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Rollstuhlfahrerinnen, liebe Impfgegner, liebe Food …...im Karopullunder. Die traditionelle Tracht in weinrot und gold. Der Prinz zeigt interkulturelle Kompetenz. QUERSCHREIBER 10

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Nehmt euch mal ein paar Minuten Zeit. Zeit, um euch in einen ge-mütlichen Sessel niederzulassen. Mit einem Kaffee, Gin-Tonic oder einer Capri-Sonne in der einen, dem Querschreiber in der anderen Hand. Ganz ohne Smartphone. Ohne zwischendurch Nachrichten von Bae zu checken oder durch Instagram zu scrollen. Und falls ihr doch in die Versuchung kom-men solltet, dann seid ihr vielleicht schon süchtig (siehe S. 26).

Jede einzelne Geschichte in diesem Heft hat ihre eigene Geschichte: Lutz hat stundenlang in Sex-Foren gechattet, während Kira eine Nacht lang das Experiment „Türsteherin“ gewagt hat. Basti hat einem echten Prinzen im Callcenter einen Besuch abgestattet, auch wenn der Pres-sesprecher ihm ein paar Steine in den Weg legen wollte. Wir haben uns mit verschiedensten Menschen getroffen: Vom Impfgegner bis hin zu Z-Promi David Friedrich, einem Ex-Knacki, Eltern in der digitalen Pubertät und Politikern war alles dabei. In diesem Magazin steckt viel Leidenschaft. Schweiß. Und sogar etwas Blut. Glücklicherweise hauptsächlich Herzblut.

EDITORIAL

Liebe Leserinnen, liebe Leser, liebe Studentinnen, liebe Studen-ten, liebe Omas, liebe Prinzen, lieber Marc Zuckerberg, liebe Rollstuhlfahrerinnen, liebe Impfgegner, liebe Food-Bloggerinnen, liebe Hobby-Politiker, liebe Frau Mustermann, liebe alle,

Ade, tschüss und auf Wiedersehen,

Impressum Leitung // Prof. Dr. Matthias Degen (ViSdP), Katrin Kroemer Westfälische HochschuleChefredaktion // Jana Antkowiak, Bastian Rosenkranz, Henrik Wissing Institut für Journalismus Marketing // Tim Schmidt, Isabell Frisch, Lena Kaczmarczyk, Lutz Niemeyer und Public RelationsSocial Media // Leonard Fischer, Kira Alex, Erik Asmussen, Bastian Bernhard Neidenburger Str. 43Layout // Jonas Selter, Lukas Draeger, Jana Düwell, Nils Stachowiak 45897 GelsenkirchenIllustrationen und Cover // Celina von der Linden Kontakt // [email protected] [email protected] Der Querschreiber ist ein studentisches Projekt des Instituts für Journalismus & Public Relations.

Henrik WissingChefredakteur

Jana AntkowiakChefin Kommunikation

Bastian RosenkranzChef vom Dienst

3

Timo Stoppacher, freier Journalist

Journalisten

brauchen

Netzwerke.

>DARUM DJV.

Deutschlands größte

Journalisten-Organisation.

Sei dabei.

WWW.DJV-NRW.DE/VORTEILE

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INHALT0614

2026

Der Prinz am ApparatHeadset statt Thronfolge

Sex? Nein, danke.Phänomen Asexualität

Posten statt prostenHandysucht

Sprich (nicht) mit mirSelbstversuch im Zug

3238

Die SelekteurinExperiment „Türsteherin“

Behinderter ArtikelMario hat Glasknochen

4452

5864

Mama, werd erwachsen!Die digitale Pubertät

Healthy vs. deftigDas Food-Experiment

Ausgegraben Das Erbe des Ruhrgebiets

„Bli Bla Blub“David Friedrich

70

82

Spritzen-Verschwörung Impfgegner

76Fußball im RadioAus den Augen, aus dem Sinn

12 Politiker in der Jugend24 Lifehacks

63 Fleischfresser goes Veggie74 Zungenbrecher

25 Auf dem Klo31 Beichte

75 Überlebens-Guide80 Das Trödelgen

88 Lass uns streiten!Ein Stammtisch ohne Parolen

94Knast und KundschaftEin Dealer rebelliert

06

52

64 20

26

94

80

50

74

Ausflugtipps - Ruhrgebiet120-Minuten-PartyHerrchen und Hund

Verrückte FeiertageMüsli-CaféBest of Ebay

375057

93102103

Hey, ich lebe nochRetten und gerettet werden

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Prinz am Apparat

Text & Bilder: Bastian Rosenkranz

„Nkeng, was kann ich für Sie tun?“ Der Einfachheit halber beginnt Ekwembwe

Nkumbe Nkeng Sone seine Gesprä-che nur mit einem kleinen Teil seines

Namens. Am Telefon löst der Callcen-ter-Agent die IT-Probleme des kleinen Mannes, was aber fast niemand weiß:

Sone ist als Problemlöser geboren. In Kamerun – mit royalem Blut.

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QUERSCHREIBER PRINZ AM APPARAT

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Ein Dienstagnachmittag im Ruhr-gebiet, der Feierabend ist nur noch eine Stunde entfernt. Während die Arbeitskolleginnen am Neben-tisch die großen Themen Bezie-hung und Liebe verhandeln, hat Sone Nkeng einen Kunden in der Leitung – und ein Problem. „Ni-cole, kommst du mal bitte kurz?“ Keine Antwort. Stattdessen schwappen aufgeregte Stimmen und lebhafte Gesten herüber. Das letzte Date. „Frauen.“ Sone schüt-telt den Kopf und fängt an, breit zu grinsen. „Du kannst alleine nach Hause fahren“, schallt es mit gespielter Empörung zurück. Das Trio mit Migrationshinter-grund aus Thailand, Polen und Gelsenkirchen-Schalke beendet die Diskussion, um sich dem Kameruner zu widmen. Zwei Sätze der beruhigenden Stimme und ein Lächeln später löst sich all die Aufregung in Luft auf. Sone

bekommt seine Auskunft und der Kunde seine Lösung. Was lange währt, wird endlich gut.

Vor den großen Fenstern des Callcenters toben abwech-selnd Winter-Unwetter und Herbst-Sonnenschein. Aus der Ruhe bringt das Sone aber nicht – genauso wenig wie die Arbeitskol-leginnen. Was nicht heißt, dass er in sich gekehrt Anrufe entgegen nimmt. Vielmehr betreibt der jun-ge Mann Hochleistungstelefonie. Gespräch, kurze Pause. Gespräch, kurze Pause. Rasend schnelle Kommunikation auf allen Kanä-len - das schlaucht. Nicht Sone.

Voller Körpereinsatz

Der stützt sich auf den Tisch, holt mit den Armen aus und klatscht in die Hände. Energie durch Bewegung. Manchmal sieht es gar so aus, als würde der 27-Jährige in den Bild-schirm eintauchen wollen, um dem Gegenüber seine langsame Internetleitung flott zu machen.

Voller Körpereinsatz auch im Service-Zeitalter.

Er tut das mit Stil. Die braunen Lederschuhe, die Denim-Jeans sowie die Kombination von Hemd und Pullover im blau-weißen Karomuster machen Sone augen-scheinlich zum perfekten Schwie-gersohn. So zurückhaltend und gleichzeitig elegant, wie er sich kleidet, führt Sone auch durch die Beratungsgespräche über Verträ-ge und Laufzeiten. Er lässt den Charme spielen – sein markantes tiefes Lachen hier und da, wird aber deutlich, wenn es sein muss. Das alles in gutem Deutsch, wahlweise auch in Englisch, Fran-zösisch oder Arabisch. Fließend, versteht sich. Sone Nkeng, der Weltbürger.

Rückblick. Mit der großen Welt kommt Sone in seiner Heimat Kamerun schon früh in Kontakt.

Weniger im Geburtsort Buea oder im nördlichen Garoua, wo sein Vater an einer Hochschule als Professor unterrichtet. Schon eher zur Jugendzeit in Limbe, direkt am Atlantik gelegen. „Es ist sehr laut dort, wegen den Touristen und den vielen Partys.“ Sones Blick wandert nachdenklich aus dem Fenster, wenn er über seine Wurzeln spricht. Während sich die Ausländer am Strand vergnü-gen, bleibt seinen Landsleuten die einfache Tätigkeit als Fischer und Bauer. Oder als Souvenir-Verkäufer. Internat und ein Jahr Medizinstudium dagegen, wie es Sone erlebt, sind immer noch die Ausnahme.

Vielleicht auch deshalb reift in ihm der Wunsch, es seinem Vater gleichzutun und sich in Europa weiterzubilden. Um irgendwann zurückzukehren mit dem gewon-nenen Wissen, seine Heimat zu entwickeln. Dafür opfert er viel. Sein Elternhaus, sicherer Hafen ebenso wie Tollhaus. Lebendig geht es zu bei den Nkengs, 17 Leute in den eigenen vier Wänden sind nicht selten. Seine beiden Brüder, seine Onkel, Tanten und vielen Verwandten: „Ich bin mit dieser Stimmung aufgewachsen“, sagt der Familienmensch und die tiefe Stimme verliert plötzlich an Intensität. Wehmut kommt auf, doch auch die Kraft, mit festen Werten und in stabilen Struktu-ren aufgewachsen zu sein. Um jederzeit eine Position einnehmen zu können und diese zu vertreten, auch wenn er zwischen Welten vermittelt. Der Prinz zeigt inter-kulturelle Kompetenz.

Tapetenwechsel. Ein dunkler Hausflur im Essener Ostviertel kurz vor Weihnachten. Die Tür öffnet sich nur einen Spaltbreit, dahinter lugt ein junger Mann schüchtern um die Ecke. Ein Kos-mopolit, offen, selbstbewusst und kommunikativ? In diesem Mo-

ment zeigt sich, wie weit entfernt Sone Nkeng von seiner Heimat ist. Kalte Fliesen und Stille statt Stimmung und Wärme.

Noch schwieriger ist die Situati-on für Sone 2011, als er die ersten Schritte auf deutschen Boden setzt. „Vorher war ich entspannt, habe mich wie ein Abenteurer gefühlt. Aber als ich im Flugzeug saß, konnte ich wirklich nicht mehr zurück. Dann haben die Gedanken angefangen.“ Obwohl sein Vater vor ihm den gleichen Weg nach Deutschland ging und eine Bekannte am Flughafen wartet, kommen Sone Zweifel. „Muffe“, wie es im Ruhrgebiet heißt. Die wird in seiner neuen Heimat Bochum zunächst größer. Der damals 21-Jährige ist auf sich gestellt, alleine. Er spricht die Sprache nicht und kann mit seiner Umwelt kaum kommunizieren. „Mehr als ein ‚guten Morgen‘ und ‚guten Abend‘ konnte ich ja nicht.“ Ein Schulterzucken.

Der erste Anlaufpunkt, die Sprachschule, entmutigt Sone – zumindest für kurze Zeit. „Ich werde den Tag nie vergessen, als ich dort das erste Mal war. Ich habe mit aller Konzentration versucht zu verstehen. Ich konnte nichts essen und hatte Kopf-schmerzen, die totale Katastro-phe.“ Da die Lehrerin wenig mit Englisch und Französisch anfan-gen kann – von Arabisch ganz zu schweigen –, geht es mit Händen und Füßen voran. Aber es geht voran. „Ich habe fast jeden Tag Kindersendungen geguckt.“ Bei der Erinnerung kehrt das tiefe La-chen zurück, so wie der Fortschritt bei über 30 Stunden Sprachschule in der Woche.

Begegnung im Schnee

Es sind Kleinigkeiten, die Sone bestärken. Die Begegnung mit ei-nem Fremden etwa. Zwei Monate nach seiner Ankunft fallen in Bo-chum alle Busse und Bahnen aus, „ausfallen“ stand bis dahin aller-dings noch nicht auf dem Stun-denplan der Sprachschule. Also wartet Sone im tiefsten Schnee an

der Haltestelle – bis sich eben-jener Mann die Zeit nimmt und ihn aufklärt. „Solchen Menschen begegnet man nicht oft, der Tag hat Eindruck hinterlassen.“ Und das nicht nur, weil Sone vorher noch nie Schnee gesehen hat.

Doch so, wie Sone schöne Momente erlebt, trifft er auch auf Ablehnung – Spuren hinterlässt es nicht. Sich von einer Verkäu-ferin im Supermarkt beleidigen zu lassen, weil ihm das Wort für Bohnen nicht einfällt? Geschenkt. „Sie war angepisst, für mich war es ok. Wenn ich das eh nicht verstehe, brauche ich mir auch keine Gedanken zu machen.“ Ein Grinsen. Die Form von Rassismus, wenn ein Kind unbedingt ein Foto mit Sone machen will, die Mutter es aber panisch zurück-hält? „Die haben wohl noch nie

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Sone Nkeng, Weltbürger im Karopullunder.

Die traditionelle Tracht in weinrot und gold.

Der Prinz zeigt interkulturelle Kompetenz.

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QUERSCHREIBER

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einen Schwarzen gesehen.“ Noch ein Grinsen. Das Foto bekam der kleine Junge natürlich trotzdem. Dinge pragmatisch sehen und sie schnell abhaken, das kann Sone.

Dabei hätte der junge Mann in seinem Leben durchaus einen anderen Weg einschlagen können. Denn in Kamerun hat er nicht nur seine Familie zurückgelassen, sondern vorerst auch sein Ge-burtsrecht als König. „Nkumbe“, der Siebte, ist fester Bestandteil seines Namens und weist auf

seine Abstammung hin. „Mei-ne Familie ist...“ Es folgt eine Handbewegung, dann lässt Sone fast nebensächlich fallen: „Royal – was weiß ich.“ Wobei Sone schon sehr genau Bescheid weiß über die Stammesführerschaft einer gan-zen Region. Über eine Person, die in den Dörfern mit Hochachtung und Geschenken empfangen wird. Über eine Person, die Problemlö-ser ist. Nicht am Telefon, sondern im Angesicht von Menschen, für die das Urteil weitreichende Folgen haben kann. Über eine Person, die deshalb Neid und Hass ertragen muss. Nur reden, darü-ber möchte Sone lieber nicht.

