundriß 2,128

1–3 Die … 48.] am Rand7f. Welche … lassen] korr. aus welches Kriterium läßt10 § 5. Fortsetzung.] am Rand, in eckigen Klammern (Bleistift)11 – Der] korr. aus 2. Der14f. sittlichen … übergreifenden)] am Rand24f. (Antisthenes)] am Rand

5

10

15

20

25

12 Einleitung

Page 63: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Einzelnen als den absoluten Zweck aufstellt, und die hienach gemessene Voll-kommenheit als ethisches Princip selbst, ähnlich Wolf: handle so, daß du und Andere vollkommener werden. Der Geselligkeitstrieb ist das Princip der eng-lisch schottischen Moralisten in der Gestalt der Unterordnung des Einzelnen unter die Gesammtheit als Wohlwollen. Alle diese Theorien sind nur Theori-en, indem sie den Willen unter den Gesichtspunkt eines bewußten Endzwecks stellen, aber diesen suchen sie eben in der Sphäre des sittlichen Naturells. In den Systemen der Lust ist die Tugend nur als Mittel also nicht als das eigent-lich sittliche, in den Systemen der Tugend, wo die Lust nur höchstens als Zu-gabe geduldet wird, kommt über dem Gemeinschaftlichen das Eigenthümliche zu kurz. Der theologischen Sphäre adäquat sind nur solche Theorien, welche das sittliche Wesen im Gegensatz zum Triebe stellen, unter den Alten P l a t o und hierauf beruht die Analogie seiner Ethik zum Christenthum. Das sittliche Thun richtet sich nach der Idee des Guten, welche nicht blos subjectiver Ge-danke sondern transscendente Realität ist. Die Idee des Guten ist unter den Ideen die höchste, [11] welche das gemeinschaftliche Wirken der übrigen ver-mittelt, identisch mit Gott, dem Weltkünstler dessen Werk im kleinen fortzu-setzen die Aufgabe der menschlichen Seele ist, deren ethische Aufgabe also füglich als Verähnlichung mit Gott bezeichnet wird.

Der Organismus des gemeinsamen sittlichen Handelns ist der Staat, in dem die Philosophen herrschen; ein Ideal, welches ceteris imparibus in der mit-telalterlichen Kirche realisirt ist.

Dieselbe ist aber unter Bedingungen gestellt, welche den Ansprüchen des Chri-stenthums zuwiderlaufen. Wie Plato Wissen und Wahrnehmung nur in auschlie-

12,26 Zu Aristoteles s. Erdmann, Grundriß 1,147–1542 Christian Wolff, s. RuV 1,360f.; Erdmann, Grundriß 2,2003 Zu englisch schottischen Moralisten s. Erdmann, Grundriß 2,103f. (Shaftesbury, Hutcheson)13 Die Randbemerkung § 5 (1865) scheint darauf hinzuweisen, daß bei der Vorlesung WS 1865/66 § 5 hier begann.

12,26 ausgeprägter] am Rand mit aufgehobener Streichung12,26–3 von … werden.] am Rand5 Wohlwollen.] Wohlwollen, dazu am Rand gestrichener Zusatz <in Gestalt der Unterord-nung des Gemeinschaftlichen und des Einzelnen nach dem Princip der Vollkommenheit.>5 Alle] davor <Auch diejenigen dieser Theorien, welche auf das Phänomen des>6 Endzwecks] korr. aus Selbstzwecks7 suchen] korr. aus Suchen7 des] folgt <sinnlichen oder>7–11 In … kurz.] am Rand11 adäquat] korr. aus adäquater11 nur solche] über <diejenigen>13 hierauf] am Rand mit Bleistift § 5 (1865)14 subjectiver] über <apriorischer>20–22 Der … ist.] am Rand

5

10

15

20

13§ 5 Verhältniß zur Philosophie (Fortsetzung)

Page 64: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ßenden Gegensatz stellt, so ist ihm die wirkliche Welt eine ungeklärte Mischung der Ideen mit der Materie, und so zerfällt ihm auch die menschliche Seele in die drei Theile des logistikón, jumóv, Èpijumhtikón, und demnach tritt ihm das gei-stige und sinnliche, das sittliche und begehrliche Element im Menschen in einen schrofferen Gegensatz und in lockerern Zusammenhang, als ihn die christliche Lehre von der Erbsünde darstellt. Indem Plato so wenig wie das ganze Alter-thum den Begriff des Willens und der Freiheit findet, indem ihm ethisches und kosmisches zusammenfließt, so kann er das eigentl|ich ethische Problem nicht einmal stellen, geschweige lösen, und anstatt eine positive Sittlichkeit auf dem Wege der Unterwerfung der Triebe vorzuzeichnen, lehrt er auf Grund seines Dualismus die We l t f l u c h t und erklärt das S t e r b e n w o l l e n für den rechten philosophischen Sinn den Tod für die Heilung der Seele und den höch-sten Wunsch des Lebens. Zweitens entfernt sich Platos Ethik von der Analogie zur christlichen Lebensanschauung durch die speciel hellenisch-philosophischen Elemente, durch die Identificirung des Schönen mit dem Guten, welche durch den rein metaphysischen Begriff des Guten und durch den Mangel des Begriffs des Willens näher begründet ist, und welche ohne Versöhnung mit jenen asceti-schen Grundsätzen, doch eine Tendenz zu ihrer Ergänzung verrathen; durch die Identificirung des sittlichen Wesens mit dem philosophischen Erkennen, die ebendarauf beruht, und die Unterordnung aller Thätigkeit und alles Genusses des Einzelnen unter die Gemeinschaft in Gestalt des zwingenden Staates, der al-lerdings das vergrößerte Abbild der Seele ist, deren Theile die entsprechend ge-trennten Functionen der Staatsglieder begründen aber der Staat gewährleistet nur dem herrschenden Stande, nicht allen Genossen das sittliche Handeln nach der Idee, und erzeugt nicht einen Allen zugänglichen idealen Gemeingeist, son-dern fordert den Gehorsam der unteren Stände, um sie ihren besonderen, sinn-lich bedingten Lebensinteressen zu entfremden. – Erst Kant hat den Grund zu der philosophischen Moral gelegt, welche dem Christenthum adäquat ist. [12] Er hat dem Willen abgesehen von der Nöthigung in der Sphäre des empirischen

3 Zu drei Theile s. Erdmann, Grundriß 1,106.10815 Zu Platos Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten s. Erdmann, Grundriß 1,97f.

1 stellt] korr. aus steht1 wirkliche] korr. aus Welt3 logistikón,] Ms.: logistikòn,5 und … Zusammenhang,] am Rand17 näher] über der Zeile17f. und … verrathen;] am Rand19 Wesens] über der Zeile23 begründen] Ms.: begründen.23–27 aber … entfremden.] am Rand26 sie] folgt <durch>28 ist.] Ms.: ist; folgt <[12] wenngleich er das Princip nur in e i n e r beschränkten Ge-stalt ausgeführt hat, blos in der Pflichtenlehre.>

5

10

15

20

25

14 Einleitung

Page 65: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Characters, die F r e i h e i t von allem Kosmischen, Empirischen, Naturgesetzli-chen vindicirt durch die Nachweisung seines transscendentalen, intelligibeln idealen Grundes, welcher sich aller Ableitung nach dem gewöhnlichen Causali-tätszusammenhang entzieht, nicht in Zeitfolge zu anderen Ursachen steht, des-sen sich die denkende Beobachtung als eines Apriorischen und Allgemeingülti-gen versichert, um die Eigenthümlichkeit des empirischen Willensverlaufes zu erklären, der durch die unumgängliche Function der Zurechnung von aller an-deren Wirklichkeit sich unterscheidet. In jedem Willen ist ein unbedingtes Ur-theil über das seinsollende, über die Pflicht gesetzt, welches, mag es nun die Ge-sinnung leiten oder nicht, dem ganzen Wechsel der Triebe und Begehrungen ent-gegengesetzt ist, und den eigentlichen Grundwillen des Menschen bezeichnet. Das selbständige Princip des Willens als allgemeingültiges liegt freilich nicht in irgend welchem Inhalte desselben, denn dieser ist nicht identisch, sondern in der kategorischen F o r m des Pflichtimperativs, aber diese Function ist eben unbe-dingt, apriorisch und von dem Moment der Lust, wie von der göttlichen Aucto-rität unabhängig. Das Bewußtsein der Pflicht w i d e r s p r i c h t vielmehr den auf die Lust gerichteten B e g e h r u n g e n und Tr i e b e n , was insofern mate-riell wahr ist, als Kant dabei an die sittlich werthlosen sinnlichen Triebe denkt, was aber auch insofern formell wahr ist, wenn es auf eine bestimmte Epoche der sittlichen Entwickelung angewandt wird. Wenn nun die oberste Maxime der praktischen Vernunft: „Handle so, daß die Maxime Deines Willens Princip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könne“, f o r m a l i s t i s c h ist, so wird ihr In-halt danach bemessen, daß die menschliche Person absoluter Zweck ist, und

21 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1797, 54 (Teil I, Buch I, 1. Hauptstück § 7). In: Sämmtliche Werke ed. Hartenstein 5,32

14,29–1 abgesehen … Characters,] am Rand4 in … steht,] korr. aus in einzelnen Zeitmomenten stehen,6–8 um … unterscheidet.] am Rand14 diese] korr. aus dieser14 Function] über <Maxime>16 unabhängig.] korr. aus unabhängig, folgt <sofern in ihr der eigenthümliche Grund-wille aufgezeigt ist.>17–20 was … wird.] in eckigen Klammern (Bleistift)17f. materiell] am Rand20 nun] folgt <freilich>22 könne“,] korr. aus können“, folgt <nur>22–16,11 so … Handelns.] am Rand statt (1) des wieder gestrichenen Zusatzes <und im Grunde ‚nur‘ (über der Zeile) durch Rücksichten des Egoismus auszufüllen ist, denn man nimmt den Maaßstab für das allgemeingültige Handeln am leichtesten nach dem was man selbst zu erfahren wünscht,> und (2) des sich anschließenden ursprünglichen Textes <und deshalb nur als Kriterium nicht als Princip des sittlichen Handelns auf-tritt, so ist dies allerdings darin gegründet, daß Kant den idealen Begriff des Willens nur unter dem Gesichtspuncte des Pflichtbegriffs aufgefaßt hat. Daß dieses eine der Er-gänzung und tiefern Forschung bedürftige Einseitigkeit ist, ist angedeutet durch das

5

10

15

20

15§ 5 Verhältniß zur Philosophie (Fortsetzung)

Page 66: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

daß die Maxime des Handelns nur dann rein ist, wenn die Beachtung und För-derung der Menschenwürde im Einzelnen wie in der Menschheit der leitende Zweck ist; s o tritt die formale Maxime zusammen mit der moralischen Welt-Ordnung als dem concreten Zweck des Sittengesetzes. Freilich überschreitet die-se Gedankenreihe die Prämissen. Denn ein Handeln, welches der eigenen Men-schenwürde gemäß ist, schließt das Motiv der Selbstliebe mit dem Sittengesetz zusammen während jene durch dieses immer ausgeschlossen sein soll. Ferner wird dies dualistische Schema als unzureichend bezeichnet, sofern das höchste Gut in der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit gesucht wird. Endlich ist das hieraus entwickelte Postulat des Daseins Gottes im Widerspruch mit der ge-forderten Autonomie des sittengesetzlichen Handelns. [13] Wenn wir diese Wi-dersprüche gegen seine Abweisung aller theoretischen Erkenntniß des Absoluten und gegen die Abweisung des Glückseligkeitsinteresses verstehen sollen, so weist es darauf hin, daß das Wesen des Willens nicht in dem Gegensatz des transscendentalen Grundes gegen das Triebleben erschöpft ist, sondern auch die Identität beider in sich schließt. Und die aus jenem Postulat sich ergebende Idee von Gott, welche nicht in reiner theoretischer Objectivität, sondern nur zur Si-cherung der Ausübung des moralischen Gesetzes, für moralische Antriebe aus-geführt werden soll, bedeutet nichts anderes, als daß die Moral der religösen Idee als des G r u n d e s aller Harmonie im Einzelnen wie in der Gesammtheit der Welt bedarf. – Also ist die Eigenschaft der Autonomie des sittengesetzlichen Handelns nicht in Widerspruch mit der vorgeblichen Heteronomie des Han-delns auf göttliche Autorität hin zu behaupten. Die Entdeckung Kants auf dem Gebiete des Geistes ist der an ihn angeknüpften Entwicklung der deutschen Phi-losophie nicht verloren gegangen, wenn auch in den wechselnden Gesichtspunk-ten derselben der volle Umfang der Bedingungen des Willens gelegentlich nicht aufgefaßt worden ist. Namentlich die einflußreichsten Systeme von Hegel und Schleiermacher sind hierin zurückgeblieben, indem Hegel durch die Hervorhe-bung der Organisirung des Guten in der objectiven Gestalt der Staatsgemein-schaft das Wesen des individuellen Willens bei Seite geschoben hat, und Schlei-

30 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 52–54; 63f.

Kant’s Prämissen widersprechende Postulat der äußern Ausgleichung von Tugend und Glückseligkeit, welches ihm die Ideen von Gott [13] und Unsterblichkeit suppeditirt.>1 Handelns] folgt <dem>3 Welt-] über der Zeile6 das] korr. aus die8 als] korr. aus un11f. diese Widersprüche] korr. aus dieser Widerspruch12 Absoluten] folgt <verstehen>14 in] korr. aus im18 für … Antriebe] am Rand21–23 Also … behaupten.] am Rand23–17,14 Die … construirt wird.] in eckigen Klammern (Bleistift)

5

10

15

20

25

30

16 Einleitung

Page 67: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ermacher durch die absichtliche Gleichgültigkeit gegen den Begriff des Willens seine umfassende Organisirung des ethischen Systems in die Luft gestellt hat.

Der Gegensatz von Gut und Böse und der von Freiheit und Nothwendig-keit fällt außer der Ethik in die die Sittenlehre begleitende Beziehung des empirisch Geschichtlichen auf das Ethische. Philosophische Sittenlehre § 91. 104.

Aber gerade in Gegenwirkung gegen beide ist die Philosophie, soweit sie überhaupt in Bewegung ist, darauf bedacht, den Begriff des Willens unter dem transscendentalen Gesichtspunkt, aber zugleich im richtigen Verhältniß des Ethos zum Naturell zu entwickeln (Chalybaeus, Schopenhauer, Fichte iu-nior) Mit diesen Versuchen kann die theologische Ethik um so mehr in Bezie-hung treten, als von jener Seite die sittliche Nothwendigkeit der Religion in specie der christlichen anerkannt und die religiöse Gemeinschaft als eine Art der sittlichen construirt wird. Denn auch die philosophische Ethik kann nicht, wie Schleiermacher (christliche Sitte S. 75) ihr zumuthet zu allen mög-lichen Formen des religiösen Elements sich in gleiche Beziehung setzen, [14] sofern sie nur immer aufstelle, daß das Handeln des Menschen seinem religi-ösen Bewußtsein gemäß sein müsse. Denn dieser Gedanke ist nur möglich für die christliche Religion. Im Heidenthum wie im Judenthum ist das sittliche Handeln als solches entweder noch nicht vom religiösen Handeln unterschie-den, oder es ist von demselben unabhängig, oder es ist nach jetzt nothwendi-gem philosophischem Maaßstab unsittliches. Die Philosophie also, welche die Religion als sittliche Funktion erkennt, kann nur die christliche meinen, und ist deßhalb selbst christlich, und sie kann auch das vom Katholicismus ge-setzte Verhältniß zwischen Religion und Sittlichkeit nicht anerkennen, sie ist also näher nur auf dem Culturboden des Protestantismus möglich.

Kant Kritik der reinen Vernunft. II. Transscendentale Methodenlehre Zwei-tes Hauptstück Der Kanon der reinen Vernunft. 2. Abschnitt Von dem Ide-al des höchsten Gutes.

10 Chalybäus, System der speculativen Ethik s. Erdmann, Grundriß 2,748.752f.10 Zu Schopenhauer s. Erdmann, Grundriß 2,534–54110 Zu Immanuel Hermann Fichte s. Erdmann, Grundriß 2,629f. 71315 Schleiermacher, Die christliche Sitte 7527 Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke ed. Hartenstein 3,531

1 absichtliche] am Rand3–6 Der … 104.] am Rand9 richtigen] über der Zeile10 Schopenhauer] am Rand14 Denn] am Rand mit Bleistift § 6. (1865)20 entweder] über der Zeile21 es ist] über der Zeile27–29 Kant … Gutes.] am Rand

5

10

15

20

25

17§ 5 Verhältniß zur Philosophie (Fortsetzung)

Page 68: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 6. S c h l u ß .

– Wenn also gewisse Zweige der philosophischen Ethik so beschaffen sind, und demnach in Congruenz zu der Aufgabe der theologischen Moral stehen, so wird man ethische Begriffe jenes Ursprungs auch in der theologischen Mo-ral als wissenschaftliche Formen verwenden dürfen, wie man ja auch in der Dogmatik nicht ohne den philosophischen Begriff der Freiheit und manche davon abgeleitete auskommen kann; und dies bedeutet nicht eine Ausliefe-rung der Theologie an eine fremde Macht, weil das Verständniß der Freiheit, des Willens eine Frucht der christlich religiösen Bildung ist.

Das Moment der Auctorität in der christlichen Sittlichkeit entspricht der Bedingtheit der Sittlichkeit als eines Werdens, und schließt nicht aus, daß man das Gegebene doch als die höchste Vernunft erkennt.

Es wird dadurch auch n i c h t w i e d e r philosophische und theologische Ethik v e r m i s c h t , denn wie der Ausgangspunct beider verschieden ist, so auch ihre Aufgabe. Die philosophische geht aus von dem Begriff des Willens überhaupt und gelangt auf dem Wege der Analyse desselben vielleicht zuletzt zur Würdigung des religiösen Grundes des sittlichen Wesens des Einzelnen und der Nothwendigkeit religiöser Gemeinschaft zur Sicherung der sittlichen Aufgabe, aber die philosophische Ethik findet vorher im Willen den Grund des Rechtes und der andern Formen sittlicher Gemeinschaft, die ihren sittli-chen Werth an sich haben und hienach gewürdigt werden wollen. Dagegen die theologische Moral [15] setzt gleich mit dem Begriff des religiös begrün-deten Willens ein, und hat die Aufgabe das individuelle und gemeinsame sitt-liche Leben von hier aus zu bestimmen und zu beleuchten. Wie also der Be-griff vom Willen nur aus der Philosophie aufgenommen werden kann, so sind namentlich die Momente des Rechtes und der humanen und staatlichen Ge-meinschaft von daher vorauszusetzen, wenn es sich darum handelt, wie sich die Kirche und wie sich der einzelne Christ zu ihnen verhalten muß. Die theologische Ethik recapitulirt also den gesammten ethischen Stoff von dem Gesichtspunct aus, den die philosophische Ethik vielleicht an ihrem Schlusse erreicht. Der wissenschaftliche Zweck aber, der mit dem praktischen Zwecke der Instruction zur K i r c h e n l e i t u n g verknüpft werden muß, und der sei-

1 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 2 der 3. Absatz. Bei der Neueinteilung wurde die Zahl 3. ausradiert und durch den Gedankenstrich ersetzt. – 1865 wurde die Zäsur zwischen § 5 und § 6 geändert (s. oben S. 17,14).

1 § 6. Schluß.] am Rand2 – Wenn] korr. aus 3. Wenn6f. manche davon] am Rand statt <manche>10–12 Das … erkennt.] am Rand23f. sittliche] korr. aus Sitt27 handelt] korr. aus H

5

10

15

20

25

30

18 Einleitung

Page 69: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nen Maaßstab an gewissen kirchlichen Dogmen finden wird, wird dadurch nicht verunreinigt, wenn die Ueberzeugung richtig ist,

Dogmatik § 3.daß Philosophie und christliche Religion zwar Gegensätze, aber nicht nothwendig im Widerspruche sind, eine Ueberzeugung, die aber immer ihre praktische Probe an dem Erfolge der theologischen Arbeit sucht.

Die theologische Ethik ist neben der philosophischen ebensogut als Wis-senschaft möglich wie die P ä d a g o g i k . Ist sie nun im Zusammenhang der Theologie zum b e s o n d e r e n Zweck der Kirchenleitung nothwendig so ist sie doch als besondere Disciplin auch für die philosophische Ethik ebenso wenig gleichgültig als die Dogmatik für die Religionsphilosophie nämlich als Gegenprobe für die Congruenz der philosophischen Ethik mit der christlichen Welt.

§ 7. Ve r h ä l t n i ß d e r t h e o l o g i s c h e n E t h i k z u r h e i l i g e n S c h r i f t .

Wendt, Die richtige Methode der Anwendung der heiligen Schrift in der theologischen Ethik. Jahrbücher für deutsche Theologie. 1877, Heft 3.

Der theologische Charakter der Moral ist aber nicht blos dadurch gewährlei-stet, daß sie den Verlauf des sittlichen Lebens des Wiedergebornen und das Verhältniß der Kirche zu den übrigen Lebenssphären darstellt und begreift, sondern sie muß auch die theol|ogisch ethischen Begriffe auf die mit dem Christenthum positiv verbundenen sittlichen Ideen begründen, also Schriftbe-weis führen. Es wird sich zeigen, daß dies nicht in atomistischer Weise, durch Cumulirung von Citaten geschehen kann, sondern daß die sittlichen Haupt-ideen des Neuen Testaments selbst nur durch kritische Combination oder combinatorische Kritik flüssig gemacht werden können: Liebe, Freiheit im Geiste, Reich Gottes, sittlicher Beruf, Gesetz.

14 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 3 der 1. Absatz. Bei der Neueintei-lung wurde die Zahl 1. ausradiert. § 7 wurde teilweise abgedruckt in: Schäfer, Ritschl 206f.16 Hans Hinrich Wendt, Ueber die richtige Methode

3 Dogmatik § 3.] am Rand7–13 Die … Welt.] am Rand14 § 7.] korr. aus § 3.14 Ethik] korr. aus Moral15 heiligen] nachträglich eingefügt15 Schrift.] folgt <u n d i h r e E i n t h e i l u n g . >16f. Wendt, … Heft 3.] am Rand18 Der] davor <1.>

5

10

15

20

25

19§ 7 Verhältniß zur heiligen Schrift

Page 70: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Muß zeigen, daß der Gesichtskreis der Ethik oder die gemeinschaftlichen re-ligiösen Principien, nach denen das christliche Leben in unserem Lebenskrei-se eingerichtet werden soll, authentisch seien. Die Ethik als methodische und systematische Darstellung der Regeln des Handelns findet als solche keine Weisungen im Neuen Testament. Ihre Aufgabe der Definition, Ordnung der Begriffe, die Sorge für Vollständigkeit und Gleichmäßigkeit der Darstellung hat sie im wissenschaftlichen Subject, nicht in der Schrift zu suchen.

Auf diese sittlichen Ideen kommt es nun aber viel mehr an als auf die Congru-enz der ethischen Sätze mit den sittlichen Vorschriften [16] im Neuen Testa-ment. Diese dienen als Beispiele. Und in dem Gebiete dieser ist sogar vielmehr eine nothwendige Incongruenz der theologischen Ethik zu der apostolischen Paränese unumgänglich. Die Voraussetzung der Dogmatik, daß das Christen-thum nicht perfektibel sei, daß also das von Christus bewirkte religiöse Ver-hältniß und seine ursprünglichen Bedingungen noch jetzt gelten, bindet auch die Moral in Hinsicht der ethischen Grundideen. Aber 1. die sittliche Aufgabe des Christenthums in der Welt ist jetzt eine andere, als im Anfange, als wie die Apostel sie darstellten. Denn damals stand die christliche Gemeinde in einer formloseren Gesellschaft und dem feindseligen heidnischen und jüdischen Ge-meinwesen gegenüber, und daraus ergaben sich nicht nur Formen der kirchli-chen Gemeinschaft, sondern auch sittliche Einzelvorschriften, welche nicht mehr bindend sein können, wo das abendländische Christenthum allgemeines Culturprincip geworden ist z.B. Verhältniß der Christen zum Staat, zur Sclave-rei, – Beurtheilung der Armuth. Aber auch abgesehen davon wird der Schrift-beweis nicht bei allen ethischen Problemen so gleichmäßig sein, wie bei den dogmatischen. 2. In manchen Fällen wird der oder jener Neutestamentliche Ausspruch mehr ein Fingerzeig sein, daß ein Problem da sei, als ein Princip der Lösung bieten, z.B. die Äußerungen des Paulus über das Erlaubte. 3. Die un-umgänglichen Begriffe von Tugend und Pflicht kommen nicht in der Bibel vor,

27 1 Kor 6,12; 10,23

19,27 Reich Gottes,] am Rand1–7 Muß … suchen.] am Rand1f. religiösen] über der Zeile10 Diese … Beispiele.] über der Zeile15–21,1 Aber 1. die … Denn damals … 2. In manchen … 3. Die unumgänglichen … Endlich 4 kann] korr. aus drei aufeinander folgenden Fassungen: I. Aber die … Denn damals … In manchen … Endlich kann; II. Aber 1. die … Denn 2. damals … 3. In manchen … Endlich 4 kann; III. 1. Die unumgänglichen … Aber 2. die … Denn da-mals … 3. In manchen … Endlich 4 kann17f. in … Gesellschaft und] am Rand22f. z.B. … Armuth.] am Rand25 In … Fällen] korr. aus Für manche25 Neutestamentliche] korr. aus neutestamentliche27–21,1 3. Die … Begriffe.] am Rand

5

10

15

20

25

20 Einleitung

Page 71: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

wenn auch der Stoff dieser Begriffe. Endlich 4 kann der theologische Character der Moral nicht dadurch bedingt sein, daß ihre Eintheilung durch irgend wel-che Neutestamentliche Formeln bezeichnet wird. Denn es ist a priori gar nicht anzunehmen, daß irgend ein Neutestamentlicher Schriftsteller alle ethischen Verhältnisse mit seinem Blick umspannt hat; jedenfalls aber, wenn dies auch der Fall wäre, ist nicht zu erwarten, daß seine Vorstellungen die reflectirte Ge-stalt haben, um die wissenschaftliche Aufgabe direct zu bezeichnen. Die Moral ist hierin anders bestellt, als die Dogmatik. Die letztere nimmt ihre Gegenstän-de aus dem Glaubensbekenntniß, die Moral, die es nicht mit credenda zu thun hat, kann ihre Aufgabe nur durch Analyse des Gegenstandes erfüllen, die in keiner Schriftstelle und keinem Glaubensbekenntniß vorgezeichnet ist.

NB. Franciskaner, Wiedertäufer, Puritaner, Pietisten sind darauf aus das apostolische Zeitalter ethisch zu copiren, Calvin die Verfassung als göttli-ches Institut zu behaupten. Unterschied der Schriftbenutzung von den Lu-theranern (Brenz). Mittelaltriges Reformationsideal, zuerst bei Joachim von Floris dann noch bei Waldensern, böhmischen Brüdern. Widerspruch zwischen dieser Aufgabe und Luthers Reformation, NB. Witzel.

§ 8. E i n t h e i l u n g

– Andererseits ist es nicht nöthig, daß die theologische Moral so eingetheilt werde, daß sie sich unmöglich mit einer philosophischen Eintheilung decke. Dies ist das Streben von Schleiermacher. Während er auf der einen Seite sich das Verdienst um die philosophische Ethik erworben hat, zu zeigen, daß die-selbe nicht in der Verein[17]zelung der Begriffe Gut, Tugend, Pflicht, sondern

12 Zu Franciskaner s. RuV 1,118f; zu Wiedertäufer und Pietisten ebd. 315; GdP 1,30f.13 Zu Calvin s. oben S. 2,4; GdP 1,7115 Zu Brenz vgl. GdP 7115 Zu Joachim von Floris … Waldensern, böhmischen Brüdern vgl. GdP 1,19f.17 Zu Witzel vgl. RuV 1,13518 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 3 der 2. Absatz. Bei der Neueintei-lung wurde die Zahl 2. gestrichen und durch einen Gedankenstrich ersetzt.21 Schleiermachers philosophische Ethik s. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre

7–11 Die … ist.] am Rand12–17 NB. … Witzel.] am Rand12 Pietisten] über der Zeile16 noch] über der Zeile16 Widerspruch] korr. aus Wieder18 § 8. Eintheilung] am Rand19 – Andererseits] korr. aus 2. Andererseits

5

10

15

20

21§ 8 Eintheilung

Page 72: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nur in deren Zusammenfassung dargestellt werden könne, so hat er das In-teresse, die christliche Sittenlehre so zu entwickeln, daß die Elemente dersel-ben dem Inhalt nach den Elementen der philosophischen Ethik nicht wider-sprechen, der Form nach aber kein Element der einen der der andern gleich sei (christliche Sitte Seite 28). Als Philosoph will Schleiermacher unter jedem der drei Begriffe das Ganze des ethischen Stoffes darstellen, welcher an dem Handeln der Vernunft auf die Natur zum Vorschein kommt, und zwar unter dem Titel G u t das Einssein von Vernunft und Natur als Product des Han-delns, und zugleich als fortwirkender Antrieb zu demselben, unter dem Titel Tu g e n d , die Arten, wie die Vernunft als Kraft der Natur einwohnt, unter dem Titel P f l i c h t die Verfahrungsarten, wie die Thätigkeit der Vernunft zugleich eine bestimmte auf das besondere gerichtete und zugleich eine allge-meine auf das Ganze gerichtete sein kann. Dagegen faßt er die christliche Sit-tenlehre als Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herr-schaft des christl|ich religösen Selbstbewußtseins entsteht (S. 33). Dieses Handeln ist nun nach Schleiermacher entweder ein wirksames, oder ein dar-stellendes, und in jenem Bereich theils wiederherstellend, theils verbreitend. Beide Lehrformen unterscheiden sich im tiefern Grunde dadurch, daß nach der philosophischen Ethik (§ 91) der Gegensatz von Gut und Böse außerhalb der Ethik in die die Sittenlehre begleitende Beziehung des empririsch ge-schichtlichen auf das Ethische fällt, während die theologische Sittenlehre in der Beschreibung des reinigenden Handelns die Sünde voraussetzt. Aber nä-her angesehen ist die christliche Sittenlehre abgesehen von dieser Abweisung nur nach demselben Gesichtspunkt eingetheilt wie die Güterlehre der philo-sophischen Ethik. Denn wie die Unterscheidung des wiederherstellenden oder reinigenden und des verbreitenden Handelns in concreto sich aufhebt, und also das wirksame und das darstellende Handeln allein in Betracht kommen, so decken sich diese Begriffe mit der in der Güterlehre unterschiedenen orga-nisirenden [18] und symbolisirenden Thätigkeit der Vernunft. Wenn also Schleiermacher Recht hat, daß der ethische Stoff nur in jenen drei Begriffen erschöpft wird, so hat Rothe Recht, auch die theologische Ethik auf dieselben zu begründen.

NB. Die Formel: Die Vernunft in Einheit mit der Natur setzen faßt die Kunstthätigkeit und die sittliche Handlungsweise indifferent zusammen.

2 Schleiermacher, Die christliche Sitte 2813 Schleiermacher, Die christliche Sitte 3319 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 52–5431 Rothe, Theologische Ethik 1,197–204

2 Sittenlehre] korr. aus Sittenlehre,9 und … demselben,] am Rand24f. der … Ethik.] am Rand33–23,6 NB. … Gemeinschaft.] am Rand

5

10

15

20

25

30

22 Einleitung

Page 73: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Denn darstellendes und verbreitendes Handeln in welche die Güterlehre eingetheilt wird, bezeichnet eben jenes Beides. Das sittliche Handeln aber wird durch jene Formel nicht erschöpft, sondern nur sofern es eine künst-lerische Seite hat. Als organisirend bewährt es sich nur, wenn die Handlun-gen nicht blos die Vernunft in Einheit mit der Natur setzen, sondern die vielen Vernunftträger in geistige Gemeinschaft.

Wir können aber beiden in dieser Hinsicht nicht folgen. Wir wollen davon absehen, was überhaupt Schleiermachers Ethik verdächtig macht, die Ignori-rung des Begriffes des Willens, bei der er mit jener Formel des Handelns der Vernunft auf die Natur gar nicht das eigentlich ethische Gebiet bezeichnet, ferner den Mangel der Ableitung jener drei Begriffe von dem Willen, endlich die mißliche subjectivistische Haltung jenes Gegensatzes von Vernunft und Natur, der a n s i c h nicht besteht, sondern nur in dem Verhältniß der Wirk-lichkeit zu unserm Erkennen. Aber wenn wir in allen diesen Beziehungen an-dere Grundlagen voraussetzen, so entspricht es unsern dialektischen Ansprü-chen nicht, in jenen drei Begriffen jedesmal das Ganze nur von anderen Sei-ten her darzustellen, sondern wir suchen Eintheilungsgründe, welche auf wirklich gegensätzlichen Momenten des sittlichen Processes beruhen, und nicht nur auf anderen Seiten desselben gedachten Gegenstandes. Die Begriffe von Tugend und Pflicht scheinen freilich auf den ersten Blick solche gegen-sätzliche Momente zu bilden, also unseren Ansprüchen zu genügen. Aber dann ist zunächst der Titel des Gutes im Vergleich mit Tugend und Pflicht mißlich. Die Güterlehre geht auf das reine Ineinander von Vernunft und Na-tur, die Tugendlehre und Pflichtenlehre auf den beziehungsweisen Gegensatz des allgemeinen und besonderen darin, indem die eine es als erzeugendes, die andere als erzeugtwerdendes betrachtet (§ 118).

1. Tugend ist auch Gut, nach der Schleiermacherschen Definition2 Pflicht ist von Tugend abhängig3. Der Gegensatz zwischen Pflicht und Tugend. J e n e direct an die Bezie-

26 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 80

2 wird,] folgt <deckt sich mit>7 Wir können] Wir davor <3.>7–14 Wir wollen … Erkennen.] in eckigen Klammern (Bleistift)9 Willens,] folgt <und die Unabhängigkeit>16 Ganze] korr. aus ganze17f. auf … gegensätzlichen] korr. aus wirkliche G18 Momenten … Processes] am Rand statt <Gedanken>19–22 Die … zunächst] am Rand statt <Ferner aber> <Näher betrachtet schließen sich die drei Begriffe nicht aus, sondern jeder umfaßt weil sie wirklich nicht coordinirt sind. (wohl zu ergänzen: „die andern.“) Die Tugend kann als Gut und als Pflicht aufgefaßt werden. Namentlich ist>27–24,5 1. Tugend … anderen] am Rand mit Bleistift

5

10

15

20

25

23§ 8 Eintheilung

Page 74: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

hung des Willens auf die Gemeinschaften gebunden, d i e s e relativ selb-ständig dagegen. S o n s t kehrt derselbe Stoff unter beiden Begriffen wieder4. Güterlehre ist allgemeiner als Tugend und PflichtAlso ein Allgemeiner, zwei Specielle Theile; aber anders zu betiteln. Denn in dem 2. und 3. Theil sind Tugend und Pflicht nur Begriffe neben anderen

Aber jene Definition des Gutes als eines Productes, eines Seienden und Ru-henden setzt den B e g r i f f a u s d e r E t h i k h e r a u s , welche nur auf die Bewegung des Willens sich bezieht und auch die sittlichen Gemeinschaf-ten nicht als fertige ruhende Producte, sondern [19] als sittliche Factoren ebenso wie den einzelnen Willen würdigen muß, und sie ebenso wie diesen dem Tugend- und Pflichtbegriff unterwerfen. Ihre Subsumtion unter den Be-griff von Gütern ist auch nach der Seite hin bedenklich, daß noch m e h r u n t e r d e n B e g r i f f d e s G u t e s gehört, als die Producte des sittli-chen Willens. Einerseits umfaßt dieser Begriff auch möglicherweise die ganze Lehre von der Tugend, da auch diese die Betrachtung als Product der sittli-chen Bildung gestattet. Andrerseits ist Gut nicht nur, was Product, sondern a u c h w a s M i t t e l d e s W i l l e n s ist, oder werden kann, Gesundheit, Vermögen, ja auch die das sittliche Thun begleitende Lust. Und diese Be-trachtung möchte eigentlich wohl die richtigere und umfassendere sein, wo-nach auch alle sittliche Gemeinschaft ein Gut nur ist, sofern sie als Product des gemeinsamen Willens allen Einzelnen zugleich förderliche Bedingung ih-res sittlichen Strebens sein wird. Die Güterlehre wäre also vielmehr als L e h -r e v o n d e n s i t t l i c h e n M i t t e l n zu fassen, wenn sie wirklich der Tugend- und Pflichtenlehre entgegengesetzt werden soll.

umfaßt bei Rothe: a Vom höchsten Gut, in abstracto Das Wesen des sittli-chen Processes die sittliche Ausrüstung, Handeln, Gemeinschaft, – b. in concreto Sünde, Erlösung, Reich des Erlösers.

Aber der Begriff des Mittels ist zu relativ, als daß er einen besonderen Theil der Ethik begründen sollte, und dann würde die Lehre von den sittlichen Ge-

25 Rothe, Theologische Ethik, Band 1 wird durch die unter a aufgeführten Begriffe gegliedert, Band 2,1–338 durch die Begriffe unter b.

6–11 Aber … unterwerfen.] in eckigen Klammern (Bleistift)7 auf] über der Zeile11 unterwerfen.] folgt <Daß Schleiermacher überhaupt die sittlichen Gemeinschaften construirt hat, ist ein unsterbliches Verdienst, aber>11 Ihre] korr. aus ihre18 ja … Lust.] am Rand20 Gemeinschaft] folgt <für den Einzelnen>21 zugleich] am Rand25–27 umfaßt … Erlösers.] am Rand mit Bleistift25 a] über der Zeile25 Vom … Gut] mit aufgehobener Streichung25 in abstracto] über der Zeile

5

10

15

20

25

24 Einleitung

Page 75: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

meinschaften um so weniger geschickt darunter zu bringen sein, als dieselben nicht minder richtig Bedingung und Zweck des sittlichen Handelns der Ein-zelnen sind (Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften S. 354 erinnert ferner daran, daß der Güterbegriff da vorherrscht, wo die Ethik Eu-dämonismus ist, und wo überhaupt der Begriff des Willens noch nicht aufge-gangen ist, bei den Alten). Denn wenn es etwa scheinen könnte, als ob man die drei Schleiermacherschen Begriffe auf die Elemente des Zweckbegriffs re-duciren könnte, Tugend als Ausdruck des Grundes des sittlichen Handelns, Pflicht als Ausdruck des Zweckes des sittlichen Handelns darstellen, so liegt es in der Untrennbarkeit der Momente dieses Begriffes daß auch die Pflicht ebensogut als Grund, die Tugend ebensogut als [20] Zweck des sittlichen Handelns dargestellt werden könnte. Es ist ein specieller Fehler von Schleier-macher daß er bei der Eintheilung seiner ethischen Begriffe nur die dialek-tisch zusammengehörigen Seiten auseinandersetzt, die nicht ohne einander angeschaut und gedacht werden können. So in der Güterlehre, daß die Natur Organ und Symbol der auf sie wirkenden Vernunft sei. In der Tugendlehre Gesinnung und Fertigkeit, in der Pflichtenlehre Gemeinschaftbilden und An-eignen. – Wenn Tu g e n d u n d P f l i c h t wirklich auseinandergesetzt wer-den sollen, und wenn man dem entgehen will, daß alle Tugenden auch als Pflichten, und umgekehrt dargestellt werden könnten, weil alles sittliche Sein auch als Sollen und umgekehrt dargestellt werden kann, so handelt es sich um Absteckung gegensätzlicher Gebiete, in welche die eine wie die andere hineingehört. Da bezieht sich Pflicht auf das Gebiet des Handelns, Tugend auf das der Bildung des Willens abgesehen vom Handeln. We i t e r ist das Handeln direct bezogen auf die sittliche Gemeinschaft, und dieser Begriff so sehr der Exponent des Pflichtbegriffs, daß wie sich zeigen wird Pflichten ge-gen sich selbst gar nicht den Pflichten gegen andere entgegengesetzt werden können. Die Tugend hingegen kann concret gedacht werden auch abgesehen von dem auf die Gemeinschaft gegründeten Handeln. D r i t t e n s hat die Tu-gend direct religiöse Begründung, die Pflicht nicht. Dabei ergibt sich w e i -

3 Gustav Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften 35415 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 92 (§ 129)16 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 335 (§ 294)17 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 436 (§ 329)

2 Bedingung] über <Grund>8 als Ausdruck des] am Rand statt <als>8 Grundes] korr. aus als Grund9 Pflicht] korr. aus ÎGut alsù14 die] folgt <keinen Gegensatz bilden und>17 Fertigkeit, in] korr. aus Fertigkeit. In22 welche] korr. aus welchen28–26,7 Die … abhängig.] am Rand; davor <Drittens>

5

10

15

20

25

30

25§ 8 Eintheilung

Page 76: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

t e r, daß der Begriff der Pflicht kein selbständiger ist, der etwa direct aus dem Begriff von der Freiheit des Willens abgeleitet werden könnte. Sondern Pflicht setzt Gesetz voraus, aber nicht nur dies, sondern auch das Gewissen ist Quelle der Pflicht. Denn Pflicht ist die Form, in welcher das Gewissen das objective Gesetz zum Motiv des Handelns macht. Das Gewissen aber gehört in die Sphäre der Tugend, und so ist bei allem Gegensatz zwischen Pflicht und Tugend jene von dieser abhängig. Aber wird sich nun der Tu g e n d be-griff construiren lassen lediglich aus dem individuellen Faktor des Willens heraus, abgesehen von der Beziehung auf die Gemeinschaft? Unmöglich. Hieran entscheidet sich aber, daß der Begriff der Tugend oder der subjectiven Moralität nicht so selbständig ist, wie gewöhnlich angenommen wird. Wenn auch der innere Proceß des sittlichen Willens nicht außer Beziehung zur sittli-chen Gemeinschaft zu denken ist, so ist er einem Mittelbegriff zwischen indi-vidueller und universeller Sittlichkeit untergeordnet, dem Begriff des sittli-chen B e r u f s , als der concreten Synthesis jener beiden Momente. [21] Also setzen wir in tieferer Begründung die Pflichtenlehre der Tugendlehre entge-gen, so setzt unser zweiter Theil schon den Gegensatz aber auch die untrenn-bare Zusammengehörigkeit des einzelnen sittlichen Subjects und der Gemein-schaft voraus, und zwar so daß alle nur möglichen Wechselverhältnisse zwi-schen ihnen stattfinden, die in der Dialektik des Begriffes des Willens vor-kommen. Das sittliche Subject tritt ebenso als Grund, Mittel und Zweck der sittlichen Gemeinschaft auf, als diese Grund, Mittel und Zweck für das ein-zelne Subject wird, und zwar in allen nur möglichen Phasen ihrer Erschei-nung. Nun bringt es aber der theologische Character unserer Darstellung mit sich, daß die Grundbestimmungen über das religiös wiedergeborne Subject als sittliches Subject wesentlich positiv dogmatisch gehalten sein werden. Da-durch schon kommt es, daß keine Wiederholungen zwischen dem 2. 3. und 1.

15 Momente.] folgt < Aber ebenso wenig wie die Tugend ist auch die Pflicht ein reiner Begriff der etwa direct aus dem Begriff der Freiheit des Willens abgeleitet werden kann. Pflicht setzt den Begriff des sittlichen Gesetzes voraus, und als Norm des Handelns be-zieht sich die Pflicht auf die Gesetze des sittlichen Verkehrs. Aber sie ist [21] nicht die Form dieses objectiven Gesetzes, sondern die Form in welcher das Gewissen die Geset-ze des sittlichen Verkehrs als Motiv des Handelns anerkennt, und es wird sich zeigen, daß in diesem Verlauf das durch den sittlichen Beruf bestimmte Gewissen mit den ob-jectiven Normen zur Bildung von Pflichtbegriffen concurrirt. So ergiebt sich bei der Absteckung des Gegensatzes zwischen den Gebieten von Tugend und Pflicht doch eine nothwendige Abhängigkeit der letzteren von der ersteren, und die Nothwendigkeit an-dere umfassendere Titel für dies Gebiet zu suchen. Zu diesem Zweck ist aber drittens zu beachten, daß der sittliche Beruf eine direct religiöse Wurzel hat, daß aber der Pflichtbegriff nur durch Vermittlung des religiös gegründeten Berufsgewissens auf den religiösen Factor zurückgeht. >16f. setzen … so] am Rand16f. entgegen,] folgt <aber es>20f. vorkommen.] korr. aus vorkommen, <und die>26f. werden. Dadurch] korr. aus werden, und

5

10

15

20

25

26 Einleitung

Page 77: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Theil eintreten, aber weiterhin ist zu beachten, daß alle dogmatischen Auf-stellungen vielmehr Probleme stellen als lösen.I. Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct. S. 22–89.II. Der Proceß des besondern religiössittlichen Willens. S. 90–118.III. Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft. S. 119–

26,27 daß] folgt <wir>6 119–] zu ergänzen 133 als letzte Seite von Ms. A; für Ms. B lauten die Zahlen 22–96, 97–129 und 129–159.

5

27§ 8 Eintheilung

Page 78: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[22] I . T h e i l . D a s r e l i g i ö s e S u b j e c t a l s s i t t l i c h e s u n d d i e s i t t l i c h e G e m e i n s c h a f t u n t e r d e m r e l i g i ö s e n

G e s i c h t s p u n c t .

E r s t e s C a p i t e l . D i e H e i l i g u n g o d e r W i e d e r g e b u r t .

§ 9. 5. D i e H e i l i g u n g i m Ve r h ä l t n i ß z u G o t t u n d z u r m e n s c h l i c h e n F r e i h e i t .

Der Inhalt des Capitels ist schon in der Dogmatik an verschiedenen Stellen vorgekommen. Um die theologische Ethik anzufangen, ist also dasjenige zu-sammenzufassen, was rein für sich noch nicht theologisch-ethische Lehre ist, sondern dogmatisch-theologische. Das religiöse Subject dessen sittliche Freithätigkeit begriffen werden soll, kann vorweg nur so vorgestellt werden, wie es dem Glauben oder religiösen Verständniß gegenübersteht. Das Urtheil des Glaubens oder das religiöse Verständniß der Dinge stellt nun dieselben in specifische Abhängigkeit von Gott und seinem Wirken. Demnach ist das reli-giöse Subject von Gott durch den heiligen Geist geheiligt oder wiedergebo-ren; Gott wirkt in uns Wollen und Vollbringen (Phil. 2,13 vgl. Hebr 13,21). Erst auf Grund dieser religiös verstandenen Qualität soll eine sittliche Freithätigkeit im theologischen Sinne denkbar sein; nach katholischer Lehre soll aber der Stand der iustificatio halb von Gott und halb vom Menschen hervorgebracht sein. – Dogmatik § 74. Der übliche Begriff regeneratio, Ànagénnhsiv hat keinen selbständigen Sinn; er vergleicht nur die Eigenthüm-lichkeit des religiösen Subjects mit seinem entgegengesetzten Zustand der frü-hern Zeit. Die positiven Vorstellungen sind zên, zwÄ Èn pneúmati Ágíšw, Ágia-zesjai, Ágiasmóv pneúmatov.

2 Thess. 2,13; 1 Petr 1,2.Der religiöse Werth des L e b e n s richtet sich danach, daß Gott der Le-bendige ist, zunächst im Gegensatz zu den todten Götzen, als der seiner selbst, der Welt und seines Heilszweckes Mächtige. Das L e b e n im göttli-chen Geist ist ferner kein empirisches Verhalten, welches vielmehr in der Formel peripajeîn, stoiceîn Èn pneúmati (Gal. 5,25) davon abgeleitet wird. Uebrigens erhält der Begriff seine Beleuchtung durch die andern

23 Vgl. Röm 12,11; 15,16; Gal 5,25; 1 Petr 4,6

24 pneúmatov] über der Zeile25 2 Thess. … 1,2.] am Rand mit Bleistift27f. als … Mächtige.] am Rand

5

10

15

20

25

30

28 I. Theil I. Heiligung

Page 79: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

gleichen Werthes. Die H e i l i g k e i t und Heiligung tritt schon im Alten Testament für das dem heiligen Gott angehörende Volk auf, und findet die Erklärung nach zwei Seiten hin durch synonyme Ausdrücke. Heilig ist der von Gott zum Eigenthum Erwählte, und heilig ist der Priester, der Gott nahen darf und ihm dienen soll (Exod. 19,6; Num. 16,5). Also ist das der Heiligkeit gleichgeltende L e b e n nicht das natürliche sondern folgt nur göttlicher Willensbestimmung in seiner über die natürlichen Bedingungen hinausgehenden Sphäre. Ferner aber schließt die Heiligkeit die besondere Zweckbeziehung des Lebens auf Gott in sich. Mit der Passivität des Be-wirktseins [23] durch Gott ist die Forderung der Activität, die ihren Zweck in Gott findet untrennbar verbunden. – Freilich hört Gott im Neu-en Testament auf, der Heilige zu sein, nicht aber die Qualität der Gläubi-gen als Heiliger. Gott war der Heilige im Bundesverhältniß mit dem E i n e n Volk, dem er sich besonders zugewandt hatte; er ist es nicht mehr indem er in Christus alle Völker und jeden einzelnen Menschen beruft. Hingegen heißt der göttliche Geist im Neuen Testament der h e i l i g e G e i s t , weil in ihm Gott sich jedem Einzelnen zuwendet (1 Petr. 1,2; 2 Th. 2,13), und ihn dadurch heiligt. Der activen Bedeutung der Heiligkeit entspricht ferner das allen Gläubigen im Neuen Testament zugesprochene Priesterrecht (1 Petr. 2,5.9; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 4,16; 7,19; 10,22; 1 3 , 1 5 . 1 6 ; Rom 12,1).

Nicht sanctificatio im Sinn der lutherischen Dogmatik, nach Rom 6,19.22.Nach diesen Bestimmungen ergiebt sich auch die Congruenz des religiösen technischen Gebrauchs von L e b e n mit dem allgemeinen Begriff des Wortes.

Leben 1. Eindruck ursprünglicher Ursächlichkeit, wodurch die Frage nach höhern Ursachen zurückgedrängt wird, also Selbständigkeit,2. Zweckursache,3. Ganzes.

Leben ist zunächst passiven Sinnes: H e r v o r g e b r a c h t w e r d e n d u r c h s e i n e n Z w e c k . Auf der Stufe des Geisteslebens aber ist die-ser Sinn eo ipso die Darstellung der höchsten und eigenthümlichsten Acti-vität. Denn das Naturleben wird von seinem Zwecke ohne Vermittlung ei-nes Bewußtseins von demselben hervorgebracht; d a s g e i s t i g e L e -b e n wird durch den b e w u ß t e n S e l b s t z w e c k hervorgebracht, dies

4 Erwählte] korr. aus erwählte11–18 Freilich … heiligt.] später mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt22 Nicht … 6,19.22.] am Rand; davor <NB. Sirach 32,3.>23 religiösen] folgt <th>26–29 Leben … Ganzes.] am Rand33 seinem] korr. aus Seinem

5

10

15

20

25

30

35

29§ 9 Heiligung und Freiheit

Page 80: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

aber ist der Ausdruck für die Form der eigenthümlichen Freiheit des Ich. Der Neutestamentliche Ausdruck meint nun freilich nicht jedes bewußt geistige Leben, sondern das durch den heiligen Geist Gottes bedingte. Der bewußte Selbstzweck, nach dem der Geist lebt und sich verwirklicht, kann blos einem individuellen Triebe nachgebildet, oder er kann nach ei-nem allgemeinen Gedanken sittlichen Werthes bestimmt sein. Diese Fälle sind überschritten und ausgeschlossen, wenn es sich um Leben im heiligen Geiste handelt. Denn d e r h e i l i g e G e i s t ist zunächst als G e i s t G o t t e s der Gedanke vom göttlichen Selbstzweck in dem sich Gott er-kennt; a l s A t t r i b u t e i n e s M e n s c h e n aber ist er dieser Gedan-ke wie er auf Grund der Offenbarung Gottes in Christo in jedem Gliede der Gemeinde den inhaltlichen Grund der Selbstzweckbewegung des menschlichen Willens bildet. Im heiligen Geiste lebt der, welcher i m G r u n d e nichts anderes als seinen Selbstzweck will, als was der offenba-re Selbstzweck Gottes ist (in concreto das Reich Gottes unter den Men-schen). Ein solcher behauptet eine Stufe des Characters, die dem zufälli-gen Spiele der individuellen Triebe, ferner einem egoistischen Endzweck, endlich auch einem allg|emein sittlichen, aber doch noch besondern und untergeordneten, Endzweck entgegengesetzt ist. Jene höchste mögliche Bestimmtheit des sittlichen Characters ist also [24] nicht Folge einer na-türlichen Anlage oder Triebes, oder einer dem Gebiete des Naturells ange-hörigen Willensbestimmtheit; sondern im Vergleich hiemit ist jene Stufe übernatürlich. Aber diese sittliche Bestimmtheit ist im Menschen denkbar, weil seine Bestimmung zum Ebenbilde Gottes dieses Ziel seiner Entwick-lung einschließt, und weil durch Christus eine Gemeinschaft der Art ge-gründet ist; und sie ist zu denken nothwendig weil sonst die Weltordnung nicht realisirt wird, in der jeder Mensch auf die sittliche Gemeinschaft zu allen Menschen angewiesen ist. – Indem nun freilich Gott ausschließlich und zwar durch Mittheilung seines Geistes als der Grund dieses Charak-ters gedacht werden muß, so ist derselbe weder für die empirische Wahr-nehmung noch für das verständige Bewußtsein noch für eine absichtliche und vorsätzliche Bestrebung Gegenstand, sondern ist die intelligible Vor-aussetzung alles sittlichen Bewußtseins, welchem gemäß die empirische Verfassung des Willens richtig gedeutet werden kann;

1 Form der] am Rand10 er] korr. aus der19 ist] über der Zeile23–32 Aber … sondern ist] am Rand statt <und nur auf Gott zurückzuführen, nach der Congruenz des aufgefaßten Zieles zu der Begründung dieser Willensrichtung. Wie der obige Gedanke der Freiheit nicht Gegenstand empirischer Beweise ist, sondern >34 kann;] folgt <so ist auch der Stand der Wiedergeburt und der Besitz des heiligen Geistes kein Gegenstand des empirisch unmittelbar verstandes- oder gefühlsmäßigen Bewußtseins, sondern>

5

10

15

20

25

30

30 I. Theil I. Heiligung

Page 81: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Joh. 3,8.immer nur e i n e v e r m i t t e l t e E r k e n n t n i s seiner selbst kann d i e -s e A r t der Verfassung der Persönlichkeit als Voraussetzung aller speci-fisch religiösen Erfahrungen und sittlichen Absichten constatiren. Diese zeitlose intelligible Art des Begriffes Leben im heiligen Geiste wird im alten Protestantismus durch die Idee der e w i g e n Erwählung durch Gott aus-gedrückt.

NB. heiliger Geist bezeichnet i d e e l l die transcendente Ursache, die man religiös voraussetzt; e m p i r i s c h die Präcedenz der Gemeinde vor dem Einzelnen.

So sehr die wissenschaftliche Form des Gedankens dem Freiheitsbewußtsein des Menschen widerspricht, so ist derselbe seiner Absicht nach vielmehr darauf gerichtet, die Freiheit im concreten Sinne, die apriorische Begrün-dung des Heilsstandes für alles sonst empirische Bewußtsein der Religion im Subject zu sichern. Indem die lutherische Confession diese Basis aufgegeben hat, hat sie den Freiheitsbegriff wie die Heilsordnung in empirischer Weise behandelt; aber ebenso die reformirte, indem sie jenen Gedanken nur ver-standesmäßig, wie ein empirisches Object behandelt hat, die ewige Erwäh-lung in die vorzeitliche umgesetzt und ihr e w i g e Verwerfung coordinirt hat, als wäre die Sünde nicht das nur Zeitliche, Zufällige, Empirische im Menschen.

§ 10. 6 D i e H e i l i g u n g o d e r G e r e c h t m a c h u n g n a c h k a t h o l i s c h e r L e h r d a r s t e l l u n g .

Die Probe für die richtige Beziehung des heiligen Geistes auf den intelligi-beln Begriff der menschlichen Freiheit wird die Gegenüberstellung der ka-tholischen Lehre von der iustificatio bieten. Indem dieser Begriff gleich re-generatio gesetzt wird, schmeichelt man sich, sowohl das Interesse an der Realität des Gnadenstandes als das an der Freiheit zu befriedigen. Die Frei-heit gilt als das Wesen des Menschen welches bei allem Wechsel der sittli-chen Zustände dasselbe bleibe; man versteht aber darunter das Vermögen,

1 Joh. 3,8.] am Rand4 Absichten] folgt <Îverstù>5 zeitlose] am Rand8–10 NB. … Einzelnen.] am Rand12 widerspricht] korr. aus zu12 derselbe] am Rand statt <sie ihrer>16–21 den … Menschen.] teils über der Zeile, teils im freien Teil der Zeile und teils am Rand statt <sich einen wesentlichen Mangel zugezogen.>24 auf] folgt <den Be>

5

10

15

20

25

30

31§ 10 Heiligung (katholisch)

Page 82: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

in jedem Augenblick das Böse wie das Gute zu wählen und zu vollbringen; liberum arbitrium indifferentiae, die vorgeblich empirische Freiheit. Dem-gemäß hat weder das Gute noch das Böse einen nothwendigen Zusammen-hang mit dem Wesen des Menschen; das Eine wie das Andere ist nie Pro-duct des Willens, sondern nur Object der Aneignung, und dies auch nur momentan, ohne daß eine Eigenthümlichkeit des Willens sich daran bilden könnte.

NB. Thomas macht den Anlauf (Prima secundae), diesen Begriff der Freiheit zu überbieten durch den richtigen Gedanken, daß sie die Be-wegung nach dem erkannten guten Zweck sei. Aber er behauptet da-bei, daß der Wille nothwendig auf das allgemeine Gute sich bezieht, aber in Hinsicht der particularen Güter indeterminirt ist (qu. 13), daß der Habitus dem freien Gebrauch unterliegt (qu. 71), daß die concu-piscentia nicht die Unfreiheit bedingt, sondern eine Steigerung der Frei-heit (qu. 6), und auch indem Gott den Willen durch die Gnade bewegt, bleibt die Bewegung des Willens zufällig und geht nicht in die Nöthi-gung auf (qu. 10).

[25] Wenn der Begriff zweckmäßig ist, um das Böse als zufällig erscheinen zu lassen, so erscheint aber auch das Gute nicht als nothwendig für den Menschen. Begriff des Verdienstes! Dem entspricht es, daß die vorgebliche Vollkommenheit der ersten Menschen nicht zum Wesen gerechnet, son-dern als donum superadditum angesehen wird. Ebenso wird der Umfang der christlichen Tugend nicht als die eigentliche Bestimmung des Men-schen erkannt, sondern der übernatürliche Charakter derselben bedeutet eine Ueberschreitung des W e s e n s des Menschen. Nach dem Verlust der-

8 Summa theologiae II/I q 6 a 1: „Unde, cum homo maxime cognoscat finem sui ope-ris et moveat seipsum, in eius actibus maxime voluntarium invenitur.“ ed. Busa 2,365 a10 Ebd. q 13 a 6: „… ex necessitate beatitudinem homo vult … Electio autem, cum non sit de fine, sed de his quae sunt ad fidem … [est] … aliorum particularium bo-norum. Et ideo homo non ex necessitate, sed libere eligit.“ ed. Busa 2,374 a12 Ebd. q 71 a 3: „Et sic potior est actus in bonitate vel malitia quam habitus …“ ed. Busa 2,446 c13 Ebd. q 6 a 7: „… concupiscentia magis facit ad hoc quod aliquid sit voluntarium, quam quod sit involutarium.“ ed. Busa 2,366 b15 Ebd. q 10 a 4: „… sic Deus ipsam [voluntatem] movet, quod non ex necessitate ad unum determinat, sed remanet motus eius contingens et non necessarius …“ ed. Busa 2,371 a

8–17 NB. … (qu. 10).] am Rand8 (Prima secundae)] über der Zeile13f. concupiscentia] Ms.: concupicentia20 Begriff … Verdienstes!] am Rand22–25 Ebenso … Menschen.] am Rand24 der übernatürliche] korr. aus das Uebernatürliche

5

10

15

20

25

32 I. Theil I. Heiligung

Page 83: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

selben durch die Sünde ist also das Wesen des Menschen unverkürzt, und es ist nur eine widerspruchsvolle Concession, daß unter der Sünde das li-berum arbitrium viribus attenuatum et inclinatum sein soll (Tridentinum sessio VI,1). Deßhalb verhält sich aber auch im iustificatus seine Gerech-tigkeit nur in mechanischer Identität zur Freiheit. Freilich wird die iustifi-catio so beschrieben, daß caritas Dei cordibus inhaeret; aber indem diese iustitia infusa (cap. 7) sein soll, so ist ihr Verhältniß zur Freiheit kein nä-heres als das der Flüssigkeit zu dem Gefäße. Dieser materialistische Me-chanismus erscheint ferner daran, daß die äuß|erlichen Sacramente, Taufe und Buße ex opere operato respective mit einer bloßen attritio des Gemü-thes den Zustand herbeiführen, daß er nicht blos durch eine Todsünde verloren werden kann, sondern daß ein stätiges Bewußtsein der iustifica-tio verboten ist (cap. 9), und daß durch Erfüllung der göttlichen und kirchlichen Gebote die Gerechtigkeit vermehrt werden muß (cap. 10). Deßhalb ist auch kein specifischer Gegensatz zwischen dem Sünder und dem Gerechten denkbar, denn jener soll der ihn berufenden Gnade con-sentiren und zum Zweck der iustificatio cooperiren können. Deßhalb bie-tet der katholische Begriff der iustificatio nicht nur keine organische Ver-bindung zwischen Freiheit und Wiedergeburt, sondern auch deßhalb kein Princip eigenthümlichen sittlichen Lebens und kein Princip zur Ausgestal-tung theologischer Ethik. Die Laien sind immer an die Ergänzung durch den Klerus gewiesen, weil Freiheit und Gerechtigkeit immer auseinander-fallen. Aber auch der Klerus unterliegt dem Dualismus der Priester und der Bischöfe, der Bischöfe und des Papstes, ja der Papst ist getheilt in den fehlbaren und sündigen Privatmann und den ex cathedra unfehlbaren Amtsträger. Das abgestufte System findet nur scheinbar eine sittlich ein-heitliche Spitze. Die katholische Moral ist deßhalb theils blos legislato-risch, theils nicht gegen die philosophische Moral abgrenzbar. (Vgl. Merz, Das System der christlichen Sittenlehre in seiner Gestaltung nach den Grundsätzen des Protestantismus im Gegensatz gegen den Katholicismus. 1841). – Der Begriff der Wahlfreiheit bezeichnet nichts [26] weniger als das Princip der Willensphänomene sondern ein äußerliches Merkmal des Willensverlaufs in einem beschränkten Kreis sittlicher Entwickelung. Je-

2 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 1 DH 15216 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 7 DH 153012 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 9 DH 153413 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 10 DH 153528 Heinrich Merz, Das System der christlichen Sittenlehre

7 (cap. 7)] über der Zeile8 Dieser] Ms.: Diese8f. materialistische Mechanismus] am Rand statt <Äußerlichkeit>

5

10

15

20

25

30

33§ 10 Heiligung (katholisch)

Page 84: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

der bestimmte Willensact unterliegt vielmehr der Nöthigung durch das bestimmte Motiv, sei es der Lust oder Unlust, sei es der bewußten Pflicht. Wenn die Möglichkeit von zwei Motiven sich im Gedanken vergegenwär-tigt, so folgt der Wille dem nach Verhältniß zum empirischen Charakter stärkern Motiv. Der Unterschied dieser Thatsachen vom thierischen Be-wußtsein liegt darin, daß das Thier nur Reize der Lust oder Unlust kennt, und nur zwischen solchen wählt; der Mensch aber kann entweder dem den einzelnen Trieben entsprechenden Lustreiz folgen oder dem allgemei-nen Gedanken eines Zweckes. Auch wo ein allgemeiner Endzweck aufge-faßt, aber durch die Befriedigung eines einzelnen Triebes erfüllt ist, ist der Mensch formal frei, sofern er anderen Trieben entprechenden Lustreiz überwinden kann; aber das Moment der Wahl, welche dabei mitwirkt, oder die wirkliche Handlung aufschiebt, oder dahin führt, daß ein starker Antrieb durch die Ueberlegung abgeschwächt und schließlich unwirksam wird, ist das Kennzeichen davon, daß der Mensch sich selbst bestimmt, im Grunde sich als bewußten allgemeinen Endzweck über den einzelnen An-trieben mächtig erweist.

Ueber Kant’s Distinction zwischen intelligibler und empirischer Freiheit.Formal und materiell frei in concreto ist er nur, wenn der das Motiv er-zeugende allgemeine Endzweck gut, respective wenn der persönliche Selbstzweck mit einem allgemeinen Zwecke respective dem höchsten all-gemeinen erfüllt ist, und dadurch die Lustreize der natürlichen individuel-len Triebe ausschließt. Je nachdem der Mensch Charakter ist, egoistischer oder sittlich guter kommt er r e g e l m ä ß i g gar nicht in den Fall des Wählens oder Schwankens zwischen entgegengesetzten Motiven; aber die Wahl wird nie ganz ausgeschlossen; im völlig unmündigen Naturell, folgt der Wille ohne Wahl dem gerade erregten einzelnen Lusttriebe. Eine Os-cillation, wie sie der katholische Begriff der Freiheit im Allgemeinen als menschliches Wesen setzt, kommt nur in der unreifen Stufe des werden-den Charakters zum Vorschein. Deßhalb convenirt auch der Katholicis-

18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, III. Abschnitt, Kap. „Wie ist ein ka-tegorischer Imperativ möglich?“ In: Sämmtliche Werke ed. Hartenstein 4,301–303.

9 eines] folgt <guten>12–17 aber … erweist.] am Rand statt <aber er ist materiell unfrei.>16 bewußten] korr. aus S18 Ueber … Freiheit.] am Rand19 das] über der Zeile19 Motiv] korr. aus Motive22f. der … Triebe] am Rand24 regelmäßig gar] am Rand statt <gar>25f. aber … ausgeschlossen;] am Rand26 völlig] folgt <unreifen>

5

10

15

20

25

30

34 I. Theil I. Heiligung

Page 85: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

mus den unreifen Charakteren, und er erhält seine Angehörigen auf dieser Stufe.

§ 11. 7 D a s G e w i s s e n . vgl. Dogmatik § 10.

Das Gewissen ist d|ie subjective Gestalt der in § 9 dargestellten Synthese zwischen heiligem Geist und intelligibler Freiheit, in welcher dieselbe auch dem empirischen zeitlichen Bewußtsein entgegentritt. Man versteht unter Gewissen im populären Sinn ein Schema von Pflichterkenntniß, die sich in unwillkürlicher geheimnißvoller Weise im bestimmten Fall des Handelns dem Menschen aufnöthigt, in Gestalt eines Urtheils über Pflichtmäßigkeit oder -widrigkeit der beabsichtigten oder vollzogenen Handlung. Wegen des Geheimnisses und der [27] zwingenden Gewalt die-ser Erkenntniß nennt man es die Stimme Gottes. Dabei wird vorausge-setzt, daß der auf das Gewissen zurückgeführte Inhalt sittlicher Erkennt-niß bei allen Menschen ursprünglich gleich sei; und daß Ungleichheiten nur durch verschuldete Trübung oder Fälschung des Gewissens eingetre-ten seien. Diese Meinung kann sich aber nur bei unvollständiger Beobach-tung behaupten; vielmehr ergiebt sich, daß der sittliche Inhalt des Gewis-sens auf verschiedenen Religions- und Culturstufen verschiedener Völker und Zeitalter variirt. Identisch ist nur die Form der Function, die zwin-gende Gewalt zur bestimmten Erkenntniß von Recht oder Unrecht im ein-zelnen Falle. D e ß h a l b wird allerdings mit Recht das Gewissen mit dem Gedanken von Gott in Beziehung gesetzt. Aber man unterscheidet doch ebenso richtig zwischen Stimme des Gewissens und göttlicher Offenba-rung. Diese hat nämlich stets eine Bestimmung für die Gesammtheit und auch der erste Empfänger einer Offenbarung vernimmt göttliches Wort immer so, daß er sich zugleich als Vermittler desselben für die Anderen weiß. Aber die Stimme Gottes im Gewissen bezieht jeder der sie ver-nimmt, ausschließlich auf sich, und weiß nur sich durch sie gebunden, wie

4 Unter dem Einfluß von Wilhelm Gaß, dessen 1869 erschienenes Buch „Die Lehre vom Gewissen“ Ritschl auf dem eingelegten Doppelblatt 28 a.b exzerpiert hat (s. un-ten S. 211 Beilage III.1), wurde Organ durch Gestalt ersetzt. – § 11 umreißt schon den Inhalt des 1876 erschienenen Vortrags „Ueber das Gewissen“; vgl. OR 2,288f.

3 Das] korr. aus D a s c h r i s t l i c h e4 Gestalt] korr. aus Organ5f. in … entgegentritt.] am Rand8 in] über der Zeile28 nur sich] umgestellt aus sich nur28–36,1 gebunden, … auch] über der Zeile

5

10

15

20

25

35§ 11 Gewissen

Page 86: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

er sich auch nicht durch fremdes Gewissen gebunden weiß. Dies weist darauf hin, daß die nöthigende Macht des Gewissens ihren Grund n i c h t b l o s in Gott, sondern auch in dem subjectiven Wesen des Menschen hat. Darum ist jedoch das Gewissen nicht individuell mit Ausschluß der Allge-meingültigkeit, vielmehr vorausgesetzt und erprobt, daß das Gewissen denjenigen Pflichtinhalt bezeugt auf derselben Religions- und Bildungs-stufe, bei verschiedenen Personen. Daher wurzelt die r i c h t i g e Selbstbe-urtheilung, wo sie geltend gemacht wird, im Gewissen, sei es billigend (2 Kor. 1,12; Rom. 9,1; Act. 23,1; Hebr. 13,18; 1 Petr. 3,16; 1 Tim. 3,9; 1,19) sei es mißbilligend (suneídhsiv Ámartiôn Hebr. 9,14; 10,2.22; Rom 2,15). Indem man also jeder für sich an dem Gewissen sein Kriterium hat, traut der Gewissenhafte, wegen der Allgemeingültigkeit des Gewissens auch den Anderen zu, daß sie an ihrem Gewissen ein Kriterium des Wah-ren und ein Organ für Wahrhaftigkeit Anderer haben (2 Kor. 4,2; 5,11). Freilich ist dies Verhältniß nicht im empirischen Verlaufe des menschli-chen Geistes zu entdecken. Vielmehr hat das Gewissen an dem den Men-schen aufgenöthigten bestimmten Pflichturtheil nur seine W i r k u n g und E r s c h e i n u n g ; sein Wesen aber ist nur als transscendentale Idee zu fassen, und sein Verhältniß nur bestimmbar zum intelligibeln Begriff der Freiheit. Es schließt nun aber ferner g ö t t l i c h e Auctorität der Art in sich,

1 Petr. 2,19; Rom. 13,5; Hebr. 9,9daß das Gewissen auf jeder Stufe der Religion nach Maaßgabe der leitenden Gottesidee andern Inhalt producirt; also hat es an der abgestuften Gottesidee sein Maaß. Die heidnische Gottesidee,

1 Kor. 8,7welche entweder sittlich indifferente Naturmacht, oder beschränkte geistige Persönlichkeit als ästhetisches Ideal aufstellt, findet nur einen sehr engen Spielraum sittlicher Anwendung im Gewissen; die Auctorität liegt in der Sitte und den Gesetzen des Staates. Das israelitisch Alttestamentliche Gewissen

1 nicht] folgt <aber>1 gebunden weiß.] am Rand statt <gebunden.>3 subjectiven] über <individuellen>4–14 Darum … 5,11).] am Rand4 jedoch] über der Zeile5 vielmehr] folgt <ist die letztere durch übereinstimmende Gewissenssprüche zu con-statiren>10 22] über der Zeile16f. den Menschen] am Rand18–20 sein … Freiheit.] in eckigen Klammern (Bleistift)18 Idee] korr. aus Function22 1 Petr. … 9,9] am Rand26 1 Kor. 8,7] am Rand29f. die … Staates.] am Rand

5

10

15

20

25

30

36 I. Theil I. Heiligung

Page 87: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

1 Kor. 10, 25. 27.28hat gemäß der ethischen Gottesidee einen ausgebreiteten sittlichen Spiel-raum, hat aber seine Schranke am nationalen Particularismus und dem Gegensatz von Rein und Unrein. Erst bei der Begründung auf die christli-che Gottesidee hat das Gewissen die universelle und übernatürliche Trag-weite, die man in der Richtung auf sogenannte [28] natürliche Religion dem Gewissen überhaupt beimißt. Wenn nun die Freiheit die Selbstbewe-gung nach dem bewußten Selbstzweck ist, so ist das christliche Gewissen im heiligen Geiste (Rom 9,1) diejenige Funktion, welche den offenbaren göttlichen Selbstzweck als den Inhalt des persönlichen Selbstzwecks, als letztes Ziel und als letzten Grund der eigenen Freiheit wirksam macht. Das Gewissen von Christen ist schwach (1 Kor. 8,7.10.12), befleckt (Tit. 1,15), gebrandmarkt (1 Tim. 4,2), wo heidnischer Götterglaube oder Le-bensgrundsätze mit dem christlichen Glauben verbunden werden, je nach dem Grade der Aggression gegen die christlichen Grundsätze. Es ist selbst die Synthese zwischen heiligem Geist und Freiheit nur mit Hervorkehrung der Form der Subjectivität, während Heiligkeit und Wiedergeburt dieselbe unter objectivem Gesichtspunkt bezeichnen. Wenn hiegegen eingewandt wird, daß das Christenthum als historische Religion seine Anknüpfung nur in der empirischen, verstandes- oder gefühlsmäßigen Erkenntniß, und im empirischen Willensgebiet suche, so hat § 10 gezeigt, daß dies Unter-nehmen nicht zum Ziele führt. Zu unserer Entscheidung aber sind wir be-rechtigt, weil auch der Gedanke von Gott in jeder Bestimmtheit nicht Pro-duct irgend einer Erfahrungen, sondern überall Voraussetzung der ent-sprechenden religiösen Erfahrung ist, apriorischer Begriff. So ist auch die Gemeinschaft eines Gottesglaubens, trotz ihrer empirischen und histori-schen Stiftung nur denkbar, wenn auch der positive Inhalt göttlicher Of-fenbarung in die intelligible Function der Gewissen der bestimmten Reli-gionsstufe aufgenommen ist.

Auch die transscendentale Fähigkeit des Geistes, Erfahrungen zu bilden, unterliegt unmeßbaren historischen Bedingungen im Leben des Subjectes um in Wirksamkeit zu treten. Ebenso ist auch die transscendentale Funk-tion des Gewissens doch zugleich historisch bedingt.

21 S. oben S. 31

1 1 Kor. … 28] am Rand1 25.] mit aufgehobener Streichung4 Erst] folgt <unt>7 die] folgt <intelligible>12–15 Das … Grundsätze.] am Rand22–29 Zu … ist.] in eckigen Klammern (Bleistift)30–33 Auch … bedingt.] am Rand

5

10

15

20

25

30

37§ 11 Gewissen

Page 88: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 12. 8 D i e B e k e h r u n g n a c h l u t h e r i s c h e r u n d r e f o r m i r t e r L e h r e .

Der Grundbegriff der theologischen Ethik, nachdem er objectiv im Verhält-niß zu Gott und zur menschlichen Freiheit, und subjectiv im Verhältnis zum Gewissen festgestellt ist, muß auch noch im Verhältniß dazu betrachtet wer-den, daß die Wiedergeburt oder Heiligung im Subject selbst einer andern Wil-lensrichtung gefolgt ist, der Sünde, kurz daß der, welcher geheiligt ist, eo ipso bekehrt ist. Indem der Erfolg auch in dieser Form durch das religiöse Urtheil auf Gottes Bewirkung zurückgeführt wird, ist es eine wissenschaftliche For-derung, im Zusammenhang der ethischen Würdigung der Person, daß die

1 Der Text von § 12 bestand ursprünglich aus dem jetzt gestrichenen Anfang (s. text-kritischen Apparat) und dem Anfang des jetzigen § 13 (Die empirische … handelt. –). Die oben wiedergegebene Endgestalt des Textes von § 12 setzt sich zusammen aus dem am Rand neu formulierten Anfang (Der Grundbegriff … Tradition), dem samt Über-schrift hierher versetzten ursprünglichen § 13 s. unten S. 39,3–42,10 (Die lutherische und … Pietismus.) und dem auf dem eingelegten Blatt 29 a.b hinzugefügten neuen Schluß s. unten S. 42,11–43,22 (Die lutherische Lehre … gilt.)

1 8] korr. aus 71f. nach … Lehre.] über <vgl. Dogmatik § 75.>3–39,2 Der … Tradition.] am Rand statt <Indem der Grundbegriff der theologischen Ethik, nämlich die Heiligkeit oder die Wiedergeburt des Gläubigen auf den intelligibeln Begriff der Freiheit bezogen ist, so fragt sich, wie dieses Freiheitsbewußtsein des Gläu-bigen mit seiner religiösen Anerkennung gerade seiner Abhängigkeit von Gott in dieser Beziehung sich ohne Widerspruch verträgt. Das Problem würde unlösbar sein, wenn es sich dabei gerade um eine empirische Erklärung des Anfanges der neuen Existenz han-delte. Denn der Anfang ist bei keinem Dinge anschaulich zu machen, also auch nicht empirisch erklärbar. Aber in unserem Fall handelt es sich gar nicht darum, daß die Hei-ligung des Gläubigen als Wirkung Gottes gedacht werde, um von dem gewonnenen Anfang aus das gläubige Subject von göttlicher Einwirkung frei zu denken. Vielmehr leitet die religiöse Betrachtung auch das Wollen und Vollbringen des (folgt <relig.>) ge-heiligten Subjects von göttlicher Bewirkung ab; andererseits aber bezeichnet auch der wissenschaftliche Gedanke des Lebens [29] im heiligen Geiste nicht die volle Aus-schließlichkeit zwischen göttlicher Bewirkung und menschlicher Freiheit. Nur gegen die Auffassung göttlicher Bewirkung nach dem unbedingten Schema der Nothwendig-keit zwischen Ursache und Wirkung sträubt sich auch jener Begriff von menschlicher Freiheit. Nun ist es aber auch nicht jenes Schema, welches durch die religiöse Aussage der Abhängigkeit von Gott behauptet wird; ‚sondern‘ (am Rand statt <denn>) diese bezeichnet den heiligen Geist als die Bedingung der Einwirkung auf den Menschen. Aber indem der jetzt Geheiligte früher Sünder war, so liegt im Zusammenhang der reli-giösen Vorstellung die Aussage, daß Gott den Menschen bekehrt; dieselbe Thatsache aber will nach dem wissenschaftlichen Freiheitsbegriff als Selbstbekehrung des Men-schen gedacht sein.> Dazu am Rand ohne genaue Zuordnung <Aber der Gedanke ei-ner Selbstbekehrung hat auch einen Sinn, in welchem er von der Theologie verworfen wird, den des Pelagius> Die nicht gestrichene Fortsetzung dieses Abschnitts wird zum Anfang von § 13.9f. Forderung,] folgt <daß>

5

10

38 I. Theil I. Heiligung

Page 89: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Thatsache als die Bekehrung seiner selbst verstanden werde. Den doppelten Sinn hat auch conversio in der theologischen Tradition.

[30] D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e v o n B u ß e u n d G l a u b e .

Vgl. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung des lutherischen und refor-mirten Lehrbegriffs II. S. 115–134. Die l u t h e r i s c h e Theologie entspricht der von uns befolgten Untertheilung von dogmatischen und ethischen Sätzen, indem sie denselben Verlauf dogmatisch unter den Titeln der conversio und regeneratio, ethisch unter dem Titel der poenitentia oder intransitiven con-versio behandelt. Sofern von dem göttlichen transitiven [31] Act der conver-sio die regeneratio noch unterschieden wird, wird der Begriff jener auf die Erweckung des Schmerzes über die Sünden beschränkt; sofern conversio auch die regeneratio umfaßt, umfaßt sie auch die Erweckung des der regene-ratio entsprechenden gläubigen Vertrauens auf Christus. Diesem weitern Sin-ne der von Gott durch den heiligen Geist gewirkten conversio congruirt in der poenitentia die Aufeinanderfolge von contritio und fides. Beide Auffas-sungen des Verlaufes setzen aber den Begriff der illuminatio voraus. Der Mensch muß aus dem G e s e t z die richtige Erkenntniß seiner Sünden ge-wonnen haben, ehe er durch conversio im engern Sinn, respective contritio, den Schmerz über dieselben, die Furcht vor Gottes Zorn und den Schrecken des Gewissens concipirt; und er muß aus dem Evangelium die Verheißung der Sündenvergebung durch Christus kennen, ehe er regenerirt, respective die fiducia darauf fassen kann. Denn der Wille wird durch den Intellect geleitet.

Hollatz S. 832: Differt illuminatio a regeneratione. Illa magis intellectum, haec magis voluntatem respicit. Illa praecedit, haec sequitur.