Reden auf Augenhöhe

Sone sei ein besonders beschei-dener Mensch, erzählen seine Ar-beitskolleginnen über ihn. Auch er selbst geht mit dem Thema nicht hausieren – im Gegensatz zu manch anderem Familienmit-

glied. „Die spielen sich nur wegen dem Namen in den Dörfern als Machos auf. Ich bleibe immer ich und rede normal mit den Leuten. Auf einem Niveau.“ Wer mehr miteinander redet, muss weniger übereinander reden. Aus Pres-tigegründen über andere Men-schen zu bestimmen, Schicksal zu spielen, kommt für Sone dagegen nicht in Frage. Deshalb weist er die Position, soziale, wirtschaft-liche und politische Verantwor-tung in seiner Heimatregion zu übernehmen, von sich – mo-mentan jedenfalls. Mit Wörtern wie „ich habe keine Zeit“ und „Zeitverschwendung“ spricht der junge Mann ein weiteres Thema an. Sone denkt prozess- und nicht zielorientiert, sieht seine Ausbil-dung im Ausland als wichtigen Baustein einer Entwicklung an – wichtiger als in den alten Struk-turen der Heimat zu leben. Und wenn der Prozess, sein Land nach vorne zu bringen, ihn irgendwann vor die Wahl König stellen sollte? Sone guckt verlegen zur Seite. „Ich weiß nicht, wie ich mich dann entscheiden würde.“ Aber dafür bleibt ja noch Zeit.

Der nächste Schritt,

ein Irrtum?

Dem Prozess ordnet Sone alles unter und arbeitet mit einer Disziplin, die ihresgleichen sucht. Nach zweieinhalb Jahren Sprach-schule schreibt er sich 2014 in Essen für angewandte Informa-tik ein, sieht sich bereit für den nächsten Schritt. Ein Irrtum. „Der Professor stand am ersten Tag vorne und hat geredet, so viel Wasser. Es gab Worte, die mir im Kopf durchgedreht sind.“ Eine Handbewegung, dann fährt Sone fort: „Das hatte ich noch nie im Leben. Ich habe mir Mühe gege-ben und nur eine Vier bekom-men. Ich dachte mir: Bin ich jetzt dumm?“ Die ersten beiden Se-mester fallen ins Wasser und Sone stellt alles auf den Prüfstand. Er zieht sich zurück und spricht mit Familie und Freunden. Der Studi-engang in einer anderen Sprache? Etwas ganz anderes? „Das war

die schwierigste Zeit in Deutschland. Aber ich bin niemand, der aufgibt. Ich habe mich hingesetzt und analysiert.“

Ertrag der Arbeit

Das Ergebnis der Analyse kann sich sehen lassen. Der Kameruner hat nicht hingeschmissen, sondern sich durchgebissen. Youtube-Videos auf Englisch und Französisch sei Dank. Drei Semester und ein Praktikum fehlen noch zum Bachelor in an-gewandter Informatik, dann sollen Master und Doktor folgen. Auch die Zukunft zeichnet sich langsam ab. „Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht im Kopf, in Deutschland zu bleiben.“ Der Begriff Familie fällt. „Ich will mich nicht daran gewöhnen, alleine im Haus zu sein.“ Der Begriff Heimat fällt. „Ein Job in Kamerun, da ist noch viel zu machen. Software-Ent-wicklung oder Handyanbieter, etwas mit Telekommunikation.“ Logisch. Sone Nkeng Nkumbe Ekwembwe, der Kommunikations-König.

Und dann ist da ja noch die echte Königswürde. Als die Entscheidung anstand, verzichtete der Vater zu Gunsten des Bruders. Sone wird ebenfalls vor der Wahl stehen.

„Es gab Worte, die

mir im Kopf durchgedreht

sind.“

Konzentrierter Zuhörer: Sone im Gespräch.

Wer mehr mit-einander redet, muss weniger übereinander reden.

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Sprich (nicht) mit mir!

Text: Lena Kaczmarczyk & Nils StachowiakBilder: Thorben Allkemper

Ich schalte mein Handy aus und setze meine Kopfhörer ab. Anders als sonst

spreche ich nun fremde Leute an. In vier Phasen bin ich hartnäckig auf der

Suche nach guten Gesprächen.

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QUERSCHREIBER

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Ich setze mir die Kopfhörer auf, regele die Lautstärke bis auf Anschlag und blende meine Mitmenschen in den Öffentlichen gekonnt aus. Husten, Räuspern und genervte Blicke: Bei mei-ner alltäglichen Fahrt zur Uni herrscht gruselige Sprachlosigkeit. Ehrlich gesagt, will ich mit nie-mandem was zu tun haben. Dabei starre ich ausweichend auf mein Handy oder aus dem Fenster. Bloß nicht angesprochen werden. Wer um mich herumsitzt? Weiß ich nicht. Ob diese Menschen bereit wären, sich mit mir zu unterhal-ten? Keine Ahnung.

Für den Querschreiber mache ich einen Selbstversuch. Weg mit dem Handy, die Kopfhörer in den Rucksack. Nur ich, die öffentli-chen Verkehrsmittel, allein mit meinen Sitznachbarn, auf der Suche nach Gesprächspartnern. Mit einer großen Portion Über-windung und vier ausgedachten Phasen, um meine Mitmenschen in den Öffentlichen kennenzu-lernen, mache ich mich auf eine

Reise kreuz und quer durch das Ruhrgebiet.

Obwohl es im leeren Bus genügend freie Einzelplätze gibt, setze ich mich auf einen Vierer neben Mirko Elle. Der Gladbecker gehört zu den Menschen, von denen du direkt weißt, dass sie dir ihre Geschichte erzählen. Meine überfreundliche Begrüßung lässt ihn grübeln, ob er mich nicht irgendwoher kennt. „Es fällt mir gerade schwer, ein Gespräch mit dir anzufangen“, gibt er offen zu. Tatsächlich ist dieser unerwartet ehrliche Satz der Einstieg für unsere Unterhaltung. Ich erfahre, wohin der 42-Jährige fährt und was er auf dem täglichen Weg zur Arbeit im SB91 alles erlebt. Wuss-te ich es doch. Er gesteht, dass er sich gerne unterhält. Manchmal fällt es ihm aber auch schwer, eine Unterhaltung zu beginnen.

Das war doch einfacher als erwartet – ob es in der Stra-ßenbahn genauso klappt? Mit guter Laune und jeder Menge Optimismus betrete ich die

Linie 301, die sich gerade auf den Weg in Richtung Gelsenkir-chen Hauptbahnhof macht. Mit einem freundlichen „Hallo“ und einem offenen Lächeln stelle ich mich ins Abteil. Die zwei älteren Damen direkt gegenüber quat-schen sicherlich gerne mit mir. Die ungefähr 60-jährige Frau mit dem lila-rot gefärbten Haar und der roten Schiebermütze erwidert zumindest meine Begrüßung. Die Seniorin mit dem Rollator schaut mich nur ausdruckslos an. Unangenehm. Ich versuche wei-terhin den Blickkontakt zu halten, sympathisch zu wirken, allerdings ohne Erfolg. Sie weichen meinem Blick aus. Gekonnt starren die beiden Damen aus dem Fenster oder zu Boden. So wie ich es sonst bestimmt auch tun würde. Ziemlich unsympathisch, wie ich gerade merke.

Ich ziehe weiter zum anderen Ende der Straßenbahn und setze mich in einen fast vollbesetzten Vierer. Was ich normalerweise nicht machen würde, wenn im Abteil noch mindestens zehn Ein-zelplätze frei sind. „Hallo“, sage ich und strahle meine Mitmen-schen an. Mir gegenüber sitzt ein kleiner Junge - Mohammed, wie ich später erfahre. Der Neunjäh-rige erwidert mein Lächeln. Ein gutes Gefühl, immerhin lächelt ein Kind heute herzlich zurück. Seine Sitznachbarin nickt mir nur kurz zu, verunsichert von meiner Freundlichkeit. Bevor sie in Erle aussteigt, kläre ich die Situation auf und möchte wissen: Was hat sie gedacht, als eine Wildfremde sie anlächelte? Sie antwortet kurz angebunden: „Besser so, als böse.“ Mehr Worte will sie mit mir nicht wechseln. Die Frau mit den kurzen braun-roten Haaren und dem polnischen Akzent dagegen fuchtelt mit den Armen, steht auf und drückt sogar ausverse-hen eine Station zu früh auf die Haltewunschtaste. Dass ich mit meinem Lächeln sowas auslöse, habe ich nicht erwartet.

GE-Buer Rathaus

Funktioniert ein Lächeln als Eisbrecher in der Bahn?

H

H

Gladbeck Goetheplatz

H paar Minuten frage ich sie, wann der Zug in Essen ankommt. Can-an nimmt ihre Kopfhörer ab und beantwortet mir die Frage prompt. Nach der kurzen, direkten, aber freundlichen Auskunft setzt sie die Kopfhörer wieder auf und ist mit sich selbst beschäftigt. Später erklärt sie, das extreme Anlächeln sei ihr aufgefallen, Lust auf ein Gespräch habe sie aber nicht ge-habt. Gerade ist sie auf dem Rück-weg aus Münster, dort studiert sie Soziale Arbeit. Mit Leuten in der Bahn würde sie nur sprechen, wenn sie über ein gutes Thema ins Gespräch kommt. Selbst eine Unterhaltung beginnen: „Das macht man einfach nicht, höchs-tens ältere Herrschaften“. Sie schmunzelt. Und da ist der Haken. Die Passagiere wollen „gut“ ins Gespräch kommen, aber möchten selbst keines anfangen. Schwierig: Wer gibt dann den Startschuss für Gespräche? Heute bin das ich, sonst wohl eher ältere Herr-schaften und Betrunkene. Schade eigentlich. Also muss ich mir noch etwas Besseres einfallen lassen, um die Stimmung zu lockern und jemanden zum Quatschen zu finden.

Angekommen am Essener Hauptbahnhof setze ich mich an Bahnsteig 11. Neben mir: Chris-toph, ungefähr Mitte 20. Er trägt große, blaue Kopfhörer und wippt ungeduldig mit dem Bein. Ich frage ihn nach der Uhrzeit. Was mich wirklich Überwin-dung kostet und auch nicht gerade clever ist. Denn zehn Meter wei-ter zeigt mir die Anzeigetafel die Antwort bereits an, ohne dass es mir peinlich sein muss. Die Frage nach der Uhrzeit beantwortet er nach einem Blick aufs Handy, jedoch ohne seine Kopfhörer ab-

Nach diesem kleinen Schock bin ich mit Mohammed alleine im Abteil. Er erzählt mir, dass er lieber mit einem Lächeln begrüßt wird, anstatt wie so oft ignoriert zu werden. Ein richtiges Gespräch entwickelt sich trotzdem nicht. Zwar erklärt er mir, dass er sich gerne in der Bahn un-terhalten würde, aber er ist zu verlegen, um tatsächlich mit mir zu sprechen. Der kleine Junge verabschiedet sich freundlich und steigt aus. Ein junger Typ in meinem

und mein Handy rausholen, mich wieder abkapseln und der unange-nehmen Situation entfliehen. Die Gesprächsbarriere ist für mich zu groß. Ich entscheide mich dazu, auszusteigen. Der Handyzom-bie und ich werden heute keine Freunde mehr

Intensiver Blickkontakt und ein offenes Lächeln reichen im

Normalfall wohl noch nicht aus, um mit meinen Mitmenschen zu quatschen. Um meine Öffi-Nach-barn kennenzulernen, muss ich anscheinend mehr auffahren. Das Lächeln war also zu passiv. Dann spreche ich die Leute halt jetzt direkt an. Vielleicht durch eine kurze Frage, um ins Gespräch zu kommen.

Ich wechsle das Verkehrsmit-tel und steige in den RE2 nach Essen. Ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren und knallro-tem Pulli in meinem Alter fällt mir sofort auf. Sie sieht gepflegt und sympathisch aus. Sympathi-scher als der Typ von gerade auf jeden Fall. Also setze ich mich zu ihr und lächle sie an. Sie lächelt zurück. Ein kleiner Fortschritt im Vergleich zu Phase eins. Nach ein

„Das macht man nicht, höchstens ältere Herr-schaften.“

Gelsenkirchen Hbf

Essen Hbf

H

Auf der Suche nach einem Gespräch.

H

Alter setzt sich auf den Platz mir gegenüber. Kopfhörer im Ohr, ein schlechter Start. Er starrt ausdruckslos auf sein Handy und lehnt sich so lässig weit nach vorne, dass ich sein wahlloses Scrollen durch die Kleinanzei-gen von Ebay beobachten kann. Der Typ erinnert mich an mich und meine alltäglichen Fahrten: Wahlloses Scrollen und gekonntes Ausweichen von Blicken gehören sonst zu meinen Stärken. Nicht mal das Anlächeln funktioniert hier. Meinem Gegenüber mit der roten Baseballcap in die Augen zu sehen ist einfach unmöglich. Geschweige denn ihn anzulächeln. Ich gebe nicht auf und unsere Blicke treffen sich kurz, bevor er noch genervter auf sein Handy starrt. Am liebsten würde ich jetzt meine Kopfhörer aufsetzen

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SPRICH (NICHT) MIT MIR

20

QUERSCHREIBER

Gespräch. Er gibt allerdings zu, dass er vor allem heute so gut gelaunt sei, da er seinen ersten Urlaubstag genießt. Im Trubel nach der Arbeit wäre er nicht so offen zu uns.