Sofern der Sünder durch das G e s e t z seine Sünde auch nur e r k e n n t , ist dies eine Wirkung des h e i l i g e n G e i s t e s , der dem G e s e t z einwohnt, wenn auch derselbe darum keineswegs dem Sünder gegeben ist, und deßhalb die illuminatio, die der heilige Geist durch das Gesetz wirkt, nur imperfecta, paedagogica, literalis, und keineswegs wie die durch das evangelium spiritua-

5 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,115–134 (§ 21 „Die Bekehrung“).24 Hollatz, Examen ed. Teller 832 (p 3 sectio 1 c 5 q 11[1] 3kjesiv, observatio 8)

2 Tradition.] folgt Einfügungszeichen für die unterstrichene redaktionelle Bemerkung Anzuschließen die lutherische und reformirte Lehre nämlich der ursprüngliche Anfang von § 13.3 Die … die] am Rand statt <§ 13. F o r t s e t z u n g . D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e > davor der redaktionelle Hinweis zu § 12.11 der … jener] korr. aus deren Begriff14 Diesem] korr. aus In diesem24f. Hollatz … sequitur.] am Rand

5

10

15

20

25

30

39§ 12 Bekehrung

Page 90: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

lis und perfecta ist. Hiedurch ist also auch die Abhängigkeit der intransitiven conversio oder der poenitentia von der göttlichen Gnade respective dem hei-ligen Geist gesichert. Diese besteht nun blos aus contritio und fides in dieser Reihenfolge, und schließt n i c h t in sich die nova obedientia, das studium bonorum operum, welches nur e f f e c t u s poenitentiae ist, wie die Frucht kein Theil des Baumes ist. Indem also die contritio durch das die Wirksam-keit des heiligen Geistes in sich schließende Mittel des Gesetzes den Willen von der Sünde losreißt, richtet sich die fiducia an dem Evangelium auf, auf Grund des regenerativen Eintrittes des heiligen Geistes in das Herz des Men-schen; und findet durch ihr specielles Object, die göttliche Sündenvergebung, ihre specifische Gewißheit in der sie begleitenden consolatio efficax, pax con-scientiae, laetitia spiritualis (Hollatz S. 1188), die Merkmale des Abschlusses der poenitentia. – In der r e f o r m i r t e n Theologie

Calvini, Institutio christianae religionis III,3.ist die ethische Lehre von der conversio, poenitentia, resipiscentia noch stren-ger dadurch gebunden, daß nur der ewig Erwählte in Folge seiner wirksamen innern vocatio durch den heiligen Geist, und seiner geheimen insertio in Christum dazu kommen soll. Dem Wortlaut nach [32] ist die Uebereinstim-mung mit den Lutheranern, daß die poenitentia in die regeneratio ausläuft. Aber darunter verstehen die L u t h e r a n e r die blos religiöse Qualität des Rechtfertigungsglaubens mit Ausschluß des studium bonorum operum, die R e f o r m i r t e n die vollständige relig|iös sittliche reformatio imaginis dei, einschließlich jenes Merkmals (nr. 9). Nach der ursprünglichen practischen Conception Luthers ist eine Gewißheit der Rechtfertigung im Glauben nur möglich und berechtigt, wo der Glaube in Reciprocität mit der Fähigkeit und dem studium bonorum operum steht. Was l u t h e r i s c h das E n d e der poenitentia ist, gilt r e f o r m i r t schon als subjectives P r i n c i p derselben, die fides. Die Distinction fides et resipiscentia bezeichnet nicht eine zeitliche Reihenfolge wie contritio et fides, sondern Grund und erscheinende Folge; indem die resipiscentia aber in mortificatio und vivificatio zerfällt, so sind diese Glieder vielmehr der lutherischen Reihenfolge zu vergleichen. Aber sie sind durch die fides ganz anders begründet, als durch die illuminatio des Ver-standes. Calvin l. c. nr. 20: nemo peccatum umquam odit, nisi prius justitiae

12 Hollatz, Examen ed. Teller 1188 (p 3 sectio 2 c 7 q 22 probatio b); vgl. Ausgabe 1707: 2/2,32014 Calvin, Institutio III 3, CR 30,434–455; ed. Barth 4,55–8423 Calvin, Institutio III 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63–65

1 intransitiven] korr. aus Îintrasoù14 Calvini … III,3.] am Rand23–26 Nach … steht.] am Rand27 subjectives] über der Zeile32f. des Verstandes.] über <imperfecta et literalis.>

5

10

15

20

25

30

40 I. Theil I. Heiligung

Page 91: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

amore captus. nr. 1. poenitentiam non modo fidem subsequi, sed ex ea nasci extra controversiam esse debet.

nr. 2: non potest homo poenitentiae serio studere, nisi se dei esse noverit. Dei autem se esse nemo vere persuasus est, nisi qui eius gratiam apprehenderit.

Die l u t h e r i s c h e Lehre läßt ganz unbeachtet, daß, wenn das Gesetz nach Rom. 7. das Mittel der Sündenerkenntniß ist, der Heilsglaube an den Gesetz-geber allein diese Wirkung möglich macht, und daß der h e i l i g e Geist, wenn das Gesetz sein Organ sein soll, nothwendig eine positive Anknüpfung im subjectiven Glauben haben muß. Dieser Glaube als Grund der contritio oder der mortificatio wird natürlich nicht die Sündenvergebung zum Object haben, sondern nur die absolute Auctorität Gottes zu unserem Heile tritt als timor dei ins Bewußtsein; aber deßhalb hat Calvin doch kaum Recht, ihn von der i n s e r t i o in Christum abhängig zu machen; dann wird die Bekehrung ebenso nur zur Erscheinung einer ewig feststehenden Wirklichkeit, wie auf Grund des Gnadenrathschlusses und seiner empirischen Vo r z e i t l i c h e n Auffassung alle geschichtlichen Heilsvorgänge zum wirkungslosen Schein herabgesetzt werden. Mit Recht fordert Calvin einen reicheren Inhalt der vi-vificatio, als welchen die lutherische fiducia einschließt. nr. 3. quod vivifica-tionem accipiunt pro laetitia, quam recipit animus ex perturbatione et metu sedatus, non assentior, quum potius sancte pieque vivendi studium significet, quod oritur ex renascentia. Nur durch d i e s E n d e der poenitentia ist der relig|iös ethische Sinn des Begriffes verbürgt. –

Rechtfertigung und Versöhnung I. § 24.28.Die l u t h e r i s c h e Lehre folgt dem ausschließlichen Interesse, das Schuld-gefühl zu überwinden; sie ist empirisch äußerlich, und beruht auf unvollstän-

40,33 Calvin, Institutio III 3,20, CR 30,451; ed. Barth 4,78,19f.1 Calvin, Institutio III 3,1, CR 30,434; ed. Barth 4,55,16f.3 Calvin, Institutio III 3,2, CR 30,435; ed. Barth 4,56,23–2618 Calvin, Institutio III 3,3, CR 30,436; ed. Barth 4,58,2–523 Ritschl, RuV, Band 1 § 24: „Folgerung [aus Luthers Gedanken von der Rechtferti-gung] für die Auffassung der Buße“ (144–151) und § 28 „Lehre Melanchthon’s und Luther’s von der Bekehrung durch Gesetz und Evangelium“ (186–191).

3f. nr. 2: … apprehenderit.] am Rand6 Sündenerkenntniß] am Rand statt <Buße>7 allein … Wirkung] korr. aus diese Wirkung allein11f. tritt … Bewußtsein] am Rand12 doch kaum] über <auch>13–17 dann … werden.] am Rand statt <der nicht wieder jenen allgemeinen Gedan-ken, als den speciellen Gedanken der Sündenvergebung verbürgt (am Rand , wenn der Heilserfolg im vollen Sinne erreicht wird.)>17 Recht] korr. aus demselben Rechte23 Rechtfertigung … 24.28.] am Rand24 dem ausschließlichen] am Rand statt <dem>

5

10

15

20

25

41§ 12 Bekehrung

Page 92: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

diger Beobachtung. Die r e f o r m i r t e ist systematisch vollständig und um-faßt sowohl die Rücksicht auf die Beseitigung des Schuldgefühls als die auf die Besserung. Calvin läßt die poenitentia sich durch das ganze Leben hin-durchziehen. Nr. 9: haec instauratio non uno momento, vel die, vel anno im-pletur; sed per continuos, imo etiam lentos interdum profectus abolet deus in electis suis carnis corruptelas, repurgat eos sordibus, sensus eorum ad veram puritatem renovans, quo se tota vita exerceant in poenitentia, sciantque huic militiae nullum nisi in morte esse finem. Die lutherische Lehre kennt eine längere Dauer nur für die illuminatio (Hollatz p. 851) nicht aber für conver-sio oder poenitentia. Die Folge davon der Pietismus.[29 a] Die lutherische Lehre geht nicht über religiöse Umstimmung hinaus, – die calvinische über die principiell ethische Veränderung hinaus. Calvin hat die ursprüngliche Ansicht Luthers erhalten, – gegen die lutherische Lehre von der poenitentia gelten dieselben Gründe, welche Luther der katholischen Bußpraxis entgegensetzte, die Priorität des Glaubens vor der contritio ist aus logischen theologischen psychologischen Gründen nothwendig. – Man kann die Sünden nur hassen, indem man das Gute liebt, – man kann sich dem Ur-theil des Gesetzes zur Rüge der Sünden nur unterwerfen, wenn man den Ge-setzgeber als Wohlthäter, respective als den Urheber des Heiles anerkennt, – man kann von der contritio vernünftigermaßen nur dann zur fiducia überge-hen, wenn der Keim zu derselben das halbbewußte Motiv zur contritio ist. – L u t h e r s B e i c h t i n s t i t u t / Melanchthon (Visitationsbüchlein 1527 trotz Widerspruchs Agricola’s) lehrt mit Zustimmung Luthers, daß die Sün-den aus dem Gesetz erkannt werden, in dessen Begriff der vorläufige Heils-glaube per se eingeschlossen sei. Dies wird nachher vergessen. – Der lutheri-schen Lehre sucht erst der Hallische Pietismus die Praxis hinzuzufügen, wel-

3 Calvin, Institutio III, 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63,25–65,29 Hollatz, Examen 851 ed. Teller (p 3 sectio 1 c 5 q 18); vgl. Ausgabe 1707: 2/1,368 (q 15)22 Melanchthon, Unterricht der Visitatorn 1528, CR 26,51 f.; ed. Stupperich 1,222,14–27 (Vorrede Luthers); s. RuV 1,18823 Zu Agricolas Vorstößen 1527 und 1537 s. RuV 3,189f.26 Vgl. GdP 2,257–261

3–8 Calvin … finem.] am Rand statt <Namentlich aber entspricht sie der Nothwen-digkeit, die wir anerkannt haben, daß die Bekehrung, so wie sie empirisch verläuft, ja sogar („ja sogar“ über <sondern>) das ganze Leben ausfüllt, die Synthese des heiligen Geistes und darin des menschlichen Willens als intelligible Voraussetzung fordert.>11–43,22 Die … gilt.] Dieser Schluß von § 12. ist auf einem eingelegtem Quartblatt [29 a.b] hinzugefügt, überschrieben Zu § 12.11f. Die … hinaus.] über der Zeile21 ist. –] Die ursprüngliche Fortsetzung Die … vitam. wurde mit Einfügungszeichen später eingeordnet; s. unten S. 43,4–1122 Luthers Beichtinstitut] über der Zeile

5

10

15

20

25

42 I. Theil I. Heiligung

Page 93: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

che auf dieselben Fehler hinauskommt, die Luther am Katholicismus zu rü-gen hatte. – Also die Bekehrung sofern sie subjectiv nur aus Glauben zu be-greifen ist, setzt Gnadenwirkung voraus. Wie ist dieser religiös-dogmatische Gesichtspunkt mit der ethischen Auffassung des Vorgangs vereinbar? Die ka-tholische Lehre leitet die contritio von der Gnade ab, diese Bestimmung ist aber praktisch unwirksam, indem die contritio am Gesetze gemessen wird, und entweder oberflächlich oder endlos gründlich ausfällt. Soll jene Lehrbe-stimmung einen Werth haben, so muß die Gnade im Glauben aufgefaßt wer-den, also sagt Luther, daß man die Reue so bald wie möglich auf den Glau-ben hinausführen müsse. – Demgemäß Luthers und Calvins Grundsatz von der poenitentia per totam vitam.[29 b] Die Beschränkung des lutherischen Begriffs von poenitentia auf die Aufhebung des Schuldgefühls mit Ausschaltung des studium bonorum ope-rum rührt jedoch insofern von Luther her, als derselbe seine Gedankenbil-dung dem Schema des katholischen Begriffes vom sacramentum poenitentiae accommodirt hat. Calvins Abweichung davon ist der Ausdruck seiner syste-matischen Denkweise. E t h i s c h betrachtet muß der Begriff der Bekehrung auf die Absicht des Guthandelns hinausgeführt werden. Daß die Lutherische Lehre dieses unterläßt, verräth ein Ueberwiegen des religiösen Interesses an der Befreiung von der Schuld über das ethische Interesse an der Umbildung des Willens, welche nur nachträglich aus dem Rechtfertigungsbewußtsein ab-geleitet wird, welches in seiner isolirten Haltung als die Hauptsache gilt.

[29] 9 § 13. D i e B e k e h r u n g . S c h l u ß .

Die empirische, pelagianische Deutung dieses Begriffs verwickelt sich in der Behauptung, daß der Sünder sich bekehren soll, während doch das Gute nicht als Product eines bösen Willens gedacht werden kann. Um diesem Wi-

10 Vgl. die 1. der 95 Thesen. In: Sämtliche Schriften ed. Walch 18,254; WA 1,233. S. auch Ritschl, Unterricht § 58 Anm. f, ed. Axt–Piscalar 80.130.10 S. oben S. 40,22–26: Calvin, Institutio III, 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63,25–65,223 Der ursprüngliche § 13 bestand aus dem jetzt samt seiner Überschrift nach § 12 versetzten Text s. oben S. 39,3–42,10 (Die lutherische und … Pietismus.) Die oben wiedergegebene Endgestalt des Textes von § 13 wird aus dem ursprünglichen § 12 (ab-züglich des gestrichenen Anfangs) und dem auf dem eingelegten Blatt 29 c.d hinzuge-fügten neuen Schluß gebildet.

4–11 Die … vitam.] ursprünglich nach contritio ist. – durch Einfügungszeichen hier-herversetzt, s. oben S. 42,215 Lehre] folgt <dies>23 § 13. … Schluß.] am Rand; das Folgende war ursprünglich die Fortsetzung des nunmehr gestrichenen Anfangs von § 12.24f. der Behauptung] korr. aus den Widerspruch

5

10

15

20

25

43§ 13 Bekehrung (Schluß)

Page 94: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

derspruch, so wie um dem Widerspruch der Augustinischen Theorie gegen das Freiheitsbewußtsein zu entgehen, halbirt der Semipelagianismus und der Synergismus das Problem zwischen die beiden Ansprüche, löst es also nicht, sondern schafft es nur bei Seite. – Die religiöse Betrachtung der Bekehrung des Sünders durch Gott schließt bei näherer Betrachtung keineswegs die un-bedingte Causalität Gottes in sich; dieselbe ist für Gott selbst nur möglich wo entweder schon oder wo noch böses Gewissen oder Reue über dem sitt-lichen Gesammtzustand vorhanden ist. Das böse Gewissen als der unwider-stehliche Impuls des Urtheils der Zurechnung des Gesammtzustandes ent-hält die Gewißheit, daß der göttliche Zweck eigentlich auch der Endzweck des Menschen sei, daß aber sein persönlicher Selbstzweck, wie er empirisch beschaffen ist, im Widerspruch mit jener Bestimmung und Aufgabe sei. Die Bekehrung in der religiösen Auffassung des Vorganges besteht nun darin, daß Gott seinen heiligen Geist in den Grund des Willens des Menschen setzt, also den Gedanken des göttlichen Selbstzweckes mit dem Gedanken des menschlichen Selbstzweckes so identisch setzt, daß diese Synthese der Grund der bisher widerstebenden Willensbewegung wird. Aber dieser Ausdruck für das Bekehrtsein durch Gott ist zugleich der Ausdruck für die concrete Frei-heit, also ist zwischen Bekehrung durch Gott und Freiheit zunächst kein Wi-derspruch. Aber jener religiöse Gedanke schließt auch nicht die ethische For-derung der Selbstbekehrung im richtigen Sinne aus. [30] Denn das Subject des bösen Gewissens, das das Object der Bekehrung durch Gott ist, und das Subject des guten Gewissens, welches von Gott bekehrt ist, ist das Selbst des Menschen.

NB. Das böse Gewissen ist die erste Gestalt des Bewußtseins, daß der Ein-zelne b e r u f e n ist, das Gute zu verwirklichen. Hierin ist sowohl, religiös angesehen, die göttliche Gnade wirksam, als auch, ethisch angesehen, das menschliche Selbstbewußtsein der Freiheit als des Willens zum Guten, wel-cher die nothwendige Wesensbestimmung des Menschen ist.

Das Selbst ist freilich nur auf Grund specieller göttlicher Leitung, und nur durch die Vermittlung des Gedankens vom göttlichen Selbstzweck von der

5 bei … Betrachtung] am Rand7 oder Reue] am Rand8 der] korr. aus die9 Impuls … Urtheils] am Rand statt <Macht>9f. enthält] am Rand statt <ist>10 Gewißheit,] folgt <enthalten,>11f. wie … ist,] am Rand19 zunächst] über der Zeile24 Menschen.] Menschen folgt <nach dem intelligibeln Begriff seiner Freiheit.>25–29 NB. … ist.] am Rand28 des] folgt <Înothweù>30 auf … specieller] am Rand statt <durch Vermittlung>

5

10

15

20

25

30

44 I. Theil I. Heiligung

Page 95: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Stufe des bösen auf die des guten Gewissens übergegangen. Jener Gedanke war aber schon der Grund des bösen Gewissens, es ist also nichts fremdes in das bekehrte Subject hineingekommen, sondern nur das Verhältniß zwischen der empirischen Willensrichtung und dem Gedanken des göttlichen Selbst-zweckes ist aus dem Widerspruch in die Identität gekommen, und dadurch der bisherige Inhalt des sündigen Willens weggeschafft. Also ist die Bekeh-rung durch Gott als Selbstbekehrung zu denken. Unter diesen Bedingungen ist die praktisch-ethische Zumuthung verständlich, s i c h z u b e k e h r e n , nämlich unter Voraussetzung bösen Gewissens über den gegenwärtigen Zu-stand, durch Vermittlung der Erkenntniß göttlicher Gnadenführung gutes Gewissen und den Vorsatz guter Willensrichtung zu gewinnen, und als Prin-cip aller Willensbethätigungen zu erhalten gegen die etwaigen Störungen; da der im bösen Gewissen empfundene Widerspruch der empirischen. Willens-richtung und der erkannten persönlichen Bestimmung unerträglich ist; zu-gleich aber ergiebt sich dabei die Unberechenbarkeit dieses Verlaufs für m e n s c h l i c h e Mittel, weil es sich hiebei um die Bethätigung der eigen-thümlichen Freiheit handelt. –[29 c] Allerdings vollzieht sich die Bekehrung, subjectiv angesehen nicht durch einen Proceß des auf sich isolirten Gewissens von seiner bösen Ge-stalt zu seiner guten. Denn das Gewissen steht immer in Reciprocität mit den Mitteln der positiven Offenbarung Gottes, und diese Reciprocität ver-bürgt es, daß die Bekehrung objectiv als Wirkung Gottes betrachtet werden muß. Also tritt die explicite Idee von Gott als dem Leiter der sittlichen Weltordnung und das Sittengesetz in die Mitte, um dem Sünder zum bösen Gewissen zu verhelfen, und die Anschauung der göttlichen Gnade und des göttlichen Reiches als menschlicher Endzweck begründet die Gestalt des gu-

1 guten Gewissens] am Rand statt <bösen Gewissens>6 Willens] folgt <ist>7 Gott] folgt <auch>7 denken.] folgt <Das ist nun nicht im pelagianischen Sinne gemeint, denn das Subject des Vorganges ist nicht der empirische sündige Wille, der vielmehr das Object der Weg-schaffung ist, sondern die Freiheit im intelligibeln Sinn, die als solche auch schon in der Gestalt des bösen Gewissens die Synthese mit dem heiligen Geiste zu vollziehen im Be-griff steht.>9 nämlich … Voraussetzung] am Rand statt <nämlich>9 bösen Gewissens] korr. aus böses Gewissen9f. Zustand,] korr. aus Zustand folgt <zu haben, das>10 Gnadenführung] folgt <in>11f. und den … Störungen;] am Rand statt <umgesetzt werden muß,>11 gewinnen,] Ms.: gewin-/<nen,>/ nen,14 der] korr. aus des18–46,15 Allerdings … sind.] Zusatz auf eingelegtem Blatt mit dem unterstrichenen Hinweis Schluß von § 13.23 explicite] korr. aus s

5

10

15

20

25

45§ 13 Bekehrung (Schluß)

Page 96: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ten Gewissens, das der Sündenvergebung gewiß ist, und den Impuls zum sittlich guten Leben gewährt. Also verläuft die Bekehrung in allen beiden Gliedern an einer Entwickelung des Glaubens an Gott, der die Furcht vor Gottes Zorn, die Anerkennung des Sittengesetzes, ferner des sittlichen Ideals in Christo schließlich die Versöhnung mit Gott und den Entschluß, dem Gottesreiche zu dienen, subjectiv bedingt, wenn er auch in den ersten Stadi-en dieses Verlaufes noch nicht als der Heilsglaube zum Bewußtsein gekom-men sein mag. Eine Berechnung der Stadien und ihrer Phänomene nach me-chanischem Maßstabe ist jedoch verboten. Momentane Bekehrung ist erfah-rungsmäßig und ist denkbar bei Lasterhaften. Da nun der übliche Begriff von der Sünde eigentlich der Begriff vom Laster ist, so muthet die herge-brachte lutherische und pietistische Theorie von der Buße jedem Sünder momentane Bekehrung zu. Die Erziehung in der Kirche [29 d] begründet hingegen Erfahrungen und Grundsätze, welche in Calvins Aufstellungen richtig getroffen sind.

[33] Z w e i t e s C a p i t e l . D i e N o t h w e n d i g k e i t d e r g u t e n We r k e a u s d e m G l a u b e n ,

u n d d e s G e s e t z e s f ü r d e n G l ä u b i g e n .

§ 14. 10 D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e ü b e r d i e N o t h w e n d i g k e i t d e r g u t e n We r k e .

Die folgende Darstellung bezieht sich auf die kirchlichen Festsetzungen der Grundlage der Ethik, welche im Gegensatz stehen theils gegen die katholi-sche Vermischung der Gebiete der Rechtfertigung und der guten Werke, theils gegen die in Luthers Wirkungskreis aufgetretenen Ansichten von der Nothwendigkeit der guten Werke zur Seligkeit (Georg Maior, 1552) und von der Beziehungslosigkeit des Gesetzes auf den Gläubigen (Johann Agricola, 1527.1537). Im allgemeinen ist der pluralische Titel der guten Werke für das Gebiet der Ethik sehr oberflächlich und unzureichend. – Die katholische Leh-re vermischt die Gebiete der religiösen und der sittlichen Betrachtung, indem

25 Georg Major, Antwort auff des Ehrwirdigen Herren Niclas von Ambsdorff schrifft26 S. oben S. 42,23

1 der] korr. aus die4 die] die folgt <Normalität>14 Grundsätze,] folgt über der Zeile <auf>14 in] über der Zeile27f. Im … unzureichend.] in eckigen Klammern (Bleistift)

5

10

15

20

25

46 I. Theil II. Gute Werke

Page 97: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sie die von Gott herrührende iustificatio nicht blos unter Mitwirkung des Sünders zu Stande kommen, sondern auch durch die guten Werke des Be-kehrten vermehrt werden läßt. (Vgl. § 10). Die Reformation sondert aber beide Gebiete, und ordnet das der sittlichen Selbstthätigkeit dem der religi-ösen Determination durch Gott unter. Beide bewachte man so sorgfältig in der lutherischen Lehrentwicklung, daß man die Formel Georg Maior’s, bona opera ad salutem necessaria esse, nur deßhalb verwarf, weil man eine Miß-deutung im katholischen Sinne befürchtete. Dabei aber lag zu Grunde, daß das ausschließliche Interesse, den Rechtfertigungsbegriff zu sichern, den ethi-schen Begriffen stets die nöthige Aufmerksamkeit und Besonnenheit der Be-handlung entzog. Mit sehr unzureichendem Beweise aus Eph. 2,5.8 behaup-tet die F. C . a r t . 4 d e b o n i s o p e r i b u s , daß die Rechtfertigung die ewige Seligkeit in sich schließe, daß also der Glaube ebenso das zurei-chende und unbedingte Organ für diese wie für jene sei. Hingegen unter-scheidet Paulus überall sonst dikaíwsiv und swthría, und begründet diese nicht allein auf den Glauben.

Werth des pluralen Ausdrucks, der in der calvinischen wie der lutherischen Theologie die Vorstellung des ethischen Erkenntnißstoffes erschöpft. Denn wenn man fragt, was die sanctificatio sei, so wird die Antwort auf die bona opera lauten.

Nach der F.C. ist die Nothwendigkeit der guten Werke beim Gläubigen eine doppelte. 1. sind sie nothwendig als Folgen des Glaubensstandes oder als Zeugniß der Wirksamkeit des heiligen Geistes, wie Früchte am Baume. Die-sem Bilde der Naturnothwendigkeit entsprechend wird demgemäß nicht blos ausgeschlossen, daß die guten Werke durch Strafdrohung des Gesetzes erzwungen seien, sondern auch behauptet, daß sie frei, unreflectirt und ab-sichtslos aus dem Glauben hervorgehen. 2. sind die guten Werke nothwen-dig gemäß dem positiven Willen Gottes, dessen Ordnung einmal ist, daß die Gläubigen in guten Werken wandeln. [34] Beide Gründe auch confessio Helvetica posterior 16 (p. 497). Mit denselben ist nun der Ethik die Aufga-

3 S. oben S. 31,226 FC Sol. Decl. IV 1, ed. Hase 698; BSLK 937,24–936,112 FC Epit. IV 7, ed. Hase 589; BSLK 787,35 (dort mit Eph 2,8 begründet); FC Sol. Decl. III 20, ed. Hase 686; BSLK 920,30 (Eph 2,5)21 Zu (1.) vgl. FC Epit. IV 6; Sol. Decl. IV 9; zu (2.) FC Epit. IV 8; Sol. Decl. IV 7, ed. Hase 589; 701; 589; 700; BSLK 787,19; 941,4; 788,1; 940,429 Confessio helvetica posterior XVI, ed. Niemeyer 497; BSRK 193,28

8–16 Dabei … Glauben.] in eckigen Klammern (Bleistift)11 sehr unzureichendem] in eckigen Klammern14–16 Hingegen … Glauben.] in eckigen Klammern17–20 Werth … lauten.] am Rand17 in … wie] über <wenigstens in>

5

10

15

20

25

30

47§ 14 Nothwendigkeit der guten Werke

Page 98: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

be gestellt, sie auf Ein Princip zurückzuführen. Wie kommt es, daß jene am Subject haftende Nothwendigkeit mit der objectiven göttlichen Forderung zusammentrifft? Diese Frage ist in der alten Schule nicht aufgeworfen wor-den, obgleich dort manche Gedanken auftauchen, die dazu hätten führen müssen. Nämlich in beiden Confessionen reflectirt man auch auf einen höchsten Zweckgrund der guten Werke, Catechismus Palatinus 86. ut deus per nos celebretur, Quenstedt, die gloria dei finis principalis bonorum ope-rum. Andrerseits finden die guten Werke eine Zweckbestimmung auch in dem gläubigen Subject. Catechismus Palatinus ut nos quoque ex fructibus de sua quisque fide certi simus; Quenstedt IV,9,8,2.: per bona opera iustifi-catio nostra quoad nos confirmatur. Endlich wird auf beiden Seiten der von Luther aufgestellte Satz wiederholt, daß die guten Werke die Dankbarkeit des Gerechtfertigten für die göttliche Gnade bethätigten. Schneckenburger, comparative Dogmatik I, S. 39.41 behauptet, die Zweckbestimmung der guten Werke für die Gewißheit des Gnadenstandes des Subjectes sei blos re-formirte Lehre;

Apologia C.A. III. § 155.der Lutheraner werde dies unerträglich finden, da er jene Gewißheit an an-deren Merkmalen erkenne, und vorherrschend die Unvollkommenheit der guten Werke betone, die jene Zweckbestimmung einschränke. Quenstedts Urtheil (vgl. Hollatz S. 1189: qui legem divinam, quantum in hac vitae in-firmitate fieri potest, sincere servat, is fidei suae certus est.) dient zur Be-richtigung d i e s e r Unterscheidung beider Confessionen. Aber freilich ver-kennen läßt sich nicht, wie beiläufig und einflußlos jener Satz in der lutheri-schen Theologie steht. Mit einer gewissen Modification ist Schneckenbur-gers Beobachtung zu bestätigen. Der Satz, daß der Gläubige durch den Rückschluß aus den guten Werken sich seine Eigenthümlichkeit als Gläubi-

6 Catechismus Palatinus LXXXVI, ed. Niemeyer 450; vgl. BSRK 706,327 Quenstedt, Theologia 4,3089 Catechismus Palatinus LXXXVI, ed. Niemeyer 450; vgl. BSRK 706,3310 Quenstedt, Theologia 4,30813 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,39.41; dort auch der Hinweis auf Catechismus Palatinus LXXXVI17 Apol. IV 276; ed. Hase 116 (III 155); BSLK 214,5221 Hollatz, Examen ed. Teller 1189 (p 3 sectio 2 c 7 q 22 probatio b 3); Ausgabe 1707: 2/2,320f.25 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,43

6 höchsten] über der Zeile10 IV,9,8,2.] am Rand17 Apologia … § 155.] am Rand20 jene] korr. aus jener27–49,1 als … Gerechtfertigter] am Rand

5

10

15

20

25

48 I. Theil II. Gute Werke

Page 99: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ger und Gerechtfertigter klar mache, steht im reformirten System in be-stimmter Relation zu der Herrschaft der Erwählungslehre, auf welche des Lutherthum verzichtet hat. Hingegen wird der Satz im Lutherthum erst acut durch Spener. Jene reformirte Grundlehre hat weder die Absicht, eine Er-schlaffung des Willens und sittlichen Strebens zu begründen, noch den Er-folg, eine solche nach sich zu ziehen. Wo ein gewisser Antinomismus auf dem Gebiet der reformirten Kirche vorkommt, geschieht es im bestimmten Widerspruch mit Calvins Tendenz. Vielmehr ist jene Lehre in ihrer classi-schen Durchführung Grund einer sittlichen Energie und Ausdauer, und ei-nes praktischen Gemeingeistes, welcher dem Lutherthum abgeht. Aus der Erwählung folgt nämlich nothwendig die perseverantia sanctorum. Da Gott die Heilsvollziehung an den Erwählten auf dem Wege des gemeinsamen [35] kirchlichen Glaubens und der guten Werke geordnet hat, so kann sich Kei-ner für Erwählt erkennen, der nicht die Ausdauer der Gnade auch auf je-nem Wege erfährt, also aus seinen guten Werken und ihrer Stetigkeit die Sufficienz seines Glaubens erkennt. Deßhalb ist die reformirte Heilsansicht ein starker Jmpuls für die Anstrengung des Willens, auch in den guten Wer-ken die völlige Durchführung der Gnade an sich zu erfahren. Canones Dor-draceni I,12 (p. 695): De sui ad salutem electione electi certiores redduntur non quidem arcana dei curiose scrutando, sed fructus electionis infallibiles, ut sunt vera in Christum fides, filialis dei timor, dolor de peccatis secundum deum, e s u r i e s e t s i t i s i u s t i t i a e in sese cum spirituali gaudio et sancta voluptate observando. – Schneckenburger stellt freilich diese drasti-sche Eigenthümlichkeit der reformirten Lehre so dar, als ob das thätige Stre-ben und die begleitende Reflexion auf dasselbe der Stamm des reformirten Christenthums sei, etwa gemäß der vorbildlichen Charaktere Zwinglis und Calvin’s, daß aber die Prädestinationslehre nur als Hülfsvorstellung zum Gegengewicht gegen die Annäherung an katholische Werkheiligkeit ins Sy-stem verarbeitet sei. Vgl. dagegen Schweizer in Theologische Jahrbücher

4 Zu Spener vgl. RuV 3,137; Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,69; Gaß, Geschichte der Protestantischen Dogmatik 2,43911 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,23818 Canones Dordraceni Kap. 1,12; ed. Niemeyer 695; BSRK 845,823 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,4129 Schweizer, Schneckenburgers vergleichende Darstellung 5 f.

2 Erwählungslehre] über <Prädestinations><<lehre>>3f. Hingegen … Spener.] am Rand4 Absicht,] folgt <noch den Erfolg>11 Erwählung] am Rand statt <praedestinatio>11 nämlich] über <aber>16 erkennt] Ms.: erkennen22 in] korr. aus cum

5

10

15

20

25

49§ 14 Nothwendigkeit der guten Werke

Page 100: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

1856. Heft 1.2. Indem die lutherische Lehrart zuerst auf die perseverantia sanctorum verzichtete, und mit formaler aber wirkungsloser Anerkennung der Prädestinationslehre die Annahme verband, daß auch der Gläubige wie-der die Gnade verlieren, aber durch Reue und Glaube, Absolution und Abendmahl wieder hergestellt werden könne, so tritt an die Stelle der refor-mirten Spannung auf Werkthätigkeit und der d a r a n geknüpften Heilsge-wißheit die Begründung der jeweilig nöthigen Heilsgewißheit auf die kirch-lichen Gnadenmittel, und daneben kommt der auch sonst anerkannte Ge-danke von der Bestimmung der guten Werke zur Begründung der Heilsge-wißheit zu keiner Bedeutung (Schweizer, Die protestantischen Centraldog-men innerhalb der reformirten Kirche I.)

§ 15. 11 D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e v o n d e r B e d e u t u n g d e s G e s e t z e s f ü r d e n

W i e d e r g e b o r e n e n .

Das göttliche Gesetz als das Maaß der guten Werke tritt in der katholischen Lehre ebenso in den Begriff der Justification hinein, wie die guten Werke als Mittel derselben anerkannt werden. Denn die katholische Anschauung vom Christenthum als allgemeinem Object ist von Anfang an auf den Begriff der nova lex begründet. Als die Bedeutung Christi gilt wesentlich die des Gesetz-gebers, und seine Funktion als Erlöser ist diesem Beruf nur untergeordnet. Indem die Reformation das Evangelium als den objectiven Inhalt der Offen-barung [36] darstellt, hat sie Christus vorherrschend als Retter und Erlöser, also als den aufgefaßt, der den Menschen etwas leistet, nicht etwas fordert. Demnach sind auch beide Confessionen darin einig, daß das Gesetz nicht in den Vollzug der Justification hineingehört, weil die nach demselben zu mes-sende Willensbewegung sittlicher Art eine andere Art der religiösen Begrün-dung des Subjects voraussetzen muß. Vielmehr vindiciren sie dem Gesetz zu-nächst seine Bedeutung für den Sünder, um denselben durch Aufstellung der richtigen Handlungsweise und Drohung der Strafe zur Erkenntniß seiner Sünde und zur Sehnsucht nach der Gnade anzutreiben. Neben diesen usus elenchticus seu paedeuticus stellt die FC. 2. den usus politicus, zur Erhal-tung der rechtlichen und socialen Ordnung. 3. aber behaupten beide Confes-sionen auch usus legis für d|en Wiedergeborenen, den die FC. als usus tertius zählt. In der näheren Bestimmung desselben weichen sie charakteristisch

10 Vgl. Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen 1,548–585: „Verhältniss der beiden protestantischen Lehrweisen am Ende des 16. Jahrhunderts“31 FC Epit. VI 1; Sol. Decl. VI 1, ed. Hase 594; 717; BSLK 793,9; 962,6

10f. (Schweizer … I.)] im freien Teil der Zeile und am Rand

5

10

15

20

25

30

50 I. Theil II. Gute Werke

Page 101: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

voneinander ab. 1. R e f o r m i r t ist das Gesetz ein Bedürfnis des Wiederge-bornen als solchen, damit er den Willen Gottes, den er erfüllen soll, wisse, und in Demuth und Furcht Gottes erhalten werde, wenn er die Erhabenheit des vorgesteckten Zieles wahrnimmt. Befreit ist der Wiedergeborne aller-dings von der drohenden und verdammenden Stellung des Gesetzes, welche dem Sünder gilt (Helvetica posterior 12. p. 488; Catechismus Genevensis p. 149). 2 L u t h e r i s c h (F.C. art. VI) wird behauptet: Das Gesetz gilt dem Wiedergebornen nicht als solchem, denn als solcher trägt er das Princip des heiligen Geistes in sich, und bringt demgemäß gute Werke als fructus spiri-tus ohne Reflexion auf Gesetzesvorschrift hervor. Es gilt ihm nur, sofern er noch relativ Sünder ist, sofern der alte Adam seinen festen Sitz noch in Ver-stand, Wille und allen Kräften hat, und dem Wiedergeborenen einen fortge-henden Kampf wider sich aufnöthigt; sowohl um ihn vor möglichem Irr-thum über den richtigen Gottesdienst zu schützen, als auch, um ihm durch Warnung und Drohung den Impuls zum Guthandeln zu geben. Die so her-vorgebrachten bona opera sind dann im Wiedergebornen als opera legis von den fructus spiritus qualitativ verschieden. Die l u t h e r i s c h e Einrechnung d i e s e s Merkmals in die Anschauung vom Gesetze bedeutet nicht eine Zu-stimmung zum Marcionitismus, hat keinen rein objectiven Sinn, sondern ist davon abhängig, daß das Gesetz nur zur Sünde (des Unwiedergebornen oder des Wiedergebornen) in Relation gesetzt wird, und zum Charakter des neu-en Menschen als solchen gar nicht. Der Fehler dieser Ansicht ergiebt sich aber aus der Analyse der lutherischen Lehre vom tertius usus. Luther selbst, indem er anschaulich machen will, [37] daß auch Christus unter dem Geset-ze gestanden habe (Weihnachtspredigt XII. S. 312–17) sagt: Unter dem Ge-setze sein heißt, aus Furcht des Gesetzes Gutes thun und Böses lassen; Chri-stus nun hat f r e i w i l l i g das Gesetz erfüllt, also, zieht Luther gegen seine Absicht den Schluß (S. 317), hat er nur scheinbar unter dem Gesetze gestan-den. Ebenso zersetzt sich unter der Analyse der Lehre der FC. ihre Behaup-

6 Confessio helvetica posterior XII, ed. Niemeyer 488; BSRK 186,486 Catechismus Genevensis II, ed. Niemeyer 149; BSRK 137,15; Schneckenburger, Ver-gleichende Darstellung 1,1157 FC Epit. VI 4, Sol. Decl. VI, 7, ed. Hase 595;719; BSLK 794,13; 964,3023 Luther, Sämtliche Schriften ed. Walch 12,312–318 (Weihnachtspostille, Predigt über „Die Epistel am Sonntage nach dem Christtage“ über Gal 4,1–8); WA 10/1/1,360,15–366,2; vgl. RuV 1,220–222

1–7 1. Reformirt … p. 149).] durch Bezifferung nachträglich vor Lutherisch (Zeile 7) gestellt1 1.] am Rand7 2] am Rand11–13 sofern … aufnöthigt;] am Rand22–52,1 Der … Widersprüche.] in eckigen Klammern23 Lehre … usus.] am Rand statt <Ansicht.>

5

10

15

20

25

51§ 15 Gesetz beim Wiedergeborenen

Page 102: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

tung in Widersprüche. FC. IV, nr. 8. (p. 590) sagt richtig: libertas spiritus in electis dei non perfecta, sed multiplici infirmitate adhuc gravata est. Aber diese Thatsache wird, um die Unterwerfung des Wiedergebornen unter das Gesetz zu begründen, so gedeutet, daß er noch den alten Adam als Princip des Sündigens an sich hat, der nach Rom. 7. einen unausgesetzten Kampf im Wiedergebornen hervorruft. Eine genauere Vorstellung über die praktische Haltung des Subjects wird nun nicht dargeboten. Entweder muß man an-nehmen, daß der Wiedergeborene im Moment des Handelns abwechselnd auf den Geist Gottes und dann wieder auf den alten Adam gestimmt ist. Dann sind freilich abwechselnd fructus spiritus und opera legis möglich; aber die letzteren müssen selbst zugleich fructus spiritus sein, da der Pflicht-begriff durch den subjectiven Impuls bedingt ist. Oder man soll annehmen, daß in jedem Momente des Handelns der Kampf zwischen Geist und Fleisch ohne Entscheidung gesetzt ist, dann kommt es gar nicht zum Handeln, we-der in der einen noch in der andern Weise. Jedenfalls ist in der Absicht der Lehre die Einheit des persönlichen Charakters verleugnet. Hiegegen besteht nun die r e f o r m i r t e Lehre zu Recht. Denn das Gesetz ist der systemati-sche Ausdruck des allgemeinen höchsten Zwecks, im Verhältniß zu welchem allein concrete subjective Freiheit denkbar ist. Gal. 6,2 bedeutet der nómov Cristoû das objective Gebot der Liebe, im Unterschied von dem subjectiven nómov toû noòv (Rom. 7,23), mit welchem die FC. jenen Begriff fälschlich gleich setzt, um den Gläubigen außer Verhältniß zu einem o b j e c t i v e n Gedanken von Gesetz zu setzen. – Ferner begeht die FC. den Fehler d i e

1 Nach FC Epit. IV 13 (Affirmativa VIII) ed. Hase 590; BSLK 788,3821 Nach der analogen Stelle in Ms. A Seite 34 bezieht sich diese Kritik auf FC Epit. VI 6 (Affirmativa V): „… hanc vivendi rationem divus Paulus vocare solet in suis epistolis legem Christi et legem mentis.“ ed. Hase 596; BSLK 795,623 Vgl. FC Epit. VI 6 (Affirmativa V), ed. Hase 596; BSLK 794,43

4 als] korr. aus an4f. Princip … an] am Rand5 nach Rom. 7.] am Rand statt <wenn auch der neue Mensch überwiegt,>6–16 Eine … verleugnet.] am Rand (davor <In jedem Falle>) statt <Dann aber sind nach dem folgenden Lehrmomenten gar keine bona opera im Wiedergebornen mög-lich. Die Vorstellung ist nun nicht die, daß die beiden Principien sich abwechselnd be-thätigen, sondern daß in jedem Lebensmoment beide zusammengesetzt sind. Wenn also der Wiedergeborne als Sünder nur opera legis soll hervorbringen können, so ist dies nicht begreiflich weil kein Sünder das Gesetz erfüllen kann. Wenn aber die Triebkraft des heiligen Geistes immer durch die Sünde behaftet ist, so ist im Wiedergebornen auch kein fructus spiritus möglich, also überhaupt keine Art von bona opera. Also ist die Lehre vom tertius usus legis gegen diese Behauptung im Widerspruch.>11f. die … ist.] über den Zeilen statt <hiedurch ist die ethische Einheit des wiederge-bornen Charakters ausgeschlossen.>17f. systematische] am Rand21 fälschlich] folgt <G>

5

10

15

20

52 I. Theil II. Gute Werke

Page 103: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

F r e i h e i t i m h e i l i g e n G e i s t e a l s N a t u r p r o c e ß zu fassen, der freilich ohne Reflexion auf den gesetzten Zweck vor sich geht. Aber die s i t t l i c h e Freiheit wird nach Absichten gemessen, die Absichten aber rich-ten sich nach der Reflexion auf das objective Gesetz. Der Fehler der lutheri-schen Lehre richtet sich nur nach der Thatsache, daß gerade der reife Cha-rakter seine Entschlüsse unabsichtlich faßt und ausführt [38] in Congruenz zu seiner Gesammtlebensrichtung; aber dies ist doch nur bei gewohnten Le-bensaufgaben als ein abgekürztes Verfahren der Fall; bei gewissen Fällen wird aber auch der vollkommenste Charakter seine Freiheit nur durch die ausdrückliche Unterscheidung von Absichten, Vorsätzen und Entschlüssen bethätigen, und durch Bildung eines Pflichtbegriffs nach Erwägung des all-gemeinen und der besonderen gesetzmäßigen Zwecke. A b e r die lutherische Lehre ist in dieser Beziehung die Vorbereitung Kant’s, und enthält das Ele-ment in sich, das Gesetz der Freiheit zu entwickeln (Solida declaratio VI. § 5 p. 718) lex divina cordibus iustorum inscripta est. Dadurch ist die Aussicht eröffnet, daß Rechtsgesetz und Sittengesetz unterschieden und dieses von seiner statutarischen Form befreit werde. Darauf ist die reformirte Confessi-on n i c h t eingerichtet. Vielmehr dient die Uebertreibung ceremonieller Vor-schriften hier dazu das Gesetz auf der statutarischen Stufe festzuhalten. – In-dem die r e f o r m i r t e Theologie den Begriff des Gesetzes für das Leben des Wiedergebornen im positiven Sinne bewahrt hat, hat freilich auch sie alle hier einschlagenden Aufgaben nicht gelöst. Einmal theilt sie mit der lu-therischen Theologie den Mangel, daß man nicht zwischen Rechtsgesetz und Sittengesetz unterscheidet, und das Göttliche Gesetz nach den Merkmalen jenes Begriffes bestimmt, wodurch der eigentlich sittlich werthvolle Begriff der Gesinnung außer dem Gesichtskreis bleibt. Ferner findet man im Deka-log den richtigen Ausdruck des göttlichen Gesetzes, der cultisches und sittli-ches, dies letztere aber in rechtlicher Begrenzung enthält. Indem man nun in der r e f o r m i r t e n Kirche gemäß der hier erstrebten t h e o k r a t i s c h e n Aufgabe den Dekalog zum positiven Gesetzbuch erhob, hat man zwar eine strenge Sitte hervorgerufen, welche der lutherischen in Folge ihrer Grund-sätze abgeht.

Die reformirte Präcisität oder Puritanismus.

14 FC Sol. Decl. VI 5, ed. Hase 718; BSLK 963,4033 Zu Präcisität vgl. GdP 1,104.112 u.ö.

5 richtet … Thatsache] am Rand statt <hat nur die Thatsache zur Entschuldigung>12–19 Aber … festzuhalten.] am Rand25 wodurch] korr. aus durch den27 der] folgt <rechtli>27 cultisches] korr. aus s29f. gemäß … Aufgabe] am Rand33 Die … Puritanismus.] am Rand

5

10

15

20

25

30

53§ 15 Gesetz beim Wiedergeborenen

Page 104: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Aber die Deutung der Sabbathsfeier ist nicht einmal Alttestamentlich, son-dern pharisäisch, und das Bilderverbot ist Merkmal einer Verkürzung der An-sprüche der religiösen Phantasie und der Phantasie überhaupt, die das ganze Leben reformirter Eigenthümlichkeit vernüchtert. Die puritanische Einen-gung des Lebens läßt die Volkssitte verrohen. In dieser Hinsicht entspricht auf der l u t h e r i s c h e n Seite dem Mangel sittlicher Strenge eine Frische der Phantasie und eine Förderung des Gemüthes, welche wirklich als fructus spititus auch im religiösen Sinn zu betrachten sind. In der orthodoxen Epo-che beider Confessionen bringt es freilich der unentwickelte blos rechtliche Sinn des Gesetzes mit sich, daß die öffentliche kirchliche Meinung mit einer blos bürgerlichen Gerechtigkeit vorlieb nahm, anstatt der eigentlich geforder-ten idealen iustitia spiritualis. (Tholuck, kirchliches Leben im 17. Jahrhun-dert I. S. 201f. 209–14.268.301ff.). In dieser Hinsicht ist die Orthodoxie die directe Vorbereitung der rationalistischen Verkürzung der religiösen Sittlich-keit, indem man den Unterschied zwischen iustitia civilis und spiritualis nur in der Theorie aufgab, nachdem die Kirche nie expreß auf die Realisirung dieser gehalten hatte.

[39] § 16. 12 D i e g u t e n We r k e i m Ve r h ä l t n i ß z u m Z w e c k d e r S e l i g k e i t .

Dieses Problem wird in der l u t h e r i s c h e n Lehrbildung auf Anlaß der entgegenstehenden Aufstellung Major’s (§ 14) verneint. FC. IV,2: bona ope-ra penitus excludenda, non tantum cum de iustificatione fidei agitur, sed etiam, cum de salute nostra aeterna disputatur, mit Berufung auf Eph. 2,5.8. Als Grund dafür wird geltend gemacht, daß die guten Werke auch im Gläubigen unvollkommen seien, daß wenn man von ihnen die Seligkeit ab-hängig machen wollte, man vielmehr über dies Ziel ungewiß würde. Durch jene Behauptung also würde den bekümmerten Gewissen der Trost ge-schmälert, und der Werth des Verdienstes Christi beeinträchtigt. Dieselben Rücksichten will man auch auf r e f o r m i r t e r Seite nehmen, und ist be-dacht, jeden Schein der Verdienstlichkeit der Werke zu beseitigen, indem man sie doch als nothwendig zur Seligkeit betrachtet: Helvetica posterior

12 Tholuck, Kirchliches Leben 1,201f. 209–214.268. 301–31221 S. oben S. 46,2521 FC Epit. IV 7 (Affirmativa II), ed. Hase 589; BSLK 787,2531 Confessio helvetica posterior XVI, ed. Niemeyer 498; BSRK 194,26

4f. Die … verrohen.] am Rand6 Strenge] korr. aus Streb20f. auf … (§ 14)] am Rand31 doch] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

54 I. Theil II. Gute Werke

Page 105: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

16: Non sentimus per opera bona nos servari, illaque ad salutem ita esse necessaria, ut absque illis nemo unquam sit servatus. Gratiâ enim, soliusque Christi beneficio servamur, opera necessario ex fide progignuntur. Ac i m -p r o p r i e his salus attribuitur, quae p r o p r i i s s i m e adscribitur gratiae. Die Zweideutigkeit dieser Auskunft entfernt Petrus a Mastricht Theologia theoretico-practica p. 640: Reformati ius beneficiorum istorum suspendunt a sola fide, sed possessionem illorum insuper suspendunt a studio bonorum operum. Die Möglichkeit, daß man ohne gute Werke selig werde, wird auf den Fall beschränkt, daß der Tod die Ausführung des auf sie gerichteten Vorsatzes verhindert. Die Formel Mastrichts ist unverfänglich, denn weder liegt in den Worten die Hindeutung auf einen Rechtsanspruch der guten Werke noch erlauben die Prämissen, an solchen zu denken. Wenn vielmehr auch Calvin (III,14,21) die guten Werke als causae inferiores salutis im Wi-derspruch mit der FC. gelten läßt, so ist durch die Prädestinationslehre gesi-chert, daß dies nur gilt, weil Gott den Erwählten diesen W e g zur Seligkeit geordnet hat. – Indem nun beide Confessionen sich in diesem Punkte wi-dersprechen, so stützt sich die l u t h e r i s c h e Lehre nur auf die Eine Stelle des Paulus, wo aber sözesjai den ersten Eintritt in die Beziehung zum Heil bezeichnet, also gleich dikaioûsjai genommen werden muß; während Pau-lus sonst beide unterscheidet, aber eben die swthría von den guten Werken abhängig macht. [40] Die Seligkeit ist nicht nur der Ausdruck der Vollkom-menheit der geistigen Gemeinschaft sondern zugleich der Ausdruck der Be-friedigung der individuellen Eigenthümlichkeit in der Gemeinschaft. Diese aber kann nicht mit Ausschluß der guten Werke, d. h. der persönlichen Cha-rakterbildung erreicht werden. 2 Kor. 5,10; Gal. 6,9; Kol. 1,4.5; 3,24; Rom. 6,22; Hebr. 12,14; Joh. 3,1–3; 1 Kor. 3,13–15; 2 Tim. 4,8; 1 Thess. 2,19; Phil. 2,16. 1 Joh. 2,28. Die Haltung der lutherischen Lehre erklärt sich vielleicht 1. aus einem richtigen Instinct, indem man in der Fassung des Gesetzes, dem die guten Werke folgen, den R e c h t s begriff, den man nicht auszuscheiden vermocht hatte, wenigstens ahnte, demgemäß die von guten Werken abhängige Seligkeit in Widerspruch mit dem Interesse der Refor-mation getreten wäre. 2. erhebt sich aber die lutherische Gesammtanschau-

5 Petrus van Mastricht, Theologia theoretico-practica 640, zitiert bei Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,7913 Calvin, Institutio III 14,21, CR 30,578f.; ed. Barth 4,238f.

5f. Theologia theoretico-practica] am Rand8 Die] korr. aus Den8 Möglichkeit] über <Fall>18f. den … also] am Rand21 macht] folgt <(Gal. 6,9; Eph. 6,8; [40] Kol. 1,4.5; 3,24; Phil. 3,14; 2 Tim. 4,8.)>21–27 Die … 2,28.] am Rand31 in] korr. aus im

5

10

15

20

25

30

55§ 16 Gute Werke und Seligkeit

Page 106: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ung auf keinem Punkt zum entschiedenen Ergreifen der ethischen Aufgabe. Immer herrscht das Interesse der rein religiösen Auffassung auch des gan-zen Gebietes der Ethik als der Früchte des Geistes, die aus dem Glauben des Subjects ohne subjective Absicht, nach der objectiven Qualität folgen wer-den; und § 15. hat ja erwiesen, daß die lutherische Lehrbildung gar nicht die Vorstellung von der Einheit des Gläubigen als ethischen Subjekts erreicht.

Selig in seinem Thun Jak. 1,25. NB. Stephan Praetorius: Die Seligkeit ist vielmehr Bedingung der guten Werke, als umgekehrt diese Bedingung jener.

Von dem Standpunkt aus erscheint also kein Abstand zwischen iustificatio und salus, sondern indem beide in der göttlichen Bewirkung zusammenfallen, fällt für die letztere jede sonstige menschliche Bedingung fort. 3. wirkt dazu die ursprüngliche Selbstbeobachtung Luthers, die auf allen Punkten des Lu-thertums durchschlägt, daß der Gläubige, indem er immer nur die Unvoll-kommenheit seiner Leistungen wahrnehme, alle Stufen des Heiles der göttli-chen Gnade nur unter Bedingung des Glaubens verdanken könne. Die r e -f o r m i r t e Lehre zeigt auch auf diesem Punkt einen entschiedenen Auf-schluß zur Bearbeitung der ethischen Probleme. Aber das Resultat im vorlie-genden Fall kann man sich nicht einfach aneignen. 1. hängt der richtige Sinn des Satzes von der Geltung der Erwählungslehre ab; diese kann aber in der Gegenwart nicht als anerkannt vorausgesetzt werden. 2. der Pluralis „gute Werke“ bezeichnet das ethische Gebiet des religiösen Lebens so oberfläch-lich, und steht in Relation zu der nicht erfolgten Auseinandersetzung der rechtlichen und der sittlichen Beziehung des Gesetzes, daß der ganze Titel an-ders gefaßt und begründet werden muß. 3. bleibt auch reformirterseits die Frage unbeantwortet, warum Gott den Weg des Erwählten zur Seligkeit durch gute Werke geordnet hat. Erst durch Beantwortung dieser Frage wird jeder Schein von Ueberflüssigkeit wie von Rechtsanspruch der guten Werke weggeräumt.

9 Stephan Praetorius, Achtundfünfzig … Tractätlein, 1622; Opuscula sacra Praetoria-na selecta, 1724; vgl. RuV (2. Aufl.) 1,352; 3,496f.; vgl. den Brief Ritschls an Ferdi-nand Kattenbusch vom 28.6.1880, in: Weinhardt, Albrecht Ritschl 66 f.

1 der] korr. aus des2 auch] korr. aus auf8 Selig … 1,25.] am Rand9f. NB. … jener.] am Rand16 Heiles] folgt <nur>17 nur] korr. aus ver-17 unter … verdanken] unter … ver- am Rand21 Erwählungslehre] Erwählungs über <Prädestinations>

5

10

15

20

25

30

56 I. Theil II. Gute Werke

Page 107: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[48] D r i t t e s C a p i t e l . D a s B e w u ß t s e i n d e r R e c h t f e r t i g u n g a u s d e m G l a u b e n

u n d d e r H e i l s g e w i ß h e i t i m Ve r h ä l t n i ß z u d e n We r k e n u n d z u r B e k e h r u n g

§ 17. 13 D i e U n v o l l k o m m e n h e i t d e r g u t e n We r k e d e s W i e d e r g e b o r e n e n .

Da die katholische Lehre die guten Werke als das Mittel der Justification be-trachtet, so behauptet sie die Möglichkeit einer vollkommnen Erfüllung des Gesetzes durch den Gläubigen (Tridentinum VI,11). Freilich hebt die be-schränkende Äußerung pro huius vitae statu divinae legi satisfecisse (cap. 16) die Behauptung auf, und schließt sich der Ansicht der evangelischen Confes-sionen an. Indessen ist doch klar, daß eine Tendenz auf Legalität in dem Wi-derspruch des katholischen Grundsatzes gegen die evangelische Lehre ab-sichtlich ausgedrückt ist. Das sittliche Werk des Gläubigen bleibt unvollkom-men wegen der in ihm nachwirkenden Sünde, und bildet deshalb für Gott keinen Anlaß zum Urtheil unserer Gerechtsprechung (Apologia p. 91.92.121.191; FC. p. 590.678; Helvetica posterior 16. Belgica 24. Scotica

1 Das ursprüngliche Ms. B* enthielt hier als „Drittes Capitel“ mit § 17–20 den Text, der als Fünftes Capitel mit § 24–27 an die jetzige Stelle eingewiesen ist. Was jetzt (Ms. B) als Drittes Capitel mit § 17–20 an dieser Stelle steht, war ursprünglich (Ms. B*) „Viertes Capitel“ mit § 21–24.9 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 11: „De observa-tione mandatorum, deque illius necessitate et possibilitate“ DH 153910 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 16: „De fructu iustificationis, hoc est, de merito bonorum operum, deque ipsius meriti ratione“ DH 1545–1550; darin der Satz: „nihil ipsis iustificatis amplius deesse credendum est, quo-minus plene illis quidem operibus, quae in Deo sunt facta, divinae legi pro huius vitae statu satisfecisse …“ DH 154616 Apol. IV 166.172.290; XII 142; ed. Hase 91.92.120f. 190f. (III 45.51.169; VI 45); BSLK 194,15; 195,12; 218, 1; 282,3417 FC Epit. IV 13; Sol. Decl. II 81; ed. Hase 590.678; BSLK 788,38; 905,1217 Confessio helvetica posterior XVI, ed: Niemeyer 498 f.; BSRK 194,25–33; 195,17–2617 Confessio belgica XXIV, ed. Niemeyer 375; BSRK 241,3217 Schottisches Bekenntnis XV, ed. Niemeyer 348; BSRK 255,29

1 Drittes] über <V i e r t e s >5 § 17.] am Rand statt <<§>> <21.>6 des Wiedergeborenen.] im freien Teil der Zeile zugefügt12–14 klar … ist.] am Rand statt <die (über der Zeile klar) entgegengesetzte Tendenz einer moralischen und einer legalen Sittlichkeit in dem beabsichtigten wenn auch nicht durchgeführten Widerspruch der katholischen gegen die evangelische Behauptung klar.>

5

10

15

57§ 17 Unvollkommenheit der guten Werke

Page 108: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

15. Catechismus Palatinus 62). Diese Lehre schließt nicht aus, daß die e i n -z e l n e n guten Werke nach Vorsatz und Ausführung gesetzmäßig sein kön-nen; aber indem die fortwährend noch zu bekämpfende Sünde vielfach die Reinheit der Motive trübt, die Energie der Vorsätze lähmt, pflichtmäßige Handlungen zu unterlassen antreibt, so wird [49] der Zusammenhang der einzelnen sittlichen Werke unter sich und mit der sittlichen Gesammtabsicht unvollkommen, und der Werth der letztern geschmälert. Diese Ueberzeugung wird nun in der l u t h e r i s c h e n Lehre und Praxis überaus stark hervorge-hoben, um die Unzufriedenheit des Gläubigen mit seinen Leistungen wach zu erhalten und um ihn anzutreiben, seine Befriedigung nur in der an den Glau-ben geknüpften Rechtfertigung durch Christus zu suchen. Dies entspricht dem Vorbilde der persönlichen Erfahrungen Luthers, die jedoch in einseitiger Weise die sittlich-religiöse Gesammtanschauung des Luthertums beherrschen. Die Rücksicht auf die stete Unvollkommenheit der guten Werke läßt im Lu-therthum den Gedanken an die Möglichkeit und Nothwendigkeit sittlichen Fortschrittes nicht aufkommen, sondern die Aufmerksamkeit wird aus-schließlich auf die Sicherung der Rechtfertigung durch den Glauben gerich-tet. Das Vorbild Luthers wirkt hier in der Weise ein, daß nur die hypochon-drische Aufmerksamkeit auf die eigne Unvollkommenheit und die Dispositi-on zum Zweifel am Heile bei den Wiedergeborenen vorausgesetzt wird, nicht das Vertrauen auf die eigne Leistungsfähigkeit im heiligen Geiste. Für jene Stimmung ausschließlich ist der Gesichtspunkt berechnet, daß das Evangeli-um der Trost der bekümmerten Gewissen sei, während es der andern Stim-mung als Motiv der Demüthigung, und den schlaffen Naturen als Sporn vor-gehalten werden müßte. Da nun die energisch Strebenden und von Pflichtbe-wußtsein Erfüllten nie die große Masse bilden, so ist das Lutherthum in die-sem Punkte sehr unpädagogisch, indem es auch dem Nachlässigen und Schlaffen, der die Unvollkommenheit seines Werkes leicht zugesteht, den reichlichen Trost des Evangeliums anbot, worüber die sittliche Zucht und der sittliche Ernst nur Schaden litt, indem nur etwa grobe Laster censurirt, übri-gens aber die bürgerliche Rechtschaffenheit für genügend gehalten wird

1 Catechismus Palatinus LXII, ed. Niemeyer 443; vgl. BSRK 699,1

8 Lehre] korr. aus Lehren17f. gerichtet.] folgt <Bei der Einwirkung>18 Das Vorbild] korr. aus des Vorbildes18–25 wirkt … müßte.] am Rand statt <wird nun aber gar nicht unterschieden zwi-schen den an sich werthlosen asketischen Mönchspflichten und den auch für die ge-sammte religiöse Haltung des Menschen nothwendigen sittlichen Pflichten, die bei aller ihrer bleibenden Unvollkommenheit auch der Forderung eines Fortschreitens unter-worfen werden müssen, wenn das richtige Gleichgewicht auch des religiösen Zustan-des erhalten werden soll.>30–59,1 indem … § 15).] am Rand

5

10

15

20

25

30

58 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 109: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

(oben § 15). (Vgl. Tholuck a.a.O. S. 133.134.166). – Dagegen fordert die r e f o r m i r t e Lehre ein Voranschreiten des Gläubigen in der sittlichen Voll-kommenheit. Catechismus Genevensis (Niemeyer p. 149): Tametsi in hac ter-rena peregrinatione legi nunquam satisfacimus, non tamen hoc supervacuum esse censebimus, quod tam exactam a nobis perfectionem flagitet. Scopum enim, ad quem nos collimare, et metam, ad quam nos eniti convenit, demon-strat, ut quisque nostrum pro modo collatae sibi gratiae ad summam rectitu-dinem vitam suam componere et maiores subinde progressus facere assiduo studio conetur. cf. Catechismus Palatinus qu. 115. Demnach unterscheidet die reformirte Ascetik [50] bestimmte Stufen im Werke der Heiligung (Schneckenburger I. S. 170.172). Unmittelbar liegt hierin kein Widerspruch gegen die Luthersche Lehre obgleich die lutherische Orthodoxie das gleichar-tige Streben des Pietismus als Perfectismus verketzerte; aber indem die refor-mirte Lehre in das ethische Interesse an dem Begriff der Wiedergeburt ein-tritt, und dadurch den Gesichtskreis des Lutherthums überschreitet, so er-giebt sich wenigstens theoretisch ein Gegensatz beider Lehrformen. Derselbe stützt sich auf die abweichende Verwerthung des Gesetzes für den Wiederge-borenen (§ 15). Denn während auf der reformirten Seite die sittlichen Fort-schritte der Gläubigen ihr directes Maaß am Gesetze haben, so dient in der lutherischen Praxis das Gesetz dem Gläubigen vielmehr dazu seine bleibende Sündhaftigkeit zu erkennen, und den Proceß der poenitentia immer wieder zu beginnen. An der reformirten Lehrweise haftet auch nicht der Verdacht einer Förderung der Werkgerechtigkeit. Denn alles noch so hoch gesteigerte sittli-che Streben wird durch den Gedanken der perseverantia sanctorum der elec-tio untergeordnet. – Unter den evangelischen Parteien behaupten die M e -t h o d i s t e n grundsätzlich die Möglichkeit von Vollkommenheit. Jedoch die

1 S. oben S. 50,121 Tholuck, Kirchliches Leben 1,133f. 166–1683 Catechismus Genevensis, ed. Niemeyer 149; BSRK 137,21; zitiert bei Schnecken-burger, Vergleichende Darstellung 1,115f. 1709 Catechismus Palatinus CXV, ed. Niemeyer 458; BSRK 715,411 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,170.17218 S. oben S. 50,1225 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,181f.

5 esse] über der Zeile9 qu. 115.] am Rand statt <p. 458.>12f. obgleich … verketzerte] obgleich … verketzerte, am Rand24f. electio] über <praedestinatio>26 von] über <sittlicher>26–60,4 Jedoch … Denn] am Rand statt ursprünglich <Diese Lehre erscheint schon darum als bedenklich, weil, indem sie einem speciell reformirten Impulse folgt, sie nicht auf die Prädestinationslehre gegründet ist.> und dann am Rand ersetzt durch <d.h. einer solchen allseitigen Gesetzerfüllung, in der die Unvollkommenheit des sittli-

5

10

15

20

25

59§ 17 Unvollkommenheit der guten Werke

Page 110: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

„vollkommene Liebe zu Gott“ ist nicht sittliche sondern religiöse Qualität, und es ist nicht nachgewiesen, wie in ihr zugleich nothwendig eine Vollstän-digkeit der Liebesübung gegen die Menschen eingeschlossen ist. In dem Be-tracht wird vielmehr mit dem statutarischen Gesetz kapitulirt. Denn freilich geben sie zu, daß auch der zur Vollkommenheit gelangte Gläubige Unrecht am Nächsten begehen könne; allein dies finden sie nicht im Widerspruch ge-gen die Vollkommenheit sofern es aus Irrthum, aus Mangel an Einsicht in den vorliegenden Fall hervorgegangen wäre; in solchem Falle komme es zur Uebertretung des Gesetzes, aber nicht zur Sünde. Denn jede Sünde sei Ueber-tretung des Gesetzes aber nicht umgekehrt. Bei dieser Lehre ist es wenigstens noch evangelisch, daß auch der vollkommene Methodist in dem Blute Christi die Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit sucht. Allein trotzdem ent-fernt sich der Methodismus vom evangelischen Christenthum indem die in ihm heimische Abwechselung von Selbstgerechtigkeit und Heilsverzweiflung auf eine Unsicherheit des evangelischen Principes hinweist, welche letztere eintritt, wenn die geglaubte Vollendung als eine Selbsttäuschung sich erweist (Jacoby, Handbuch des Methodismus S. 255ff. Schneckenburger I, S. 181).

Schneckenburger, Vorlesungen über den Lehrbegniff der kleineren prote-stantischen Kirchenparteien, herausgegeben Hundeshagen 1863.

In der Lehre stecken zwei Fehler: 1. Die Isolirung des Verstandes [51] vom Willen. In vielen einzelnen Fällen mag die Beobachtung Recht haben, daß ein Unrecht blos aus Irrthum hervorgeht, und deßhalb Entschuldigung kaum be-darf. Aber diejenige Irrthumsfähigkeit in Folge deren man Unrecht begeht, hängt von der jeweils erreichten aber immer unvollkommnen Stufe des sittli-

17 Jacoby, Handbuch des Methodismus 253–27017 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,181f.18 Schneckenburger, Vorlesungen 136–147

chen Werks und die Sünde überwunden sei. Dies entspricht sowohl dem reformirten Ursprung als der praktischen Richtung des Methodismus. Die Lehre erscheint weniger bedenklich, wo sie nicht auf die Prädestinationslehre begründet also die Möglichkeit des Verlustes der Vollkommenheit vorbehalten ist. Im andern Fall erscheint die Be-hauptung um so gefählicher als die methodistische Bekehrung blos Gefühlserregung ist. (Schneckenburger S. 145)> Die letzten zwei Sätze Die Lehre … S. 145) sind mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt.4 freilich] korr. aus Freilich10f. wenigstens … evangelisch] am Rand statt <inconsequent>12 Ergänzung] korr. aus Vol12–14 Allein … ihm] am Rand statt <Diese Inconsequenz verhüllt aber allein die Ue-berschreitung der Grenze des evangelischen Christenthums nur schwach, die durch die im Methodismus>15 auf … Principes] am Rand statt <bezeugt wird>15 hinweist] über der Zeile18f. Schneckenburger … 1863.] am Rand21 ein] folgt <Irrthum>

5

10

15

20

60 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 111: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

chen Charakters ab. Solcher Irrthum schließt immer Uebereilung, Unbeson-nenheit also einen Mangel an Selbstbeherrschung in sich; deßhalb fordert die richtige Selbstbeurtheilung, in solchen Fehlern einen Mangel an Charakter-entwicklung also Schuld und zwar wegen Zusammenhanges mit der habitu-ellen Sünde zu suchen. Indem die methodistische Ansicht oberflächlich und leichtsinnig ist, läßt sie die so bedingte Vollkommenheit als erschlichen er-scheinen. 2. liegt eine falsche Unterscheidung zwischen Gottes und Nächsten-liebe zu Grunde. Wenn jene vollkommen und diese zugleich aus Irrthum un-vollkommen sein darf, so wird angenommen, daß die Gebiete beider Thätig-keiten auseinanderfallen; aber ihr Gebiet ist identisch. Vgl. unten § 26.

Der ganze Titel von den guten Werken und ihrer Unvollkommenheit ist lo-gisch praktisch und biblisch verkehrt. Ihre Forderung ist auf ein Ganzes gerichtet. Die guten Werke nach dem statutarischen Gesetze sind aber an sich nicht nur eine endlose Reihe, sondern auch im Raumschema gränzen-los; man ist zu allen möglichen Liebeswerken gleichzeitig verpflichtet. Das ist widersinnig, die Unvollkommenheit schon ohne die Sünde nothwendig. Ferner aber vgl. 3rgon in der Einzahl Jak. 1,4.25; 1 Petr. 1,17; 1 Kor. 3,13; Gal. 6,4; Phil. 1,22. Unter welchen Bedingungen steht diese Vorstellung?

§ 18. 14 D a s e t h i s c h e B e d ü r f n i ß d e s W i e d e r g e b o r n e n n a c h G e r e c h t s p r e c h u n g d u r c h C h r i s t u s .

Da die Werke des Wiedergebornen unvollkommen sind, so kann derselbe sie nicht als Grund seines harmonischen Verhältnisses zu Gott betrachten. Cal-vin (III, 14,10) erklärt mit Recht für thöricht, daß Gott einmal durch die Sündenvergebung für das vergangene Leben uns für gerecht erklärt hätte, um uns dann dem Streben nach Werkgerechtigkeit zu überlassen. Sondern 1. der Gedanke der Rechtfertigung durch Christus bezeichnet die principiell ge-

10 S. unten S. 90,1019 § 18 war ursprünglich (Ms. B*) § 22.22 Calvin, Institutio III 14,10, CR 30,571; ed. Barth 4,229,16

60,24 hängt] folgt <habituell zusammen und>4f. und … Sünde] am Rand10 Vgl.] folgt <§ 19.>11–18 Der … Vorstellung?] am Rand19 § 18.] am Rand statt <<§>> <22.> ; darunter am Rand <Die Bedeutung der Recht-fertigung durch den Glauben bleibt unangetastet durch die Verneinung der Unvoll-kommenheit des sittlichen Werkes. // Antithese // 1. gegen Osiandrismus: Keine Recht-fertigung auf Grund der Wiedergeburt // 2. gegen Socinianismus: Keine Sündenverge-bung als Folge des guten Strebens, sondern als Voraussetzung // 3. gegen Pietismus: Keine Isolirung des Rechtfertigungsbewußtseins gegen die Kirche.>25 1.] nachträglich eingefügt

5

10

15

20

25

61§ 18 Bedürfniß nach Gerechtsprechung

Page 112: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

schichtliche Entscheidung des Verhältnisses des Gläubigen zu Gott. Nur in-dem dieser Gedanke über das Gebiet des wiedergebornen Lebens übergreift, ist die Continuität des sittlichen Lebens des Gläubigen mit seinem Sünden-stand gesichert, ist die Ueberordnung der Gemeinschaft des religiös sittlichen Lebens über die individuelle Entwicklung, ist durch die G o t t e s k i n d -s c h a f t eine feste Norm der Heilsgewißheit und ein Regulativ sittlichen Selbstbewußtseins im Wechsel und in der Unvollkommenheit der sittlichen Leistungen gegeben. Der Gedanke von der Rechtfertigung für den Glauben ist in der l u t h e r i s c h e n wie r e f o r m i r t e n Dogmatik die Vorausset-zung der Lehre von der Wiedergeburt; daraus folgt, daß das Bewußtsein des Wiedergebornen immer auf jenen Gedanken hingewiesen ist. In der k a t h o -l i s c h e n Praxis [52] des Lebens kommen aber nur die einzelnen Elemente der Justification zum Bewußtsein; der Gesammtbegriff hat blos objectiv dog-matischen Werth.

Hingegen 2.NB. In der Beichte wird die Rechtfertigung durch den Glauben als Surro-gat für die eigentlich geltende aber unter den Umständen unwirksame Rechtfertigung durch die Werke dargestellt. Disposition zum Socinianis-mus! Gerecht hat in den beiden Fällen von Glaube und Werken keinen identischen Sinn, und die Gerechtigkeit durch Glauben schließt die Aufga-be der Gerechtigkeit durch Werke nicht aus; also kann auch jene nicht das Surrogat für diese sein, und macht sie nicht überflüssig.

Der Werth der reformatorischen Aussage von der Rechtfertigung durch den Glauben besteht nach Chemnitz, Examen Concilii Tridentini p. 127.134, Cal-vin, Institutio III, 12.13 in der Beziehung des Bewußtseins auf das Leben des Wiedergebornen. Es hat sich der Streit der Reformation und des Katholicis-

24 Martin Chemnitz, Examen Concilii Tridentini, 127f.13424 Calvin, Institutio III 12 f., CR 30,553–564; ed. Barth 4,207–220

1 Entscheidung] korr. aus S1 Gott.] folgt am Rand <G e r e c h t aus Glauben und g e r e c h t aus Werken ist kein identischer Begriff.>4–6 die … Gotteskindschaft] am Rand9 wie reformirten] über der Zeile10 Wiedergeburt;] folgt <aber>11 ist.] folgt <In der r e f o r m i r t e n Lehre ist dasselbe ethische Interesse daran ge-gründet, obgleich hier die Lehre von der iustificatio a u c h objectiv von der regenera-tio abhängig gemacht ist,> dazu am Rand <weil das B e w u ß t s e i n von der Rechtfer-tigung nur im wiedergebornen Leben nachgewiesen werden kann.> ; dieser Randergän-zung wird nach der Streichung des ursprünglichen Textes am Rand als Einleitung vor-angestellt <Dies hindert nicht, daß lehrhaft die regeneratio (donatio fidei) dem Begriff der Rechtfertigung vorangestellt wird,> anschließend aber alles gestrichen.12 Praxis] korr. aus Lehre15–22 Hingegen … überflüssig.] am Rand

5

10

15

20

25

62 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 113: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

mus darum gedreht, ob die Stellung des Wiedergebornen zu Gott bestimmt sei durch den Werth der guten Werke zu denen dieser fähig ist, oder durch den empfänglichen Glauben, der sich auf das in Christus über die zur Ge-meinde zu vereinigenden Sünder ausgesprochenen Rechtfertigungsurtheil Gottes richtet. Da jenes Mittel in sich unvollkommen ist, so ist nur dieses zu-reichend, um sowohl der Verzweiflung am Heile als auch der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken. Das Bewußtsein der Rechtfertigung ist in seinem Werthe noch nicht charakterisirt, indem die lutherische Dogmatik es als den Schluß der poenitentia fordert,

sondern es ist der religiöse Regulator für das sittliche Selbstbewußtsein und Werthgefühl der Wiedergeborenen, der in jedem Augenblick wirksam muß sein können, sei es daß das Selbstgefühl des sittlichen Lebens zu stark oder zu schwach ist. Aus der Umkehrung der Stellung der iustificatio und regeneratio in der pietistischen Dogmatik

Freylinghausen Grundlegung der Theologie. – Ueber die neuere Theolo-gie, Schneckenburger II. S. 40

erklärt sich der häufige Fehler der Pietisten, sich als wiedergeboren zu er-kennen an ihrer socialen Gemeinschaft mit gleichdenkenden, an ihrer cli-quenhaften Sitte und Redeweise, und auf d i e s e m Grunde der Kindschaft Gottes auf Rechtfertigung bei Gott zu rechnen, obgleich das lieblose Beneh-men gegen Andersdenkende, das sie ausüben ihnen Zweifel gegen ihre Got-teskindschaft wie gegen ihr Rechtfertigungsbewußtsein erwecken müßte.

und die Pietisten danach verfahren, zugleich aber in ihrer weitern Lebenspra-xis den Gegensatz des göttlichen Gnadenurtheils gegen den Werth ihrer Per-son nicht rein vollziehen. Auf dem ethischen Gebiet des Rechtfertigungsbe-wußtseins erfolgt auch die zureichende Entscheidung gegen den Osiander-schen Rechtfertigungsbegriff. Andreas Osiander nähert sich dem katholischen Begriff insofern, als er iustificatio mit Gerechtmachung übersetzt und gleich

15 Bei Freylinghausen, Grundlegung der Theologie, findet sich die Reihenfolge „Der sechste Artikel von der Wiedergeburt“ 171–181; „Der siebente Artikel von der Recht-fertigung“ 182–194.16 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,40–45 (u.a. Schleiermacher, Steudel, Philippi, I.A. Dorner, C. I. Nitzsch, F.C. Baur)26 Ritschl, Die Rechtfertigungslehre des Andreas Osiander

3f. zur … vereinigenden] am Rand5 Gottes] über der Zeile6 der Verzweiflung] der korr. aus die10–22 sondern … müßte.] am Rand15f. Freylinghausen … S. 40] am Rand18 , an ihrer] folgt <Sitte>22 ihr] korr. aus ihre23–25 und … vollziehen.] in eckigen Klammern (Bleistift)25–64,14 Auf … auf.] in eckigen Klammern

5

10

15

20

25

63§ 18 Bedürfniß nach Gerechtsprechung

Page 114: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

regeneratio setzt; aber er folgt dem Antriebe des Protestantismus, indem er die iustificatio als rein göttliches Werk auffaßt und sie gegen die Bedingtheit durch die Werke freistellt. Seine Grundbegriffe von der Gerechtigkeit im Gläu-bigen, die Gott und Christus selbst ist, deren Realität Gottes Urtheil folgt, und in der die etwa vorhandenen Sünden verschwinden wie ein Tropfen Tinte im Meer, sind physikalisch, chemisch und nicht ethisch. Das Unpraktische der Theorie haben die zeitgenössischen Gegner des Mannes hervorgehoben. Die Lehre raubt den zerschlagenen Gewissen den ihnen nöthigen Trost. Wenn nach Osiander Gott den Menschen gerechtspricht, weil er ihn gerecht ge-macht hat, so hört alle Heilsgewißheit auf, da die Beobachtung der Unvoll-kommenheit der eigenen Werke dem Gläubigen die Gerechtmachung zweifel-haft machen muß, mit ihr aber auch die Gerechtsprechung. Und wenn man sich damit beruhigen soll, daß alle Sünden durch die einwohnende Gerechtig-keit Christi absorbirt werden, so hört die ethische Zurechnung auf.

[53] § 19. 15 D i e s u b j e c t i v e Ve r m i t t l u n g d e r H e i l s g e w i ß h e i t i m G l ä u b i g e n .

Melanchthon in der Apologie der C.A. ist aufmerksam auf die Thatsache, daß die fiducia nicht überall da ist, wo doch Rechtfertigung objectiv vor-auszusetzen ist. (III. § 21.89.155.229) Die Heilsgewißheit in seria poeni-tentia gegen die Katholiken und deren Verständniß. Aufforderung stark zu glauben. Sacramente; Gute Werke als Merkmale des Gnadenstandes Ober-satz: die Allgemeinheit der göttlichen Gnadenverheißung. – Die Melan-chthonische Auskunft ziemlich verschollen, weil sie von Spener als etwas Neues reproducirt wird. – Sie ist unpraktisch, solange die Unvollkommen-heit der guten Werke behauptet wird. Deshalb wird die Auskunft seit Spe-ner in dem Anspruch auf Vollkommenheit aufgenommen.

Das Thema dieses Paragraphen ist innerhalb der lutherischen Orthodoxie vor dem Auftreten des Pietismus nicht sowohl nicht aufgefaßt, als absichtlich ab-gewiesen. Und dies bedeutet wieder die Gleichgültigkeit gegen die ethische Auffassung auch der Phänomene der subjectiven Religiosität. Dogmatisch ist es freilich richtig, daß im Bewußtsein von der Rechtfertigung der Glaube nur

15 § 19 war ursprünglich (Ms. B*) § 23.17 Apol. IV 142.210.276.350; ed. Hase 86.99.116.134 (III 21.89.155.229); BSLK 188,14; 200,26; 214,52; 227,725 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,411f.; vgl. GdP 2,115f.