Mein Lächeln macht misstrauisch. Selbst die herzliche Begrüßung meiner Sitznachbarn irritiert. Die Schokolade sorgt für Verwirrung und wiedermal Misstrauen. „Ich dachte erst, du willst Geld von mir“, habe ich beim Verteilen meiner Komplimente gehört. Vielleicht ist es nicht nur das Desinteresse, das mich sonst gezielt auf mein Handy starren lässt. Meine Kopfhörer sind wohl oft auch eher Schutz. Wovor genau? Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber bei meinem Selbstver-such wurde meine Nettigkeit mit einer ordentlichen Portion Miss-trauen beantwortet. Vielleicht ist es mittlerweile zu ungewöhnlich, dass sich eine Zwanzigjährige ganz old-school unterhalten will. Oder, weil niemand sonst im Zug Komplimente verteilt. Nur wenigen Leuten fällt es leicht, ein Gespräch zu beginnen. Typischerweise sehe ich es ihnen ganz gut an. Wir brauchen einen kleinen und ehrlichen Aufhänger, der unser Desinteresse und Miss-trauen durchbricht. Und auf meinen nächsten Bahnfahrten werde ich wohl weder Schokolade noch Zettel mit Komplimenten verteilen. Aber die Augen offenhalten und schauen, wer eigentlich um mich herumsitzt.

Hand drücke? Ausgestattet mit „Du bist einzigartig“-, „Du bist was Besonderes“- und „Du bist wundervoll“-Zetteln steige ich in den nächsten Zug und damit in die letzte Phase ein. Mit den kleinen Zettelchen in der Hand setze ich mich in einen Vierer. Wirklich aufdringlich drücke ich meine Botschaften direkt in die Hand. Es ist meinen drei Mitfah-rern unmöglich, diese Zettel nicht anzunehmen. Sie schauen mich irritiert an, lesen meine Kompli-mente und? Nichts passiert. Nur die 55-jährige Daniela lächelt mich an. Sie freut sich kurz, ist allerdings zu skeptisch, um mich anzusprechen, erzählt sie mir, nachdem ich auflöse. Sie werde

noch ein Gespräch zur Stande? Ja! Die vermeintliche Studentin fragt mich: „Sag mal, was ist das für eine Aktion?“ Und da ist er, unser Gesprächsaufhänger. Ich verrate zunächst nicht, dass es sich um einen Selbstversuch handelt und wir reden über unsere Studien-gänge. Sie, Olga aus Russland, ist angehende Juristin, die eigentlich Journalismus studieren wollte. Wir kommen ins Plaudern und sie erklärt mir lachend, dass sie wirk-lich misstrauisch war. „Ich dachte, du willst mir etwas andrehen. Als du uns begrüßt hast, dachte ich, du kennst wen. Ich werde nie gegrüßt. Du hast mich wirklich misstrauisch gemacht.“ Olga dachte im ersten Moment, dass ich ihr Geld wolle, als ich ihr den Zettel in die Hand drückte. Wir lachen zusammen und ich erkläre, dass ich keine kriminellen Ab-sichten habe. Als sie am Bottroper Hauptbahnhof aussteigt, probiere ich mein Glück erneut.

Gerüstet mit einer Menge Komplimenten setze ich mich zu zwei jungen Mädchen und einem Herrn. Die Mädchen schauen mich ausdruckslos an. Gucken sich gegenseitig an und tuscheln über mich. Sie halten mich wohl für verrückt, aber ich bewahre mein Lächeln. Der Mann, der sich von Beginn an über mein Zettel-chen amüsiert hat, fragt: „Und warum bin ich was Besonderes?“ Wieder einmal hat unsere Sitz-gemeinschaft einen Aufhänger und nicht nur ich unterhalte mich mit dem 58-jährigen Olaf Merkel, sondern auch die zwei Mädels steigen ein. Wir reden über Olafs Sohn, der schon 30 Jahre alt ist und genau wie die zwei Mädchen und ich jetzt studieren möchte. Olaf findet auch, dass wir das tun sollen, was uns glücklich macht und bedankt sich für das schöne

HGladbeck West Bf.

Mit Olaf komme ich ins Gespräch: Er erzählt mir von seinem Sohn.

genüber sitzt eine ältere Dame. Ich wiederhole mein Ritual und biete der 60-jährigen Frau mit dem braungefärbten Haar und der Dauerwelle im Steppmantel mein Lockmittel an. Sie lacht ebenfalls. Aber lehnt nicht nur kurz ab, son-dern erklärt mir, warum es gerade jetzt nicht ginge. Sie streichelt über ihren Bauch: „Gucken Sie doch mal. Sowas können sie doch nicht in der Adventszeit anbieten. Erlauben kann ich mir das gerade

nicht.“ Wir lachen zusammen und sie entgegnet mir (ich er-innere mich an meine Oma), dass ich doch noch ein paar Stücke Schokolade vertragen könnte und meine Süßigkeiten selbst behalten sollte.

zunehmen. Ohne zu schauen, wer gefragt hat, schwenkt sein Blick wieder Richtung Anzeigetafel. An der Grenze zur Peinlichkeit erfah-re ich gerade noch seinen Namen. Einen Augenblick später steht er auf und steigt in die S-Bahn Rich-tung Hattingen. Ich lasse mich nicht entmutigen, merke jedoch, dass solche Fragen nicht wirklich in Gesprächen enden. Eine kurze Antwort, mehr bekomme ich aus niemandem raus.

Schokolade, wer liebt sie nicht und wer will sie nicht? Richtig. Daher packe ich mir eine Hand voll süßer Versuchungen in meine Jackentasche. Ich setze mich an den Bahnsteig in Essen und hole die, wohlgemerkt eingepackte, Schokolade raus. Nun öffne ich ei-nen der kleinen Schokoriegel. Die vielleicht 35-jährige Frau mit der blonden Igelfrisur schaut mich an, blickt gierig auf meine Schokola-de. Nett, wie ich (heute) bin, biete ich ihr etwas aus meiner Scho-ko-Sammlung an. Sie schaut mich

Essen-Borbeck Bf.

lich und unsere Wege trennen sich.Phase 3 hat nicht so gut geklappt wie erwartet. Mein süßes Angebot hat die Stim-mung zwar aufgelockert, aber angenommen hat es niemand. Mir kommt Mamas Satz ‚Neh-me nichts von Fremden an‘ in den Sinn. Gegen die Erziehung komme ich mit meiner Freund-lichkeit nicht an. Zwar sehe ich meiner Meinung nach nicht so aus, als ob ich giftige Schoko-riegel verteile, gegen ein aus-geprägtes Misstrauen kann ich aber auch nichts machen. Nur die ältere Dame ist auf meine Geste eingegangen. Für mich ist das allerdings die Kategorie:

H

H

„Du bist einzigartig.“

18 19

Das ist doch mal ein zwar kurzes, doch sehr unterhaltsames Gespräch. Beide Seiten haben sich amüsiert. Leider steigt sie eine Station später in Essen-Borbeck aus. Sie verabschiedet sich herz-

verwundert an und lacht herzlich: „Nein danke, ich mag nichts“.

Gespräch: Nein. Gute Laune: Ja. Das ist doch schon mal ein Schritt nach vorne. Als die Frau mit der Igelfrisur in ihren Bus eingestie-gen ist, versuche ich es erneut. Ein junger Anzugträger mit schwar-zen Haaren setzt sich neben mich. Wieder hole ich die Schokolade raus, beiße genüsslich in den Riegel und biete sie an. Auch hier bekomme ich nicht mehr als ein fröhliches Lachen und ein „Nein, danke.“

Jetzt steige ich in die S-Bahn und versuche es dort. Mir ge-

Senioren, die sich immer viel und gerne unterhalten.

Okay, ein Lächeln können meine Sitznachbarn ignorieren, eine Frage nur kurz beantworten und Schokolade einfach ableh-nen. Aber wie reagieren meine Mitfahrer, wenn ich ihnen buch-stäblich ein Kompliment in die

zu oft angesprochen, deswegen habe sie auf Gespräche und solche Aktionen keine Lust. Den anderen Mitfahrern entgleitet nicht mal ein kleines Lächeln. Ich weiß nicht mal, ob der an der Scheibe kleben-de Typ mit den fetten Kopfhörern überhaupt bemerkt hat, was passiert ist. Inte-resse an meiner Aktion? Fehlan-zeige. Ein Einstieg ins Gespräch? Erst recht nicht! Aber vielleicht bin ich gerade in einem zu schlecht gelaunten Abteil. Soll es ja geben. Also ziehe ich weiter. Ich steige kurz aus und zwei Türen weiter wieder ein. Ich will über-raschen. Mein Blick schweift ein paar Sekunden durch das Abteil und bleibt bei einem Mädchen mit rosa Strickmütze, dickem Schal und Brille hängen - bestimmt eine Studentin. Also setze ich mich zu ihr und ziehe einen passenden Zettel aus meiner Jackentasche: „Du bist einzigartig.“ Und über-reiche ihn ihr. Sie lächelt. Schaut mich aber skeptisch an. Vorerst keine Reaktion.

Neben mir sitzt noch ein un-scheinbarer Teenager mit schwar-zen Haaren. Auch er bekommt einen Zettel von mir: „Du bist was Besonderes.“ Er freut sich wirklich sehr und schmunzelt noch ein paar Sekunden nach mei-ner Übergabe. Gute Laune habe ich verbreitet, kommt vielleicht

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Sex?Nein, danke.

Text & Bilder : Lutz Niemeyer

Phänomen Asexualität: Wie ist es,wenn ich keine Lust auf Sex habe?

Beziehung? Kinderwunsch? Marion erzählt aus so einem Leben.

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Ich hatte noch nie einen Orgas-mus“, sagt Marion (26), als wäre es das Normalste der Welt. In dieser Sekunde haben 2768 Paare weltweit Sex. Das Herz rast. Der Atem geht schneller. Sie haben einen Orgasmus, fühlen das voll-kommenste Glück. Eine Ekstase, die sie voll und ganz befriedigt. Aber Marion interessiert sich einfach nicht für Sex. Den Akt der Liebe. Sie hat noch nie verstan-den, warum „es“ überhaupt so ein Thema ist. Wenn sich ihre Freun-dinnen über Spielzeuge unterhal-ten, macht es bei ihr erst am Ende des Gesprächs Klick. „Hier geht es gar nicht um Brettspiele.”

Marion ist asexuell. Die meisten Frauen beschweren sich schon nach einer kurzen Durststrecke des Singledaseins. Ohne Sex. Ohne Leidenschaft. Was für die meisten ein echter Albtraum wäre, ist für Marion völlig in Ordnung. Sie hat kein Verlangen nach Sex. Sie braucht keinen Ge-schlechtsverkehr. Keine intimen Zärtlichkeiten. Keinen Orgas-mus. Wie kann das sein? Führt so jemand eine Beziehung? Und wenn ja, wie? So ganz ohne Sex? Was ist mit einem Kinderwunsch? Fragen über Fragen.

Marion ist Single, 1,68 groß, knallrote Haare, kräftige Statur. Ihre bisher einzige Beziehung

hielt dreieinhalb Jahre. Mit Sex. „Für meinen Freund gehörte das dazu“, sagt Marion, während sie im Schneidersitz auf dem Sofa in ihrer Studenten-WG sitzt. Und sie will sich da auch nicht verschließen, es wenigstens mal probieren. „Ich habe vorher schon gedacht, dass ich das nicht brauche, dass das Thema für mich langweilig ist.“ Dennoch schläft sie mir ihrem Freund, den sie liebt. „Und danach habe ich mich nur bestätigt gefühlt: Sex ist ein-fach nichts für mich.” Sie zuckt mit den Schultern: „Ich hatte in meinem Leben noch nie einen Or-gasmus.“ Keinen Höhepunkt. Sie hat noch nie dieses unglaubliche Gefühl verspürt.

„Ein klassisches Vorurteil gegenüber Asexuellen ist immer, dass wir noch nie richtig guten Sex hatten und deshalb kein Verlangen danach haben.“ Marion verdreht die braunen Augen. Dieses Klischee nervt sie. Sie ver-misst dieses Gefühl nicht. Durch Selbstbefriedigung ist Marion auch noch nie „gekommen“. „Ich probiere das wirklich so ungefähr einmal im Jahr“. Sie nippt an ihrem Wasserglas. Ihr wird bei der Selbstbefriedigung aber schon bei der Stimulation „langweilig“, sie bricht ab.

Nach und nach stellt Marion fest, dass sie anders fühlt. Bei

Gesprächen mit den Freundinnen, in der Beziehung, in der Werbung: Überall geht es um Sex. Und sie ist nicht daran interessiert?

Marion hat sich im Internet auf die Suche gemacht, wollte wissen, ob es nur ihr so geht. „Ich habe einfach mal ‚Keine Lust auf Sex‘ bei Google eingegeben.“ Und manchmal ist stumpf auch Trumpf: Die Suchmaschine spuck-te das AVEN-Forum, das Asexual Visibility and Education Network, aus. Hier treffen sich Asexuelle online, tauschen sich aus und diskutieren über Vorlieben und Abneigungen. Marion findet eini-ge Berichte asexueller Menschen, in denen diese ihre Einstellung zu Sex und Liebe beschreiben. „Und da habe ich gemerkt: Das ist genau meine Meinung, so sehe ich das auch!“ Marion wird klar: Ich bin asexuell.

Heteroromantisch

Aber es gibt verschiedene Ka-tegorien. Als „heteroromantisch“ definiert sich Marion selbst. Das heißt, dass sie gerne eine roman-tische Beziehung führen möchte, aber eben ohne Sex.

Andere Asexuelle sind gänzlich unromantisch und wollen gar keine Beziehung. Und dann gibt es noch Menschen, die schon vor Berührungen zurückschrecken, die „Antisexuellen“. Es gibt außerdem noch Asexuelle, denen Sex Spaß macht. Sie verspüren nur einfach nicht das Verlangen danach. Diese Menschen sind dann „sexpositiv“.