10 auf,] folgt <wenn>15 § 19.] am Rand statt <<§>> <23.>17–26 Melanchthon … aufgenommen.] am Rand19 21.89.] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

64 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 115: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

die Empfänglichkeit für den Inhalt des göttlichen Urtheils ist. Aber indem das Lutherthum sich darauf beschränkt, dies zu behaupten, wird ignorirt, daß auch diese Empfänglichkeit einem Werden, Wechsel, Entwicklungsfähigkeit unterworfen ist, daß es unter verschiedenen Bedingungen dem Menschen leichter oder schwerer wird, sich auf die reine Empfänglichkeit für die göttli-che Gnade zu stimmen. Vielmehr wird gemäß der Vollkommenheit und Ge-schlossenheit des göttlichen Urtheils, auf das der Glaube geht, vorausgesetzt, daß auch dieser, so wie er von jenem Inhalt berührt und erweckt wird, sich von den unvollkommenen Momenten der Willensbethätigung specifisch abhe-be. Sofern der Beobachtung nicht ausgewichen werden kann, daß der Glaube schwach, spröde, wechselnd ist, so wird hierauf nicht anders Rücksicht ge-nommen, als mit einer Art kategorischem Imperativ, daß man nur entschieden, stark und stetig glauben solle. Diese Zumuthung wird entweder erfüllt, und dann ist in dem Glaubensact die subjective Heilsgewißheit wegen des geglaub-ten Inhaltes eingeschlossen; oder die Zumuthung wird nicht erfüllt, dann kommt das Gemüth nicht zur Ruhe, und eine Heilsgewißheit ist unmöglich weil das Heilsobject gar nicht angeeignet werden. kann. Die Häufigkeit dieser Fälle scheint dem katholischen Grundsatze (Tridentinum VI,9) Recht zu ver-schaffen, daß der iustificatus keine zuverlässige und stetige Heilsgewißheit ha-ben könne und daß die Heilsungewißheit nützlich sei, um den Menschen zu spornen, seine Gerechtigkeit durch Gesetzeswerke zu mehren. Gegen diese Lehre sucht Johann Gerhard (Loci VII, 108f) die lutherische Lehre zu rechtfer-tigen. Die Heilsgewißheit des Glaubens beruht rein auf dem Object der göttli-chen Verheißung; diese ist d|em Gläubigen im göttlichen Worte gegenwärtig und wirkt sich durch dasselbe in das Gemüth ein, denn das testimonium spiri-tus sancti ist intra verbum und nie extra verbum, etwa in einem den Glauben begleitenden Seligkeitsgefühle. Hingegen [54] hatte schon Bellarmin eingewen-det, die Verheißung sei im Worte für Alle enthalten, es frage sich also, mit wel-chem Rechte der Einzelne sie auf sich selbst anwende, und vermuthet doch nur einen menschlich unsichern Schluß zu dem Behufe. Daß Hiob, Paulus, Johan-nes die Heilsgewißheit gehabt haben, beweist nur, daß auch ich sie haben k a n n , nicht aber daß ich sie mit Recht, durch den heiligen Geist habe. Ger-hard weist freilich die ganze Untersuchung als absurd ab; so wie man weiß,

18 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 9 „Contra ina-nem haereticorum fiduciam“, DH 1533f.22 Johann Gerhard, Loci theologici, ed. Cotta 7,108f; ed. Preuss 3,37427 Bellarmin zitiert bei Johann Gerhard, Loci theologici, ed. Cotta 7,108; ed. Preuss 3,373f.

2 wird ignorirt,] am Rand statt <und zu glauben,>20f. und … mehren] in eckigen Klammern (Bleistift)21 diese] korr. aus 1. Bellarmins Zustimmung zu dieser 2. Bellarmins Vertheidigung dieser

5

10

15

20

25

30

65§ 19 Heilsgewißheit

Page 116: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

daß man ein Mensch ist und nicht ein Gespenst, so gewiß sei dem Gläubigen sein Heilsbesitz. Freilich ist es nach dieser Analogie ein richtiges Postulat, daß der Wiedergeborne ein stetiges Bewußtsein von seiner Qualität habe. Aber un-ser menschliches Selbstbewußtsein ist immer v e r m i t t e l t durch die Empfin-dung unserer specifischen Selbstbethätigung, und wo diese aufhört, z.B. beim Blödsinnigen, oder auch im Schlafe, ist auch die im Resultat unmittelbare Selbstgewißheit, Mensch zu sein, aufgehoben. Ebenso muß die Heilsgewißheit, gerade wenn sie a priori ist, immer an den empirischen Momenten des wieder-gebornen Charakters erprobt werden können. Bei jener Vergleichung aber ist die Ungleichheit nicht zu übersehen, daß unser Menschheitsbewußtsein natur-gemäß, unsere Heilsgewißheit übernatürlich ist, also specifischen Selbsttäu-schungen unterliegt, wenn nicht das Bewußtsein von der Uebernatürlichkeit des Heilsstandes an den bestimmten Merkmalen von der Natürlichkeit des Be-wußtseins unterschieden werden kann. Sofern die l u t h e r i s c h e Kirchen-praxis die Thatsache schwachen Glaubens berücksichtigt, wird die Stärkung durch das Abendmahl empfohlen; denn durch das Sacrament wird das göttli-che Verheißungswort dem einzelnen Subject zugeeignet; durch die Verstärkung des Eindruckes des Glaubensobjectes, soll das Gefühl des Glaubensmangels er-gänzt oder aufgehoben werden. Hierin liegt aber die Gefahr, die Wirkung des Abendmahls als opus operatum aufzufassen, und die diesem Bedürfniß ent-sprechende Abendmahls- und Beichtpraxis der lutherischen Kirche ist durch die berechtigte Gegenwirkung des Pietismus gerichtet. –

Calvin dieselbe Beobachtung wie Melanchthon III,2,7 sq. Abweichung im Syllogismus practicus: Es kommt nicht auf die specifische Gefühlswärme an; sondern überhaupt auf die Thatsache des Glaubens, weil wenn dieselbe [55] am studium bonorum operum orientirt ist, der Gnadenstand aus der Erwählung feststeht. Beachte beim Falle des Reformirten das Gleichge-wicht des Einzelnen in der kirchlichen Gemeinschaft. Die Aufgabe des Lu-theraners entbehrt dieses Vorteils. Indessen ist die lutherische Methode nach dem Zeugniß der Schurmann auch in der reformirten Kirche practi-sirt worden. –

23 Calvin, Institutio III 2,7 ff., CR 30,402ff.; ed. Barth 4,15ff.23 S. oben S. 64,17 (Apologie IV)30 Mit Anna Maria von Schurmann (1607–1678) befaßte sich Ritschl 1876 auf Anre-gung der Schrift von Paul Tschackert, Anna Maria von Schurmann, der Stern Utrechts, die Jüngerin Labadies. Ein Vortrag, Gotha 1876 (OR 2,290f). Vgl. GdP 1,206

2 daß] folgt <wir>3 ein] folgt <unmitt>8 gerade] korr. aus wenn21 Kirche] folgt <hat nur die>23–31 Calvin … worden. –] am Rand23 im] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

66 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 117: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[54] Die r e f o r m i r t e Lehre behauptet ebenfalls, daß der Glaube auf Grund der göttlichen Gnadenverheißung die Gewißheit derselben für das Subject in sich schließt. Aber die sonst auch lutherischerseits anerkannte Thatsache, daß die guten Werke Merkmale der Richtigkeit des Glaubens sind (§ 14), hat für die reformirte Lehrweise eine specifischere Bedeutung. Indem [55] auch Cal-vin (III,14,19.20) diese Reflexion nur gestattet auf Grund der reinen Glau-bensgewißheit weil sonst eine Abweichung in die Werkgerechtigkeit stattfän-de, so ist das studium bonorum operum darum ein specifisches Mittel der Heilsgewißheit weil es selbst als reine Gabe Gottes und Zeichen seiner Barm-herzigkeit gelten muß, ferner aber darum, weil für den Reformirten nicht die Rechtfertigung sondern die auf Perseveranz angelegte ewige Erwählung als der letzte Grund des Heiles gilt. Der Lutheraner der seine Heilsgewißheit nur auf Grund göttlicher Rechtfertigung hat, kann dieselbe momentan ganz unge-trübt und authentisch haben, und es ist etwas verhältnißmäßig überflüssiges, daß ihm die Richtigkeit seines Glaubens aus dessen Früchten klar wird. Aber der Reformirte für den das studium bonorum operum in die poenitentia hin-eingehört, der nur in l e b e n d i g e m Glauben der Rechtfertigung als eines i h m geltenden Gutes gewiß wird, mißt diese Lebendigkeit, als Folge seiner ewigen Erwählung an dem studium bonorum operum als dem Merkmal sei-ner Perseveranz und zwar mit Nothwendigkeit (Schneckenburger I, 275). Dar-aus erklärt sich die verschiedene Deutung des testimonium spiritus sancti. Für den L u t h e r a n e r ist es eingeschlossen in das Verheißungswort, auf das sich der Glaube bezieht, also etwas göttlich objectives. Für den R e f o r m i r t e n ist es das Resultat der Reflexion des vom göttlichen Geiste getragenen menschlichen Geistes auf den Zusammenhang der Momente des Heilsstandes; sofern derselbe als vollständig wahrgenommen wird, wird dies dem menschli-chen Geist durch den göttlichen bestätigt. Rerformirterseits wird also ein Wachsthum des Glaubens auch im Verhältniß der Gewißheit der Rechtferti-gung anerkannt; und demnach scheint auch die Rechtfertigung selbst in den Perioden des Anfangs, Fortschritts, der Vollendung sich zu entwickeln (Schneckenburger II,73). Diese Unterordnung der objectiven Wirklichkeit un-ter die subjectiv wechselnden Bedingungen ihrer Auffassung weist aber auch auf Uebelstände der reformirten Lehrweise hin. 1. kann das Bewußtsein der Rechtfertigung wenn der Wechsel der subjectiven Bedingungen auch die Ge-wißheit des Objects leitet, nicht mehr das Gegengewicht gegen die Heilsunge-

4 S. oben S. 46,195 Calvin, Institutio III 14,19f, CR 30,577f.; ed. Barth 4,237f.20 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,27531 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,73

10 nicht] über der Zeile29 scheint] folgt <sich>

5

10

15

20

25

30

35

67§ 19 Heilsgewißheit

Page 118: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

wißheit bieten, welche aus der Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Werke und Unwirksamkeit der Vorsätze hervorgeht. 2. sowie der Gedanke der Praedestination unsicher wird oder wegfällt, so wird die Reflexion auf die gu-ten Werke nicht mehr Erkenntnißgrund für die [56] Rechtfertigung bleiben, sondern Realgrund derselben werden, und hiemit der Uebergang in den Ratio-nalismus Arminianismus Socinianismus gemacht, der zwar nicht die guten Werke als solche, die mangelhaft sind, aber den sie leitenden guten Willen als Grund der Rechtfertigung durch Gott geltend macht.

§ 20. 16 F o r t s e t z u n g . P i e t i s m u s u n d M e t h o d i s m u s .

Die Methode der subjectiven Heilsgewißheit bildet das Problem beider Rich-tungen. Der Pietismus, entstanden auf dem Boden der lutherischen Kirche, weil die kategorische Forderung starken Glaubens zur Heilsgewißheit nicht er-füllt wurde, empfiehlt eine bestimmte Art der subjectiven Thätigkeit als Merk-mal des lebendigen Glaubens, in Analogie zu der bisher reformirten Auffas-sung. Der Methodismus auf dem Boden der reformirten Kirche empfiehlt eine bestimmte Art von objectivem unmittelbarem Eindruck als Merkmal der er-folgten Begnadigung, in Analogie zu der bisher lutherischen Auffassung. Beide Richtungen verknüpfen die Frage nach der subjectiven Heilsgewißheit mit dem Acte empirisch bewußter Bekehrung, und beziehen die Heilsgewißheit aufs ganze Leben nur nach Maaßgabe dieser Erfahrung. Dies ist in der Praxis etwas Neues, da die Kindertaufe und die Erziehung in der Kirche die Bedeu-tung der in der Dogmatik ausgeprägten Lehren von der poenitentia unwirk-sam gemacht hatte. – S p e n e r s praktische Wirksamkeit und seine Vorschläge das Kirchenwesen zu reformiren, sind ebenso wenig mit der Richtung des Pie-tismus solidarisch, als die Thätigkeit Francke’s, die religiös und sittlich ver-wahrloste Jugend zu heben. Christliche Reformgedanken und Wohlthätigkeits-organisation sind bei allen theologischen Richtungen gleich möglich, und He-bung und Erschlaffung in dieser Hinsicht fällt nicht nothwendig mit dem Wechsel der theologischen Richtung zusammen. Spener hat eine Menge Vor-gänger unter den Orthodoxen des 17. Jahrhunderts, und weder sein Practicis-mus noch seine Conventikeleinrichtung sind nothwendig im Widerspruch mit

9 § 20 war ursprünglich (Ms. B*) § 24.

6 Arminianismus Socinianismus] am Rand9 § 20.] am Rand statt <<§>> <24.>10 der] korr. aus des11 entstanden] am Rand12f. weil … wurde,] am Rand19 Acte] folgt <bew>22 Dogmatik] korr. aus Lehre

5

10

15

20

25

30

68 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 119: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

dem orthodoxen Lutherthum; in seiner Theologie ist er durchaus orthodox, und hat nicht die Absicht die Grenzen zu überschreiten. Dennoch hat er durch einzelne Grundsätze, respective Probleme den Pietismus ins Leben gerufen. Im Gegensatz gegen den Intellectualismus der Orthodoxie behauptet Spener daß nur der Wiedergeborne, also nicht schon der illuminatus die rechte Gotteser-kenntniß habe. Hiemit ist auf den Grundgedanken der Reformation zurückge-lenkt. Aber weder ist Spener über seine Meinung klar, noch konnte er, sofern er dabei materiell orthodox blieb, seine Gegner [57] davon überzeugen. Indem Spener die enthusiastische Deutung seines Grundsatzes ablehnte (Gaß II, 423) aber keine andere Deutung fand, so konnte er ihn nicht positiv fruchtbar ma-chen. Und wenn die Gegner, auf seine Behauptung eingehend, sagten: Wir ha-ben die rechte Gotteserkenntniß, also sind wir wiedergeboren, – so konnte er sie nicht widerlegen. Der zweite Grundsatz den Spener dem kirchlichen Me-chanismus entgegensetzte, ist: Die Rechtfertigung oder Sündenvergebung in Predigt, Absolution, Abendmahl können nur die auf sich beziehen, die l e -b e n d i g e n Glauben haben. Er will das Merkmal desselben nicht in ein Frie-densgefühl setzen, da gerade die glaubenskräftigsten Menschen dessen so oft entbehren; er greift also auf den Satz Melanchthons und der Reformirten zu-rück, daß man sie durch die guten Werke als Früchte des Glaubens erkenne. (Gaß II,439). Aber dies ist eine gelegentliche Auskunft, und er hat die Lösung des Problems seinen Nachfolgern hinterlassen. Nur in diesem Maaße ist Spe-ner Urheber des Pietismus; dessen positiver Gedanke hat jenseits seines Ge-sichtskreises gelegen. Der Heiligungspietismus drängt das Interesse an der Rechtfertigung zurück. Menken: Wir haben ein dringenderes Interesse, von der Macht als von der Schuld der Sünde befreit zu werden. Analogie zum Rationa-lismus, der nur den comparativen Begriff der Besserung gegen den positiven der Heiligung aufrecht hält. Hasencamp. – Eine besondere Form, der Pietis-mus F r a n c k e ’ s stellt die Vollziehung des B u ß k a m p f e s als die Probe der Lebendigkeit des Glaubens auf – ist in C o n s e q u e n z der lutherischen Lehre von der poenitentia verfahren (§ 12). Nach dem empirischen Verhältniß

9 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,42320 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,43924 RuV (2. Aufl.) 1,61227 Zu Johann Gerhard Hasenkamp s. RuV 1,566; GdP 1,578

68,31 nothwendig] über <an sich>18 den] folgt <reformirten>18 Melanchthons … Reformirten] am Rand20 (Gaß II, 439).] am Rand23–28 Der … stellt] am Rand statt <Aber indem die nach-Spenersche Generation>27 Hasencamp.] über der Zeile29 auf –] korr. aus auf-/stellte, folgt <ist sie>29 ist in] korr. aus in

5

10

15

20

25

30

69§ 20 Heilsgewißheit (Fortsetzung)

Page 120: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

von contritio und fides wird dem Sünder zugemuthet, die ganze Tiefe seiner Sündenschuld zu erkennen, dies seiner Anschauung einzuprägen, die tiefste Gewissenserschütterung sich abzunöthigen, und dann zur fiducia in Christum und pax conscientiae überzugehen, an den vorangegangenen Erfahrungen aber die Probe dafür zu haben, dies mit Recht und Gewißheit erreicht zu haben. Beiträge zur Geschichte A.H. Franckes von Kramer, S. 50ff. – Proben aus Francke’s Predigten bei Guerike, A.H. Francke S. 68.74.87 (hebt n i e be-stimmt hervor, d a ß d i e c o n t r i t i o a u s d e m G e s e t z komme). – Semler, Lebensbeschreibung I. S. 48. Die Methode ist geeignet entweder zu falscher Sicherheit oder zu Heilsverzweiflung zu führen. Denn die contritio muß eine endlose sein, und hat in sich keine Gewähr, wann sie mit Recht auf-hören und der fiducia Platz machen muß, weil sie selbst nicht, wie in der re-form|atorischen Lehre, aus der fides abgeleitet wird. In der Hinsicht paßt auf den Pietismus, was Calvin über Wiedertäuferische Bußmethode sagt: Omni ra-tionis specie caret eorum deliramentum, qui ut a poenitentia (=contritione) ex-ordiantur, certos dies suis neophytis praescribunt, per quos se in poenitentiam exerceant, quibus [58] demum exactis in evangelicae gratiae communionem ipsos admittunt (III,3,2). Ferner aber ist die pietistische Methode möglichst unlutherisch, sofern ein We r k des unwiedergebornen Sünders der Grund für den Glauben oder wenigstens der hauptsächliche Erkenntnißgrund für dessen Richtigkeit werden soll. Spangenberg (S. 246) ist vielmehr in der Tendenz des Lutherthums, wenn er sagt, man solle den Bußfertigen vielmehr zu Christus weisen, aber auf einer dem reformirten Lehrtypus entsprechenden Einsicht be-ruht sein Satz, daß zur vollen Erkenntniß der eigenen Sünde ein sehr geförder-ter Christenstand gehöre. (Vgl. Hengstenberg Evangelische Kirchenzeitung. 1840. Vorwort). Ecclesiolae aus so methodisch Bekehrten oder sich Bekehren-

69,30 S. oben S. 38,16 Francke, Anfang und Fortgang der Bekehrung A.H. Francke’s von ihm selbst be-schrieben, in: Kramer, Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes 28–557 Guerike, August Hermann Francke 68.74.879 Semler, Lebensbeschreibung 1,4814 Calvin, Institutio III 3,2, CR 30,435; ed. Barth 4,57,721 Spangenberg, Idea fidei fratrum 246 (§ 122)25 Hengstenberg, Vorwort. In: EKZ 26, 1840, 1–4.9–18.17–22.25–31.33–38.41–46.49–62

69,30 § 12] korr. aus § 131 zugemuthet,] folgt <aus dem Gesetz>1 seiner] korr. aus der6–9 Beiträge … S. 48.] am Rand14 über] folgt <Jesuitische und>19 unwiedergebornen] am Rand20f. oder … Richtigkeit] am Rand26–71,6 Ecclesiolae … Einflüsse.] am Rand

5

10

15

20

25

70 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 121: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

den haben den Stempel der Secte und des antikirchlichen Wesens. Die mildeste und versöhlichste Form der Secte bildet die Verfassung der Brüdergemeinde. Indessen hindert das einerseits nicht überall antikirchliche Tendenz (Liefland), andererseits erklärt sich aus der Aufgeschlossenheit des Herrenhuterthums für die Confessionskirchen die Ueberfluthung derselben durch herrnhutisch-pieti-stische Einflüsse. In dieser Hinsicht ist der H e r r e n h u t i s c h e Pietismus im Widerspruch mit dem Franckeschen. Zinzendorf selbst erklärt, nie die Erfah-rung des Bußkampfes gemacht zu haben (Leben von Reichel S. 90.111). Dage-gen stimmt diese Richtung mit der lutherischen und pietistischen Ansicht von dem Ziel der Bekehrung überein, daß dieselbe sich auspräge in „einer festen Ueberzeugung, einem innigen Bewußtsein und einem Gefühl von Gottes Gna-de, von seiner Zufriedenheit mit mir, von der Vergebung meiner Sünde, und daß ich ihm nun angenehm sei in seinem lieben Sohne, und dieses Gefühl macht das Herz ruhig und stille“ (Spangenberg S. 252).

Der Hallische und der Zinzendorfische Pietismus theilen sich in die beiden Functionen der lutherischen poenitentia, um sowohl die contritio als auch die laetitia spiritualis endlich zu verwirklichen. Wegen der Analogie mit der positiven Seite der Sache steht der Herrnhutische Pietismus dem Luther-tum näher als der Hallische, bildet deshalb im 19. Jahrhundert den Ueber-gang zu der Repristination des Lutherthums.

Diese Tendenz beherrscht auch den Pietismus des 19. Jahrhunderts. Wie nun aber die Gesellschafts- und Cultuseinrichtung der Brüdergemeinde nur dazu dient, gewissen Naturen diese Gleichmäßigkeit des religiösen Selbstgefühls zu erhalten; so ist der übrige Pietismus bestrebt, das Gefühl der empirisch be-wußten Bekehrung nicht blos zu erhalten sondern zu erproben an der Entfal-tung von gewissen Uebungen des allgemeinen socialen Lebens, an der socia-len Verbindung mit gleichgesinnten und gleichredenden, an der Uebung ge-wisser gemeinsamer Unternehmungen wie Heidenmission. In allen möglichen Abstufungen von der höchsten und ehrwürdigsten Lauterkeit und Aufrichtig-keit bis zur intriganten Herrschsucht durch gutartige Beschränktheit des Ur-theils und durch gefährliche Bornirtheit hindurch erstreckt sich die Richtung durch die deutsche evangelische Kirche hindurch, und gereicht größtentheils zur Trübung der sittlichen und der theologischen Aufgaben, in welchen die Kirche sich bewegen muß, wenn sie Kirche und nicht Secte sein will. – Der

8 Reichel, Leben des Grafen von Zinzendorf 89f. 111f.14 Spangenberg, Idea fidei fratrum 252 (§ 125 frei zitiert)

4 Herrenhuterthums] korr. aus Herrnhuterthums15–20 Der … Lutherthums.] am Rand16 poenitentia] korr. aus Poenitentia18 dem] Ms.: des33 in] über der Zeile33 welchen] korr. aus welche

5

10

15

20

25

30

71§ 20 Heilsgewißheit (Fortsetzung)

Page 122: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ursprünglich l u t h e r i s c h e Maaßstab der Bekehrung herrscht auch [59] im M e t h o d i s m u s , der unter herrnhutischen Einflüssen entstanden ist. Die Unterschiede zwischen beiden richten sich nach dem zwischen englischer und deutscher Nationalität, reformirtem und lutherischem kirchlichem Hin-tergrunde, aristokratischer und demokratischer Gemüthsart. Die Hauptpoin-te ist die Gewinnung einer passiven Gewißheit, daß Christus für m i c h ge-storben, m i c h geliebt, mir m e i n e Sünden vergeben hat (Jacoby, Hand-buch des Methodismus S. 207.210), ohne daß dies wie in der lutherischen Praxis an die Absolution oder Abendmahl geknüpft würde. Der Erkenntniß-grund hiefür ist die auf die Erregung durch Bußpredigt folgende mit körperli-cher Empfindung zusammentreffende bewußte Gemüthsberuhigung. (über Wesley, Jacoby S. 16). Die ansteckende Verbreitung solcher Phänomene macht dieselben nicht imposant, sondern werthlos und beklagenswerth; be-rechnet auf rohe und lasterhafte Personen.

Combinirt das Herrnhutische Interesse an dem Gefühlseindruck mit der zeitlichen Bestimmtheit des Ueberganges dazu, welche aus der Theorie vom Bußkampf folgt.

Die Erregung der Phantasie und des Gefühls als subjective Probe der Heilsge-wißheit, rein für sich, oder in Begleitung beschränkender socialer Einrichtun-gen ist keine Lösung unseres Problems. Die pietistische und methodistische Auffassung des Christenthums ist nicht, mit Rothe zu reden, III, S. 367ff. die blos religiöse im Unterschied von der religiös-sittlichen; Rothes Urtheil paßt etwa auf das lutherische System, dessen Auffassung der poenitentia jenen Richtungen zu Grunde liegt. Pietismus und Methodismus stellen vielmehr den entscheidenden religiösen Vorgang der Bekehrung in das Licht sittlicher Auf-fassung und reflectirten Strebens, und begründen überhaupt durch die Aufga-be der sittlichen Vollkommenheit ein System religiös sittlichen Lebens, von

7 Jacoby, Handbuch des Methodismus 207.209f.12 Jacoby, Handbuch des Methodismus 16f.21 Rothe, Theologische Ethik 3,367–377 (§ 996)

11 bewußte] am Rand11f. (über … S. 16).] am Rand13f. berechnet … Personen.] am Rand15–17 Combinirt … folgt.] am Rand18 subjective] korr. aus Pr21 nicht] über der Zeile, nach dem Komma eingefügt21 III, S. 367ff.] am Rand22 im … der] über <und nicht die>22 Rothes] über <dazu ist aber das>22f. paßt etwa] über der Zeile23 System] folgt <auszudehnen>24 liegt.] folgt über der Zeile <Aber die>24–73,3 Pietismus … zurück.] am Rand

5

10

15

20

25

72 I. Theil III. Rechtfertigung

Page 123: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

welchem das ursprüngliche Lutherthum fern ist. Aber diese Aufgabe wird vom Boden sektirerischer Stimmung nach einer besonderen Schablone ergriffen, und deßhalb bleiben die Leistungen hinter dem christlichen Ideal zurück. Der gemeinsame Fehler liegt aber darin, daß sie die Bekehrung als göttlichen Act, theils von einem menschlichen Werke, theils von einer bestimmten religiösen Bearbeitung der Seele, theils von dem Eingehen auf gewisse religiös sociale Gemeinschaft so abhängig machen, daß sie e m p i r i s c h auf Stunde angege-ben werden könne. Aber die Bekehrung durch Gott ist nie der Erfolg mensch-licher contritio, sondern deren apriori (§ 13.14). Indem also auch in diesen Kreisen die subjective Vermittlung der Heilsgewißheit nicht nachgewiesen ist, bleibt dies Hauptproblem des evangelischen Christenthums für uns noch un-gelöst. Die herrenhutische Ansicht ist eine Verbesserung der lutherischen Leh-re von der poenitentia zugleich mit Abweisung der subjectiven Vermittlung der Heilsgewißheit. Aber indem sie von denselben Einwendungen getroffen wird, wie die lutherische Lehre, rechnet sie auf die sociale Ordnung der Ge-meinde, um das Seligkeitsgefühl zu erhalten, schiebt also eine objective Ver-mittlung vor, die doch nur für gewisse Naturen wahr und segensreich ist.

[60] V i e r t e s C a p i t e l . D a s R e i c h G o t t e s a l s d a s e t h i s c h e P r i n c i p d e s C h r i s t e n t h u m s .

§ 21. 17 D i e N e u t e s t a m e n t l i c h e Vo r s t e l l u n g v o m R e i c h G o t t e s .

Das Handeln hat einen sittlichen Werth nur indem es auf einen gemeinsa-men Zweck geht, und das Individuum hat den Trieb zu solchem Handeln nur, wenn es den Werth des gemeinsamen Zwecks durch die Erfahrung von

9 S. oben S. 43,23; 46,1918 Was jetzt (Ms. B) als Viertes Capitel mit § 21–23 an dieser Stelle steht, war ur-sprünglich (Ms. B*) „Fünftes Capitel“ mit § 25–27.20 § 21 war ursprünglich (Ms. B*) § 25.

11f. ungelöst.] folgt am Rand mit Bleistift 1862, 19. December Schluß vor Weihnach-ten. // 1864, 10. Juni. // 1865, 8. December12–17 Die … ist.] in kleiner Schrift auf dem Ms. B S. 59 unten noch verbliebenen Platz nachgetragen12f. Lehre … mit] über der Zeile18 Viertes] über <Fünftes>18f. als … Christenthums.] über <und seine Gerechtigkeit.> und im freien Teil der Zeile20 § 21.] am Rand statt <<§>> <25.>22–74,13 Das … Menschen.] am Rand

5

10

15

20

73§ 21 Reich Gottes (Neues Testament)

Page 124: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

seiner Angehörigkeit zu der entsprechenden Gemeinschaft gemacht hat. Der gemeinsame Zweck des sittlichen Handelns auf Grund des christlichen Glaubens, ist das Reich Gottes. Dessen Begriff das Princip der Theologie überhaupt, der Ethik wie der Dogmatik. Herrschaft Gottes im Alttesta-mentlichen Sinne! – Absicht Christi in der Gegenwart Mt. 12,28; Lc. 17,20.21; Mc. 4,11–14; 3,34.35. (Gemeinde Mc. 3,14, Mt. 17,25; Aner-kennung Jesu als des Königs 8,29.) Vorläufige Projection in die Zukunft, Bild vom Lohn. Herrschaft Gottes durch Christus und sittlicher Gehorsam seiner Gemeindeglieder (Mc. 3,34.35; Mt. 5,20; 6,33; 7,21–23. Verände-rung bei den Aposteln. Paulus 1 Kor. 4,20; Rom. 14,17.18. Kol. 1,13; 4,11. Hingegen 2 Thess. 1,5; Jac. 2,5. – Die Synonyme oben. Das Reich Gottes in der Zukunft Verhängniß Gottes und Christi, – aber auch Erzeugniß der Menschen.

Das Reich Gottes ist seinem religiösen und dogmatischen Sinne nach Ge-genstand christlicher Hoffnung. In dieser Eigenschaft gilt es als ein nur von Gott producirtes und den Menschen zu verleihendes, und zwar als ihr höch-stes Gut. Aber weil diese Verleihung an den Menschen an gewisse Bedingun-gen geknüpft wird, ist es zugleich als Gegenstand sittlichen Strebens darge-stellt. (Mth. 6,33). Aber das Verhältniß des Gutes zu dem Streben wird so gedeutet, daß jenes diesem äußerlich hinzugefügt, oder daß der einzelne Strebende in den vom Reich Gottes umschriebenen Raum eintreten werde (Mth. 5,3.10.20; 7,21; 18,3.4.23; 25,34; 2 Thess. 1,5; Jac. 2,5). Das allge-meine Gut, heißt klhronmía (1 Petr. 1,4; Hebr. 9,15; Kol. 3,24; Tit. 3,7), swthría (Hebr. 1,14; 1 Petr. 1,5; 2 Th. 2,13; 2 Tim. 2,10), zwÄ aÌöniov (Mc. 10,17; Joh. 3,36; Jac. 1,12; 1 Petr. 3,7). Die Äußerlichkeit des Verhältnisses wird durch die Vorstellung von dem aequivalenten Lohne geschärft (Mth. 5,12.46; 6,1.2.5.16; Mc. 9,41; Luc. 6,23.35; Joh. 4,36; Kol. 3,24). Der Ge-danke ist in einer Reihe von Parabeln ins Einzelne durchgeführt (M t h . 2 0 , 1 – 1 5 ; 24,46.47; 25,14–28; Luc. 12,37; Mc. 10,28–31). Näher ange-

11 Der Verweis Die Synonyme oben. geht auf die unten im Haupttext folgenden grie-chischen Begriffe, die im Ms. oberhalb des Verweises stehen.

3 Theologie] korr. aus theologischen Ethik6 Mt. 17,25;] über der Zeile9 (Mc.] Schlußklammer fehlt im Ms.14–22 Das … Jac. 2,5).] in eckigen Klammern14 Das] davor <Die Gesetzgebung Christi bestimmt die Gemeinschaft der Menschen im Reich Gottes (§ 20.).>16f. , und … höchstes] am Rand19 (Mth. 6,33).] am Rand23 Gut,] folgt <als Besitz des Einzelnen,>25–75,14 Die … bleibe. –] durch Winkel am Rand eingeklammert29 28–] über der Zeile

5

10

15

20

25

74 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 125: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sehen verändert sich aber die Vorstellung von dem Rechtsanspruch des Würdigen an den aequivalenten Lohn, in d|ie Begnadigung des Würdigen durch die unendlich werthvollere Belohnung des Gottesreiches (Mth. 5,46; 6,20; Luc. 6,23.38; 12,33); in specie ist die Belohnung hundertmal mehr werth als die Leistung (Mc. 10,29.30); der über Geringes getreue Knecht wird über Viel gesetzt (Mth. 25,21–23; Luc. 19,11–27), ja über Alles (Mth. 24,46.47; Luc. 12,43.44); wenn der Herr den Knecht bedient, so ist das kei-ne Aequivalenz für das Umgekehrte (Luc. 12,37); und mit dem Werthe des Himmelreichs ist nichts zu vergleichen (Mc. 8,36.37; Mth 13,44–46). Es ist also nur ein Schein, daß die sittliche Leistung einen Rechtsanspruch ans Gottesreich begründet; die Einkleidung ist von dem Bundesverhältniß her-genommen, aber mit dem Vorbehalt, daß die göttliche Gnade durch den Sinn der überschießenden Belohnung als Grund des höchsten Gutes gesi-chert bleibe. – So bildet sich der Contrast, daß das Gottesreich und die Ein-zelgüter einmal als Gabe Gottes im Gericht [61] dann wieder als Product menschlicher Thätigkeit von Paulus dargestellt werden (Gal. 6,8; Phil. 2,12; Rom. 14,17; 1 Kor. 4,20).

Richtet sich danach, daß der Begriff der activen Gerechtigkeit von Men-schen durch die Anerkennung Gottes überhaupt also auch im Endgericht vollendet wird, zur Realisirung der Weltordnung. Gerechtigkeit das ge-meinnützige zum Frieden unter den Menschen wirksame Handeln. Gerech-tigkeit und Heiligung gleich Pflichtübung und Tugendbildung Jak. 3,13–18; 1 Petr. 2,24; 1,22; 1 Joh. 2,29–3,3; Hebr. 10,32–36; 12,14; Gal. 5,4–6; 2 Kor. 6,6.7; Röm. 6,15–22; 14,17.18.Als Zweck, als Grund und als Mittel des gerechten Handelns entspricht das Reich Gottes dem Begriff des Gutes, als das höchste Gut (im graduel-len und im complexen Sinn), als das zugleich gemeinschaftliche und indivi-duelle Gut (Jak. 1,25). – Katholische Auffassung von G o t t als h ö c h -s t e m G u t zieht die Bevorzugung der Contemplation vor dem thätigen Leben nach sich. Also unprotestantisch.

Aber dieser Widerspruch löst sich, indem das Gottesreich nur von solcher Thätigkeit erreicht respective producirt werden kann, welche um Christi willen, aus dem Glauben an Christus vollzogen wird (Mc. 9,41; 10,29; Mth. 10,37–39; 19,21.29; 5,10.11). Aber nicht nur dies, sondern auch wer an Christus glaubt, und an ihm das Motiv seines Handelns hat, ist schon in das Reich Gottes eingetreten (Mth. 12,28; Kol. 1,13). Also ist das Gottes-reich nur so Ziel des Handelns, sei es durch äußere Aneignung, oder als or-ganisches Product, weil die Angehörigkeit zum Gottesreich schon der

14 So … der] am Rand statt <Damit steht nun aber in noch schärferem>15 einmal … Gericht] am Rand15 dann wieder] über <desselben>18–30 Richtet … unprotestantisch.] am Rand

5

10

15

20

25

30

35

75§ 21 Reich Gottes (Neues Testament)

Page 126: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Grund solchen Handelns ist. Das Gottesreich ist also nicht einseitig göttli-ches oder menschliches Product, sondern ein von Gott durch Christus be-gründeter, durch die Gläubigen zu vollziehender Proceß, welcher ein zu-gleich göttliches und menschliches Product ergeben wird (Mc. 4,26–29:30–32; Mth. 13,24–30:31.32:33:38.41.43:47–50; 20,1–16; 22,2–14; 25,1–13; Luc. 13,19:20.21). Im Verhältniß zu dem dem Gottes-reich correlaten Thun, erscheint der Gedanke des Gottesreiches in der drei-fachen möglichen Stellung: als G r u n d der fraglichen Gerechtigkeit, denn es kann kein Handeln um Christi willen geben, was nicht in der durch Christus verwirklichten Keimgestalt des Gottesreiches seinen Grund findet. Das Gottesreich ist Z w e c k der Gerechtigkeit und wird nach Maaßgabe des wirkl|ich zweckmäßigen Handelns von den dazu gehörigen Menschen producirt. Es ist das M i t t e l , durch welches dasjenige Bewußtsein eigent-hümlich bestimmt wird, das das Handeln begleitet; d. h. das Bewußtsein im Reich Gottes zu wirken und zu handeln, vermittelt die Heilsgewißheit für den Handelnden, daß nämlich derselbe im höchsten Sinne seinen Heils-zweck verwirklicht. Nun bezeichnet aber das Gottesreich nicht einen will-kürlichen relativen Zweck, den Gott mit dem Menschen vorhat; sondern das Gottesreich ist die ethische Exposition des göttlichen Selbstzweckes selbst. In der Dogmatik ist erwiesen,

Dogmatik § 35.daß Christus als der Sohn Gottes derjenige nothwendige und ewige Gegen-stand der göttlichen Liebe ist, in Verhältniß zu welchem Gott seinen persönli-chen Selbstzweck hat und realisirt. So ist der vom Vater geliebte Sohn die dogmatische Exposition des Gedankens von der Liebe als dem Wesen Gottes. Aber der Vater liebt auch im Sohne die ewig von ihm erwählte Gemeinde des Gottesreiches;

1 Joh. 2,5; 4,16.17.diese also, sofern sie um Christi willen thätig ist, dient zur weitern Verwirkli-chung des göttlichen Selbstzweckes der Liebe [62] im Gebiete der sittlichen Freiheit und Menschengemeinschaft; das Reich Gottes ist also die ethische Exposition des göttlichen Selbstzwecks der Liebe.

Vgl. § 16.

33 S. oben S. 54,18

2f. begründeter] folgt <Proceß>6–17 Im … verwirklicht.] in eckigen Klammern13 Mittel,] folgt <jenes Handelns>14 begleitet;] am Rand ohne Einfügungszeichen <Jak. 1,25>21 Dogmatik § 35.] am Rand28 1 Joh. … 17.] am Rand; folgt <Seligkeit im Thun des Werkes Jak. 2,25.>33 Vgl. § 16.] am Rand; davor am Rand <Seligkeit unter der Bedingung des sittlichen Werkes!>

5

10

15

20

25

30

76 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 127: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 22. 18 D a s Ve r h ä l t n i ß d e s R e i c h e s G o t t e s z u m R e c h t .

Wenn das Reich Gottes ein sittlicher Proceß ist, so wird seine Verwirklichung auch schon in der Gegenwart beobachtet werden müssen. Zu diesem Behufe lenkt die katholische Kirche unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie will die von Augustin beschriebene civitas dei in peregrinatione sein. Dies wird darauf be-gründet, daß der Papst und die Bischöfe die Nachfolger des Petrus und der Apostel seien, deren Privilegien auf sie übergegangen seien. Aber 1. enthält der Auftrag der Apostel keine Uebertragung von Herrschaftsrechten ü b e r die Gemeinde;

Freilich doch an Petrus Mth. 16,19, cf. Jes. 22,21.22; Apok. 3,7, aber ver-gleiche damit Mth. 18,18 als Attribut der Gemeinde. Also auch jenes gilt für Petrus nur als Erstling der Gemeinde. Der Vorzug der Apostel besteht darin daß sie die erste Generation der Gemeinde sind, was nicht übertra-gen werden kann.

2. ist die katholische Kirche so direct als Staat prädicirt, wie dieser Begriff dem des Reiches Gottes entgegengesetzt ist. Denn dieses ist die Gemein-schaft aus dem Princip der Liebe, jene aus dem Princip des kanonischen Rechtes; 3. müssen die Genossen des Gottesreiches eine positive und steti-ge Heilsgewißheit haben, eine solche aber wird den katholischen Christen abgesprochen. Also ist die katholische Kirche nicht das Reich Gottes auf Erden. Das Recht und das Reich Gottes stehen zunächst in ausschließen-dem Gegensatz. Das Recht ist die Ordnung der einzelnen und besonderen Zwecke als solcher, sofern dieselben sich in erscheinenden Handlungen verwirklichen. Die Sittlichkeit des Gottesreiches ist die Ordnung der ein-zelnen und besonderen Zwecke durch den absoluten göttlichen Zweck in Handlung und Gesinnung und Antrieb. Ferner aber ergiebt sich, daß so-wenig das Recht je productives Princip sittlicher Gemeinschaft ist, es doch nothwendiges Mittel jeder derselben ist, Ehe, Familie, bürgerlicher Verkehr, Nationalgemeinschaft, sofern es die freie sittliche Thätigkeit auf

5 Augustin, De civitate dei 1 praef. init., PL 41,13; CChrSL 47,1, nimmt sich vor, „… civitatem dei … in hoc temporum cursu, cum inter impios peregrinatur … de-fendere …“

1 § 22.] am Rand statt <<§>> <26.>8 Herrschaftsrechten] folgt <und Königthum Christi>8f. über … Gemeinde] über der Zeile10–14 Freilich … kann.] am Rand23f. als … verwirklichen] am Rand25f. in … Antrieb.] am Rand26–78,2 Ferner … sichert.] in eckigen Klammern29–78,2 sofern … sichert.] am Rand29–78,1 auf … und] über der Zeile

5

10

15

20

25

77§ 22 Reich Gottes und Recht

Page 128: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

den Zweck der Gemeinschaft zusammenfaßt und gegen Hemmungen durch die Anderen sichert. Indem das Reich Gottes nach dem Vorbild der Familie als Gemeinschaft der Kinder Gottes aufgefaßt wird, die unter ein-ander Brüder sind; indem das Recht suchen verboten (Mth. 5,39–41), und der Andere auf den Genuß meines Eigenthums angewiesen ist (Vers 42.), endlich der wenn auch mißlungene Versuch der Gütergemeinschaft in der Gemeinde zu Jerusalem scheinen mit dem Begriff des Eigenthums jedes Object rechtlicher Zwecksetzung aus dem Umfang des göttlichen Reiches auszuschließen. Demgemäß scheinen wenigstens die katholischen geistli-chen Orden, die dem Einzelnen kein Eigenthumsrecht gestatten, dem Reich Gottes eine besondere Stätte zu bereiten, so wie sie in dieser Hin-sicht absichtlich die Bestrebungen der Urgemeinde zu Jerusalem nach-ahmen.

Desgleichen die Wiedertäufer und neuere württembergisch-pietistische Sec-ten (Rapp).

Aber zunächst war dies Unternehmen partiell und freiwillig, und schloß das Eigenthumsrecht der Einzelnen nicht grundsätzlich aus (Act. 5,4). Ferner be-deutet [63] Mth. 5,38ff nicht eine Ausschließung des Eigenthums überhaupt und des Rechtes darauf, sondern nur die Verzichtleistung darauf in den ein-zelnen Fällen. Dies ist auch endlich unumgänglich, n i c h t wegen der Schwä-che der menschlichen Natur, sondern in Folge des Begriffes der sittlichen Freiheit.

iustitia civilis.In dem Willen ist a priori angelegt die Nothwendigkeit seinen Selbstzweck zu erstreben und die Nothwendigkeit gemeinsame Zwecke zu erstreben. Beide Anlagen werden nur in untrennbarer Wechselwirkung realisirt. Die Bestim-mung zur Freiheit in der Gemeinschaft ist der Grund des Rechtes; die Bestim-mung zur Realisirung gemeinsamer Zwecke in der Freiheit ist der Grund der Sittlichkeit. In concreto kann man das Recht nur im Verhältniß zu den sittli-

6 Act 2,4415 Zu Rapp s. Grüneisen, Abriß 94; vgl. GdP 3,174.181

2 Indem] davor <Es scheint nun aber, als ob das Reich Gottes in dieser Hinsicht den anderen sittlichen Gemeinschaften incongruent wäre.>2 das … Gottes] korr. aus es5 42.] folgt <cf. § 18.>; s. unten S. 88,814f. Desgleichen … (Rapp).] am Rand23 iustitia civilis.] am Rand26 Die] korr. aus Jene26f. Bestimmung … Gemeinschaft] am Rand statt <Nothwendigkeit>27–29 die … Sittlichkeit.] am Rand statt <diese (korr. aus dieser) der Grund aller Sitt-lichkeit.>

5

10

15

20

25

78 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 129: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

chen Gemeinschaftszwecken bestimmen; aber Niemand ist auch zu sittlicher Gemeinschaft fähig außer als Rechtssubject, d.h. indem er auch alle Anderen als solche anerkennt. Den weitesten Umfang des Rechtes ergiebt der Begriff des Eigenthums, d.h. d e s Besitzes, d e s Stoffes für meine Zwecksetzungen, in dessen Ausschließlichkeit für mich und in dessen unumschränkter Verfü-gung man von den Anderen anerkannt ist. Das Recht auf Eigenthum wird auch immer gewährleistet durch den sittlichen Werth und die sittliche Aner-kennung der A r b e i t . Wenn also das Reich Gottes die allgemeine Geltung des Eigenthumsrechtes ausschlösse, so würde es auch den sittlichen Werth der Arbeit beeinträchtigen,

Luc 11,41.würde also mit dem Schein einer übersittlichen Gemeinschaft in den Ver-dacht einer widersittlichen verfallen. Aber jenes ist eben nur Schein; cf. 1 Th. 4,11; 2 Th. 3,10–12. Ferner ist das höchste Motiv zum Sittlichhandeln in der Reihe derselben nur dann das höchste, wenn es alle, welche als untergeordne-te Stufen sittlich möglich sind, in sich aufnimmt. Ist also die Arbeit das an sich freilich auch zu unsittlichen Zwecken brauchbare E l e m e n t alles sitt-lich werthvollen Thuns, so kann die Liebe des Gottesreichs nicht den unmit-telbaren Reiz zur Arbeit, das Eigenthum überhaupt ausschließen. Die Anwei-sung Jesu verlangt nur, daß man um des höchsten sittlichen Zweckes willen, im einzelnen gegebenen Falle aus Liebe auf sein Recht an Eigenthum, an Ehre verzichte, und daß man dadurch bethätige, daß die Rechtsordnung nicht der höchste Zweck, sondern Mittel zum sittlichen Zweck sei. In diesem Sinne aber wird seine Geltung im Allgemeinen auch durch das Reich Gottes vor-ausgesetzt. Die Analogie des Reiches Gottes mit der Familie bewährt sich un-ter dieser Bedingung darin, daß wie die Kinder in der Familie n o c h k e i n Eigenthumsrecht ausüben, so soll unter den Kindern Gottes im gegebenen Falle das Recht des Eigenthums, des Ersatzes für eine Ehrenkränkung, der Strafe für eine körperliche Verletzung und dergleichen n i c h t m e h r ausge-übt werden. Aber wie die Glieder der natürlichen Familie den vollen Umfang ihrer Rechtspersönlichkeit erstreben, so setzt das Reich Gottes die allgemeine Geltung der Rechtssphäre als Mittel auch der höchsten sittlichen Aufgabe voraus.

1 aber] über <und>1 auch zu] am Rand statt <zu>11 Luc. 11,41.] am Rand mit Bleistift13–19 cf. … ausschließen.] am Rand23 In] korr. aus ÎOù24 Geltung] folgt <auch>

5

10

15

20

25

30

79§ 22 Reich Gottes und Recht

Page 130: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[64] § 23. 19 D e r B e g r i f f d e s R e i c h s G o t t e s u n d d e r G e r e c h t i g k e i t d e s s e l b e n .

Zu ergänzen nach Palmer, Lehre vom höchsten Gut, Jahrbücher für deut-sche Theologie 5. Band S. 453f.1. Die dogmatischen Formen der Lehre vom regnum Christi.a. Wiedertäufer Zwingli. b Luther. c. Calvin (b. c. fortgesetzt in der Dog-matik beider Confessionen) d. Melanchthon e. Puritaner.2. Pietismus (Coccejus) Kant. 3. Reich Gottes und Beruf siehe unten.4. Positiver Character der Sittlichkeit5. Zusammenfassung aller Gründe der guten WerkeDer ethische Begriff des Reiches Gottes faßt alle die Nothwendigkeitsgrün-de für die guten Werke zusammen (§ 14). In Beziehung auf Reich Gottes

1 § 23 war ursprünglich (Ms. B*) § 27.3 Palmer, Die christliche Lehre 453f.5 Die am Rand in 7 Ziffern entworfene Disposition war wohl dazu gedacht, den ur-sprünglichen Wortlaut des ganzen Paragraphen zu ersetzen. Da sie in der Nachschrift Lange (WS 1867/68) noch keine Spuren hinterlassen hat, kann sie frühestens im SS 1869 verfaßt sein. Dagegen enthält die Nachschrift Eck (SS 1878) für den dortigen § 18 „Der vollständige Begriff für das Reich Gottes“ ein Diktat, das weitgehend dem Entwurf am Rand folgt.6 Zu Wiedertäufer vgl. Ritschl, Prolegomena zu einer Geschichte des Pietismus 21–26.32–36; GdP 1,25; Artikel „Reich Gottes“ 604f.6 Zu Zwingli vgl. Ritschl, Artikel „Reich Gottes“ 605 und unten S. 83,106 Nach RuV 3,364 Anm. 12 dient als Beleg: Köstlin, Luthers Theologie 2,380 mit den dort angegebenen und von Köstlin interpretierten Stellen.6 Calvin, Institutio II 15,4.5; IV 12,1; 20,1–3; CR 364.905.1092; ed. Barth 3,475,30; 5,212,11; 471,12. Vgl. RuV 3. Auflage 3,273 Anm. 17 Melanchthon, Loci 1559, CR 21,920; ed. Stupperich 2/2,639,2; vgl. RuV 3 (3. Aufl.) 274f.7 RuV 3,368 verweist auf Robert Browne, The Life and Manners of All True Christ-ians 15828 Ritschl führt den Gebrauch des Begriffes „Reich Gottes“ im Pietismus auf Jodocus von Lodensteyn zurück, der von Coccejus angeregt wurde; s. GdP 1,152.1818 Ritschl, Artikel „Reich Gottes“ 605 verweist auf Coccejus, Panegyricus de regno dei (1660); GdP 1,140–147.8 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, II. Buch, 2. Hauptstück V.VII; ed. Hartenstein 5, 134.142f.

1 § 23.] am Rand statt <<§>> <27.>1 Der] folgt <ethische>2 der] korr. aus die3f. Zu … 453f.] am Rand mit Bleistift5–81,8 1. … § 17.)] am Rand um die schon vorhandenen Zusätze herum geschrieben6 Wiedertäufer] über der Zeile8 Kant.] davor <3.>

5

10

80 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 131: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

entsprechen die guten Werke der bestimmungsmäßigen Qualität des Sub-jects; – dem Selbstzweck Gottes, – dem Interesse der Seligkeit, – dem Be-dürfniß nach Heilsgewißheit.[65] 6. Reich Gottes im complexen Sinn. Das Allgemeine innerhalb der be-sonderen Arten. Evangelischer Begriff im Gegensatz gegen die Absonder-lichkeit des Mönchthums.7. Höchstes Gut; nicht ist Gott höchstes Gut. Katholischer Grundsatz der Contemplation (aus §. 17).

[64] Das Reich Gottes verwirklicht sich also in der Gegenwart nicht als eine rechtlich geordnete Gemeinschaft mag dieselbe als Staat oder als Kir-che aufgefaßt werden; sondern es w i r d überall da, wo die seinem Prin-cip entsprechende Gerechtigkeit als gemeinsame Aufgabe vollzogen wird (Mth. 6,33); also wo die Praxis aller gemeinsamen sittlichen Zwecke von dem Gedanken des absoluten göttlichen Selbstzweckes geleitet, oder wo die Liebe das Motiv des gemeinsamen sittlichen Handelns ist. Natürlich ist dieser Vorgang nicht empirisch zu messen, da keiner die Motive des Andern völlig durchschauen kann, und da der Erfolg kein reiner Spiegel der Motive ist. Nur die sympathische Ahnung, die auf religiösem Glauben und Hoffnung beruht, kann sich der Verwirklichung des Gottesreiches in der gemeinsamen sittlichen Thätigkeit vergewissern. Dagegen der pietisti-sche Sprachgebrauch, gewisse christliche Unternehmungen, wie Heiden-mission empirisch als Reich Gottes zu bezeichnen. Vgl. Lebensbild von A. Knapp S. 291. „Diese Männer beriethen und besorgten in aller Verbor-genheit die laufenden Angelegenheiten des Reiches Gottes.“ – Die Ge-rechtigkeit des Gottesreichs oder die religiöse Sittlichkeit des Christen-thums hat durchaus positiven Charakter. Es handelt sich nicht blos um Bekämpfung und Ausrottung der Sünde, sondern um diese, vermittels der Durchführung des Princips des neuen Lebens. dikaiosúnh eÌv Ágiasmón Rom 6,19.22. Denn Christus will als Herr des göttlichen Reichs alles er-füllen und mit seinem Zwecke durchdringen (Eph. 1,23; 4,10). Gemäß der richterlich scheidenden Wirkung Christi ist dieser Gedanke nicht im Sinne einer Wiederbringung aller Dinge verständlich; vielmehr wird der Fortschritt des Gottesreichs in der Menschheitsgeschichte immer begleitet

80,13 S. oben S. 46,1922 Albert Knapp, Lebensbild 291

3 Heilsgewißheit.] folgt als Hinweis auf die Fortsetzung Ms. B S. 65: 6. verte!13 (Mth. 6,33)] Ms.: <(>Mth. 6,33)20–24 Dagegen … Gottes.“] am Rand; daneben die Ziffer 2 als Hinweis auf oben S. 80,824 Die] daneben am Rand die Ziffer 4. als Hinweis auf oben S. 80,1028f. dikaiosúnh … 6,19.22.] über der Zeile33 Fortschritt] folgt <der Geschichte>

5

10

15

20

25

30

81§ 23 Reich Gottes und seine Gerechtigkeit

Page 132: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

und durchkreuzt durch die antichristliche Macht der Sünde. Es ist nun eine religiös-sittliche Aufgabe, Gestalt, Maaß und Ziele solcher Erschei-nungen zu verstehen.

Der Kosmos ist dazu bestimmt christianisirt zu werden; – der Kosmos kann Christus nicht aufnehmen. Schlimmere Formen des Antichristen-thums und des Atheismus neben der fortschreitenden Vertiefung der christ-lichen Anschauung.

So sehr nun der Pietismus dem Gedanken eines gegenwärtigen Anbaues des Reiches Gottes folgt, und im Allgemeinen mit unseren Grundsätzen überein-stimmt, so geneigt ist diese Richtung, aus gewissen Weltbewegungen immer wieder auf das Ende der Weltgeschichte, die Wiederkunft Christi etc. zu rech-nen, weil man stets geneigt ist, die Welt in dem schärfern Sinne des Wortes aufzufassen; – und dies, weil man das Reich Gottes empirisch zu denken pflegt; – während der kirchliche Geist auf eine geschichtliche Lösung, Ausein-andersetzung, Ueberwindung gewisser widersittlicher Bewegungen hoffen wird. Ein solcher Streit über die Zeichen der Zeit ist auch nur ein Merkmal einer Unfreiheit des religiös sittlichen Impulses im Pietismus. – Der ethische Gedanke des Reiches Gottes fehlt in der Orthodoxie beider Confessionen. Unter den Aemtern Christi kommt zwar bei beiden sein regnum in Betracht. Dies nun wird l u t h e r i s c h durchaus nicht als Motiv einer gemeinsamen verbreitenden und aufbauenden Thätigkeit benutzt; sondern wieder nur als Motiv des Trostes über die fortdauernde Schwachheit des Gläubigen im Kampf gegen die feindseligen

regnum Christi spirituale[65] Weltmächte. Dem entspricht, daß auch schon das orthodoxe Luther-thum, nicht erst der Pietismus, eine blos negative, asketische Sittlichkeit vor-zeichnet; Quenstedt: exercitium bonorum operum vocari potest militia chri-stiana, weil man sich fortwährend des Teufels, der Welt und des Fleisches er-wehren muß; Johann Arnd, wahres Christenthum fesselt die Anschauung im-mer am Anfangsmoment der Buße, und variirt immer die Gedanken, daß man den Sünden absterben müsse um Christo zu leben. Den Gedanken des Reiches Gottes erwähnt er nur einmal als Bezeichnung des individuellen Heilsgutes, nach der Identität von Rechtfertigung und Seligkeit; eine An-

24 Apol. XVI,2; ed. Hase 215 (VIII 54); BSLK 307,4827 Quenstedt, Theologia 4, 30929 Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum Buch I Kap. 6: 1,52–60

4–7 Der … Anschauung.] am Rand12–14 weil … pflegt; –] am Rand13 dies,] über <weil>17 Der] daneben am Rand die Ziffer 5 als Hinweis auf oben S. 80,1124 regnum … spirituale] am Fuß der linken Spalte32 des] folgt <su>

5

10

15

20

25

30

82 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 133: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

schauung positiver sittlicher Production schließt er aus, indem er die irdische Laufbahn als ein Fremdlingsleben nach Hebr. 11,13; 13,14 – bezeichnet. Cal-vin III,6.7 bestimmt die Aufgabe der Heiligkeit und Hineinbildung in Chri-stus ohne den Begriff des Gottesreiches nur negativ: sich von Sünden reinhal-ten; sich selbst verläugnen. Er vermag aber den mäßigen Genuß der Güter auch der sinnlichen als Bestimmung des Menschen zu würdigen (cap. 10). Weiterhin erkennt auch Calvin den Begriff des regnum Christi spirituale an. Seine praktische Organisation schließt sich blos an das Verhältniß zwischen Kirche und Staat an, welches er aber nicht d o g m a t i s c h in den Begriff des Reiches Christi aufnimmt. – Gegen Schneckenburger. – Nur Zwingli sagt: regnum Christi est externum. Das Christenthum findet am Staat einen be-stimmungsmäßigen gesetzlichen Organismus. Erst Spener hat ähnliche Moti-ve dem Lutherthum zugänglich gemacht, zunächst in der Forderung evangeli-scher Vollkommenheit und in der Erweckung chiliastischer Hoffnungen auf Bekehrung der Juden, sittliche Vollkommenheit der christlichen Gemeinde. Seit Francke ist die Heidenmission die Gestalt in welcher die Pietisten mit Vorliebe und einem gewissen idealen Schwung das Reich Gottes anbauen, ferner eine Menge Werke christlicher Barmherzigkeit. Aber einen verküm-mernden Einfluß übt ihre subjective Religiöse Methode und ihr geschichtlich beschränkter Blick. –

2 Calvin, Institutio III 6 f., CR 30,501–514; ed. Barth 4,146–1616 Calvin, Institutio III 10 „Quomodo utendum praesenti vita, eiusque adiumentis“, CR 30,528–532; ed. Barth 4,177–1817 Genfer Katechismus I ed. Niemeyer 129; BSRK 120,14f.; vgl. RuV 3,36410 Nach Schneckenburger, Vergleichende Darstellung, bezieht die reformierte Theo-logie das königliche Amt Christi sowohl auf die Gnade als auch abgeleiteterweise auf die Tätigkeit der Christen in der Welt (137), indem die Weltgestaltung durch die Glaubenden dogmatisch ein Teil von Christi „eigener Königsherrschaft über die Welt ist“ (138). Nach lutherischer Lehre indes rufe der Gedanke an die Königsherrschaft Christi nur Geduld, Vertrauen und Trost hervor, nicht aber operative Tugenden (140).10 Zwingli, Brief an Blaurer 4.5.1828, in: Werke edd. Schuler/Schultheß 8,174–184 (176); CR 96,451–467 (454,13–17)12 Zu Spener s. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,141f.16 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,142 (ohne Nennung von Franckes Namen)

2 nach … 13,14 –] am Rand2–12 Calvin … Organismus.] am Rand statt <Dagegen schließt die reformirte Deu-tung das regnum Christi die Motive einer vorbereitenden Sittlichkeit in sich. Dasselbe ist in der Gegenwart noch nicht vollendet, erst am Ende der Welt, und die Gläubigen haben in Folge der von Christus ausgehenden Heilswirkung die Aufgabe, die Herr-schaft desselben verwirklichen zu helfen.>4f. reinhalten] korr. aus Reinhalten14 auf] über der Zeile

5

10

15

20

83§ 23 Reich Gottes und seine Gerechtigkeit

Page 134: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Bengels apokalyptische Bestrebungen eignen der Theologie den prakti-schen Sinn des Begriffes zu, obgleich seine Schule nie die eschatologische Schale in das richtige Verhältniß zu dem ethischen Kern stellt.NB. Leibnitz, K a n t , Schleiermacher.

Eine eigenthümliche Gestaltung des lutherischen Gesichtskreises vertritt der Herrnhutianismus, in Spangenberg, idea fidei fratrum. Hier fehlt sogar der Ge-danke der Herrschaft Christi; sein Todesleiden gilt als das einzige Motiv der ge-sammten Frömmigkeit und Sittlichkeit (S. 159.350). Der heilige Geist hat nur die Bestimmung, daß durch ihn die Intuition des Leidens Christi und seiner ver-söhnenden Wirkung stetig und intensiv werde (S. 271ff.); die Heiligung findet nur die Bestimmung, daß das in der Bekehrung dem Gläubigen aufgeprägte Bild Christi erhalten und ausgebildet werde (S. 309), und daß die Freundschaft mit Christus und die stille Fröhlichkeit im Umgang mit ihm, die die Traurigkeit aus-schließt, erreicht werde (S. 373.375). Die positive Erfüllung der Gebote wird nur aus dem Privatverhältniß zu Gott und dem Heiland abgeleitet, aus der Dankbarkeit gegen die göttliche Gnade (S. 368), aus Rücksicht auf die Liebe, [66] die Gott in ihrer Aufstellung erwiesen hat und auf die Seligkeit, welche die Erfüllung bereitet (S. 363.364). Diese Vermischung der Frömmigkeit und Sitt-lichkeit rächt sich dann dadurch, daß in der Auslegung des Dekalog das Ver-trauen gegen Gott als Gebot behandelt wird (S. 383) und daß das Gebet auf einen Befehl Gottes zurückgeführt wird (S. 405). – Der starke Einfluß herrnhuti-scher Muster im Kreise des Pietismus prägt demselben gegenwärtig vielfach je-nen Charakter bloßer Religiosität auf, den Rothe für die Sache selbst hält.

1 Zu Bengel s. RuV 1,559–5624 Zu Leibniz’ Lehre vom höchsten Gut s. Erdmann, Grundriß 2,167f.4 Zu Kant s. oben S. 80,8.4 Schleiermacher, Der christliche Glaube (2. Auflage) § 112,4; KGA I/13.2,225,11–296 Spangenberg, Idea fidei fratrum 159.350 (§ 80.168)8 Spangenberg, Idea fidei fratrum 271f. (§ 135)10 Spangenberg, Idea fidei fratrum 309f. (§ 150)12 Spangenberg, Idea fidei fratrum 373.375 (§ 178)14 Spangenberg, Idea fidei fratrum 368 (§ 175)16 Spangenberg, Idea fidei fratrum 363f. (§ 173)18 Spangenberg, Idea fidei fratrum 383 (§ 181)20 Spangenberg, Idea fidei fratrum 405 (§ 193)23 Rothe, Theologische Ethik 2,98 (§ 417 Anm.) „Der Conventikel ist die Geselligkeit als rein religiöse.“

1–4 Bengels … Schleiermacher.] am Rand5f. der … in] am Rand8 (S. … 350).] am Rand17 und] korr. aus (S22 vielfach] am Rand23 Rothe] folgt <bemerklich macht>23 für … hält.] im freien Teil der Zeile

5

10

15

20

84 I. Theil IV. Reich Gottes

Page 135: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[41] F ü n f t e s C a p i t e l . D i e L i e b e z u G o t t u n d z u m N ä c h s t e n a l s d e r I n h a l t d e s G e s e t z e s C h r i s t i .

§ 24. 20 B e g r i f f d e r L i e b e .

Indem die theologische Darstellung der Lehre von den guten Werken eine Mehrheit von Gründen dazu darbietet (§ 14) ohne daß wir sie bisher auf eine Einheit zurückführen konnten, so müssen wir uns am Neuen Testament ori-entiren. Das göttliche Gesetz, nach dem die guten Werke gemessen werden, kann nur für ein bestimmtes Gemeinwesen gelten, und dies ist nach dem Neuen Testament das Reich Gottes; ein Gedanke, der trotz seiner hervorra-genden Wichtigkeit gar nicht im Gebrauch der alten Theologie ist.

Der sittliche Endzweck, das Reich Gottes, findet seine genauere Erklärung durch das Gesetz Christi. Denn man darf erwarten, daß die Bestimmung über die jener Gemeinschaft gemäße Verfahrungsweise die Art derselben deutlicher erkennen läßt.

Das Gesetz des Gottesreiches ist die Liebe gegen Gott, aus ganzem Herzen und die Liebe gegen den Nächsten 6v seautón (Mc. 12,28–33; cf. Joh. 13,34).

cf. Rom. 13,10; Jak. 2,8; 1 Joh. 2,8 Lc. 10,29ff. Abstand vom Alten Testament.– vom HellenismusAntiochos von Ascalon

1 Was jetzt als Fünftes Capitel mit § 24–27 an dieser Stelle steht, war ursprünglich (Ms. B*) „Drittes Capitel“ mit § 17–20. S. oben S. 57,1. – Zum V. Kapitel im Ganzen gehören die Auszüge aus Thomas von Aquino, Summa theologiae pars secunda secun-dae mit den Stellen über die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die Ritschl auf dem hier eingelegten besonderen Blatt (S. 43 a.b) exzerpiert hat (s. unten S. 214).3 § 24 war ursprünglich (Ms. B*) § 175 S. oben S. 46,1921 Antiochos von Askalon Begründer der sog. Fünften Akademie, war in Athen der Lehrer Ciceros. Auf dem eingelegten Blatt S. 43 c.d notierte Ritschl aus: Jacob Bernays „Theophrastos’ Schrift über Frömmigkeit“ S. 101f. die folgenden Sätze, die der Stel-

1 Fünftes] über <D r i t t e s > dazu am Rand NB.!!3 § 24.] am Rand statt <<§>> <17.>4–10 Indem … ist.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert9f. ein … ist.] in eckigen Klammern11–14 Der … läßt.] am Rand12 Christi.] folgt <Sonst ist>16 Mc. 12,28–33] korr. aus Mt <6> 22,3918 cf. … 10,29ff.] am Rand18 Lc. 10,29ff.] später angefügt19–21 Abstand … Ascalon] am Rand

5

10

15

20

85§ 24 Begriff der Liebe

Page 136: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Der nächste Anschein des Ausspruches Christi ist der, daß darin zwei neben einander stehende Verfahrungsarten vorgeschrieben werden. Ferner scheint es, als ob zwar die Liebe zu Gott die Aufopferung jedes selbstischen Triebes einschlösse, daß aber die Liebe des Nächsten ihr Maaß an der vorausgesetz-ten und gestatteten Selbstliebe hätte. Um dies zu entscheiden ist der allgemei-ne Begriff der Liebe festzustellen. Liebe ist eine eigenthümliche Art des durch das Gefühl für den Werth Anderer vermittelten Willens, und zwar ist derselbe als Liebe immer nur auf andere gleichgeartete Wesen gerichtet. Derjenige Wille aber, der die wechselnden und zufälligen Interessen des Andern fördert, ist noch nicht Liebe, sondern erst wenn das Interesse an dem erkannten ei-genthümlichen Selbstzweck des Andern den Willen leitet. Dies Interesse muß aber in stetiger, ununterbrochener, nicht in wechselnder, launischer, abrupter Weise aufgefaßt sein. Demnach ist Liebe derjenige Wille, welcher den Selbst-zweck eines andern gleichgearteten Wesens so erstrebt, daß derselbe als Mo-ment des eigenen Selbstzwecks aufgefaßt wird. Das positive Verhalten zum eignen Selbstzweck ist in der Liebe ebenso nothwendig, wie überhaupt der Wille eine in sich zurückkehrende Reflexbewegung ist. Auch in der Liebe zu Gott ist diese Bedingung unumgänglich. Widersinnig ist die quietistische For-derung Fénélons,

Lodensteyn.

lung von Antiochos im Rahmen des hellenistischen Universalismus gewidmet sind: „Der Werth dieses Universalismus wird dadurch verringert, daß der Peripatetiker [Theophrast] die Grenze zwischen Menschheit und Thierreich verwischt. Diese wird von den Stoikern scharf eingehalten, aber deren Gedanke von der Einheit der Men-schen wird nicht durch die Macht der Liebe, sondern durch die Beherrschung des Welt-staats – Götter und Menschen – durch einheitliche und unerbittliche Gesetze ausge-drückt; sie erweitern nicht das Gefühl für die Familie zum Gefühl für die Menschheit, sondern ersticken jenes durch dieses (S. 101). Beide Systeme [43 d] verschmolzen durch A n t i o c h u s von Askalon dem Lehrer Cicero’s, bei demselben de finibus 5,23,65: In omni honesto, de quo loquimur, nihil est tam illustre, nec quod latius pateat, quam coniunctio inter homines hominum et quasi quaedam societas et communicatio utilita-tum et ipsa caritas generis humani, quae nata a primo satu, quo a procreatoribus nati diliguntur et tota domus coniugio et stirpe coniungitur, serpit sensim foras, cognationi-bus primum, tum adfinitatibus, deinde amicitiis, post vicinitatibus, tum civibus et iis, qui publice socii atque amici sunt, deinde totius complexu gentis humanae.“ – Cicero, De finibus bonorum et malorum 5,23,65, ed. Schiche 188,22–189,1. – Vgl. auch das erweiterte Zitat aus Cicero in: Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion § 10 Anm. b (1. Aufl. 1875) 8; ed. Axt–Piscalar 20.12619 Zu Fénélons s. Feuerlein, Die Sittenlehre 112f.20 Zu Lodensteyn s. GdP 1,155.169f.

6f. durch … vermittelten] am Rand12 launischer,] korr, aus Lau20 Lodensteyn.] am Rand

5

10

15

20

86 I. Theil V. Die Liebe

Page 137: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

daß die Liebe zu Gott eventualiter von der Seligkeit absehen müsse. Denn dieses Gefühl ist die nothwendige Begleiterin der Liebe zu Gott, weil diese mit dem Gedanken correlat [42] ist, daß Gott den höchsten denkbaren Werth für den Menschen hat, dieser aber den Willen nur so in Bewegung setzt, wie dieser Werth in dem Lustgefühl anerkannt wird. Auch das Neue Testament gebietet nicht etwa eine formale Selbstlosigkeit in der Liebe. Viel-mehr wird wer sein Leben um Christi willen aufopfert es wiedergewinnen (Mc. 8,35; Joh. 12,25), also ist jene Forderung nur unter Bedingung dieser Absicht gemeint. Nur auf eine Menge möglicher Zwecke soll man aus Liebe zu Christus verzichten, die jeweilig den Selbstzweck erfüllen, aber anstatt ih-rer soll eben das Interesse an dem Selbstzweck Jesu diesen erfüllen. Auch die freiwillige Aufopferung Christi aus Gehorsam gegen Gott schließt keine for-male Selbstlosigkeit in sich, sondern die Absicht auf die eigne Verklärung (Joh. 10,17; 17,4:5). D.h. Christus erstrebt auch in der vollsten Realisirung seiner Liebe gegen Gott und Menschen diejenige Ausgestaltung seines Selbstzwecks, zu welcher er in seinem Verhältniß zu Gott Anlage und. Be-stimmung in sich trug. Indem nun die gebotene Nächstenliebe ihr Maaß an dem 6v seautòn sc. Àgapâv findet (Eph. 5,28), so braucht diese Selbstliebe gar nicht nothwendig als Egoismus gedacht zu werden. Vielmehr steht die Erklärung Christi auf einem anderen Felde, als das argumentum ad homi-nem in der Erklärung der Gerechtigkeit (Mth. 7,12). Dort bezeichnet die Selbstliebe nicht den Widerspruch gegen die Interessen d|es Anderen, den unmoralischen Egoismus, sondern die reine Form der Willensbewegung, so-fern in ihr immer das Selbst als Zweck feststeht, und der Wille, indem er daraus hervorgeht, auch in dasselbe zurückkehren muß. – Die Liebe ist dem Umfang der Bethätigung nach das höchste denkbare s u b j e c t i v e sittliche Princip. Es ist der Ausdruck der gebildeten sittlichen Selbständigkeit, welche

2 diese] korr. aus sie3–5 mit … wird.] am Rand statt <der Reflex der auf Gott [42] gerichteten Liebe in der Selbstempfindung ist.>4 hat,] folgt <und deßhalb>6 Liebe.] korr. aus Liebe zu Christus.6f. Vielmehr] korr. aus Sie7 aufopfert] Ms.: aufopfern9f. aus … verzichten] umgestellt aus verzichten aus Liebe zu Christus18 braucht] über <ist>19 gedacht zu werden] über <zu denken>21 Mth.] korr. aus Mthh.25 muß. –] folgt (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) <Der Inhalt des Ge-setzes Christi erklärt nun in verschiedenen Beziehungen die Nothwendigkeit der guten Werke, in denen die Liebe erscheint, und zu denen sie das allgemeine Motiv bildet.>25 Die] korr. aus 1. ist die25 ist] über der Zeile26 subjective] am Rand27 der gebildeten] der über <einer>

5

10

15

20

25

87§ 24 Begriff der Liebe

Page 138: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

die Stetigkeit des Charakters erreicht hat, und zugleich der Grund der um-fassendsten sittlichen Gemeinschaft mit allen Gleichartigen, des Gottes-reichs. Sie ist der Grund des G u t e n , als des gemeinsamen Uebernatürli-chen; sie fordert eine Erkenntnis des Wa h r e n im Allgemeinen und Beson-dern als ihr Mittel; die aus ihr hervorgehenden Handlungen stellen in ihrer Congruenz mit der Idee das s i t t l i c h S c h ö n e dar (Trendelenburg Na-turrecht S. 48).

[43] § 25. 21 D i e L i e b e z u m N ä c h s t e n u n d z u m F e i n d e .

Der Begriff des Nächsten ist in der zu Grunde liegenden Stelle Lev. 19,18 auf die Volksgenossen beschränkt; aber im Sinne Christi jedenfalls auf alle Menschen erweitert, ohne daß Volksthum oder Religionsgemeinschaft Schranken setzen (Luc. 10,29 ff.; cf. Gal. 3,28; Kol. 3,11). Die gebotene Nächstenliebe ist also allgemeine Menschenliebe, ein Princip des gemein-schaftlichen Handelns, das der antiken Welt fehlt. Der Begriff steht über dem natürlichen Mitleid. Denn der Nächste als Gegenstand der Liebe ist der, welcher als Glied der sittlichen Gemeinschaft vorgestellt ist, dessen Wohl und Tugend zu fördern, meine Pflicht und Lust ist. Das Mitleid rich-tet sich auf die leidende Naturgröße, und das Motiv desselben ist die Un-lust an der Wahrnehmung des Leidens des Andern, welche auf ihre Aufhe-bung hindrängt. Deßhalb ist das Mitleid an sich weder gut noch böse, aber

6 Trendelenburg, Naturrecht 47f.8 § 25 war ursprünglich (Ms. B*) § 18.

3–7 Sie … S. 48).] am Rand statt (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) <Deßhalb entsprechen die diesem Gesetze gemäßen guten Werke 1. sowohl dem göttli-chen Selbstzweck den Gott in seinem Reiche durch d|ie Menschen realisiren läßt; 2. den Bedürfnissen der höchsten denkbaren sittlichen Gemeinschaft; 3. dem sittlich ent-wickelten geheiligten Charakter; 4. dem Interesse der Seligkeit das für den Einzelnen in seinem [43] activen Verhältniß zum göttlichen Reiche gegründet ist, und die realisirt wird, auch ohne als eigentliche Absicht vorgestellt zu werden; also nicht nach einem Rechtsanspruch von Lohn, sondern als der Reflex der Erfüllung des eigenen Selbst-zwecks im Gefühle.> folgt im freien Teil der Zeile und am Rand (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) <Die Bestimmung der guten Werke als Probe der eigenen Heilsgewißheit bleibt noch unentschieden.>3 gemeinsamen] über der Zeile8 § 25.] am Rand statt <<§>> <18.>14–89,9 Der … schuldig.] am Rand14 steht] folgt <auch>17 Wohl und] über der Zeile17 meine] korr. aus mein17 Pflicht … Lust] über <Interesse>19 welche] korr. aus welches

5

10

15

20

88 I. Theil V. Die Liebe

Page 139: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

es kann im Vergleich mit allgemeinen Zwecken ebenso leicht unmoralisch sein als moralisch. Die allgemeine Menschenliebe als Gesinnung ist nicht erst dann vorhanden, wenn ich alle einzelnen Menschen kenne oder vorstel-len kann, sondern ist schon vorhanden, wo nur die Vorstellung der Analo-gie über die Beurtheilung des nächsten, besondern Lebenskreises hinaus-führt. Die Stellung des Nächsten, also die Gleichstellung mit dem Familien-glied, mit dem Standes- und Volksgenossen, kommt mir gegenüber jedem zu, der überhaupt mit mir in gesellschaftlichen Verkehr tritt, und gegen je-den so mir gegenübergestellten Menschen bin ich die Liebe schuldig. Inner-halb dieses Umkreises wird nun im Neuen Testament noch die B r u d e r -l i e b e unterschieden, die dem gewöhnlichen regelmäßigen Verkehr ent-spricht, den die Christen mit ihres Gleichen hegen (1 Petr. 1,22; Hebr. 13,1; 1 Thess. 4,9; Rom 12,10; 2 Petr. 1,7; 1 Joh.). Es wird sich fragen, ob blos äuß|ere Zweckmäßigkeit und Möglichkeit den Anlaß zu dieser Specialisi-rung giebt, oder ob ein innerer Grund für die Abstufung Gal. 6,10 wirksam ist. Als das Maaß für die Bruderliebe ist die charakteristische Äußerung Christi über die Versöhnlichkeit zu beachten (Mth. 5,23.24), daß man aus Liebe zum Bruder die Schuld einer Spannung und Entfernung auf sich zu nehmen habe, ohne die Anlässe dazu zu erörtern. Die F e i n d e s l i e b e (Mth. 5,44.45; Luc. 6,35; Rom. 12,20) ist die specifische Probe für den Umfang und die Qualität der allgemeinen Menschenliebe. Denn die Liebe, welche sich nur nach der Gegenliebe richtet, welche auch Sündern möglich ist, ist nur das möglicherweise egoistische, dem Geselligkeitstriebe entspre-chende Wohlwollen, welches noch nicht die Stufe der sittlichen Charakter-bildung erreicht hat. Die Feindesliebe hebt das Verhältniß zu dem Verfolger über die Sphäre des Rechtes hinaus, welches indem es die Einzelzwecke schützt und ordnet, möglicherweise auch egoistische Zwecksetzungen wahrt und berechtigt. Die Feindesliebe also, die auf die rechtliche Messung des bestehenden Verhältnisses verzichtet, ist sie Probe dafür, daß die Liebe mehr ist, als das natürliche [44] Wohlwollen, das regelmäßig so weit reicht, bis eine Verletzung uns an unser Recht erinnert. Indessen beschränkt Chri-stus die Bethätigung der Liebe gegen die Feinde in eigenthümlicher Weise; die positive Bethätigung der Liebe gegen den Feind soll nur bestehen in dem Segenswunsch und der Fürbitte für ihn, nämlich zum Zweck seiner sittlichen Besserung, und in der Darreichung der gewöhnlichen Mittel der Selbsterhaltung (Mth. 5,44; Rom. 12,20). Dagegen fordert das Gebot nichts weniger als die Anerkennung und Unterstützung derjenigen Zwecke

22 Gegenliebe] korr. aus Gegenlieben32 Weise;] folgt <indem er zwar verbietet, das Recht und seinen Schutz gegen einen Widersacher zu suchen (Mth. 5,38–42) so solle doch>33 soll] über der Zeile36 fordert] über <bedeutet>

5

10

15

20

25

30

35

89§ 25 Liebe zum Nächsten

Page 140: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

des Gegners, wegen deren er uns feind ist; der Selbstzweck des Feindes, so-weit er nicht auf Lebenserhaltung beschränkt ist, wird also in der Feindes-liebe nur als hypothetisch guter, vermittels der Hoffnung auf zukünftige Änderung seiner Zwecke, in meinen persönlichen Selbstzweck aufgenom-men. Persönliche Achtung als Bedingung der Liebe Rom. 12,10. Katholi-sche Liebe gegen die Ketzer.

NB. Versöhnlichkeit gegen Brüder und Feindesliebe im Grunde die identi-sche Gesinnung, aber abgestuftes Verfahren, je nach Vorhandensein von Versöhnlichkeit bei dem Andern, oder nicht.

§ 26. 22 D i e L i e b e z u G o t t .

Wie die Liebe zum Nächsten in einzelnen pflichtmäßigen Handlungen ihre Erscheinung findet, so scheint auch das Gebot der Liebe zu Gott als Grund einer eigenthümlichen Art pflichtmäßiger Handlungen gedeutet werden zu müssen. D.h. es scheint, als ob das Gebiet der Cultushandlungen neben das der sittlichen gestellt werden soll. Diese Ansicht hat den Pharisäismus (Mc. 7,11. Mth. 23,23) weiter dahin geführt, wegen des Vorzuges Gottes vor den Menschen die Verpflichtung zu den Cultushandlungen für stärker zu erklä-ren als die zu den sittlichen Leistungen. Freilich liegt das Gegentheil davon in den Worten Christi Mth. 5,23.24; Mc. 2,27.28. Aber hiemit ist noch im-mer offengelassen, daß die Cultushandlungen den sittlichen der Art nach coordinirt sind, obgleich zu beachten ist, daß dann stets die Consequenz zu der Ueberordnung jener über diese drängen wird. Der Katholizismus tritt dem insoweit grundsätzlich bei, als die Contemplation, die intellectuelle Lie-be doch auch nur cultisch und nicht ethisch ist. Allein eine andere Auskunft ertheilt Johannes im ersten Brief. Sofern die Liebe zu Gott unsere Liebe zu den Brüdern begründet (4,11.12), so wird der unsichtbare Gott nicht ge-liebt, wenn die Liebe dem sichtbaren Bruder versagt wird (Vers 19.20). Deß-halb findet unsere schuldige Liebe gegen Gott ihre Erscheinung und Ver-

10 § 26 war ursprünglich (Ms. B*) § 19.

3 vermittels] korr. aus vermittelst4 in] folgt <den>5f. Persönliche … Ketzer.] am Rand7–9 NB. … nicht.] am Rand10 § 26.] am Rand statt <<§>> <19.>15 Diese] folgt <Consequenz>15f. (Mc. … 23,23)] am Rand statt <und Katholicismus>17 den] korr. aus dem19 2,27.28.] Ms.: 2,27.28; korr. aus 2,27.28. am Rand folgt <7,11. Mth. 23,23>22–24 Der … ist.] am Rand

5

10

15

20

25

90 I. Theil V. Die Liebe

Page 141: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

wirklichung in der Liebe gegen die Brüder, und die Erweisung der Bruderlie-be ist zugleich der Beweis der vollen Gemeinschaft Gottes mit uns (Vers 11.12). Also besteht die Liebe gegen Gott [45] in der Beoabachtung seiner Gebote (5,3) der Hauptinhalt sittlicher Art derselben ist aber die Liebe ge-gen den Nächsten (3,23). Der von Johannes befolgte Maaßstab ist der, daß sichtbare Handlungen als solche nicht an den unsichtbaren Gott hinanrei-chen; sofern also die Liebe gegen Gott f o r m e l l von der gegen die Men-schen unterschieden werden soll, so kann sie nur in dem innern, noch nicht sichtbaren Willensverlaufe, in den Gesinnungen des Gehorsams, der Ehr-furcht und Demuth gegen Gott nachgewiesen werden, in denen auch die specifische Unterordnung des Menschen gegen Gott ausgedrückt wird, die Gottes Erhabenheit fordert, neben der Gleichartigkeit die uns möglich macht ihn zu lieben. Demnach kann auch Christus als der unsichtbar ge-wordene Herr nicht Gegenstand einer b e s o n d e r n Liebesäußerung sein, sondern nur Gegenstand der ehrfürchtigen, demüthigen und gehorsamen Gesinnung sein. Zwar hat Christus seine Jünger als Freunde, nicht mehr Knechte, bezeichnet, weil er ihnen den ganzen Willen Gottes anvertraut habe, und unter der Bedingung, daß sie ihn beobachten (Joh. 15,14.15). Al-lein daraus ist kein Recht zu einer Vertraulichkeit gegen den H e r r n Chri-stus abzuleiten, wie sie in der herrnhutischen Manier des Seelenverkehres mit Christus erkünstelt wird. Dem entspricht bei Zinzendorf die vorherr-schende Betonung der Menschlichkeit Christi, und allerdings verletzt die herrnhutische Cordialität und Zärtlichkeit gegen Christus die Idee seiner Gottheit. Die Freundschaftserklärung eines höherstehenden Menschen be-rechtigt nicht zur Erwiederung dieses Verhältnisses schon nach dem natürli-chen Anstandsgefiihl, und die Apostel nennen sich stets doûlov )Ihsoû Cristoû.

NB. Die Deckung zwischen Gottes- und Menschenliebe in Hinsicht der Er-scheinung folgt daraus, daß das Gottesreich die Erfüllung des göttlichen Selbstzweckes ist. Die Liebe zu Gott aus allen Kräften bedeutet nicht blos den quantitativen Abstand Gottes gegen mich, sondern auch den des Rei-ches Gottes gegen mich.Liebe gegen Gott und Christus ist das Stichwort aller Mystiker, weil sie beide nicht in der Wechselbeziehung zwischen uns und der Welt suchen, wo durch ihre leitende Stellung der Glaube an sie angezeigt ist. In allem kirchlich gemeinschaftlichen Christenthum hat diese Instanz ihr unver-äußerliches Recht. – Sentimentalität des HohenLieds.

20 sie] korr. aus es21–24 Dem … Gottheit.] am Rand28–37 NB. … HohenLieds.] am Rand35 durch … Stellung] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

91§ 26 Liebe zu Gott

Page 142: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 27. 23 D i e G e s e t z g e b u n g C h r i s t i .

Dekalog: A c h t u n g des Nächsten, neutral gegen die Gemeinschaft; man kann achten ohne zu suchen.

Indem Christus das Gebot der Liebe gegen Gott und Nächsten ausspricht, so will er damit nur auf das Gesetz des Mose zurückgreifen. Aber da er den Sinn der Nächstenliebe erweitert, und die Gebote, welche dort als einzelne neben anderen stehen, als Hauptgebote auszeichnet, so stellt er sein Gesetz zugleich in Identität und in Gegensatz gegen das mosaische. Beide Beziehun-gen werden durch die Bergpredigt erläutert, und zugleich warum Jesus kein systematisches Gesetz wie Mose gegeben hat. Ferner wird sich ergeben, in welchem Sinne die von Christus specialisirten Lebensregeln ausführbar sind. – Indem Christus erklärt, das Gesetz nicht auflösen sondern es erfüllen zu wollen, verfährt er im Allgemeinen so wie mit dem mosaischen Gebot der Liebe. Allein in den Proben der plärwsiv (Mth. 5,21 ff) [46] tritt neben den Steigerungen der Pflichten auch manche Ueberschreitung und Beseitigung mosaischer Satzungen auf, und es frägt sich, ob die einzelnen Umdeutungen der mosaischen Gebote das mosaische Gesetz wirklich unversehrt lassen. Mth. 5,17 ist nicht die Rede vom mosaischen Gesetz allein, sondern von der Einheit: Gesetz und Propheten, also von einer Größe, die nicht blos durch Moses sondern auch durch die Propheten vertreten ist, sofern dieselben die Gesetzgebung fortsetzen. Jene Größe ist ferner als das Maaß der sittlichen freipersönlichen Gerechtigkeit (Vers 20) gemeint. Indem also nicht mehr der historische Titel der Heiligkeit aufgefaßt ist, ist die Scheidung des sittlichen von dem ceremoniellen Stoffe vorausgesetzt, und weder nehmen die folgen-den Erörterungen auf Ceremonialgebote Rücksicht, noch haben die einlei-tenden Sätze solche im Sinne. Ferner bezieht sich die conservative Tendenz Christi ausgesprochenermaßen und sachlich nur auf die Gesetzgebung im Ganzen, so wie sie durch die Tendenz der Gerechtigkeit, die Christus fest-hält, bezeichnet ist; dagegen finden Aufhebungen im Einzelnen statt, sofern ja die Unvollkommenheit der frühern Stufe des Gesetzes darin bestehen muß, daß einzelne Satzungen dem Princip nicht entsprechen. – Der Zusam-menhang von 5,21 hat nicht den Sinn die christliche Moralität der pharisäi-schen Legalität gegenüberzustellen; denn Vers 20 gesteht auch nicht den

1 § 27 war ursprünglich (Ms. B*) § 20.4 Mt 22,37–3912 Mt 5,17

1 § 27.] am Rand statt <<§>> <20.>13 Allgemeinen] folgt <dem am>24 Stoffe] korr. aus Stoffes32 5,21] folgt <Îhatù>

5

10

15

20

25

30

92 I. Theil V. Die Liebe

Page 143: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Pharisäern Legalität zu, da sie Christus sonst nur als Heuchler bezeichnet; sondern es handelt sich um Proben der Gesetzvollendung im Gegensatz ge-gen die theils unvollständigen, theils unrichtigen Ordnungen der alten Zeit, mögen dieselben mit den Worten des Moses allein, oder mit pharisäischen Ergänzungen angeführt werden. Die Unvollkommenheit besteht aber in der Vermischung des sittlichen mit dem rechtlichen Gesichtspunkt, deshalb in der statutarischen Gestalt, endlich in der damit zusammenhängenden Rück-sichtnahme auf die Sünde.

Mc. 10,2–9Dagegen gilt die Gesetzgebung Christi für das Reich Gottes; dies aber ist ge-dacht als unäbhängig von nationalen Schranken und eximirt von der Habi-tualität der Sünde. Die einzelnen von Christus aufgestellten Gebote sind nun so hoch gehalten, und stechen so bedeutend von der durchgängigen Praxis des christlichen Lebens ab, daß die Frage erhoben werden muß, ob sie über-haupt, oder wie sie zur praktischen Ausführung bestimmt sind. –

Praxis des heiligen Franz und der Wiedertäufer.Freilich bestimmte Gebote rechnen doch auf be[47]stimmte Handlungen, und so steht im Allgemeinen gewiß die Absicht Christi auf die Erfüllung sei-ner Anforderungen fest. Aber es kommt darauf an, daß das Lebensgebiet, welchem die Gebote gelten, seine bestimmten Grenzen hat.

G r u n d s a t z u n d P f l i c h t v o r s c h r i f tSo lange das Reich Gottes noch nicht die Lebensverhältnisse der Menschen ausschließlich beherrscht, so lange haben die Gebote Christi nur eine gebro-chene Anwendbarkeit. Indem das mosaische Verbot des Tödtens zum Verbot des Scheltworts gegen den B r u d e r und zum Gebot der unbedingten Ver-söhnlichkeit mit dem B r u d e r erweitert wird, gilt dies wörtlich für den Ver-kehr unter den Genossen des Gottesreiches, denjenigen die über ihre sittli-chen Grundsätze einverstanden sind. Wo dies nicht der Fall ist, ist Zorn Scheltwort und Bewahrung der eigenen persönlichen Ehre gegen den Unver-söhnlichen in der Ordnung. Dem entspricht auch das Verfahren Christi und der Apostel. Vgl. Mc. 3,5; Eph. 4,26. – Mth. 23,17.19; Gal. 3,1; Jak. 2,20. –

16 Zu heiligen Franz vgl. GdP 1,1516 Zu Wiedertäufer vgl. GdP 1,22

6f. deshalb … in] am Rand statt <und>9 Mc. 10,2–9] am Rand15 oder … sie] am Rand16 Praxis … Wiedertäufer.] am Rand20 seine] folgt <ganz>21 Grundsatz … Pflichtvorschrift] zwischen dem ursprünglichen Text und dem Zusatz am Rand (unten S. 94,1–14) nachträglich eingefügt22–24 So … Anwendbarkeit.] in eckigen Klammern26 wörtlich] korr. aus Wörtlich

5

10

15

20

25

30

93§ 27 Gesetzgebung Christi

Page 144: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Mth. 12,34; 23,33; 7,6; 15,26; Phil. 3,2. – Joh. 8,44. Die A f f e c t e , acute Momente des Gefühls der Unlust, Äußerungen des Triebes der Selbsterhal-tung gegen eintretende Hemmungen, Zorn, Furcht, Mitleid, Eifersucht, er-scheinen als sittlich unberechtigt, worin die christliche Ethik mit der stoi-schen verwandt ist. Als Temperamentsart ist die phlegmatische Natur ebenso zur Sünde der Trägheit disponirt, wie die cholerische zur Uebertretung. Die sittliche Erziehung des phlegmatischen Naturells hat vielleicht weniger Schwierigkeiten zu überwinden, aber nur eine affectvolle Natur hat als Cha-rakter eigenthümlich sittlich verbreitende und anziehende Kraft. Die Affecte sind berechtigt, wenn sie von der Richtung des Willens auf den guten End-zweck beherrscht sind, wenn ihre Äußerung quantitativ verkürzt und jede verletzende Erscheinung, jede Häßlichlichkeit von ihnen entfernt wird. Dann wird der Zorn edel, die Furcht Vorsicht oder Gewissenhaftigkeit, das Mitleid Güte, die Eifersucht Wetteifern im Guten. – (Trendelenburg, Naturrecht 48.) Gerade die Liebe als Gesammtlebensrichtung ruft den rechten Zorn gegen Unwahrhaftigkeit und Gottlosigkeit hervor, und giebt deshalb auch zu zorni-gen Scheltworten das Recht. Aber freilich ist dabei nach Mc. 3,5 zu beachten, daß der gerechte Zorn von Mitleid und dem Wunsche nach Besserung des Objectes begleitet ist. Die Erklärung Christi über Ehescheidung ist Mth. 5,31.32 nicht ursprünglich und die Gestattung derselben unter Bedingung des Ehebruchs ist im Vergleich mit Mc. 10,11.12 nicht authentisch. Wenn also die Version der Rede bei Mth. 19,9, welche Scheidung unter Bedingung des Ehebruchs und Wiederverheirathung des geschiedenen Theiles gestattet, in der frühsten christlichen Tradition aufkam, so erklärt sich diese Milderung aus der Rücksichtnahme auf faktische Zustände unter den Christen. In glei-cher Weise können dann aber nach sittlicher und socialer Zweckmäßigkeit auch andere Ehescheidungsgründe gestattet werden, ebenso wie jener bei Matthäus gestattete zurückgenommen werden kann. (1 Kor. 7,15 gilt nicht der böslichen Verlassung überhaupt, sondern der in Ehen zwischen Heiden und Christen). Das Verbot des E i d e s durch Christus ist ganz allgemein, und nicht blos gegen willkürliche Beschwörungen gerichtet, mit Vorbehalt der öffentlich gebotenen Eide. Ausnahmen: Mth. 26,63 (Mc.14,61.62 nicht); Hebr. 6,16; – Rom. 1,9; 2 Kor. 1,23; Phil. 1,8; 1 Thess. 2,5.10. Jedenfalls ist in der Staatsgemeinschaft, in welche noch der Bestand der Sünde [48] hinein-reicht, der Eid unumgänglich, und auch für den Christen Pflicht. Das Verbot, sein Recht gegen einen Gegner zu suchen, ist nothw|endige Folge des Princips

14 Trendelenburg, Naturrecht 48f.

1–14 Die … 48.)] am Rand2 Äußerungen] über <Zeichen>9 sittlich] über der Zeile15–17 Gerade … Recht.] in eckigen Klammern

5

10

15

20

25

30

35

94 I. Theil V. Die Liebe

Page 145: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

der Liebe. Aber schon Paulus gesteht im concreten Falle zu, daß Besitzstrei-tigkeiten unter Christen vor ein Schiedsgericht von Christen zu bringen sind. Vgl. 1 Kor. 6,5–7; – Joh. 18,22.23; Act. 23,2.3; 16,37; 22,25; 25,9.10. Wo es sich um rein individuelles Recht handelt, gegenüber von Gleichgesinnten, ist Verzicht geboten; aber wo der sittliche Beruf der Person einerseits und habi-tuelle Sünde andererseits concurriren, tritt das Recht in seine Wirksamkeit. Ueberhaupt faßt Mth. 18,15–18 den Fall auf, daß das Bruderverhältniß zwi-schen Zweien nicht mehr möglich ist, und gestattet unter bestimmten Bedin-gungen Dispensation davon, also Dispensation von der reinen Liebespflicht. (Weiß, Die Gesetzesauslegung Christi in der Bergpredigt. Studien und Kriti-ken 1858. Heft 1). Also keine statutarischen Gebote für den einzelnen Fall, sondern Grundsätze, deren Anwendbarkeit im einzelnen Fall ein besonderes Urtheil erfordert. Das Ganze als Regel der Gesinnung, d.h. kein statutari-sches sondern ein Gesetz der Freiheit, dessen Grundtypus die persönliche Ge-sinnung Jesu Christi ist.

[66] S e c h s t e s C a p i t e l . D i e c h r i s t l i c h e F a m i l i e u n d F r e u n d s c h a f t .

§ 28. 24 D i e E h e .

Das Reich Gottes wird als allumfassende sittliche Aufgabe nicht jenseits der besonderen sittlichen Gemeinschaften gelöst, sondern gerade innerhalb des natürlichen Wohlwollens.Auf dem Gebiete des Sittlich Guten ist auch der Theil, die Einzelpersön-lichkeit und die engeren besonderen Gemeinschaften, Ganzes, 1. weil beim Guten der Wille ganz ist, 2. weil die besonderen Gemeinschaften nur inso-fern Güter sind, als sie von dem höchsten Gute durchdrungen, ihm absicht-lich untergeordnet sind, 3. weil in dem Zusammenhang des sittlichen Han-delns nicht blos alles Einzelne und Besondere Mittel des Ganzen und Allge-meinen ist, sondern auch umgekehrt.

Wenn das Gottesreich überall da verwirklicht wird, wo die Liebe das Recht zum Mittel herabsetzt, so ist die Familie in ihrer Grundform der Ehe d i e

10 Weiß, Die Gesetzesauslegung Christi

4 gegenüber … Gleichgesinnten,] am Rand11–15 Also … ist.] am Rand16 christliche] in eckigen Klammern (roter Farbstift)19–28 Das … umgekehrt.] am Rand30 die … Grundform] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

95§ 28 Ehe

Page 146: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Form sittlicher Gemeinschaft, welche die nächste Analogie zum Gottesreich hat, und deßhalb auch am leichtesten mit dem bewußten Zweck des Got-tesreiches durchdrungen werden kann. Jene Analogie betrifft aber auch die Bestimmung des Gottesreiches, das ganze Menschengeschlecht trotz aller übrigen physischen und socialen Unterschiede zur sittlichen Einheit zusam-menzufassen; denn die verschiedenen Geschlechter, die in der Ehe einen sittlichen Bund eingehen, bilden die äußersten Gegensätze, in welche das Menschengeschlecht auseinandergeht. Als Grund der Familie, durch die Er-ziehung, ist ferner die Ehe Wurzel aller sittlichen Gemeinschaft, auch zur Fortpflanzung und Ausbreitung des Gottesreichs. Die Ehe hat also ihren sittlichen Werth nicht erst durchs Christenthum empfangen. Demgemäß ha-ben Christus und die Apostel auch nur die Alttestamentliche Auffassung der Ehe anerkennen und auslegen können (Mc. 10,7.8 cf. Gen 2,24; Eph. 5,31).

Die Ehe bei den Propheten das Bild der Gemeinschaft Gottes und des zum Gottesreich erwählten Volkes.

Mann und Weib sind in der Ehe Ein Fleisch, d.h. E i n e s i t t l i c h e P e r -s o n , weil sie Träger Eines in Beiden identischen Selbstzweckes sind.

Dazu dient auch die copula carnalis, in welcher jeder Rückhalt aufgegeben wird, und welche durch die Schamhaftigkeit und durch die monogamische Ausschließlichkeit idealisirt, das heißt zur Wirkung wie zum Anlaß der sitt-lichen Gemeinschaft ausgeprägt wird.

In diesem Gedanken ist also d e r Begriff der Liebe schon ausgedrückt, der als Grundgesetz des Gottesreichs auf das Verhältniß aller Menschen zu ein-ander ausgedehnt wird. Gegen diese Deutung könnte eingewendet werden, daß die gegenseitige Liebe der Ehegatten nur den steten Austausch ihrer bei-derseitigen Selbstzwecke, nicht aber deren Aufhebung in eine Einheit be-gründe. Zur Beleuchtung dieser Frage dient es, wie die Apostel dem Mann die Liebe gegen das Weib, dem Weib den Gehorsam gegen den Mann vor-schreiben (Kol. 3,18.19; Eph. 5,22–28; 1 Petr. 3,1.7); in Folge dessen der Mann als Haupt des Weibes gilt (Eph. 5,23; 1 Kor. 11,7–9), [67] wie Chri-stus als das der Gemeinde. Hiemit ist wenigstens die Einheit des Selbst-zwecks im ehelichen Verhältniß gefordert. In der Liebe des Mannes zum Weibe liegt nothwendig die Anerkennung von deren Ebenbürtigkeit (1 Petr. 3,7). Die Liebe des Weibes zum Mann wird aber geleitet durch das Bewußt-sein von der Ungleichheit der Naturen, und von der Nothwendigkeit der

15 Vgl. Ez 16; Hos 2; Mal 2,11

15f. Die … Volkes.] am Rand19–22 Dazu … wird.] am Rand28 dieser] korr. aus dieses28 wie] folgt <Paulus>

5

10

15

20

25

30

35

96 I. Theil VI. Familie

Page 147: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Unterordnung. Aber dies geschieht, indem nicht das Weib sich zum Mittel des Zweckes des Mannes hergiebt, den sie als einzelnes Subject neben sieh sähe, sondern so, daß sie ihn als Träger des gemeinsamen Verhältnisses ach-tet. Deßhalb darf auch nicht etwa der Mann auf die weibliche Anschauung der Ungleichheit zwischen beiden eingehen, ohne das Verhältniß zu vernich-ten. Daß dies normal ist, ist im Unterschied der psychologisch-ethischen An-lage der Geschlechter begründet. Der Wille des Weibes ist stets durch das Gefühl beherrscht und durch die Sitte gebunden. Sittliche Zweckgedanken wirken auf jenen regelmäßig nur durch diese Medien. Der Wille des Mannes ist zwar auch in unzähligen Fällen hiedurch bestimmt, aber nicht nothwen-dig; sondern seine sittlichen Absichten, Vorsätze, Entschlüsse richten sich eventuell gegen die regelmäßigen Eindrücke seines Gefühls und unabhängig von den sich wiederholenden oder regelmäßigen Zwecken, die die Sitte in sich schließt. Dies gewährleistet die universelle Art des männlichen Willens, erklärt aber auch gerade die Unterordnung des Weibes aus der Rücksicht auf die sittlich normale Ergänzung ihrer Anlage, die dem Manne vergolten wird durch die Sicherheit des sittlichen Taktes und die Mäßigung, welche die Betonung der Sitte der Handlungsweise des Mannes verleiht. – Die rich-tige von dem christlichen Glauben an Gott getragene Ehe ist also eo ipso eine Stätte zur Vollziehung des Gottesreichs; und mag auch die Ehe im Ver-hältniß zum Eigenthum und zum Staate auch ihre Rechtsmerkmale nothwendig an sich tragen, so kommt dies in der sittlich geführten Ehe ei-gentlich gar nicht zum Bewußtsein, und etwaige Störungen werden, wenn die Ehe sittlich gesund ist, nie auf den Maaßstab des Rechtsbewußtseins zu-rückgeführt werden. –

C.A. XVI. De rebus civilibus – ducere uxorem –, nubere. Apologia C.A. XI p. 238: Coniunctio maris et feminae est iuris naturalis. Porro ius naturale vere est ius divinum quia est ordinatio divinitus impres-sa naturae.

Die Ehe ist in dem eben entwickelten Begriff nur als Monogamie denkbar, und ist willkürlich nicht lösbar (Mc. 10,11.12). Die abweichende Version Mth. 19,9 beweist, daß der Standpunkt des Moses (Vers 8) früh in der christ-

26 Confessio Augustana XVI, ed. Hase 14; BSLK 70,9.1727 Apol. XXIII,9.12, ed. Hase 238 (XI 11f.); BSLK 335,41f.; 336,10–12

6 ist im] ist über der Zeile8 beherrscht] korr. aus bedingt9 regelmäßig nur] am Rand9 durch] davor <durch>18 der] korr. aus Îdesù26 C.A. … nubere.] am Rand27–29 Apol. … naturae.] am Rand31–98,5 Die … S. 635.] am Rand

5

10

15

20

25

30

97§ 28 Ehe

Page 148: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

lichen Kirche wieder Platz gegriffen hat. Und hienach könnten also noch an-dere Ehescheidungsgründe gültig werden. Dabei kommt ferner der Unter-schied in Betracht, daß die Ehescheidung in der alten Welt Privatsache war, bei uns in Folge des Christenthums Sache der Obrigkeit geworden ist. Vgl. Rothe III, S. 635. Polygamie und Polyandrie treten in der Geschichte nur da auf, [68] wo die Ehe als Mittel zu ökonomischen Zwecken, also nicht sittli-cher Selbstzweck ist. Dem Sinne dieser Formen der Ehe analog ist aber auch die Ansicht, daß sie entweder nur Mittel der geregelten und gesicherten Fort-pflanzung des Geschlechts oder der Beschränkung der geschlechtlichen Li-cenz sei. Dies ist im Trauformular der englischen Liturgie mit aller Nacktheit ausgesprochen; und derselben Deutung gemäß erklärt die katholische Lehre den Status virginalis für besser und sittlicher als den Ehestand (Tridentinum Sessio 24. de sacramento Matriomonii can. 10). Hiemit steht die Anerken-nung der Ehe als eines Sacramentes gar nicht im Widerspruch, vielmehr in Einklang; denn sie bedeutet, daß der ausgesprochene Entschluß zur Ehe erst dadurch sittlich und vor Gott gültig ist, daß er in Unterordnung unter die Kirche und ihre Ehegesetzgebung geschieht. Die Voraussetzung von der Un-reinheit der Ehe entspricht der asket|isch dualistischen Anschauung des sin-kenden Heidenthums. Aber auch das Urtheil des Paulus (1 Kor 7) setzt die Ehe unter den berechtigten Werth hinab. Er empfiehlt die Ehelosigkeit (7,7.8.38.40) als das Bessere, und scheint die Ehe nur insofern als ein Gut zu betrachten, als sie die Hurerei einschränkt (7,2.5.9). Denn er nimmt an, daß das gegenseitige Interesse der Ehegatten an einander etwas weltliches ist, und den Dienst Gottes beeinträchtigt (Vers 32–34), also daß die Ehe kein voll-ständig sittliches Verhältniß im Sinne des Christenthums sei. Freilich con-trastirt damit Eph. 5,25ff. Deutlich ist aber sein Urtheil durch die Rücksicht auf die Zeitverhältnisse bestimmt, und vielleicht auch durch faktische Erfah-

5 Rothe, Theologische Ethik 3,635f.10 The Book of Common Prayer Seite K 1 nennt in der Trauungsliturgie „The Form of Solmenization of Matrimony“ als Ursachen, um derentwillen die Ehe geordnet wur-de: „First, it was ordained for the procreation of children, to be brought up in the fear and nurture of the Lord, and to the praise of his holy Name. Secondly, it was ordained for a remedy against sin, and to avoid fornication … Third, it was ordained for the mutual society, help and comfort …“12 Konzil von Trient, 24. Sitzung, Lehre und Kanones über das Sakrament der Ehe, Kanon 10, DH 1810

5 III,] Ms.: IV,6 also] korr. aus als9 geschlechtlichen] korr. aus Geschlechtlichen15 der] korr. aus die19f. Aber … Ehelosigkeit] am Rand statt <Hiemit sind Paulus Äußerungen über Ehe und Ehelosigkeit nicht zu vermischen. Er empfiehlt die letztere>22–25 Denn … sei.] am Rand

5

10

15

20

25

98 I. Theil VI. Familie

Page 149: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

rungen an Ehen, die der sittlichen Idealität entbehrten. Ähnliche Richtung wie die Bedenken des Paulus gegen die Ehe nimmt die Frage der Jünger (Mth. 19,10). Die Ausnahmen, in welchen Jesus die Ehe nicht statuirt, halten die Betrachtung der Ehe als Gut erst recht aufrecht, trotz der Möglichkeit, den Zweck der Ehe zu verfehlen. Ausnahmen gelten 1. wenn natürliche Abnei-gung gegen die Ehe stattfindet; 2. wenn die socialen Verhältnisse sie unmög-lich machen; 3. wenn ein besonderer Dienst im Gottesreich sie als zweckwid-rig erscheinen läßt. Der letztere Fall ist der des Paulus. – Der Caelibat des ka-tholischen Klerus [69] der bekanntlich nicht Dogma, aber disciplinarische Ordnung ist, hat den Zweck, die Diener der Kirche, welche selbst Staat sein will, den Bedingungen des nationalen Staatslebens zu entziehen. Deßhalb ist das Institut nicht nach der 3. von Christus bezeichneten Ausnahme zu recht-fertigen. Uebrigens käme doch nach dem Beispiel des Paulus (1 Kor. 7,7) die Frage nach der Gnadengabe bei jedem Einzelnen in Betracht. Denn regel-mäßig entspricht der sittliche Zuschnitt der ehelosen Kleriker gar nicht den Bedingungen der vita angelica. – Bei den für Eheschließung verbotenen Ver-wandtschaftsgraden (Act. 15,29; Lev. 18) handelt es sich um den Gräuel der Blutschande. Es kommt darauf an, das Urtheil über dieselbe auch tiefer zu begründen, als durch den Zweck, den das mosaische Gesetz kundgiebt, die Israeliten von den umgebenden Kanaanitern zu unterscheiden. Als Grund da-gegen kann aber weder genügen die äußere Zweckmäßigkeit, noch der hor-ror naturalis, der nicht allgemein nachweisbar ist. Der sittliche Instinct, der solche Verordnung hervorruft, wird erst aus dem nachträglich gewonnenen Begriff von der Ehe gerechtfertigt. Die Ehe hat nämlich ihren Werth nur als Vereinigung solcher Personen, deren Individualitäten verschiedenartig und selbständig ausgebildet waren, und deshalb sich specifisch gegenseitig anzie-hen. Dies findet sich nicht bei Verwandten, die in steter Gemeinschaft mit einander gestanden haben, und deßhalb die specifische Verwandtenliebe mit einander theilen. Deßhalb sind Ehen naher Verwandter widersittlich. Aber daraus folgt nicht die Gültigkeit der ganzen mosaischen Verordnung, auch für die entfernteren Verwandtschaftsgrade. Denn diese Ausdehnung des Ver-botes bezieht sich auf die enge locale und sociale Verschlingung der Familie im nomadischen Leben.

98,26 5,25ff.] folgt < Näher angesehen betrachtet er aber nicht die Ehe als ein gerin-geres Uebel im Vergleich mit Unzucht, sondern entschieden als ein Gut (7,9.38) im Ge-gensatz zu dem Uebel, wenn. auch als ein Gut das geringer ist als das der Ehelosigkeit. Zu dieser soll eine besondere Gnadengabe gehören (7,7), die Ehe soll dem Dienste Gottes hinderlich sein (7,5.32–35).>9 aber] korr. aus als14f. Denn regelmäßig] am Rand statt <Uebrigens>20 unterscheiden] korr. aus unterscheidet22 nachweisbar] korr. aus nachzuweisen

5

10

15

20

25

30

99§ 28 Ehe

Page 150: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 29. 25 D a s Ve r h ä l t n i ß z w i s c h e n A e l t e r n u n d K i n d e r n u n d d e r K i n d e r u n t e r s i c h .

Wenn die Ehe zwei Personen zu Einer verbindet, so bedarf sie eines specifi-schen Objects, um an demselben den gemeinsamen Selbstzweck zu verwirkli-chen. Wo Mann und Weib jedes seinen besonderen Beruf namentlich des Er-werbs ausübt, liegt ein Hindernis für die sittliche Führung der Ehe überhaupt vor; wo aber der Mann allein [70] einen eigentlichen Beruf nach Außen hat, da kann sich das Weib doch nur indirect an demselben betheiligen. Deßhalb würde die Einheit der Ehe direct nur auf die gemeinsame Andacht und auf die Geselligkeit beschränkt sein. Jene aber ist keine sittliche Aufgabe im en-gern Sinn, diese ist nur das sittlich Erlaubte. Specifisches Object der sittlichen Bethätigung der Ehe sind die Kinder, als das gemeinsame Eigenthum, dessen Erhaltung und Erziehung alle die sittlichen Einzelzwecke hervorruft, die den gemeinsamen Zweck der Ehe bilden. Deßhalb erreicht das Weib, welches in der Unterordnung unter den Mann seine persönliche Selbständigkeit ver-kürzt, ihren positiven sittlichen Beruf als Mutter. Die Liebe der Aeltern zu den Kindern ist nun ebenso wie die Liebe der Ehegatten zu der Gerechtigkeit des Gottesreichs angelegt, der Universalismus des Gedankens desselben ist durch den Gegensatz zwischen der sittlichen Reife und der Unmündigkeit und durch die Verschiedenartigkeit des Geschlechts und der Charakteranla-gen der Kinder repräsentirt. Das Ziel der Erziehung ist so hoch wie die sittli-che Aufgabe überhaupt, und der Elternliebe ist mehr noch als der in der Ehe die Probe der Selbstverläugnung auferlegt. Diese findet aber unmittelbar ihre Seligkeit in der dadurch gesteigerten und geklärten Innigkeit des ehelichen Verhältnisses, und findet in der gesteigerten Dankbarkeit des Andern den Er-satz für alles durch die Kinder zugezogene Leid. Denn indem die Erziehung der Kinder eine Schule der Tugenden der Selbstbeherrschung, Weisheit, Treue und Barmherzigkeit ist, so ist sie auch wegen der Unsicherheit des beabsich-tigten Erfolges eine Schule der Demuth und der Geduld, und diese ist wenig-stens für die Ehe ein unverlierbares Gut. Deßhalb fehlt der kinderlosen Ehe der eigenthümliche sittliche Impuls, ohne den auch die aufrichtigste gesell-schaftliche Treue ihr Salz verliert und in ihrem Werth für den Andern ge-schmälert wird. Die Ehrfurcht und die Pietät gegen die Eltern, welche durch eine selbstverläugnende und weise Erziehung erzeugt wird, enthält für die Kinder den Keim des Gottesreiches in sich; denn diese Triebe sind die Bedin-

20f. und durch … Kinder] am Rand27 Kinder] folgt <von vornherein mit der Resignation auf die Sicherheit des Erfolges begleitet sein muß, so ist dieselbe>29 und … Geduld] am Rand34 weise] korr. aus Weise34 wird,] folgt <legt in>35 Triebe sind] am Rand statt <Stimmung ist>

5

10

15

20

25

30

35

100 I. Theil VI. Familie

Page 151: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

gung, ohne welche alle Religionsanweisung und Theilnahme an der häusli-chen Cultussitte fruchtlos ist. Wie das irdische Vaterverhältniß seine volle Be-gründung und Wahrheit in Gottes Vaterschaft findet (Eph. 3,15), und der Ge-horsam des Kindes ein directes Vehikel religiöser Ahnung ist (Kol. 3,20; Eph. 6,1), so leistet die kindliche Pietät gegen die Aeltern, wenn sie bei den Irrun-gen des jugendlichen Selbständigkeitsstrebens Stand hält, die Gewähr für die Rückkehr des Menschen zu Gott. – Das Verhältniß der Geschwister zu einan-der [71] ist regelmäßig nicht religiös gefärbt. Es wird einerseits durch das natürliche Wohlwollen beherrscht, andererseits durch den Trieb nach Rechts-gleichheit; und jenes Element sträubt sich sowohl wegen der Stärke seiner natürlichen Begründung, als wegen der Begränzung durch den Rechtstrieb gegen die übernatürliche religiöse Auffassung. Deßhalb liegt in diesem Ver-hältniß viel mehr das Vorbild des Staates als das des Gottesreiches. Die Vertraulichkeit und Anhänglichkeit der Geschwister wird erst dann einer reli-giösen Begründung fähig, wenn jedes seine persönliche Selbständigkeit ge-wonnen, seine sittliche Charakterreife erreicht hat, und dann die gemeinsame Pietät gegen die Aeltern sowie die Nachwirkungen der gleichen Erziehung eine eigenthümliche fest begründete Freundschaft bedingen. Wenn das ge-schwisterliche Verhältniß ebenso wie das kindliche die directe Disposition zum Reich Gottes in sich schlösse, so würde in der normalen Familienge-meinschaft Reich Gottes im Kleinen zu Stande kommen, dann aber die Uni-versalität und die Uebernatürlichkeit dieser Aufgabe gefährdet werden.

§ 30. 26 D i e F r e u n d s c h a f t .

Der particulare Boden, den die Familie der Verwirklichung des Gottesreiches darbietet, wird durch die Freundschaft ergänzt. Deßhalb strebt auch das Kind an der Ergänzung durch die Geschwister vorbei nach anderen Freunden gemäß einem nothwendigen Impuls zu sittlicher Vollendung. Die Freund-schaft hat zwar ihre Schranken, weil sie auf individueller Wahlanziehung be-ruht, und deshalb nicht mit allen Menschen gepflogen werden kann; allein sie ist doch mit verschiedenartigen Individuen gleichzeitig möglich. Als Art der Liebe ist sie der Gegensatz der ehelichen. Die letztere knüpft sich an durch die Ahnung der Congruenz des persönlichen Selbstzwecks des anderen Theils mit mir, und erst so gewinnt man Einsicht und Ausübung der mögli-

3–5 und der … 6,1),] am Rand7f. zu einander] am Rand8 ist] davor <Î ùeinander>25 ergänzt.] korr. aus ergänzt, folgt <die wenigstens der Möglichkeit nach die Univer-salität des Gottesreiches vorbildet.>28 ihre] über <individuelle>

5

10

15

20

25

30

101§ 29 Aeltern und Kinder – § 30 Freundschaft

Page 152: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

chen gemeinsamen Einzelzwecke. Die Freundschaft knüpft sich immer an die Erfahrung materialer und formaler Gemeinschaft der Einzelzwecke, und be-gründet darauf das Eingehen in den erprobten persönlichen Selbstzweck des Andern. Demnach wird die Geschwisterliebe im reifern Alter zur Freund-schaft; allein die eheliche Liebe, wenn sie überhaupt in ihrer Art normal war, wird nie in Freundschaft übergehen. Der Umstand daß das Neue Testament nie auf Freundschaft hinweist, bedeutet nicht, daß sie eine für das Gottes-reich gleichgültige Form der Liebe sei. Die Pflicht der Gastfreundschaft [72] (1 Petr. 4,9; Hebr. 13,2) begründet, nach der Möglichkeit ihrer wiederholten Ausübung gegen dieselben Personen, die Gemeinschaft welche das Gebot der Bruderliebe für alle fordert, welche aber natürlich nicht mit allen in Wirklich-keit tritt. So entspricht also die Freundschaft dem Maaße der Bruderliebe, welches nur gegen einen bestimmten Kreis in wirklich stetige Ausübung tritt.

Die Freundschaft bezeichnet eine Stufe höherer sittlicher Bildung, findet in den niederen Erwerbsstufen nicht oft statt.

Sofern die Freundschaft sittlichen Werth nur hat, wo sie nicht durch Nutzen oder Vergnügen, sondern durch den uneigennützigen Trieb der Liebe begrün-det ist, so trägt die der höchsten sittlichen Aufgabe zugewandte Freundschaft das Element des Gottesreiches in sich, auch wenn dies nicht ausdrücklich durch religiöse Reflexion anerkannt ist.

Die Liebe als Freundschaft ist kein Widerspruch gegen die Bestimmung zu allgemeiner Menschenliebe. Vielmehr ist die Begränzung der Kraft in ihrer regelmäßigen Anwendung eine Bedingung für ihre Erhaltung und Steige-rung. Wie im Berufe.

Auch die Freundesliebe zwischen sittlich entwickelten und strebenden Cha-rakteren überwindet in jedem Falle die Schranke des Rechtsverhältnisses und gleicht alle Collisionen nach Maßgabe des Vertrauens aus, daß der Andere meinen Selbstzweck als den seinen anerkennt. Freilich gehört zur Freund-schaft im vollen Sinn Gleichheit des allgemeinen Bildungsstandes, keineswegs aber Gleichheit des bürgerlichen Berufes, obgleich in der Berufsgemeinschaft eine Aufforderung zur Freundschaft liegt, und dieselbe ohne ein gewisses Maaß derselben leicht ein Anlaß zu Neid und Haß, oder Verachtung und Lieblosigkeit wird. Die Freundschaft ist normal nur unter Männern. Die Freundschaft zwischen Mann und Weib ist nur möglich wo die Möglichkeit der geschlechtlichen Anziehungskraft wegfällt. Wo hingegen diese ins Spiel kommen kann, ist die Freundschaft vorläufige Maske für die andere Art der Liebe, oder eine Selbsttäuschung. Die Freundschaft zwischen Ehegatten und

12 dem] folgt <möglichen>14f. Die … statt.] am Rand14 bezeichnet] über der Zeile21–24 Die … Berufe.] am Rand34–36 nur … Freundschaft] am Rand statt <entweder eine>

5

10

15

20

25

30

35

102 I. Theil VI. Familie

Page 153: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Personen anderen Geschlechts ist vollkommen möglich aber unter der Bedin-gung einer Gemeinschaft beider Eheleute auch in solchem Verhältniß.

S i e b e n t e s C a p i t e l . Vo l k u n d S t a a t i m Ve r h ä l t n i ß z u m R e i c h e G o t t e s .

§ 31. 27 D i e e x t r e m e n T h e o r i e n .

Einerseits wird von Augustin der Begriff des Staates zu dem des Reiches Got-tes in solchen Widerspruch gesetzt, daß dem erstern nur die Aufgabe bleibt, sich dem als Kirche aufgewiesenen Reich Gottes als Mittel unterzuordnen. Andrerseits setzt Hegel beide Größen begrifflich identisch, so daß der norma-le begriffsmäßige Fortschritt der Staatsentwickelung dem Reich Gottes direct zustrebte, als dem Ausdruck für den vollendeten Staat. Gemeinsam haben beide Theorien den Fehler, die Bedeutung des Volks für den Begriff des Staats [73] nicht anzuerkennen. Augustin nemlich abstrahirt seinen Begriff des Staa-tes aus den durch Eroberung zusammengebrachten Weltreichen des Alter-thums, und erkennt wegen des gewaltsamen Ursprungs dieser Art der Staaten im Staat überhaupt die menschliche Gesellschaft, welche aus dem Princip der Sünde herstammt.

Der Brudermörder und Stadtgründer Kain ist der Typus des Staates.Nur soweit als die Sünde ihrem Begriff nach das Gute voraussetzt, und so-fern sie immer formell ein Gut erstrebt, ist in der civitas terrena etwas Gu-

6 Die Darstellung von Augustins Staatslehre im ersten Teil des § 31 fußt nicht nur auf den wenigen ausdrücklich angeführten Stellen aus dem Werk „De civitate Dei“ (Buch 19, Kap. 13, 21 und 24), sondern hat die ausgedehnte Lektüre des Werks zum Hinter-grund, die Ritschl seit der Vorbereitung seiner philosophischen Dissertation „Expositio doctrinae Augustini de creatione mundi, peccato, gratia“ (Halle 1843) geläufig war (vgl. OR 1,71–75). Die folgenden Einzelnachweise sind deswegen nicht erschöpfend, sondern beschränken sich auf solche Stellen, auf die erkennbar Bezug genommen wird.9 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 8,320.334f. 347f.13 Augustinus, De civitate Dei XIX,21.24; PL 41,648.655; CChrSL 48,687.69518 Gen 4,17; Augustinus, De civitate Dei XV 1.5.17; PL 41,438.441.460; CChrSL 48,454,55; 458,34; 479

10 Staatsentwickelung] folgt <sich>15 erkennt] korr. aus verkennt15 der] korr. aus des18 Der … Staates.] am Rand18 Stadtgründer] Ms.: Städtgründer19 soweit] korr. aus Î ù19 als] über der Zeile

5

10

15

20

103§ 31 Staat (extreme Theorien)

Page 154: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

tes anzuerkennen, ein Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung. Die Erfolglosigkeit dieses Strebens im Staat ist aber die Probe für dessen Herkunft aus der Sünde. Denn übrigens beruht die rechtliche Ordnung des Eigenthums darauf, daß der Mensch durch die Sünde die Herrschaft über die Natur verloren hat. Die Ehe soll nicht mehr auf d|en Willen Gottes, son-dern auf d|ie Begierde; die Familie nicht auf Gottes- und Nächstenliebe, sondern auf Eigennutz begründet sein; das Staatsleben endlich enthält nichts weniger als die gleiche Ordnung aller Menschen unter Gott, sondern nur die dem Eigennutz dienende Unterwerfung Vieler unter Wenige. Also entbehrt die civitas terrena der wahren Gerechtigkeit (de civitate dei XIX, 21.24).

Theoretisches Urtheil 1. Es ist ein Widerspruch das Recht als Product des Unrechtes zu begreifen. Es ist nach Augustin unwillkürliches Zugeständniß (XIX, 13) Die Voraussetzung des Reiches Gottes als der absoluten Sittlich-keit. 2. Das Reich Gottes als Kirche ist selbst nur Rechtsgemeinschaft. Des-halb der Widerspruch zwischen Staat und Kirche der nicht geschlichtet wird durch die Auctorität des Göttlichen über das Menschliche. Sondern der Staat setzt allen anderen Rechtsgemeinschaften ihre Grenzen.

Dem Einen Staat gegenüber, welchen die Erfahrung an den auf einander folgenden Weltreichen bis zum römischen darbot, bildet auch die civitas dei Eine Einheit. Diese beruht auf der göttlichen Gerechtigkeit und der Nächstenliebe; sie ist nicht blos jenseitig, sondern von Abel und Seth an in wechselnden Gestalten auf der Erde wirklich; sie ist seitdem eine in der Fremde wandernde, bis sie durch die Aufhebung der gegenwärtigen Welt-ordnung ihre Heimath in der neuen Welt und ihre volle Ausgestaltung er-reicht. Gegenwärtig ist das göttliche Reich in vielen Beziehungen in die Ordnungen der civitas terrena verflochten; sie bestrebt sich nur, sich im-mer mehr von dieser verunreinigenden Verbindung zu sondern; so lange

1 Augustinus, De civitate Dei XIX,17; PL 41,645; CChrSL 48,6834 Augustinus, De civitate Dei XIX,15; PL 41,643; CChrSL 48,682f.5 Augustinus, De civitate Dei XV,17; PL 41,460; CChrSL 48,4797 Augustinus, De civitate Dei XIX,21.24; PL 41,648.655; CChrSL 48,687.69513 Augustinus, De civitate Dei XIX,13; PL 41,640; CChrSL 48,67815 Augustinus, De civitate Dei XIX,14; PL 41,642; CChrSL 48,68016 Augustinus, De civitate Dei XIX,15.16; PL 41,643f.; CChrSL 48,682f.22 Augustinus, De civitate Dei XV 1.8.15; PL 41,437.445.456; CChrSL 48,453.462.47426 Augustinus, De civitate Dei XI 1; XVIII 49; PL 41,315.611; CChrSL 48,321.647

12–18 Theoretisches … Grenzen.] am Rand19f. welchen … darbot,] am Rand21 Einheit] folgt wieder gestrichenes Einfügungszeichen für den Zusatz welchen … darbot, s. oben Zeile 19f.28 von] Ms.: mit

5

10

15

20

25

104 I. Theil VII. Staat

Page 155: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

dies Ziel aber noch nicht erreicht ist, gibt das Gottesreich seinen Angehöri-gen die Anweisung, sich den weltlichen Gesetzen zu fügen, soweit nicht himmlische Pflichten dadurch beeinträchtigt werden, und ferner sucht das Gottesreich den Staat davon zu überführen, daß es in seinem Interesse liegt, das Gottesreich zu fördern. Denn nur dadurch soll der Staat eine sitt-liche Legitimation gewinnen, die ihm an sich abgeht; d. h. der Staat soll seine eigenen, in der Sünde begründeten Zwecke aufgeben, und sich den Zwecken des Gottesreichs unterordnen. – Nun bezeichnet Augustin mit dem in der Fremde wandernden Gottesreich deutlich [74] genug die katho-lische Kirche, welche selbst als Staat organisirt war, nicht nur eine aristo-kratische Verfassung besaß, sondern eine Menge Rechtsinstitute in sich ausgebildet hatte.

Immunität der Kleriker, Eherecht, Recht der Erziehung zwischen Staat und Kirche streitig

Die Theorie Augustins läuft also darauf hinaus, daß der weltliche Staat sich zum Mittel für den kirchlichen Staat hergeben soll, um überhaupt vom Standpunkt des Christenthums aus als eine von Gott gewollte Größe geach-tet zu werden. Diese Theorie begründet die Wiederbelebung des Kaiserthums d.h. der Weltmonarchie im germanisirten Abendland und die Unterordnung desselben unter das Papstthum seit Gregor VII.

Gilt auch, wenn man wie Thomas von Aristoteles eine günstigere Vorstel-lung von der natürlichen Herkunft des Staates hat.

Aber hiemit war die Theorie doch nicht verwirklicht, da das Kaiserthum doch nicht alle Staatsgewalt des Abendlandes umfaßte. Vielmehr reagirte der nationale Staat Frankreichs mit Erfolg gegen die höchste Spannung der Theo-rie durch Bonifaz VIII. Anfang des 14. Jahrhunderts der die Theorie Innocenz des III. befolgt wissen wollte, daß der Papst eigentlich der Inhaber beider Schwerter, und das weltliche Schwert in der Hand der Fürsten nur ein Lehen der Kirche sei. Dagegen trat erstens der Gedanke, daß die Staatsgewalt ein Product der Selbstgestaltung der Nation sei, zweitens daß der Staat ebenso unmittelbar göttliche Ordnung und Stiftung sei, wie die Kirche.

2 Augustinus, De civitate Dei XIX,17; PL 41,645.; CChrSL 48,68326 Papst Bonifatius VIII., Bulle „Unam sanctam“ vom 18. November 1302; in: DH 873–875; Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 70f.; vgl. Ritschl, Unterricht § 53 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 72.128f.26 Vgl. DH 767; Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 71

4 in] korr. aus s13f. Immunität … streitig] am Rand21f. Gilt … hat.] am Rand26f. Bonifaz … wollte,] am Rand statt <Innocenz III.>27 daß der] Ms. versehentlich gestrichen

5

10

15

20

25

30

105§ 31 Staat (extreme Theorien)

Page 156: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

bei Dante und Wilhelm von Occam vgl. F r i e d b e r g , die mittelaltrigen Lehren über das Verhältniß von Staat und Kirche. Zeitschrift für Kirchen-recht VIII. 1869.

So kam schon im Mittelalter die Wahrheit an den Tag, daß der Staat auf dem Recht und nicht auf der Sünde, auf einem nothwendigen Element der menschlichen Freiheit nicht auf dem Widerspruch gegen die sittliche Bestim-mung des Menschen begründet sei. Diesen Grundsatz hat die Reformation in den symbolischen Schriften recipirt und zum politischen Princip der neu-ern Geschichte überhaupt erhoben; daß der Mensch trotz der Erbsünde zur iustistia civilis befähigt und an seiner ratio ein selbständiges Princip auch für die politische Gemeinschaft habe. – Hegel versteht unter Staat, in welchem die Gegensätze des objectiven Rechtes und der subjectiven Moralität synthe-tisch zusammengefaßt werden, den Umfang der verwirklichten Sittlichkeit, die zum Selbstbewußtsein gelangte sittliche Substanz, die Größe, in welcher der göttliche Wille zur Organisation einer Welt entfaltet, in der das subjecti-ve und objective Wesen, die sittliche Einzelheit und Allgemeinheit Eins sind. So entspricht dem Staat das ganze Menschengeschlecht als sittlich befähigte Größe. In der Geschichte aber realisirt sich der Staat in allmählichem Fort-schritt zu seiner Idee immer durch das Mittel besonderer Volksgeister, bis er die ganze Menschheit umfaßt. Also freilich entspricht kein einzelnes Mo-ment der geschichtlichen Entwicklung des Staats dem Gedanken [75] des Gottesreiches. Aber diese Identität kann nur erstrebt werden, weil der Staat an sich und das Gottesreich im Begriff identisch sind. Diese Theorie ist von R o t h e adoptirt, indem er den Staat als die sittliche Gemeinschaft des Vol-kes bezeichnet, sofern derselbe die sittliche Aufgabe löst, und sich an der Vollendung der sittlichen Gemeinschaft betheiligt, in welchen aufzugehen die Kirche bestimmt ist. – Indem also diese Ansicht mit der katholischen darin übereinstimmt, daß der Begriff des Volkes kein constitutives Moment für den Begriff des Staats ist, so unterscheidet sie sich von ihr darin, daß sie keinen fixen Gegensatz zwischen Staat und Reich Gottes, sondern ein flie-ßendes Uebergehen des einen ins andere auf Grund der begrifflichen Identi-tät beider annimmt; und dies ist deßhalb der Fall weil der Gegensatz zwi-

1 Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 76–91.1208 Confessio Augustana XVI; Apol. XVI, ed. Hase 14.214–217; BSLK 70f.; 307–31010 Confessio Augustana XVIII, Apol. XVIII, 4, ed. Hase 14.218; BSLK 73,2; 311,2211 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 8,320.334f. 312f.24 Rothe, Theologische Ethik 1,423–425; 2,136.145f.154

1–3 bei … 1869.] am Rand13 den Umfang] am Rand statt <die Sphäre>16 Eins sind.] am Rand statt <ihre Identität finden.>26f. betheiligt … ist. –] am Rand statt <betheiligt. –>28 der Begriff] korr. aus das V

5

10

15

20

25

30

106 I. Theil VII. Staat

Page 157: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

schen Recht und Sittlichkeit und die Unauflöslichkeit des Rechtes durch die Sittlichkeit nicht erkannt wird. Die Gründe der Ansicht Hegels sind die Mu-stergültigkeit des antiken Staates, der die Freiheit des Einzelnen durch den Staatszweck bindet, ferner die spinozistische Unterschätzung der persönli-chen Freiheit. Wie nun aus der Augustinischen Theorie die Unterwerfung des Staates unter die katholische Kirche folgt, so folgert Rothe aus der He-gelschen Theorie das Aufgehen der Kirche in den Staat.

§ 32. 28 D e r e t h i s c h e B e g r i f f v o m S t a a t e .

Das Subject des Staates ist immer das Volk, sei es, daß die einfache Stammes-verwandtschaft die Einheit bedingt, sei es daß das Volk aus einem erobernden und aus unterworfenen Stämmen zusammengewachsen ist. Deßhalb ent-spricht derjenige Staat seinem Begriff noch nicht, der in seinem Umfange un-terworfene Volkstheile hegt, die das Bewußtsein eigener Staatsfähigkeit hegen, und deßhalb nur durch den Zwang des Rechtes in dem Staatsverbande erhal-ten werden. Das Volk ist durch seine Abstammung nicht Naturproduct, son-dern da diese schon durch die Ehe vermittelt ist, ferner aber durch den durch Bedürfniß und natürliches Wohlwollen bedingten Austausch aller sinnlichen und geistigen Güter, endlich durch die Erzeugung eines besonderen Volksgei-stes in der Production der geistigen Güter, – sittliche Größe. Das Volk ist aber Staat, sofern es durch eine allgemeine Rechtsordnung in sich verbunden ist. Diese beiden Merkmale, Volksthümlichkeit und Recht stehen aber im Begriff des Staats in directer Congruenz. Denn für das Volk ist im Staat das Recht durchaus keine der Freiheit widersprechende Macht, sondern wie das Recht überhaupt Mittel der Freiheit ist, so ist es auch Mittel der Freiheit des staat-lich geordneten Volkes und der einzelnen Glieder desselben, so wie Mittel des Wohlwollens zu welchem die Stammgemeinschaft [76] der Grund ist. Im anti-ken Staate reicht nun das Recht ursprünglich nur so weit wie jenes natürliche Wohlwollen. Daß der Barbar im Umkreis eines anderen Volkes Privatrechte ausüben darf, erfordert bestimmte für den Fremden gegründete Rechtsinstitu-te. Im modernen Staat ist diese Schranke grundsätzlich nicht vorhanden.

1 und die] korr. aus und das Verhältniß der15–19 Das … Größe.] am Rand22–30 Denn … vorhanden.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert; das Hinweiszeichen am Anfang und am Ende der Klammer, das auch am Anfang des fol-genden Zusatzes am Rand Gegensatz … Gottesreiches. wiederkehrt (s. unten S. 108,1–5), deutet darauf hin, daß dieser Zusatz die eingeklammerte Stelle ersetzen soll.30 vorhanden.] folgt <Die Rechtsgemeinschaft des Volkes umfaßt nicht blos das Ge-biet des Austausches von Production und Eigenthum, sondern auch das Gebiet des gei-stigen Austausches und des sittlichen Verkehres.>

5

10

15

20

25

30

107§ 32 Staat (ethisch)

Page 158: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Gegensatz gegen Augustin: Der Staat ein relatives sittliches Gut; hingegen nicht ein Product der Sünde. Augustin verwechselt Grund und Anlaß der Rechtsbildung. Der Staat ist als relatives sittliches Gut, nicht dazu be-stimmt, im Reiche Gottes unterzugehen; denn indem er das Recht vertritt, liefert er eine positive Bedingung für die Sittlichkeit des Gottesreiches. Recht: Die den verschiedenen abgestuften Zwecken der Gemeinschaft ent-sprechende Ordnung der Handlungen, der gemäß 1. die Handlungsweise eine gemeinsame und übereinstimmende sein kann und 2. die sittliche Selb-ständigkeit und Freiheit eines Jeden möglich macht. § 22.Recht Mittel der SittlichkeitSubject der Sittlichkeit: Die Völker respective das Volk als GesellschaftManchesterhafte Gleichgültigkeit gegen die sittliche Gesellschaft.Socialdemocratische Corruption der GesellschaftIn den Beziehungen: 1. ist der Staat Selbstzweck, in denen 2. Mittel der sittlichen Humanität und Freiheit. D a r i n beruht der sittliche Werth des-selben.

Für die Sicherung der Einzelzwecke dient das P r i v a t r e c h t , für die geord-nete Ausübung der gemeinsamen Zwecke das ö f f e n t l i c h e R e c h t . Bei-de Functionen sind zusammen, wo immer Staat realisirt wird. Das öffentliche Recht umfaßt das S t r a f r e c h t als das Mittel der Abwehr von Verletzun-gen der Gesammtheit; und die P o l i z e i g e w a l t , das Mittel zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt. Unter diese Gewalt gehört neben der Präventiv-Polizei alle rechtmäßige und zwingende Ordnung wirtschaftlicher Unterneh-mungen, wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung, Schutz und Unter-stützung der gottesdienstlichen Gemeinschaft. Der Staat ist nicht der Produ-cent in irgend einer dieser Beziehungen, sondern das ist der gebildete und durch Wechselbeziehung schöpferischer Individuen und empfänglicher Mas-

1 S. oben S. 103–1059 S. oben S. 77,112 In der Nachschrift Eck (1878) § 27 S. 262 nennt Ritschl an der analogen Stelle Adam Smith und verweist auf auf den Aufsatz von Braun, Die religiösen und sittlichen Ansichten von Adam Smith (1878)13 In der Nachschrift Eck (1878) § 27 S. 262f. führt Ritschl aus: „Unter uns ist die Socialdemokratie der Ertrag der entsprechenden Gesetzgebung, also das gerade Gegen-teil von dem, was erstrebt worden ist. Denn in dieser Richtung wird eben nicht die in-dividuelle Freiheit und die an ihr haftende Ungleichheit geachtet, sondern es wird ein System von Gemeinschaftlichkeit der Art erstrebt, in welcher die Gleichheit aller not-wendig zur Unterdrückung der Freiheit der meisten führen würde, und zwar würde die Durchführung dieses Systems alle höheren Interessen preisgeben gegen die erstrebte Si-cherung des blos sinnlichen Daseins.“

1–5 Gegensatz … Gottesreiches.] am Rand; vgl. oben S. 107,22–306–16 Recht: … desselben.] am Rand8 und übereinstimmende] über der Zeile

5

10

15

20

25

108 I. Theil VII. Staat

Page 159: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sen sich bildende Volksgeist; der Staat ist aber die Form des Rechtes, welche diese Wechselbeziehung ordnet und regelt, soweit sie dem Allgemeinen nothwendig ist. – Hieraus ergiebt sich folgender Gegensatz zum Hegelschen Begriff vom Staat. Derselbe ist nicht die sittliche Gemeinschaft des Volkes als solche, weil die sittlichen Aufgaben an sich die Grenze des Volkslebens und der Staatsgemeinschaft überschreiten, schon der Handel, dann aber der Aus-tausch von Wissen und die Vollziehung der religiösen Gemeinschaft als christlicher. Im entgegengesetzten Fall würde man auf den antiken Staat und die Naturreligion herabkommen. Die Gemeinschaft der höchsten sittlichen Zwecke, die Hegel und Rothe Staat nennen, i s t n u r d a s R e i c h G o t -t e s . Dies ist die Gemeinschaft aller Völker zum absoluten sittlichen Zweck, der Staat die Gemeinschaft Eines Volkes zur Ordnung der einzelnen und be-sonderen, auch sittlichen Zwecke. So gewiß nun die sittliche Freiheit an dem Rechte ein nothwendiges Mittel hat, so setzt auch das Reich Gottes nothwen-dig das Bestehen des Staates voraus (§ 22), und deßhalb ist vom Standpunkt des Reiches Gottes der Staat als eine Gemeinschaft specifisch [77] sittlichen Werthes anzuerkennen. Umgekehrt bedarf der Staat, daß seine Genossen eine bestimmte Religion haben, weil in gewissen Fällen eine religiöse Bürgschaft erforderlich ist, daß das rechtliche Verhalten sittlich begründet ist. Dies der Grund für die Nothwendigkeit und die Möglichkeit der vom Staate geforder-ten Eide. Die Mennoniten als Ausläufer des Wiedertäuferthums im 16. Jahr-hundert steifen sich nur deßhalb auf das wörtliche Verbot des Eides durch Christus, weil sie die römisch-katholische Ansicht von der principiellen Wi-derchristlichkeit des Staates theilen.

§ 33. 29 D a s c h r i s t l i c h e Vo l k s t h u m u n d d e r c h r i s t l i c h e S t a a t .

Die Forderung des Eides beweist vom Standpunkt des Staates die Anerken-nung c h r i s t l i c h e n Vo l k s t h u m s . Es fragt sich, ob dieser Gedanke auch für die christliche Ethik zulässig ist. Dagegen scheint zu sein die von Paulus (Gal. 3,28; Kol. 3,9 ff.) behauptete Indifferenz des Volksthums für das Christenthum. Indessen schließt die Coordination der Paare, deren Unter-schied für das Christenthum gleichgültig sein soll, den Gedanken aus, daß

3 S. oben S. 106,1115 S. oben S. 77,1

13 auch] folgt <der>21–24 Die … theilen.] am Rand26 der … Staat.] korr. aus das christliche Staatensystem.27 vom] korr. aus Îd ù

5

10

15

20

25

30

109§ 33 Der christliche Staat

Page 160: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

das Christenthum den natürlichen Unterschied der Nationen auflöse. Der geistige Unterschied der Geschlechter kann nur auch in der Religiösität sich geltend machen; den Unterschied zwischen Herr und Knecht wollen selbst die Apostel nicht aufheben (1 Petr. 2,18–20; 1 Kor. 7,21ff.); den Vorzug des israelitischen Volks in der christlichen Gemeinde will selbst Paulus nicht auf-gehoben wissen. Also kann Paulus nur meinen, daß das Christenthum nicht Religion eines einzelnen Volks sei, daß nicht ein Volk mit Ausschluß der an-deren zum Christenthum befähigt sei. Aber er läßt zu, daß die providentielle geschichtliche Entwicklung dem einzelnen Volk eine eigenthümliche Betheili-gung am Christenthum und eine eigenthümliche Ausprägung seines gemein-samen Inhalts möglich macht. Also ist christliches Volksthum in der Perspec-tive der Apostel; und das Neue Testament gewährt nirgends den bestimmten Eindruck, daß nur die Atome des Volkes zum Christenthum berufen, und die Gemeinschaft von Familie und Volk nur zur Erhaltung des Widerspr|uchs ge-gen dasselbe bestimmt sind.

Pietistische Beurtheilung des bürgerlichen Christenthums als bloßen Hei-denthums

Vielmehr gilt, was er der christlichen Familie zugesteht (1 Kor. 7,14), auch dem Volke von Christen. Das christliche Volksthum ist aber nicht schon da-nach zu bemessen, daß das Volk einem kirchlichen Bekenntniß angehört, son-dern daß die höchsten sittlichen Zwecke, in ihrer positiv christlichen Gestalt in der herrschenden S i t t e anerkannt sind. –

Begriff d e r S i t t eChristliche S i t t l i c h k e i t in einem VolkeÖ f f e n t l i c h e M e i n u n g .

C h r i s t l i c h e r S t a a t a. Im d i r e c t e n Sinn: Die päpstliche Kirche des Mittelalters. Die byzantinische Kirche. Zwingli. Seit der Reformation des Abendlandes nur noch katholischer, lutherischer, reformirter Staat möglich. b. also im i n d i r e c t e n Sinn. c. Ist dabei eine bestimmte Ve r f a s s u n g s -f o r m vorgeschrieben? NB. Der Grundsatz der Brüderlichkeit aller Volksge-nossen bei den Socialdemokraten ist die Carrikatur des Christenthums; die Indifferenz der Volksunterschiede für diese Richtung deckt sich mit ihrer feindseligen Haltung gegen Recht und Staat. Die christliche Volksthümlich-keit fordert aber nicht eine gewisse Staatsform. Die Apostel kennen zwar

5 Röm 9,4 f; 11,25–3231 S. oben S. 108,13

14 zur … des] am Rand statt <im>16f. Pietistische … Heidenthums] am Rand mit Bleistift23–25 Begriff … Meinung.] am Rand26–30 Christlicher … vorgeschrieben?] am Rand27 Zwingli] nachträglich hinzugesetzt30–33 NB … Staat.] am Rand mit Hinweis z u c .

5

10

15

20

25

30

110 I. Theil VII. Staat

Page 161: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

kein anderes Verhalten der Christen zum Staate als den passiven Gehorsam gegen das römische Kaiserthum, sofern dasselbe unter göttlicher Providenz steht, und Gottes Auctorität repräsentirt (Rom. 13,1–7; 1 Petr. 2,13–17). Man könnte also [78] hieraus folgern, daß das Christenthum nur die despoti-sche oder absolutistische Staatsform begünstige, und, innerhalb derselben, gegen die legitime oder revolutionäre Herkunft der factischen Gewalthaber gleichgültig sei. Diese Anweisung ist aber für das Christenthum ebensowenig kanonisch, wie das Zugeständniß der Sklaverei und die Bevorzugung des ehe-losen Standes vor der Ehe. Jene Ansicht richtet sich nach der damaligen Mög-lichkeit des Verhältnisses der Christen zum römischen Reich, im Vergleich mit den ihnen gestellten Aufgaben. Das römische Weltreich war kein nationa-ler Staat, es ließ überhaupt keinen andern als passiven Gehorsam zu, und die Christen hatten um so weniger Anlaß, sich anders dazu zu stellen, als revolu-tionäres Benehmen sie äußerlich und innerlich gefährdet hätte. Allein der na-tionale Staat nimmt die active Betheiligung auch seiner christlichen Bürger in Anspruch, weil auch das christliche Volksthum und das gemeinsame Recht das Mittel für die sittlichen Aufgaben auch im christlichen Sinne sind. Poli-tisch herabgekommene Völker gerathen auch in Hinsicht ihrer Religiosität und Sittlichkeit in Verfall, während umgekehrt die Epochen angespannten und fruchtbaren Nationalbewußtseins erweckend und stärkend für das christliche Gemeinbewußtsein sind. Es ist falscher Gebrauch des Neuen Te-staments, wenn die Schule des politischen Absolutismus die Vorschrift des passiven Gehorsams gegen die Monarchie als Pflicht erweisen und anderer-seits die Pietisten die Theilnahme an Politik als der Christen unwürdiges weltliches Treiben abweisen. Diese pietistische Stimmung ist im Grunde die Folge der mangelhaften ethischen Begriffsbildung des Lutherthums.

NB. Hat das Christenthum einen Anspruch über die Todesstrafe im Staat zu entscheiden?

Umgekehrt ist die entschieden ethische Ausarbeitung der reformirten Confes-sionsanschauung der Grund für die großartige politische Geschichte refor-mirter Nationen (Niederlande, Cromwell).

z u a . Melanchthon: Schutz der ersten Tafel des Gesetzes

32 Melanchthon, Loci 1559, CR 21,1011; ed. Stupperich (2. Aufl.) 2/2,763,20

3 13,] korr. aus 13)3 1–7; … 13–17)] am Rand4f. despotische …absolutistische] am Rand sche und absolutistische statt <sche>11 den] Ms.: dem22 wenn die] die korr. aus außer der22–24 die Vorschrift … andererseits] am Rand statt <auch>27f. NB. … entscheiden?] am Rand32 zu … Gesetzes] am Rand

5

10

15

20

25

30

111§ 33 Der christliche Staat

Page 162: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Freilich zeichnen sowohl Zwingli wie Calvin einen theokratischen Begriff christlicher Gemeinschaft vor, dessen Folgen z.B. in der Geschichte des engli-schen Puritanismus auch bedenkliche Seiten zeigen. Denn der Gedanke c h r i s t l i c h e n S t a a t e s ist insofern verständig, wenn der Staat die Christlichkeit seiner Angehörigen und ihrer Sitte v o r a u s s e t z t . Allein die theokratische Deutung des Gedankens verwickelt sich in einen Widerspruch. Denn das hieße Religion und Recht identificiren, die begrifflich im Gegensatz zu einander stehen, wenn man religiöse Uebungen als Bedingung des Staats-bürgerrechtes forderte. Christlicher Staat [79] im directen Sinne ist nur die Mittelalterliche katholische Kirche und das Byzantinische Reich gewesen. Seit der Reformation wäre also nur entweder katholischer oder lutherischer oder reformirter Staat möglich, wie in Spanien, wo Häresie als Staatsverbre-chen gilt, oder wie bis vor Kurzem in Schweden, wo der Uebertritt zum Ka-tholicismus Verbannung nach sich zog. In Staaten gemischter Bevölkerung ist also auch nur im indirecten Sinn die Christlichkeit des Staates möglich. In derselben Beschränkung kann dann nach dem quantitativ oder qualitativ überwiegenden Confessionstheile von katholischem oder protestantischem Staate geredet werden. – Deßhalb ist auch genau nicht vom christlichen Staa-tensystem Europas, sondern vom Staatensystem der christlichen Völker Euro-pas zu sprechen. Die kirchliche Einheit des Mittelalters wirkt trotz der con-fessionellen Spaltung im Abendlande bis heute, so daß die gemeinsame Cul-turgeschichte sie zu einer Art von Völkerfamilie gestaltet hat.

Nur Rußland als griechisch-katholisch gehört nicht dazu. Aber vielleicht soll die kirchliche Spaltung durch christliche Culturgemeinschaft überwun-den werden.

Deßhalb ist das directe Verhältniß der europäischen Staaten zu einander kei-neswegs durch die christliche Liebe, sondern nur durch das Völkerrecht und im Nothfalle durch den Krieg geordnet.

Der Krieg als Mittel des Schutzes von Recht, Nationalität, Ehre und allen übrigen geistigen Gütern kann nicht durch das Christenthum nach Mtth. 5,21 ausgeschlossen sein. Als die höchste Culturmacht vielmehr muß das Christenthum auch den Krieg sanktioniren, wo er direct als Culturmittel auftritt, und indirect das Culturmittel der körperlichen Uebungen her-vorruft.

Eine heilige Allianz hat sich als widersinnig erwiesen. Aber das Völkerrecht beruht darauf, daß die abendländischen Völker in verschiedenen Abstufun-gen im Austausche geistiger Güter stehen, der einem momentanen Mißbrau-che der Macht stets ein regulirendes Gegengewicht leistet.

4 verständig,] folgt <daß>10 und … gewesen.] am Rand statt <<gewesen.>>23–25 Nur … werden.] am Rand29–34 Der … hervorruft.] am Rand

5

10

15

20

25

30

35

112 I. Theil VII. Staat

Page 163: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

A c h t e s C a p i t e l . D e r s i t t l i c h e B e r u f .

§ 34. 30 D i e A r t e n d e s s i t t l i c h e n B e r u f s .

Wenn der Einzelne nur insofern sittlich thätig ist, indem er allgemeine Zwecke in seinen persönlichen Endzweck aufnimmt, so folgt aus dem Ver-hältniß des Einzelnen zum Allgemeinen, daß nur in einer besondern Art der Thätigkeit die allgemeinen Zwecke und der persönliche Endzweck verwirk-licht werden. Diese besondre Form der sittlichen Thätigkeit ist der s i t t l i -c h e B e r u f . Die verschiedenen sittlichen Gebiete verhalten sich zu diesem Begriff nicht gleichartig, und es bedarf einer Uebersicht über die Arten des Berufs, um über die sittliche Befähigung der einzelnen zu entscheiden. 1. In-nerhalb der F a m i l i e sind zu unterscheiden a. die Ehe und das Verhältniß der Ältern zu den Kindern; b. das Verhältniß der Geschwister zu einander, [80] und zu den Aeltern. D i e s e Sphäre b. kann regelmäßig einen sittlichen Beruf nicht begründen. Denn die Verhältnisse derselben sind an sich nur Durchgangspunkte der sittlichen Entwicklung. Die Sorge für die Aeltern wird nie das ganze Leben ausfüllen, und ein Beruf für Geschwister zu sorgen, hat ebenso viel Motive außerhalb als innerhalb des Familienverhältnisses z.B. die Fürsorge einer unverheiratheten Schwester für das Hauswesen eines Bruders. Die Sphäre a. begründet einen ausschließlichen Beruf nur für die Frau, da diese nur durch ihre Thätigkeit in der Familie auch eine indirecte Einwirkung auf das Volksleben ausübt. Denn dem Weibe fehlt die Art des Verstandes und Willens, um einem öffentlichen Beruf vorzustehen (§ 28). Das Weib soll nicht in der Gemeinde öffentlich lehren (1 Kor. 14,34.35; 11,10; 1 Tim. 2,11.12). Deßhalb wird das Weib, wenn es nicht in die Ehe tritt, nur solchen bürgerli-chen Beruf gewinnen können, der den Boden der Familie festhält, oder in ei-ner fremden Familie einen familienartigen Boden für die Thätigkeit findet. Dagegen für den Mann ist die Ehe und die Familie zwar auch ein Boden für sittlichen Beruf, aber nicht der ausschließliche; der Mann ist vielmehr vor Al-lem zu einer Thätigkeit fürs gemeine Beste berufen, und er erreicht seine sitt-liche Charakterbildung auch ohne Familienleben; während ein Mann, der

19 Vgl. Rothe, Theologische Ethik 3,27922 S. oben S. 95,18

3f. allgemeine … aufnimmt] korr. aus die allgemeinen Zwecke der Familie, des Volkes, des Reiches Gottes mit seinem Einzelzweck verbindet6 Endzweck] korr. aus Einzelzweck7 besondre] am Rand statt <concrete Einheit, welche die nothwendige>7 Thätigkeit] folgt <bildet,>8 verschiedenen] über <genannten>

5

10

15

20

25

30

113§ 34 Arten des Berufs

Page 164: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

blos Gatte und Vater sein will, sich einer gewissen Charakterlosigkeit nicht entziehen wird. –2. Innerhalb des ö f f e n t l i c h e n Vo l k s l e b e n s eröffnet sich eine gan-ze Reihe besonderer Arbeitsfelder, die ebenso regelmäßig den Einzelnen ganz in Anspruch nehmen, wie sie sich unter einander ausschließen. Deß-halb bildet sich die Reihe der bürgerlichen Berufe, deren Vertreter im Ver-hältniß zur bürgerlichen Gesellschaft meistens zu verschiedenen Ständen sich gruppiren. Die allgemeine Voraussetzung des bürgerlichen Berufs ist das Eigenthum, das Object für eigenthümliche Zwecksetzungen in der ge-meinsamen Sinnenwelt, als Gegenstand regelmäßiger und eigenthümlicher Arbeit. Der bürgerliche Beruf ist die Form für die stetige Production einer besonderen Art von Eigenthum, für eine stetige Arbeitsleistung in einem be-sonderen Kreise, sofern dieser Kreis als besonderer gewußt und beabsichtigt wird. Das Besondere kann aber nur gedacht werden in seiner Relation zum allgemeinen Verkehr. Demnach findet bürgerlicher Beruf nicht statt, wenn die Arbeitsleistung in jedem Moment [81] verschiedenartig ist, wenn die Arbeitsleistung in keinem Verhältniß zu den aus der Gemeinschaft sich er-gebenden Bedürfnissen steht, endlich wenn keine Arbeit oder nur eine scheinbare vollzogen wird. Das Eigenthum welches in den Arten des bür-gerlichen Berufs producirt, durch Austausch erworben und vermehrt wird, besteht entweder aus s i n n e n f ä l l i g e n , oder aus g e i s t i g e n Objec-ten. a. Die Arbeit an den sinnenfälligen Objecten bezieht sich auf die Le-bensmittel; die darauf gegründeten bürgerlichen Berufe zerfallen in die a. der U r p r o d u c t i o n , Ackerbau, Viehzucht, Bergbau, b. der i n d u s t r i -e l l e n P r o d u c t i o n , Gewerbe, g. des H a n d e l s , entweder selbständig oder in Verbindung mit jenen Berufen. Nun liegt es im Begriff des Lebens-mittels, daß in den auf deren Production, Bearbeitung, Austausch bezoge-nen Berufen der Gedanke ihrer Unterordnung unter die Lebenszwecke, nämlich die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer einzelnen Glieder eingeschlossen ist. Hierin liegt die ausdrückliche Bestimmung der bürgerlichen Berufe zu sittlichem Beruf, wenn der Inhalt jener nur über-haupt vollständig ausgedacht wird. Dem selbstsüchtigen Motiv zur Betrei-bung bürgerlichen Berufs wird also auch das Bewußtsein von dem Wider-spruch gegen die sittliche Aufgabe nicht fehlen. Deßhalb ist auch die Selbst-sucht, wenn sie als Habsucht, Geiz, Betrügerei sich in diese Berufsthätigkei-ten hineinlegt, leicht zu constatiren. – b. Die Arbeit an geistigen Objecten begründet den w i s s e n s c h a f t l i c h e n und den k ü n s t l e r i s c h e n Beruf. Diese haben ein anderes und complicirteres Verhältniß zum sittlichen Beruf. Die Production des Wahren und des Schönen bezieht sich nicht auf Mittel des Lebens, sondern auf Zwecke an sich. Beide sind also auf dem

4 Arbeitsfelder,] am Rand statt <Functionen,>7 bürgerlichen Gesellschaft] am Rand statt <Staatsform des Volkes>

5

10

15

20

25

30

35

40

114 I. Theil VIII. Beruf

Page 165: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Gebiete der geistigen Thätigkeit, wie es scheint, dem sittlichen Berufe entge-gengesetzt. In jenen beiden Berufen handelt es sich auch um Aneignung und Darstellung des Allgemeinen und Allgemeingültigen. Die K u n s t erstrebt die Darstellung der allgemein gültigen Zwecke der natürlichen und geisti-gen Wirklichkeit in sinnlicher Erscheinung. Die W i s s e n s c h a f t erstrebt die Aneignung des allgemein gültigen Zwecks der Dinge in Anschauung, Begriff, Urtheil, Schluß und Ueberzeugung. Die Kunstthätigkeit und die wissenschaftliche Erkenntniß ist also nur möglich in einem Streben nach Allgemeingültigem.

Deßhalb ist es nicht nur leicht, daß der Künstler seine geniale Ungebun-denheit und der Gelehrte seine Strenge und Rücksichtslosigkeit auch in der Gesellschaft geltend machen, und zwar ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, daß sie den sittlichen Regeln zuwiderhandeln.

[82] In dieser Richtung macht aber das Subject fortwährend die Erfahrung der Incongruenz seiner jeweiligen individuellen Fähigkeit gegen die allgemei-ne Aufgabe. Beide Formen geistiger Production können also nicht ausgeübt werden, ohne daß auf jedem Schritte jene Incongruenz überwunden werde. Die Kunstthätigkeit und das wissenschaftliche Streben nach der Wahrheit fordert Resignation, Geduld und Energie gegen die jeweilig beschränkte Er-fahrung und Gemüthsstimmung.