Marion will eins direkt klar-stellen: „Wer keinen Sex möchte, weil er ein traumatisches Erleb-nis hatte, ist nicht asexuell.“ Sie sehe Asexualität als eine sexuelle Ausrichtung, wie es eben He-

tero- oder Homosexualität auch sei. Ihre Asexualität komme also nicht durch Erziehung oder ihre Vergangenheit.

Vorurteile

Marion sieht es eher so: „Viele Menschen haben Interesse an Fußball als ein Hobby. Wieder andere können die Begeisterung dafür gar nicht verstehen.“ So ist es auch bei ihr und Sex. Sex macht Marion keinen Spaß, „und wenn ich mit mei-nem Freund Sex hatte, hat es sich für mich angefühlt, als ob ich ihn belügen würde. Weil ich es eben nicht wirklich genossen habe.“

Wann immer sie diese Beschreibung gibt, muss sie sich viele Sprüche anhören. „Du hast nur noch nicht den Rich-tigen gefunden“, „du bist einfach nur prüde“, „das ist ein hormonelles Problem“, oder auch „du bist nur zu hässlich und willst nicht einsehen, dass du nieman-den abbekommen würdest“, sind nur ein paar davon. Marion kann das alles für sich ausschließen. Gerade im Austausch mit anderen Asexuellen sei ihr immer wieder klargeworden, dass Asexualität real ist. Das Verlangen nach Sex ist einfach nicht da - und das ohne tiefgreifende Gründe. „Das ist

ein Problem in unserer Gesell-schaft: Viele wissen nicht, dass es Asexualität gibt.“ Marion glaubt, dass sich mehr Menschen dazu bekennen würden, wenn sie den Begriff und die Umstände kennen und wüssten, „dass es ganz nor-mal ist.“

Marion sagt selbst, dass sie sich wieder einen Partner wünscht. Für viele Menschen gehört Sex zu einer Beziehung nun mal dazu. Marion möchte aber nur eine romantische Beziehung, in der gekuschelt wird. Wo hören die Zärtlichkeiten auf, was sind die Grenzen? „Händchen halten oder Zungenküsse brauche ich

zum Beispiel nicht“, sagt sie und überschlägt ihre Beine. Beides würde sie in Kauf nehmen, dem Partner zuliebe. Wenn sie sich vorher mit ihm darauf einigt. Denn Marion kann sich durch-aus vorstellen, wieder mit einem Mann eine Beziehung zu haben. „Nur eben ohne Sex, das muss vorher geklärt sein.“ Und genau da sieht Marion die Schwierig-keit. „Ich will keinen Partner ins Zwangszölibat schicken. Das geht auf Dauer nicht gut.“ Wie könnte die Lösung aussehen? Im Opti-malfall natürlich einen ebenfalls asexuellen Partner finden. Dass das allerdings schwierig wird, ist Marion klar. Sie hat sich bereits viele Gedanken gemacht, wie eine erneute Beziehung mit einem nicht-asexuellen Partner laufen kann. „Es gibt zum einen die Möglichkeit, dass ich ihn oral befriedige“, überlegt Marion. Das

wäre wie ein Spiel. Nur, dass sie dieses Mal vorher weiß, worum es geht. Eine andere Option sei eine offene Beziehung. Der Partner hätte in dieser Konstellation mit einer anderen Frau Sex, könnte sein Bedürfnis so befriedigen. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob das gut geht“, zweifelt sie. Schließlich könnten Gefühle ent-stehen oder sie könnte eifersüch-tig werden. Denn emotional darf

die Beziehung ja schon sein.

Kinderwunsch

Muss der neue Partner denn männlich sein, wenn Sex in der Beziehung keine Rolle spielen soll? „Für mich schon. Ich kann mir eine romantische Beziehung mit einer Frau nicht vorstellen“, sagt Marion klar.

Zumal ein weiteres Thema im Raum steht:

Marion möchte einmal Kinder. Und der Knack-

punkt ist: „Eine künstliche Befruchtung finde ich eigentlich

nicht gut.“ Sie lacht: „Mir gefiel die Vorstellung eigentlich immer, dass Kinder vom Storch gebracht werden.“ Das ist aber nicht so, auch der Weihnachtsmann ist Wunschdenken. Was also tun? Marion würde mit einem poten-ziellen Vater schlafen, um ein Kind zu bekommen, beziehungs-weise „ein Kind zu produzieren“, wie sie es klinisch ausdrückt. Sie will sich aber auch noch anderen Optionen umschauen. Marion hat sich bereits viele Gedanken zum Thema Kinder gemacht, dabei kommt sie auf ungewöhnliche Konstellationen. „Ich könnte mich beispielsweise mit einem schwu-len Pärchen zusammentun. Dann hätte das Kind drei Eltern“, stellt sie in Aussicht, falls sie keinen passenden Partner für ihr Leben und ein Kind findet. Ein Wunsch-kind wird Marions Nachwuchs also auf jeden Fall werden, denn aus Versehen schwanger wird sie wohl kaum.

QUERSCHREIBER SEX? NEIN, DANKE.

23Die „verkehrsfreie Zone“ mal anders interpretiert.

Schwarz, grau, weiß, lila: Die Flagge der Asexualität.

„Es ist ganz normal.“

„Ich bin asexuell.“

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// jant

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Posten statt prosten

Du bist süchtig. Ich bin süchtig. Wir sind süchtig. Das Smartphone hat

uns in der Hand. Ein Text über eine der gesellschaftsfähigsten

Abhängigkeiten des 21. Jahrhunderts.

Text & Bilder: Tim Schmidt

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QUERSCHREIBER POSTEN STATT PROSTEN

19 29

dass sie von einem der penet-rantesten Parasiten der Neuzeit befallen sind, kümmern sie sich nicht um ein Pestizid, um ihn zu schwächen. Sich keine Gedanken darüber zu machen, was für einen enormen Einfluss die Endfunkge-räte haben und wie die Situation in Zukunft aussieht, wenn die Nutzung weiter exponentiell an-steigt, wäre schlichtweg ignorant. Wie sich die Geräte in unsere tägliche Routine eingenistet ha-ben - vor allem was für Folgen das Ganze hat, kann man an mehr als nur einem Beispiel sehen.

All day, all night

Den Schlaf noch nicht einmal richtig aus den Augen gerieben, gleitet der linke Arm tastend Richtung Nachttisch, um nach dem stetigen Begleiter zu greifen. Das Smartphone vom Strom ge-trennt, angeschaltet und auf geht es in das virtuelle „Vergnügen“. Mails checken, Snapchat, Whats-App und Instagram. Ein Blick in die Bahn am Morgen: So gefesselt, als ob im nächsten Moment die Nachricht eines Millionen-Lot-togewinns auf dem Handy auftaucht, starren die Menschen wie seelenlose Hüllen auf die flimmernden Displays. Der Tag bricht währenddessen draußen langsam und von den Menschen unbemerkt an. Eine ältere Frau, mit Gehstock ausgerüstet, steigt

ein. Sie wankt beim Anfahren der Bahn – doch niemand bietet ihr einen Sitzplatz an. Eine jüngere Frau mit Kinderwagen steigt aus – doch niemand fragt, ob sie Hilfe benötigt. Auf der Arbeit: tindern statt tippen. Abends beim Bier mit Freunden: posten statt prosten. Wieder im Bett angelangt: Selfie statt schlafen. Aber genug des Alliterationsbombardements.

Rund 50,2 Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland jeden Tag online. Davon nutzen rund 30 Prozent das Internet ausschließ-lich mobil. Das sind so viele, dass es mit Sicherheit sinnvoll wäre, Airbags an den Handys zu installieren, um „Stoßunfälle“ sanfter zu gestalten. Einige Städte in England gehen schon mit gutem Beispiel voran und stellen vermehrt gepolsterte Laternen und Poller auf.

Wer im Glashaus sitzt, fällt ja bekanntlich selbst hinein - oder so ähnlich. Wenn ich mir mein alltägliches Handynutzungs-verhalten ansehe, kann ich auch eine gewisse Abhängigkeit erkennen. Aber ist ja gar nicht so schlimm, machen ja alle, und wenn Thommy von der Klippe springt... von wegen. Es ist schon sehr fragwürdig, wenn man ein komisches Gefühl bekommt, sobald der stetige Begleiter in der rechten Hosentasche fehlt.

POSTEN STATT PROTEN

Throwback in die sechziger Jahre: Mal angenommen, unsere Groß-eltern hätten in einer netten Run-de ein wenig rumgesponnen und bei einer erfrischenden Libella-Li-monade im Konjunktiv gedacht. Dabei hätten sie sich vorgestellt, dass der zukünftige Kommunika-tionsmittelpunkt der Jugend ein kleines Gerät namens Smartpho-ne ist. Dieses Gerät wäre dann so etwas wie die Nabelschnur zum gesamten sozialen Umfeld. Das sogenannte Smartphone würde in die Hosentasche passen und hätte eine höhere Rechenleistung als der Apollo Guidance Computer, der damals für das Apollo-Mond-landungsprogramm entwickelt wurde. So ein Irrsinn hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit für viel Gelächter gesorgt.

Wäre das Szenario noch ein wenig weitergesponnen worden und unsere Großeltern hätten sich Gedanken darübergemacht, dass man sich in aller Regelmäßigkeit von rechts oben auf Armeslänge in Porträt-Form selbst fotogra-fiert, um dafür virtuelle Daumen

nach oben zu kassieren, so hätte sich die Runde vermutlich kaputt-gelacht. Oder wie lustig wäre es denn bitte, wenn es zum zukünf-tigen Zeitgeistphänomen werden würde, das Menschen ihr Essen fotografieren und es als Stillleben festhalten, bevor sie es verspeisen. Absurd.

Traurig und antisozial

So lustig sich dies damals angehört haben muss, ist es heute leider absolut nicht. Angemessene Adjektive für die Entwicklung des Kommunikationsmittelpunktes Smartphone sind eher: traurig, besorgniserregend, antisozial und süchtig. Kaum ein Jugendlicher ist heutzutage nicht betroffen von einer, wie sie von Exper-ten genannt wird, Nomophobie (No-Mobile-Phone-Phobia). Handys sind das neue Heroin. Um zu verstehen, wie sich diese Sucht

parasitenartig durch den Organis-mus unserer Gesellschaft fressen konnte und mittlerweile von so gut wie jedem konzediert wird, muss ein wenig weiter ausgeholt werden.

Ciao, ciao Nokia 3210

Im Januar 2007 veröffentlicht Apple das erste Iphone aka den Prototypen des Schweizer Ta-schenmessers für das 21. Jahr-hundert, getreu dem Motto: Hab mich immer bei dir, ich bin immer nützlich. Es wird feierlich ver-sprochen, das Gerät soll unseren Alltag verbessern und ein Benefit für die soziale Vernetzung sein. Sieht man sich den ersten Wer-bespot für das Gerät an, so wirkt eine besondere Leichtigkeit auf den Zuschauer ein. Bunte Farben, eine entspannte Stimme aus dem Off und ein weißer, ruhig wirken-der Hintergrund. Das Verständnis vom klassischen Handy wird mit der Veröffentlichung des Iphones radikal über den Haufen gewor-fen. Auf einmal schienen die damals den Markt beherrschen-den Handys wie das Nokia 3210 altbacken und zurückgeblieben.

Mario löst Snake ab

Auf einmal war der einzige Vorteil an den alten Geräten die exorbitant gute Akkulaufzeit. Der Schwarz-Weiß-Klassiker Snake wird von Mario Kart 3D abgelöst. Das Simsen durch WhatsApp. Die Kommunikation durch einfaches Telefonieren von einer totalitären Vernetzung, aufgrund der Mög-lichkeit auch unterwegs auf sämt-liche soziale Netzwerke zugreifen zu können. Vermutlich ahnt Apple selbst in diesem Moment nicht einmal, was für eine schwerwie-gende Reformierung der Launch des Geräts verursacht. Das Smart-phone soll einen nicht mehr nur durch den Alltag begleiten, es soll ein Teil des Alltags werden. Das wird es, auf eine gruselige Art und Weise. Obwohl die meisten Menschen sich im Klaren darüber sind,

Bis zu zwei Stunden hantiere ich täglich mit dem Gerät rum. Im Durchschnitt in kurzen 30 Sekun-den-Intervallen. Rund 80 Mal am Tag. Die meiste Zeit verbringe ich dabei auf WhatsApp und diversen Nachrichtenportalen. Gemessen habe ich mein Nutzungsverhal-ten nicht mit einer altmodischen Strichliste, sondern ironischerwei-se mit einer, wie könnte es anders sein: App.

Diese nennt sich Menthal und zeichnet alle Aktivitäten, die man mit dem Handy ausübt, auf. Doch nicht nur ich bin auf die Idee gekommen, mein Handy-nutzungsverhalten mit der App zu messen. Mit mir sind es über 150.000 Menschen, die sich die Applikation kostenfrei herunter-geladen haben. Die Auswertung von 500 Nutzerprofilen zeigt: Die Mehrheit nutzt ihr Smartpho-ne über zwei Stunden am Tag.

Abgeglichen mit dem Selbsttest auf „www.onlinesucht-ambulanz.de“ ergab die Analyse meines Nutzungsverhaltens: nicht süch-tig! Super, da habe ich ja noch mal Schwein gehabt, aber irgendwie fühle ich mich nicht nicht süchtig.

„Smartphonesucht“ - Wann ist es soweit?

Fachkreise sprechen bei einer Mediensucht von einem patholo-gischen Mediengebrauch, zu dem u.a. auch das Medium Smartpho-ne zählt. Dieser hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen, auch aus dem Grund, dass er mittlerweile als diagnos-tizierbare Krankheit gilt. Es ist schwer in Zahlen auszudrücken, inwieweit die Entwicklung von

QUERSCHREIBER

„Auf dem Lokus mit

dem Handy: moderner Mo-dus vivendi.“

Klaus Klages

Omnipräsent: Auch im Bettgeht es nicht ohne.