D.h. Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit sind die Tugenden, ohne welche weder künstlerischer noch wissenschaftlicher Beruf denkbar sind. Da diese Tugenden aber nicht verwirklicht werden, außer im Zusammen-hang mit allen übrigen, da umgekehrt diese berufsmäßige Tugendbildung nicht ergänzt werden darf durch untugendhaftes Benehmen außer dem Be-rufsleben, so ist die sittliche Güte im Allgemeinen nöthig zum Zweck der richtigen Ausübung jener Berufe, und so werden sie sittliche Berufe. Dies erprobt sich insbesondere in folgender Rücksicht. Das Ideal kann nicht in der Kunstthätigkeit erstrebt, und der richtige Werth der Erkenntnißgegen-

1 wie … scheint,] am Rand2 Aneignung] über <Verwirklichung>10–13 Deßhalb … zuwiderhandeln.] am Rand15 die] folgt <Al>17 werde.] folgt <Das Streben nach dem Ideal in der Kunst fordert die Reinigung des Gefühlslebens von allen sinnlichen egoistischen Antrieben.>18 Die … und] über der Zeile18 das] Ms.: Das20 Gemüthsstimmung.] folgt <Also indirect ist die berufsmäßige Ausübung von Kunst und Wissenschaft nicht denkbar ohne die specifisch sittliche Thätigkeit in der Reini-gung und Veredlung des eigenen Charakters. Unter dieser Bedingung sind also auch diese Berufe zu sittlichen bestimmt, nämlich als Anlässe zur Tugendbildung; aber auch noch in Rücksicht auf sittliche Gemeinschaft.>21–116,7 D.h. … so:] am Rand28 Rücksicht.] folgt <2.>

5

10

15

20

25

115§ 34 Arten des Berufs

Page 166: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

stände in ihrem allgemeinen Zusammenhang nicht gefühlt werden, ohne daß Künstler und Forscher ohne Selbstsucht und Eitelkeit sich in dem all-gemeinen sittlichen Verkehr als sittliche Menschen bewähren. Insbesondere Hiemit ist jedoch nur erst d i e N o t h w e n d i g k e i t d e r s u b j e c t i -v e n Tu g e n d b i l d u n g a l s B e d i n g u n g d e s k ü n s t l e r i -s c h e n B e r u f s erwiesen, noch nicht die Bestimmung desselben als ob-jectiv sittlicher Beruf. Dies geschieht so:

Jedes Kunstwerk, wenn es auch der Absicht des Künstlers gemäß Zweck in sich ist, soll doch seinen Werth erproben am Beifall der Liebhaber. D.h. es muß sich zeigen, daß das Kunstwerk im Gefühl der Genießenden nacherzeugt und so der ideale Eindruck, aus dem es entstanden, fortgepflanzt werde. Die-se Art der allgemeinen Kunstbildung muß in der künstlerischen Thätigkeit ir-gendwie mitbeabsichtigt sein; denn in einer bewußten Gleichgültigkeit dage-gen läge nichts weniger als die Garantie richtigen Künstlerberufs. Jene in der allgemeinen Absicht der Kunstthätigkeit einzuschließende Einwirkung auf die allgemeine Kunstbildung hat aber insofern specifisch sittlichen Werth, als auch das sittliche Handeln als Einheit des sittlichen Zweckes und einer eigen-thümlichen Erscheinung, eine künstlerische Thätigkeit ist. Deren Ausbildung aber hängt von einer Entsinnlichung des Gefühls, einer Idealisirung des Ge-schmacks, einer Harmonisirung der Stimmung ab, welche durch die allgemei-ne Kunstbildung bedingt sein wird. Indem also der Künstler diese Einwir-kung seiner Kunst auf die sittliche Bildung kennen und anerkennen muß, muß er seinen Beruf als sittlichen anerkennen. Ebensowenig kann die w i s -s e n s c h a f t l i c h e Berufsthätigkeit davon abstrahiren, daß die erstrebte Wahrheit und Allgemeingültigkeit der Erkenntniß ihre Probe an der Beleh-rung Anderer findet. Indem also diese Art sittlicher Gemeinschaft zwar nicht absichtlich eingeschlossen zu sein braucht, aber auch nicht absichtlich ausge-schlossen [83] sein darf, so weiß sich der wissenschaftliche Forscher in eine Gemeinschaft gestellt, die er sowohl durch Vermehrung der Erkenntniß der Objecte und durch Schärfung des Urtheils auch in Hinsicht der sittlichen Aufgaben zu fördern oder wenigstens nicht zu beschädigen sich bewußt sein muß. Dies betheiligt aber auch seinen wissenschaftlichen Beruf als sittlichen an der sittlichen Gemeinschaft. Eine stärkere Disposition zu dieser Würdi-gung ihrer Berufe hat übrigens der wissenschaftliche Forscher vor dem Künstler voraus. Die wissenschaftliche Arbeit ist im engsten Sinne eine ge-meinschaftliche schließt also auf jedem Schritte die Aufforderung zu sittlicher

3 Insbesondere] folgt <3.>4 erst] über der Zeile18 Deren] korr. aus ÎJeù19 , einer] korr. aus, und26 Gemeinschaft] folgt <nicht>31 oder … beschädigen] am Rand

5

10

15

20

25

30

35

116 I. Theil VIII. Beruf

Page 167: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Selbstverläugnung in sich. Die künstlerische Arbeit isolirt den Künstler und spannt gerade seine individuelle Anlage in der stärksten Weise an; es ist also demselben schwerer gemacht das richtige sittliche Maaß für seine Selbstbe-urtheilung zu finden. – c. Den Privatberufen gegenüber stehen die A m t s -b e r u f e des öffentlichen Lebens. Ihr gemeinsamer Inhalt ist bei aller Unter-scheidung der Verwaltungs- Justiz- Militär-Lehr-Ämter die Aufgabe, dem Vol-ke die Ausübung seines Rechtes und den Character der sittlichen Bildung zu vermitteln. Deßwegen sind diese Berufsarten an sich und unmittelbar sittli-cher Natur, und es braucht nicht erst durch einen Schluß oder indirect die sittliche Bestimmung dieser Berufe erwiesen zu werden. Alle Auctorität, die an diesen Arten des Berufs haften soll, ist auch nur begründet durch die sittli-che Tüchtigkeit, mit welcher die bestimmte Berufsaufgabe vollständig ausge-übt, und die Grenzen derselben eingehalten werden. Der Mangel der erstern und das Uebermaß des letztern dienen nur dazu, die Auctorität zu erschüt-tern; und umgekehrt, wo eine allgemeine Erschütterung der öffentlichen Auc-torität eintritt, im Falle jeder Revolution, ist zu schließen, daß die Leiter des Staates ihrem Beruf nicht gewachsen gewesen sind, oder ihn überschritten haben, kurz daß sie die sittliche Verpflichtung die in ihremBeruf lag nicht als solche erkannt und ausgeübt haben. –

Der sittliche Beruf im Bewußtsein der Besitzlosen, deren Arbeit darin auf-geht sich von Tag zu Tag zu erhalten, oder welche in der Fabrikthätigkeit auf einen ganz engen Wirkungskreis in der Unselbständigkeit gegen die Masse angewiesen sind?

Hiemit sind die Arten des sittlichen Berufs erschöpft. Rothe III, S. 278 statu-irt noch einen Beruf des geselligen Lebens, und als entsprechenden Stand den Cavalierstand. Rothe subsumirt alle sittliche Thätigkeiten unter den Begriff der Pflicht, und läßt daneben kein Gebiet des Erlaubten übrig, in das doch die Geselligkeit hineingehört. Aber die Geselligkeit [84] ist keine direct sittli-che Thätigkeit, da sie allgemeine Zwecke ausschließt, und blos die Individua-litäten als solche darstellt. Die Geselligkeit ist freilich widersittlich wenn die Individualität roh und gemein ist, und sie ist der sittlichen Aufgabe congru-ent, wenn sie ein Anlaß zur Tugendübung ist. Aber vom Begriff der Pflicht ist die Geselligkeit als etwas Erlaubtes eximirt, und kann weder Beruf noch Stand begründen. (Vgl. § 62).

24 Rothe, Theologische Ethik 3,278 Anm.34 S. unten S. 176,7

11 Arten] korr. aus Art12 Tüchtigkeit,] am Rand statt <Gesinnung,>19 solche] korr. aus solchen20–23 Der … sind?] am Rand27 übrig,] folgt <Îuntù>

5

10

15

20

25

30

117§ 34 Arten des Berufs

Page 168: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 35. 31 D a s Ve r h ä l t n i ß d e s s i t t l i c h e n B e r u f s z u m R e i c h G o t t e s .

Rothe § 1025.1026. IV, S. 432 ff.Die hervorragende Geltung des Begriffes des Berufs auf dem Gebiete der sitt-lichen Thätigkeit wird nicht ausgeschlossen oder überschritten, indem die Sittlichkeit auf die Idee des Reiches Gottes begründet wird. Freilich, wenn man alle bürgerlichen staatlichen geistigen Berufsarten blos zur Welt rechnet, so wird der Begriff auf dem von Johann Arnds „Wahrem Christenthum“ ver-tretenen Standpunct werthlos. Die abstracte, sich nicht zur Ordnung der sitt-lichen, Thätigkeit aufschließende Religiosität, die in diesem Buche herrscht, hat für unseren Gegenstand nur die Kategorie, daß der Christen Erbe und Güter nicht in dieser Welt sind, darum sie das Zeitliche als Fremdlinge sich gebrauchen sollen (nach Hebr 13,14).

hingegen Calvin III,10,6 und Luther An den Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (im Eingang). de votis monasticis. C.A. II, 5.6.

Es ist aber nicht die allgemeine Regel des Gottesreiches in der Aufforderung Christi an seine Jünger enthalten, daß sie, um ihm zu folgen, alles verlassen sollen (Mc. 10,21.28). Dies ist die Bedingung für den Beruf der zukünftigen Apostel. Aber nur in dem Fall, daß der Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie den religiösen Beruf hindert oder beeinträchtigt, hat der letz-tere den Vorrang (Mth. 10,37). – Vielmehr erhebt das Christenthum jeden Beruf durch das Zusammentreffen der religiösen Berufung mit ihm zu sittli-chem Werthe (1 Kor. 7,20–24).

cf. 1 Th. 4,11.

3 Rothe, Theologische Ethik 3,432–4388 Nach GdP 1,52 ist an Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum, Buch I Kapitel 17 (1,157–169) und 23 (1,233–241) gedacht.14 Calvin, Institutio III 10,6 CR 30,532; ed. Barth 4,180,3614 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520). In: Sämtliche Schriften, ed. Walch 10,305; WA 6,409,1–8; vgl. Rit-schl, Unterricht § 28 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 4415 Wenn de votis monasticis sich auf das Vorhergehende bezieht, dann ist gemeint: Luther, De votis monasticis iudicium (1521); Wittenberger Ausgabe Band 2 (1546), 314; WA 8,646,34f.; 647,10–12; vgl. Ritschl, Unterricht § 28 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 44f. Bezieht es sich auf das Folgende, dann geht es auf Confessio Augustana XXVII (= II 6) „De votis monasticis“, ed. Hase 32; BSLK 110–11916 Confessio Augustana XXVI.XXVII, ed. Hase 28.32; BSLK 100.110

3 Rothe … 432 ff.] am Rand mit Bleistift8f. vertretenen Standpunct] über der Zeile und am Rand14f. hingegen … monasticis.] am Rand16 C.A. II,5.6.] am Rand

5

10

15

20

25

118 I. Theil VIII. Beruf

Page 169: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Socialer Beruf und religiöse Berufung sind nämlich nie Resultat empirischer Freiheit oder bewußter Absicht, sondern zu beiden verhält sich der Mensch, äußerlich angesehen, unfrei. Aber wie der Mensch nur durch die Berufung zu göttlichem Heil den vollen Umfang seiner sittlichen Bestimmung und Freiheit gewinnt, so weiß sich der Mensch auch nur im Berufe seiner Fähigkeiten mäch-tig und zum Widerstande gegen die Beschränkung geschickt, welche von der menschlichen. Gesellschaft ausgeht. Aber allerdings wird sich das sittliche Frei-heitsgefühl im Berufe nie so weit erstrecken, um den Eindruck einer Nöthigung zu demselben aufzuheben; im vollsten Maaße nicht, wenn auch der Sklaven-stand als Beruf angesehen werden soll. [85] Wenn nun aber unter dem Ge-sichtspunkt der göttlichen Berufung der specifische Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes aufgefaßt wird, so ergiebt sich auch für den Sklavenstand die versöhnende Lösung zwischen Nöthigung und Freiheitsgefühl. Der Sklave, der sich als Kind Gottes weiß, weiß, daß auch die schmähliche sociale Stellung, die ihm aufgenöthigt ist, Gottes Bestimmung gemäß ihm zur Entwickelung sei-ner sittlichen Anlagen und Erreichung seiner Bestimmung dienen muß (Rom. 8,28). Derselbe Grundgedanke erstreckt sich aber auch auf alle Lebensstellun-gen; denn so unbedingt ist Niemand von vornherein mit seinem Beruf ausge-söhnt, daß er nicht hin und her der Besinnung darauf bedürfte, daß er in dem ihm von Gott verliehenen Beruf ausharren, dessen Unannehmlichkeiten tragen, aber auch nicht denselben überschreiten dürfe. In dieser durch den Gedanken der Berufung vermittelten Eingliederung des sittlichen Berufsbewußtseins in den Umfang der göttlichen Providenz liegt ferner der Schutz dagegen, daß man seinen Beruf innerhalb der menschlichen Gemeinschaft überschätze, und ihn von den allgemein sittlichen Interessen ablöse. Denn jede Berufsstellung und je-des Standesbewußtsein ist in seiner Weise dieser Gefahr ausgesetzt. Ferner aber ist auch der bürgerliche Beruf, wenn er als sittlich aufgefaßt, und wenn er als Mittel für das Reich Gottes ausgeübt wird, das Gebiet des eigentlichen Dienstes Gottes, den das Christenthum gestattet und fordert. Vergleiche die Be-urtheilung des Sklavenstandes (1 Petr. 2,18–20; Kol. 3,22–24; Eph. 6,5–8) und des Apostelberufs (Rom. 1,9; 15,16; Phil. 2,17; Gal. 1,15.16; 1 Kor. 9,16.17). Aller sonst so zu nennende Gottesdienst, wird seinen Werth nur haben in seiner Unterordnung unter den sittlichen Dienst Gottes in der Berufsarbeit. – Ande-rerseits ist der sittliche Beruf auch ein für den Zweck des Gottesreiches nothwendiger Begriff, denn er ist die Form der Freiheit im Gesetz der aus der Erlösung hervorgehenden Autonomie. Dies erprobt sich an der Regel für die Bildung des Begriffes der sittlichen Pflicht in dem unermeßlichen Umfang der

118,25 cf. … 4,11.] am Rand; folgt <1 Petr. 4,15.>6 gegen … Beschränkung] am Rand20 verliehenen] korr. aus Be33–36 Andererseits … an der] am Rand statt <Der sittliche Beruf giebt auch> <<d|ie>>

5

10

15

20

25

30

35

119§ 35 Beruf und Reich Gottes

Page 170: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

im Allgemeinen gebotenen Liebe. Denn so wie dies Gebot dem Umfange des Gottesreiches entspricht, so kann dasselbe in einem Sinn verstanden werden, der eine aufs Äußerste zersplitterte Thätigkeit fordert und alle Sammlung und Concentrirung ausschließt. Wenn aber der besondere Beruf als die Form unse-rer sittlichen Thätigkeit erkannt ist, als die Grenze, in der die Aufgabe des Got-tesreiches regelmäßig geübt werden muß, so ist die Aufgabe der Nächstenliebe als eine erfüllbare zu erweisen. Hienach ist die Gal. 6,10 bezeichnete Abstufung nicht eine zufällige, [86] sondern nach dem besonderen Berufe der Christen für ihre besonderen Gemeinschaftszwecke bemessen (§ 18.). Also fordert das Chri-stenthum nichts weniger als eine Polypragmosyne, über deren Ausübung die nächsten Pflichen vielleicht vernachlässigt werden. Der Beruf ist die Form des einheitlichen Lebenswerkes (Jak. 1,4; Gal. 6,3.4) worauf man sein Selbstgefühl auch im Verhältniß zu Gott und dessen Gericht stützt (1 Kor. 3,6–8; 4,1–4; 1 Thess. 2,19; Phil. 2,16; Rom. 15,16–18). Exempel an Zinzendorf, Lebensbe-schreibung von Reichel (1790) S. 18.40–45.47–49.52.130. Indem er auf den Wunsch seiner Familie ein Hof(Verwaltungs)amt in Dresden annahm, that er es mit dem Vorbehalt, demselben möglichst wenig Zeit und Mühe zu widmen, sondern die Gelegenheit der größern Stadt zu benutzen, um dem Heilande See-len zu gewinnen. Es gereicht ihm bei dieser vorsätzlichen Untreue gegen sein Amt zur Entschuldigung, daß in seiner Zeit dem Staate kein sittlicher Werth beigemessen wurde, sondern daß der Staat als Privateigenthum der despoti-schen Fürsten, als Anhang des Hofes betrachtet wurde. Aber unserer Einsicht gemäß ist die Betrachtungsweise unsittlich; aber auch Zinzendorfs späterer An-sicht gemäß. Vgl. Varnhagen S. 263. „Die Ämter in der Gemeinde können auch mit Menschen besetzt werden, die keine Kinder Gottes sind, wenn sie übrigens dazu geschickt sind.“

§ 36. 32 D a s Vo r b i l d C h r i s t i .

NB. Apologia C.A. XIII § 48–50: Perfectio est in hoc quod Christus addit (Mth. 19,21): Sequere me. Exemplum obedientiae in vocatione propositum est … Vocationes sunt personales, sicut negotia ipsa variant temporibus et

9 S. oben S. 88,8 (§ 25!)14 Reichel, Leben des Grafen von Zinzendorf 18.40–45.47–49.52.13024 Varnhagen von Ense, Leben des Grafen Ludwig von Zinzendorf, 26328 Apol. XXVII 48–50, ed. Hase 287; BSLK 391,44–46; 392,4–11

9 (§ 18.)] über der Zeile mit Einfügungszeichen nach dem Punkt11–14 Der … 15,16–18)] am Rand12 Jak. 1,4;] über der Zeile24–26 „Die … sind.“] im freien Teil der Zeile und am Rand28–121,3 NB … vocationi.] am Rand

5

10

15

20

25

30

120 I. Theil VIII. Beruf

Page 171: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

personis, sed exemplum obedientiae est generale. Perfectio erat futura illi iuveni, si huic vocationi credidisset et obedivisset: ita perfectio nobis est, obedire unumquemque vera fide suae vocationi.

Abgesehen davon, daß Christi Leben und Leiden Mittel der göttlichen Liebesoffenbarung ist, durch welche nach unserer dogmatischen Erkennt-niß die Gemeinde gegründet und die Umwandlung des Menschenge-schlechts und seiner geistigen Geschichte herbeigeführt worden ist, wird Christi Leben und Leiden von den Aposteln in der Begrenzung des ethi-schen Processes als Vorbild der Gläubigen bezeichnet. Denn die im Got-tesreich gebotene Liebe macht den Inhalt des persönlichen Lebensbildes aus; und mit Rücksicht auf die Liebe Christi (Eph. 5,2; 1 Kor. 11,1; Rom. 15,7; 1 Joh. 2,6) sowie auf seinen praktischen Gemeinsinn (Phil. 2,5 ff.) sind die hauptsächlichen Aussprüche der Art gemeint. Weiterhin ist dar-aus gefolgert, daß man um des Vorbildes Christi willen auch leiden müsse (1 Petr. 2,21; 4,13; 2 Kor. 1,5; Kol. 1,24). – Diese apostolischen Anwei-sungen werden von der m y s t i s c h e n Theologie in dem Sinne verwen-det, daß eine asketische Vernichtung der Selbstheit und eine Verzichtlei-stung auf alle positiven Lebenszwecke herauskommt. Taulers Nachfolge des a r m e n Lebens Christi: Das wahre geistliche Leben ist die Armuth; denn Armuth ist eine Gleichheit Gottes; Gott ist ein von allen Kreaturen abgeschiedenes Wesen, Armuth ist dasselbe; abgeschieden ist, [87] was an nichts haftet, Armuth haftet an nichts außer an Gott. Der Mensch soll arm sein an Erkennen in Bildern, der Mensch soll auch an Gnaden und Tugenden arm sein, sofern sie creatürlich sind, um die einfache Tugend der mystischen Einheit mit Gott zu gewinnen. Vollkommene Armuth des Geistes erfordert auch die Armuth des Leibes. Diejenigen, welche allen Dingen ausgehen äußerlich und innerlich, und eine fleißige Einkehr haben in sich selbst, und lugen, was Gott von ihnen wolle haben, und geben der rechten Wahrheit Statt, an ihnen zu wirken, und dazu sich üben äußerlich in allen Tugenden, und was sie nicht vermögen mit den Werken, mit dem Willen vollbringen, diese sind auf dem Wege der Vollkommenheit, in sie kommt der Geist Gottes, und ziehet sie in sich; und indem sie aller Dinge ledig werden, wirket Gott in ihnen ohne alles Hinderniß; des Menschen Geist wird Ein Geist mit Gott, dadurch daß er Christo nachgehet, wie er uns vorangegangen ist. Seine Werke nach der Gottheit sind zwar nicht

18 Das Buch von geistlicher Armut (früher Tauler zugeschrieben) 1,1–4.6.10.114–117; ed. Denifle 3.4.56f. – Vgl. Ritschl, Untersuchung des Buches von geistlicher Armuth; OR 2,365; 378f.; vgl. OR 2,378f.

6f. Gemeinde … herbeigeführt] korr. aus Umwandlung des Menschengeschlechts und seiner geistigen Geschichte begründet12 praktischen Gemeinsinn] über <Demuth>

5

10

15

20

25

30

35

121§ 36 Vorbild Christi

Page 172: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nachzuahmen, aber seine Werke nach der Menschheit, als arm sein, elend und verschmäht sein, Hunger und Durst haben, Pein leiden und alle Tu-genden, die in Christo waren, als demüthig, geduldig, sanftmüthig sein. Denn der wahre Gehorsam, der mit Adam unterging und in Christus wi-der lebendig ward, ist, daß der Mensch ohne Selbstheit und ohne Ichheit sei (Martensen, Meister Eckart S. 89.90). – Die Theorie verkennt die Be-dingungen, unter denen der Wille Zwecke setzt und durch seine Thätig-keit verwirklicht. 1. Wenn Christus Vorbild für unser Handeln ist, so kann der Gedanke nur ausgeführt werden unter der Voraussetzung, daß Christi Zweck auch der unsere werden kann, und daß die Selbstverläug-nung, das Leiden, kurz die asketische Seite des sittlichen Lebens in Unter-ordnung unter den positiven Lebenszweck gefaßt und ihr Werth nur da-nach bestimmt werde. Indem nun in Christus als dem Endzweck seines Lebens die Darstellung der Liebe Gottes gegen die Menschen und die Stif-tung des Gottesreiches erkannt ist, so ist schon § 17 erwiesen, daß die Liebe nicht den persönlichen Selbstzweck ausschließt, ferner, daß das frei-willige Leiden nicht die letzte und höchste Aufgabe Christi ist, sondern nur den Umständen entsprechendes Mittel zur Gründung des Gottesrei-ches und zur Erreichung der eigenen Verklärung. 2. Zwar ist nicht der Genuß überhaupt Endzweck des Lebens als sittlichen, und Niemand ist berechtigt zu einem bestimmten quantum und quale von Lustempfindung. Aber der Wille strebt überhaupt nur, sofern er durch die Erwartung von Lust gereizt wird, die ihm der Maaßstab für den Werth der erstrebten Gü-ter ist. Ist die allgemeine Selbsterhaltung Bedingung für unsere sittliche Willensbethätigung, so ist nicht Hunger und Durst sittliche Pflicht, son-dern die Lust ihrer Befriedigung die erste Bedingung für die Kraftbethäti-gung des sittlichen Willens. Allerdings kommt in Betracht, daß die sittli-che Pflicht wieder der Maaßstab für die Quantität des erlaubten Genusses ist. Aber auch an der sittlichen Pflichterfüllung ist die Erwartung der be-gleitenden geistigen Lust, die Steigerung des sittlichen Selbstgefühls der unumgängliche Reiz, in welchem sich der Werth der sittlichen Zwecke einprägt. Vgl. Christus Joh 4,34. – 3. Indem jenes sein Beruf als Religions-stifter war, [88] so ordnet sich sein verschiedenartiges Thun und Leiden diesem Begriff unter. Durch diesen Begriff ist erst der specifische Werth der Persönlichkeit und des geschichtlichen Wirkens Christi herzustellen

121,35 Zitate aus „Tauler“, in: Martensen, Meister Eckart 89f.15 S. oben S. 85,3 (§ 24!)

6 89.90).] folgt Einfügungszeichen für den anschließend gestrichenen Abschnitt In … Seite 143ff.). s. unten S. 123,30–124,2119–32 2. … 4,34. –] am Rand29f. begleitenden] folgt <sittlichen und>

5

10

15

20

25

30

35

122 I. Theil VIII. Beruf

Page 173: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

(Dogmatik § 66.70). Also ist auch sein Vorbild nicht blos im Allgemeinen darauf bezogen, daß man die Aufgabe des Gottesreiches dem einzelnen Thun und Leiden Christi absieht, daß man s|einen Gemeinsinn und Selbstverläugnung materiell nachahmt, sondern darauf, daß man aus der Einsicht in den Beruf Christi für das Gottesreich seinen eignen Beruf für dasselbe ableitet und bestimmt. So lange das Gottesreich mit dem Gegen-satz der Welt zu ringen hat, bringt die Ausübung des nach dem Zweck des Gottesreiches bemessenen sittlichen Berufs für Jeden ein Maaß von Lei-den mit sich. Die Zumuthung 1 Petr. 2,21 bemißt sich danach, daß die er-ste christliche Gemeinde noch in demselben schroff ausschließenden Ver-hältniß zur Welt stand, wie Christus selbst; in dem Maaß, als das Reich Gottes Raum in der Welt gewinnt, wird das Leiden geringer oder anderer Art; es wäre also eine Mißdeutung des Vorbildes Christi wenn man, um gleiches wie Christus zu leiden, in berufswidriger Weise Widerstand pro-vocirte oder sein Leben asketisch einzwängte. Verkennung, Mißdeutung, Geringschätzung und Verfolgung erfährt die sittliche Treue und Energie schon von selbst. Damit aber gerade von dieser Seite das Vorbild Christi nicht doch verfehlt werde, ist Phil. 2,5 ff. zu beachten. Christus als das vollkommene Ebenbild Gottes war nach seinen Anlagen dazu berechtigt, eine Herrscherstellung einzunehmen. Nicht nur hat er dieselbe nicht wie Adam in gewaltthätiger Weise erstrebt, sondern auch nicht in directer Ausübung seines Rechtes. Vielmehr hat er sich in die Knechtsstellung zu Gott versetzt, und den Gehorsam gegen Gott bis zum Tode gemäß seiner Erkenntniß seines Berufs vollzogen. Der Gemeinsinn und die Selbstver-läugnung in Hinsicht seiner wohlbegründeten Ansprüche an den Men-schen sind hier als Züge des Vorbildes Christi aufgestellt, die auch bei der energischen Ausübung des im Gottesreich gegebenen sittlichen Berufes nicht fehlen dürfen. Diese Bedingung ist aber auch eingeschlossen indem Paulus von jedem verlangt, in seinem Beruf sich als doûlov jeoû zu be-währen (1 Kor. 7,22). – 4. Die Abmessung des sittlichen Handelns durch

3 Gemeinsinn] über <Demuth>4 materiell] über der Zeile11 als] korr. aus das12 oder] über <Îundù>21 directer] korr. aus A24 Gemeinsinn] korr. aus Demuth26 Züge] korr. aus Vorzüge30–124,21 4. … Literatur!] am Rand statt <In der Theologie beider evangelischen Confessionen ist die Deutung des Vorbildes Christi anders ausgefallen. In der l u t h e -r i s c h e n Ascetik, welche von Johann Arnd her unter dem Einfluß Taulers und ande-rer [89] Mystiker steht, wird immer nur der unbestimmte Sinn der Selbstverläugnung, die Abkehr von den irdischen Dingen, die Hinwendung zum himmlischen Ziel aus dem Vorbilde Christi abgeleitet. Das ist zu weit. Die r e f o r m i r t e Ascetik führt das Vor-bild Christi nach dem Schema der 3 Ämter durch; jeder Christ hat als Prophet den An-

5

10

15

20

25

30

123§ 36 Vorbild Christi

Page 174: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

das Bewußtsein zum Beruf ist der Grund für die sittliche Eigenthümlich-keit und Schönheit, dafür daß die erscheinenden Handlungen im Zusam-menhange die allgemeine Idee durchscheinen lassen. Das Schöne, sofern es als Ziel der Kunstthätigkeit in besonderer Erscheinung vorgestellt wird, ist das Ideal; sofern das sittliche Handeln auch dem Maaßstab des Schö-nen unterliegt, gilt sittliches Ideal. Dies in der Person Christi ist der höhe-re und richtigere Begriff als der des Vorbildes. Daß also Christus nur sitt-liches Ideal ist, beruht auf der Geltung des Begriffes des Berufs für ihn und demgemäß für uns. Strauß, Leben Jesu für das deutsche Volk S. 625 ff. Christus sei Fortbildner des Menschheitsideals und unter seines Gleichen in erster Reihe; er habe demselben durch die religiöse Fassung, die er ihm gab, eine höhere Weihe, durch die Verkörperung in seiner Per-son die lebendigste Wärme gegeben. Indeß sei er in dieser Reihe weder der erste noch der letzte. Vielmehr sei sein ethischer Gesichtskreis einseitig und lückenhaft, denn voll entwickelt sei nur, was sich auf Gottes- und Nächstenliebe, auf Reinheit des Herzens und Lebens des Nächsten bezie-he, hingegen die Familie werde durch seine eigne Praxis zurückgesetzt, für Staat, für Erwerb, für Kunst und schönen Lebensgenuß fehlen ihm von vorn herein die rechten Begriffe. … Ja wenn Jesus ein Systematiker der ethischen Theorie hätte sein wollen, dann fehlt ihm auch der Begriff für Kriegskunst, für Literatur, namentlich für Erwerb durch Literatur!

[89] Abschluß: Das Reich Gottes begreift alle Berufsthätigkeit in den ein-zelnen natürlichen Gebieten unter sich, und wird dadurch als Ganzes ge-gliedert. Sonst würde es in dem Mönchthum daneben stehen. Andererseits hat dies seine Probe daran, daß es einen verkehrten Familiensinn, Patriotis-mus, Standesehre giebt, welche nur durch die Humanität zu berichtigen sind, diese aber ist das Element des Reiches Gottes.

123,30 Zu dem gestrichenen Text (s. textkrit. App.): Nach GdP 2,49 ist das dritte Buch von Johann Arndt, „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ „nach dem Muster Taulers gearbeitet“; Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,1439 Strauß, Leben Jesu für das deutsche Volk 625f.

deren zu lehren, als Priester sein inneres Leben Gott darzubringen, und dem König-thum Christi entsprechend dem theokratischen Gemeinwesen seine Dienste zu wid-men. Diese Deutung ist künstlich und zu eng (Schneckenburger I, S. 143ff.).> Dieser Abschnitt wurde vor der Streichung durch Einfügungszeichen an eine frühere Stelle des Paragraphen versetzt; s. oben S. 122,62 im] korr. aus in folgt <jeder>8 des Berufs] des über der Zeile14 sei] korr. aus ist15–17 voll … hingegen] am Rand22–27 Abschluß: … Gottes.] am Rand26 die] folgt <Gränze der>

5

10

15

20

25

124 I. Theil VIII. Beruf

Page 175: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[89 a I] Neuntes Capitel. Die Kirche als selbstthätige Gemeinschaft.

§ 37. 33 Die Gemeinschaft der Gottesverehrung.

Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Sofern sie unter dem religi-ösen Gesichtspunkt als göttliche Stiftung vorgestellt und mit Glauben wahr-genommen wird, besteht sie nach C.A. 7. unter den Merkmalen der Verkün-digung des Wortes Gottes nach reinem Verstand und der Ausübung der Sa-cramente in ihrer ursprünglichen Form. Dies sind die Mittel, durch welche Gott den Glauben wirkt und die Gemeinde der Gläubigen bildet; sie sind also die Hauptmerkmale für das Wesen und für das Dasein der Kirche. Sie sind aber nicht die einzigen Merkmale. Sofern die Kirche in ihrer Art selbst-thätig wird, Subject ihrer Geschichte, treten andere Merkmale hervor. Hier-über sind aber die verschiedenen Theile der christlichen Kirche und die ver-schiedenen Parteien in der evangelischen nicht einig. Katholisch denkt man die hierarchische Verfassung als das Hauptmerkmal der selbstthätigen Kirche weil von ihr die richtige Lehrüberlieferung und die echte Form der Gottesver-ehrung abhänge. Einen solchen rechtlichen Maaßstab lehnt die evangelische Kirche ab; weil Recht und Religion sich nicht decken. Nach diesem Maaß-stab würden wir zugestehen, überhaupt nicht Kirche zu sein. Auf die Vielheit der staatskirchlichen Bildungen des Protestantismus begründet Rothe das Ur-theil, daß seit der Reformation die Kirche immer mehr im Staate verschwin-den müsse, weil der Staat als die vollkommene Gemeinschaft der Sittlichkeit auch die adäquate Erscheinung der Frömmigkeit oder Religion sei, das Chri-stenthum aber die absolut sittliche Religion. Nach § 32 ist der Staat nicht die Gemeinschaft der Sittlichkeit als solcher, sondern die Gemeinschaft des Vol-kes in der relativ sittlichen Gemeinschaft des Rechtes; ferner das sittliche Handeln ist eine Erscheinung der christlichen Religion, aber nicht die einzige. [89 b I] Denn sofern das Christenthum als die absolute sittliche Religion

1 Als Neuntes Capitel enthielt Ms. B* zunächst auf S. 89–96 den unten S. 194 Beilage I.1) abgedruckten Text, der noch der Vorlesung WS 1867/68 (V 7) zugrunde lag. Spä-ter faßte Ritschl das Kapitel neu auf den eingelegten Blättern S. 89 a I bis 89 c II, wo-bei er § 38 eine neue Überschrift gab.5 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11; BSLK 6119 S. oben S. 106,2423 S. oben S. 107,8

1 Neuntes] Das 9. Kapitel mit § 37–39 (im Ms. ursprünglich S. 89–96, s. Beilage I.1 unten S. 194) wurde auf zwei Folioblättern neu gefaßt, die mit den Seitenzahlen 89a und b sowie 89c und d versehen sind. Da die Blätter einmal gefaltet und als Quarthef-te beschrieben sind, ergibt sich die oben im Text eingefügte Seitenzählung.23 Staat] folgt <als solcher>

5

10

15

20

25

125§ 37 Gemeinschaft der Gottesverehrung

Page 176: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

doch überhaupt Religion ist, so producirt es einen Cultus im technischen Sinn, und in dieser Hinsicht ist die Gemeinschaft der Christen ecclesia. Die Christen haben die Priesterwürde (1 Petr. 2,4.5.9; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 7,19; 10,22; 13,15.16; Rom. 12,2; Eph. 2,18), das Recht, Gott zu nahen. Ihr Opfer ist das Opfer der Lippen, das Gebet (1 Petr. 2,5; Hebr. 13,15 cf. Hos. 14,3) das Bekenntniß Gottes gleich Dank und Anerkennung der Ehre Gottes (Eph. 1,6), dem das Bitten nur untergeordnet ist (Kol. 3,16; 1,12; 1 Th. 5,18; Phil. 4,6; Hebr. 12,28, Va t e r u n s e r ). Das Bekennen Gottes im Gebet ist die Selbstthätigkeit der Religionsgemeinde, also das wesentlich ethische Merkmal der Kirche. Daneben fordert Jesus, daß man ihn in seiner Würde vor den Menschen bekennen soll (Mth. 10,32 cf. Rom. 10,9.10; Hebr. 3,1; 4,14; 10,23.; 1 Joh. 2,23; 4,15). Dies ist nur indirect eine religiöse Thätigkeit, indem dadurch die religiöse Eigenthümlichkeit dieser Gemeinde von der Welt unterschieden und zur Gewinnung derselben angewendet wird. Dies ist noch weit von einem Lehrbekenntniß entfernt. Ein Ansatz zum antithetischen Be-kennen 1 Joh. 4,2; 2 Joh. 7. Indem der Anlaß dazu im Gnosticismus zur vol-len Entwicklung kommt, ist die Glaubensregel oder das apostolische Symbol als das erste antithetische Bekenntniß gebildet worden, und in dieser Weise sind alle übrigen kirchlichen Bekenntnisse entstanden, wenn Häresien oder andere Trennungen eintraten. Nur diesen beschränkten und secundären Spielraum haben die theoretischen Bekenntnisse der Particularkirchen. Im Vergleich mit der Bestimmung der Kirche zur E i n h e i t auch als selbstthäti-ge Größe sind [89 b II] die Lehrbekenntnisse zufällig oder hinderlich. Sie sind aber auch für jede Particularkirche nicht wesentliche Merkmale, da sie keine Formeln der Gottesverehrung oder des Gebetes sind. G r u n d l a g e n der Particularkirche sind sie auch nur, wenn man diese als Rechtsgemeinschaft denkt; wie ein Verfassungsgesetz die Grundlage des Staates ist, solange es Rechtskraft hat. Aber wie eine Verfassung doch ihrer Entstehung nach ein Product des Staates ist, und als solches bezeichnet ist durch die Möglichkeit ihrer Aufhebung, so ist jedes kirchliche Bekenntniß gleich Lehrgesetz nur im relativen Sinn Merkmal einer rechtlichen Particularkirche. Ueber diese Bezie-hungen liegt in den reformatorischen Symbolen nichts vor, da man gar nicht darauf aufmerksam war. Die C.A. hat blos den allg|emein religiösen und dogmatischen Begriff von der Kirche festgestellt und das kirchliche Amt als rechtliches Merkmal der sich selbst vollziehenden Gemeinschaft der Gottes-verehrung. C.A. 7 giebt auch nicht indirect die Merkmale der particularen activen Kirche an. Denn pura doctrina evangelii, die Predigt des Göttlichen Worts nach reinem Verstand ist Merkmal der Kirche, indem nicht doctrina,

33 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11; BSLK 61

3 2,4.5.9;] folgt <4,18>7 1,12;] folgt <Eph.>

5

10

15

20

25

30

35

126 I. Theil IX. Kirche

Page 177: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sondern evangelii betont wird. Unter den Merkmalen der christlichen Voll-kommenheit II,6 fehlt das Bekenntniß zu allen Glaubensartikeln, am wenig-sten wird eine Lehre vom Abendmahl obligatorisch gemacht, da eine solche auch nicht unter d o c r t r i n a evangelii fallen würde. Diese melanchthoni-sche Confessio Saxonica und modern lutherische Deutung jenes Artikels nä-hert sich dem socinianischen Kirchenbegriff in welchem die Kirche gleich Schule definirt wird. Catechismus Racovensis 489: Salutaris Christi doctrina est vera ecclesia. Tenere salutarem Christi doctrinam, est ecclesiae Christi na-tura non signum.

[89 a II] § 38. 34 Der Unterschied und das Verhältniß zwischen Kirche und Reich Gottes.

Das Bekennen oder Beten ist die Aufgabe der christlichen Gemeinde, welche daraus folgt, daß das Christenthum die vollendet geistige Religion ist. Die Aufgabe des sittlichen Handelns im Reich Gottes folgt daraus, daß es die vollendet sittliche Religion ist. Der Artunterschied beider Functionen er-giebt sich darin, daß jede sittliche Handlung zugleich Selbstzweck und Mit-tel zu anderen Zwecken ist. Hingegen Cultushandlungen, Gebet und was ihm gleichartig ist, ist immer nur Selbstzweck, und wird mißbraucht, wenn noch ein anderer Zweck nebenherspielt. Das Cultushandeln ist also eine Art darstellenden Handelns wie die Kunst. Aber nicht wie der Kunstgenuß, son-dern gemäß der Einsetzung des Willensentschlusses in die Abhängigkeit von Gott, wie das künstlerische Schaffen. Diese Deutung begründet sich auf Rom. 12,1; Kol. 1,22.28. Diese Deutung des Cultus ist in der evangelischen Kirche von Anfang an unkenntlich gemacht durch die Hervorhebung der Predigt und noch mehr durch die Verschiebung des zu predigenden göttli-chen Wortes durch Dogmatik. In dem Maaße als dies üblich ist, wird nicht christliche Kirche sondern christliche Schule verwirklicht. Ist aber das Ge-bet als die Substanz des Gottesdienstes anerkannt, so hat die Predigt die Be-stimmung, die gemeinsame Gebetsstimmung anzuregen und zu orientiren, was durch die statutarischen liturgischen Formeln nicht allein befriedigt wird. Von dem Cultus ist das sittliche Handeln als Inhalt des Reiches Gottes

2 Confessio Augustana XXVII 49f.; ed. Hase 36; BSLK 117,28–118,24 Melanchthon, Confessio Saxonica „De ecclesia“, CR 28,409; ed. Stupperich 6,121,16–207 Catechesis Racoviensis q 489, ed. Oeder 1018f.

4 auch] über <gar>5 Confessio Saxonica] über der Zeile15 sittliche] korr. aus S22 das] korr. aus die

5

10

15

20

25

30

127§ 38 Kirche und Reich Gottes

Page 178: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

unterschieden. Es ist also zu vermeiden, die Beziehungen der gottesdienstli-chen Gemeinschaft, und die rechtlichen Formen [89 c I] dieser Gemein-schaft als Reich Gottes zu bezeichnen. Man kann in jener Beziehung Großes leisten und in dieser Hinsicht unfruchtbar sein Mt. 7,21–23. Aber irrefüh-rend ist auch in dieser Hinsicht die Lehre Luthers und Calvins von dem reg-num Christi spirituale, welches nur gleich Kirche ist, obgleich Beide vorbe-halten, daß dabei keine rechtliche Ordnung mitgedacht werde. Denn Me-lanchthon ist so indiscret gewesen, das ministerium verbi divini einzurech-nen; dann kommt man zu der katholischen Verwechselung von Gottesreich und rechtlich verfaßter Kirche. Aber beide Functionen der christlichen Ge-meinde sind auf Wechselwirkung angewiesen. Nach § 23 ist die Thätigkeit im Reich Gottes nicht sinnenfällig; die Zusammengehörigkeit zu diesem Zweck ist also nur erkennbar an der Cultusgemeinschaft. Umgekehrt ist die Cultusgemeinschaft bedingt durch die gegenseitigen sittlichen Hilfsleistun-gen, die religiöse Erziehung durch die sittliche. Zur religiösen Erziehung ge-hört nun auch ein Element der Schule und zum richtigen gemeinsamen Be-ten gehört auch ein vollständiges Verständniß des Christenthums. Deshalb hat die Kirche nach ihrem ethischen Begriff in der Form der Selbstthätigkeit zu Merkmalen das Bekenntniß gleich Gebet und das kirchliche Glaubensbe-kenntniß oder die Lehrordnung und Cultussitte. Das Wort Gottes und die Sacramente wirken auch von Gott her nur so, wie die Gemeinschaft der Gläubigen sich auch durch jene activen Merkmale vollzieht. Sie sind sowohl Folgen als Bedingungen jener Hauptmerkmale der Kirche. Ebenso sind die Rechtsmerkmale der Kirche namentlich das kirchliche Amt Folge und Be-dingungen der ethischen Merkmale der Kirche. Haben aber mit Reich Got-tes nichts zu thun.

[89 d I] § 39. 35 Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern Particularkirchen und zu den Secten.

Da die Einheit auch für die Kirche im ethischen Sinne ein nothwendiges Merkmal ist, so wird man durch die Erscheinung befremdet, daß die Kirche in vielfacher Weise getrennt ist. Allein diese Thatsache folgt im Allgemeinen

5 S. oben S. 80,6; 82,24; 83,77 S. oben S. 80,7; 82,2411 S. oben S. 80,1

4 leisten] korr. aus L4–10 Aber … Kirche.] in eckigen Klammern7 Denn] Ms.: Den10 und] folgt <Kir>

5

10

15

20

25

30

128 I. Theil IX. Kirche

Page 179: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

aus der nothwendigen Weltstellung des Christenthums. Soll sich dasselbe als die Religion der Menschheit bewähren, so muß es die früheren Bildungszu-stände in Religion Sitte, Politik innerlich überwinden, muß sie also in sein Gebiet aufnehmen. In der griechischen Kirche wiederholt sich die im altrö-mischen Staat herrschende Verbindung und Abhängigkeit des Sacerdotium vom Imperium. In der römischen Kirche bedeutet die Herrschaft des Klerus die Combination der platonischen Republik mit dem Manichäismus, daß die Wissenden herrschen, und daß die perfecti die eigentlichen Mitglieder der Religionsgemeinde sind, was in der Person Augustins zusammenkommt. In der schulmäßigen Orthodoxie beider evangelischen Confessionen welche de-ren Trennung herbeigeführt hat und aufrecht erhält, wirkt der Grundsatz der hellen|ischen Philosophie, daß das theoretische Erkennen die geistige Hauptfunction sei, welche das Fühlen und Wollen beherrscht, welche den Willen zum Guten bestimmt und den Werth der Person feststellt. In den Sec-ten wiederholt sich die Haltung der nacharistotelischen Philosophie, in der Verzweiflung daran, daß die Sittlichkeit anders als im Individuum zu Stande komme und daß eine sittliche Organisation der Menschheit erreichbar sei. Diese Proben scheinen nun aber zu beweisen, nicht daß das Christenthum die außerchristlichen Bildungsmotive überwindet, sondern, daß es von den-selben [89 d II] überall getrübt und eingeschränkt wird, daß es abstirbt, wo die unterchristlichen Maaßstäbe ungehindert in den eigentlichen Sinn des Christenthums eingerechnet werden. Dagegen gilt unsere religiöse Hoffnung auf Reformation der Kirche und die Beobachtung, daß in allen Particular-kirchen Personen sind, welche die religiöse und sittliche Bestimmung des Christenthums wirklich erfüllen. Insbesondere aber lehrt die Erfahrung im Protestantismus, daß mit der schulmäßigen Orthodoxie bisher immer die Ueberlieferung der Religiosität fortwirkt, welche der Reformation des 16. Jahrhunderts entspricht. Neben der verkrüppelten dogmatischen Tradition wirkt die richtige asketische Tradition, die Gotteskindschaft. – Allerdings ist aller Particularismus Ausdruck der Weltlichkeit, und der absichtliche kirchli-che Particularismus ist das Gegentheil der dem Christenthum zustehenden Weltüberwindung. Also ist in jeder Particularkirche Pflicht, nach der Eini-gung der Kirche zu streben. Diesem Streben können wir freilich keinen di-rect erfolgreichen Ausdruck geben. Die katholischen Kirchen verschließen sich demselben entweder ganz, oder die römische wählt dazu die falschen Mittel der Intrigue und Gewalt. Aber auch der Vereinigung der beiden evan-gelischen Confessionen die in der Auffassung der persönlichen Religion

10 beider] folgt <Conf>17 und … sei.] in eckigen Klammern30 absichtliche] über der Zeile33 Streben] folgt <Îerfolgtù>37 der] folgt <chr>

5

10

15

20

25

30

35

129§ 39 Kirche und Secten

Page 180: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nicht von einander abweichen, stehen eine Menge von nationalen und politi-schen Gründen, abgesehen von den dogmatischen Vorurtheilen entgegen. Endlich gehört zu einer Union ein quantitatives Gleichgewicht der zu uni-renden Particularkirchen, und eine Fortbildung der Lehre von der intellectu-ellen zu der religiösen Auffassung der Religion, welche vor 50–60 Jahren und seitdem nicht erreicht ist. Hingegen abgesehen von jeder Union [89 c II] ist innerhalb der protestantischen Kirche die Abendmahlsgemeinschaft nicht blos möglich, sondern nothwendig und auch jeder Katholik, der es nicht aus frivolen Rücksichten begehrt zuzulassen. Denn es heißt blos den Particula-rismus der römischen Kirche nachahmen, wenn man den von Melanchthon (Confessio Saxonica 1551) ausgesprochenden Grundsatz befolgt, der unter den damaligen Verhältnissen begreiflich ist. Es kommt auf die Stiftung Chri-sti an und nicht auf römisches und lutherisches Abendmahl. Unter den ob-waltenden Umständen der evangelischen Kirchen ist auch volle Abend-mahlsgemeinschaft das genügende Ziel, das zu erstreben ist. – Hingegen das Verhältnis zwischen Kirche und Secten steht anders. Soweit nämlich Menno-niten, Baptisten, Methodisten ihr Princip aufrecht erhalten, und nicht etwa davon zurückweichen, schätzen sie das Verhältniß zwischen Gemeinschaft und Einzelnen gerade umgekehrt als die Kirchen. Diese verstehen den Ein-zelnen immer als ein Ganzes, was aus dem umfassenden Ganzen in unmeß-barer Weise bedingt ist, und wieder auf dasselbe zurückwirkt. Die Secten verstehen die Gemeinschaft nur als Summe der Einzelnen Bekehrten, welche ihren Stand empirisch nachweisen müssen. Daher haben sie keine Erziehung, und erkennen nicht die Christlichkeit der Christenkinder an, deshalb fristen die Secten ihre Existenz durch Aussaugung der Kirchen, deren Christlichkeit sie theoretisch bestreiten. Diese Controverse spitzt sich in der Frage nach dem Recht der Kindertaufe zu. Sie ist weder apostolische Institution, noch im strengsten Sinne Sacrament, aber sie gewährleistet den Grundsatz der re-ligiösen Erziehung innerhalb der Kirche, und bürgt dafür daß diese ein Gan-zes und nicht eine Summe ist.

10 Melanchthon, Confessio Saxonica „De coena Domini“: „Vult hanc publicam sumptionem confessionem esse, qua ostendas, quod doctrinae genus amplectaris, cui coetui te adiungas.“ CR 28,417; ed. Stupperich 6,129,7–9

20 immer] folgt <nur>

5

10

15

20

25

30

130 I. Theil IX. Kirche

Page 181: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[97] I I . T h e i l : D e r P r o c e ß d e s r e l i g i ö s - s i t t l i c h e n W i l l e n s .

Z e h n t e s C a p i t e l . D i e G o t t e s k i n d s c h a f t .

§ 40. 36 vgl. § 14. E i n l e i t u n g .

Die Aufgabe der theologischen Ethik ist die Darstellung des selbständigen ac-tiven Lebens aus dem Princip der christlichen Religion. Die Darstellung des sittlichen Processes, der in dem christlichen Subject zu Stande kommt, hat also zur Voraussetzung, daß die Rechtfertigung und die von Gott gesetzte Heiligkeit der Person der intelligible Grund der besonderen sittlichen Wil-lensbewegung ist, so daß diese trotz des Selbstgefühls der Willensfreiheit im Subject selbst als von Gott abhängig anerkannt werde. Es kommt aber zu-nächst darauf an, in welcher Gestalt diese intelligible Bestimmtheit des per-sönlichen Wesens in das empirische Bewußtsein tritt, und so ein Gegenstand des Strebens und der Uebung, überhaupt Aufgabe für den Willen wird. Frei-lich liegt es in der Natur der intelligibeln Bestimmtheit, daß sie sich nur indi-rect, im Bewußtsein abspiegelt; die Functionen in denen dies geschieht, wer-den in dem Begriff der Gotteskindschaft auf den Urheber und Zwecksetzer des sittlichen Processes zurückgeführt. Es kommt also auf die Form und den

4 Zu vgl. § 14. (mit rotem Farbstift) s. oben S. 61,19

5f. selbständigen activen] am Rand statt <sittlichen>6 Religion.] korr. aus Religiosität.8 Rechtfertigung … gesetzte] am Rand10 ist,] Ms.: ist.10f. so … werde.] am Rand15f. indirect,] folgt <und partiell>18–133,7 Es … fide.] am Rand um die schon vorhandenen Zusätze herumgeschrieben statt < Vorher sind aus dem ersten Theile folgende Resultate zu recapituliren. 1. ‚Sitt-lich im Sinne des Christenthums‘ (korr. aus Religiös-sittlich) ist der Wille, sofern er nicht blos überhaupt durch Einen allgemeinen Endzweck bestimmt ist, sondern sofern er das Reich Gottes als solchen setzt, oder sofern die Liebe das Motiv seines Handelns ist. 2. Die Allgemeinheit des sittlichen Endzwecks wird in dem besonderen sittlichen Berufe zur Bestimmtheit des individuellen Willens, sofern der besondere Beruf die Form ist, in welcher die Uebereinstimmung der ‚individuellen‘ (über <sittlichen>) Anla-gen und des allgemeinen Endzwecks verwirklicht wird. 3. Demnach bietet der Begriff des besonderen sittlichen Berufs die concrete Grundlage für den specifisch sittlichen Willensproceß, und für die Anwendung der allgemeinen Regel des sittlichen Handelns auf den Einzelnen, d.h. der Begriff des Berufs ist das Maaß für den Begriff von Tugend und von Pflicht. 4. Die relig|iöse christliche Begründung der ethischen Begriffe wird nicht dadurch verbürgt, daß sie an positiver göttlicher Lehrauctorität gemessen wer-

5

10

15

131§ 40 Einleitung

Page 182: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Inhalt des Rechtfertigungsbewußtseins an, in welchem die religiöse Selbstän-digkeit des evangelisch Gläubigen sich bewährt. (Vgl. drittes Capitel § 19) So wie die Orthodoxie beider Confessionen den Frieden des Gewissens, also ein bestimmtes Gefühl zum Attribut des rechtfertigenden Glaubens und zum Ab-schluß der poenitentia rechnet folgert der Pietismus, daß man dieses erstre-ben müsse, also durch Meditation, Gebet. Dagegen machen die Kirchlichen geltend, nicht immer treffe dieses subjective Gefühl mit der wirklichen Recht-fertigung zusammen; man sei gerechtfertigt auch wenn man nur einen schwa-chen Glauben habe, man solle einen starken Glauben hervorrufen durch Ver-tiefung in das Object. Damit ist doch nur dieselbe Aufgabe gestellt, wie durch den Pietismus. Denn woran soll man die genügende Stärke des Glaubens er-kennen, außer an einem deutlichen Selbstgefühl und der Lust daran. Das Ob-ject der Meditation ist aber die allgemeine Verheißung, und den medius ter-minus für die Anwendung auf mich festzustellen will eben auf dem Wege der Orthodoxie und des Pietismus nicht gelingen. Aber die Aufgabe ist überhaupt schief gestellt. Man versichert sich seiner Qualität als Mensch dadurch daß man in d e r Weise thätig ist, nicht dadurch daß man über seine Herkunft grübelt; ebenso des Lebens im heiligen Geist. Also [98] würde die Anweisung folgen: Handle wie ein Gerechtfertigter, dann wirst du dieses Standes gewiß werden. Aber die Rechtfertigung hat nur ein entfernteres Verhältniß zum sitt-lichen Handelns. Ihr directes Correlat ist die Anerkennung d e r Abhängig-keit von Gott welche durch Rechtfertigung und Versöhnung ausgedrückt ist. Diese religiöse Function zerfällt nach den drei psychologischen Formen in den Vorsehungsglauben, das Gebet, die Demuth und Geduld des Christen. Es sind dieses reformatorische Gedanken, welche in Ascetik und Liederdichtung fortwirken; der Theologie aber sind sie entgangen, weil Luther sie nicht mit der Rechtfertigung sondern mit dem heiligen Geiste in Verbindung gesetzt

2 S. oben S. 64,156 Vgl. RuV 3,584

den, sondern dadurch, daß die menschliche Freiheit die an ihr unverkennbare Schranke nicht an der Natur sondern an der zwecksetzenden Freiheit Gottes findet; demgemäß ist auch die den Begriff [98] des Berufs begleitende Unfreiheit nicht auf scheinbare na-türliche Bedingungen, sondern auf das Verhängniß der göttlichen Vorsehung zurückzu-führen. ‚5.‘ (Ms.: 4. korr. aus 6.) Hiebei ist aber nicht irgendwelche Gottesidee voraus-gesetzt, sondern immer nur die, <von Gott> daß Gott durch Christus Vater der Gläubi-gen ist; hienach ist das Reich Gottes derjenige menschliche Endzweck, in welchem der wesentliche Selbstzweck Gottes realisirt wird. Hienach ist auch der Begriff der Vorse-hung bemessen, welche, indem sie freilich der menschlichen Freiheit eine Schranke setzt, doch dafür bürgt, daß ein dem Menschen gleichartiges Geistwesen, mit einem Zweck, der das Heil des Menschen in sich schließt, die sittliche Existenz des Menschen begründet und regelt. – Das empirische Bewußtsein in welchem sich die persönliche Heiligkeit des Gläubigen abspiegelt, ist die Demuth und der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes.>

5

10

15

20

25

132 II. Theil X. Gotteskindschaft

Page 183: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

hat, und weil man sie nicht zu den Glaubensa r t i k e l n rechnen konnte. – Christliche Vollkommenheit C.A. II,6. Perfectio christiana est serio timere deum et rursus concipere magnam fidem et confidere propter Christum, quod habeamus deum placatum, petere a deo et certe exspectare auxilium in omnibus rebus gerendis iuxta vocationem, interim diligenter facere bona opera et servire vocationi. cf. Art. 16: Evangelicam perfectionem collocant in timore dei et fide.

[100] § 41. 37 D e r G l a u b e a n d i e v ä t e r l i c h e Vo r s e h u n g G o t t e s .

Derselbe ist die der persönlichen Versöhntheit entsprechende objective reli-giöse Weltanschauung, und Selbstbeurtheilung. Dieser Glaube der für jeden Lebensmoment vollziehbar ist, ist nichts weniger als ein Element sog. natür-licher Religion, sondern in seinem vollen Umfang und entscheidenden Klar-heit erst auf dem Boden des Christenthums möglich. Jenes [101] wird im Naturalismus und Rationalismus irrthümlich angenommen, als Folge der orthodoxen Annahme, daß die Vorsehung Gottes ein Stück natürlicher Theologie sei. Aber weder im Heidenthum noch in der hebräischen Religion wird die allgemeine Zweckmäßigkeit der Welt unter Gott erkannt, und die specielle Zwecksetzung, welche Gott dem Einzelnen zuwendet. Im Allgemei-nen ungelöstes Problem von Würdigkeit und Glück im Alten Testament. Im Christenthum ist der Vorsehungsglaube möglich und nothwendig, weil Chri-stus und das Reich Gottes als das télov gelten, welches dem wesentlichen Liebeswillen und Selbstzweck Gottes entspricht. Allerdings in der objectiven Darstellung der Dogmatik bedingen sich die allgemeine Weltleitung und die Erlösung durch Gott gegenseitig, aber so, daß die Vermuthung jener durch die Gewißheit dieser bestätigt wird. Im religiösen Selbstbewußtsein aber ist die Gewißheit der Erlösung das subjective Motiv des Vorsehungsglaubens, also dieser die Probe für den status iustificationis. Die Hauptprobe ist frei-lich die Umkehrung des Urtheils über das Uebel, daß dasselbe nicht mehr Lebenshemmung, sondern wenn es gesellschaftlich ist, Martyrium, wenn es

2 Confessio Augustana XXVII, ed. Hase 36; BSLK 117,32–396 Confessio Augustana XVI 4 (frei zitiert), ed. Hase 14; BSLK 71,5–78 § 41 trug ursprünglich (Ms. B*) die Paragraphennummer 42 (s. Einleitung S. XXI).

8 § 41.] korr. aus 42.10 Versöhntheit] über <Heiligkeit>10 entsprechende] folgt <Art der>11 und Selbstbeurtheilung] über <,welche mit der Demuth in Wechselbeziehung steht>12 ein] Ms.: eine15–135,1 als … Erkennens.] am Rand

5

10

15

20

25

30

133§ 41 Glaube an Gottes Vorsehung

Page 184: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

persönlich ist, Erziehungsmittel, aber nicht jedesmal Strafvergeltung ist (Rom. 5,3; Hebr. 12,4–11; [Prov. 3,11.12] 1 Petr. 4,17–19). Daher sind die Leiden Gegenstand der Freude (Jak. 1,2; 1 Petr. 1,6–8; 4,12.13; 2 Kor. 7,4; Hebr. 10,34). Denn die Leiden sind in der Zweckordnung der Welt und mit Berücksichtigung der Einzelnen aufgenommen, welchen Alles zum Guten dienen muß (Rom. 8,28). Unterscheidet sich von der stoischen Ansicht, wel-che das Leiden als zufällig und deshalb als gleichgiltig setzt. Aber dies durchkreuzt doch die absichtliche teleologische Weltanschauung. Diese Schätzung der Leiden im Christenthum ist nicht die individuelle Nachah-mung des Verhaltens Christi. Denn wenn Christus sich als Gegenstand der Fürsorge Gottes ansah, so folgt daraus nicht, daß jeder von uns die gleiche Ansicht von sich gewinnen kann. Nach diesem Maaßstab der Nachahmung könnte man eher [102] von der gleichen Beurtheilung unserer selbst abge-schreckt werden. Aber indem man in Christus den Vertreter des absoluten göttlichen Zweckes erkennt, dem wir als seine Gemeinde nachzutrachten ha-ben, so folgt, daß wir in seiner Gemeinde die Geltung des absoluten Zweckes durch die Weltanschauung zu bewähren haben, in welcher jeder sich in allen Lagen als Gegenstand göttlicher Zwecksetzung zu beurtheilen hat. So verbürgt uns die Anerkennung unserer Abhängigkeit von Gott unse-re persönliche Selbständigkeit durch Gott, und die Erhabenheit über alle Hemmungen der Welt. In diesem Sinne rühmen wir uns als Gerechtfertigte unserer Hoffnung, d.h. der Dauer des in der Rechtfertigung gesetzten Ver-hältnisses (Rom. 5,2; pa%5hsía Hebr. 10,19; 3,6; 4,16; Eph. 3,12; cará 2 Kor. 1,24; Phil. 1,25; Rom. 15,13; 2 Kor. 3,11.12). Ferner in dem Friedens-stand mit Gott sorgt man nicht, weil Gott für uns sorgt (Phil. 4,5–7; 1 Joh. 5,14). Man stützt überhaupt sein Selbstgefühl auf den Gott der Vorsehung (Rom. 5,11; 1 Kor. 1,31; 2 Kor. 10,17), auf das Kreuz Christi (Phil. 3,3; Gal. 6,14). Dadurch wird dem Einfluß der Welt in jeder Beziehung seine bestim-mende Kraft entzogen, und weiter die Hemmungen von dorther verneint (1 Kor. 1,29; 3,21.23; Jak. 1,12; Rom. 8,32–39); insbesondere die Furcht vor dem Tode aufgehoben (Hebr. 1,14.15). – Der Vorsehungsglaube ist also der Maaßstab der religiösen Selbständigkeit und der religiösen und sittlichen Selbsterhaltung. Als die Verzichtleistung darauf ist der Selbstmord vielmehr ein Verstoß gegen die Religion als gegen die Sittlichkeit. – Der Vorsehungs-glaube füllt den Va t e r namen Gottes aus. Ist dieser die specifische Bezeich-nung der Art und Weise der christlichen Religion, so jener die specifische

1 nicht jedesmal] über <nie mehr>2 [Prov. 3,11.12]] so Ms.8 absichtliche] folgt <th>25 4,5–7] korr. aus 4,5–628 seine] folgt <hemmende>30 Jak 1,12;] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

134 II. Theil X. Gotteskindschaft

Page 185: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Bethätigung im Gebiete des Erkennens. [101] Dagegen begeht die antiratio-nalistische moderne Theologie den Fehler, den Werth dieses Glaubens zu un-terschätzen, der auch der alten Orthodoxie nicht eingeleuchtet hat. Was Ro-the als unbewußtes Christenthum im Gegensatz zum kirchlichen in unserer Zeit voraussetzt, wird sich nur in diesem Glauben nachweisen lassen. Die Christo gleichartige Gesinnung, die er meint, läßt sich entweder nicht, oder nur in dem Glauben an Gottes väterliche Vorsehung finden, der nur auf sei-ne Gründe zurückgeführt werden muß, um ihn als das eigenthümlich Werth-volle für das Christenthum aufzuzeigen. Denn auf dem Boden des Heiden-thums ist der Glaube an eine allgemeine und an eine liebevolle Vorsehung nicht möglich wegen der Mehrheit und wegen der sittlichen Beschränktheit der vorgestellten Götter. Jene schließt die Einheit des Weltzwecks aus, diese läßt auch in der griechischen Tragödie nicht die richtige Deutung des Ver-hältnisses zwischen menschlicher Freiheit und Schuld finden. Erst der Boden der Alttestamentlichen Religion erzeugt die Prämissen für den Vorsehungs-glauben, wenn auch dort die vollständige Durchführung nicht gewonnen wird. In Hinsicht des ganzen erwählten Volkes wird die Erkenntniß erreicht, daß so wie ein Mann seinen Sohn ziehet, so Gott das von ihm erwählte Volk zieht (Deut. 8,5). Hierin ist eingeschlossen, daß auch das Uebel als Strafe der göttlichen Heilsabsicht untergeordnet sei. Aber um die Anwendung dieses Grundsatzes auf den Einzelnen kämpft die israelitische Frömmigkeit in der gesammten didaktischen Poesie, ohne die Bedingungen und Folgerungen der Vatergüte Gottes völlig aufs Reine zu bringen. Das Postulat des Alttesta-mentlichen Vorsehungsglaubens ist nämlich das Glück des Gerechten und das Unglück des Gottlosen (Ps. 34). Indem also der Gerechte sich im Un-glück sieht, führt er dasselbe zunächst auf den Zorn Gottes zurück (Ps. 6) obgleich er sich keiner Bundbrüchigkeit bewußt ist. In den meisten Fällen wird jedoch von der Erfahrung göttlichen Zorns im Unglück auf die eigene Verschuldung geschlossen (Ps. 38). Peinlich wird aber das Problem, indem der Fromme neben s e i n e m Unglück das Glück des Gottlosen gewahr wird. [102] Hierin liegt die doppelte Umkehrung der ursprünglichen Erwar-tung. Die Schwierigkeit sucht man in verschiedener Weise zu lösen. Ps. 37 tröstet mit der Hoffnung, daß in der Zukunft das Verhältniß in Richtigkeit gebracht werde; zugleich tritt aber eine tiefere Einsicht ein in der Forderung,

3 unbewußtes Christenthum nach Birkner, Spekulation 82 Anm. 219 bei Rothe, Nach-gelassene Predigten 2,327f.

2 moderne] korr. aus T2f. unterschätzen,] folgt <Und>3–9 Was … aufzuzeigen.] in eckigen Klammern (Bleistift)9 für … Christenthum] am Rand32–136,10 Die … an.] in eckigen Klammern (Bleistift)

5

10

15

20

25

30

135§ 41 Glaube an Gottes Vorsehung

Page 186: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

daß der Gerechte sich an Gott genügen lasse (Vers 4), daß er also von dem Postulate äußern Glückes absehe, und in specie daß er sich vor Neid, Zorn und Entrüstung über die gegenwärtige Sachlage bewahre, um nicht zur Sün-de versucht zu werden. Die Rechnung auf die schließliche Herstellung der richtigen Verhältnisse wird Ps. 49.73 nicht gemacht, dagegen entwickelt sich die Gewißheit, daß Gott nahe sein Wonne ist (73,28) zu der Aussicht, daß während der Frevler dem Tode anheimfällt, der Gerechte von Gott aufge-nommen wird (49,16; 73,24). Indem also die Hoffnung auf Unsterblichkeit bei Gott (vgl. auch Hiob 19,26.27) den Frommen über seine elende Lage tröstet, so gehört doch diese Lösung nur der Aussicht auf die Zukunft an. Es kommt darauf an, daß schon für die gegenwärtige Empfindung der Wider-spruch zwischen Verdienst und Unglück verschwinde. Ein solches Ziel er-reicht Hiob nicht. Denn der Dichter weist die Frage nach Grund und Ziel des Leidens d|es Gerechten mit der Berufung auf die unvergleichliche All-macht und unergründliche Weisheit Gottes ab, und verpflichtet (28,28) zur Furcht Gottes, als der wahren Weisheit, und zum Meiden des Bösen, als Ver-stand. Nur der Prolog erklärt das Leiden aus der versuchenden Prüfung, die ihrem Begriff nach vorübergehend sein wird. Dieser Gedanke auch im Neu-en Testament 1 Petr. 1,6.7; 1 Kor. 10,13; Jak. 1,12. Aber daß das Leiden eine Züchtigung, ein Erziehungsmittel auch des Gerechten sei, wie Eliphas aus-führt (5,17), lehnt Hiob ab.

[98 a I] § 42. 38 D i e D e m u t h .

Man definirt die Demuth als das Gefühl der Abhängigkeit von Gott; im All-gemeinen richtig, aber zu unbestimmt. Als Ergänzung von Vorsehungsglau-ben und Gebet ist die Demuth allerdings Gefühl, aber erworbene Gefühlsbe-

22 § 42. Die Demuth trug ursprünglich (Ms. B*) die Paragraphennummer 41, die dann in 43 umgewandelt wurde; vgl. unten S. 206,11 (Beilage I.3). Als § 43 wurde der Text auf dem eingelegten Blatt neu gefaßt. Durch nochmalige Umstellung erhielt er die jetzige Paragraphennummer

20f. wie … ausführt] über <schließt Hiob aus.>21 lehnt … ab.] am Rand21 ab.] Hier folgt in Ms. B* der ursprüngliche, bis Seite 104 reichende Abschluß von § 41, der noch bis WS 1867/68 der Vorlesung zugrunde lag, später aber gestrichen wurde. Der gestrichene Text wird unten S. 203,18 als Beilage I.2 mitgeteilt.22 § 42.] korr. aus § 43.; der schon in Ms. B* S. 98–100 ursprünglich als § 43. gezähl-te Paragraph wurde neu gefaßt auf einem eingelegten Folioblatt, das mit den Seitenzah-len 98 a und b versehen ist. Das Blatt wurde einmal gefaltet und als Quartheft auf drei Seiten beschrieben (letzte Seite leer); dadurch ergibt sich die oben in den Text eingefüg-te Seitenzählung.22 Demuth] folgt <u n d d i e c h r i s t l i c h e F r e i h e i t >

5

10

15

20

25

136 II. Theil X. Gotteskindschaft

Page 187: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

stimmtheit, Tugend, und deshalb Selbstgefühl, weil es sich in der Abhängig-keit von Gott die hier gemeint ist, um die eigenthümlich religiöse Gewährlei-stung der Selbständigkeit gegen die Welt handelt. Aus diesem Zusammen-hang ergiebt sich ferner, daß die Idee von Gott, welche die Demuth bedingt, ganz genau begränzt ist, nämlich daß derjenige unser Vater ist, der unpartei-isch richtet (1 Petr. 1,17) d.h. die Demuth steht immer unter dem Einfluß der Idee, daß der Erhabene und durch unsere Vorstellung unmeßbare Leiter der gesammten Welt (Rom. 11,33–36) mich zum Gegenstand seiner liebevollen Fürsorge macht. Weil diese Merkmale der christlichen Gottesidee in der De-muth das Selbstgefühl stets so berühren, daß sie nicht in einander aufgehen, so ergiebt sich der Fall, daß die Beziehung der Vorstellung von Gott auf den einzelnen Lebensmoment undeutlich, oscillirend wird. Man kann niemals den bestimmten Lebensmoment so unter die Vorstellung von der väterlichen Lie-be Gottes subsumiren, daß nicht die unbegreifliche Erhabenheit seiner Welt-leitung die Umrisse der Vorstellung schwankend machte. Ein Gefühl, welches durch eine undeutliche Vorstellung erregt wird ist Stimmung, ein Oscilliren zwischen Lust und Unlust, demgemäß ist die Demuth Stimmung; sie ist in fóbov und verwandten Ausdrücken bezeichnet (Phil. 2,12; Hebr. 12,28; 5,7). Als Stimmung aber kann sie nicht nur [98 b I] den Vorsehungsglauben und das Gebet begleiten, wie sie durch diese Funktionen immer erzeugt wird, son-dern auch die gesammte sittliche Handlungsweise (Phil. 2,12), und so ge-winnt dieselbe, die an sich in dem Gefühle der Selbständigkeit des Willens wurzelt, ihr christliches Gepräge der Abhängigkeit von Gott. – Timor filialis katholisch. Das Gegenteil der Demuth auf dem nicht religiösen Standpunkt ist das schrankenlose Gefühl menschlicher Selbständigkeit, welches freilich in der Schule des Lebens durch die Gegenwirkung der Welt auch gegen die be-sten Absichten Erbitterung und Menschenverachtung nach sich zieht, also Stimmungen, welche der Liebe entgegenwirken. Das Gegentheil der Demuth auf dem religiösen Standpunkt ist die Heuchelei, (der Pharisäismus) respecti-ve der Fanatismus. Als der Religionsfehler, welcher die ethische Religion als solche verfälscht, stellt sich die Heuchelei als eine falsche Art der Abhängig-keit von Gott und als eine falsche Art der Annäherung zu Gott dar. Jene wird in statutarischen und materiellen Cultusleistungen ausgedrückt, diese in ei-nem Anspruch des Rechtes an Gott vollzogen. Diese Fälschung auch in den Prätensionen des Mönchthums, und in denen des Pietismus, durch bestimmte Manieren und Redensarten sich als die Freunde oder Kinder Gottes darzu-

4 Idee] über <Vorstellung>10 Selbstgefühl] folgt <nie>22 in] über <auf>29 Heuchelei,] folgt <respective>32 Annäherung zu] über <Befreundung mit>36 oder Kinder] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

137§ 42 Demuth

Page 188: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

stellen. Die Heuchelei wird Fanatismus, wenn sie mit ihren Maaßstäben als vorgeblich Göttlichen Ordnungen die Stellung der anderen beurtheilen, oder deren gleiche Haltung erzwingen will.Die Demuth gegen Gott ist kein unmittelbarer Maaßstab für eine bestimmte Haltung den Menschen gegenüber. [98 b II] Sie kann ebensowohl ein tapferes Eingreifen in die sittlichen Verhältnisse der Menschen motiviren, als ein dienstfertiges Eingehen auf deren Bedürfnisse. Denn sie ist die unmittelbare Gewißheit der Freiheit gegen die Welt, wie der Freiheit in Gott. Nach Luther ist der Christ Herr aller Dinge, aber begiebt sich freiwillig in den allseitigen Dienst der Menschen. Die Art, wie die Dogmatiker den Begriff bestimmt ha-ben, ist zu eng und negativ, die christliche Freiheit soll sich bewähren g e -g e n den Fluch des Gesetzes, die Knechtschaft der Sünde, das mosaische Ce-remonialgesetz, die menschlichen Cultusordnungen in der Kirche, welche das Gewissen nicht verpflichten und übertreten werden können extra casum scandali. Die christliche Freiheit ist vielmehr in dem Gebiet des subjectiven Glaubens an Gottes Vorsehung die Selbständigkeit des Verkehrs mit Gott, welche ebensowenig gehemmt ist durch die Sünde, als sie gebunden ist an ir-gend welche Vergegenwärtigung menschlicher kirchlicher Vermittelung, die ja übrigens immer anerkannt werden muß, die aber nicht hineinspielt in die Selbstbeurtheilung des Gläubigen, die er in den drei Functionen gegenüber Gott ausübt. Das ist die Bedingtheit der fides salvifica im evangelischen Sin-ne, während das dogmatische Glauben nach katholischem und orthodoxem Maaße niemals die Abhängigkeit von der klerikalen Vermittlung oder Anlei-tung ausschließt.

[104] § 43. 39 D a s G e b e t i m N a m e n J e s u .

Die Demuth und die Ergebung in die göttliche Vorsehung sind als empirische Funktionen des religiösen Bewußtseins dem Wechsel von Stärke und Schwä-che ausgesetzt, sind also auch Aufgaben für den sittlichen Willen. Es gehört im gegebenen [105] Falle eine ausdrückliche Uebung des Willens dazu um Hindernisse zu beseitigen, welche Hochmuth oder Kleinmuth

mangelhafte Scheu und mangelhaftes Vertrauen zu Gottder Demuth bereiten, und um Zweifel und Murren gegen die göttliche Fü-gung unserer Schicksale zu überwinden. Das specifische Mittel, durch das die

4 Die] Absatz im Ms.8–24 Nach … ausschließt.] in eckigen Klammern (Bleistift)11 und negativ] über der Zeile11 soll] korr. aus soh25 § 43.] ursprünglich § 43. dann in § 42. und zuletzt wieder in § 43. geändert25 im Namen Jesu.] in eckigen Klammern (Bleistift)31 mangelhafte … Gott] am Rand

5

10

15

20

25

30

138 II. Theil X. Gotteskindschaft

Page 189: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

hier geforderte Entscheidung erreicht, durch das die Uebereinstimmung des Selbstgefühls mit dem erkannten göttlichen Willen absichtlich bewirkt wird, ist das Gebet.

1. Dank die übergreifende Form des Betens, Bitte untergeordnet. Phil 4,6.2. Das Gebet im vollen Sinne als Bethätigung eines Willensentschlusses, sich Gottes Vorsehung zu fügen3. Nach 1 Th. 5,17 die habituelle Stimmung in gleicher Richtung4. Nach Rom 8,15.16.26 die wortlose Beugung und Strebung des Gemü-thes nach Gott in Fällen wo die bestimmte Absicht und die deutliche Vor-stellung versagen5. Die Frage der Erhörung der Bitten um die Güter der allgemeinen Selbst-erhaltung (Mt. 7,7.8) nach Mc. 14,35.36 zu beurtheilen.6. Gebet im Namen Christi.

Das Dankgebet in seinem ganzen Umfang die absichtliche Anerkennung des faktischen Zustandes, als harmonisch mit der göttlichen Vorsehung. Das Bitt-gebet Darstellung der Absicht das Gefühl dieser Harmonie zu gewinnen. Ins-besondere sofern der Mangel an Demuth und Ergebung ein Merkmal davon ist, daß der das religiös sittliche Personleben begründende heilige Geist Hem-mungen seiner Bethätigung erfährt, so entspricht das Gebet zu jenem Zwecke dem G e b e t u m d e n h e i l i g e n G e i s t (Luc. 11,13). Da der heilige Geist nichts Empirisches ist, so setzt dies Gebet nicht etwa voraus, daß der Bittende überhaupt außer Verhältniß zum heiligen Geist stehe; vielmehr um-gekehrt ist das Gebet nur möglich, wo das Personleben im heiligen Geist wurzelt, wo es aber darauf ankommt, daß dies Princip allseitige Anwendung auf das Personleben finde. Deßhalb ist solches Gebet auch immer von dem erstrebten Erfolge begleitet. Das Gebet im Namen Jesu, welchem diese Ver-heißung gegeben ist (Joh. 14,13.14; 16,23.26), setzt ebenfalls voraus, daß die Bittenden in dem Lebenszusammenhang mit Christus stehen, daß Christi Worte in ihnen bleibend sind (15,7), daß man Christi Gebote hält (1 Joh. 3,22), daß man Christi Willen gemäß bittet (5,14.15). In dieser Gedankenrei-he ist freilich kein Object des Bittens bezeichnet; der Name Jesu bezeichnet

3 Gebet.] folgt <im Namen Jesu.>4–13 1. … Christi.] am Rand, wobei der mit 1. bezifferte Satz den folgenden Sätzen nachträglich vorangestellt wurde. Die sechs Sätze ersetzen wohl den ursprünglichen Text von § 43.5 2.] korr. aus 1.7 3.] korr. aus 2.8 4.] korr. aus 3.11 5.] korr. aus 4.13 6.] korr. aus 5.14–17 Das … Insbesondere] am Rand15f. Bittgebet] folgt <Anerkennung>17 sofern] Ms.: Sofern

5

10

15

20

25

30

139§ 43 Gebet

Page 190: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nun aber das Wesen Christi sofern es offenbar und wirksam ist. Wenn nun das Gebet auf den Namen Jesu gegründet und auf ihn gerichtet ist, so ist das Gebet, dessen Erfolg durch seine Art gewährleistet ist, aus dem heiligen Geist, um den heiligen Geist, in welchem das offenbare Wesen Jesu auf d|en Gläubi-gen wirksam ist. Die wörtliche Gestaltung des Gebetes um dieses Gut ist frei-lich deßhalb die Regel, weil die Erkenntniß nur durch das Wort gestaltet und fixirt werden kann; aber die Forderung unablässigen Betens (1 Th. 5,17) Kol. 3,17 ist doch nur dadurch erfüllbar, daß dem Begriff des Gebetes schon die Fertigkeit entspricht, in welcher durch den momentanen Gedanken [106] an das Bedürfniß nach göttlicher Begründung das demüthige Selbstgefühl und die Ergebung in den göttlichen Willen erreicht wird. Die Erhörung des Gebe-tes um die Güter des sinnlichen und nicht specifisch religiösen Lebens (Mth. 7,7.8) ist theoretisch nicht meßbar. Deßhalb hat jedes Gebet der Art doch den Sinn, daß die Demuth und Ergebung in Gottes Willen zur durchgreifen-den Lebensstimmung werde. In der Hinsicht ist das Gebet Jesu um die Erhal-tung des Lebens vorbildlich (Mc. 14,35.36), welches das bestimmte Gut nur hypotetisch in Anspruch nimmt, sich aber bei dem Gedanken des göttlichen Willens als dem Gültigen in jeder Hinsicht beruhigt, und ihn dankend an-erkennt.

E l f t e s C a p i t e l . D e r r e l i g i ö s - s i t t l i c h e C h a r a k t e r.

§ 44. 40 D e r U n t e r s c h i e d d e s C h a r a k t e r s v o m N a t u r e l l .

Ágiasmóv, Ágnóthv, Ágnízesjai. Jak. 3,17. 1 Joh. 3,3; 1 Petr. 1,22; Hebr. 12,14; 2 Kor. 6,6; Rom. 6,19.22; 12,1.2. 1 Kor. 1,30.Grundsatz Rom. 6,11 Sich so schätzen daß man für die Sünde nicht mehr da sei, indem man durch die Taufe als Glied der Gemeinde Christi nur für den Zweck derselben lebt. Die Schätzung dieser Verhältnisse ist nicht leere Einbildung von etwas Unwirklichem, sondern auf dem Gebiet des Willens das Motiv zur Verwirklichung des guten Charakters

21 Zum Begriffspaar Charakter und Naturell vgl. Rothe, Theologische Ethik 2,358–360

7f. Kol. 3,17] am Rand12 specifisch] folgt <R>18 als] korr. aus in18 dem … in] am Rand22f. Ágiasmóv, … 1,30.] am Rand24–28 Grundsatz … Charakters] am Rand

5

10

15

20

25

140 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 191: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Indem der Wille des Geheiligten Einem Endzweck folgt, behauptet er die Stu-fe des Charakters; indem dieser Eine Endzweck die Synthese des persönlichen Selbstzwecks mit dem göttlichen Selbstzweck ist, ist er guter Charakter. Er steht im weitern Gegensatz gegen den Willen auf der Stufe des Naturells, im engern gegen den unmoralischen oder bösen Charakter. Diese Beiden Formen des Willens werden in dem theologischen Begriff vom natürlichen Menschen zusammengefaßt. Das Merkmal des C h a r a k t e r s ü b e r h a u p t ist der Gedanke eines persönlichen Endzweckes, welchem alle gedachten Zwecke und alle natürlichen Triebe untergeordnet werden. Das Merkmal des Natur-willens ist der unbeschränkte Wechsel der mannigfaltigen Triebe, welche nach der ihnen entsprechenden Lust streben, und die nur durch das Selbstge-fühl des Bedürfnisses nach Lust, nach Harmonie der Außenwelt mit dem In-dividuum formell zusammengehalten werden. Das Individuum ist freilich das Allgemeine für die einzelnen Triebe der Selbsterhaltung des Rechtes, der Ge-selligkeit, der Ehre, des Wissens, der Schönheit; aber auf der Stufe des Natu-rells hat sich das Individuum noch nicht mit Bewußtsein als dies Allgemeine [107] der Triebe gesetzt. Deßhalb findet zwischen der Person und dem gerade wirkenden Triebe kein nothwendiges Verhältniß statt, d.h. ein solches das auf Beurtheilung des Triebes begründet wäre. Das ist die eigentliche Unfrei-heit des Willens; da die Freiheit m i n d e s t e n s darin besteht, daß man sich mit Bewußtsein als das Allgemeine in den besonderen Bethätigungen des Triebes setzt, und zwar mit Bewußtsein von einem zureichenden Grunde der gerade erfolgenden Bethätigung. Der Mangel eines allgemeinen Bewußtseins zeigt sich auch darin, daß keine Achtung auf das Bedürfniß Aller nach dersel-ben Lust an denselben Objecten gegeben wird. Diese Stufe des Willens ist nicht gut, aber auch nicht böse im Sinne der Zurechnung. – Die Stufe des Charakters wird b e t r e t e n , indem durch allgemeines Bewußtseim des Ich im Unterschiede von den Trieben, und durch Vergleichung des Triebes mit ei-nem Zweck der Drang des Triebes wenigstens angehalten wird; die Stufe des Charakters wird e i n g e n o m m e n , wo ein persönlicher Endzweck sich die Triebe als Mittel unterordnet, und sie selbst zu einzelnen Zwecken in geord-netem Wechsel erhebt; so daß in dem Wechsel der Bethätigung die Stetigkeit des Endzweckes hindurchgeht. Der Charakter schließt also weder die Triebe noch die Lust überhaupt aus; vielmehr schließt er sie real ein, indem er die Lust idealisirt durch die Erfüllung des Endzweckes;

5 Beiden] korr. aus beiden13 das] korr. aus dies23 erfolgenden] korr. aus Erfolge23–25 Der … wird.] am Rand30f. die Triebe] korr. aus den Trieben34 überhaupt] korr. aus aus35 die] korr. aus das

5

10

15

20

25

30

35

141§ 44 Charakter und Naturell

Page 192: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Denn die Lust ist der Maßstab des Werthes eines Gutes oder einer Hand-lung, und das unmittelbare Motiv jeder Willensbewegung.

und er wird insofern durch die Triebe stets begrenzt, als er sich nach der an-geborenen Anlage des Individuum richten muß, d.h. nach dem anerschaffe-nen Verhältniß der Triebe, welches bei Jedem verschieden ist. A u f d e r S t u f e d e s C h a r a k t e r s ergeben sich nun aber z w e i M ö g l i c h -k e i t e n . Indem sich der Wille durch Auffassung Eines persönlichen End-zweckes formell als das Allgemeine von seinen Trieben unterscheidet, und dieselben durch Beurtheilung ihres Werthes und ihrer Zweckmäßigkeit sich unterordnet, kann er entweder den Inhalt seines Endzwecks als die Lustbe-friedigung Eines Triebes setzen, oder als die Erfüllung von gemein[108]schaft-lichen Zwecken, d.h. von sittlichen. Das ist der Unterschied zwischen unmo-ralischem und moralischem Charakter. Dabei kommt aber in Betracht, daß der Charakterwille überhaupt sich bewußt ist, daß er gemeinschaftliche Zwecke erfüllen s o l l ; daß nur durch solchen Inhalt der Wille seine Allge-meinheit in seinem individuellen Lebensgebiet durchsetzt. Wer nun aber die-ses Bewußtsein nicht in sich wirksam macht, sondern wer im Widerspruch damit die Lustbefriedigung durch einen einzelnen Trieb in seinen Endzweck aufnimmt, ist sich einer Verletzung der allgemeinen sittlichen Ordnung durch seinen Egoismus in irgend einem Maaße bewußt, durch die sittliche Zurech-nung, welche nur in Geisteskrankheit ihr Ende findet. Der gute Charakter hat aber seinen durch gemeinschaftliche Zwecke erfüllten Endzweck sicher nur, indem er denselben bis auf die höchstmögliche Form derselben ausdehnt. Der gute Charakter, der die niederen Formen sittlichen Endzweckes im Wider-spruch gegen die höheren festhalten will, wird doch egoistisch; so wenn im Familiengeist, oder im Patriotismus der höchste sittliche Endzweck gesehen wird. Uebrigens schließt auch der im höchsten Sinne gute Charakter weder ir-gend einen Trieb überhaupt, noch die accidentelle Lustbefriedigung der Triebe aus, aber die eigenthümliche Lust, die ihm zufällt, ist das Gefühl der Harmo-nie seiner berufsmäßigen sittlichen Thätigkeit mit seiner Individualität, die Se-ligkeit.

Die Seligkeit hängt in erster Linie an den Functionen der Gotteskindschaft.Der Charakter im christlichen Sinn hat nun an der Aufnahme des göttlichen Selbstzwecks in den persönlichen diejenige denkbar höchste Höhe sittlichen

1f. Denn … Willensbewegung.] am Rand10 als die] korr. aus in der14 ist] korr. aus hat18 die … durch] am Rand21 ihr] korr. aus s.28 accidentelle] am Rand29 aber die] folgt <letztere>30f. die Seligkeit.] am Rand32 Die … Gotteskindschaft.] am Rand

5

10

15

20

25

30

142 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 193: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Endzweckes, durch welche die egoistischen Anwandlungen auch in den nie-deren Sphären sittlicher Aufgaben überwunden werden können, geschweige dessen, daß kein Trieb als solcher der Allgemeinheit sittlichen Bewußtseins sich entzieht. Deßhalb aber ist auch in dieser Form des Charakters die Zu-rechnung am stärksten, und der volle Begriff der Freiheit in der Macht des Guten über die Triebe realisirt.

[109] § 45. D i e F o r m e n d e s u n m o r a l i s c h e n C h a r a k t e r s .

Mit vorhergehendem § zusammenzufassen.Auf der Stufe des Charakters sind verschiedene Gegensätze gegen den mora-lischen Charakter möglich je nachdem der Wille als Träger Eines Endzwecks seine Stellung zu Elementen des Naturells und zu dem allgemeinen sittlichen Zwecke nimmt. 1. Der Eine Endzweck wird in den abstracten persönlichen Selbstzweck und in die individuelle Selbstgenügsamkeit gesetzt, und die aner-kannten Beziehungen zu den Interessen der sittlichen Gemeinschaft als Mittel behandelt, der n e u t r a l e C h a r a k t e r. Derselbe beherrscht das Trieble-ben des Naturells vollkommen, ist in sittlicher Beziehung legal, weil er sich hütet, sein formales individuelles Interesse in Widerspruch mit den allgemei-nen zu versetzen. Mit dieser Leidenschaftslosigkeit und sittlichen Neutralität ist leicht eine künstlerische Harmonie der Selbstdarstellung verbunden; aber die Inhaltslosigkeit und Hohlheit solchen Charakters entzieht ihm alles Ver-trauen, und alle Wirkungsfähigkeit auf Andere.

deilóv Apok. 21,8.Freilich wird solch Charakter nie rein vorkommen, sondern in untergeord-neter Weise die Selbstsucht in sich schließen. 2. Der s e l b s t s ü c h t i g e Charakter setzt den persönlichen Selbstzweck als Endzweck in Widerspruch mit den allgemeinen Zwecken. a. Im L a s t e r wird als Inhalt des den allge-meinen Zwecken widersprechenden Selbstzwecks die Befriedigung Eines oder mehrerer Triebe gesetzt, welche der individuellen oder der generischen Selbsterhaltung dienen. Das Laster ist weder unwillkürl|iche habituelle Sün-de, noch blos Leidenschaft; sondern die specielle Sünde ist als Laster Gegen-

7 Zu § 45 vgl. Rothe, Theologische Ethik 2,391–404

4 die] korr. aus ÎZù8 Mit … zusammenzufassen.] redaktionelle Bemerkung am Rand, der gemäß § 44. und § 45. in der späten Paragraphenzählung unter der roten Paragraphennummer 40 zusammengefaßt werden.10 als … Endzwecks] am Rand15 neutrale] am Rand statt < l e b e n s k l u g e >22 deilóv … 21,8.] am Rand28 oder … generischen] am Rand

5

10

15

20

25

30

143§ 45 Unmoralischer Charakter

Page 194: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

stand bewußter Absicht. In höheren Stufen des Lasters läßt freilich die ge-wohnheitsmäßige Ausübung das Merkmal der Absicht nicht immer erken-nen; aber solche Stufe ist immer nur die entferntere Wirkung der vorausge-henden Absicht des Lasters, und die Gewohnheit hängt durch die Erinne-rung mit der Absicht zusammen. b. Die a l l g e m e i n e geistige b e w u ß t e S e l b s t s u c h t hat als Inhalt des den allgemeinen Zwecken widersprechen-den Selbstzweckes einen der auf die Gemeinschaft gerichteten Triebe, also der Geselligkeit und der Ehre; also H e r r s c h s u c h t r e s p e c t i v e H o c h m u t h und E i t e l k e i t . Die Steigerung dieser Selbstsucht gegen das Laster ist erkennbar an dem begleitenden Bewußtsein vom Widerspruch dieser Untugenden gegen die sittliche Pflicht. Denn das Laster ist offen [110] und frech, die Selbstsucht heuchlerisch und tückisch. Im Laster wird das sitt-liche Bewußtsein abgestumpft ohne darauf gerichtete Absicht, in der Selbst-sucht durch absichtlichen Selbstbetrug. 3. Ist auch derjenige Charakter un-moralisch, der in Beziehung auf einen besonderen Abschnitt der allgemeinen Zwecke also auf den engen natürlichen und bürgerlichen Beruf gut ist, aber die darüber hinausgehenden höheren Zwecke nicht anerkennt, also sich in Widerspruch dagegen setzt. Solch Charakter kann in seiner Sphäre aufop-fernd und gewissenhaft sein, dagegen von Leidenschaft und selbstsüchtigen Motiven bestimmt, sobald seine Thätigkeit durch ein anderes Gebiet allge-meiner Zwecke in Anspruch genommen wird. Solche einseitige sittliche Vir-tuosität wird freilich auch in ihrem eigentlichen Gebiete von Eitelkeit und Herrschsucht nicht frei bleiben, indem die Gleichgültigkeit oder Abwendung von den übrigen Lebensaufgaben dadurch gerechtfertigt wird, daß ihr sittli-cher Werth bestritten wird, mit einer gewaltsamen Täuschung oder Unter-drückung des Gewissens. 4. Die B o s h e i t setzt den reinen Widerspruch ge-gen die allgemeinen Zwecke als den persönlichen Selbstzweck. Sie ist Haß des Guten um dieses Hasses willen. Indessen ist eine stetige und durchgrei-fende Richtung dieser Art schwer nachzuweisen. Die christliche Vorstellung behält diese Bosheit dem Antichrist vor, während freilich die orthodoxe Dogmatik schon die allgemeine erbliche Sünde mit diesem Prädicat aus-stattet.

5 allgemeine … bewußte] in eckigen Klammern (Bleistift)5 geistige] über der Zeile7 Gemeinschaft] am Rand statt <Geselligkeit>8f. respective Hochmuth] am Rand10 Bewußtsein] korr. aus ÎWidù14 Selbstbetrug.] folgt ursprünglich der Abschnitt c. Die … ausstattet. welcher als Zif-fer 4. durch Umstellungszeichen an das Ende des § versetzt wird (Zeile 26–32).18 setzt.] korr. aus Î ù20 sobald seine] korr. aus so seine26 4.] korr. aus c.26–32 Die … ausstattet.] ursprünglich vor Abschnitt 3. s. oben Zeile 14

5

10

15

20

25

30

144 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 195: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 46. 41 D e r i n n e r e M a a ß s t a b f ü r d i e M o r a l i t ä t d e s C h a r a k t e r s .

Wenn man als ä u ß e r n Maaßstab der Moralität des Charakters die Legali-tät des Handelns anwendet, so entspricht das dem kirchlichen Dogma, daß die guten Werke nothwendig seien, um den Glauben oder den Status regene-rationis erkennen zu lassen (§ 14.). Aber die äußere Legalität des Handelns ist kein zureichender Maaßstab für die Güte des Charakters. Denn Handlun-gen die ihrem Stoff und ihrer Wirkung nach gleich sind, können ihrer Absicht nach entgegengesetzt sein. Deshalb schon geht man von der Beobachtung der einzelnen guten Werke nothwendig auf ihren Zusammenhang in d e m g u -t e n We r k

Jak. 1,4.25; 1 Petr. 1,17; Apok. 22,12 Gal. 6,4.7–9 2 Kor. 5,10 1 Kor. 3,13–15 1 Thess. 5,13.

[111] einer Person vorwärts. Der Zusammenhang dieser Größe liegt aber in der zusammenhängenden Gesinnung der Person, die man nicht durch den ka-tegorischen Schluß von den Wirkungen auf die Ursache, sondern nur durch die sittliche Sympathie mit Anderen erprobt. Dies entspricht der allgemeinen Regel allen Erkennens, daß man nicht nur aus dem Einzelnen das Ganze er-kennt, sondern durch die immer zu erprobende Hypothese über das Ganze auch den innern Werth des Einzelnen. G e s i n n u n g ist nun der Gedanke des persönlichen Endzweckes, sofern derselbe Grund einzelner Zwecksetzun-gen ist. Deßhalb ist sie das Maaß des Charakters, nach dem jeder sich selbst richtig beurtheilen kann. Sie muß die gleiche sein auch bei den verschiedenen Charakteren, deren Verschiedenheit auf Temperament begründet, sich zu den Stufen der Begeisterung und der Bedächtigkeit, der Gefühlserregtheit und der Nüchternheit, der Zähigkeit und der Thatkraft, der Gewöhnlichkeit und der reformatorischen Gewalt gruppirt. Die aus der Gesinnung hervorgehenden Zwecksetzungen bilden ein System von Absichten und Vorsätzen. A b s i c h t ist der Gedanke eines einzelnen Zwecks, sofern er den Gedanken von Mitteln hervorruft; Vo r s a t z ist der Gedanke des gewählten Mittels, sofern er als

6 S. oben S. 46,19

5f. regenerationis] folgt <zu>6 (§ 14.)] über der Zeile12f. Jak. … 5,13.] am Rand15 nicht] folgt <allein>16 nur] über <auch>17 der] korr. aus dem23–27 Sie … gruppirt.] am Rand25f. Stufen … Nüchternheit,] korr. aus <Î ù der Mittelmäßigkeit und der Begeiste-rung gruppirt und der Nüchternheit, des vorherrschenden Gemüthes oder des Ver-standes,>

5

10

15

20

25

30

145§ 46 Moralität des Charakters

Page 196: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nächstes Object des Willens gesetzt ist. Den Fortschritt von Absicht zu Vor-satz vermittelt ein primärer Entschluß des Willens, ebenso tritt zwischen Vor-satz und Handlung Ein oder mehrere Entschlüsse; bei diesen Acten wirkt die zu Grunde liegende Absicht als Beweggrund, Motiv. – Die Gliederung jeder Willensbewegung in Absicht und Vorsatz ist freilich dem Bewußtsein, das un-sere Handlungen begleitet, meistentheils nicht gegenwärtig; wir handeln in dem Gebiet unserer regelmäßigen Thätigkeit unwillkürlich, ohne bestimmte Vergegenwärtigung von Absicht und Vorsatz. Dies ist aber nur möglich auf Grund der stetigen Gesinnung, und die Unwillkürlichkeit dieser Art ist nicht das Gegentheil der Freiheit, sondern die Bethätigung derselben in ihrer con-cretesten Art. Deßhalb wird es auch in jedem Moment der Willensbewegung möglich, sie auf jene Gliederung zu analysiren, so wie wir bei ungewohnten Aufgaben uns an der Bildung der Begriffe von Absicht und Vorsatz besinnen. Absichten und Vorsätze sind nun die Merkmale der Gesinnung, ihre Güte oder Schlechtigkeit constatirt die Art der Gesinnung; und sofern die Hand-lung nicht nach ihrer Legalität, sondern nach ihrer Absicht beurtheilt werden muß, erkennt man die Gesinnung an der Beobachtung der Reihe der durch die Rede kundgegebenen Absichten. Diese [112] aber sind an der Güte oder Schlechtigkeit der Vorsätze direct zu messen. Umgekehrt aber rechtfertigt nicht die Güte der Absicht die dazu gefaßten Vorsätze. Aber jedenfalls ist die Gesinnung schlecht, welche durch gute Absichten schlechte Mittel gerechtfer-tigt findet. Diese j e s u i t i s c h e M o r a l , welche sich besonders in der ca-suistischen Behandlung der Vorsätze erweist, ist möglich, weil die formale Be-handlung des Freiheitsbegriffes in der katholischen Moral keinen Begriff der Gesinnung aufzustellen vermag (§ 10). Denn wenn auch die jesuitische Casu-istik in ihren letzten Consequenzen vom Papst verdammt ist, so steht sie doch überhaupt auf dem Boden katholischer Moral als eine erklärliche Con-sequenz derselben. Der Begriff der formalen Wahlfreiheit gestattet keinen an-deren Begriff vom Selbstzweck des Menschen, als den, daß die Unabhängig-keit der Form des Willens von jedem möglichen Inhalte in jedem Momente

22 Zum folgenden Abschnitt jesuitische Moral s. Feuerlein, Die Sittenlehre 55–69 § 10 „Der Jesuitismus“; Feuerlein stützt sich auf Antonio de Escobar, Hermann Busen-baum und Alfons de Liguori sowie auf Pascals Briefe an einen Provinzial.25 S. oben S. 31,22

145,30 gewählten] über <auf die Absicht bezogenen>1–4 Den … Motiv. –] am Rand13 besinnen.] folgt <Im Verhältniß ‚des Willens‘ (am Rand) zur Handlung wird die Absicht M o t i v , der Vorsatz E n t s c h l u ß i m ‚ E i n z e l n e n .‘ (am Rand)>17f. durch … kundgegebenen] unter der Zeile20 Aber] aber korr. aus Und25–147,10 Denn … halten;] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert und wohl durch den Zusatz am Rand NB … Sorge. ersetzt; vgl. unten S. 147,11–14

5

10

15

20

25

30

146 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 197: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

des Gehandelthabens erhalten bleibt. Es kommt deßhalb für die Güte der Person nicht darauf an, daß der individuelle Selbstzweck mit dem absoluten Zweck erfüllt sei, sondern darauf, daß jeder Moment des Handelns oder Ent-schlusses in Uebereinstimmung mit dem darauf passenden Sittengebote sei, und daß nach dem Schluß der Handlung der Mensch fähig sei, eine gleichar-tige Handlung auszuüben. Natürlich ist der Mensch in keinem Momente frei in dem strengen Sinne der Inhaltslosigkeit des Willens; aber es kommt für die jesuitische Moral darauf an, dem Willen den möglichst abstracten Inhalt zu vindiciren, und ihn gegenüber den bestimmten Vorsätzen und Entschlüssen unabhängig zu halten;

NB. Liebe deinen Nächsten similiter sicut te ipsum. Dieser Grundsatz des Thomas Aquinatus schließt in sich, daß es sittlich berechtigt sei, das eigene Interesse, die Freiheit mit einem reichen Inhalt auszuüben, ohne nach der Pflicht zu fragen. Die Pflicht ist neben dem Recht die geringere Sorge.

damit der Mensch für das ihm zugestandene weite Maaß empirischer Unge-bundenheit des Willens sich die kirchliche Auctorität gefallen lasse. Indem also die persönliche Ehre, Selbständigkeit und Unabhängigkeit als die mit der Wahlfreiheit gegebenen Güter vorausgesetzt werden (Feuerlein S. 62.63), wird gelehrt, daß 1. alles zum guten Zweck der Erhaltung dieser Güter er-laubt sei, was auch dem Sittengesetz zuwider ist. Jene Rücksicht 2. begründet ferner den P r o b a b i l i s m u s .

Zu § 58.Wer im Falle ist, einen Vorsatz oder Entschluß [113] zu fassen, hat sich da-nach umzusehen was ein Moralist in dem Falle probabel findet, und darf sich nach solcher Vorschrift richten, wenn auch ein Anderer das Gegentheil pro-babel findet, oder ein Zweiter es weniger probabel findet, oder wenn es dem Fragenden selbst nicht probabel erscheint. Der Beichtvater soll dem Fragen-den das bezeichnen, was ein Moralist probabel findet, auch wenn er nicht mit dessen Ansicht übereinstimmt; und es wird ihm zur Todsünde gemacht, wenn er einen Confitenten nicht absolvirt, der für seine Handlung eine pro-bable Meinung einer Autorität anführt. In dieser Doctrin wird die Freiheit von dem Bewußtsein der Zurechnung und seinen Regeln völlig entbunden.

12 Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II q 44 a 7; ed. Busa 2,585; vgl. Beilage III.2 unten S. 21418 Feuerlein, Die Sittenlehre 62f.21 Feuerlein, Die Sittenlehre 58–60.22 S. unten S. 168,31

7 aber … kommt] korr. aus also kommt es11–14 NB … Sorge.] am Rand19 1.] am Rand20 2.] am Rand22 Zu § 58.] am Rand

5

10

15

20

25

30

147§ 46 Moralität des Charakters

Page 198: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

3. Geschmälert wird die Zurechnung, indem nur solche Handlungen als Tod-sünden gelten sollen, wenn der Handelnde durch gratia actualis im Bewußt-sein seiner Pflicht gewesen und im bewußten Widerspruch gegen dieselbe ge-handelt hat. Wo also die Ueberlegung gemangelt hat, da fehlt das Merkmal der Todsünde. Dadurch wird geläugnet, daß Uebereilungssünden deßwegen volle Zurechnung erleiden, weil sie aus einem schuldhaften Mangel an Selbst-beherrschung hervorgegen. Gerade ein reifer Charakter muß sich hienach Uebereilungssünden um so schwerer anrechnen.

Gregor Magnus, Moralia VIII,20: Quidam dum peccata confitentur, ea ni-mirum quibusdam vocibus minuunt, dum se non ex toto animo commisis-se ostendunt. Econtra autem electi viri, quando se de minimis accusant, ea utique non quasi parva, sed quasi magna pronuntiant.

4 Endlich schmälern die Jesuiten die Zurechnung durch den Grundsatz daß dasjenige Handeln, welches eine Einwirkung auf Andere hat, schuldlos ist, wenn die Anderen keine Verletzung dadurch empfinden, wenn also die bona fides des Andern keine Schuld am Ersten entdeckt (Feuerlein S. 66).

§ 47. 42 D i e F o r m e n d e r S ü n d e i n d e m r e l i g i ö s - s i t t l i c h e n C h a r a k t e r.

Wenn schon die Anwendung des jesuitischen Grundsatzes von der gratia actualis auf den Sünder falsch ist, so ist sie es doppelt in Beziehung auf den Gläubigen. Nach diesem Grundsatz (Pascal, 4. Brief, I. S. 52) soll eine Uebertretung des Sittengesetzes nur dann Sünde sein, wenn die göttliche Gnade im Menschen die Kenntniß seiner Schwäche, die Erkenntniß des Heilandes, die Sehnsucht nach dem Heile und die Bitte um dasselbe er-weckt hat. Wenn aber [114] unter solchen Bedingungen, wo nicht nur das Bewußtsein, sondern der Wille auf das Gute gerichtet ist, eine Versuchung zur Gegentheiligen Entscheidung des Willens führt, so ist das die Sünde ge-gen den heiligen Geist.

Mc. 3,28–30; 1 Joh. 5,16; Hebr. 6,4–8; 10,26–31.

9 Gregor d. Gr., Expositiones in librum primum Regum 5,162 zu 1. Sam 14,43, CChrSL 144, 517,3847–3851; PL 79,392 A16 Feuerlein, Die Sittenlehre 66.21 Pascal, 4. Brief. In: Werke 3,52

1–8 3. Geschmälert … anrechnen.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert1 3.] am Rand9–12 Gregor … pronuntiant.] am Rand13 4] am Rand29 Mc. … 10,26–31.] am Rand

5

10

15

20

25

148 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 199: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Oder wenn nur dieser Fall Sünde ist, so wird ein Gläubiger, dessen Gesin-nung im Allgemeinen gut ist, überhaupt sündlos sein, weil er nur in Ueberei-lung das Gesetz übertreten, demgemäß aber keine Sünde begehen würde. Nach der Gesinnung des religiös-sittlichen Charakters ist derselbe nicht mehr unter der Macht der Sünde, und in d i e s e m Sinne sündigt er nicht mehr (1 Joh. 3,9; 5,1), ist das Subject der perseverantia gratiae. Indem die lutheri-sche Lehre hierauf verzichtet, verzichtet sie auf den Begriff des Charakters.

Die Heiligung ist in logisch erster Linie die Stellung des Menschen in ei-nem Vertrauensverhältniß zu Gott trotz seiner Sünden, in zweiter Linie der Gewinn des neuen Lebens aus dem heiligen Geiste; also ist sie keine mate-rielle, mechanische Ausscheidung der Triebe, an die sich bisher vorherr-schend die Richtung des sündigen Willens geknüpft hat.

Aber wenn der Gläubige leugnet Sünde an sich zu haben, so täuscht er sich (1,8–10). Denn der sittlich begründete Charakter ist eben immer im Werden, und zwar als Product einer solchen Person, welche in ihrem Naturell durch die Sünde gebunden gewesen ist. Sofern nun das Naturell noch nicht voll-ständig in den Charakter aufgenommen ist, sondern die Triebe noch neben dem Charakter herspielen, so ist auch im religiös sittlichen Charakter noch Sünde. In Beziehung hierauf erklärt Paulus den Leib für das Organ der Sün-de, für den Sitz der Begierde und des Widerstrebens gegen den Geist (Gal. 5,16; Rom. 8,13; 13,14; Kol. 3,5), und begründet dadurch die Aufgabe des Ágiasmóv der fortschreitenden Selbstheiligung und -reinigung (1 Th. 4,3–7; Rom 6,19.22; 2 Kor. 7,1). Das ist nicht so gemeint, als ob im Gläubigen nur noch die sogenannten sinnlichen Triebe Grund der Sünde seien; daß also Ei-telkeit, Eigensinn, Herrschsucht im Geheiligten nicht vorkämen, hingegen Völlerei und Unzucht. Sondern die Ausdrücke des Paulus sind als symboli-sche Einheit des Trieblebens zu verstehen ohne Unterscheidung ihrer Arten. Ferner ist nicht gemeint, daß die Sünde im religiös sittlichen Charakter nur als vereinzelte, halb unbewußte, unwillkürliche Uebertretung vorkäme, son-dern es ist auch eine gewisse Habitualität sündiger Neigung anzunehmen. Freilich verträgt sich Habitualität sinnlicher Neigung und kleinlicher Eitel-keit schon nicht mit einem soliden, geschweige von einem durch religiösen Ernst getragenen Charakter. Aber Mangel an Selbstbeherrschung, zu große Sicherheit des Entschlusses, Eigensinn in der einmal [115] als richtig erkann-ten Handlungsweise, Rücksichtslosigkeit gegen die Folgen der eingeschlage-nen Handlungsweise, – das sind Untugenden, wegen deren man an dem reli-

1 Oder] korr. aus Aber6 5,1),] korr. aus 5,1).6f. ist … Charakters.] am Rand8–12 Die … hat.] am Rand8 logisch] über der Zeile14 begründete] korr. aus C29 Uebertretung] Ms.: Ubertretung korr. aus übertretung

5

10

15

20

25

30

35

149§ 47 Formen der Sünde

Page 200: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

giösen Werth eines Charakters nicht zweifeln soll, wenn die übrigen Merk-male desselben vorhanden sind. Denn solche Untugenden sind vom Laster zu unterscheiden (Rothe II, S. 397), sofern keine Absicht auf solche Handlungs-weise gerichtet ist, und sofern im Allgemeinen die Absicht obwaltet, sie aus-zuschließen, aber freilich dabei die Ausdauer in der Ausführung der Absicht fehlt.

Uebereilung, Mangel an Ueberlegung unterscheidet solche Untugend so-wohl vom Laster, wie von der Sünde aus Versuchung, die nothwendig eine Ueberlegung des Vortheils oder des Genusses aus der eventuellen Sünde mit sich bringt.

In auffallender Weise zeigt sich habituelle Untugend gerade bei den ausge-zeichneten, heldenhaften, reformatorischen Charakteren, auch auf religiösem Gebiet. Solche entbehren des künstlerischen Maaßes und der stetigen Macht über ihr Triebleben, je mehr sie leidentlich von der sie beseelenden Idee er-griffen sind. Eigensinn, A f f e c t und Herrschsucht dienen ihnen freilich dazu, ihre weltgeschichtliche Mission durchzuführen, aber so daß deren sittli-che Reinheit verletzt wird.

Die Heroen sündigen im Affect, indem der Trieb der Selbsterhaltung gegen Hemmung ihrer Berufsthätigkeit reagirt, und der individuelle Act nicht durch die Rücksicht der Liebespflicht orientirt ist, vielleicht auch nicht durch eine Einsicht in die Lage, welche der N a c h forschende findet, der unmittelbar handelnde nicht.

Denn indem sie ihre Besonderheit der Allgemeinheit ihres Zwecks hingeben, und indem die Thatkraft die Ueberlegung überholt, so verstehen sie und ach-ten sie nicht andere Besonderheiten, wenn sie auch demselben Zwecke die-nen. Hieraus folgt nicht, daß Sünde leichter vermieden wird, wenn die sittli-che Ueberlegung die Thatkraft überwiegt. Denn hier liegt die Gefahr nahe, daß die vorherrschend asketische Behandlung der Untugend die normale Ent-wicklung der Gesinnung behindert und die Zuversicht zum Handeln lähmt, welche das nothwendige Merkmal unsündlichen Verfahrens ist (Rom. 14,23). Das Urtheil über die Untugend in der christlichen Welt muß immer getragen sein durch die dem Gedanken vom Reich Gottes analoge, außerhalb des Christenthums nicht erreichbare Erkenntniß daß jeder als Sünder an dem ge-meinsamen Sündenstand mitschuldig ist. Dadurch wird die Parteisucht aus-

3 Rothe, Theologische Ethik 2,397f. Anm. 1 f.

3 solche] folgt <Untugenden>7–10 Uebereilung … bringt.] am Rand15 Affect] über der Zeile18–22 Die … nicht.] am Rand19 Act] korr. aus ÎCharù31–151,2 Das … gehemmt.] am Rand

5

10

15

20

25

30

150 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 201: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

geschlossen, die Milde motivirt, und ein Hauptvehikel der Feindschaft unter den Menschen, der Eigensinn gehemmt. In einem z w e i t e n Fall findet sich habituelle Untugend auch im religiösen Charakter im Uebergang von der Un-reife zur Reife. Dazu gehört freilich, daß die Untugend als solche erkannt und mit entgegengesetzten Vorsätzen bekämpft wird; es ist hiebei aber auf einen vielleicht lange schwankenden Kampf zu rechnen, indem die noch nicht be-herrschten Triebe den Menschen zu Falle [116] bringen; aber auch hiebei ist der Unterschied vom Laster zu beachten, daß keine Absicht auf die erfolgen-de Sünde herrscht, und daß in jedem einzelnen Rückfall eine sophistische Verdunkelung des Pflichtbewußtseins als Mittel eintritt. Endlich aber wird gerade der religiös geordnete und befestigte Charakter die einzelnen Ueberei-lungssünden, welche außer Zusammenhang mit dem Charakter zu stehen s c h e i n e n , in der Selbstbeurtheilung gerade als Spuren habitueller Untu-gend betrachten. Diese Ansicht ist der katholischen Unterscheidung von pec-cata mortalia und venialia entgegengesetzt, ebenso wie der methodistischen Ansicht, daß gewisse Gesetzübertretungen die Vollkommenheit nicht schmä-lerten (§ 17). Die habituelle Untugend kann nicht durch negative Askese überwunden werden,

Rom. 6,11.sondern nur durch die Stetigkeit der aus der Berufsaufgabe folgenden positi-ven guten Vorsätze (dikaiosúnh eÌv Ágiasmón Rom. 6,19). Körperliche Askese drängt gerade die geschmälerten Triebe der sinnlichen Selbsterhaltung in den Vordergrund, erreicht also das Gegentheil ihres vorgeblichen Zweckes.

Sektirerisch-asketisches Demuthsstreben nährt die Eitelkeit und den Hoch-muth. Der Werth der Naivetät! NB. sind die ältesten Christen so vollkommen sittliche Charaktere gewe-sen? Irvingianismus.

17 S. oben S. 57,527 Mit Irvingianismus wurde die „Katholisch-apostolische Gemeinde“ bezeichnet, an deren Entstehung um 1832 der Londoner Prediger Edward Irving (1792–1834) betei-ligt war; vgl. Köstlin, Art. „Irving/Irvingianismus“

6 die] folgt <Versuchung durch> <<die>>7 bringen;] korr. aus bringt;17 17] korr. aus 2119 Rom. 6,11.] am Rand21 (dikaiosúnh … 6,19).] am Rand23 Zweckes.] folgt am Rand <Der christliche Charakter ist das Subject der perseve-rantia gratiae, in welchem der plötzliche Bruch mit dem Endzeck und der Gesinnung u n w a h r s c h e i n l i c h ist. Es würde dies die irreparable Sünde wider den heiligen Geist sein (Mc. 3,28–30; Hebr. 6,4–8; 10,26ff). welche>24f. Sektirerisch-asketisches … Naivetät!] am Rand26f. NB. … Irvingianismus.] am Rand

5

10

15

20

25

151§ 47 Formen der Sünde

Page 202: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

§ 48. 43 D i e Ve r s u c h u n g .

bezeichnet eine andere Form des Sündigens als die Untugend; wird von den älteren Theologen vorherrschend in Beziehung auf die Wiedergeborenen ge-setzt; weil die Unwiedergeborenen unter der H e r r s c h a f t der Sünde ste-hen, also derjenigen Freiheit zum Sündigen entbehren, welche durch den Be-griff der Versuchung vorausgesetzt wird. Dieser Gesichtspunkt ist nicht rein, die erste Hälfte des Satzes ist ethische Reflexion die zweite dogmatische. Wenn die letztere gelten soll, so kann auch der Wiedergeborene nicht sündi-gen (1 Joh. 3,9; 5,18). Umgekehrt gilt nach der ethischen Betrachtung die Versuchung auch für den Unwiedergeborenen (Jak. 1,14.15), wenn derselbe eine Stufe moralischen Charakters erreicht hat, d.h. wenn bei ihm dem Reize des Triebes schon ein allg|emein sittliches Motiv entgegenwirkt. Auf solchen Fall ist der dogmatische Begriff von der völligen Unfreiheit des Sünders nicht anwendbar, und doch auch noch nicht der dogmatische Begriff der Wiederge-burt. Die theologische Ethik hat aber nicht die Aufgabe, alle möglichen Stufen der Charakterbildung zu beleuchten, sondern eben nur die Stufe des geheiligten Charakters, und hienach ist unsere Lehre von der Versuchung ab-zugrenzen. Deßhalb ist das Maaß [117] dazu nicht von Jak. 1,14.15 zu ent-lehnen, sondern von der Thatsache, daß Christus Versuchung erfahren und bestanden hat (Hebr. 2,18; 4,15; Mc. 1,13; Luc. 22,28). Aus der Zusammen-fassung dieser beiden Neutestamentlichen Stützpunkte ergiebt sich, daß das-jenige Motiv, welches einem normalen Charakter als Versuchung zur Sünde dienen kann, nicht als böse, nicht als Widerspruch gegen den sittlichen End-zweck erscheinen wird. Denn was von vornherein als böse gewußt ist, kann einen sittlich begründeten Charakter als solchen nicht reizen; also auch die Vorstellung Jesu von dem Teufel kann nur als nachträgliches Urtheil Jesu über den Werth versucherischer Motive gelten, dessen Gewinnung das Merk-mal für die Ueberwindung der Versuchung ist. Deßhalb ist es auch eine falsche Auslegung von Jak. 1,14.15, daß die b ö s e Lust oder das Fleisch als Sitz habitueller Untugend Versuchungen begründe. Vielmehr wenn die Lust, d, h. das Triebleben versucherische Motive abgiebt, so geschieht dies gemäß seinen sittlich berechtigten und scheinbar erlaubten Ansprüchen, und das Fleisch dient zur Versuchung, nicht weil es böse, sondern weil es schwach ist (Mc. 14,38). Es sind also alle Behauptungen abzuschneiden, die in Folge der Verwechselung von Lust und böser Lust stehen; ebensowenig ist ein zweites coordinirtes Motiv, daß die Welt Grund der Versuchung sei, nach 1 Joh. 5,19; Jak. 4,4. Denn jeder Antrieb nach Lust, der versucherisch sein kann, knüpft sich natürlich an Güter, die zum Umfang der Welt gehören; Lust und

2 bezeichnet … Untugend;] im freien Teil der Zeile35f. ist … Motiv,] am Rand statt <gehört hieher,>36 coordinirtes] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

152 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 203: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Welt sind also nur zusammen e i n Motiv der Versuchung, nicht zwei coordi-nirte; ebenso wenig ist der Teufel als drittes Motv der Versuchung zu zählen, denn derselbe concurrirt nur als eigenthümlicher Exponent des Unwerthes der Welt für den Erlösten. Die directen Hinweisungen auf Versuchung im Neuen Testament sind beschränkten Umfanges, dürfen aber nicht durch will-kürliche Combinationen erweitert werden. 1. werden Versuchungen abgelei-tet von den Leiden, die die Gegner der religiösen Wahrheit hervorbringen, wie Jesus und die Gemeinde in ihrem Berufe erfuhren, und dieselben werden auf den Satan zurückgeführt, [118] sofern derselbe als Machthaber über die Gegner des Christenthums gilt, der die Christen von ihrem Glauben abtrün-nig zu machen sucht (Hebr. 2,18; Luc. 22,28; – Mc. 14,38; 1 Kor. 10,13; Jak. 1,2.12; 1 Petr. 1,6; 4,12; – 1 Th. 3,5; Luc. 22,31.32; 1 Petr. 5,8; Eph. 6,11.12). Das Leiden wird nun insofern versucherisch, weil der durch dassel-be beeinträchtigte Selbsterhaltungstrieb, der das ganze Personleben verbürgt, als ausschließlich berechtigt, und weil die Selbsterhaltung als ein die Berufs-pflicht möglicherweise aufwiegendes Gut erscheint; während doch der Trieb nach Selbsterhaltung, der die Berufspflicht ausschließt, nur die Stufe des Na-turells im Widerspruch mit den Bedingungen des Charakters repräsentirt.

skandalon = Versuchung, aus dem begehrenden Triebe Mc. 9,43–47; Mt. 5,29.30; aus Verfolgung Mc. 4,17, von Menschen her 9,42; Mt. 17,27; 1 6 , 2 3 ; von Jesus selbst her Mc. 6,3; 14,27.29; Mt. 11,6; 15,12; Lc. 7,23; Joh. 6,61; 16,1; 1 Petr. 2,8; Rom 9,33; Gal. 5,11; 1 Kor. 1,23 näm-lich dadurch daß man ihn nicht richtig versteht, und doch seine Stellung zu ihm nimmt – Zur schwachen Nachgiebigkeit versuchen Rom 14,13.21; 1 Kor. 8,13; Apok. 2,14; Rom 16,17, zur leidenschaftlichen Gegenwirkung versuchen Mt. 17,27; 2 K o r. 1 1 , 2 9 Indifferent 1 Joh. 2,10.

2. erscheinen andere an sich berechtigte Triebe als versucherisch. Zunächst der Trieb nach Besitz (1 Tim. 6,9), nach den Mitteln persönlicher Selbstän-digkeit, sofern derselbe in Widerspruch mit dem vorausgesetzten sittlichen Endzweck kommen kann, also das Mittel den sittlichen Endzweck zu ver-drängen im Begriff ist. Ferner der Geschlechtstrieb (1 Kor. 7,5), der in der Ehe berechtigt ist, aber beeinträchtigt durch asketische Tendenzen der Ehe-leute die Ehe zu brechen droht. Ferner Gal. 6,1. 3. Die Fälle der Versuchung

3f. Unwerthes … Erlösten.] Unwerthes (korr. aus Werthes) … Erlösten. am Rand statt <die Versuchung bildenden psychisch-ethischen Verhältnisses.>15 ausschließlich] am Rand19–26 skandalon … 2,10.] am Rand20 17,27;] folgt <Mc.>22 1 Petr … 1,23] über der Zeile24 13.] über der Zeile25 Rom 16,17] über der Zeile26 Mt. 17,27] über <Gal. 5,11; 1 Kor. 1,23; Rom 16,17>33 Ferner … 6,1.] am Rand

5

10

15

20

25

30

153§ 48 Versuchung

Page 204: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Christi sind nur verständlich von dem Kampfe in Gethsemane aus. Indem Je-sus den Wunsch hegt, von den ihm bevorstehenden Leiden verschont zu blei-ben, indem er es also momentan für möglich hält, auch ohne Leiden seinen Beruf zu erfüllen, wird versucherisch der Gedanke eines von vornherein als gut anzusehenden Vorsatzes; die nähere Ueberlegung aber führt zu der Er-kenntniß, daß das gedachte Mittel zum Zweck nicht ebenso gut ist, wie das andere. So ist die Versuchung Christi im Anfang seiner Laufbahn nur ver-ständlich wenn Jesus im beginnenden Bewußtsein seines Berufes das Auftre-ten als politischer Machthaber momentan für ebenso gut und sittlich zweck-mäßig gehalten hat, als die Bahn des Propheten und des Dulders, respective die vorhergesehenen Leiden empfunden hat als Hemmungen seiner Lebens-freude und diese momentan als ein Gut vorgestellt hat, welche sein Berufsbe-wußtsein aufwiegen könnte. Die Doppelbitte Mth. 6,13 richtet sich an den Gott der Vorsehung,

dagegen Jak. 1,13.daß er uns nur in solche Situationen führe, in denen das Urtheil über die nächste Handlungsweise nicht unsicher und schwankend sein kann, und daß man demgemäß bewahrt bleibe vor dem Bösen, zu welchem man in Kraft der Versuchung kommen [119] kann; nicht gemäß bösem Willen, sondern aus Schwachheit der Einsicht und Schwachheit des Fleisches. Versuchung ist also für den christlichen Charakter ein hypothetischer Grund zum Sündigen, ent-gegengesetzter Art als die zurückgebliebene Untugend. Sie geht aus einer Rei-zung von Trieben hervor, welche auf Grund des momentanen Verhältnisses des Menschen zur Welt den Anschein haben, den Werth des gewonnenen oder zu gewinnenden Charakters aufzuwiegen; und die Versuchung wirkt Sünde, sofern die durch äußere Situation herbeigeführte Ueberlegung des scheinbaren Werthes gewisser Güter den Charakter sich selbst untreu macht.

1 aus] über der Zeile10 Dulders,] Ms.: Dulders.10–13 respective … könnte.] am Rand15 dagegen … 1,13.] über der Zeile mit Bleistift20–155,10 Versuchung … vermeiden.] am Rand statt <4. gehen Versuchungen hervor aus der vorausgesetzten Sicherheit im Handeln <nach> ohne vorangegangene Ueberle-gung (Gal. 6,1). Auf diesem Wege, und auf demjenigen, dem das Gebot Mth. 6,13 ent-gegenwirken will, bringt die Versuchung eine Masse Sünde gerade in das christliche und das kirchliche Gebiet, einerseits in jesuitischer Gleichsetzung sittlich ungleicher Mittel zum guten Zweck, dann durch Festsetzung von Herrschsucht und Fanatismus auf Grund vorgeblicher Sicherheit auf dem einmal eingeschlagenen Wege. (folgt im freien Teil der Zeile und am Rand Versuchung ist also ein Grund zum Sündigen)>23–25 welche … aufzuwiegen;] über <sofern dieselben nicht vom Charakter be-herrscht sind, oder, wie der Selbsterhaltungstrieb überhaupt den Charakter möglich macht, <und> dessen Ansprüchen ein Gegengewicht zu leisten ‚scheinen;‘ (korr. aus scheint;)>26 Ueberlegung] korr. aus Uebereilung27 scheinbaren … Güter] über <Entschlusses>

5

10

15

20

25

154 II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter

Page 205: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

In diesem Falle tritt aber keine Sünde gegen den heiligen Geist ein, sondern Gal. 6,1.2. Aber ein Gradunterschied ist zwischen der Verläugnung des Chri-stenthums im Falle der Verfolgung und einer Uebereilung anderer Art. – Mit der Versuchung ähnlich ist der Fall, in welchem ein Impuls habitueller Untu-gend durch den Willen überwunden wird. Aber deßhalb dürfen doch die bei-den Formen der Sünde nicht vermischt werden. Denn im letztern Fall verhält sich der Wille nicht frei gegen die Reizung, und die Entscheidung des Willens gegen sie hängt nicht so von der richtigen Einsicht in den Fall ab, wie bei der eigentlichen Versuchung, deßhalb kommt in beiden Fällen ein verschiedener Grad von Willenskraft in Anwendung um die Sünde zu vermeiden.

Z w ö l f t e s C a p i t e l . D i e Tu g e n d .

§ 49. 44 A. A l l g e m e i n e r B e g r i f f d e r Tu g e n d .

Der Charakter ist die Stufe des Willens, welche die in dem besonderen Berufe gesetzten Zwecke auf einen Endzweck hin vereinigt. Die Gesinnung ist der Gedanke des persönlichen Endzwecks, sofern er Absichten und Vorsätze her-vorruft. Charakter und Gesinnung sind sittlich gut, sofern das GottesReich als ihr Endzweck gesetzt ist. Tugend ist die der guten Gesinnung gemäße Ordnung der Absichten Vorsätze und Entschlüsse, als Product des Willens in-nerhalb des Charakters selbst. Allerdings ist die Tugend auch Kraft zum Han-deln; aber dies ist das jenem Begriff untergeordnete, wenn es auch vielfach al-lein in Betracht gezogen wird. Uebrigens bezieht sich die Pflicht auf das sittli-che Handeln in der Gemeinschaft, die Tugend zunächst auf die Bildung des eigenen Charakters. Nur wenn in zweiter Reihe die Tugend auch im Handeln erscheinen wird, so ist zu [120] unterscheiden: Eine Handlung ist pflicht-mäßig nach ihrem normalen Verhältniß zu dem Zweck der Gemeinschaft; sie ist tugendhaft nach ihrem Verhältniß zur Normalität des begründenden Wil-lens. Als Product des Willens tritt die Tugend in der Pädagogik freilich als eine Aufgabe unter den Begriff der Pflicht. [119] Um so weniger richtig ist es, wenn zugleich der Grundbegriff der Tugend nur unter dem Titel der Pflichten

10 die] folgt <Versuchung>17 die] korr. aus das18 Ordnung … als] über der Zeile21 wird.] folgt ursprünglich der Abschnitt Um … gegenüberstellen. der durch Einfü-gungszeichen ohne Änderung der Satzzeichen weiter unten eingeordnet wird; s. unten Zeile 28–156,628 Pflicht.] Ms.: Pflicht;28–156,6 Um … gegenüberzustellen.] mit Einfügungszeichen hierher versetzt; s. oben Zeile 21

5

10

15

20

25

155§ 49 Tugend (allgemein)

Page 206: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

gegen sich selbst, als Pflichten tugendhafter Selbstbildung zu Sprache kommt (Rothe). Diese Pflichtbegriffe, indem sie dem unreifen Charakter zugemuthet werden, sind zumal keine ethischen sondern pädagogische Pflichtbegriffe. Die ethischen Begriffe werden in Hinsicht des reifen Charakters gebildet, und deßhalb ist die Tugend nicht als eine Soll dem Pflichtbegriff unterzuordnen, sondern als ein wirklicher Sachverhalt dem Soll gegenüberzustellen. [120] Und sofern die Tugend erzeugende Bewegung des Willens durch die Gesin-nung also durch einen bestimmten Gedanken vom persönlichen Endzweck vermittelt ist, so ist die Tugend lehrbar. In diesem Sinne wird sie Object der Pädagogik, respective der Pflichten gegen sich selbst. Nicht durch Verstandes-begriffe, sondern durch Erregung des sittlichen Gemeingefühls, durch Anlei-tung des Ideals, in der Zusammenwirkung ethischer und aesthetischer Moti-ve. Die Tugenden werden immer hervorgebracht durch die Rückwirkung des entsprechenden Handelns nach Außen auf das Handelnde Subject. Bethäti-gung der Kraft ist Erwerb und Stärkung derselben. Die Tugend ist Eine, weil der Charakter in seiner Einheit ihr logisches Subject ist, und deßhalb sind auch die mannigfaltigen Tugenden in keinem Subject vollkommen, in wel-chem eine derselben fehlt oder mangelhaft ausgebildet ist. Die Tugend ist mannigfaltig, sofern die Thätigkeit des auf sich selbst gerichteten Willens ent-weder die Totalität, oder einzelne Elemente des Charakters sich zum Zwecke seiner Bewegung macht. 1. Diejenigen Tugenden, welche sich aus der Bezie-hung des Willens auf die Totalität des Charakters ergeben, sind zugleich die, welche das unmittelbare Maaß für den s u b j e c t i v e n Werth des Handelns in der Gemeinschaft bilden. Sie unterscheiden sich nach der Abstufung der Willensäußerung. Der Absicht entspricht die We i s h e i t , dem Vorsatze die B e s o n n e n h e i t , dem Entschlusse die E n t s c h l o s s e n h e i t und die B e h a r r l i c h k e i t . 2. Die Beziehung des Willens auf die einzelnen Ele-mente des Charakters richtet sich entweder danach, daß der Charakter auf einen persönlichen Endzweck gegründet ist, durch den die Triebe beherrscht werden, die S e l b s t b e h e r r s c h u n g , – oder danach, daß der persönliche Endzweck mit dem allgemeinen sittlichen Zweck im Berufe identisch ist, die G e w i s s e n h a f t i g k e i t . Oder es kommt darauf an, die den Charakter messende G e s i n n u n g zu erhellen, zu stärken, auszubilden, G ü t e , D a n k b a r k e i t , G e r e c h t i g k e i t . Die Reihenfolge der Darstellung ist so zu nehmen, daß die abstracteren Tugenden den concreteren vorgehen.

3 sondern] folgt <ihm>7 Und] Ms.: und8 durch] über der Zeile9–15 In … derselben.] In … derselben am Rand15 Eine] korr. aus einfach34 Gerechtigkeit.] folgt <Diese stehen in Hinsicht des concreten Inhaltes des Cha-rakters>35 vorgehen] korr. aus Vorgehen

5

10

15

20

25

30

35

156 II. Theil XII. Tugend

Page 207: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Die Pflichtbegriffe: Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Dienstfertigkeit, Ver-träglichkeit sind nicht zugleich als ebenso viele Tugenden darzustellen, denn da sie als Pflichtbegriffe begrenzte Anwendung finden, so können sie unbegränzt ebenso viele Untugenden werden.

[121] 45 B. D i e Tu g e n d e n f o r m a l e r C h a r a k t e r b i l d u n g .

§ 50. D i e S e l b s t b e h e r r s c h u n g

ist die im Willen erzeugte Ordnung der Absichten usw., sofern derselbe in der auf sich gerichteten Bewegung seinen persönlichen Endzweck sichert. Dersel-be wird gesichert, indem die im Naturell enthaltenen Triebe beherrscht, zu Mitteln des persönlichen Endzwecks gemacht, und nicht etwa in willkürli-cher Bewegung neben oder gegen den sittlichen Endzweck gelassen werden. Aber ferner indem das Triebleben dem Endzweck untergeordnet, und die er-worbene Fertigkeit, dies zu thun, in der Selbstbeherrschung ausgeübt wird, so werden die Triebe nicht überhaupt gelähmt und unterdrückt, sondern einge-schränkt gemäßigt. Die Selbstbeherrschung im Verhältniß zu den Trieben der sinnlichen Selbsterhaltung ist K e u s c h h e i t , M ä ß i g k e i t ; zu den Trie-ben der geistigen Selbsterhaltung E i n f a c h h e i t , M ä ß i g u n g , die Fer-tigkeit dem anderen Achtung zu erweisen, und sich als achtungswürdig zu zeigen. Mth. 7,1; Jak. 4,11.12. (Gegentheil von Eigensinn, Rechthaberei, Ei-telkeit). Die Selbstbeherrschung wird nun nicht durch negative Askese, son-dern durch Gymnastik erworben, nicht durch Fasten und Ausmergelung, nicht durch absichtliche Schweigsamkeit und künstliche Selbstdemüthigung.

Abgestufte Vorsicht des Vermeidens der Versuchungen zur Wollust, Völle-rei, Eitelkeit und Rechthaberei.

Denn im ersten Fall wird die Aufmerksamkeit auf die sinnlichen Triebe fixirt, anstatt auf den sittlichen Endzweck, im zweiten Fall, auf einen sittlichen End-zweck, der nicht positiv ist, und in den sich wieder der Egoismus hineinlegen kann als verbissener Hochmuth und als raffinirte Eitelkeit. So weist natürlich die Selbstbeherrschung auf die normale Beschaffenheit der Charakterent-wicklung als nothwendige Ergänzung hin. Die Selbstbeherrschung wenn sie das Ganze der Tugend sein soll, kommt freilich nicht über die Negation des

1–4 Die … werden.] am Rand7 ist … usw.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt <ist Product des Willens>14f. eingeschränkt] am Rand17 Selbsterhaltung] folgt <B e s c h e i d e n h e i t >17–19 Mäßigung, … 4,11.12.] am Rand, Mäßigung, über der Zeile23f. Abgestufte … Rechthaberei.] am Rand23 Versuchungen] folgt <Îbeiù>26 Fall] korr. aus fall

5

10

15

20

25

30

157§ 50 Selbstbeherrschung

Page 208: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Trieblebens hinaus. Die Mönchstugend als aparte Bethätigung der Demuth (§ 41) kommt auf die isolirte negative Selbstbeherrschung hinaus, indem die Triebe als das an sich widersittliche überhaupt verneint werden. Zu den all-gemeinen Negationen des Eigenthums, der Ehe, der Familie, d.h. des Triebes nach sinnlicher und sittlicher Selbständigkeit und Gemeinschaft, fügen Kar-thäuser und Trappisten eine ganz überwiegende Pflicht der Schweigsamkeit, und die Heroen des Mönchthums Ueberwindung des naturgemäßen Ekels hinzu. Die Culturbedeutung des Mönchthums im Mittelalter erklärt sich nur im Widerspruch mit [122] seinem sittlichen Princip daraus, daß in einer Epo-che allgemeiner Culturlosigkeit Gemeinschaften mit geringen Bedürfnissen und strenger Disciplin für die Aufgaben Großes leisten konnten, die sie trotz ihrer Abwendung von der Welt sich auferlegten.

§ 51. D i e G e w i s s e n h a f t i g k e i t

ist die im Willen erzeugte Ordnung der Absichten usw. sofern derselbe in der auf sich gerichteten Bewegung sich seinen sittlichen Beruf in dem Wechsel der verschiedenen sittlichen Aufgaben und der verschiedenen möglichen Willens-bewegungen sichert. Ohne die Uebung der Gewissenhaftigkeit verliert der Wille die ihm sittlich nothwendige Grenze seines Berufs, oder, sofern dieselbe äußere Motive für ihn behält, wird er zur lästigen Fessel oder er wird zur charakterlosen Liebhaberei. Sofern der Einzelne Beruf in Familie, bürgerli-cher Gesellschaft, Staat, Kirche hat, so bedarf er in allen diesen Beziehungen der Gewissenhaftigkeit, um sich in ihnen zu erhalten; und umgekehrt, jedes Object auf welches Gewissenhaftigkeit angewendet wird, wird dadurch in den Beruf aufgenommen, dem man willkürlich nicht ohne Schaden untreu werden darf. Sofern die ersten Christen in Rom sich aus dem Genuß von Wein und Fleisch ein Gewissen machen, schließen sie diese Vorsicht in ihren Beruf ein. Wenn sie aber durch das Beispiel der Anderen sich zur Abweichung von ihrem Grundsatze verleiten lassen, so sind sie verdammt, weil sie nicht gemäß ihrer Ueberzeugung handeln (Rom. 14,23). Dagegen sind die gleichar-tigen Leute in Kolossae verdammlich, weil sie ihre eigenthümlichen Enthal-tungen und Uebungen, an die sie ihr eignes Gewissen bindet, anderen auf-

2 S. oben S. 136,22 (§ 42!)30 Kol 2,16–23

3 Zu] korr. aus ÎFù11 Großes] korr. aus großes14 ist … usw.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt <ist Product des Willens, in sich selbst,>16 verschiedenen … der] am Rand19 er wird] über der Zeile23 auf welches] korr. aus Îmit Weù

5

10

15

20

25

30

158 II. Theil XII. Tugend

Page 209: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

drängen wollen. Denn hierin liegt der Fehler, daß etwas, was als besonderer Beruf Einzelner einen subjectiven Werth für diese hat, als allgemeine Regel gelten soll.

Die Gewissenhaftigkeit ist als der hauptsächliche Maßstab für die Bildung der Pflichtbegriffe das was man das gesetzgebende Gewissen nennt. Die falsche Appellation an das Gewissen mit Ablehnung aller übrigen Be-stimmungsgründe.

Aber der besondere Beruf des Einzelnen ist nicht das höchste Maaß der ge-meinsamen Sittlichkeit; und was nach dem besonderen Beruf des Einzelnen dessen Gewissenhaftigkeit bindet, braucht darum nicht Alle zu verpflichten. Also auch diese Tugend wird in ihrer Isolirung von der allgemeinen Cha-rakterbildung Grund sittlicher Fehler. In ihrer Isolirung von Gerechtigkeit, Weisheit, Besonnenheit wird die Gewissenhaftigkeit Eigensinn. Die Selbst-beherrschung und Gewissenhaftigkeit begründen die Selbständigkeit und Ehrenhaftigkeit des Charakters. [123] Die S e l b s t ä n d i g k e i t kommt dem Charakter zu, sofern die Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit die Uebereinstimmung des persönlichen sittlichen Endzwecks mit dem be-sonderen Berufe verbürgen, und es ausschließen, daß erst das Urtheil und die Absicht anderer Personen dem Menschen seinen sittlichen Endzweck und seinen Berufskreis setzen. Die E h r e n h a f t i g k e i t ist vielmehr die Selbständigkeit des Charakters selbst, sofern dieselbe durch das Urtheil der Anderen anerkannt wird und dieselben darauf verzichten, i h r Urtheil als Maaßstab der Sittlichkeit der Person geltend zu machen.

46 C. D i e Tu g e n d e n m a t e r i a l e r C h r a k t e r b i l d u n g .

§ 52. D i e We i s h e i t

ist nicht zureichend definirt als die Fertigkeit, gute Zwecke und gute Mittel zu setzen, sondern sie ist die im Charakter producirte Fertigkeit, nach dem besondern Maaß des Berufes und gemäß der allgemeinen Einsicht in das Ver-hältniß des Subjects zu der umgebenden Welt

Èpígnwsiv, gnôsiv bei Paulus Phil. 1,9–11; Rom 12,2; 2 Kor. 6,6; Kol. 1,9.10.

1 daß] korr. aus was1 was] folgt <nur>4f. Die … nennt.] am Rand6f. Die falsche … Bestimmungsgründe.] am Rand18 erst] korr. aus d25 Weisheit] Ms.: Weisheit.28f. und … Welt] am Rand30f. Èpígnwsiv … 1,9.10.] am Rand

5

10

15

20

25

30

159§ 51 Gewissenhaftigkeit – § 52 Weisheit

Page 210: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

gute Zwecke und Absichten zu bilden, und durch den Gedanken der Absicht das Urtheil auf die möglichen Mittel hinzulenken. Daß in einem bestimmten Moment das der Absicht entsprechende Mittel zum guten Vorsatze wird, ist freilich durch die Besonnenheit bedingt, ein Beweis, daß die nächsten ver-wandten Tugenden nicht ohne einander denkbar sind. Der biblische Aus-druck sofía bezeichnet freilich die allgemeine Einsicht in die göttlichen Ab-sichten, nach welchen sich die Lebensführung der Gläubigen zu richten hat (Kol. 1,9.10), und welche nicht einzelne Tugend, sondern die Grundlage für Gesinnung und Charakterbildung ist (Jak. 1,5; 3,17). Die Weisheit als b e -s o n d e r e Tugend im Worte sofóv (1 Kor. 3,10; 6,5; – Luc. 21,15; Kol. 4,5; Eph. 5,15.16), frónimov (Mth. 24,45; 25,2 ff.). Das letztere Wort ent-spricht daneben unserem Begriff der K l u g h e i t (Mth. 10,16; Luc. 16,8). Die Klugheit ist diejenige Modification der Weisheit, in welcher die guten Ab-sichten mit Rücksicht darauf gebildet werden, daß das Zwecksetzen und Mittelwählen seine Schranke an den anderen Menschen hat. Hiebei ist die Güte der Absichten durchaus vorbehalten; und mit genauer Bezeichnung der sittlichen Reinheit als Bedingung wird die Klugheit ausdrücklich gefordert Mth. 10,16.

[124] § 53. D i e B e s o n n e n h e i t .

Die Stellen Kol. 4,5; Eph. 5,15.16 beurtheilen das Handeln nicht blos mit Rücksicht auf die Weisheit, sondern auch mit Rücksicht auf Besonnenheit und Entschlossenheit. Weisheit ist ohne diese beiden weder denkbar noch wirklich. Besonnenheit ist die im Charakter producirte Fertigkeit, das richtige Maaß der Vorsätze zu üben. Indem nämlich die Absicht den Gedanken meh-rerer gleich guter Mittel offen läßt, so wird gemäß der Besonnenheit dasjeni-ge Mittel oder diejenige Reihe von Mitteln zum Vorsatz, welche als zweck-mäßiger in jeder Beziehung erscheint. Denn außer dem Verhältniß des Mittels zum gedachten Zweck kommt für die Richtigkeit des Vorsatzes noch das Verhältniß desselben zur eigenen Kraft des Charakters in Betracht, nämlich zu dem Maaße von Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit dessen man sich bewußt ist. Die Ueberlegung des Verhältnisses eines Vorsatzes zum Beruf und zu der Gewissenhaftigkeit, deren man sich als erworbene Fertigkeit be-

9 (Jak. … 3,17).] am Rand28 Vorsatzes] folgt <<und>>31–161,1 Ueberlegung … Besonnenheit.] am Rand legung … Besonnenheit statt <le-gung dieses Verhältnisses ist das swfroneîn, im Gegensatz zu Úperfroneîn (Rom. 12,3). Die pístiv, nach deren Maaß sich ‚die‘ (korr. aus das) Besonnenheit richten soll, ist die besondere Kraft des Glaubens (1 Kor. 12,9), die Charakterbestimmtheit der Re-ligiosität, welche im Verhältniß zu der Art des sittlichen Berufes steht>32 zu der] korr. aus zur

5

10

15

20

25

30

160 II. Theil XII. Tugend

Page 211: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

wußt ist, ist die Probe der Besonnenheit. Die Ueberlegung des Verhältnisses eines Vorsatzes im Verhältniß zu dem Maaße der eigenen Selbstbeherrschung ist die Uebung der N ü c h t e r n h e i t (1 Petr. 1,13; 5,8; 1 Th. 5,6.8). Dersel-be Vorsatz kann nun der Besonnenheit entsprechen, indem er nach der Rück-sicht auf meine Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit, und zwar auf de-ren geringere Widerstandskraft gefaßt ist, – und kann der K l u g h e i t ent-sprechen, sofern er mit Rücksicht auf den erwarteten Widerstand der Ande-ren gefaßt ist. Weisheit und Besonnenheit vollenden sich durch die Entschlos-senheit.

§ 54. D i e E n t s c h l o s s e n h e i t

(oder der Muth) ist die im Charakter producirte Fertigkeit, die im Verhältniß zu bestimmten Absichten mit Besonnenheit gefaßten Vorsätze in Entschlüsse zu verwandeln. Entgegengesetzt ist die Feigheit oder der Kleinmuth und die Schlaffheit, in denen der Wille beim Vorsatz [125] stehen bleibt. Es giebt auch eine Entschlossenheit des Naturells, welche der Begleitung durch Weis-heit und Besonnenheit entbehrt. Wie nun aber der Entschluß primär schon den Fortschritt von der Absicht zum Vorsatz bildet, so ist die Entschlossen-heit nicht erst der äußere Abschluß für die verwandten Tugenden, sondern der innere Nerv für Weisheit und Besonnenheit selbst, ja für die Tugendbil-dung in Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit. Wo aber die sittlich be-gründete Entschlossenheit einem Charakter eignet, da ist das den Charakter begleitende Gefühl der Zuversicht nicht nur ein Regulator des richtigen Han-delns, sondern auch schon ein Merkmal für die Fruchtbarkeit in Bildung von Absichten und Vorsätzen. An dem Charisma der pístiv, demgemäß der Mensch besonnen ist, ist vor Allem die Entschlossenheit hervorzuheben, in dem Sinne, wie sie auch die Weisheit und Besonnenheit befruchtet (Mc. 9,19; 11,22.23). Wo die Gewissenhaftigkeit einen Vorsatz verbietet, wird der Ent-schluß zum Handeln mit innerem Zweifel behaftet sein, und dann ist die blinde Entschlossenheit Merkmal der Sünde (Rom. 14,22.23). Andererseits regelt die Entschlossenheit auch den Werth des Gebetes zur Stärkung der ge-sammten sittlichen Fertigkeit (Jak. 1,5–8). Denn als Nerv des Charakters be-stimmt die Entschlossenheit dessen Gesammtwerth. Hingegen die entschluß-losen Charaktere sind bei aller ihnen zuzugestehenden Weisheit und Beson-

160,32 sich] folgt <bewußt ist als Fertig>; als versehentlich gestrichen10 Entschlossenheit] korr. aus Entschlossenheit.15 Begleitung] korr. aus Betheil16–20 Wie … Gewissenhaftigkeit.] am Rand23 ein] folgt <Regulator>26 befruchtet] am Rand statt <modificirt>31 als Nerv] am Rand statt <als äußerstes Glied der tugendhaften Ausbildung>

5

10

15

20

25

30

161§ 53 Besonnenheit – § 54 Entschlossenheit

Page 212: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

nenheit nicht werthvoller als die Lasterhaften, weil sie keine Frucht, d.h. kein für die Gemeinschaft nützliches Gesammtwerk hervorbringen (Apok. 21,8).

§ 55. D i e B e h a r r l i c h k e i t

ÚpomonÄ (Luc. 8,15; Rom. 2,7; Hebr. 10,36; 12,1; Apok. 2,2) ist eine Modifi-cation der Entschlossenheit. Sie bedeutet nicht die Fertigkeit, den einmal ge-faßten Vorsatz oder Entschluß gegen alle Hindernisse festzuhalten; denn dies leistet auch die Untugend des Eigensinnes. Sofern ein Vorsatz in eine Mehr-heit von Entschlüssen umgesetzt werden muß, sofern eine Absicht eine Mehr-heit von Vorsätzen erzeugt, sofern der Eine Endzweck sich in eine Reihe von Absichten auseinanderlegt, so ist die Beharrlichkeit die im Charakter produ-cirte Fertigkeit, welche den sittlichen Endzweck als letztes Motiv des ganzen Handelns und jede Absicht in ihrem besonderen Kreise als das Motiv wirk-sam macht, demgemäß immer zweckmäßige Vorsätze und zuversichtliche Entschlüsse hervorgerufen werden. [126] In dieser der Beharrlichkeit entspre-chenden Planmäßigkeit des Handelns, werden einzelne Absichten wegfallen, einzelne Vorsätze zurückgenommen werden können, ohne daß dadurch die Beharrlichkeit beeinträchtigt, oder der Wankelmuth an ihre Stelle gesetzt würde. Aber die Stetigkeit des Endzwecks wird durch die Beharrlichkeit im-mer relativ stetige Absichten, und danach die zweckmäßigen Vorsätze und Entschlüsse begründen. In dem möglichen Wechsel des der Beharrlichkeit un-terworfenen Stoffs des Willens ist mitunter der Schein begründet, als ob Be-harrlichkeit das Gegentheil von Entschlossenheit wäre. Aber vielmehr ist der Beharrliche immer entschlossen zur Uebung der Selbstbeherrschung und Ge-wissenhaftigkeit also wenigstens zur Tugendentwickelung wenn auch nicht zum äußeren Handeln im Moment. Es ist Entschlossenheit, eine gewisse Rei-he von Absichten und Vorsätzen in dem Moment aufzugeben, wo der Ent-schluß zum Handeln hätte eintreten sollen, aber aus gewissen Rücksichten nicht zweckmäßig gefaßt werden würde; und dann anstatt des aufgegebenen Planes eine neue Reihe von Absichten und Vorsätzen zu entwerfen, um bei dem Einen Endzweck zu beharren. So ist die Beharrlichkeit neben der Ent-schlossenheit die Bedingung, unter welcher der Charakter überhaupt in sich Tugend producirt. Im Verhältniß zur Beharrlichkeit besteht auch der sittliche Werth des Leidens, welches ja die Freiheit des Handelns nach außen hemmt (Rom. 5,3.4; Jak. 1,2.3; Hebr. 12,7; 2 Tim. 2,12). Denn unter dieser Bedin-gung findet die Entschlossenheit des Charakters ihr Object nur an der inne-ren Tugendbildung. Die Entschlossenheit in Anwendung hierauf ist aber die Beharrlichkeit.

4 10,36;] über der Zeile4 12,1;] folgt <Jak. 1,3.4;>30f. neben … Entschlossenheit] am Rand

5

10

15

20

25

30

35

162 II. Theil XII. Tugend

Page 213: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

47 D. D i e Tu g e n d d e r G e s i n n u n g

§ 56. I m A l l g e m e i n e n .

Die Gesinnung ist der Gedanke vom persönlichen sittlichen Endzweck, so-fern derselbe Grund von Absichten und Vorsätzen ist (§ 46). Als solcher ist die Gesinnung das bestimmte Mittel auch für die Production aller Tugenden. Aber die Selbsthervorbringung des Charakters schließt auch die Erweiterung, Abklärung, Befestigung der Gesinnung in sich, und deshalb ist auch sie ein Object absichtlicher Ausbildung und ein Ort bestimmter Tugenden. Das Be-dürfniß dieser Ausbildung ergiebt sich aus Folgendem. [127] Die Güte der einzelnen Absichten und Vorsätze steht nicht blos in Abhängigkeit von der Güte des allgemeinen Endzwecks, sondern auch im Verhältniß zu dem Rechte der Personen, mit denen man durch die Ausführung der Absichten und Vor-sätze in Berührung kommt. Der höchste sittliche Endzweck des Reiches Got-tes, welcher die Gesinnung gut macht, schließt allerdings die Liebe gegen den Nächsten in sich; aber in diesem allgemeinen Motive des Handelns ist zu-nächst der persönliche Selbstzweck des Andern, den man mit dem eigenen identisch setzt in einer idealisirten Auffassung enthalten.

In der sittlichen Gemeinschaft als Ganzes, welche als der allgemeine End-zweck gedacht ist, gelten die Einzelnen nicht als Theile, sondern selbst wie-der als Ganze. Dadurch wird keine sachliche Objectivität des Handelns er-laubt, sondern eine persönliche Rücksicht vorgeschrieben.

Es kommt aber darauf an, daß in den danach bemessenen Absichten und Vorsätzen nicht blos das Sittengesetz sondern auch der empirische Abstand gegen das Ideal zu Gunsten des Andern berücksichtigt werde; bei dessen Nichtbeachtung die liebevollsten Absichten eine Abstoßung und nicht eine Anziehung der Person bewirken würden. Die Gesinnung, welche zu der Höhe und Fertigkeit entwickelt ist, die Absichten und Vorsätze auch nach diesen Rücksichten der Liebe einzurichten, ist G e m ü t h . Also handelt es sich um die Tugenden durch welche die Gesinnung Gemüth wird. Dieselben sind aber verschieden, wenn die gesinnungsmäßigen Absichten auf Menschen gleicher oder ungleicher sittlicher Gesinnung gerichtet werden. In jener Hinsicht erge-ben sich G ü t e und D a n k b a r k e i t , und dieser Hinsicht G e r e c h t i g -k e i t . Denn es wäre eine falsche und schwache Gemüthlichkeit zu ignoriren, wo ein Charakter, dessen Selbstzweck man in Liebe mit dem eigenen identifi-

4 S. oben S. 145

18–21 In … vorgeschrieben.] am Rand23f. nicht … werde;] korr aus die Liebe auch den empirischen Abstand berücksichtige, welcher in den Einzelnen sich immer findet;24 Ideal] folgt <berücksichtigt>

5

10

15

20

25

30

163§ 55 Beharrlichkeit – § 56 Gesinnung

Page 214: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ciren soll, in egoistischer Weise seinen unsittlichen Interessen nachgeht; es wäre aber gemüthlos, zu ignoriren, unter welchen entschuldigenden Bedin-gungen solche Person in seine empirische Richtung gekommen sein wird, aus welcher man ihn durch die eigene Liebesübung muß befreien wollen; beides abzumessen bedarf einer bestimmten Fertigkeit der Gesinnung.

§ 57. I m E i n z e l n e n .

Die G ü t e ist die Ordnung der Gesinnung, das pflichtmäßige auf den Zweck der Gemeinschaft gerichtete Handeln zugleich nach dem individu[128]ellen Werthe des Andern zu bestimmen, mit welchem man durch jenes Handeln in Verkehr tritt.

t™ê filadelfí˜a filóstorgoi Rom 12,10. Die Güte ist die Tugend, welche die pflichtmäßige Bescheidenheit, Dienst-fertigkeit etc. umfaßt, und ihnen den Schein b e s o n d e r e r Tugenden verleiht.

Sie ist natürlich im Gegensatz gegen Haß und Neid, welche die Realisirung des Endzwecks des Andern überhaupt, respective in Hinsicht bestimmten Ei-genthums verneinen. Ein näherer und engerer Gegensatz innerhalb des Ge-bietes des sittlich positiv entwickelten Charakters besteht zwischen der Güte und der Rücksichtslosigkeit der auf die sachliche Pflicht gerichteten Gesin-nung. Ferner sofern die Güte dem Charakter angehört, unterscheidet sie sich von der dem Naturell angehörenden Gutmüthigkeit. Diese ist an sich zweck-los, hat also auch kein Verhältniß zum höchsten Zweck, sie ist also unstet und unzuverläßig, und möglicherweise von allerlei Untugenden begleitet. – Die D a n k b a r k e i t ist die Ordnung der Gesinnung, durch welche man die auf uns gerichtete Güte der Anderen als solche erkennt, oder die uns för-dernden Zwecksetzungen der Anderen auf deren Güte zurückführt. Die

2 gemüthlos,] folgt <nicht>7 Ordnung] korr. aus Fertigkeit7–10 das … tritt.] am Rand statt <durch die man die ‚berechtigten‘ (über der Zeile) Zwecke der Anderen in die auf das höchste Gut gerichteten berufsmäßigen [128] Zwecksetzungen aufnimmt.>8 individuellen Werthe] ellen Werthe über <ellen und momentanen sittlichen Ver[128]faßung>11 t™ê … 12,10.] am Rand12–14 Die … verleiht.] am Rand17 verneinen] Ms.: verneint19 der auf] der korr. aus des24 die Ordnung] am Rand statt <ist die Fertigkeit>; ist versehentlich gestrichen26 zurückführt.] folgt <Die ‚untrennbare‘ (korr. aus Untrennbare) Verbindung der Dankbarkeit mit der Güte ist daran zu erkennen, daß wer nicht selbst gütig ist, auch keine Wohlthat auf die ‚Güte‘ (korr. aus Güti) ansieht. Aber>26 Die] korr. aus die

5

10

15

20

25

164 II. Theil XII. Tugend

Page 215: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Dankbarkeit wird nicht richtig bestimmt, wenn man sie als die Güte definirt, welche empfangene Wohltaten zu erwidern bereit ist. Als Tugend der Recepti-vität hat sie ihren selbständigen Werth neben der Tugend der activen Güte. Sie wird verkannt, und gute Menschen weigern sich dankbar zu sein, sofern sie alle Tugend nach ihrer Kraft zu wirken bemessen, und übersehen, daß die Anschmiegung an andere Persönlichkeiten auch in der Receptivität ein wirk-sames Organ sittlichen Einverständnisses ist. Innerhalb des Charakters ist das Gegentheil der Dankbarkeit die Verschlossenheit, welche die Rücksichts-losigkeit begleitet. Wer bei seinem Handeln keine Rücksicht auf die Art und Weise der Anderen nimmt, wird auch keine Empfänglichkeit für das Gemüth der Anderen in ihrem auf uns gerichteten Handeln haben, er ist dafür ver-schlossen. Auf der Stufe des Naturells ist das Gegentheil der Dankbarkeit die Gleichgültigkeit und Theilnahmlosigkeit, die mit effectiver Gutmüthigkeit verbunden sein kann, aber des Maaßes zur Beurtheilung der Gesinnung an-derer entbehrt. – Wo der Charakter des Andern den Austausch von Güte und Dankbarkeit unmöglich macht, da ist die tugendhafte Gesinnung doch nicht von der Berücksichtigung der Persönlichkeit des Andern entbunden. Der Re-puls, den meine Güte und Dankbarkeit erfährt, berechtigt mich nicht zu Rücksichtslosigkeit und Verschlossenheit, sondern die Tugendbildung prägt sich in diesem Falle aus in der G e r e c h t i g k e i t . Sie ist die Ordnung der Gesinnung, welche die auf den andern gerich[129]teten Absichten und Vor-sätze nicht nur nach dem Maaße der höchsten sittlichen Aufgaben, sondern auch nach dem Maaße seiner erkennbaren Charakterentwicklung vollzieht; und diese Beurtheilung richtet sich nach der jedem Charakter zuzumuthen-den Selbsterkenntniß, die uns den Abstand vom Ideal vergegenwärtigen muß. Wenn also mein den Andern berührendes Handeln trotz meiner Güte sich nach den sachlichen Rücksichten der Pflicht richten muß, so wird unter der Bedingung meiner Gerechtigkeit keine positive Verletzung und kein directer Widerspruch gegen das persönliche Selbstgefühl des Andern sich damit verbinden.

Sittliches Zartgefühl, die durchgebildete Achtung des Andern.Denn die Gerechtigkeit wird unter den gesetzten Umständen M i l d e sein. Unter anderen Umständen aber wird die Gerechtigkeit nur so zum Ausdruck

2–7 Als … ist.] am Rand4 gute] korr. aus gütige14f. anderer] korr. aus Anderer19f. sondern … in der] am Rand statt <sondern verpflichtet mich wenigstens zur>20 Ordnung] korr. aus Fertigkeit21f. welche … nur] am Rand statt <[129] welche die Beurtheilung des Andern nicht nur>31 Sittliches … Andern.] am Rand33 so] folgt <das Handeln leiten, daß ‚es‘ (über der Zeile) bei dem pflichtmäßigen Aus-druck des sittlichen Zwecks sein Bewenden hat, ohne daß direct das Hemm>

5

10

15

20

25

30

165§ 57 Gesinnung im einzelnen

Page 216: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

kommen, daß die S t r e n g e den Abstand der erreichten Charakterstufe von dem Ideal nicht verdeckt, sondern offen legt. Aber im Unterschiede derselben von der rücksichtslosen Härte, macht sich doch auch das Interesse an der Person geltend. Die drei Tugenden in ihrer ergänzenden Bethätigung bezeich-nen die H u m a n i t ä t des Charakters. 5

166 II. Theil XII. Tugend

Page 217: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

III. Theil. D i e R e g e l d e s s i t t l i c h e n H a n d e l n s i n d e r G e m e i n s c h a f t .

D r e i z e h n t e s C a p i t e l . D a s S i t t e n g e s e t z u n d d i e A r t e n d e r P f l i c h t .

§ 58. 48 D e r B e g r i f f d e r P f l i c h t .

Das sittliche Handeln ist ein anderes Product des Charakterwillens als die Tu-gend. Es ist die Äußerung des Willens, welche sich mit anderen Willen direct in Berührung setzt. Die Tugend als inneres Product des Willens kommt nur in-direct im Handeln zur Erscheinung. Allerdings wird alles sittlich gute Handeln auch tugendhaft sein; aber dies Urtheil steht direct nur dem Tugendhaften selbst zu, und ist für d|ie Anderen nur zugänglich, wenn eine vollständige Be-obachtung der Motive des Subjects möglich ist. [130] Das Handeln als Äuße-rung des Willens findet ein anderes Maaß, als in dem Begriff der Tugend ent-halten ist. Diese nennt man das Sittengesetz, indem man damit ein objectiv feststehendes, empirisches System von Regeln des Handelns meint, dessen Ur-sprung von Gott die theologische Ethik in positiver Gestalt nachwies.

Sittengesetz gleich das System der Handlungen Vorsätze, Gesinnungen, welche in Beziehung auf alle Verhältnisse der Menschen unter einander nothwendig sind aus dem absoluten Endzweck, respective dem Gedanken des Reiches Gottes. Rechtsgesetz System der Handlungen, welche aus den besonderen Zwecken der Menschen im Staate nothwendig sind.