Das Smartphone hat uns in der Hand.

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QUERSCHREIBER

neuen Technologien wie dem Smartphone die pathologische Mediennutzung beeinflusst. Es besteht allerdings ein Zusammen-hang. „Fakt ist, dass Patienten aus diesem Abhängigkeitsbereich unsere Beratungsstellen vermehrt besuchen“, sagt die staatlich aner-kannte Sozialpädagogin Katharina Krykon von der Evangelischen Suchtberatung Rostock. Psychisch kann sich eine Abhängigkeit von dem Medium entwickeln. Je nach Ausmaß der Sucht kann sogar eine stationäre Behandlung von Nöten sein. Mittlerweile gibt es Kliniken, die sich auf diese Art von modernen Süchten spezia-lisiert haben, eine davon ist z.B. die Median Klinik Schweriner See. Diese behandelt seit über 20 Jahren Patienten im Bereich der Psychosomatik und Sucht.

Aber auch physisch kann der übermäßige Smartphonegebrauch Folgen haben: Schlafmangel,

Konzentrationsschwäche, Ess-störungen. Jeder Patient, der an Katharina Kryon herantritt, hat ein anderes Nutzungsprofil. Alle Fälle sind intensiv und schwer zu behandeln. In der Intensi-tät unterscheiden die Fälle sich grundsätzlich durch die Folgen der entstandenen Sucht. „Eini-ge Menschen schaffen es noch relativ folgenlos, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Bei anderen geht die Sucht soweit, dass es zu einem Verlust von sozialen Kontakten oder sogar dem Arbeitsplatz kommt.“ Kyron betont weiter: „Es ist sehr wichtig, klar darüber zu informieren, dass es eine Gefahr birgt, wenn der Smartphonegebrauch ein gesun-des Maß überschreitet. Stichwort Medienkompetenz.“

„Flavius“ spricht über seine Sucht

Ich will mit einer betroffe-nen Person sprechen und werde fündig. Unter dem Pseudonym „Flavius“ berichtet mir ein Betroffener auf der Seite „ak-tiv-gegen-Mediensucht.de“ von der Auswirkung des Smartpho-nes auf seinen Alltag. „Es wird immer schlimmer, früher war ich mehr draußen. Früher habe ich auch mehr gelesen oder viel mit meinem Zwillingsbruder oder meinen Schwestern unternom-men. Mir fällt auf, dass ich immer antriebsloser werde, nervöser bei Vorträgen. Ich hänge immer mehr am Smartphone, an manchen Tagen bis zu fünf Stunden. Insbe-sondere nachts“, schreibt mir der Suchtkranke. Und ergänzt: „Am nächsten Tag in der Schule bin ich dann unglaublich müde, das war am Abend vorher noch anders, vor dem Smartphone abhängen macht

mich irgendwie glücklich. Zum Psychologen oder in eine Klinik will ich nicht. Ich will das alleine schaffen.“

Die Armbanduhr hilft

Sollte man bei der Ausfahrt Medienkompetenz – „Wie gehe ich richtig mit meinem Handy um?“ - gerade geschlafen haben, hier einige Do’s, um die ganze Nummer wieder unter Kontrolle zu bekommen. Legt euch einen Wecker zu, das Smartphone sollte nicht das erste sein, was ihr mor-gens in der Hand habt. Kauft euch eine Armbanduhr, damit erspart ihr es euch jedes Mal beim Che-cken der Uhrzeit auf euer Mobile Device zu schauen. Schaltet eure Alarmtöne aus, so fühlt ihr euch nicht bei jedem „BING“ oder „KLING“ davon genötigt, auf euer Handy zu schauen. Nehmt euch bewusst handyfreie Phasen. Schaltet euer Smartphone bei wichtigen Tätigkeiten aus. Beim Lernen z.B. ist analog meistens besser als digital.

Zusammengefasst: Smartpho-nes bringen nicht nur die beson-dere Leichtigkeit mit sich, wie es in dem ersten Werbesport von Apple vermittelt wird. Smartpho-nes können abhängig machen. Wenn ihr feststellen solltet, dass das Gerät euch in der Hand hat, und nicht anders herum, und wirklich keine Regulierungsmaß-nahme mehr hilft: Sprecht mit eurem Arzt oder Apotheker.

Kauft euch eine Arm-banduhr.

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Die Selekteurin

Türsteher heißen jetzt Selekteure. Was Frau vor der Discotür erlebt,

habe ich einen Abend langam eigenen Leib erfahren.

Als Türsteherin zwischen Pöbeleien, Ausweiskontrollen und

Alkoholeskapaden.

Text: Kira AlexBilder: Erik Asmussen

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QUERSCHREIBER

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ne schon wegen der fehlenden Körperkraft.“ Ist klar.Ist Körperkraft wirklich die einzige Qualifikati-

on, die man als Türhüter vorweisen muss? Können Frauen nicht auch in einigen Situationen deeskalierend wirken, ähnlich wie bei der Polizei? Nadine kann mir diese Frage am besten beantworten, schließlich steht sie schon seit sieben Jahren vor den Türen zahlrei-cher Nachtclubs. Ein echter Profi also. Sie und ihr Mann Sven haben nicht nur den gleichen Job, sondern gleichen sich auch in ihrer breiten und großen Statur. Außerdem hat Nadine viele Tattoos und kurzgeschore-ne blonde Haare. Sie klärt mich auf: Die Bezeichnung „Türsteher“ sei nicht korrekt - „Selekteure“ heißt es richtig. Selekteure sind also die neuen Türsteher.

Kollegen als Wachhunde

Dumme Kommentare kriegt die „Selekteurin“ häu-fig, manchmal sind die Sprüche auch unter der Gürtel-linie. Trotzdem fühlt sie sich nie unsicher. „Natürlich bin ich körperlich schwächer als meine Kollegen. Aber wenn eine Situation wirklich eskaliert, sind die Jungs auch direkt da. Die sind wie Wachhunde. Trotzdem muss man einiges abkönnen“, erzählt Nadine. Sie ist stolz auf einen Job in einem männerdominierten Beruf,

„Dumme Kommentare muss man abkönnen und sich ein dickes Fell

wachsen lassen.“

kontrolle bei den Mädels. Ich nehme mir ungefragt das Recht, einfach in die Privatsphäre von Fremden einzu-greifen. Logisch, dass die Frauen und Mädels genervt sind. Gereizt reißen sie mir ihre Taschen wieder aus der Hand.

Pappenheimer sind bekannt

Zeit für das erste Zwischenfazit: Bisher war meine Türsteher-Erfahrung einfach nur unangenehm. Zwi-schendurch beobachte ich meine Arbeitskollegen – die Profis – bei der Selektion. Um kurz vor Mitternacht wird das erste Mal jemand nicht in den Club gelassen. Ich bin verwundert, denn ich konnte keine Anzeichen von einer Übermenge Alkohol erkennen. Auch sonst hat sich der junge Mann eher ruhig verhalten. Ich frage nach. „Schon mehrmals hat sich der Typ hier schlecht verhalten. Wir vergessen hier kein Gesicht. Wer negativ auffällt, wird verwarnt. Passiert das aber öfter, kommst du halt mal nicht rein“, erklärt Sven. Anscheinend gehört zur Selektion nicht nur das Auge für korrektes Verhalten, sondern auch Erfahrung. Die Leute vorm „Ballermann“ kennen ihre Pappenheimer, schließlich stehen sie jedes Wochenende vor der Dis-cotür. Ob es richtig ist, nur aufgrund von Erfahrungen jemanden nicht reinzulassen, bleibt dahingestellt.

Um kurz vor 1 Uhr erreiche ich den Höhepunkt von unangenehm. Bei einem Junggesellenabschied soll ich beim zukünftigen Bräutigam eine Leibesvisitation un-ternehmen und fühlen, ob er unerlaubte Gegenstände dabeihat. Das scheint nicht nur der Junggeselle lustig zu finden, sondern auch seine Freunde und die anderen Gäste in der Schlange. Immer deutlicher wird mir klar, dass der Job nichts für mich wäre.

Dumme Sprüche bekomme ich aber trotzdem kaum und auch freche Anmachen bleiben eher selten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Alltag einer Türste-herin immer so ist. Zum Glück kennen meine Kollegen eine echte Expertin vor der Tür: Nadine – die Frau von Obertürsteher Sven. Der stellt direkt mal eines klar: „Frauen können den Job nicht so gut wie Männer, allei-

Samstagabend, 22 Uhr. Der „Ballermann“ öffnet und mein Experiment beginnt. Samstags ist immer besonders viel los - der optimale Abend also für den Selbstversuch. Da es aber erst ab 23 Uhr richtig voll wird, habe ich vorher noch Zeit, mich von meinen Kol-legen briefen zu lassen. Die warnen mich gleich vor: „Das Publikum hier ist speziell, da kann es schon mal vorkommen, dass Flaschen auf uns geworfen werden.“ Der Respekt vor der Aufgabe steigt. Mir wird schnell klar - für den Job brauche ich ein dickes Fell.

Die ersten Gäste - ich werde nervös

Dann wird es ernst. Die ersten Partygruppen nähern sich dem Clubeingang. Ich werde nervöser und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Muss ich jetzt schon entscheiden, wer reindarf oder nicht? Mein „Chef“, Sven, hat mir noch keine Anweisungen gegeben. Sven ist sehr groß, breit gebaut und hat einen Bart. Genau so habe ich mir den Stereotyp Türsteher vorgestellt. Mit leicht arrogantem und routiniertem Blick scannt er die Partygänger. Kommentarlos winkt er sie durch und kontrolliert die Ausweise. Ich kann kein Muster erkennen, wonach er entscheidet, wer reindarf.

Ehrlich gesagt fühle ich mich fehl am Platz. Bis-her konnte ich kaum mithelfen und die Partygästen nehmen mich eigentlich überhaupt nicht wahr. Sven auch nicht. Auch mit meinen anderen Kollegen rede ich nicht. Mir ist kalt und langweilig. Das hatte ich mir spannender vorgestellt. Alleine stehe ich am Rand des Eingangs. Der nervige Maschinennebel zieht von der Tanzfläche nach draußen. Da würde ich jetzt lieber sein als hier draußen vor der Tür.

Welche Kriterien sind richtig?

Dann endlich, mein erster Auftrag: Ich soll bei der nächsten großen Gruppe die Selektion, Ausweis- und Taschenkontrolle übernehmen. Das kommt unvorbe-reitet. Ich fühle mich ein bisschen verloren und weiß nicht, nach welchen Kriterien ich entscheiden soll. Ich beschließe: Wer noch nicht betrunken ist, kommt rein. Unsicher kontrolliere ich die Ausweise und ernte dafür ein paar komische Blicke der Sorte „Was macht die denn hier?“. Am unangenehmsten ist mir die Taschen-

Alles in schwarz. Schwarze Lederjacke, Jeans und Schal. Dazu Turnschuhe. Das ist meine Arbeitsuniform für den Abend. Heute Abend bin ich Türsteherin. Allein unter Männern. Heute entscheide ich, wer reindarf und wer nicht. Über mein Outfit habe ich mir viele Gedanken gemacht - ist schwarz zu düster oder genau richtig? Ich möchte wegen meiner Kleidung keine dummen Kommentare bekommen, daher kleide ich mich eher unauffällig. In schwarz.

Mein Arbeitsplatz für heute Abend: Der „Baller-mann 6“ in Mülheim. Ich selbst war dort vorher nie feiern, daher scrolle ich über die Facebook-Seite des Clubs und arbeite mich durch einige Besucherbei-träge. Immer wieder stoße ich auf negative Posts, überwiegend zu den Türstehern. „Grundlos nicht reingekommen“ oder „Türsteher erteilen Hausverbot ohne Grund“ sind nur zwei Beispiele. Die Gäste sind anscheinend nicht gut auf die Männer vor der Tür zu sprechen. Was ist mit mir? Werde ich als Frau anders wahrgenommen in einem Beruf, in dem sonst fast nur Männer arbeiten? Werde ich respektlos behandelt und muss dumme Kommentare oder sogar Anmachen einstecken?

Wer noch nicht betrunken ist,

kommt rein.

DIE SELEKTEURIN

Du kommst hier rein: Ich kontrolliere das Alter eines Besuchers.

Die Leibesvisitationist mir verdammt

unangenehm.

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einer wirft ein Glas zu Boden. Sie beginnen laut zu diskutieren. Eine Schubserei bricht aus, in die automa-tisch auch andere involviert werden. Sven und seine Kollegen werden per Funk kontaktiert. Sofort rennen sie Richtung Tanzfläche und packen sich die Jungs und zerren sie weg von den anderen Partygästen. Ein Kol-lege kümmert sich um die zwei Mädels, die herumge-schubst wurden. Ich halte mich zurück, bin schockiert und zugeben auch ein bisschen ängstlich. Ich helfe meinen Kollegen nicht, zu viel Respekt habe ich vor der Situation. Dass es noch so aufregend wird, hätte ich zu Beginn nicht gedacht.

Feierabend - endlich

Um kurz nach 3 Uhr hat es sich wieder beruhigt. Ich habe Feierabend. Ein langer Arbeitstag geht zu Ende. Ich bin müde und bis auf die Knochen durchgefroren – anscheinend bin ich keine geborene Selekteurin. Trotz-dem nehme ich einiges aus dem Abend an der „Baller-mann“-Tür mit. Mir ist klar geworden, dass mehr zum Job gehört als ein arrogantes „Du kommst hier nicht rein“. Es geht um Sicherheit und Schutz der Gäste. Und darum, sich von Pöbeleien nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Nicht nur Frauen bekommen blöde Sprüche, auch die Männer müssen Hasskommentare einstecken. Türsteher - ein Job mit Verantwortung. Egal, ob als Mann oder Frau.

auch wenn man oft ein Hassobjekt für andere ist. „Na-türlich ernten wir viel Hass von den Discogängern. Das muss man einfach abkönnen und sich ein dickes Fell wachsen lassen.“

Mit einem Lächeln erzählt sie von der Arbeit, die ihr so viel Spaß mache. Am meisten gefalle ihr die Verant-wortung. Der Punkt lässt mich besonders aufhorchen, denn so habe ich noch nicht drüber nachgedacht. „Die meisten wissen nicht, was sonst zu unseren Aufgaben gehört und wofür wir noch da sind. Nie-mand denkt zum Beispiel drüber nach, wer dafür sorgt, dass in einer Notsituation alle in Sicherheit gebracht werden.“

Eskalation on the dancefloor

Eine solche Situation erlebe ich ganz spät in mei-nem Experiment, um 2 Uhr, am eigenen Leib. Auf der Tanzfläche eskaliert eine Situation. Drei sturzbe-trunkene junge Männer fangen an, sich zu streiten,

Im Briefing: Chef Sven spricht mit mir über meine Fehler.

Eskalation zur späten Stunde: Auf der Tanzfläche fliegen um zwei Uhr die Fäuste.

Türsteher - ein Job mit Verantwor-tung. Egal, ob als Mann oder Frau.

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Behinderter Artikel

„Glasknochen? Oh man, kann ich ihm überhaupt die Hand

schütteln? Umarmen? Oder zerbricht er dann?“

Text & Bilder: Jana Antkowiak

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QUERSCHREIBER BEHINDERTER ARTIKEL

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Mario leidet an Glasknochen.Mario hat Glasknochen.

Lauf doch du Idiot, mach schnel-ler!” Durch sein Headset dröhnen laute Ballersounds. Sein Blick ist streng. Wachsam. Mit seinem zar-ten Zeigefinger drückt er hektisch auf der Maus herum. Er rennt mit einem Astronautenanzug durch die Starcraft-Welt. „Verdammt, verloren! So eine behinderte Scheiße”, grölt sein Spiel-Bud-dy. Seit einiger Zeit zockt Mario Online-Spiele. Oft mit zwei Jungs aus der Schweiz und aus Österreich, Devin und Döner. Sie zocken, quatschen, schreiben. Und dann nach vier Jahren kommt zum ersten Mal die Frage nach einem Treffen auf. In der realen Welt. „Wir fahren einfach mit den Öffis und treffen uns in der Mitte?”

Aber Mario kann nicht mit den Öffis fahren.

Mario (24) leidet an Glasknochen. Er ist an den Rollstuhl gefesselt.Mario (24) hat Glasknochen. Er sitzt im Rollstuhl.

White Russian

Im Regal links neben der Tür seiner Studentenbude steht eine Menge Zeugs. Kant – „Die drei Kritiken“. Detektivgeschichte von Jim Holt – „Gibt es alles oder nichts?“ Gleich darunter eine halbvolle Havana Club. Gorbats-chow. Kahlúa, ein mexikanischer Kaffeelikör. „Möchtest du Kaffee? Ich kann dir auch einen White Russian machen.” Mario schnappt sich seinen Miniatur-Rollator und läuft in die Küche gleich neben-an. „Dubdidubdidu” summt er Rudolph the Red-nosed Reindeer vor sich hin. Seit fünf Jahren wohnt er jetzt schon allein. Steht auf eigenen Beinen – zumindest was seinen Alltag und sein Leben betrifft. Links und rechts auf den Rädern seines Rollstuhls ist ein orangenes Lichtspiel abgebildet. „Musste ich einen russischen Künstler um Erlaubnis bitten, ob

ich sein Werk verwenden darf.” Kaffeearoma zieht ins etwas zu dunkle, provisorisch eingerichte-te Wohnzimmer herüber. Seine ganzen anderen Klamotten hat er zuhause. In Duisburg. Hier in Düsseldorf ist er ja nur unter der Woche. Zum Studieren.

Einmal komplett

eingipsen, bitte

Als Mario am 1 .Juni 1993 zur Welt kommt, sagt der Arzt: „Oh, erstmal komplett eingipsen!” Ma-rio malt mit seinem Zeigefinger auf der hellen Tischplatte herum. „Meine Beine sahen ungefähr so aus... Naja, jedenfalls waren sie sehr krumm.” Als Mario geboren wird, wissen die Ärzte nicht direkt was er hat. Denn seine Krankheit ist sehr selten. In Deutschland leiden 5000 Menschen daran sind etwa 5000 Menschen betroffen. Osteogenesis imperfecta – der unvollkommene Knochen. Es wird nicht so viel Knochensubstanz gebildet wie nötig, um ein stabiles Skelettsystem zu erzeugen. Daher brechen sie sehr leicht. Es ist eine angeborene Erkrankung, für die es keine Heilung gibt.

Wie ein Astronaut

Mario hatte in seinem Leben schon unzählige Brüche. „Ich wurde schon um die tausend Mal operiert.” Eine Zeit lang hat er sich jedes Jahr die Beine gebrochen. Dann hieß es wieder Krankenhaus. OP. Stahlnägel in die Oberschenkel, die zur Stabi-lisierung dienen sollen. „Ein Be-

Mario auf seinemUni-Campus in Düsseldorf.

cken-Bein-Gips ist wirklich nicht lustig.” Mario lacht. Er konnte acht Wochen nur liegen. Und wenn es dann wieder ans Laufen ging, war es nicht so wie bei Kill Bill, sagt Mario. In dem Film liegt das Mädchen im Koma, wacht auf, schaut auf ihre Zehen und schafft es nach kürzester Zeit durch reine Willenskraft wieder auf die Beine zu kommen. Aber das sei einfach nur unrealistisch. „Nach dieser Zeit hast du keine Muskulatur mehr. Du läufst zwei Monate gar nicht, dann tastest du dich lang-sam heran, machst irgendwann wieder die ersten Schritte mit Hilfsmitteln.“ Mario hält kurz inne. „Und wenn du endlich wie-

der soweit bist und laufen kannst – dann brichst du dir einfach direkt wieder die Schenkel. Und das in Dauerschleife.“

Seit er ein Kleinkind ist, geht er zur Physio. Zur Reha. Bekommt Medikamente. Seit zwei Jahren steigt er regelmäßig auf eine Rüttelplatte. Mario lacht. „Nein, die ist nicht gegen Cellulite!” Er reißt seine dunklen Augen weit auf, sodass sich seine schwarze Hornbrille ein kleines Stück Nase abwärts bewegt. Diese Rüttelplat-ten wurden für Astronauten ent-wickelt. Wenn die monatelang im All rumschwirren, kommen die Beine nicht zum Einsatz. Auf der Erde helfen die Platten, schnell wieder Beinmuskulatur aufzubau-en. So wie bei Mario. Nur dass er nicht schwerelos ist, sondern jedes Jahr mindestens zwei Monate wegen Knochenbrüchen flachliegt. Aber immerhin: Jetzt hat er sich schon seit vier Jahren nichts mehr gebrochen. Dafür gibt es immer einen Haufen anderer „Baustel-len”, wie Mario sie nennt. „Ich schau einfach, wo es gerade am

schlimmsten ist. Rücken, Schul-tern, Arme, Beine – und das wird dann trainiert.” Mario rollt mit seinem Schreibtischstuhl rüber zum Regal und kommt mit einer Tüte Haribos wieder. „Süßes? Hanuta? Peperoni-Chips?” Früher waren auch Marios Milchzähne extrem brüchig. Da konnte er überhaupt nicht naschen. Ge-nüsslich lässt er sich einen pinken Weingummifrosch mit Daumen und Zeigefinger in den Mund fallen.

Bitch, please

Seit dem Abi hat sich für Mario sehr viel verändert. Er ist von Duisburg nach Düsseldorf gezogen. In seine erste eigene Wohnung. Geht nicht mehr zum Gymnasium, sondern studiert jetzt an der Heinrich-Heine. Damals hatte er einen Zivi oder Integrationshelfer oder Assisten-ten – „oder wie sie alle heißen” – in der Schule waren sie für ihn da, trugen die Tasche, öffneten Türen. Jetzt versucht Mario seinen Alltag eigenständig zu bewältigen. Jetzt ist Mario allein unterwegs. Und es ist eine Umstellung. Er muss sich seine Kraftreserven gut einteilen. „Wenn mir jemand die Brand-schutztür aufhält, bin ich nicht böse.” Die meisten Türen sind per Knopfdruck auch elektronisch zu öffnen. Doch einige halt nicht. Aber für die hat er mittlerweile spezielle Techniken entwickelt. Klinke drücken, Tür öffnen, zu-rückrollen, Füße zum Aufhalten

Eine Leidenschaft: Mario spielt für sein Leben gerne Gitarre.

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QUERSCHREIBER BEHINDERTER ARTIKEL

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benutzen. Was für jeden gesunden Menschen normal ist – ist für Mario eine Herausforderung. Ist für Mario auch normal auf seine Art und Weise – er kennt es ja nicht anders.

Wenn ihm eine Tür aufgehalten wird, dann nickt er freundlich oder sagt danke. „Manche feiern sich dann aber so sehr dafür, dass sie einem Behinderten eine Tür aufhalten. Besonders Typen in Begleitung von Frauen, die dann noch laut rufen: ‚Aber das hab ich doch gerne gemacht!‘ – Bitch please, ist das dein fucking Ernst?” Mario findet es cool, wenn es selbstverständlich ist. Ein Blick oder ein Nicken würde es auch tun. Mario möchte nicht der Grund für eine Heldentat sein. Dass Kinder manchmal über ihn sprechen, ist er gewohnt. „Mama, warum ist der Mann so klein? Was hat der Mann?” Das macht ihm auch nichts aus. Sagt er. Aber wenn jemand völlig Fremdes auf ihn zu kommt und ihn bewundert: „Ich find‘s voll gut, dass du auch hier bist, obwohl du invalide bist” – dann denkt Mario sich: „Und ich fänd‘s cool, wenn du öfter mal zuhause bleiben würdest.” Erst letztens wollte ihm ein fremder

Mann auf der Straße was von indischen Heilsteinen erzählen, die jede Krankheit heilen können. Wirklich jede. „Also haben alle Ärzte umsonst zwölf Jahre lang studiert?” Ein anderes Mal wollte ihm ein Fremder seine Bibel zur Erleuchtung schenken. „Ich bin ein echter Mönch”, macht Mario den Samariter nach, stöhnt und verdreht die Augen.

Memory ist out

Apropos Mönch. „Hattest du schon mal eine Freundin?” Mario schweigt. Beißt sich auf die Unter-lippe. Sein Blick wandert von der Tür zum Fenster. Er grübelt. „Wie kann ich es ausdrücken, ohne dass es, naja, unromantisch klingt? ... Es war nie was auf Dauer.” „Hatte sie auch Glasknochen?” „Ist das dein Ernst? Davon sind wir doch langsam weg, oder?” Mario hat Recht. Heutzutage gehört nicht mehr Gleiches zu Gleichem. Schwarze mit Schwar-zen. Behinderte mit Behinderten. „Behinderte sollten nicht unter sich bleiben.“ Mario schüttelt den Kopf. „Kennst du jemanden, der eine Behinderung hat? Die meis-ten kennen keinen.” Dabei sind

15 Prozent der Weltbevölkerung behindert. Mario will nicht nur als „der im Rollstuhl” abgestem-pelt werden. Das ist nicht das, was ihn als Menschen ausmacht. Ja, es klingt klischeehaft. Und jeder Behinderte sagt das in jedem In-terview, aber es ist nun mal auch Fakt. Die Behinderung ist ein Teil seines Lebens und definitiv ein auffälliges Merkmal.

Aber nicht das, was ihn aus-macht. Er ist Musikliebhaber. Konzert-„Gänger“. Spielt Gitarre und engagiert sich beim Cam-pus-Fernsehmagazin seiner Uni. Er nennt sich selbst einen „Cock-tailenthusiast” und lässt kaum einen Pokerabend mit seinen Freunden aus.

Nie erwähnt

Vier Jahre lang hat er mit sei-nen virtuellen Kollegen gespielt, gequatscht, gelacht. Die Behin-derung kam nie zu Wort. Aus gutem Grund. „Du kannst dir die Kette vorstellen, wenn ich es ihnen eher auf die Nase gebunden hätte: Bei Rollstuhl denkt jeder an den klassischen Rollstuhlfahrer, Glasknochen, äh, kann der dann überhaupt Hände schütteln? Was wäre, wenn ich ihm leicht gegen den Arm haue? Kleinwüchsig?“ Mario verdreht die Augen. „Spä-testens da ist die Vorstellungskraft am Ende. Die Menschen sollen sich nicht son Kopf machen, ich

muss halt ein bisschen aufpassen, aber, wenn was nicht geht, dann sag ich´s halt.” Doch irgendwann kam Mario nicht mehr um das Thema herum. Heute trifft er sich regelmäßig mit Devin und Döner – sie sind gute Freunde geworden. Vielleicht auch, weil es erst so spät zu Wort kam. Denn auf den ersten Blick unterschätzen ihn die Leute. Derzeit organisiert er einen Junggesellinnenabschied für seine Cousine. Es geht nach Hamburg oder Berlin, Escaperoom und Fei-ern. Und Mario geht rollt mit.