Der mosaische Dekalog gilt nämlich in der alten Schule für den kürzesten aber vollständigen Ausdruck des Sittengesetzes, das ebenso sehr göttliche Ordnung des menschlichen Lebens als Inhalt des angeborenen sittlichen Bewußtseins des Menschen sein sollte. Aber auch der Dekalog, geschweige das ganze mosaische Gesetz umfaßt religiösen cultischen, rechtlichen und sittlichen Stoff ohne Un-terscheidung. Nur die Form des Verbotes macht die Zusammenfassung ethi-scher Regeln mit rechtlichen möglich. Die Form des Gebotes einzelner Hand-

3f. Das … Pflicht.] am Rand statt <G e s e t z u n d P f l i c h t . >4 Arten der] über der Zeile5 Der … Pflicht.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt <Das Sittengesetz (mit Bleistift: und die Pflicht.)>14 ein] am Rand statt <etwas>17–21 Sittengesetz … sind.] am Rand23–25 des … sollte.] am Rand statt <des Sittengesetzes.>27 macht] über <garantirt>28 rechtlichen] korr. aus rechtlichen.28 möglich.] am Rand

5

10

15

20

25

167§ 58 Pflicht

Page 218: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

lungen würde nur ein rechtliches, gegen die Motive gleichgültiges Maaß aus-drücken. Uebrigens sind nach Paulus die Gläubigen vom mosaischen Gesetz frei, d.h. da Paulus selbst ein Gesetz Christi (Gal. 6,2) anerkennt, das Sittenge-setz ist für die Christen etwas von Rechts- und Ceremonialgesetz Verschiede-nes. Wenn nun anstatt des Dekalogs: A c h t e deinen Nächsten in allen seinen Verhältnissen das Gesetz Christi: L i e b e deinen Nächsten wie dich selbst in Betracht kommt, so ist sowohl der sittliche Charakter als die alle Handlungen umfassende Geltung dieses Satzes außer Zweifel; aber derselbe ist ja direct kei-ne Regel des Handelns, sondern der Gesinnung. Demnächst scheint die Berg-predigt wenigstens die Probe eines Systems von Gesetz zu enthalten, welches jenem Principe der Gesinnung entspräche. Aber auch die Hauptsätze der Berg-predigt gehen direct nicht auf das Handeln, sondern auf die Vorsätze; oder wo einzelne Handlungen geboten werden, werden sie nur im Verhältniß zur Gesin-nung und dann unter Vorbehalt von Bedingungen geboten, an denen erkenn-bar ist, daß ein Sittengesetz nicht wie ein Rechtsgesetz formulirt werden kann (§ 27). Wenn man die Bergpredigt in dem eingeschlagenen Wege ergänzen woll-te, so würde es ein System von Tugendforderungen werden. Demnach scheint es, als ob die richtige Ordnung des sittlichen Handelns darauf zu reduciren wäre, daß man die vollständige [131] Tugend habe und ausübe: Handle immer nach guten Vorsätzen, handle immer tugendhaft. Aber diese allgemeine Regel würde möglicherweise in Widerspruch mit der Besonnenheit kommen, der ge-mäß im bestimmten Moment überhaupt kein Vorsatz gebildet und überhaupt nicht gehandelt werden dürfte, also auch nicht tugendhaft. Die Formel muß also eingeschränkt werden: Handle immer tugendhaft, wenn du überhaupt handeln mußt. Aber diese Bedingung, welche ihr Maaß nicht am Tugendbegriff findet, erfordert einen neuen Begriff als Maaß: die P f l i c h t . Die Pflicht ist das Urtheil der Nothwendigkeit in dem bestimmten Fall nach dem Sittengesetz zu handeln. Das Sittengesetz ist unbestimmt in Hinsicht der Fälle seiner Anwen-dung. Die Pflicht ist ein Schluß, welcher die Anwendung als nothwendig be-stimmt, durch Vermittlung sittlicher Urtheilskraft als eines Tugenderwerbes. Ebenso absolut wie das Sittengesetz. Umgekehrt der jesuitische Grundsatz des P r o b a b i l i s m u s , daß wegen der allgemeinen Unbestimmtheit des Gesetzes, auch der einzelne Fall nur Wahrscheinlichkeit hat.

16 S. oben S. 92,132 S. oben S. 147,21

2–5 Uebrigens … Verschiedenes.] in eckigen Klammern5f. : Achte … Verhältnissen] am Rand16 27] korr. aus 2022 und überhaupt] am Rand statt <und>25 handeln] korr. aus handelst.25 mußt.] am Rand26–33 Die … hat.] am Rand

5

10

15

20

25

30

168 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 219: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

NB. Die Zuversicht (auch bei materiellem Irrthum des Urtheils) ist das Merkmal der absoluten Verbindlichkeit der Pflicht (gegen den Probabilis-mus). Formaler Gesichtspunkt, wie bei Kant, entscheidend. – Wird jedes Pflichturtheil unter den Umfang des Sittengesetzes begriffen, so producirt die Freiheit das Sittengesetz wie bei Kant.

Dieser Begriff leistet dasjenige was man in dem Begriff eines systematischen Sittengesetzes voraussetzt. Aber er ist n i c h t so einfach, wie der Begriff des Sittengesetzes. D i e s e Größe, auch in der Fassung des Gesetzes Christi ist objectiv im formalen Gegensatz gegen den subjectiven Willen gedacht und denkbar. Die Pflicht ist zugleich objectiv und subjectiv, d.h. ihr Begriff ist nur verständlich aus Prämissen und Normen der subjectiven Willensbewegung. Deßhalb ist es unrichtig, das Sittengesetz als den Complex von Pflichtgeboten darzustellen; Pflicht ist nie etwas blos objectiv Gebotenes.

Mit Anwendung auf den einzelnen Fall des Handelns und mit Einrechnung dieser subjectiven Bedingtheit der Regel des Handelns mißt Paulus dassel-be nicht am nómov jeoû, sondern am jélhma jeoû (Rom. 12,2; Kol. 1,9.10; 4,12; Eph. 5,17; Phil. 1,9–11). Ueberhaupt bezeichnet jélhma jeoû Rom. 2,18 im Neuen Testament den besondern Willen der Vorsehung (Mth. 6,10), respective die besondere Verfügung menschlichen Berufes durch Gott (Joh 4,34).

§ 59. 49 D i e R e c h t s p f l i c h t .

Das Rechtsgesetz für sich betrachtet ist gleichgültig gegen die erzwungene oder die freiwillige, gegen die blos legale oder gegen die gesinnungsmäßige Erfüllung seiner Gebote und Verbote. Aber das Recht ist ein Mittel sittlicher Freiheit, und Consequenz sittlichen Princips und existirt nur in Gemeinwe-sen, welche sittliche Endzwecke erstreben. Deßhalb muß der sittlich streben-de Mensch auch ein sittliches Verhältniß zu dem Rechtsgesetze insgesammt einnehmen, indem er es als Mittel im Verhältniß zu dem sittlichen Endzwecke anerkennt, den er mit der Gemeinschaft theilt. Sofern der gemeinsame End-

1–5 NB. … Kant.] am Rand8 Sittengesetzes.] korr. aus Sittengesetzes, folgt <und wie man>8 Christi] folgt <steht>14–20 Mit … 4,34).] am Rand17f. Rom 2,18] über der Zeile18 den] folgt <durch>20 4,34).] folgt <tà diaféronta Phil. 1,9.10.>21 § 59.] davor über der Zeile <V i e r z e h n t e s C a p i t e l . D i e A r t e n d e r P f l i c h t . >28 dem] korr. aus der28 Endzwecke] korr. aus Endabsicht

5

10

15

20

25

169§ 59 Rechtspflicht

Page 220: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

zweck in der Gesinnung herrscht, erstreckt sich auch ein allgemeiner Vorsatz auf das als Mittel der Gemeinschaft dienende Rechtsgesetz. Gemäß dieser Auffassung allgemeiner Rechtspflicht gewinnt man das Bewußtsein der Ein-heit der vielen und verschiedenen Rechtsgebote, welche ohne dies nur als willkürliche Sammlung erscheinen müßte. Eine thätliche Erfüllung des so aufgefaßten [132] Rechtsgesetzes findet also ihr n ä c h s t e s Maaß nicht an dem objectiven Statut, sondern an dem auf der sittlichen Gesinnung beruhen-den Vorsatze, das Rechtsgesetz als Mittel meines sittlichen Endzweckes anzu-erkennen. Die R e c h t s p f l i c h t ist also der Gedanke von der aus der Ge-sinnung begründeten Nothwendigkeit des Handelns nach dem Gesetze, wel-ches als Mittel zur geordneten Gemeinschaft des Handelns und als Bedin-gung der persönlichen Freiheit anerkannt ist. Ihren Inhalt schöpft die Rechts-pflicht aus dem positiven Gesetze, ihre Form ist ein Product des durch die Gesinnung vermittelten subjectiven Willens. In objectiver Beziehung deckt sich der Umfang der Rechtspflicht mit dem Umfang des Gesetzes; worüber das Gesetz nichts bestimmt, oder worüber es kein Gebot und Verbot enthält, das gilt auch für die Gesinnung, die auf die Rechtspflicht gerichtet ist, als er-laubt. Der Begriff des Erlaubten, sofern er der Rechtspflicht correlat ist, und nur durch diese begrenzt wird, ist der Spielraum für die Bethätigung meines individuellen Rechtes, welcher durchaus unantastbar ist. Da es ebenso, wie die Pflicht, nothwendige Form der Bethätigung der sittlichen Freiheit, der Er-zeugung des sittlichen Gutes ist. Schon hier gilt die Regel, daß man genau in demselben Maaß Rechte hat, als man Rechtspflichten übt, da die Verletzung der letzteren Einschränkung der Rechte nach sich zieht. Mein rechtliches Recht unterliegt also dem Bedürfniß weiterer sittlicher Begrenzung. Freilich wird durch eine Rücksicht der Billigkeit meine Rechtsbefugniß eine gewisse quantitative Beschränkung erleiden; aber das Verhältniß zwischen Recht und Billigkeit muß unbestimmt durch irgend eine Regel bleiben. Vielmehr sind Fälle denkbar, in welchen es der sittlichen Gesinnung zuwider wäre, das

169,29 der] korr. aus die169,29–1 gemeinsame Endzweck] am Rand statt <letztere>8f. anzuerkennen.] folgt < Das statutarische Gesetz scheint also nur unter der Bedin-gung in eine Menge von Pflichten zu zerfallen, daß ich das Rechtsgesetz im Ganzen in meinen gesinnungsmäßigen Vorsatz aufgenommen habe. So werden die einzelnen (folgt <Gebote zu>) äußeren Gebote zu ebenso viel inneren ‚Pflichtbegriffen‘ (korr. aus Pflichten) oder zu Urtheilen über die Pflichtmäßigkeit meines gesetzmäßigen Handelns verwandelt.> vor der Streichung in eckigen Klammern (Bleistift).9f. von … begründeten] am Rand statt <von der>11 zur geordneten] am Rand statt < zu dem Endzwecke der sittlichen>11f. des … Freiheit] am Rand14 Willens.] folgt < Sie ist also nichts rein Objectives, sondern eine subjectiv-objective Größe.> vor der Streichung in eckigen Klammern (Bleistift)20–25 Da … Begrenzung.] am Rand27 quantitative] über der Zeile

5

10

15

20

25

170 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 221: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Recht durch die Billigkeit zu beschränken, und vielmehr der sittlichen Gesin-nung gemäß, von dem eignen Rechte vollständigen Gebrauch zu machen. Hieraus ergiebt sich, daß die Begriffe: Recht und Billigkeit, indem sie eine Menge von Handlungsweisen unbestimmt lassen, nicht für die höchsten Re-geln des sittlichen Handelns gelten können. Durch die Rechtspflichten und [133] die Billigkeitspflichten gewinnt man nur für einen beschränkten Um-fang des Handelns eine zuverlässige Regel.

Billigkeit: die Beurtheilung desjenigen der in einem Vertragsverhältniß zu mir steht, als sittliche Persönlichkeit, ohne ihn als Glied einer nothw|endig sittlichen Gemeinschaft anzuerkennen.

Es ist also nothwendig den Begriff der Pflicht auch noch den höheren ethi-schen Begriffen anzupassen, also dem Begriff des besondern sittlichen Berufs, und der allgemeinen Liebe. Von hier aus wird es gelingen, auch d a s Handeln bestimmt zu regeln, das im Verhältniß zur Rechtspflicht sittlich unbestimmt bleibt. Aber im Vergleich mit jenen tieferen Pflichtbegriffen ist darauf zu hal-ten, daß dem Begriff der Rechtspflicht sein besonderer Wirkungskreis erhalten bleibe. Man soll seine Kraft sparen, und soll keine Liebespflicht in Bewegung setzen, wo nur eine Rechtspflicht indicirt ist. Ebenso muß das Gebiet des rechtlich Erlaubten überhaupt einen gewissen Bestand behalten. Da das Ge-setz keine Denunciation von Vergehen und Verbrechen überhaupt gebietet, so folgt nicht aus der Liebe zur Menschheit die Pflicht, daß ich aus der Denun-ciation ein Geschäft mache, um dem Bösen nach Kräften entgegenzuwirken.

§ 60. 50 D i e L i e b e s p f l i c h t u n d d i e B e r u f s p f l i c h t i m A l l g e m e i n e n .

Die sittliche Regel für das Gebiet des rechtlich erlaubten Handelns ist nicht in der Billigkeit enthalten, welche nur eine quantitative und zufällige sittliche Schranke setzt, sondern in dem qualitativ dem Rechte entgegengesetzten Princip der Liebe. Hienach kann das Handeln, das rechtlich blos erlaubt ist, sowohl zur Pflicht werden, als auch verboten sein. 2. Die Liebespflicht also

23 § 60 setzt sich zusammen aus dem ursprünglichen § 60 und dem ursprünglichen Schluß von § 61.

1 und] korr. aus Îsinù8–10 Billigkeit: … anzuerkennen.] am Rand9 Glied] korr. aus Obj17 soll … und] am Rand23f. § 60. … Allgemeinen.] korr. aus V i e r z e h n t e s C a p i t e l . D i e L i e b e s -p f l i c h t u n d d i e B e r u f s p f l i c h t (im freien Teil der Zeile i m A l l g e m e i -n e n . ) / § 60. D i e L i e b e s p f l i c h t i m A l l g e m e i n e n .28 das rechtlich] das korr. aus was

5

10

15

20

25

171§ 60 Liebespflicht (allgemein)

Page 222: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

begrenzt das rechtlich Erlaubte innerlich (1 Kor. 10,23.24; Rom. 14,20.21). 1. Ferner kann das rechtlich Erlaubte geboten oder verboten sein durch die Berufspflicht. Im Brief an die Kolosser verbietet Paulus dieselbe asketische Praxis, die er an den ersten Christen in Rom nach der Liebespflicht geschont wissen will, nach der Berufspflicht der Gemeinde, ihr Leben nicht Maßstäben zu unterwerfen, die durch Christus außer Geltung gesetzt sind. [136] Der sittliche Beruf begrenzt ferner die Rechtsbefugniß qualitativ. Indem sich der individuelle Wille an die besondere Lebensaufgabe [137] knüpft, um in ihr den höchsten sittlichen Endzweck zu realisiren, so bleibt ihm gar kein Gebiet für formale Freiheit übrig. Denn der berufsgemäße Endzweck setzt eine Ord-nung auch für die Thätigkeit, welche neben dem Gebiet der directen Berufs-pflicht liegt. Die Berufspflicht der Kindererziehung normirt die ganze Hand-lungsweise, auch wenn dieselbe nicht direct auf jenen Zweck gerichtet ist. El-tern müssen immer darauf achten, daß sie von den Kindern beobachtet wer-den. Der Geistliche darf sich im gewöhnlichen Leben nicht erlauben, was dem Laien unverwehrt ist; der König nicht solches, was dem Unterthanen noch zusteht. Aber hiedurch wird das Gebiet des Erlaubten nicht durchaus aufgehoben. [133] Demnach fragt es sich, wie sich Liebespflicht und Berufs-pflicht unter einander verhalten; ob sie abwechselnde [134] coordinirte Maaßstäbe sind, oder ob auch der Begriff der Liebespflicht eine innere Be-gränzung durch den Begriff des sittlichen Berufs erfahren wird. Im letztern Fall würden sich die beiden Begriffe gegenseitig einschließen, da die sittliche Berufspflicht die Begründung auf die Liebe in sich schließt, jede Liebespflicht aber ebenso durch den Begriff des sittlichen Berufs vermittelt wäre, wie der Begriff der Tugend. Es kommt ja auf eine Regel an nicht für die sittliche Handlungsweise überhaupt, sondern für die einzelne im Moment mögliche Handlung. Hiezu reicht der Begriff der reinen Liebespflicht nicht aus. Diesel-be ist der Gedanke von der Nothwendigkeit des Handelns aus dem Motiv der Liebe, sodaß die bestimmte Handlung sowohl als Mittel zum höchsten

3 Kol 2,16.20–23

171,29 2.] am Rand2 1.] am Rand5f. der Gemeinde … sind.] am Rand statt <und macht es dadurch der Gemeinde zu ihrer Berufspflicht, ihre Rechtsbefugniß, keinen Unterschied zwischen Speisen zu ma-chen, aufrecht zu erhalten.> ; folgt die unterstrichene redaktionelle Anweisung [Anzu-knüpfen F am Schluß von § 61.]6–18 Der … aufgehoben.] ursprünglich der mit dem Zeichen F versehene und in ecki-ge Klammern gesetzte Schluß von § 61. (vgl. unten S. 176,6); nach diesem Einschub folgt der Rest des ursprünglichen § 60.22f. würden … jede] am Rand den … jede statt <de es sittliche Berufspflichten geben, die nicht durch die bestimmte Reflexion auf die Liebe begründet zu werden brauchten; keine>24 aber] folgt <die nicht>

5

10

15

20

25

172 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 223: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Zweck wie als Folge meiner Gesinnung gedacht ist. Aber indem z.B. die Ge-sinnung der Wohltätigkeit die Nothwendigkeit liebevollen Handelns gegen Bedürftige hervorruft, frägt es sich immer noch, ob der Wohlthätige in allen Fällen ihm entgegetretenden Bedürfnisses das Urtheil der Liebespflicht bilden wird oder nicht. Wenn das aber nicht an sich klar ist, so erweist sich der Ge-danke der reinen Liebespflicht noch nicht als die gesuchte Regel. Z.B. Un-gläubige zu bekehren erscheint gewiß als eine Pflicht christlicher Liebe gegen die Menschen, die man zum Reich Gottes bestimmt achtet, und auf deren Gewinnung für dieses die Gesinnung des Christen gerichtet sein wird; aber dadurch ist nicht begründet eine bestimmte Pflichtübung zu diesem Zweck, also Missionar zu sein. Im Verhältniß zur allgemeinen, aber unbestimmten Liebespflicht erscheint es der katholischen Moral als möglich, die consilia evangelica als eine höhere, über den Pflichtbegriff hinausgehende Regel gel-tend zu machen. Der Fehler dieses Begriffs besteht darin, daß die speciellen Berufspflichten der Verzichtung auf Besitz (Mc. 10,21) und auf Ehe (1 Kor. 7,8) das Gesetz m a t e r i e l l überschreiten sollen. Die eigentliche Wahrheit ist, daß dieselben die allgemeine Liebespflicht f o r m e l l gliedern. Es muß also noch eine Bedingung geben, nach welcher die Nothwendigkeit des gesin-nungsgemäßen Handelns zu berechnen. Denn die reine Liebespflicht ist nur die Regel für die sittliche Handlungsweise, nicht für die einzelne Handlung.

§ 61. D i e b e s t i m m t e L i e b e s p f l i c h t .

Ebenso wie die Rechtsbefugniß, wird auch die Bethätigung der liebevollen Gesinnung durch den Beruf qualitativ begrenzt. Die liebevolle Gesinnung, welche die Richtung auf eine bestimmte Handlungsweise im Allgemeinen giebt, [135] begründet eine Nothwendigkeit des Handelns im bestimmten einzelnen Moment, sofern dasselbe unter meinen besondern Beruf subsumirt wird, auch sofern der Fall nur eine bestimmte Analogie oder eine Annähe-

12 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II q 32 a 5; s. unten S. 214 (Beila-ge III.2).

1 z.B.] über der Zeile7 bekehren] folgt <ist>7 christlicher] am Rand statt <der>11–17 Im … gliedern.] am Rand20 Handlung.] folgt <Anzuknüpfen F am Schluß von § 61.> vgl. jedoch oben S. 172,5 f.21 Die] korr. aus D i e d u r c h d e n B e r u f26 einzelnen] am Rand26 dasselbe] korr. aus derselbe27 auch] über der Zeile

5

10

15

20

25

173§ 61 Die bestimmte Liebespflicht

Page 224: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

rung zu dem regelmäßigen Kreis meiner sittlichen Aufgaben hat. Nach der Analogie des besonderen Berufes richten sich nämlich die sittlichen G r u n d s ä t z e , nach welchen man auf Grund der sittlichen Gesinnung das pflichtmäßige Handeln bemißt. Sie beschreiben ein engeres Gebiet als die Ge-sinnung, aber einen weitern Umfang möglicher Fälle, auf welche sie Anwen-dung finden, als in dem Pflichturtheil der Fall ist.

Sie sind als etwas Besonderes dem Berufe analog.Deshalb sind die Grundsätze auch das Maaß der Besonderheit der sittlichen Charaktere; sie sind also nicht für alle gleich, aber sie sind doch fähig ausge-tauscht und einem allgemeinen sittlichen Urtheil unterworfen zu werden.

Für die Heroen sind sie ganz andere als für das Mittelmaß. Franciscus von Assisi, August Hermann Francke.

D i e s i t t l i c h e n G r u n d s ä t z e s i n d n u n f ü r d e n E i n z e l -n e n d a s i n n e r e G e s e t z s e i n e s s i t t l i c h e n H a n d e l n s . Als solches nehmen sie aber zur Liebespflicht eine andere Stellung ein, als das Rechtsgesetz zur Rechtspflicht. Denn in dem statutarischen Rechtsgesetz ist der einzelne Fall des pflichtmäßigen Handelns objectiv genau bestimmt. In den sittlichen Grundsätzen aber ist zwar das Verhältniß der Regel zum ein-zelnen Fall bestimmt bezeichnet; allein der sittliche Grundsatz umfaßt nicht für alle möglichen Fälle alle Merkmale, an welchen das Vorliegen des einzel-nen Falles pflichtmäßigen Handelns erkennbar ist. Vielmehr führt mitunter erst noch eine besondere Ueberlegung, daß der vom Grundsatz gemeinte Fall vorliegt, zu dem vollständigen Begriff der Pflicht. In manchen Fällen ist aber diese Ueberlegung mit den Mitteln der Reflexion nicht durchzuführen; da entscheidet das Gewissen oder vielmehr das Urtheil nach der Rücksicht auf die Gewissenhaftigkeit, ob der Fall für die Anwendung des Grundsatzes vor-liegt oder nicht. Freilich beweist die Freigebigkeit mit Gewissensfällen, daß man nicht ausgebildete, d.h. an dem Verhältniß des Berufes zu der sittlichen Welt berechnete Grundsätze hat. Dies der Mangel der gegenwärtig sich breit

173,27 nur] über der Zeile1 der] korr. aus dem2 Analogie] am Rand statt <Maaßstabe>7 Sie … analog.] am Rand8 auch] über der Zeile9 sie sind also] sie korr. aus sind9f. ausgetauscht] folgt <zu werden>11f. Für … Francke.] am Rand20 für … Fälle] am Rand21 mitunter] über der Zeile25f. oder … Gewissenhaftigkeit,] am Rand27–175,1 Freilich … Kreisen.] am Rand statt <Unter diesen Bedingungen ist die Aner-kennung der Nothwendigkeit des Handelns, die Fällung des Urtheils der Pflicht, so we-nig im Widerspruch mit der sittlichen Freiheit, daß es vielmehr deren höchste Wirklich-keit ist.>

5

10

15

20

25

174 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 225: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

machenden Praxis in pietistisch-kirchlichen Kreisen. Die concrete Liebes-pflicht ist also das Urtheil, daß [136] im bestimmten Fall nach dem Motiv der liebevollen Gesinnung und nach der Regel des besonderen sittlichen Grundsatzes nothwendig ist zu handeln. – Die Grundsätze, durch welche der Begriff des besonderen Berufs die liebevolle Gesinnung begrenzt, sind: 2. daß mir bei dem gesinnungsgemäßen Handeln mein Beruf in der mir eigenthümli-chen Besonderheit erhalten bleibe; 3. daß indem ich die allgemeinen Zwecke in meinem besonderen Beruf fördere ich mich der indirecten Beeinträchti-gung dieses Verfahrens in meinem nicht direct berufsmäßigen Handeln ent-halte; 1. daß ich die möglichste Förderung meines Berufs als die mir oblie-gende Förderung der allgemeinen Aufgaben anerkenne. Also die Gesinnung der Wohlthätigkeit erzeugt nicht eine allen wahrgenommenen Bedürfnissen entsprechenden Umfang von Pflichten des Wohlthuns, so daß man etwa gar alle Bedürfnisse aufsuchen müßte, um sie zu befriedigen. Sondern die P f l i c h t in einem außerordentlichen Falle wohlzuthun bemißt sich nach den Grundsätzen, 1. daß sich das Eigenthum, dessen ich zur Führung meines Berufs bedarf, nicht zerstört werde, falls ich mir nicht die Fertigkeit und Ent-schlossenheit zutraue, das dazu nöthige Eigenthum wieder zu erwerben; 2. daß ich, indem ich dem Wohlthun nachgehe, nicht meinen Beruf entweder di-rect vernachlässige oder indirect dadurch schmälere, daß ich die Sammlung und Erholung vernachlässige, die zu demselben nöthig sind. 3. daß ich nicht, indem ich mich in meinem Beruf dem allgemeinen Wohl widme, dasselbe durch die außerordentliche Handlung der Liebe beschädige. (Ebenso die Auf-richtigkeit.) Bei diesen und ähnlichen Grundsätzen, als Schranken für die Ge-sinnung ist zu beachten, daß sie im Verhältniß zur sittlichen Gesinnung und zu den möglichen sittlichen Aufgaben beschränkende Form sind. Sie schlie-ßen die sittliche Begeisterung aus. Es ist also vorzubehalten, daß die höchsten

4 handeln. –] folgt am Rand <Auf Grund des besonderen sittlichen Berufs und in der Gewißheit pflichtmäßiger Erfüllung desselben, besteht aber auch ein R e c h t zu han-deln; ebenso wie wir auf dem Rechtsgebiet ein Maaß von Rechten im Verhältniß zu unserer Rechtspflicht besitzen. Unser sittliches Recht auszuüben kann freilich auch auf einen Pflichtbegriff zurückgeführt werden, weil wir es nur im ‚Dienste‘ (korr. aus Dienstes) des sittlichen Endzwecks ausüben werden. Aber wir reflectiren nicht auf die-se Form, auch wenn wir urtheilen, daß es nicht blos erlaubt, sondern geboten ist, unser berufsmäßiges Recht zu bethätigen.>5 2.] korr. aus 1.7 3.] korr. aus 2.10 1.] korr. aus 3.15 in … Falle] am Rand19 meinen] korr. aus d21–23 3. … beschädige.] am Rand23f. Aufrichtigkeit] über < Offenheit>25 zur … und] am Rand26 beschränkende] korr. aus beschränkten26 Form] über <Inhaltes>

5

10

15

20

25

175§ 61 Die bestimmte Liebespflicht

Page 226: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Aufschwünge sittlicher Gesinnung sich weder an die Schranken des Berufes noch der daraus abgeleiteten Grundsätze binden werden. Aber wenn die sitt-liche Gesinnung in diesem Fall nicht die Kraft und das Maaß hat, in die Form neuen Berufes einzugehen und demgemäß Grundsätze zu bilden, so ge-räth sie in die Gefahr widersittlichen Ausgangs. Deßhalb steht die Begeiste-rung an der Schwelle des Eintritts in den Beruf. –

[137] § 62. 51 D a s s i t t l i c h E r l a u b t e

Der Begriff wird in praxi auf zweierlei angewendet, auf ein Recht, das ich ausüben kann oder dessen Ausübung ich unterlassen kann, und auf die Erho-lung. Ad I. ist das Handeln aus Liebe im vollen Umfang nur möglich, wo man im vollen Umfang der gegenseitigen Achtung verbunden ist. Wo diese fehlt, tritt der Fall der Feindschaft ein, der freilich die Liebe nicht aufhebt aber einschränkt, und zwar mit dem Vorbehalte, daß mein persönliches Recht und mein Beruf aufrechterhalten werde. Man pflegt die Geltendma-chung dieser Rechte auch unter eine Pflicht gegen sich selbst zu fassen; das ist aber ein Umweg, und ist eben auch facultativ gemeint, so daß es immer als erlaubt gilt, ob man diesen Pflichtbegriff bildet. Ebenso der Eintritt in einen b e s t i m m t e n Beruf. Ad. II. Schleiermacher (über den Begriff des Erlaub-ten 1826) und mit ihm Rothe läugnet dies. Er beschränkt die Geltung des Be-griffs auf die Gebiete des Kindesalters der Rechtsbefugniß und auf die Beur-theilung der sittlichen Handlungen Anderer, behauptet aber, daß für die Selbstbeurtheilung die sittlichen Handlungen ohne Ausnahme nach dem Be-griff der Pflicht gemessen werden müßten, also entweder pflichtmäßig oder pflichtwidrig seien. 3 Streng genommen sei nur diejenige Unterbrechung un-

18 Schleiermacher, Über den Begriff des Erlaubten (1826). In: SW III/2,418–445; KGA I/11,491–51319 Rothe, Theologische Ethik 3,24–29 (§ 819)

4f. so geräth] am Rand5 Ausgangs.] korr. aus Ausgangs geräth.5f. Deßhalb … Beruf.] am Rand6 Beruf. –] folgt ursprünglich oben S. 172,6–18 Der … aufgehoben. dazu am Rand F <an den Schluß> ‚zum‘ (korr. aus des) vorigen § 60.7 Das … Erlaubte] korr. aus Das sittliche Maaß für das Gebiet der erlaubten Erholung und Geselligkeit.8–18 Der … Ad II.] am Rand20 des Kinsdesalters] über der Zeile24–177,20 3 … Gebietes.] am Rand (3 mit rotem Farbstift) statt <Allein er bringt es in seinem Beweisverfahren zu diesem Zweck doch nur zu dem Resultate, daß das zu-nächst als indifferent erscheinende Handeln in mittelbarer Weise pflichtmäßig, die dar-auf gerichteten Tugenden untergeordneter Art, die dadurch producirten Güter nicht be-

5

10

15

20

176 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 227: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

serer Berufsthätigkeit im Einklang mit dem sittlichen Motiv, welche auch die Erholung nur in dem Wechsel mit anderen pflichtmäßigen Handlungen su-che, als welche uns berufsmäßig obliegen. Zugestanden aber, daß man im Moment nur nach der Rücksicht auf das unbestimmt Erlaubte handle, so entscheide eine nachherige Prüfung des Lebens doch nur für Pflichtmäßigkeit und Pflichtwidrigkeit unserer Erholung, seien die ästhetischen Tugenden doch nur etwas werth, indem sie von den sittlichen Lebensmotiven angeeig-net und für die Pflichtübung verwandt werden, seien die ästhetischen Gütern für ein Volk entweder auch sittliches Gut oder ihr Mangel ein sittliches Uebel. – Die physische und geistige Erholung ist begründet 1. in der körperli-chen Bedingtheit unseres Lebens; 2. darin, daß unser geistiges Leben nicht blos in dem sittlichen Handeln nach allgemeinen Zwecken, sondern auch in der ästhetischen Darstellung unserer geistigen Individualität [138] besteht. Der Wechsel dieser Art bedingt unsere Erholung, während die Erholung durch Betrieb von sittlichen Aufgaben außerhalb unseres Berufs so viel wäre, als ein Spiel mit ernsten Dingen. Deßhalb kann auf unsere geistige Erholung der für das verbreitende sittliche Handeln geltende Begriff der Pflicht nicht angewendet werden. Pflichtthätigkeit und Erholung schließen einander aus. Aber Schleiermacher dringt mit Recht auf eine indirecte sittliche Normirung des Gebietes. Nur genügt dazu nicht die nachträgliche Entscheidung über Pflichtmäßigkeit oder -widrigkeit des als erlaubt Ausgeübten. Aber die Ein-heit des sittlichen Charakters muß sich auch an der Erholung bewähren. Das geschieht nicht nur so, daß der geistig Gebildete geistigere Erholung sucht als

deutungslos seien. Es handelt sich in concreto um die sittliche Beurtheilung der E r -h o l u n g in der Geselligkeit und in der Kunstübung. Das Handeln in dieser Sphäre ist allerdings ein dem sittlichen Handeln entgegengesetztes. Jenes ist nicht auf ‚allgemeine‘ (korr. aus den) Zwecke, geschweige auf den höchsten religiös-sittlichen Zweck gerich-tet. Es ist nur darstellender Art, und die Bethätigung der irgendwie gebildeten Indivi-dualität ist der Selbstzweck der geselligen Kunstübung. Deßhalb kann dafür der auf das [138] verbreitende sittliche Handeln geltende Begriff der Pflicht nicht angewendet werden; an sich sind die der Geselligkeit gewidmeten Handlungen weder pflichtmäßig noch pflichtwidrig. Die geselligen Tugenden sind auch nicht ethischer, sondern ästheti-scher Art, begründet auf die geistige Harmonie des Individuum ohne vorstechende Rücksicht auf seinen sittlichen Werth. Endlich ist es widersinnig, einen Beruf der Gesel-ligkeit anzunehmen (§ 34.). Aber insofern hat Schleiermacher Recht, als er auf eine we-nigstens indirecte sittliche Normirung des Gebietes dringt. Aber im Ganzen muß eine Beziehung des Gebietes des Erlaubten auf die Einheit des sittlichen Charakters ange-nommen werden. Im Ganzen ‚freilich‘ (über der Zeile) ist Erholung nothwendig als Er-gänzung der Anstrengung. ‚Aber‘ (über der Zeile) Die geistige Höhe des Charakters wird sich <ferner> auch ‚in der Art der Mittel‘ (korr. aus in den Mitteln) der Erholung bethätigen. Aber nicht der Begriff der Pflicht bestimmt die einzelnen Fälle, in denen von der erlaubten Erholung Gebrauch zu machen wäre, weil es einen Widerspruch ‚bil-den‘ (korr. aus bildete) würde, sich pflichtmäßig zu erholen.>8 und … verwandt] über der Zeile20–178,1 Nur … Ungebildete.] am Rand

5

10

15

20

177§ 62 Das sittlich Erlaubte

Page 228: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

der geistig Ungebildete. Sondern der Begriff der Tugend giebt die indirecte ethische Regel für die Benutzung der erlaubten Erholung und Geselligkeit. Der Ernst des Charakters fordert, daß der Scherz und das Spiel der Indivi-dualität sein Maaß an Selbstbeherrschung und Besonnenheit, an Güte und Gerechtigkeit finde, daß die Art der gewählten Unterhaltung durch die Ge-wissenhaftigkeit begränzt werde, die in jedem Moment die Möglichkeit der Aufnahme der Berufsthätigkeit gewährleistet. Die Anwendung des Begriffs der Tugend in diesem Fall beruht darauf, daß die Einheit des sittlichen Cha-rakters eine ununterbrochene Production von Tugend fordert. Der Pflichtbe-griff ist aber darum nicht anwendbar, weil er nur auf das Gebiet des sittli-chen Handelns in der sittlichen Gemeinschaft bezogen ist. Hieran zeigt sich, daß von Tugend und Pflicht nicht jedes den ganzen Umfang der ethischen Probleme beherrschen. Die Erholung in der Geselligkeit ist zugleich für die sittliche Charakterbildung nicht zu entbehren als die Gelegenheit, die Andern kennen, achten, lieben zu lernen. Nur negativ begränzt der Pflichtbegriff [139] das Gebiet des Erlaubten, sofern d i e Erholung pflichtwidrig ist, wel-che die durch den Beruf gebotenen Handlungen beeinträchtigt. Aber die Re-flexion, daß gewisse Erholung zum Zweck der Berufstüchtigkeit pflichtmäßig ist, bedient sich des pädagogischen Begriffs von Pflicht.

C a l v i n ! Die lutherische Zulassung und die calvinistisch-pietistische Ausschließung

20 Vgl. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,11021 Die lutherische Zulassung wird veranschaulicht auf dem eingelegten Blatt S. 139 a durch das Exzerpt aus Luthers Kirchenpostille zum Evangelium 2. [post] Epiphanias (Joh. 2,1–11; Walch 11,642; WA 17/2,64,16–28): „Ob es denn auch Sünde sei, pfeifen und tanzen zur Hochzeit, sintemal man spricht, daß viel Sünde vom Tanzen kommt? Ob bei den Juden Tänze gewesen sind, weiß ich nicht. Aber weil es Landes Sitte ist, gleichwie Gäste laden, schmücken, essen, trinken und fröhlich sein, weiß ich es nicht zu verdammen, ohn die Uebermaß, so es unzüchtig oder zu viel ist. Daß aber Sünde da geschehen, ist des Tanzens Schuld nicht allein, sintemal auch wohl über Tisch und in der Kirche dergleichen geschehen; gleichwie es nicht des Essens und Trinkens Schuld ist, daß Etliche zu Säuen darüber werden. Wo es aber züchtig zugehet, lasse ich der Hochzeit ihr Recht und Gebrauch, – und tanze immerhin. Der Glaube und die Liebe läßt sich nicht austanzen noch aussitzen, so du züchtig und mäßig darin bist. Die jun-

1 Sondern] über <Aber>3 des] Ms.: der12 von] über der Zeile12 jedes] über <beide>13–15 Die … lernen.] Die … lernen am Rand15–19 Nur … Pflicht.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert15 negativ] folgt <beherrscht>16 pflichtwidrig] korr. aus Pflichtwidrig20 Calvin!] am Rand21–179,2 Die … Wesens.] am Rand

5

10

15

20

178 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 229: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

der herkömmlichen Formen der Geselligkeit hat ihren Grund ja in der op-timistischen und pessimistischen Beurtheilung des menschlichen Wesens.

Innerhalb der Geschichte der theologischen Ethik fällt der Pietismus dasselbe rigoristische Urtheil wie Schleiermacher gegen gewisse regelmäßige Formen geselliger Erholung, und gestattet nur Erholung in der f r o m m e n Gesellig-keit, und an der religiösen Kunst. Es ist zuzugeben, daß im strengen Sinn nichts von Handlungen der Menschen adiaphoron ist; aber indem der sittli-che Werth der Mittel der Geselligkeit an der Tugend zu messen ist, so ist n i c h t zuzugeben, daß Kartenspielen und Tanzen überhaupt und bei jedem ein Hinderniß der Tugendübung seien. Indem der Pietismus Erholung über-haupt nicht ausschließt, aber indem er mit Mißtrauen gegen jede Kunstübung nur die Darstellung der Frömmigkeit auch für die Geselligkeit fordert, profa-nirt er die Frömmigkeit und verachtet eine wesentliche Seite menschlicher Geistesbildung, die nicht an sich im Widerspruch mit den höchsten Aufgaben ist, deren Anbau vielmehr zur vollendeten Humanität auch des Christen ge-hört. Vergleiche über die Sittlichkeit des wissenschaftlichen und Künstlerbe-rufs oben § 34.

§ 63. 52 D i e s o g e n a n n t e C o l l i s i o n d e r P f l i c h t e n .

2. Kant erklärt daß ein Widerstreit zwischen verschiedenen Pflichten objectiv nicht eintreten könne. Dies rührt daher, daß sein Begriff von Pflicht lediglich formal, und deßhalb die Möglichkeit entgegengesetzten Inhalts ausgeschlos-sen ist, welcher in derselben Zeit und in Beziehung auf dasselbe subjective Handeln nothwendig würde. Indessen gesteht er in anderer Gestalt die That-sache der Pflichtencollision zu, wenn zwei Gründe zur Verpflichtung ver-

gen Kinder tanzen ja ohne Sünde, das thue auch und werde ein Kind, so schadet dir der Tanz nicht. Sonst wo Tanzen an ihm selbst Sünde wäre, müßte man es auch den Kindern nicht zulassen.“3 Vgl. GdP 2,174f.17 S. oben S. 114,3619 Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Theil, Einleitung, IV, Vorbegriffe zur Metapysik der Sitten, ed. Hartenstein 7,21.

4 rigoristische] am Rand statt <verneinende>4 Urtheil] folgt <über die>4 gegen] am Rand statt <über>5f. Erholung … Kunst.] am Rand statt <Erholung.>15 ist,] folgt <sondern>18 § 63.] über <F ü n f z e h n t e s C a p i t e l . >18 Pflichten.] folgt <§ 63. D i e r i c h t i g e S t e l l u n g d e s P r o b l e m s u n d s e i n e L ö s u n g i m A l l g e m e i n e n .>19 2.] am Rand mit Bleistift

5

10

15

20

179§ 63 Pflichtencollision

Page 230: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

schiedener Art und Richtung zu gleicher Zeit eine Nöthigung auf den Willen ausüben. In diesen verschiedenen Gründen ist nämlich auch verschiedener In-halt der zugemutheten [140] Pflichtübung begründet. In diesem Fall entschei-det nun Kant, daß der stärkere Verpflichtungsgrund den Platz behält, und die geringere Kraft zur Verpflichtung habe das Merkmal, daß der Grund an sich nicht zureichend zur Verpflichtung sein würde. Diese quantitative Abmessung des Werthes der Bestimmungsgründe erlaubt gar keine Entscheidung; oder ein Verpflichtungsgrund der an sich nicht zureicht um eine Handlung nothwendig zu machen, kann nicht mit einem andern collidiren. Kant ent-zieht sich also nicht der ordinären Betrachtungsweise der Sache als eines ob-jectiven Verhältnisses. 1. Demgemäß lehren Moralisten (Vgl. Rothe III,73 f. 86 f.), daß die höhere Pflicht der niedern vorgeht, – daß die allgemeine Pflicht der besondern vorgeht (also die Pflicht in abstracto der in concreto), – daß die vollkommene der unvollkommenen vorgehe (nur verständlich wenn die vollkommene die Rechtspflicht, die unvollkommene die Liebespflicht bedeu-tet), – daß die kategorische der hypothetischen vorgeht (gleich abstract und concret), – daß die Religionspflicht jeder andern vorgeht (pharisaeisch), – daß die vorgeht, welche uns den geringsten Vortheil verspricht, – daß man so handeln soll, wie man es bei den Anderen für recht hält, – oder die Pflicht vorziehen, durch die die allgemeine Vollkommenheit am meisten gewinnt. 3. Diesen ziel- und grundlosen Versuchen hat Schleiermacher ein Ende gemacht, indem er Kants Gedanken zum rechten Ausdruck verholfen hat. Die collidi-renden Bestimmungsgründe zum Handeln unterscheiden sich nie quantitativ, sondern qualitativ, sofern sie die Ansprüche der verschiedenen Gemein-schaftssphären, in denen das Subject steht, auf dessen Handeln darstellen. Aber diese Ansprüche, wenn sie collidiren, sind eben nicht collidirende Pflichten, sondern collidirende Motive zur Bildung eines Pflichtbegriffs; die Collision aber wird eben dadurch aufgehoben, daß das Pflichturtheil in Be-ziehung auf das Eine Motiv wirklich gebildet wird. Die Collision der Motive kann übrigens schon in vielen Fällen durch die sittlichen Grundsätze beseitigt sein; [141] aber da die Grundsätze keine mechanische Geltung haben, und nicht für alle Fälle zureichen, so kommen die Collisionen meist vor das Fo-rum des Gewissens d.h. der Gewissenhaftigkeit in der gewohnten Situation.

11 Rothe, Theologische Ethik 3,73–75.86f.21 Gemeint sind wohl die bei Rothe, Theologische Ethik 3,63–75 (§ 856) herangezo-genen Stellen aus Schleiermachers Schriften.

10 Sache] korr. aus Sachen11 1.] am Rand mit Bleistift20 3.] am Rand mit Bleistift27f. die … wird] am Rand statt <welche>28 aufgehoben,] korr. aus aufgehoben wird,33 Gewissens] korr. aus Gewissens.

5

10

15

20

25

30

180 III. Theil XIII. Sittengesetz

Page 231: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Indem hienach sich ergiebt, daß nur die Selbstbeurtheilung zur Entscheidung über die Pflicht zureicht, so soll nicht behauptet werden, daß das Gewissen immer die richtige Entscheidung in dem Falle giebt, und daß die nachträgli-che Ueberlegung nie etwas zu bereuen fände, was subjectiv ganz rein und ta-dellos gemeint war. Aber der Tugendhafte wird eine größere Sicherheit und Fertigkeit der richtigen Entscheidung solcher Fälle haben, als der unreife Charakter.

2. Collision unter zwei Berufspflichten! Geht die voraus, welche keinen Aufschub leidet.

Nur unter Voraussetzung der Tugend und des Berufes lassen sich speciellere Re-geln über die sogenannten Pflichtencollisionen geben. 3. Sofern eine Collision zwischen L i e b e s - und B e r u f s p f l i c h t als möglich erscheint, so wird der Schein im Wesentlichen dadurch beseitigt, daß die Liebespflicht nur durch den Gedanken des sittlichen Berufes eine genau bestimmte ist; denn im Beruf hat man das regelmäßige Gebiet seiner Liebespflicht. Wo aber eine außerordentli-che Bethätigung der Liebe zugemuthet wird, so geschieht die Entscheidung über die Pflichtmäßigkeit danach, ob ich den Fall unter mein Berufsbewußtsein sub-sumire oder nicht. – 4 Wenn z w e i nicht durch den Beruf vorgesehene a u -ß e r o r d e n t l i c h e L i e b e s b e t h ä t i g u n g e n zusammentreffen, so er-folgt die Lösung, indem durch Bildung des Pflichtbegriffs der Fall unter das ständige Berufsbewußtsein gefaßt wird; was also bei Verschiedenen verschiede-ne Pflichten ergiebt. In dem bekannten Falle der Nothlüge (Rothe III,70) ist zu entscheiden, daß wenn der, bei dem sich der Verfolger erkundigt, ein Krieger oder durch Leibesstärke ausgezeichnet ist, er den Verfolger entwaffnen muß; wenn nicht, er ihn täuschen muß; denn der bestehende Kriegszustand macht es unmöglich Liebespflichten der Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit auszutau-schen. – 1. Der B e r u f s pflicht geht die R e c h t s p f l i c h t voran, weil die Rechtsordnung den Verlauf der sittlichen Freiheit also auch die sittliche Aus-

8 Hier begann ursprünglich (Ms. B*) der § 64 mit der Lösung des in § 63 gestellten Problems der Pflichtenkollision. Da die Nachschrift Lange (1867/68) noch die ur-sprüngliche Zählung bezeugt, stammt die Zusammenfassung zum jetzigen § 63 und die Verminderung der folgenden Paragraphenziffern um eins frühestens aus dem SS 1869. Auch die mit den Randziffern 2, 3, 4, 1 und 5 vollzogene Umdisponierung hat sich in der Nachschrift Lange noch nicht niedergeschlagen.22 Rothe, Theologische Ethik 3,70

180,33 d.h. … Situation] am Rand7 Charakter.] folgt <§ 64. D i e L ö s u n g d e s P r o b l e m s i m B e s o n d e r n . >8 2.] am Rand8f. Collision … leidet.] am Rand11 3.] am Rand korr. aus 2.16 über] korr. aus d18 4] am Rand korr. aus 327 1.] am Rand

5

10

15

20

25

181§ 63 Pflichtencollision

Page 232: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

übung des Berufes verbürgt. – 5 Die Collision zwischen ethischen S e l b s t -p f l i c h t e n und B e r u f s - oder L i e b e s p f l i c h t e n [142] ist näher ange-sehen der Widerstreit zwischen Recht und Pflicht. Da nun innerhalb des Berufs diese Collision nicht stattfindet, so beschränkt sich der Fall auf die Collision zwischen p e r s ö n l i c h e m R e c h t und a u ß e r o r d e n t l i c h e r L i e -b e s p f l i c h t . Dies ist der Fall mit den zwei Schiffbrüchigen auf dem Einen Brett (Rothe III,71). Mein Recht ist, mein Leben zu erhalten, wenn ich dabei das gleiche Recht des Andern anerkenne. Eine Erwägung, daß der Andere der menschlichen Gesellschaft nützlicher sei als ich, und ich deßhalb mein Leben opfern muß, um seins zu erhalten, ist in der Lage nicht als pflichtmäßig zu for-dern, weil das Maaß der Lebensgefahr im Verhältniß zur möglichen Hülfe nicht berechnet werden kann. – Die Annahme von Collisionen u n t e r d e n S e l b s t p f l i c h t e n ist durch den richtigen Begriff der Tugend ausgeschlos-sen, sofern die pädagogische Pflicht immer auf die Nothwendigkeit der Tugend-bildung herauskommt. Indem man sich aber in der Einen Tugend übt, gewinnt man auch an Kraft zu den anderen. Abgesehen hievon würde man sich in die unermeßliche Casuistik verlieren, die aus der pädagogischen Behandlung des unreifen Charakters sich ergäbe.

F ü n f z e h n t e s C a p i t e l . D i e G r u n d s ä t z e d e s s i t t l i c h e n H a n d e l n s .

§ 64. I m a l l g e m e i n e n Ve r k e h r m i t d e m N ä c h s t e n .

53 Das Handeln und das ihm gleichgeltende, oder es begleitende und deuten-de Reden ist das Mittel, wodurch die Gemeinschaft des Willens, also auch in specie der Liebe, unter den Menschen hervorgebracht wird. Das Handeln und Reden aus dem Princip der Liebe ist also das Mittel, wodurch zugleich der Endzweck des Reiches Gottes und der Selbstzweck des Andern als mein eigener Selbstzweck verwirklicht wird. Für die dafür aufzustellenden Grund-sätze macht es aber einen Unterschied, ob den äußeren Umständen gemäß der Andere in einer stetigen oder in einer vorübergehenden Berührung mit

7 Rothe, Theologische Ethik 3,71

1 5] am Rand korr. aus 419 Fünfzehntes] korr. aus S e c h z e h n t e s21 § 64.] korr. aus § 65.22 53] bei der Einführung der letzten Paragraphenzählung mit rotem Farbstift wurde mit Bleistift die Überschrift Im … Nächsten. eckig eingeklammert und durch Einthei-lung ersetzt25f. zugleich … und] am Rand

5

10

15

20

25

182 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 233: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

mir steht; ob ich ihn als Träger gleicher sittlicher Gesinnung ansehen oder vermuthen darf oder nicht. Im ersten Dilemma stellt sich [143] die Liebesauf-gabe entweder so, daß ich die allgemeine Tugendbildung des Andern, oder daß ich nur besondere oder einzelne Hülfleistungen beabsichtige, in denen eine Förderung seines wie immer beschaffenen Selbstzwecks vollzogen wür-de. Im andern Dilemma werden entweder alle Grundsätze der Liebespflicht in Geltung gesetzt, oder nur einzelne, deren Geltung die der andern be-schränkt. Die Grundsätze selbst gliedern sich in dieI. der A c h t u n g der Person des Andern,a. B e s c h e i d e n h e i t , b. A u f r i c h t i g k e i t ;II. der U n t e r s t ü t z u n g der berechtigten Zwecke des Andern,c. Wo h l t h ä t i g k e i t , b. D i e n s t f e r t i g k e i td. Wa h r h a f t i g k e i t , a. R e c h t l i c h k e i t ;III. der G e d u l d mit dem Andern in Rücksicht der Schranke seiner Tugend,a. Ve r t r ä g l i c h k e i t , b. Ve r s ö h n l i c h k e i t .

54 Ad I.

NB. Katholische Liebe zu den Ketzern. Vorausgesetzt ist die negative Achtung der Menschenwürde und Schonung des Eigenthums, welche durch die Rechtsordnung erzwungen werden kann und den Standpunkt des Mosaischen Gesetzes bezeichnet.

Die Liebe kann im Sinne voller Gemeinschaft nur demjenigen bethätigt wer-den, der überhaupt einen sittlichen Endzweck hat, oder dazu fähig ist, der als Subject von sittlicher Ehre gekannt, oder als solches vorauszusetzen ist. Dem entsprechend muß ein auf ihn gerichtetes Handeln oder Reden die A c h -t u n g ausdrücken, und nach dem Grundsatz der Achtung muß derjenige be-urtheilt werden, dem Liebe erwiesen werden soll (Rom. 12,10; 1 Petr. 2,17; Phil. 2,3.).

Rothe 4, S. 484ff.

28 Rothe, Theologische Ethik 3,482–494

10 a.] korr. aus b. davor <a. A u f r i c h t i g k e i t ,>10 b. Aufrichtigkeit] am Rand12f. c. … d. … a.] korr. aus a. … c. … d. und doppelt unterstrichen17 NB. … Ketzern.] am Rand18–20 Vorausgesetzt … bezeichnet.] am Rand18 Vorausgesetzt] korr. aus Voraus setzt21 Sinne … Gemeinschaft] korr. aus vollen Sinne21f. bethätigt werden] über <gelten>26f. 1 Petr. … 2,3.] am Rand28 Rothe … 484ff.] am Rand

5

10

15

20

25

183§ 64 Gegenüber dem Nächsten

Page 234: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Auch wo Grund zu der Annahme ist, daß der Andere einen unmoralischen Charakter hat, der seine Ehre beeinträchtigt, also Verachtung hervorruft, kann der Grundsatz nicht gelten, daß man dieselbe in sich nährt Luc. 18,11; sondern indem man ihm nur nicht Hoch-Achtung e r w e i s t , muß man ihn als einen Besserungsfähigen achten Mc. 2,16.17; 1 Kor. 13,7., oder minde-stens die Menschenwürde in ihm anerkennen durch Enthaltung von Be-schimpfung und Mißhandlung. Aus demselben Grundsatz ergibt sich die Pflichtwidrigkeit der Tödtung eines Menschen (Mth. 5,21), des Mißbrauchs eines Menschen als Mittels zum eignen Zweck, Verführung eines Weibes, der Verläumdung (Mth. 15,19; Rom. 1,30; Eph. 4,31; Kol. 3,8), des Gebens von Aergerniß. Wo diese zerstörenden Triebe der Achtungslosigkeit gegen Men-schen zur Ausbildung gekommen sind, pflegen sie auch von einer Achtungs-losigkeit gegen [144] Naturgegenstände begleitet zu sein. Mörder haben mit Thierquälerei angefangen; Zerstörer menschlichen Eigenthums und menschli-cher Ehre haben keinen ästhetischen Natursinn. Insofern sind die Äußerun-gen des Zerstörungstriebes im unreifen Alter in sittlicher Hinsicht für die Tu-gendbildung nicht gleichgültig, aber es lassen sich daraus keine Pflichten ge-gen Thiere und Pflanzen deduciren, wie der in christliches Gewand gekleidete Manichäismus es thut indem er den Gegensatz zwischen Natur und Geist neutralisirt. – In specie folgt aus der Achtung gegen den Nächsten der Grundsatz

Rothe 4, S. 588.a. der B e s c h e i d e n h e i t , d.h. diejenige pflichtmäßige Einschränkung des Selbstgefühls, welche durch den Gedanken begründet ist, daß die durch mein pflichtmäßiges Handeln und Reden auf den Andern hin zu vollziehende Ge-meinschaft einen allgemeinern Inhalt und Zweck hat, als meine Individuali-

22 Rothe, Theologische Ethik 3,588

3 dieselbe] folgt <ausdrückt, oder>3 Luc. 18,11] Luc. 18,11. am Rand4 Hoch-] am Rand5 Mc. … 13,7.] am Rand8f. des … Weibes,] am Rand9 eignen] über der Zeile10f. 3,8), … Aergerniß.] am Rand statt <3,8).>14 Thierquälerei] folgt <, Zerstören>15 die] korr. aus diese20f. der Grundsatz] am Rand22 Rothe … 588.] am Rand23 der] korr. aus die23 diejenige … Einschränkung] korr. aus dasjenige Maaß24 welche] korr. aus welches25 zu] folgt <grün>

5

10

15

20

25

184 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 235: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

tät. Die Bescheidenheit ist nicht das Gegentheil des Selbstgefühls, sondern dessen sittliche Idealisirung; aber weder enthält sie ein Gefühl der eigenen Vorzüge vor Anderen noch das Gefühl der eigenen Mängel im Vergleich mit Anderen (Rothe S. 589).

Thomas a Kempis I,7. Si aliquid boni habueris, crede de aliis meliora, ut humilitatem conserves. Non nocet, si omnibus te supponas, nocet autem plurimum, si vel uni te praeponas. Phil. 2,3.4

In der Bescheidenheit vergleicht man sich überhaupt n i c h t mit den e i n -z e l n e n Anderen, sondern mit dem allgemeinen Inhalt der Gemeinschafts-aufgabe, die im Handeln auf den Andern hin zu lösen ist, und dergemäß erst der Gegenstand der Liebe den Ausdruck unserer Achtung in der Mäßigung unseres Selbstgefühls erfordert. Deßhalb ist das mÄ krínete (Mth. 7,1–5) das Gebot des Grundsatzes der Bescheidenheit, und daß dabei die Rücksicht auf den Andern vermittelt ist durch die Rücksicht auf die Aufgabe der sittlichen Gemeinschaft, ist angedeutet durch die Motivirung Rom. 14,4; Jak. 4,11.12. (cf. § 50.). [145] D.h. wenn es auch Abstufungen in der Darstellung der Be-scheidenheit giebt, so darf sie nicht überhaupt ausgeschlossen werden. Kein Handeln ist pflichtmäßig, wenn Unbescheidenheit bei ihm concurrirt.

Rothe S. 594. Aber die Behandlung Unbescheidener erfolgt durch die Wahrhaftigkeit, hinter welcher die Bescheidenheit zurücktritt.

Dieselbe ist die Bethätigung einer widersittlichen Ausbildung des Selbst-gefühls, und stuft sich ab als Einbildung, Dünkel, Anmaßung, Hochmuth, Uebermuth.b. Der Grundsatz der A u f r i c h t i g k e i t

Rothe S. 538.

4 Rothe, Theologische Ethik 3,5895 Tomas a Kempis, De imitatione Christi 1,7; ed. Lupo 24; vgl. Unterricht § 73, ed. Axt-Piscalar 9717 S. oben S. 157,620 Rothe, Theologische Ethik 3,594

2 aber] über der Zeile3 vor Anderen] korr. aus für Andere4 S. 589] über der Zeile5–7 Thomas … praeponas.] am Rand8 Phil. 2,3.4] am Rand11 erst] über der Zeile12 Achtung] folgt <erfordert.>17 § 50.).] der hier im Ms. B* S. 144 folgende Abschnitt Rothe … Höflichkeit. wird durch die am Rand mit Bleistift geschriebene redaktionelle Bemerkung Conflict zwi-schen Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, unten einzuschieben bei F weiter unten ein-geordnet, s. unten S. 187,7–1920f. Rothe … zurücktritt.] am Rand

5

10

15

20

25

185§ 64 Gegenüber dem Nächsten

Page 236: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

dient zur Bethätigung der Achtung gegen den andern, sofern der Zusammen-hang der auf den Selbstzweck des Andern gerichteten Handlung mit der eige-nen liebevollen Absicht ausgedrückt werden soll.

pflichtmäßige Äußerung des stetigen Gemeinsinns, durch welche man dem Andern bewährt, daß man ihn zum Eingehen sittlicher Gemeinschaft werthschätzt

Es kommt beim Handeln oder Reden aus Liebe darauf vor Allem an, daß die einzelne Handlung nicht als zufällig und willkürlich erscheine, denn als sol-che ist sie kein Mittel persönlicher Gemeinschaft.

Rechthaben fälschlich AufrichtigkeitIhre Beziehung auf die Förderung des Selbstzwecks des Andern kann aber nur erkannt werden, indem die subjective Ueberzeugung, Absicht und Stim-mung des aus Liebe Handelnden erkennbar ist. Die Aufrichtigkeit ist also der Grundsatz, dem gemäß beim Handeln ein positives Verhältniß zwischen mei-nem Selbstzweck und dem des Andern zum Ausdruck kommt. Das Gegen-theil ist die Verstellung respective die Schmeichelei, die der Ueberzeugung zu-widerlaufende scheinbare Bethätigung der liebevollen Achtung des Andern; eine Form der Falschheit, welche nicht von der Absicht, dem Andern zu scha-den, eingegeben ist, und deßhalb nicht das Gegentheil der Wahrhaftigkeit ist, sondern welche aus Gleichgültigkeit oder Achtungslosigkeit des Andern her-vorgeht (Rothe S. 553), oder eigene selbstsüchtige Interessen verfolgt, indem man den Ausdruck der liebevollen Achtung [146] erheuchelt. Es gibt keine Pflicht der Offenheit oder der Offenherzigkeit (mit Rothe) sondern das sind Temperamentseigenschaften, die auch sittlich fehlerhaft sein können. Der Grundsatz der Aufrichtigkeit gilt nicht gegenüber von Menschen, an deren

185,26 Rothe, Theologische Ethik 3,53821 Rothe, Theologische Ethik 3,55323 Rothe, Theologische Ethik 3,542–545

185,26 Rothe … 538.] am Rand4–6 pflichtmäßige … werthschätzt] am Rand4 stetigen] über der Zeile4 Gemeinsinns] folgt <als Bürgschaft dafür daß die Behandlung des Andern aus Liebe entspringt>10 Rechthaben … Aufrichtigkeit] am Rand16f. die der … Andern;] am Rand17 der] folgt <Achtung>18 Falschheit] über <Lüge>21 oder] folgt <dabei>24 die] folgt <an sich>24 sittlich] über der Zeile24 können.] folgt <Die Aufrichtigkeit aber unterliegt anderen Bedingungen als die Be-scheidenheit. Der Grundsatz der letzteren gilt unbedingt, wenn auch verschiedenarti-gen Menschen gegenüber mit Abstufung ihres Ausdrucks;>24 Der] korr. aus der

5

10

15

20

25

186 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 237: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

gleicher Gesinnung man zu zweifeln Ursache hat, welche uns keine directe Knüpfung einer Gemeinschaft aus Liebe gestatten, welche namentlich selbst nicht aufrichtig sind, oder welche auf unweiser Charakterstufe den Werth der ihnen erwiesenen Achtung nicht zu schätzen wissen. In solchen Fällen ist viel-mehr bei dem liebevollen Handeln eine vollständige oder partielle Zurück-haltung Pflicht.

[144] Rothe S. 477.Hienach kann auch nicht als eine allgemeine Pflichtaufgabe gelten, was im Neuen Testament über das gegenseitige Ermahnen und Rügen gesagt wird (Mth. 18,15–17; Gal. 6,1; 1 Th. 5,14; 2 Th. 3,14.15; Jak. 5,19.20), und was einen richtigen Sinn hat für engere Gemeinschaft und für geringer [145] ent-wickelte Persönliche Eigenthümlichkeiten. Sonst müßten wir einen bestimm-ten Beruf als Legitimation für solches Verfahren fordern, und Bescheidenheit und Weisheit in der Ausübung, wenn das Verfahren Erfolg versprechen soll. Mit Recht wahren wir aber unsere sittliche Freiheit und Verantwortlichkeit gegen die unbescheidene Zudringlichkeit von solchen Fremden, die uns er-mahnen, rügen, bekehren wollen. Wo hingegen der Beruf zu solchem Verfah-ren verpflichtet, ist auch die Bescheidenheit immer zu wahren, wenigstens im Ton, der Geberde, der Wahl der Worte, d.h. H ö f l i c h k e i t . [146] Die Höf-lichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs geräth oft genug in Conflict mit dem Grundsatz der Aufrichtigkeit, denn die conventionellen Schmeicheleien die-nen dazu, eine liebevolle Aufmerksamkeit gegen den Andern auszudrücken, die vielfach nicht da ist. Die Behandlung der Sache durch Rothe S. 550ff. ist gewagt. Allerdings ist unter gleich Gebildeten eine richtige Taxirung conven-tioneller U e b e r t r e i b u n g e n vorauszusetzen und deren Gebrauch keine directe Pflichtverletzung. Aber die Aufgabe muß sein, die Höflichkeit, d.h. die gesellschaftliche Bescheidenheit mit der Aufrichtigkeit respective Zurück-haltung in Einklang zu setzen. Das ist wahrhaft human! Am wenigsten wahr ist es, daß unsere Gesinnungen in die angewöhnten Phrasen hineinwachsen können und an diesen ein Reizmittel haben (S. 552)! Die Phrasendreher sind und bleiben die eigentlichen Egoisten.

7 Rothe, Theologische Ethik 3,47723 Rothe, Theologische Ethik 3,547–57530 Rothe, Theologische Ethik 3,552

1 Ursache] Ms.: Ursach2 welche] folgt <selbst>7–19 Rothe … Höflichkeit.] gemäß redaktioneller Bemerkung hier eingefügt mit Zei-chen F (Bleistift, am Rand) s. oben S. 185,177 Rothe … 477.] am Rand21 denn] am Rand statt <und>28 Das … human!] am Rand29 Gesinnungen] korr. aus Gesinnung

5

10

15

20

25

30

187§ 64 Gegenüber dem Nächsten

Page 238: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

55 Ad II. Der Grundsatz der R e c h t l i c h k e i t bezieht sich auf die Hand-lungen, welche einer Messung durch das Recht unterliegen, welche sich also auf den Austausch von Sachen bestimmten Werthes oder auf die Erfüllung von Verträgen beziehen. [147] Aus der Gesinnung heraus, welche das Recht als ein Mittel moralischer Freiheit und sittlicher Gemeinschaft anerkennt, wird der Grundsatz der Rechtlichkeit erzeugt, insofern in dieser Art der Aus-übung der Rechtspflichten das geringste Maaß von Liebesübung enthalten ist. Wird nun der Verkehr in den durch das Recht meßbaren Handlungen aus dem Princip der Liebe, also durch die Rechtlichkeit bestimmt, so ist es auch nicht im Sinne dieses Verfahrens, die eigenen Rechte an Andern im strengsten buchstäblichen Maaße geltend zu machen, sondern in der B i l l i g k e i t den mir rechtlich verpflichteten nicht nur als sittliche Persönlichkeit zu achten, sondern ihn auch in seinen berechtigten Zwecken zu unterstützen dadurch, daß ich ihn durch Verfolgung meines Rechtsanspruchs in denselben n i c h t h i n d e r e . Dagegen beziehen sich die d r e i f o l g e n d e n G r u n d s ä t z e auf solches Handeln, welches außerhalb der Rechtssphäre stattfindet, und welches nur dann vollen sittlichen Werth hat, wenn es auch den Schein einer meßbaren Reciprocität ausschließt, d.h. wenn es u n e i g e n n ü t z i g ist. In diesem Sinn ist die D i e n s t f e r t i g k e i t der Grundsatz die berechtigten Zwecke des Nächsten durch unsere persönlichen Leistungen, – die Wo h l -t h ä t i g k e i t , durch unser Eigenthum, – die Wa h r h a f t i g k e i t , durch unser Wissen zu fördern. Unbeschränkt gelten diese Grundsätze im geordne-ten Verkehr von Freunden (im weitesten Sinn) d.h. wo ein durch erprobtes Vertrauen begründetes Verhältniß der Treue ins Leben getreten ist. Dagegen wo die faktischen Zwecke eines Menschen unmoralisch sind, also er nur nach seinem hypothetisch gebesserten Selbstzweck Gegenstand der Liebe ist,

respective Feind!werden die drei Grundsätze in ihrer Ausübung suspendirt, während nur der erste gilt. Uebrigens aber werden jene drei durch den Beruf beschränkt in Be-ziehung auf solche Menschen, mit denen ein dauernder und genauer Verkehr nicht obwaltet. – In specie ist der sittliche Werth der Wo h l t h ä t i g k e i t weder nach dem bloßen Mitleid, noch nach dem orientalischen, asketischen Grundsatz der partiellen Vermögensentsagung bemessen.

Rothe S. 499.

1 Ad II.] davor <§ 66. Fortsetzung>6 in] korr. aus darin14 in] korr. aus an22 diese] korr. aus dieser27 respective Feind!] am Rand31 der … Werth] am Rand statt <die>31 der] fehlt im Ms.32 asketischen] über der Zeile34 Rothe … 499.] am Rand

5

10

15

20

25

30

188 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 239: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

[148] Die Wohlthätigkeit kann einen sittlichen Zweck an den Bedürftigen nur erreichen als öffentlich organisirte. Man kann sicher sein, daß die Wohl-thätigkeit gegen den Bettler ökonomisch und moralisch erfolglos ist. Aber die Privatwohlthätigkeit geordneter Art findet immer Anlässe, und eine derartige Pflichtübung findet immer statt, auch wo man weder jedem Bettler etwas giebt, noch a l l e n möglichen Vereinen angehört. –

Rothe S. 545.Die Wa h r h a f t i g k e i t unterscheidet sich von der Aufrichtigkeit so, daß j e n e auf die Unterstützung der sittlichen Zwecke des Andern durch mein objectives Wissen, d i e s e auf die Bezeugung der Achtung vor dem Andern durch Eröffnung meiner liebevollen Absicht sich bezieht. Wenn nun aber die Eröffnung meiner Meinung vor dem Andern zu dem Zweck geschieht, um ihn in seinen Zwecken zu fördern, so erscheint das Material der Aufrichtig-keit unter dem Gesichtspunkt der Wahrhaftigkeit. So wie nun die Aufrichtig-keit ihre Schranke an der unmoralischen oder unreifen Art des Andern findet, so auch die Wahrhaftigkeit. Das m o t i v i r t e Verschweigen der Wahrheit ist weder Lüge noch Falschheit. – Das G e g e n t h e i l der Rechtlichkeit ist nicht nur in der verbrecherischen Verletzung des Eigenthums, Raub und Diebstahl, Betrug, Wucher (Ausnutzung der Noth des Andern zu eigenem Gewinn in der Form des rechtlichen Vertrags) sondern auch in der selbstsüchtigen, respecti-ve fahrlässigen Unterlassung oder ungenauen und unpünktlichen Erfüllung der Rechtspflichten enthalten. Das Gegentheil der Dienstfertigkeit ist die selbstsüchtige Ungefälligkeit; das Gegentheil der Wohlthätigkeit die Harther-zigkeit;

Rothe S. 547.das Gegentheil der Wahrhaftigkeit die absichtlich oder fahrlässig auf Schaden des Andern bedachte oder den eigenen Vortheil bei Beschädigung der Ge-meinschaft suchende Schweigsamkeit oder Lügenhaftigkeit. Das Aussprechen eines absichtslosen Irrthums ist nicht Lüge, und die Verhehlung der eigenen

188,34 Rothe, Theologische Ethik 3,4997 Rothe, Theologische Ethik 3,54525 Rothe, Theologische Ethik 3,547

1 an] korr. aus am5 jedem] am Rand stett <einem>7 Rothe … 545.] am Rand19f. Betrug, … Vertrags)] am Rand; Betrug, nachträglich über der Zeile eingefügt20 der] folgt <fahrlässigen Unter>25 Rothe … 547.] am Rand26 oder fahrlässig] über der Zeile27f. bedachte … suchende] am Rand über <oder fahrlässige>28 Das] folgt <absichtlose>29 absichtslosen] am Rand29–190,3 die … beschädigen.] korr. aus das Gegentheil der eigenen Ueberzeugung

5

10

15

20

25

189§ 64 Gegenüber dem Nächsten

Page 240: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Ueberzeugung ist entweder verschlossene Schweigsamkeit in der Absicht, überhaupt keine Gemeinschaft zu knüpfen, oder Falschheit, um dem Andern zu schaden oder die Gemeinschaft zu beschädigen. Wenn aber die Absicht, dem Andern zu schaden oder die Gemeinschaft zu hemmen, bei der Verstel-lung ist, so ist die Unaufrichtigkeit auch das Gegentheil der Wahrhaftigkeit, und ist Lüge. Eine unwahre Aussage, welche als solche einen ästhetischen Werth hat, im Drama, in der Ironie und im Scherz ist weder Falschheit noch Lüge. Der Gebrauch der Unwahrheit gegen Kinder, [149] Kranke, Trunkene, leidenschaftlich Erregte respective in der Nothwehr ist nicht eine Lüge, die durch den guten Zweck gerechtfertigt würde, sondern ist überhaupt keine Lüge, da weder die Absicht zu schaden, noch eine Fahrlässigkeit gegen das Wohl des Andern dabei ist. Man verschiebt sich das Problem, wenn man den Fall „Nothlüge“ nennt, da die wesentlichen Merkmale der Lüge diesem Re-den der Unwahrheit abgehen. Mit einem feindlichen Angreifer kann ich keine Liebesgemeinschaft üben, und die Feindesliebe hat ihre bestimmten Grenzen (§ 18). Die Wahrhaftigkeit hat ihre Grenzen, wo uns Einer gegenübersteht, dem die Kenntniß der Wahrheit schaden würde. Wenn nun aber einem sol-chen auch das Schweigen notorisch schädlich wäre, sondern zu seinem wah-ren Besten geredet werden muß, so ist es pflichtmäßig ihn zu täuschen. Der Unterschied von Täuschen und Belügen liegt aber in der jenes Verfahren be-gleitenden Absicht der nachherigen Aufklärung.56 Ad III. Die Geduld mit dem Nächsten ist verschiedenartig, wenn wir bei demselben eine uns conforme Gesinnung und daneben nur noch Spuren der Unreife, und Mängel ästhetischer Art, Temperamentsfehler wahrnehmen, oder wenn wir eine heterogene sittliche Weltanschauung neben gewissen ab-stoßenden Untugenden bei ihm voraussetzen müssen. Im ersten Fall wird der Grundsatz der Verträglichkeit ohne Schranke durchgeführt und die Versöhn-lichkeit leicht erwiesen werden können, wenn auch die indirecten Versuche der Erziehung nicht viel Erfolg abwerfen. Im andern Fall kann die Verträg-lichkeit es von vorn herein nur auf ein Vermeiden von Conflicten der Grund-sätze absehen; wenn aber ein solcher eingetreten ist, so wird die Versöhnlich-

16 S. oben S. 88,8 (§ 25!)

aussprechen ist zur Lüge noch vielmehr die Falschheit als Gegentheil der Aufrichtig-keit. Sie ist als solche möglich nur in der Absicht, sich selbst zu nützen, nicht, dem An-dern zu schaden.4 oder … hemmen,] am Rand9 respective … Nothwehr] am Rand17 schaden] korr. aus Schaden23 nur] über der Zeile24 und] über der Zeile24 Temperamentfehler wahrnehmen,] am Rand statt <wahrnehmen>25 neben] über <bei>

5

10

15

20

25

30

190 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 241: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

keit im eigentlichen tiefen Sinn keine Stätte finden, und eine Scheidung der Wege ohne Haß ist das höchste, was erstrebt werden kann. Beide Grundsätze der Geduldübung setzen natürlich voraus, daß man selbst auch Geduld zu er-fahren wünscht, und hienach bemißt sich die Regel Mth. 5,23.24. Eine Schranke findet der erste Grundsatz nur durch den Beruf, der keine Verlet-zung erfahren darf,

Die Suspendirung der Verträglichkeit in diesem Fall schließt aber keine Suspendirung der Bescheidenheit in sich;

der zweite Grundsatz durch den Conflict moralischer und unmoralischer Standpuncte.

[150] § 65. D i e P f l i c h t e n i n n e r h a l b d e r F a m i l i e .

I. Vgl. § 28. Die Grundsätze für den Verkehr der Ehegatten unter einander können im Wesentlichen keine Anderen sein, als die im vorigen Paragraphen aufgestellten. Nur werden sie eigenthümlich zusammengefaßt durch die T r e u e , welche aus der Stetigkeit des gegenseitigen Verhältnisses der Liebe folgt, und die Grundsätze der Rechtlichkeit und Wohlthätigkeit finden in ei-ner normalen Ehe eigentlich kein Object, da die sittliche, persönliche Identi-tät weder den selbständigen Bestand der Rechtssphäre, noch den Bestand ge-trennten Eigenthums zuläßt. – Für den Eintritt in die Ehe ist keine allgemeine Pflicht zu formuliren (Rothe S. 605); denn nicht jeder hat gemäß seiner be-sonderen Lebensführung den Beruf dazu.

Darum fällt aber dieser Schritt nicht unter das unbestimmt Erlaubte, eben-sowenig als der Eintritt in den Beruf. Diese Bedingungen der sittlichen Exi-stenz sind für die Anwendung des Pflichtbegriffs vorausgesetzt, fallen nicht unter ihn und unter das Sittengesetz, sondern unter den Begriff des persön-lichen sittlichen Rechts und die göttliche Vorsehung und unter die Aufgabe der Tugendbildung.

Die gegen göttliche Vorsehung überhaupt oder voreilig gemachte Vorausset-zung, daß man den Beruf habe, und zwar speciell mit d i e s e r Person die Ehe zu schließen, ist Grund so vieler sittlich verfehlter Ehen.

Rothe S. 640.

12 S. oben S. 95,1820 Rothe, Theologische Ethik 3,605

2 Grundsätze] folgt <setzen>7f. Die … sich;] am Rand11 § 65.] Ms.: § 66.12 § 28.] folgt <29.>18 weder] korr. aus jeder22–27 Darum … Tugendbildung.] am Rand

5

10

15

20

25

30

191§ 65 In der Familie

Page 242: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

In dieser Hinsicht muß man sich g r u n d s ä t z l i c h richten nicht blos nach der Neigung, welche an sich unmeßbar ist, und nach der Zustimmung der Aeltern, welche immer einen relativen Werth hat, sondern danach ob man sittlich reif und social selbständig ist, also ob man zureichendes Eigenthum hat oder zu erwerben vermag, und in einem bestimmten Berufe steht. Dann aber kommt es darauf an, daß die gewählte Gattin dem Stande und der Be-rufsart, der letztern durch Gesinnung und Bildung entspricht, endlich, daß sie derselben kirchlichen Confession und gleichartiger religiöser Ueberzeugung sei. Diese Bedingung ist nicht blos für die Kindererziehung sondern für die Ehe an sich wichtig. Denn Katholicismus und Protestantismus sind nicht coordinirte Zweige, sondern abgestufte Formen des Christenthums (Rothe S. 659). Verschiedenheit religiöser Parteiüberzeugung innerhalb des Prote-stantismus selbst läßt sich schon überwinden, namentlich da den Frauen re-gelmäßig eine feste Ausprägung der Art nicht zuzutrauen ist. Wo dies aber der Fall ist, werden sich nur schwache Männer angezogen fühlen, also sich in der Ehe fügen, was zwar nicht schön ist, aber doch in der Theorie erträglich.II. Im Verhältniß zu den Kindern haben Wahrhaftigkeit und Verträglichkeit nur beschränkte Geltung, und aus der Achtung der Eltern gegen die Kinder ergiebt sich nicht Bescheidenheit, sondern Aufmerksamkeit. [151] Durch die-se Pflichtübung wird die Ueberlegenheit und zugleich Treue der Eltern ausge-führt, die Factoren der sittlichen Wirkung der Erziehung, welche Ehrfurcht und Vertrauen des Kindes erwecken, und ihm neben dem Spiel des kindlichen Alters den Eindruck von dem Ernst des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern macht. Die Grenze der Wahrhaftigkeit ist dem unreifen Alter gegen-über durch eine weise Schweigsamkeit geboten. Die Verträglichkeit mit der Untugend ist durch die Aufgabe der Erziehung ausgeschlossen. Aber sie braucht nicht unbedingt der strafenden Strenge zu weichen, sondern gele-gentlich einer mit Aufmerksamkeit und Belehrung verbundenen Nachsicht. Die Strafe empfängt ihren sittlichen und bessernden Werth durch die Verbin-dung mit Aufrichtigkeit und Versöhnlichkeit. Die Wohlthätigkeit muß durch die Aufmerksamkeit beherrscht und gemäßigt sein, damit nicht Verweichli-chung und Verziehung erfolge.III. Gegen Dienstboten. Vertragsverhältniß nothwendige Aufforderung zur Billigkeit. Selten überschreitbar, wegen des Rechtshintergrundes und wegen der Leichtigkeit des Mißverständnisses über sittliche Einwirkungen wegen

191,31 Rothe, Theologische Ethik 3,64011 Rothe, Theologische Ethik 3,659

191,31 Rothe … 640.] am Rand4 zureichendes] am Rand28 einer] folgt <auf>

5

10

15

20

25

30

35

192 III. Theil XV. Sittliche Grundsätze

Page 243: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

des Abstandes der Intelligenz und der Standesgewohnheiten. Die Bescheiden-heit den Dienstboten gegenüber wird also die Aufrichtigkeit beschränken.

[151 a] § 66. Die Pflichten gegen und in der Kirche.

Kirchlichkeit, fraglich nach dem Maaßstabe der Parteien.Ist natürlich nur denkbar als freie Bethätigung der religiösen Gemeinschaft, wenn nur die Cultusformen immer ihrer Bestimmung entsprächen, übrigens Rechtlichkeit, Dienstfertigkeit, Wohlthätigkeit, Wahrhaftigkeit.Im Verhältniß der Kirchengenossen zu einander Achtung und Verträglichkeit, Toleranz, welche Gränze?Achtung des Lehrstandes gegen die GemeindeAchtung der Pastoren gegen die TheologenAchtung der verschiedenen Richtungen gegen einander.Kirche oder Schule?Theologische Schule oder ethische?Grenzen der Lehrfreiheit?

3 Der die Kirchenpflichten behandelnde Paragraph findet sich weder in Ms. A noch im ursprünglichen Ms. B*, erscheint aber als § 67 in der Nachschrift Lange (WS 1867/68; V 7). Der in Ms. B eingelegte Papierstreifen enthält die frühestens 1869 mögliche Zäh-lung § 66 und dient anschließend als Stichwortliste für Vorlesung und Diktat. In der Vorlesung WS 1867/68 war die Liste der Stichworte offenbar etwas kürzer als in Ms. B. In den Siebzigerjahren fällt § 66 (wie auch § 65) wieder weg, wie die mit Rotstift geschriebenen Paragraphenzahlen und die späteren Nachschriften zeigen. – Um einen Eindruck zu vermitteln, wie Ritschl mit solchen Stichworten arbeitete, wird unten S. 209f. § 67 „Die Pflichten im Zusammenhang des kirchlichen Lebens“ aus der Vor-lesung 1867/68 mitgeteilt.8 Vgl. unten S. 209,2610 Vgl. unten S. 210,1411 Vgl. unten S. 210,2212 Vgl. unten S. 210,8

3 § 66.] der ganze § 66. mit Bleistift auf einem eingelegten Papierstreifen

5

10

15

193§ 66 In der Kirche

Page 244: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Beilagen

I. Gestrichene Stücke

1. Erstfassung des IX. Kapitels mit § 37–39

[89] N e u n t e s C a p i t e l . D i e K i r c h e a l s s e l b s t t h ä t i g e G e m e i n s c h a f t .