Flexibel wie Eisen

In den letzten Jahren macht sich Mario mehr Gedanken. Was wird mal aus ihm? Stellt ihn jemand ein? Bei dem ein oder anderen Praktikum konnte er schon in den Arbeitsalltag reinschnuppern. Da war er immer der Erste im Roll-stuhl. Ganz stolz präsentiert ihm sein Vorgesetzter die Behinder-tentoilette Abstellkammer. Es gab sogar zwei automatisch zu öffnen-

de Türen. Von acht. „Die sind oft so flexibel wie ne Eisenstange, die nicht erhitzt wurde.” Der Kündigungsschutz ist auch noch so ein Thema. Und wie wird eine Bewerbung geschrieben, in der die Behinderung erwähnt wird, aber nicht in jedem Absatz auftaucht. Er hat Fähigkeiten. Er ist es wert, Anpassungen zu machen. Aber es werden die Probleme gesehen. Die Fehltage. Die Umstellungen. Die mangelnden Sicherheitsbedingun-gen. Und all das betrifft nicht nur den Job.

„Letztens habe ich in einer Bar angerufen und gefragt, ob die eine Stufe vor der Tür haben. Wenn ja, ob da etwas zum Festhalten ins-talliert ist und ob die Toilette auf einer anderen Etage ist. Daraufhin fragte der Typ am Telefon ganz überrascht: ‚Warum fragen Sie sowas?‘ Ehm, weil ich Rollstuhl-fahrer bin.” Das Erste, was den meisten zum Thema Inklusion einfällt ist, dass wir schon längst Barrierefreiheit haben. „Durch Lachen wird dieser Satz zumin-

dest ein bisschen erträglicher”, kommentiert Mario bei Facebook einen Beitrag zum Thema Inklu-sion.

Sneaker. Schlappen.

Lackschuh.

Wissen. Verstehen. Nachvoll-ziehen. Das sind drei verschiedene Paar Schuhe. Und Menschen stecken alle in unterschiedlichen Schuhen. „Es sind die banalen Dinge im Alltag: Wenn ich einen Gips trage, dann sieht man das. Aber wenn ich einfach mal Rü-ckenschmerzen hab oder auch ein-fach mal keine Lust, dann denken meine Mitmenschen, es sei eine Ausrede.” Das zu verstehen und ihm nicht zu verübeln, bedeute ihm viel.

Mario hat eine Behinderung, die ihn manchmal daran hindert mitzukommen. Ja, er ist behin-dert. Und er wird behindert. Durch Hürden und klischeehaftes Denken der Menschen.

Türen stellen Mario immer wieder vor Probleme.

Die Behinderung bestimmt sein Leben.

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Mama, werd erwachsen!

Text & Bilder: Henrik Wissing

Es ist soweit: Witzige Väter und besorgte Mütter sind mobil online - rund um die Uhr. Spieleanfragen, Kettenbriefe oder

Schlumpfvideos bombadieren dein Post-fach. Was hinter dem kindischen Verhal-

ten steckt und wie du es erträgst.

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QUERSCHREIBER

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QUERSCHREIBER DIGITALE PUBERTÄT

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Deine Eltern sind in der digitalen Pubertät -

komm damit klar

Abends am Küchentisch. „Jetzt leg doch mal das Handy weg beim Essen!“ Diesen Satz hat doch jeder von uns schonmal gehört. Das Neue daran: Seit einiger Zeit richten sich diese Worte an Mama und Papa. Längst sind aus den Handy-Hassern wahre Smartpho-ne-Zombies geworden. Nirgends bist du mehr sicher. Facebook, WhatsApp und Co. – dei-ne Mutter ist jetzt online. Mit zielsiche-rem Zeige-finger tippt sie Buchstabe für Buchstabe einzeln ins Display. Ihre Gruppen heißen „Mä-delsrunde“ und „We are Family“- sie schickt Nach-richten, was das Zeug hält. Und das aus gutem Grund. Entweder sie hat ein lustiges Schlumpfvideo entdeckt oder sie will dich warnen, vor all den bö-sen Hackern und Viren. Schnell! Schick den Kettenbrief weiter oder ab jetzt kostet jede neue Nachricht drei Euro. Als wäre das noch nicht genug, sendet dir Papa alle zwei Tage seine „Best of Stammtisch Video-Sammlung“. Deine Eltern, die sich sonst so se-riös und erwachsen präsentieren, sind dir im Internet unglaublich peinlich. Woran kann das liegen? Sie befinden sich in der digitalen Pubertät.

Du erinnerst dich: Haarwuchs an schlüpfrigen Stellen, stinkende Achselhöhlen und die nervi-

gen Pickelchen. Immer Stress mit Mama und Papa. Von dem ständigen Gefühlschaos will ich gar nicht erst anfangen. Zugege-

ben, die Pubertät hat keinen Spaß gemacht, weder dir, noch deinen El-tern. Doch plötzlich ist alles anders, die Seiten ver-tauscht.

Deine Eltern pubertie-ren und du musst sie ertra-gen. Sie kämpfen nicht mit unreiner Haut oder Liebes-

kummer, es sind Kettenbriefe und Emoticons, die ihnen das Leben schwer machen. Statt Hormonen steigen ihnen Apps zu Kopf.

Der Erziehungswissenschaftler Jöran Muuß-Merholz ist Experte auf dem Gebiet der digitalen Me-dien. Er sagt: „Die Erwachsenen verhalten sich in Sachen digitale Medien heute so, wie sie es vor wenigen Jahren noch der „Jugend von heute“ vorgeworfen haben.“ Der Begriff „Digitale Pubertät“ beschreibe die Phase, den Lern-prozess, den jeder Mensch, der den Umgang mit digitalen Medien erlernt, durchlebt. In diesem

Fall sei die Jugend von heute der Jugend von gestern einen großen Schritt voraus. Muuß-Merholz hält fest: „Jeder muss durch die digitale Pubertät.“ Es gehe darum, Sachen auszuprobieren, Erfah-rungen zu sammeln und daran zu reifen.

Du hast diese Erinnerungen wahrscheinlich verdrängt, aber auch du hast diese Phase durch-lebt. Wie ein Schutzmechanismus hat dein Gehirn dich vergessen lassen, was du getan hast. Zu unangenehm, zu peinlich ist dieser Blick in die Vergangenheit. Die Selfies auf deiner Schü-lerVZ-Seite, die Nachrichten deines ICQ-Verlaufs oder deine Gruppenchats bei MSN – wir alle haben Social-Media-Leichen im Keller des Webs.

Und jetzt sind deine Eltern dran. In einer Zeit, in der die Menschheit so gut vernetzt ist wie noch nie. In einer Zeit, in der sie ihre Leichen nicht mehr so leicht loswerden. In einem Alter, in dem sie sonst so erwachsen sein müssen. In einem Alter, das pubertäres Verhalten nicht ent-schuldigen kann.

Augen zu und durch – für die Gesellschaft

Es heißt nicht umsonst digitale Pubertät. Jöran Muuß-Merholz erkennt eindeutige Parallelen zur gewöhnlichen Pubertät. Der Bil-dungsexperte für die digitale Welt sieht drei elementare Überschnei-dungen.

„Man muss da durch.“

Ob deine Eltern wollen oder nicht: Früher oder später müssen sie den

Umgang mit digitalen Medien erlernen. Dafür gibt es keine Abkürzungen. Für dich heißt das: Versuch gar nicht erst, die digitale Pubertät deiner Eltern zu stoppen.

„Für alle anderen kann diese Phase sehr anstrengend und nervig sein.“

Nichts ist schöner als ein herzer-wärmender, ganz persönlicher Glückwunsch zum Geburtstag. Von deiner Mutter. An deine Facebook-Pinnwand. Mit einem hässlichen Kinderfoto.

„Die Pubertät hat evolutions-technisch einen Sinn.“

Auch die digitale Pubertät ist ein Reifungsprozess. Sie bringt das Individuum und letztlich auch die Gesellschaft voran.

Doch bis deine Mutter dich mit Peinlichkeiten im Netz verschont, liegt ein langer Weg vor ihr. Oder vor dir? Der digitale Reifeprozess dauert ähnlich wie der analoge mehrere Jahre. Kein Grund, in Panik zu verfallen. Das Gute: Danach geht sie wahrscheinlich deutlich souveräner durch den digitalen Alltag. Viel wichtiger ist jetzt die Frage: Wie intensiv pubertiert deine Mutter?

So hart hat es deine Eltern erwischt

Vorsicht: Pubertät ist nicht gleich Pubertät. Wie sehr Körper und Geist vom Hormon-Cocktail umgekrempelt werden, unter-scheidet sich von Person zu Per-son. Die Einen kämpfen nur dage-gen an, ihren Blick nicht ständig in das Dekolleté der Spanischleh-rerin wandern zu lassen. Andere Teenies trifft es deutlich härter: Auf dem Weg der Selbstfindung brauchen sie Schreihals-Musik, bunte bzw. lange Haare oder „Die

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Der Albtraum aller Kinder: Zwei Mütter teilen Kettenbriefe.

Jöran Muuß-MerholzErziehungswissenschaftler

DIGITALE PUBERTÄT

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strengsten Eltern der Welt“ von Kabel Eins.

Was für die analoge Welt gilt, gilt auch für die digitale. Wie sehr deine Eltern am Rad drehen, lässt sich bestimmen. Gleiche Mama oder Papa ganz einfach mit den drei Härtegraden der Peinlichkeit ab, um zu bestimmen, wie heftig sie pubertieren:

Härtegrad 1:

„Krass, Mama hat WhatsApp.“

- WhatsApp-Profilbild: Mama = Blumenstrauß, Papa = Auto- Geburtstagsglückwünsche in Form eines kitschigen Bildes mit Schriftzug- Anstupsen bei Facebook

Härtegrad 2:

„Bitte hör auf, Papa!“

- Wörter werden einzeln mit Emojis geschmückt. Die Inter-pretation der Piktogramme geht dabei völlig schief. „Nein Papa,

ich bin mir sicher: Das ist kein Schokopudding mit Augen.“- Lustige Videos (mit nervigem Ton) im Jamba-Sparabo-Stil- Spieleanfragen bei Facebook

Härtegrad 3:

„Das ist nicht meine Mutter. Ich habe diese Frau noch nie gese-hen!“

- Kettenbriefe mit lustigen Ge-schichten oder Warnungen vor bösen Hackern und Viren- Selfies mit dem Selfiestick- Private Nachrichten an die Face-book-Pinnwand

Wenn es doch nur so einfach wäre

„SOS Notfall-Fibel Pubertät – Ein Ratgeber für Kinder“ - dieses Buch suchst du vergebens. In der Regel lernen die Menschen von den älteren Generationen. Wissen wird von den Erwachsenen an die Kinder weitergegeben. Das war schon immer so. Aber was nun? Jöran Muuß-Merholz kennt ein weiteres Problem: „Die Entwick-lung der digitalen Technologien läuft ja rasant weiter. Es ist also nicht so, dass wir gesellschaftlich und individuell einfach da durch-müssen und dann wieder Ruhe haben. Möglicherweise müssen wir uns an diesen Zustand des Ausprobierens und Übens gewöh-nen.“ Digitale Medien erfordern einen ständigen Lernprozess, ein permanentes up-to-date-sein. Wenn du so willst, ist es ein Wettlauf. Neben der richtigen Geschwindigkeit brauchst auch genügend Ausdauer. Während du jung und frisch in der Spitzen-gruppe rennst, ist dein Vater der kleine, dicke Junge mit Asthma, der zwei Runden hinterher hängt.

Ertragen und ertragen werden

Deine Eltern haben dich jahre-lang ertragen, wahrscheinlich tun sie das noch heute. Jetzt musst du sie ertragen, aber mach es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist. Du kannst ihren Lernprozess

„Ein ständiges up-to-date-

sein“

beschleunigen, ihnen die ein oder andere Peinlichkeit ersparen. „Kinder haften nicht für ihre Eltern“, sagt Muuß-Merholz. Da hat er natürlich recht, aber soweit muss es gar nicht erst kommen. Wenn du das nächste Mal im Vollsprint am pummeligen Jun-gen mit Atemwegsproblemen vor-beiziehst, dann schrei ihm doch was Motivierendes um die Ohren. Lass ihn ein paar Minuten in deinem Windschatten laufen und wenn es verdammt nochmal nötig ist, trägst du den Fettsack halt hu-ckepack. „Aus pädagogischer Sicht ist es sicher der Königsweg, wenn

die Generationen miteinander und voneinander lernen“, verrät Muuß-Merholz.

Bevor du also das nächste Mal online die Verwandtschaft zu deinen Eltern abstrei-test, biete ihnen einfach mal deine Hilfe an. Klar, irgendwie muss jeder alleine durch die digitale oder nicht-digitale Pubertät. Aber du hast dich auch gefreut, als Mama den Clerasil-Vorrat regelmäßig aufgefüllt hat. Solange Mama und Papa dazulernen, heißt es: Tolerieren, helfen und stark bleiben.

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AZ Gelsenkirchen_210x148mm_AZ Gelsenkirchen 07.12.15 11:28 Seite 1

„Kinder haften nicht für ihre

Eltern“

DIGITALE PUBERTÄT

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Push-Nachricht von Facebook: Dein Vater hat dich verlinkt.