§ 37. D i e G e m e i n s c h a f t d e r G o t t e s v e r e h r u n g .

Dogmatik § 74.75.

Die Kirche als Glaubensgegenstand und ihrem idealen dogmatischen Begriff nach ist die Gemeinschaft der Heiligen, welche als solche durch das Wort Gottes in Predigt und Sacrament hervorgebracht, und deren Wirkliches Vor-handensein an diesen Funktionen erkennbar ist. Der ethische Begriff von der Kirche wird also die Gemeinde der Heiligen zum Gegenstand haben, sofern sie auf Grund jener Bestimmtheit durch Gott im Werden durch ihre Selbst-thätigkeit zu dem ihr gesetzten Zwecke der Heiligkeit begriffen ist. Der ethi-sche Begriff von der Kirche ist also von dem geschichtlichen Verlauf der Kir-che zu abstrahiren, in welchem die Gläubigen als die nächsten Producenten ihrer eigenen Gemeinschaft aufgefaßt werden. Die wesentlichen Merkmale dieser Selbstproduction der Kirche können aber verschieden sein, wenn man das kirchliche Selbstbewußtsein in den verschiedenen Epochen der Kirchen-geschichte zu Rathe zieht. Für den Standpunkt der Reformation können also nicht die hierarchische Verfassung und die durch sie getragene Lehrtradition als wesentliche Merkmale der Kirche gelten. Denn diejenigen Merkmale wer-den als wesentlich anzusehen sein, welchen gemäß die werdende Kirche auf

3 Das IX. Kapitel mit § 37–39 findet sich in der Endredaktion von Ms. B auf den bei-den eingelegten Doppelquartblättern 89 a-d (s. oben S. 125–130). Sie ersetzen die Erst-fassung in Ms. B* auf den Seiten 89–96, die hier mitgeteilt werden.

5 selbstthätige] über <s i t t l i c h e >6 der] korr. aus d e s6 Gottesverehrung] über <C u l t u s u n d d e s G l a u b e n s b e k e n n t n i s s e s >7 § 74.75.] korr. aus § 76.77.13f. durch … Selbstthätigkeit] am Rand

5

10

15

20

194 Beilage I.1 – IX. Kirche

Page 245: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ihren Zweck gerichtet ist. Die katholische Kirche aber, indem sie jene Merk-male als wesentlich geltend macht, setzt sich schon als Selbstzweck für alle Christen und alle christlichen Richtungen, behauptet die Congruenz der Wirklichkeit mit der Idee der Kirche. Also sind die Merkmale ihrer vorgebli-chen Vollkommenheit vielmehr im Widerspruch mit der Anschauung der Kir-che als der werdenden, können also für diese nicht wesentlich sein. Um ihrer hierarchischen Verfassung willen wird nun behauptet [90] daß die vollgültige Mitgliedschaft an der Kirche nicht an die innere Gesinnung gebunden sei, daß für diese die Unterscheidung der pii und impii gleichgültig sei; also setzt sich die katholische Kirche nach dem Maaße ihres eigenen Selbstbewußtseins wegen ihrer wesentlichen Merkmale in Widerspruch mit ihrer Bestimmung communio sanctorum zu sein. Die evangelische Stufe der Kirche von welcher also die wesentlichen Merkmale zu abstrahiren sind, strebt weder danach, ein Gottesstaat auf Erden zu sein, noch besitzt sie eine einheitliche Verfassung, sondern ist in eine Menge von Volks- Landes- und Confessionskirchen aus-einander gegangen; einzelne ihrer Theile sind so eng mit dem Staat verfloch-ten, daß in gewissen Epochen die Kirche kaum eine besondere Gestalt besaß, und von ihren eigenen Stimmführern als Staatsinstitut erklärt wurde. Auf sol-che Erscheinungen und auf seinen Begriff vom Staate hat Rothe die Theorie gegründet, daß die Kirche in ihrer evangelischen Richtung überhaupt dazu bestimmt sei, Staat zu werden, ihre bisher noch eigenthümlichen Funktionen in das Staatsleben aufzulösen, wenn auch nur in allmählicher Annäherung an dies Ziel. Denn der Staat als vollkommene Gemeinschaft der Sittlichkeit soll zugleich auch die vollkommene Gemeinschaft der Frömmigkeit sein, weil die Sittlichkeit allein die adäquate Erscheinung der Frömmigkeit also auch allein das Mittel zur vollkommenen Geimeinschaft der Frömmigkeit sein soll (Ethik. II, S. 145). Aber der Staat ist nicht die specifische Gemeinschaft der Sittlichkeit (§ 32), und die Sittlichkeit ist nicht die ausschließliche Erschei-nung der Frömmigkeit. Sofern die Frömmigkeit an der Sittlichkeit des Rei-ches Gottes ihre specifische Erscheinung hat, ist das Gottesreich und nicht der Rothesche Staat die specifische Gemeinschaft auch der Frömmigkeit (§ 26). Sofern nun aber auch die Gemeinde, ecclesia den Anspruch macht, Gemeinschaft der Frömmigkeit zu sein, so frägt es sich, unter welchen Merk-

19 S. oben S. 106,2427 Rothe, Theologische Ethik 2,14528 S. oben S. 107,832 S. oben S. 77,1 (§ 22!)

1–6 Die … sein.] mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt4 die] über <ihre>4f. ihrer … Vollkommenheit] am Rand7 nun] über <ferner>32 § 26] korr. aus 19

5

10

15

20

25

30

195§ 37 Gemeinschaft der Gottesverehrung

Page 246: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

malen sie diesen Anspruch rechtfertigt. – Die gemeinschaftliche Thätigkeit in der Gemeinde ist der Cultus, d.h. die gemeinsame Andacht, Dank- und Bitt-gebet, actives Sich-bekennen zu Gott, welche sich auf die durch die christli-che Offenbarung bestimmte Vorstellung von Gott und s|einer Gnade etc. richtet, und sich an die von Christus verordnete gemeinsame und sacramen-tale Handlung des Abendmahls anlehnt.

Priesterthum 1 Petr. 2,4.5.9; 4,18; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 7,19; 10,22; 13,15.16; Rom 12,2; Eph. 2,18.Bekennen zu Gott. 1 Petr. 2,5; Hebr. 13,15 (Hos. 14,3); Eph. 1,6.12.14.Wohlthätigkeit Phil. 4,18; Hebr. 13,16.Bekennen vor den Menschen: Mth. 10,32; Rom 10,9.10; Hebr. 3,1; 4,14; 10,23; 1 Joh. 2,23; 4,15.Antithetisch bekennen 1 Joh. 4,2; 2. Joh. 7. Dank: Kol. 3,16; 1,12; 1 Th. 5,18; Phil. 4,6; Hebr 12,28.Vaterunser

Denn die Predigt, als formaler Gegensatz zum Gebet, dient dazu durch Verge-genwärtigung der Offenbarung, die Gebetsstimmung zu wecken, zu ordnen, zu steigern und auf den [91] gemeinsamen Punkt zur richten. Und alle ferne-ren Thätigkeiten in der Kirche, Betreibung des kirchlichen Bekenntnisses, Re-ligionsunterricht, Armenpflege haben den Zweck, die gottesdienstliche Fähig-keit zu bilden.

Also das theologische antithetische Bekenntniß als Lehrgesetz nur unter-geordnetes Mittel; dient im Verhältniß zu bestehenden Irrthümern dazu, den reinen Verstand des Evangeliums, sofern dasselbe durch menschliche Rede fortgepflanzt wird, zu sichern. – Bekenntniß Grundlage der Kirche? C.A. 7.

Die allgemeinen Thätigkeiten welche der Cultus direct in Anspruch nimmt, sind das Erkennen und das künstlerische Bilden aber als Object einer be-stimmten Anstrengung des Willens. paristánein tšô ješô Rom. 12,1; Kol. 1,22.28. Denn das Gebet ist wesentlich ein Act des Erkennens und Beken-nens des Erkannten, um gemeinsam zu werden, Erkennen des göttlichen Wil-lens, der Wohlthaten, des eigenen Dankes und der Ergebung des Gemüthes. Das Bekennen als Gemeinsames erfordert aber ein künstlerisches Bilden, da-

26 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11, BSLK 61

3 actives Sich-bekennen] am Rand7–15 Priesterthum … Vaterunser] am Rand13 2.] über der Zeile14 1 Th. 5,18;] über der Zeile17 die] korr. aus das22–26 Also … C.A. 7.] am Rand22 antithetische] über der Zeile28–30 aber … Kol. 1,22.28.] am Rand

5

10

15

20

25

30

196 Beilage I.1 – IX. Kirche

Page 247: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

mit die Erscheinung des gemeinsamen Gedankens im sinnlichen Stoff der Rede ein geordnetes sei, also Rhetorik in Predigt und Liturgie, Musik im ge-meinsamen Beten und Bekennen. Nicht erst, soweit auch Handlung in den Cultus hineinreicht, also Geberde oder sacramentaler Act, – sondern schon in den Kunstmitteln, dann im Erkennen ist dem Cultus eine dem sittlichen Han-deln entgegengesetzte Art der Thätigkeit zugesprochen. Das künstlerisch-dar-stellende Handeln ist dem verbreitenden eigentlich sittlichen Handeln entge-gengesetzt; ist Selbstzweck in jedem Act; während jeder sittliche Act immer Zweck und Mittel zugleich ist. Die christliche Religion bewährt nun ihre uni-verselle Stellung im menschlichen Geiste dadurch, daß sie beide Richtungen der Bethätigung in der Gemeinschaft sucht. Die Cultusgemeinschaft der Kir-che ist aber der christlichen Religion nothwendig auch im Verhältniß zu ihrer Bestimmung zum Gottesreich. Eine directe Gemeinschaft kann in der letztern Art der Thätigkeit nicht erstrebt werden (§ 23), also nur in der erstern Art. Diese aber ist auch nöthig, um der sittlichen Thatkraft eine Ergänzung, Regu-lirung und Anregung zu verschaffen, während die Unruhe in derselben ihre Gefahren hat. Die Kirche als Cultusgemeinschaft ist also für die theologische Ethik ein nothwendiger Begriff, so wie die ethische Beurteilung der Kirche für die vollständige Feststellung ihres Begriffes und Werthes notwendig ist. Die Merkmale sind nun das GebetsBekenntniß als Act, sofern es die ausge-sprochene Ergebung des Willens unter die geglaubte Gnadenvorsehung Got-tes ist, und die Cultussitte welche sich in der richtigen Analogie mit den Sa-cramenten hält, welche als von Christus geordnete und durch unsere Pietät erhaltene Cultusacte zugleich Träger der göttlichen Gnade für die Cultusge-meinde, Organe des göttlichen Gnadenwortes sind. So correspondiren die dogmatischen und die ethischen Merkmale der Kirche.

14 S. oben S. 80,1

2 in] nach <und>3 Nicht erst,] am Rand3 soweit] korr. aus Soweit5 eine] folgt entg6 Das] korr. aus das davor <Das Erkennen und>7 ist] korr. aus sind folgt <zusammen>7–9 entgegengesetzt; … ist.] gesetzt; … ist. am Rand statt <gesetzt.>8 immer] folgt <Mittel und>9 christliche] über der Zeile9 nun] über <aber>14 23] korr. aus 2715 ist] folgt <aber>18f. so … ist.] am Rand20 GebetsBekenntniß] Gebets über <Glaubens>20 als Act] über der Zeile21f. Ergebung … Gottes] über <gemeinsame Erkenntniß des göttlichen Wortes>

5

10

15

20

25

197§ 37 Gemeinschaft der Gottesverehrung

Page 248: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

NB. Das Bekennen und der bekannte Inhalt, das schriftliche Bekenntniß sind niemals das Wesen der Kirche. Das wäre socinianisch. Catechismus Racovensis 489. Salutaris Christi doctrina – est vera ecclesia. – Tenere sa-lutarem Christi doctrinam est ecclesiae Christi natura, non signum.

[92] § 38. D a s k i r c h l i c h e A m t .

C h a r i s m e n .

Damit das Cultushandeln der Gemeinde der Heiligen ein gemeinsames sei, und, damit die individuelle Religionsbildung der Einzelnen als solche nicht gehemmt werde durch die Bethätigung der Religion Anderer, tritt die ge-schichtliche Selbstentwickelung der Kirche in die Form des Rechtes. Denn Recht ist die Ordnung von Handlungen nach relativen Zwecken, wodurch das Handeln als gemeinsames verwirklicht und die sittliche Entwicklungsthä-tigkeit der Einzelnen gesichert werde. Deßhalb wird über den Cultus, die Lehre, die Steuern durch Gesetzgebung entschieden. Aber – Das Werden der Kirche durch die Merkmale des Bekenntnisses und der Cultussitte fordert in jedem Falle die Unterscheidung von Klerus und Laien; jenen Begriff im Sinne von ministerium verbi in Anwendung auf die evangelische Kirche. Denn jede Gemeinschaft sittlicher Art, welche den Willen für bestimmte Zwecke in An-spruch nimmt, ist nur dann geordnet, wenn Beamte, oder ein Beamtenstand mit der Leitung des Ganzen beauftragt ist. Die werdende Kirche bedarf also nach Maßgabe ihrer Merkmale solche Beamten, denen die Ausübung und Fortbildung des gemeinsamen Bekenntnisses, die Uebung und Vollziehung der gemeinsamen Cultussitte regelmäßig übertragen ist. Im Sinn der evangeli-schen Kirche dürfen dieselben nicht als Priester prädicirt werden, die von-vornherein als Nachfolger der Apostel über der Gemeinde stehen, und denen allein es vorbehalten sei, Gott anstatt der Gemeinde zu nahen oder zu dienen, und deren Gottesdienst stofflich verschieden wäre von dem den Laien in zweiter Linie vorbehaltenen. Vielmehr muß sich der evangelische Begriff vom Amte danach richten, daß alle Christen Priester sind, und daß der allen zuste-hende Gottesdienst identischen Stoff habe, der auch den den kirchlichen Be-amten übertragenen repräsentativen Gottesdienst bildet. Hienach ist die

2 S. oben S. 127,7

1–4 NB. … signum.] am Rand5 § 38. … Amt.] davor <§ 38. D a s Ve r h ä l t n i ß d e r e v a n g e l i s c h e n K i r -c h e n u n d S e c t e n .>6–14 Charismen. … Aber –] am Rand24f. die … und] am Rand

5

10

15

20

25

30

198 Beilage I.1 – IX. Kirche

Page 249: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Würde des evangelischen kirchlichen Amts nicht anders bedingt, als die jedes andern Amtes in einer sittlichen Gemeinschaft. Sie ist bedingt durch das Maaß der individuellen Gaben, der technischen Ausbildung, der Berufstreue. Wie überall hängt hievon, namentlich vom letztern Umstande die Auctorität des kirchlichen Amtes ab (§ 34 c). Allerdings sind die symbolischen Lehrbe-stimmungen darauf gerichtet, die Auctorität des kirchlichen Amtes noch an-ders zu bestimmen, als ein von sittlichen Bedingungen unabhängiges Object. Dies giebt hierarchischen Gemüthern und schlechten Theologen Anlaß, die evangelische Lehre vom Amt in katholisirender Weise zu verschlimmbessern. Die Lehrdarstellung in den Symbolen ist fragmentarisch, sofern sie einerseits den dogmatischen Begriff von der Gemeinde der Heiligen nach den Merk-ma[93]len von Gottes Wort und Sacrament und daneben die kirchenrechtli-che Lehre vom kirchlichen Amte vortragen, welches aus jenem Bgriff nicht abgeleitet werden kann, sondern nur aus dem ethischen, sofern es wesentl|ich politisches Merkmal der Kirche ist, das Gebiet des Rechtes aber nur durch die Bedingungen der sittlichen Gemeinschaft mit der Religion in Beziehung gesetzt werden kann. Das Problem ist nun dies, ob die Auctorität der Kleri-ker der Christi und der Apostel analog ist, indem das göttliche Wort den In-halt ihres Amtes bildet, während wir den Inhalt des Amtes nach dem mensch-lichen kirchlichen Bekenntnisse bestimmt haben. Für die Erkenntniß des Glaubens, also im dogmatischen Sinn wird die Gemeinde der Heiligen durch die Wirksamkeit des Wortes Gottes und der Sacramente. Das Wort Gottes ist aber nur verständlich unter Bedingung der gemeinsamen Einsicht in seinen Inhalt, Zweck, Grund, d.h. in letzter Instanz des kirchlichen Bekenntnisses, und die Sacramente nur bedeutsam im Zusammenhang mit einer allgemeinen Cultussitte. Also verhalten sich die ethischen Merkmale der Kirche zu den dogmatischen, wie Mittel zu Zweck und Grund. Ebenso verhält sich das poli-tische Hauptmerkmal der Kirche nämlich der Klerus als Mittel für die Voll-ziehung und allseitige Aneignung von Bekenntniß und Cultussitte. Von den drei Kreisen der Merkmale der Kirche verhalten sich also die unteren zu den je oberen, wie Mittel zum Zwecke. Indem nun die Kleriker zunächst nur Techniker des Bekenntnisses und der Cultussitte sind; indem aber das Be-kenntniß nur Mittel für das Wort Gottes, die Cultussitte Mittel für d|ie Sa-cram|ente ist, so können die Kleriker in ihrer directen Function nicht thätig

5 S. oben S. 117,4

7 als ein] korr. aus mit einer11f. Merkma[93]len] Ms.: Merk-/len12f. kirchenrechtliche] am Rand22 Gottes … Sacramente.] am Rand statt <Gottes.>24 in … Instanz] am Rand25 nur … mit] am Rand statt <nur wirksam unter Bedingung>31 je] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

199§ 38 Das kirchliche Amt

Page 250: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sein, außer indem sie zugleich regelmäßig Träger des göttlichen Gnadenwor-tes und Verwalter der Sacramente sind. Das Wort Gottes ist nun aber seines eigenthümlich begründeten Inhaltes wegen auch im Munde des Menschen immer Gottes Wort, das Abendmahl ist auch als menschliche Handlung im-mer Handlung Christi und Vehikel besonderer göttlicher Gnadenwirkung. Also üben die Kleriker in diesen Beziehungen Functionen göttlicher Wirkung und Auctorität aus, welche über die sittliche Bedingtheit ihres Amtes hinaus-geht. Diese göttliche Autorität haftet aber freilich an dem Inhalt des göttli-chen Wortes und der Correctheit der Sacramentshandlung, nicht, nach katho-lischem Begriff an einer [94] bestimmten Form der Uebertragung; ist auch nicht in Anwendung auf die bestimmte Person indelebilis, sondern hängt ab von der Bewahrung der Reinheit der Funktion; ist also selbst sittlich bedingt. In dieser Fassung also widerspricht die göttliche Auctorität des kirchlichen Amtes nicht seiner sittlichen Bedingtheit, sondern ist von dieser selbst abhän-gig. – Das Bestehen eines Klerus ist zwar das erste aber nicht das einzige Merkmal der politischen Seite an der Kirche oder des politischen Begriffes von der Kirche, desjenigen, wonach die Kirche auch Object des Staats- und Civilrechtes wird, Eigenthumsrechte ausübt, Disciplin und Armenpflege übt, vom Staate anerkannt wird. Diese Verhältnisse sind aber der praktischen Theologie respective dem Kirchenrechte zu überlassen. Dahin gehört in spe-cie das Problem der Disciplin und die Möglichkeit von Ämtern der Localge-meinde und vom Kirchenregiment. Die praktische Theologie hat auch darauf zu achten, wie die verschiedenen Stände der bürgerlichen Gesellschaft eine verschiedene Behandlung von der Kirche erwarten, welche wieder an sie ab-gestufte Ansprüche des kirchlichen Lebens stellt. Die praktische Theologie endlich hat über die Art und die Grenzen der Missionsthätigkeit zu entschei-den; aber dies alles auf Grund des ethischen Begriffs von der Kirche, und nach richtigem Verständniß seines Verhältnisses zum dogmatischen.

§ 39. D a s Ve r h ä l t n i ß z w i s c h e n d e n e v a n g e l i s c h e n K i r c h e n u n d S e c t e n .

Weder nach den politischen noch auch nach den ethischen Merkmalen ist die Kirche eine Einheit geworden. Zunächst ist nicht einmal der ganze Bestand der abendländischen Kirche dem Impuls der Reformation gefolgt. Die katho-lische Particularkirche ist dabei stehen geblieben, dem politischen Merkmale der Hierarchie alle übrigen Merkmale der Kirche unterzuordnen, und hält ein Bekenntniß fest, das im Widerspruch mit dem Wort Gottes, und eine Cul-

8 aber] über der Zeile18 ausübt] korr. aus Ausübt32 einmal] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

200 Beilage I.1 – IX. Kirche

Page 251: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

tussitte, die im Widerspruch mit dem ursprünglichen Sinne des Abendmahles ist. Der Unterschied des morgenländischen und abendländischen, des katholi-schen und evangelischen Christenthums ist S t u f e n unterschied der Religi-on. Aber auch die Kirche sofern sie der Reformation gefolgt ist, und die rich-tigen Merkmale der Kirchenbildung anstrebt, ist in eine Mehrheit von Con-fessionskirchen und von Secten auseinandergegangen. Da aber der ethische Begriff von der Kirche nicht minder auf die Einheit gerichtet ist, als der dog-matische, so ergiebt das Verhältniß zwischen Thatbestand und Begriff die Aufgabe weiter fortgehender Reformation, in specie von Union und Allianz oder Conföderation.

erklärt sich die Erscheinung daraus, daß das Maaß in welchem sich das Christenthum mit der Cultur der außerchristlichen Welt und mit der sittli-chen Entwickelungsstufe durchdringt, nicht überall mit der gleichen Kraft der Ueberwindung des Unchristlichen verbunden ist.

[95] Freilich ist dieser Gedanke nicht anwendbar auf das Verhältniß zwi-schen der evangelischen und der katholischen so lange sich diese nicht refor-mirt, sondern uns als eine vom Teufel geleitete Gemeinschaft bezeichnet, – da sie selbst vielmehr Staat und nicht Kirche ist.

Im Katholizismus wirkt der Typus der hellenischen und römischen Verbin-dung von Religion und Staat nach, im griechischen Christenthum die römi-sche Verbindung der Pontificalgewalt mit dem Imperium; im römischen die platonische Prätension, daß die Philosophen, die Wissenden, und die mani-chäische Prätension, daß die Perfecti, die vollendeten Asketen den Staat, welcher zugleich Religionsgemeinschaft ist, regieren; in der protestanti-schen schulmäßigen Orthodoxie die hellenische philosophische Prätension, daß das Erkennen die Kraft des Wollens ist; in allem Sektenthum derjenige Typus der nacharistotelischen Philosophie, daß das Ethos immer nur indi-viduell sei und niemals eine adäquate Gestaltung des großen Gemeinwe-sens möglich mache.

Die Union zwischen Lutheranern und Reformirten ist darauf gegründet, daß die Abweichungen zwischen beiden Bekenntnissen im Vergleich mit der iden-tischen Tendenz und der Fortbildung der theologischen Erkenntniß gleichgül-tig und werthlos geworden sind. Aber weil der Gegensatz der Confessionskir-chen durch die Unterschiede der Nationalkirchen durchkreuzt wird, so ist Union nur im engern Kreise direct möglich; die Anlage dazu erstreckt sich aber über den ganzen Umkreis evangelischer Kirchenthümer, weil ein Aus-

1 die] korr. aus das2–4 ist. … Religion.] am Rand statt <ist>.10 oder Conföderation.] am Rand11–14 erklärt … ist.] am Rand19–29 Im … mache.] am Rand22 platonische] korr. aus phi

5

10

15

20

25

30

35

201§ 39 Kirchen und Secten

Page 252: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

tausch theologischer und asketischer Darstellung des Christenthums in ir-gend einem Grade sich durch das Gebiet hindurchzieht. Wo freilich Union nicht direct unternommen werden kann, da ist mindestens Conföderation und Allianz geboten, nicht zwischen Privatchristen, sondern als öffentliche Angelegenheit. – Dagegen ist eine Allianz zwischen kirchlichem und sectireri-schem Protestantismus widersinnig. Obgleich dieser Gegensatz im Bekennt-niß sehr gering, und in der Cultussitte nur in manchen Punkten ausgeprägt ist, ist er viel tiefer als zwischen reformirtem und lutherischem Protestantis-mus. Denn die Secten haben ein ganz verschiedenes Verständniß der Bedin-gungen der christlichen Persönlichkeit, und kehren das Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der christlichen Gemeinschaft geradezu um. Im Sinne des Sektenthums Methodismus, Baptismus, gilt nur derjenige als Christ, der einen empirischen Verlauf von Bekehrung durchgemacht hat, und denselben an bestimmten Gemüthsbewegungen messen und nachweisen kann. In Con-sequenz davon verwerfen die Baptisten die Kindertaufe, und fassen die Ge-meinschaft der Christen rein als Product der Einzelnen. Dagegen bedeutet der Grundsatz der Kindertaufe in den evangelischen Kirchen, daß jede zum Be-wußtsein kommende Bekehrung durch die unwillkürliche und mit dem Ver-stande unmeßbaren Einflüsse der göttlichen Gnade durch die Gemeinschaft auf den Einzelnen bedingt sei. Hiedurch wird gesichert (§ 9.20), daß die Hei-ligung oder Wiedergeburt als das prius der christlichen Charakterbildung an-erkannt, und nicht als obj|ective empirische Beobachtung oder Absicht be-handelt werde. Indem also in individuellen Fällen eine momentane Bekeh-rung möglich und wahrhaft sein mag, so ist es ein Widerspruch gegen die psychologischen und ethischen Bedingungen der [96] Bekehrung, wenn die Secten sie als empirischen Verlauf für nothwendig erklären. Die Praxis der Kindertaufe können die evangelischen Kirchen freilich nicht als dogmatisch nothwendige Institution erweisen (Dogmatik § 78), sie ist aber möglich in Consequenz des symbolischen Charakters der Taufe, und ist werthvoll als Symbol der kirchlichen Erziehung und der kirchlichen Bedingtheit christli-cher Charakterbildung. Hiedurch soll dem Einzelnen, der in der Kirche auf-wächst gesichert werden, daß seine Bekehrung auf die göttliche Gnade be-gründet ist; während umgekehrt keine zuverläßigen Indicien gefunden wer-den können, daß die Bekehrung vollendet und die Taufe zeitgemäß sei. Die Kirchen und die Secten sind auch in der Beziehung nicht coordinirt, weil die

20 S. oben S. 28,5; 68,9

12 Methodismus, Baptismus,] am Rand19 göttlichen … die] am Rand20 20] korr. aus 2428 78] korr. aus 8029 Consequenz] folgt <ihrer>

5

10

15

20

25

30

35

202 Beilage I.1 – IX. Kirche

Page 253: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

letztern nicht fähig sind, sich durch Erziehung fortzupflanzen, weil sie die Be-kehrung in ihrem Sinne nicht in ihrer Macht haben. Also sind sie darauf an-gewiesen, daß die Volkskirchen bestehen, um deren Saft auszusaugen, wie die Parasitenpflanzen einen Baum, auf dem sie Platz gefunden. Wo solch Verhält-niß nicht besteht, wie zwischen den alten Taufgesinnten und d|er reform|irten K|irche in Holland, da ist der sektirerische Charakter abhanden gekommen; da ist die Verweigerung der Kindertaufe zufällig; und nur ökonomische und Pietätsgründe fristen den Bestand der Partei. Wenn aber Methodisten und Baptisten mit Gliedern der evangelischen Volkskirchen Allianz eingehen, wel-che sonst grundsätzlich als Babel bezeichnet werden, so bedeutet dies entwe-der, daß die Sectirer im Begriff sind ihren falschen Grundsatz über Bekehrung aufzugeben, oder daß die Kinder Gottes aus den Volks- und Landeskirchen im Stillen den sektirerischen Begriffen von Bekehrung zustimmen. Der letzte-re Fall ist der wahrscheinlichere, da in Folge des in unserem Kirchenthum eingenisteten Pietismus eine starke Hinneigung zur sektirerischen Conse-quenz verbreitet ist. Solche Allianz ist also ein Symptom von verschiedenarti-ger oder allseitiger Unklarheit.

2. Gestrichener Schluß von § 41

[102] Aber dieser Gedanke ist die eigentliche Lösung des Problems. Der Ge-rechte ist nie so gerecht, daß er nicht das Uebel als Strafe ansehen müßte, aber nicht des zornigen Gottes, sondern des gütigen und gerechten Vaters, der ihn durch das Maaß der väterlichen Strafe von der Sünde reinigen will. Prov. 3,11,12; Hebr. 12,4–11; – 1 Petr. 4,1.2.17.18; 1 Kor. 11,32; Rom 8,28; 5,3 ff. Mc. 9,49.

Alle Casuistik in dieser Hinsicht ist durch das Gemeingefühl ausgeschlos-sen, in dem der Einzelne theilnimmt an der Gesammtschuld und an dem Zusammenhang der Leiden Aller.

Diese dem Augenschein widersprechende Beurtheilung der Leiden des Gerech-ten kann nur aus der Offenbarung in Christus mit gleichbleibender Sicherheit abgeleitet werden, [103] dessen Beruf das Leiden als freiwillige Leistung for-dert, und dessen persönliche Eigenthümlichkeit die Combination zwischen Leiden und Zorn Gottes ausschließt. Das Leiden, das auf Grund und zum Zwecke des bestimmten sittlichen Berufs erfahren wird, nimmt vielmehr den

18 Der hier mitgeteilte Text bildete bis mindestens WS 1867/68 (V 7) den letzten Teil von § 41, wo er sich ohne Absatz an das jetzige Ende des Paragraphen anschloß, und wurde später gestrichen. An seine Stelle trat die große Einfügung am Rand gleich nach dem zweiten Satz des Paragraphen (oben S. 133,15–135,1).

25–27 Alle … Aller.] am Rand

5

10

15

20

25

30

203§ 41 Gestrichener Schluß von § 41

Page 254: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Charakter eines Thuns zum positiven Zweck an, und deßhalb verbürgt die scheinbare Vernichtung des Lebens gerade dessen Erhaltung. Vgl. Joh. 10,17; 12,25; Mth. 10,39; 16,25. Das Vorbild Christi in dieser Hinsicht hat nicht den Sinn, daß man unter allen Umständen das Leiden suchen, und eine asketische Selbstvernichtung unternehmen solle (§ 36); aber es fordert die Ausdauer im Leiden, welches neben unseren Vergehungen, unser Zusammenhang mit dem sündlichen Geschlecht und unser sittlicher Beruf mit sich führt. Wo also des-sen Zusammenhang mit eigener Schuld nicht festzustellen ist, soll es nicht blos so hingenommen werden, daß man sich innerlich über die Erfahrung hinweg-setzt, und stumpf oder gleichgiltig dagegen wird, sondern man soll es als Mit-tel der Reinigung und Bewährung positiv bejahen (Rom. 5,3).

1. Die stoische Geichgültigkeit gegen Leiden setzt den Gedanken voraus, daß das Leiden nicht zur Zweckmäßigkeit der Welt gehört; es ist aber den-noch wirklich, also die Weltanschauung falsch. Die christliche Ergebung in das Leiden erkennt auch das Leiden als zweckmäßig, als Glied der Welt-ordnung an. 2. Hieran ist zu messen die Bedeutung Christi als des Erlösers. Ein Leiden in Folge von Sünde mit Ausschließung des Schuldgefühls, in dem Gedan-ken nicht an Zorn, sondern an Liebe Gottes ist die Probe der Aufhebung der Macht der Sünde über mich. Gegen Strauß, der (Die Ganzen und die Halben) Christus nicht will Erlöser nennen lassen, weil doch auch seit Christus noch Sündenmacht zu erfahren ist. –

Die Beurtheilung der Leiden als Freude ist nicht sophistisch (Jak. 1,2; 1 Petr. 4,12.13; 2 Kor 7,4; Hebr. 10,34), da nicht die unmittelbare Empfindung ins Gegentheil verkehrt wird (Hebr. 12,11), sondern da nur nicht der erste Ein-druck im Gefühl festgehalten, sondern durch das Selbstgefühl des Kindes Gottes überschritten werden soll. Diese Beurtheilung des Leidens ist nichts

5 S. oben S. 120,2717 Der Ausdruck die Bedeutung Christi als des Erlösers ersetzt die gestrichene Rand-bemerkung Der Werth Christi als Erlösers oben Zeile 3 (textkrit. App.).20 Strauß, Die Halben und die Ganzen 48

3 Das] am Rand <Der Werth Christi als Erlösers>6f. neben … und] am Rand7 führt. Wo] korr. aus führt, wo8 es] folgt <als Mittel der Reinigung>12–16 1. … an.] am Rand17–22 2. … ist. –] am Rand aus Platzmangel dem Zusatz Zeile 12–16 vorangesetzt21 weil] folgt <es>25f. nur … sondern] korr. aus die Empfindung nur nicht nach dem ersten Eindruck ins Gefühl Îreflectirtù, sondern in dieser Hinsicht27 soll.] folgt <Um so mehr wird die Empfindung eines Leidens als Folge eigener Schuld auf die Güte Gottes zurückgeführt und als Impuls zur Sinnesänderung gewür-digt werden (Rom. 2,4).> in eckigen Klammern (Bleistift)

5

10

15

20

25

204 Beilage I.2

Page 255: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

weniger als eine Lähmung der Thatkraft durch das Christenthum; sondern das Christenthum führt die Herrschaft des sittlichen Selbstbewußtseins auf einem Gebiete durch, an dessen Grenze eine naturalistische Moral mittel- und wirkungslos stehen bleibt. Wenn nun aber das Leiden ein Motiv zum Freiheitsgefühl sein soll, so das Glück eine Motiv des Abhängigkeitsgefühls (Rom. 2,4). Das Glück ist für Manche eine stärkere Probe für die Demuth, als das sog. Unglück. – Das Leiden bezeichnet die äußerste Grenze, bis zu welcher der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes sich bewähren soll; ehe es dahin zu kommen braucht, durchdringt dieselbe Gesinnung das Ganze Gebiet des Lebens, und [104] verknüpft alle Momente der Thätigkeit und der Erfahrungen zur Einheit der religiösen Stimmung und des religiösen Cha-rakters.

Der Glaube der Maaßstab der vollen geistigen und sittlichen Selbster-haltung.Der Selbstmord die vollkommene Verzichtleistung auf den Glauben an die Vorsehung.

Die alte Dogmatik kennt den Glauben immer nur in seiner schärfsten Zuspit-zung auf die Erfahrung der Sündenvergebung durch den Vater Christi; aber um die Höhenpuncte dieses Gedankens bewegt sich der Glaube an die Vorse-hung Gottes in allen übrigen Beziehungen des Lebens, so daß er zu jenem Ge-danken hinaufsteigt und von ihm herabsteigt. Der Glaube an die Sündenver-gebung ist als Moment der Empfänglichkeit den Momenten der sittlichen Thätigkeit entgegengesetzt; beide Arten menschlichen Verhaltens schließen sich aus; wenn also auch die Momente der Thätigkeit religiös bedingt sein sollen, so kann der Glaube nur in der allgemeinern Richtung auf Gott in ih-nen gesetzt sein, als das Vertrauen, auf Gottes Wegen zu wandeln, in seinem Dienste zu wirken, seinen Schutz und Hülfe in jeder gerade nothwendigen Beziehung zu erfahren.

Falsche Ansicht der Pietisten, als ob zu dem Glauben an Gottes Vorsehung noch der Glaube an die Sündenvergebung in Christus hinzuaddirt werden müsse. Vielmehr kann man nur verlangen, daß die Ergebung in Gottes Wil-len auf die Ueberzeugung von Christi Erlösungsthat mit Bewußtsein be-gründet werde um des Werthes jener vollkommen gewiß zu werden.

Ebenso ist nun auch die Bekehrung nur erfolgreich, welche indem sie in das Bewußtsein von Gottes Vaterschaft und unserer Gotteskindschaft ausgeht, ih-ren Ursprung in der Ahnung hat, daß Gott mich sucht, daß er auf seine For-

6 für Manche] über der Zeile13–16 Der … Vorsehung.] am Rand25 Gott] folgt <mit>26 Vertrauen] korr. aus ÎVetù29–33 Falsche … werden.] am Rand32 Erlösungsthat] folgt <<begründet>> <werde>34–206,9 Ebenso … Psalmen.] in eckigen Klammern

5

10

15

20

25

30

35

205§ 41 Gestrichener Schluß von § 41

Page 256: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

derung an mich das Recht hat, daß seine Güte auf mich gerichtet ist; und die negative Erkenntniß meiner Sünden aus dem Gesetz ist nur so Mittel der Be-kehrung, daß man dazu das Ideal des Menschenlebens in Christus positiv als solches erkennt, und daß in demselben Maaße die Väterlichkeit Gottes zur Gewißheit wird, als der Entschluß gereift ist, in diesem Ideal den Endzweck des eigenen Lebens zu suchen. Alle Schrecken des Gewissens führen hingegen nicht zur Bekehrung, wo sie nicht unter die Güte Gottes (Rom. 2,4) subsu-mirt sind. In dieser Hinsicht ist die Bekehrung auch im Alten Testament nicht aus dem Gesetze zu studiren, sondern aus den Psalmen. (Rückblick auf § 20.) Frage nach der subjectiven Probe des Gnadenstandes.

3. Erstfassung von „§ 42 Die Demuth“

[98] § 43. D i e D e m u t h .

fóbov 1 Petr. 1,17; Phil. 2,12; Hebr. 12,28 (eÙlábeia kaì déov).ist diejenige Form des empirischen religiösen Selbstbewußtseins welche der Heiligkeit der Person entspricht, und welche als Tugend zu bezeichnen ist, weil sie ein Product des Willens ist, der sich absichtlich auf die Heiligkeit be-gründen will. Die Demuth ist durchaus auf Gott, nicht aber auf Menschen bezogen. Sie ist dasjenige Selbstgefühl, welches auf dem Gedanken beruht, daß ich Gottes Eigenthum bin, daß mein ganzes sittliches Wesen unter der Leitung und Beurtheilung Gottes steht, in Gott seinen Grund und sein Ziel findet.

Heilige Scheu und heiliges Zutrauen.Also freilich ist die Demuth eine starke Schranke des natürlichen Freiheitsge-fühls, aber sie giebt wegen ihrer Begründung auf Gott auch den wahren Halt

9 S. oben S. 68,911 In der Endredaktion von Ms. B findet sich „§ 42. Die Demuth“ auf dem eingeleg-ten Doppelquartblatt S. 98 a.b. Es ersetzt die Erstfassung in Ms. B* S. 98–100, die hier mitgeteilt wird (vgl. Einleitung S. XXIV).

3 dazu das] korr. aus das5 in] folgt <sich>9 20.] korr. aus Î24.ù12 43.] korr. aus 41. dazu der doppelt unterstrichene Hinweis NB13 fóbov … déov).] im freien Teil der Zeile und am Rand13 eÙlábeia] Ms.: eÙlabeía14 ist] davor <hwn(, tapeinofrosúnh>22 Heilige … Zutrauen.] am Rand24 sie giebt] über der Zeile

5

10

15

20

206 Beilage I.3

Page 257: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

für das sittliche Selbstgefühl. Freilich wird die Demuth bestimmt durch die Auffassung des Contrastes zwischen göttlicher Allmacht, Allwissenheit und menschlicher Schwäche und Beschränktheit aber nicht minder durch die Auf-fassung der Harmonie göttlicher Güte, Gerechtigkeit mit den eigentlichen und wahren Bedürfnissen menschlichen Lebens. Sie giebt als Stimmung dem sittlichen Handeln aus dem religiösen Motiv seine individuelle Färbung; aber sie producirt keinen eigenthümlichen Stoff religiösen Handelns, in welchem, als nicht profanem sie sich besonders zur Erscheinung brächte. Wechsel der Eindrücke von Wesensabstand und religiöser Gemeinschaft mit Gott, aber Stetigkeit der freudigen Empfindung im Verhältniß zu Gott, Schmerz in der Berührung mit Profanem. Demuth gegen Menschen ist ein falscher Gedanke; tapeinofrosúnh bezeichnet allerdings auch die Bescheidenheit gegen Men-schen, die Mäßigung des Selbstgefühles gegen die Anderen [99] denen man Ehre schuldig ist. Sie ist eine Folge der Demuth, aber nicht die einzige; denn neben ihr steht das berechtigte Selbstgefühl gegen beleidigende Selbstüber-schätzung anderer, auch als Folge der Demuth, wenn es darauf ankommt, dem Gottlosen den Werth der Religion und der religiösen Sittlichkeit an der eigenen Person zu demonstriren. Und in diesem Fall ist mit der Demuth auch der Zorn vereinbar, wenn er durch Mitleiden begleitet ist (Mth. 11,29; Mc. 3,5). Freilich giebt es auch eine nachgemachte Art der Demuth, welche die sektirerische und cliquenhafte Frömmigkeit begleitet, welche sich in aparter Miene und Geberde Ausdruck verschaffen will, und einen fanatischen Zorn schon gegen Menschen verschiedener religiöser Richtung, nicht erst gegen Gottlose und Spötter bereit hat (Luc. 18,9–14). Denn die Demuth hat keinen eigenthümlichen Stoff des Handelns, in dem sie zur Erscheinung käme; oder man müßte consequenterweise auf die mönchische Ethik herauskommen. Diese sucht die Demuth auszudrücken, in der Armuth und in der Verzichtlei-stung auf die persönliche Selbständigkeit und Ehre. Hierin sind die Fehler enthalten, als ob das persönliche Selbstgefühl an sich der Demuth widerspre-che, und als ob diese einer besonderen wenn auch nur negativen Erscheinung fähig sei. Dies|er Grundsatz entspricht d|em theoret|ischen Irrthum, als ob das Verhältniß Gottes zur menschlichen Gesellschaft im Christenthum ein ne-gatives sei. Die Folge dieser Fehler ist das Gegentheil des Erstrebten, Hoch-muth, Geldgeiz, Herrschsucht (Kol. 2,23). – Die Demuth ist nicht nothwen-

5–11 Sie … Profanem.] am Rand statt des durch besonderes Zeichen in die nächstfol-gende Seite (gemeint ist: Ms. B Seite 100) eingewiesenen Satzes Das … Phil. 2,5 ff.); s. unten S. 208,21–255 als Stimmung] über der Zeile6–8 aber … brächte.] in eckigen Klammern9 Gott,] folgt <von Freudigkeit im Dienste Gottes>19 Mth. 11,29;] über der Zeile22 einen] über <mit>32 ein] korr. aus eines

5

10

15

20

25

30

207§ 42 Demuth (Erstfassung)

Page 258: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

dig an specifisches Sündenbewußtsein gebunden und braucht sich nicht be-sonders an demselben zu nähren, denn sie ist auch Tugend an Christus (Mth. 11,29; Phil 2,5–8). Denn er ist vom Vater geheiligt worden, und dieser ist Christi heiliger Vater (Joh. 10,36; 17,11). Die Demuth ist die Bedingung, un-ter der Christus bei seinem Bewußtsein Gottes Sohn und Ebenbild zu sein, sein Lebensziel nur so erstrebt, daß er den niedrigen Gehorsam einer ge-wöhnlichen Menschenstellung über sich nimmt, daß er nicht absichtlich als Herr auftritt, sondern in seinem besonderen Beruf als Gottes Knecht. – Von Anderen wird die Demuth als Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit von Gott definirt. Dagegen ist [100] nichts einzuwenden, wenn man nur den Ausdruck nicht in Schleiermachers Sinne versteht. Denn der versteht ihn von einer in-telligibeln Funktion, welche das Freiheitsgefühl ausschließt. Aber in unserem Sinne ist die Demuth empirisches Selbstgefühl, möglicherweise in verschiede-nen Momenten ungleich an Stärke und Schwäche, Gegenstand absichtlichen Strebens, und nicht das Gegentheil des Freiheitsbewußtseins auch nach dem Maaße des Verhältnisses zu Gott. Endlich ist die Demuth das bestimmte Merkmal dafür, daß das Leben d|es Menschen überhaupt dem göttlichen Wil-len folgt. Wo sie fehlt, ist die vorgebliche Unterwerfung des Lebens unter die Leitung Gottes und unter sein Gesetz eine Selbsttäuschung. Das Gefühl der Demuth, wo es gesund ist wird immer oscilliren zwischen dem Wesensab-stand und der religiösen Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott. [98] Das Gegentheil der Demuth auf dem Boden des nichtreligiösen Lebens ist ein sol-ches Freiheitsgefühl, welches keine Schranke anerkennt, welches also auf eine formale Gottgleichheit ausgeht, also Selbstvergötterung (Rom. 12,3; Phil. 2,5 ff.). [100] Entgegengesetzt auf dem Boden der Religion ist die falsche Si-cherheit des Verhältnisses zu Gott in der Heuchelei und im Fanatismus. So-fern die erstere sich überhaupt als eine Art von Religiosität betrachten läßt,

11 Schleiermacher, Der christliche Glaube, 2. Auflage § 4, KGA I/13.1,32,10

3 er] über Gott5 und Ebenbild] am Rand16 Verhältnisses] Ms.: Vhf (?)19–209,10 Das … Gott. –] am Rand statt <In der Hinsicht ist ihr ‚äußerstes‘ (über der Zeile) Gegentheil die Frivolität, welche sich auch an Beschäftigung mit dem Reich Got-tes herandrängt; welche aber die ernsten Sachen leicht und spielend behandelt, weil man meint seines Verhältnisses zu Gott unter allen Umständen sicher zu sein und in Gottes Vertrauen zu stehen. Merkmal des herrschsüchtig-politischen Pietismus.> Dazu am Rand <<tà "gia toîv Ágíoiv>>21–25 Das … Phil. 2,5 ff.).] mit besonderem Zeichen und vorvorige Seite hierher ein-gewiesen s. oben S. 207,5–1122 auf … Lebens] am Rand25 Religion] folgt <Speciell>25 die] korr. aus diese26 Fanatismus.] korr. aus Fanatismus bemerkbar.

5

10

15

20

25

208 Beilage I.3

Page 259: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

ist sie darauf begründet, daß zwischen dem Menschen und Gott ein Rechts-verhältniß vorausgesetzt wird, wie der Pharisäismus Gott auf die Stufe der menschlichen Beschränktheit herabzieht. Der Fanatismus beruht darauf, daß man die eigene beschränkte Religiösität an Gott herandrängt, in falschem Prophetenthum, und Elemente der eigenen Religiösität Anderen als heilsnoth-wendig aufnöthigt, wenn sie auch für diese nur rechtliche und keine religiöse Bedeutung haben. Die Zuspitzung des Fanatismus zum Hierarchismus er-laubt auch der Frivolität sich in christlicher Gesellschaft breitzumachen. Der Heuchler hat weder Scheu noch Zutrauen zu Gott, der Fanatiker keine Scheu, und deshalb verkehrtes Zutrauen zu Gott. –

Die Demuth die eigentlich religiöse Tugend, deßhalb mit den übrigen Tu-genden zusammen nur im reifen Charakter.

Die Demuth hingegen ist als Gefühlsbestimmtheit von der Unmittelbarkeit für die Selbstbeurtheilung, daß niemand sich darin täuschen kann, ob er sie besitzt oder nicht. Insofern dient sie für Jeden als der Erkenntnißgrund für die Richtigkeit und Zulänglichkeit aller derjenigen Glaubens- und Willensac-te, in denen man seine religiöse und seine religiös-sittliche Aufgabe zu vollzie-hen unternimmt. Hiemit wird die am Schluß von § 20 unbeantwortet geblie-bene Frage erledigt, woran der Gläubige die Authentie seines Glaubens und seinen Heilsstand für sich erkennt. Weder die guten Vorsätze, noch der vor-hergegangene Bußkampf, noch die ästhetische Fertigkeit der Vergegenwärti-gung des Bildes Christi, sondern die Demuth ist dazu zureichend, aber nur im Zusammenhang mit dem folgenden.

II. Aus der Nachschrift K. Lange 1867/68

[391] § 67. Die Pflichten im Zusammenhang des kirchlichen Lebens.

Der Grundsatz der Achtung in Verbindung mit dem der Verträglichkeit [392] ist die Toleranz. Doch ist die Toleranz erst als eine Frucht der sogenannten Aufklärung anzusehen. Dieselbe ist nothw|endig Folge der richtig verstande-nen eigenen Religiosität. Denn das Recht der e i g e n e n Freiheit muß man

18 S. oben S. 73,9

2 vorausgesetzt wird,] über <besteht>11f. Die … Charakter.] am Rand18 20] korr. aus 2422f. zureichend, … folgenden.] korr. aus zureichend.26 dem der] Ms.: der der27 als] Ms.: Îalsù

5

10

15

20

25

209Nachschrift Lange

Page 260: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

auch an den anderen achten. Daraus folgt die Nothwendigkeit der Achtung, welche das eine Glied der Confession dem der anderen schuldet. Natürlich hat das seine Grenzen. Denn wo von seiten der anderen Confession mein Recht bestritten wird, so muß ich mich davor schützen. Doch giebt es hier verschiedene praktische Fälle, welche verschieden behandelt werden. (Die Methodisten, Baptisten etc. wird man am ehesten durch Liebe und Toleranz überwinden.)In Beziehung auf die Richtungen innerhalb der evangelischen Kirche gilt, daß jede Richtung eine Mitschuld an der Spaltung oder Trennung bei sich suchen muß. Das ist allerdings sehr schwer im unmittelbaren Kampf zweier Richtun-gen; aber wenn es auch schwer ist, so ist es doch Pflicht. Man darf keines-wegs in dieser Beziehung auf die Symptome hin curieren; es heißt bloß ein Geschwür zurückdrängen, nicht bessern oder heilen.Achtung der Pastoren gegen die Gemeinde. Die Reformatoren sahen dieses Verhältniß angesichts der damaligen Zustände [393] von einem amtlichen Verhältniß zu dem einer Schule verändert. Wenn aber die Kirche vom Amt befreit werden soll, so muß die Gemeinde, sie mag sein wie sie will, als eine Gemeinde Christi behandelt werden. Vergleiche zum Beispiel wie Paulus die Corinther behandelt. Daher ist vor Allem von seiten des Pastors die Achtung gegen die Gemeinde zu bethätigen, sie zu idealisieren: dann wird Rüge und Ermahnung mehr helfen. Das letztere ist geboten und erprobt an der Behand-lung des Pastors. Dazu gehört aber auch, daß innerhalb der Kirche die Ach-tung auch nach anderer Seite angewandt wird: nämlich auf die theologische Schule, (– besonders auf R.)

24 R. ist wohl mit Ritschl aufzulösen.

6 am] fehlt im Ms.9 der] folgt <eige>

5

10

15

20

210 Beilage II

Page 261: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

III. Exzerpte auf eingelegten Blättern

1. Gaß, Die Lehre vom Gewissen

[28 a I] Gaß, Die Lehre vom Gewissen 1869.Das Gewissen ist eine unmittelbare unwillkürliche Regung; –

n e g a t i v r ü g e n derstreckt sich möglicherweise über das Gebiet des thätigen Lebens – ana-log dem Gedächtniß seiner Herkunft nach – in der Form eines unbeding-ten Urtheils, dem logischen Schlusse vergleichbar, nur daß der Obersatz übersprungen wird. Der allgemeine Inhalt auf den es hinweist, ist stets nur auf das Individuum selbst bezogen; m e i n Gewissen bindet nur mich, keinen andern, so wie ich mich durch keines Andern Gewissen gebunden fühle. Keine Gleichheit des Inhaltes und Maaßes bei Allen; sondern un-gleich nach Religions- und Culturstufe; Stand und Nationalität. Fehlt auf der Stufe der vollkommenen Sittlichkeit. Keine Spur im Bewußtsein Chri-sti, und je reifer und durchgebildeter ein Charakter ist, um so weniger Ge-wissensfälle treten in ihn ein. Ebenso umgekehrt im Laster. Aber so weit wir in relat|ive sittliche Entwicklungsstufen hineinschauen ist es irgend-wie da. Also ist es ein Phänomen in dem mit der Sünde behafteten oder ringenden Leben; es ist Judicium einer innern Disharmonie oder Span-nung; – ein ruhiges Gewissen bezeichnet die Abwesenheit der fraglichen Erscheinung. –Ist es ein Vermögen neben Wille, Intelligenz, Gefühl? ein Organ? oder eine Function, die bei allem Scheine der Unmittelbarkeit etwas Vermitteltes ist? Wir kennen es direct nur als Function, und wenn es eine Potenz voraus-setzt, so braucht dieselbe nicht etwas Besonderes zu sein, sondern kann auch in dem Zusammenhang der Gesammtanlage gesucht werden. Nicht aus mechanischen Beiträgen oder einzelnen Vermögen. Als Urtheil fällt es unter die Intelligenz, als unmittelbares unwillkürliches Product berührt es

2 Bei der Überarbeitung von „§ 11 Das Gewissen“ (Ms. B S. 26–28; oben S. 35–37) stand Ritschl unter dem Einfluß des 1869 erschienenen Buches von Wilhelm Gaß, Die Lehre vom Gewissen. Die durch dieses Buch veranlaßten Reflexionen haben sich auf dem bei § 11 ins Ms. B eingelegten Doppelquartblatt (S. 28 a.b) niedergeschlagen. So-wohl der essayistische Charakter des Buches von Gaß als auch die eigenwilligen Ge-danken, die Ritschl an einzelne Passagen anknüpft, würden einen detaillierten Ver-gleich zu umständlich machen. Im ersten Absatz nimmt Ritschl vor allem auf S. 83–89 seiner Quelle Bezug, im zweiten Absatz auf S. 95–116. Der für Ritschl wichtige Begriff der „Gewissenhaftigkeit“ findet sich bei Gaß S. 70.

5 negativ rügend] am Rand26 auch] über der Zeile

5

10

15

20

25

211Exzerpt aus Gaß

Page 262: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

sich mit der Erinnerung und dem Gefühl; in seiner Entschiedenheit gleicht es dem Willensentschluß; so allgemeingültig sein Inhalt ist, so individuell seine Anwendung. Es w i r d im Menschen, und es schließt doch auch den [28 b I] Eindruck dieser Relativität von sich aus. Es kann also nur begrif-fen werden, aus einer Ansicht vom Geiste heraus, welche über die empiri-schen Bedingungen hinausgreift. Als die Bethätigung der Selbstbestimmung welche a priori sittlich, d. h. im Einklang mit einer sittlichen Weltordnung ist; d. h. als Bethätigung der intelligibeln Freiheit in dem Gegengewicht ge-gen die halb unfreie empirische Willensentwicklung. Als Rückwirkung ge-gen die Fehlgriffe des empirischen Willens ist es das Gegentheil des Wil-lens, Erkenntnißact, Urtheil; denn wenn die intelligible Freiheit wieder als Wille aufträte, so wäre die Einheit der Person aufgehoben. Aber es ist auch das Gegentheil der discursiven Erkenntniß, weil es bei aller Anwendung auf Einzelnes die Aufmerksamkeit ausschließt, und es ist den Einfällen des Gedächtnisses entgegengesetzt, weil es nie etwas Gleichgültiges bezeugt und nie etwas, was schon durch die Erfahrung angesammelt wäre. Es ist auch dem Gefühl entgegengesetzt; weil es bei aller Unwillkürlichkeit ob-jektives Urtheil und nie mit der Affection der Lust begleitet ist; denn gutes Gewissen ist die Pause des Gewissens. Es ist auch in seiner Absolutheit nicht Gottes Offenbarung, denn es bezieht sich immer nur auf Einzelnes, im Individuum selbst; während Offenbarung stets die Beziehung auf das Allgemeingültige zur Mittheilung an Andere hat, wodurch auch übrigens das Offenbarungsbewußtsein die meiste Aehnlichkeit mit dem Gewissen hat. Aber sofern es einen allgemeinen Maaßstab in sich schließt, ist diese eigenthümlichste Bethätigung intelligibler Freiheit doch nur Product der Erfahrungen in der sittlichen Gemeinschaft bei welcher man hergekommen ist, daher das christliche Gewissen Rom 9,1. Wie sich das Gewissen in den anderen Religionsstufen ebenso der Ordnungen bemächtigt, die auf ihnen die Selbstbestimmung des Individuums erfüllen sollen. Aber die Beziehung auf Gott und die Religion ist nicht nothwendig im Gewissen gesetzt. [28 b II] Mit der eigentlichen richtenden und warnenden Erscheinung des Ge-wissens dürfen nicht vermischt werden die Fälle, in welchen der Titel des Gewissens auf Grundsätze angewendet wird, welche vor der sittlichen Prü-fung durch Andere geschützt werden sollen, indem sie mitunter zugleich zur Verurtheilung der anders Handelnden gebraucht werden. Das sind Er-

14 ist] folgt <von>15 es nie] nie korr. aus nicht24 hat] Ms.: haben31 Mit] korr. aus mit davor <Nicht vermischt>31 richtenden … warnenden] über der Zeile33 wird] korr. aus werden34 mitunter] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

35

212 Beilage III.1

Page 263: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

scheinungen namentlich religiöser Gewissenh a f t i g k e i t welche näher betrachtet auf der Combination von heterogenen religiösen Principien be-ruhen. Rom. 14; 1 Kor. 8,7.10.12; Tit. 1,15; 1 Tim. 4,2. Der Anspruch sol-cher Grundsätze, die sich durch die ganze Geschichte der Kirche hindurch-zieht, auf den Schutz des Gewissens beruht 1. darauf, daß die Gewissen-haftigkeit ins Spiel kommt, die Tugend, welche sich auf die Erhaltung eines sittlichen Berufs gründet, und nun auf solche Uebungen und Grundsätze angewendet wird, in welchen man seinen christlichen (respective theologi-schen) Beruf auffaßt. Diese Appellation tritt mit Recht ein, wo ein neuer Beruf gegen bisherige Ordnungen durchgesetzt werden soll, aber fälschlich – 2. wird der Eigensinn, welcher gegen das Gewissen solche Grundsätze in Allgemeingültigkeit setzt mit dem Gewissen verwechselt, mit dem er die inappellable Individualität und die Unmittelbarkeit des Eindrucks gemein hat. Diese Erscheinungen beweisen, daß das Gewissen keine unfehlbare In-stanz ist, da es verfälscht werden kann. Aber d i e s e Beurtheilung des i r -r e n d e n Gewissens löst doch zugleich den Schein, als ob das Gewissen auch unter Christen absolut ungleich sei. Denn sofern jene falsche Gewis-senhaftigkeit sich immer nur in gewissenloser Behandlung der Anderen er-geht, so kann man durch eine genaue Beobachtung feststellen, daß das christliche Gewissen, und inwiefern es in der geschichtlichen Reihe dieser Erscheinungen nothleidet. B ö s e s Gewissen ist der Reflex der Gewissen-haftigkeit, d. h. des sittlichen Berufsbewußtseins im Sünder.Der Sprachgebrauch: sich ein Gewissen aus Etwas machen, bezeichnet schon die Unächtheit der Erscheinung.[28 a II] Negatives Gewissen Rom. 2,15; Hebr. 9,14; 10,2.22.Gutes Gewissen d.h. Negatives Gewissen pausirend Rom. 9,1; 1 Kor. 4,4; 2 Kor. 1,12; A c t 2 3 , 1 ; Hebr. 9,9; 13,18; 1 Petr. 3,16.21; 1 Tim. 3,9; 1,19.Gewissenhaftigkeit gegen Gott. 1 Petr. 2,19; Rom. 13,5.Gewissenhaftigkeit gegen Gott in relativem Rechte Àsqenäv 1 Kor. 8,7.10.12; 10, 25.27.28.– im Unrechte Tit. 1,15; 1 Tim. 4,2; Rom. 14 und Kol. 2.Gewissen im stoischen Sinne anerkannt 2 Kor. 4,2; 5,11.

5 1.] über der Zeile8 in] über der Zeile9–11 Diese … fälschlich –] am Rand12 Allgemeingültigkeit] korr. aus Gelt25 9,] folgt <4.>26 1 Kor. 4,4;] nachträglich eingefügt28 13,5.] folgt <2 Kor. 4,2; 5,4.>29 gegen Gott] über der Zeile29 Àsqenäv] über der Zeile29 10.12] über der Zeile

5

10

15

20

25

30

213Exzerpt aus Gaß

Page 264: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

2. Thomas von Aquino, Summa theologiae

[43 a II] Thomas Aquinatus Secunda secundae

Q u . 2 . art. 3. Ultima beatitudo hominis consistit in quadam supernaturali dei visione, ad quam homo pertingere non potest nisi per modum addiscentis a deo doctore.– art. 4. Necessarium homini accipere per modum fidei non solum ea, quae sunt supra rationem, sed etiam ea, quae per rationem cognosci possunt 1, ut c i t i u s homo ad veritatis divinae cognitionem perveniat, 2, ut cognitio dei sit c o m m u n i o r, 3, propter c e r t i t u d i n e m .Q u . 2 3 . art. 7. Ultimum et principale bonum hominis est dei fruitio, et ad hoc homo ordinatur per caritatem. Virtus vera simpliciter est illa, quae ordi-nat ad principale bonum hominis. Sic nulla vera virtus potest esse sine carita-te. Si vero illud bonum particulare sit verum bonum, puta conservatio civita-tis, erit quidem vera virtus sed imperfecta nisi referatur ad finale et perfectum bonum.Q u . 2 4 . art 8. Perfectio caritatis.Q u . 2 5 . art. 1. Nächstenliebe und Gottesliebe– art. 4. Amor, quo quis diligit se ipsum, est forma et radix amicitiae. In hoc enim amicitiam habemus ad alios, quod ad eos nos habemus sicut ad nos ip-sos. – Alio modo possumus loqui de caritate prout est amicitia ad deum prin-cipaliter et ad ea, quae sunt dei. Inter ea est ipse homo, qui caritatem habet. [43 b I] Et sic inter cetera, quae ex caritate diligit, quasi ad deum pertinentia, etiam se ipsum caritate diligit.Q u . 2 6 . art. 2. Principaliter maxime deus est ex caritate diligendus. Ipse enim diligitur sicut beatitudinis causa, proximus autem sicut beatitudinem ab eo simul nobiscum participans.

1 Bei „§ 25. Die Liebe zum Nächsten und zum Feinde“ ist in Ms. B ein Doppelquart-blatt (S. 43 a.b) mit Exzerpten aus der Summa theologiae, Pars secunda secundae, von Thomas von Aquino eingelegt. Die Exzerpte betreffen hauptsächlich die Tugend der caritas (q 23–44) und die vita contemplativa (q 180–184).3 Summa theologiae II/II q 2 a 3; ed. Busa 2,527 b6 Ebd. q 2 a 4; ed. Busa 2,527 b.c10 Ebd. q 23 a 7; ed. Busa 2,554 a16 Ebd. q 24 a 8; ed. Busa 2,556 a.b17 Ebd. q 25 a 1; ed. Busa 2,557 c. 558 a18 Ebd. q 25 a 4; ed. Busa 2,558 b24 Ebd. q 26 a 2; ed. Busa 2,560 c

10 Qu. 23.] korr. aus Qu. 24.13 particulare] folgt <, puta>

5

10

15

20

25

214 Beilage III.2

Page 265: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

– art. 3. Der Mensch muß Gott mehr lieben als sich selbst da Gott bonum commune omnium est.– art. 4. Der Mensch hat sich selbst mehr zu lieben als den Nächsten, quia unitas potior est quam unio– art. 5. Der Nächste ist mehr zu lieben, als der eigene Leib Consociatio in plena participatione beatitudinis quae est ratio diligendi proximum, est ma-jor ratio diligendi, quam participatio beatitudinis per redundantiam, quae est ratio diligendi proprium corpus.– art. 7. Die Unterschiede der Liebe richten sich nach dem Maß der Stellung des Objectes zu Gott und nach dem Maß der Stellung der Objecte zu dem liebenden Subject. Hiernach ist art. 9. zu entscheiden, daß man nach der er-sten Rücksicht mehr den Vater, nach der andern mehr den Sohn liebt, ebenso art. 11. die Aeltern und die Gattin.– art. 13. Auch in der ewigen Vollendung aliquis se ipsum magis diliget quam proximum etiam meliorem.[43 b II] NB. Der letztere Grundsatz, wonach jeder selbst sich caritate zu lie-ben hat, ist nur möglich, indem übersehen wird, daß in dem Gesetz Christi das Àgapân Éautón einen andern Sinn hat als das Àgapân tón plhsíon. Erst in diesem Falle kommt caritas zu Stande, in jenem ist Àgapân blos der Aus-druck der natürlichen Selbsterhaltung. Diese unitas ist nicht Princip der unio per caritatem, sondern blos eine Analogie zu derselben.Q u . 2 7 . art. 8. Dilectio dei est magis meritoria quam dilectio proximi. An-dererseits dilectio proximi includit dilectionem dei; sed dilectio dei non inclu-dit dilectionem proximi.Q u . 3 1 . art. 3. Bei dem Wohlthun richtet sich die propinquitas nach den verschiedenen Lebensgebieten, an denen man theilnimmt, und danach ist der proximus nicht immer der consanguineus. In extrema necessitate geht der ex-traneus dem pater vor.

1 Ebd. q 26 a 3; ed. Busa 2,561 a3 Ebd. q 26 a 4; ed. Busa 2,561 a5 Ebd. q 26 a 5; ed. Busa 2,561 b9 Ebd. q 26 a 7; ed. Busa 2,561 c11 Ebd. q 26 a 9; ed. Busa 2,562 a13 Ebd. q 26 a 11; ed. Busa 2,562 b14 Ebd. q 26 a 13; ed. Busa 2,563 b22 Ebd. q 27 a 8; ed. Busa 2,565 a25 Ebd. q 31 a 3; ed. Busa 2,568 b

11 ist] folgt <art. 8 die Liebe zu den Blutsverwandten und die Freundschaft zu beur-theilen und>26 an] korr. aus in

5

10

15

20

25

215Exzerpt aus Thomas von Aquino

Page 266: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Q u a e s t i o 3 2 art. 5. Pflicht und Rath der Almosen. Geboten ist das Al-mosen de superfluo; andere Fälle est de consilio: de q u o l i b e t b o n o m e l i o r i d a n t u r c o n s i l i a .– art. 7. Vom turpe lucrum meretricium darf Almosen gegeben werden!!Q u . 4 4 . art. 7. Sicut te ipsum, = S i m i l i t e r s i b i[43 a I] Q u . 1 8 0 . art. 1. Vita contemplativa quantum ad ipsam essentiam actionis pertinet ad i n t e l l e c t u m Beiläufig zum Willen, welcher alle Kräf-te, auch den Intellect in Bewegung setzt. Vita contemplativa in caritate dei constituta est, inquantum aliquis ex dilectione dei inardescit ad eius pulcritu-dinem conspiciendam. Vita contemplativa terminatur ad delectationem, quae est in affectu ex qua etiam amor intenditur.– art. 2. F i n i s contemplativae vitae est consideratio veritatis – Virtutes mo-rales dispositive ad vitam contemplativam pertinent.– art. 4. Contemplatio divinae veritatis est f i n i s totius humanae vitae. – Quia per divinos effectus in dei contemplationem manuducimur, inde etiam contemplatio divinorum effectuum secundario ad vitam contemplativam pertinet.– art. 5. Im irdischen Leben keine visio dei, außer per accidensQ u . 1 8 2 . art. 1. Vita contemplativa Simpliciter melior est quam activa. Jenes bezieht sich auf das Göttliche, dieses auf das Menschliche. – Secundum quid tamen et in casu est magis eligenda vita activa propter necessitatem praesentis vitae.Q u . 1 8 4 . art. 3. Gebote und Rathschläge

1 Ebd. q 32 a 5; ed. Busa 2,570 a.b4 Ebd. q 32 a 7; ed. Busa 2,70 c. 571 a5 Ebd. q 44 a 7; ed. Busa 2,585 a6 Ebd. q 180 a 1; ed. Busa 2,742 c. 743 a12 Ebd. q 180 a 2; ed. Busa 2,743 a14 Ebd. q 180 a 4; ed. Busa 2,743 c18 Ebd. q 180 a 5; ed. Busa 2,744 a19 Ebd. q 182 a 1; ed. Busa 2,747 b23 Ebd. q 184 a 3; ed. Busa 2,749 a-c

15 dei] korr. aus deum20 das] korr. aus Go

5

10

15

20

216 Beilage III.2

Page 267: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Gen 2,24 96 4,17 103

Ex 19,6 29

Lev 18 99 19,18 88

Num 16,5 29

Dtn 8,5 135

Ez 16 96

Hos 2 96 14,3 126, 196

Mal 2,11 96

Ps 6 135 34 135 37 135 37,4 136 38 135 49 136 49,16 136 73 136 73,24 136 73,28 136

Hi 5,17 136 19,26.27 136

28,28 136

Prov 3,11.12 134, 203

Sir 32,3 29

Mt 5,3.10.20 74 5,10.11 75 5,12.46 74 5,17 92 5,20 74 5,21 92, 112, 184 5,21ff 92 5,23.24 89f., 191 5,29.30 153 5,31.32 94 5,38-42 89 5,38ff 78 5,39-41 78 5,44 89 5,44.45 89 5,46 75 6,1.2.5.16 74 6,10 169 6,13 154 6,20 75 6,33 74 7,1 157 7,1-5 185 7,6 94 7,7.8 139f. 7,12 87 7,21 74 7,21-23 74, 128 8,29 74 10,16 160 10,32 126, 196 10,37 118

10,37-39 75 10,39 204 11,6 153 11,29 207f. 12,28 74f. 12,34 94 13,24-30.31.32.33.

38.41.43.47-50 76 13,44-46 75 15,12 153 15,19 184 15,26 94 16,23 153 16,25 204 17,25 74 17,27 153 18,3.4.23 74 18,15-17 187 18,15-18 95 19,8 97 19,9 94, 97 19,21.29 75 20,1-15 74 20,1-16 76 22,2-14 76 22,37-39 92 23,17.19 93 23,23 90 23,33 94 24,45 160 24,46.47 74f. 25,1-13 76 25,2ff 160 25,14-28 74 25,21-23 75 25,34 74 26,63 94

Mk 1,13 152 2,16.17 184

Bibelstellen

Page 268: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

218 Bibelstellen

2,27.28 90 3,5 93f., 207 3,14 74 3,28-30 148, 151 3,34.35 74 4,11-14 74 4,17 153 4,26-29.30-32 76 6,3 153 7,11 90 8,35 87 8,36.37 75 9,19 161 9,41 74f. 9,42 153 9,43-47 153 9,49 203 10,2-9 93 10,7.8 96 10,11.12 94, 97 10,17 74 10,21 173 10,21.28 118 10,28-31 74 10,29 75 10,29.30 75 11,22.23 161 12,28-33 85 14,27.29 153 14,35.36 139 14,38 152f. 14,61.62 94

Lk 6,23.35 74 6,23.38 75 6,35 89 7,23 153 8,15 162 10,29ff 85, 88 11,13 139 11,41 79 12,33 75 12,37 74f. 12,43.44 75 13,19.20.21 76 16,8 160

17,20.21 74 18,9-14 207 18,11 184 19,11-27 75 21,15 160 22,28 152f. 22,31.32 153

Joh 2,1-11 178 3,1-3 55 3,8 31 3,36 74 4,34 122, 169 4,36 74 6,61 153 8,44 94 10,17 87, 204 10,36 208 12,25 87, 204 13,34 85 14,13.14 139 15,7 139 15,14.15 91 16,1 153 16,23.26 139 17,4.5 87 17,11 208 18,22.23 95

Ac 2,44 78 5,4 78 15,29 99 16,37 95 22,25 95 23,1 36, 213 23,2.3 95 25,9.10 95

Röm 1,9 94, 119 1,30 184 2,4 204f. 2,7 162 2,15 36, 213 2,18 169

5,2 134 5,3 134, 204 5,3.4 162 5,3ff 203 5,11 134 6,11 151 6,15-22 75 6,19.22 29, 81, 140,

149 6,22 55 7 52 7,23 52 8,13 149 8,15.16.26 139 8,28 134, 203 8,32-39 134 9,1 36f., 213 9,4f 110 9,33 153 10,9.10 126, 196 11,25-32 110 11,33-36 137 12,1 29, 127, 196 12,1.2 140 12,2 126, 159, 169,

196 12,3 160, 208 12,10 89, 164, 183 12,11 28 12,20 89 13,1-7 111 13,5 36 13,10 85 13,14 149 14 213 14,4 185 14,13.21 153 14,17 75 14,17.18 74f. 14,20.21 172 14,22.23 161 14,23 150, 158 15,7 121 15,13 134 15,16 28, 119 15,16-18 120 16,17 153

Page 269: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Bibelstellen 219

1 Kor 1,23 153 1,29 134 1,30 140 1,31 134 3,6-8 120 3,10 160 3,13 61 3,13-15 55, 145 3,21.23 134 4,1-4 120 4,4 213 4,20 74f. 6,5 160 6,5-7 95 6,12 20 7 98 7,2.5.9 98 7,5 153 7,5.32-35 99 7,7 99 7,7.8.38.40 98 7,8 173 7,9.38 99 7,14 110 7,15 94 7,20-24 118 7,21ff 110 7,22 123 7,32-34 98 8,7 36 8,7.10.12 37, 213 8,13 153 9,16.17 119 10,13 136, 153 10,23 20 10,23.24 172 10,25.27.28 37, 213 11,1 121 11,7-9 96 11,10 113 11,32 203 12,9 160 13,7 184 14,34.35 113

2 Kor 1,5 121 1,12 36, 213 1,23 94 1,24 134 3,11.12 134 4,2 36, 213 5,4 213 5,10 55, 145 5,11 36, 213 6,6 140, 159 6,6.7 75 7,1 149 7,4 134, 204 10,17 134 11,29 153

Gal 1,15.16 119 3,1 93 3,28 88, 109 5,4-6 75 5,11 153 5,16 149 5,25 28 6,1 153f., 187 6,1.2 155 6,2 52, 168 6,3.4 120 6,4 61 6,4.7-9 145 6,8 75 6,9 55 6,10 89 6,14 134

Eph 1,6 126 1,6.12.14 196 1,23 81 2,18 126, 196 3,12 134 3,15 101 4,10 81 4,26 93 4,31 184 5,2 121

5,15.16 160 5,17 169 5,22-28 96 5,23 96 5,25ff 98 5,28 87 5,31 96 6,1 101 6,5-8 119 6,8 55 6,11.12 153

Phil 1,8 94 1,9-11 159, 169 1,9.10 169 1,22 61 1,25 134 2,3 183 2,3.4 185 2,5-8 208 2,5ff 121, 123, 208 2,12 75, 137, 206 2,13 28 2,16 55, 120 2,17 119 3,2 94 3,3 134 3,14 55 4,5-7 134 4,6 126, 196 4,18 196

Kol 1,4.5 55 1,9.10 159f., 169 1,12 126, 196 1,13 74f. 1,22.28 127, 196 1,24 121 2 213 2,16-23 158 2,23 207 3,5 149 3,8 184 3,9ff 109 3,11 88

Page 270: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

220 Bibelstellen

3,16 126, 196 3,17 140 3,18.19 96 3,20 101 3,22-24 119 3,24 55, 74 4,5 160 4,11 74 4,12 169

1 Thess 2,5.10 94 2,19 55, 120 3,5 153 4,3-7 149 4,9 89 4,11 79, 118 5,6.8 161 5,13 145 5,14 187 5,17 139f. 5,18 126, 196

2 Thess 1,5 74 2,13 28f., 74 3,10-12 79 3,14.15 187

1 Tim 1,19 36, 213 2,11.12 113 3,9 36, 213 4,2 37, 213 6,9 153

2 Tim 2,10 74 2,12 162 4,8 55

Tit 1,15 37, 213 3,7 74

Hebr 1,14 74

1,14.15 134 2,18 152f. 3,1 126, 196 3,6 134 4,14 126, 196 4,15 152 4,16 29, 134 5,7 137 6,4-8 148, 151 6,16 94 7,19 29, 126, 196 9,9 36, 213 9,14 36, 213 9,15 74 10,2.22 36, 213 10,19 134 10,22 29, 126, 196 10,23 126, 196 10,26-31 148 10,26ff 151 10,32-36 75 10,34 134, 204 10,36 162 11,13 83 12,1 162 12,4-11 134, 203 12,7 162 12,11 204 12,14 55, 75, 140 12,28 126, 137, 196,

206 13,1 89 13,2 102 13,14 83, 118 13,15 126, 196 13,15.16 29, 126, 196 13,16 196 13,18 36, 213 13,21 28

Jak 1,2 134, 204 1,2.3 162 1,2.12 153 1,3.4 162 1,4 120 1,4.25 61, 145

1,5 160 1,5-8 161 1,12 74, 134, 136 1,13 154 1,14.15 152 1,25 56, 75 2,5 74 2,8 85 2,20 93 2,25 76 3,13-18 75 3,17 140, 160 4,4 152 4,11.12 157, 185 5,19.20 187

1 Petr 1,2 28f. 1,4 74 1,5 74 1,6 153 1,6-8 134 1,6.7 136 1,13 161 1,17 61, 137, 145, 206 1,22 75, 89, 140 2,4.5.9 126, 196 2,5 126, 196 2,5.9 29 2,8 153 2,13-17 111 2,17 183 2,18-20 110, 119 2,19 36, 213 2,21 121, 123 2,24 75 3,1.7 96 3,7 74 3,16 36 3,16.21 213 4,1.2.17.18 203 4,6 28 4,9 102 4,12 153 4,12.13 134, 204 4,13 121 4,15 119

Page 271: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Bibelstellen 221

4,17-19 134 4,18 126, 196 5,8 153, 161

2 Petr 1,7 89

1 Joh 89 2,5 76 2,6 121 2,8 85 2,10 153 2,23 126, 196 2,28 55

2,29-3,3 75 3,3 140 3,9 149, 152 3,22 139 3,23 91 4,2 126, 196 4,11.12 90f. 4,15 126, 196 4,16.17 76 4,19.20 90 5,1 149 5,3 91 5,14 134 5,14.15 139

5,16 148 5,18 152 5,19 152

2 Joh 7 126, 196

Apk 1,6 29, 126, 196 2,2 162 2,14 153 5,10 29, 126, 196 21,8 143, 162 22,12 145

Page 272: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)
Page 273: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

Agricola 42, 46Alsted 5Amesius 5Antiochos von

Ascalon 85, 86Antisthenes 12Aristipp 12Aristoteles 12Arndt, Johann 82, 118,

123f.Augustin 44, 77,

103–105, 107f.

Baier 6Balduin, Friedrich 5Baur 63Bellarmin 65Bengel 84Bernays, Jacob 85Bonifaz VIII. 105Braun 108Brenz 21Browne 80Buddeus 6Busenbaum 146

Calixtus 5Calvin 2, 6, 21, 40–43,

55, 61f., 66 f., 70, 80,83, 118, 128, 178

Chalybaeus 17Chemnitz 62Cicero 85f.Coccejus 80Cromwell 111

Danaeus, Lambert 5Dannhauer 5Dante 106Dorner 63Dürr 6

Eck 80, 108Eckart, Meister 122Eitzen, Paul von 4Erdmann 12, 14, 17Escobar, Antonio

de 146

Fénélon 86Feuerlein 86, 146–148Fichte, I.H. 17Franciscus von

Assisi 93, 174Francke 68–70, 83, 174Freylinghausen 63Friedberg 105f.

Gaß 6, 35, 64, 69, 211Gerhard, Johann 65Gregor Magnus 148Gregor VII. 105Grüneisen 78Guerike 70

Harleß 10, 12Hartenstein 25Hasencamp 69Hegel 11, 16, 103,

106f.Helvetius 12Hemming, Nicolaus 4Hengstenberg 70Henke 5Hollatz 39 f., 42, 48

Innocenz III. 105

Jacoby 60, 72Joachim von Floris 21

Kant 11, 14–17, 34, 53,80, 84, 169, 179

Knapp 81Kramer 70

Lange 80, 181, 209f.Leibniz 84Liguori 146Lodensteyn 80, 86Luther 3, 41–43, 48,

51, 58, 80, 118, 128,178

Major, Georg 46f., 54Martensen 122Mastricht, Petrus van 6,

55Melanchthon 1–4, 11,

42, 64, 66, 69, 80, 111,127f., 130

Merz 33

Nitzsch 10, 63

Occam, Wilhelmvon 106

Osiander, Andreas 2 f.,63

Osiander, JohannAdam 5

Palmer 80Pascal 146, 148Pelagius 38Pelt 4Pezel, Christoph 4Philippi 63Plato 13f.Polanus 5Praetorius, Stephan 56

Namen

Page 274: Rolf Schaefer (Editor)-Albrecht Ritschl_ Vorlesung ''Theologische Ethik''-Walter de Gruyter (2006)

224 Namen

Quenstedt 48, 82

Rapp 78Reichel 71, 120Rothe 8 f., 22, 24, 72,

84, 98, 106, 113,117f., 135, 140, 143,150, 176, 180–189,191f., 195

Schleiermacher 7–9,16f., 21–23, 25, 63,84, 176, 180, 208

Schneckenburger 39,48f., 55, 59f., 63, 67,83, 124, 178

Schopenhauer 17Schurmann 66Schwarz 3 f.Schweizer 5, 49f.Semler 70Smith, Adam 108Spangenberg 70f., 84Spener 49, 68f., 83Steudel 63Strauß 124, 204Strigel, Victorin 4

Tauler 121, 123f.Theophrastos 85Tholuck 54, 59Thomas a Kempis 185

Thomas von Aquino 1,32, 85, 147, 173,214–216

Trendelenburg 88, 94Tschackert 66

Varnhagen 120Venatorius 3

Weiß 95Wendt 19Witzel 21Wolff 11, 13

Zinzendorf 71, 120Zwingli 80, 83, 110