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rasiert. HAHAHAHA.“ Er zeigt mir ein mittelmäßig verstörendes Video, in dem tatsächlich ein dünner Kerl zu sehen ist, der einer jungen Frau den Kopf rasiert. Absurde Begegnung. Ich fühle mich wohl. Unsere nette kleine Konversation wird vom einsetzenden Bass unterbrochen. Es ist 22.00 Uhr. Die 120-Minuten-Party geht los. Zwei Stunden Ekstase. Die Gruppen-strukturen lösen sich. Jeder scheint jetzt für sich alleine in die Musik zu versinken. Der Countdown fängt an zu ticken. Alle stampfen und tanzen zu 130-BPM-Tech-no. Die Silhouetten bewegen sich im Takt, dabei sind die Augen meist geschlossen. Meine Partybekanntschaft mit der inter-essanten LSD-Geschichte wirkt so, als ob

er dieses Mal nicht Nein gesagt hätte. In der ersten Reihe tanzt er, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Der Countdown tickt. Und auch ich verliere den Blick für die Zeit. Der Countdown ist bei 60 Sekunden an-gekommen. Die verschwitze Menge ju-belt. Das Licht geht an. Die Augen der zwei Stunden lang exzessiv tanzenden Partywütigen müssen sich erst noch an die Helligkeit gewöhnen. Ein allerletzter Rausschmeißer-Song wird gespielt: „Wie kann man sich nur so hart gönnen?“ Im Gänsemarsch laufen die Partybesucher zur Garderobe und anschließend zur ros-tigen Tür an die frische Luft. Der Prototyp wünscht: „Nen schönen Abend noch.“

raucht. Am Ende des dunklen Gangs wird es heller, die Bar ist zu sehen. Auf genau diese steuern wir zu und rüsten unsere feucht-fröhliche Partytruppe mit Bier aus. Die Umgebung ist geprägt von massivem Stahlbeton. Wer hier nach High-Socie-ty-Prunk á la P1 in München sucht, sucht vergebens. Der Goethebunker ist TECHNO und SCHMUTZ.Gedämpfte Musik schallt uns entgegen. Es ist 21.30 Uhr. Eine halbe Stunde haben wir noch, bevor das basslastige Technoge-witter anfängt, die eigenen und die Orga-ne der rund 80 anderen Tanzwütigen zu massieren. Wir biegen links auf die Tanz-fläche ein. Über dem Dj-Pult hängt ein riesiger Countdown, er zählt herunter von

120 Minuten. Es bilden sich im Viervier-teltakt wippende Grüppchen. Wir tun es ihnen gleich, auch wir bilden eine im Vier-vierteltakt wippende Gruppe. Die Stim-mung ist erwartungsvoll. Ein bekanntes Gesicht kommt auf mich zugestürmt, hält an, und fängt im Viervierteltakt wippend an zu erzählen: „JOOO. Vorletzte Woche im Bunker son crazy Typ kennengelernt. Mega gesoffen, und dann hat der mir LSD angeboten. Ich hab Nein ge-sagt, aber der hat sich das mit seiner Perle reingeknallt.

Und später am Abend hat er mir dann ´n Video geschickt, wie er ihr halb nackt den Kopf

Ich zünde mir eine Zigarette an und höre aus der Prototyptür-steher-Richtung „Hömma, du Clown, mach die Kippe aus. Hier hat’s letzte Woche gebrannt“.Ich gebe mich diplomatisch, drück die Zigaretten aus und platziere mich wieder brav in der Schlange.

Wir befinden uns in einem al-ten Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der nun als Club fungiert. Das Licht ist ge-dimmt. Die Wände sind kom-plett schwarz. Die Luft ist, trotz angeblichem Rauchverbot, ver-

Es ist Dienstagabend. Vor uns: ein un-scheinbarer Betonklotz im Herzen von Essen-Rüttenscheid. Grau und verwun-schen. Efeu bedeckt das Gebäude. Im Be-ton befinden sich Einschusslöcher. Über dem Schriftzug „GOETHE BUNKER“ thront ein rotes Pferd. Wir klopfen. Der Türste-herprototyp – kahlgeschoren, groß, breit und grimmig – öffnet uns die rostige und schwere Tür. „Pscht. Kommt rein.“ Vorbei an ihm, rechts rum an die Kasse. Links ne-ben dem volltätowierten und langhaari-gen Mitveranstalter Kai Suffa Friedl steht ein Glas Maica-Würstchen. Kai: „Fünf Euro bitte. Wir: „Bekommen wa den Ein-tritt umsonst, wenn wir n Schluck Wurst-wasser trinken?“ Kai: „Klar!“ Man ist das lecker, fünf Euro gespart. Besser kann es doch gar nicht losgehen. Kai Suffa Friedl hält das ganze videodokumentarisch mit seinem Handy fest. Handshake hier, Handshake da. Ab an die Garderobe, um den Jackenballast loszuwerden.

Das Logo der Party

Mitveranstalter: Kai Suffa Friedl

Die Partygäste haben den Countdown immer im Blick

//tim

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Ausgegraben

Bald ist es soweit, das letzte Stück Kohle verlässt die Erde des Reviers. Der Bergbau segnet das Zeitliche.

Deshalb entführen ehemalige Berg-männer in Kamp-Lintfort auf eine Zeitreise durch einen ausgedienten

Lehrstollen. Dabei blicken sie auf die Tage unter Tage zurück.

Text & Bilder: Bastian Bernhard

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QUERSCHREIBER

„Manche sind für gefährliche Aufgaben we-niger gemacht, andere mehr“

Verlassen sieht es aus, das Ausbildungszentrum in Kamp-Lintfort. Verrostete Überbleibsel aus der Zeit der Bergleute zieren das Gelände, geben ihm den An-schein einer Geisterstadt. Die Uhr des Hauptgebäudes steht auf fünf nach zwölf.

Nicht weniger gruslig, das dahinter emporragende Bergwerk West, heute mehr Ruine als Zeche. Einla-dend ist anders. Quietschend öffnet sich das Tor der Ausbildungsstätte. Der Eintritt in das an eine Hor-rorwelt erinnernde ehemalige Reich der Bergleute ist freigegeben. Das mulmige Gefühl, demnächst auf ein fieses Monster der Unterwelt zu treffen, lässt aber nach sobald das Gelächter der Bergmänner aus dem Eingang des Lehrstollens dröhnt. Anstelle zähnefletschender Schreckgestalten sitzen dort vier heitere, in ihre Kutte gehüllte, ältere Herren. Sie teilen Schnupftabak. Die Sprache ist deftig, aber fröhlich. „Weisse, ich hatte früher ma diesen einen Kumpel, der hat sich den Tabak auf den ganzen Handrücken gekippt und eimma mitter Nase durchgewischt“, erklärt einer der Herren, der sich kurz darauf als Uwe Kottwitz vorstellt, und lacht schallend. „Verrückter Kerl!“, fügt er an.

Der Lehrstollen ist 1971 von Lehrlingen errichtet worden, erklärt Kollege Uwe Kluge, und wurde bis 2008 auch als solcher genutzt. „Kinder durften nicht mehr einfach so unter Tage“, erinnert er sich, wäh-rend er sich langsam über das Gesicht fährt: „Also

mussten sie erst in den Lehrstollen.“ Klingt an sich ganz natürlich, schließlich ist es heutzutage kaum moralisch vertretbar, Kinder oder Jugendliche in mehr als 1000 Metern Tiefe schuften zu lassen. Doch auch der Lehrstollen hat‘s in sich. Von schwerer Maschi-nerie bis zu kleinsten Streben war alles vorhanden, um den Jugendlichen das grobe Handwerk beizubrin-gen. Auch wenn die ganze Anlage gerade mal, für die abgehärteten Kumpel lächerliche, drei Meter tief ist – die Jugendlichen verbrachten darin mit kompletter Ausrüstung acht Stunden. Ohrenbetäubender Lärm und Kohlestaub dominierten auch hier den Alltag, schließlich sollten die Lernenden keinen falschen Ein-druck bekommen. Die Arbeit ist ein Knochenjob, daran erhebt auch der Lehrstollen keine Zweifel.

Wie ein Ameisenbau

„Selbst, wenn du acht Stunden lang im Stollen rum-gehockt wärst, wärste verschwitzt rausgekommen“, er-zählt Michael Kahlert als der Dritte im Bunde: „Es ist heiß, die Luft ist schlecht und die Ausrüstung schwer, jede Minute unter Tage ist eine Höchstleistung.“ Er beschreibt, wie sich die Kumpel unter schwerem Schnaufen durch die Tunnel bewegt haben. Es ist laut, dunkel und staubig. Wie ein Ameisenbau erstrecken sich die Katakomben über eine kilometerweite Fläche. Ein lebendiges, sich stets veränderndes Labyrinth, das einen eigenen kleinen Mikrokosmos mit sozialen und politischen Strukturen bildet. Ein Dorf unter einem Dorf quasi. Kahlert vergleicht: „Kamp-Lintfort hat Bewohner, ne Polizei, ne Feuerwehr, Bürgermeister und so weiter. Unter Tage sah das eigentlich nicht viel anders aus.“

Die Faszination für das ehemalige Handwerk steht den vier Kumpel ins Gesicht geschrieben. Das war eine andere Welt, nickt Kluge bestätigend in Kahlerts Rich-tung. Die Verhältnisse in ihrem Bergwerk, das anfangs beschriebene Bergwerk West, war sehr kollegial. Duzen gehörte zur Normalität. Selbst die Direktoren hörten unter Tage kein „Sie“. Es sei denn, jemand aus dem RAG-Vorstand kam zu Besuch. „Wir alle waren auf einer ähnlichen Stufe. Natürlich, wenn ein Steiger eine Entscheidung traf, folgten die Hauer dieser, aber auch unsere Stimmen wurden gehört“, beschreibt Klaus Deuter. Schließlich waren sie als Bergmänner die Basis, die über die Probleme und Potentiale der Stollen am besten Bescheid wussten.

Die Erde lebt

Trotz der spürbaren Liebe der Männer zur Materie, ganz so rosig war vieles doch nicht. Glücklicherweise ist das Gebiet in den letzten Jahren von großen Grube-nunglücken verschont geblieben. Kleinere Unfälle gab es aber immer wieder. Kottwitz zeigt auf die Schiene an der Decke und bewegt die daran hängende Wanne mit Riemen. Damit haben sie Verletzte abtranspor-tiert, sagt er und klopft grinsend gegen die martialisch anmutende Stahlkonstruktion. Die Riemen wurden ge-braucht, um die Betroffenen festzuzurren. „Oft haben sich die gewehrt“, führt er aus und ergänzt: „Die sind oft wieder aufgesprungen und wollten zurück an die Schippe.“ Das merke man teilweise gar nicht, bestätigt Kahlert ernst nickend. Er hält seine Hand hoch und blickt kurz nachdenklich auf seine Finger. Den Ring-finger hat er mal verloren. Er bemerkte das aber erst, als ein Kumpel ihm den abgetrennten Finger unter die Nase hielt. Erst da realisierte er, was geschehen war. „Das ist das Adrenalin und die Atmosphäre in der Gru-

Düsterer Vorbote: In Kamp-Lintfort steht die Uhr bereits heute auf fünf nach zwölf.

be. Ich habe schon gesehen, wie jemand das halbe Bein verlor. Der hat das gar nicht gespürt.“

Solche Unfälle gab es vor allem bei Routinearbeiten, denn irgendwann lässt die Aufmerksamkeit nach. Bei den riskanten Arbeiten, da hat man natürlich beson-ders aufgepasst. Gefährliche Arbeiten haben aber meistens die gleichen Personen ausgeführt, wie Kahlert beschreibt: „Manche sind für solche Aufgaben weniger gemacht, andere mehr.“ Das Gestein sei unberechen-bar, erklärt er. Es bewegt sich, wächst und sinkt, je nach tektonischen und geologischen Gegebenheiten. In den kleinen 60 Zentimeter-Streben - das sind die kleinen Schächte, in denen die Kohle abgebaut wird - spürt man diese besonders. Die Bergleute kriechen in diese Streben. Eine klaustrophobische Situation, dominiert von unebenem Terrain, schwarzem Flöz und extrem schlechten Lichtverhältnissen. In dieser unwirtlichen Umgebung werden dann Befestigungen verankert. Auf kleinstem Raum arbeiten die Bergleute mit einem sperrigen, mehrere Kilo schweren Hammer und noch schwereren Trageelementen. Eine Knochen-arbeit. Nicht zuletzt kann es dabei vorkommen, dass sich die Decke senkt, weshalb seit geraumer Zeit die Mindesthöhe von eben diesen 60 Zentimetern verwen-

Wie in alten Tagen: Vor der Arbeit gibt es erst mal eine Prise Schnupftabak.

Stillstand: Diese Kohle wird wohl kein Tageslicht

mehr erblicken.

Ein Bergwerk gleicht einem Dorf untereinem Dorf

AUSGEGRABEN

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det wird. Doch in der jahrhundertealten Bergbautra-dition wurden diese staubigen Tunnel für so manchen Bergmann zu einem dichten, schwarzen Grab.

Alkohol ist seit den 1990er Jahren verboten. Davor war es aber gang und gäbe, ein oder zwei Dosen Bier in Alufolie zu wickeln und diese mit in die finstere Stadt unter der Erde zu nehmen.

Das Verbot leuchtet ein, allerdings räumt Deuter ein, er habe noch nie einen Alkohol bedingten Unfall erlebt, schließlich sei man sich der Gefahr bewusst. „Während meiner Zeit im Pütt gab‘s nur einen Toten aufgrund

von Alkohol. Der hat nach der Arbeit zu viel getrun-ken und hatte einen Autounfall“, scherzt Deuter. Ein makabrer Scherz, der aber wunderbar ins derbe Bild der Kumpel passt.

Das Erbe des Ruhrgebiets

Das Ende des Bergwerks West, und im übertragenen Sinne auch das Ende des Kohleabbaus im Ruhrgebiet, bedeutet aber nicht für alle Bergmänner das Ende ihres unterirdischen Einsatzes. Einige habe es zum Beispiel in die Schweiz gezogen, verkündet Kahlert mit einem Zwinkern. Zwar gibt es dort keine Kohle, auch andere Bergwerke sucht man in der Eidgenossen-schaft vergeblich, dafür gibt es in den Alpen intensiven Tunnelbau. Etwa die Erweiterung des Gotthardtunnels, der die Hauptverkehrsachse nach Italien darstellt. In diesen Projekten ist das Know-how der Malocher aus dem Ruhrgebiet gefragt. Zudem wartet auf die RAG die Frage der Ewigkeitsaufgabe. Denn die Bergwerke können nicht einfach geschlossen werden. Da sie einen groben Einschnitt in die Natur darstellen, müssen sie auch mit entsprechender Nachhaltigkeit aufgearbeitet werden. Denn der Bergbau soll so wenig Spuren hin-terlassen wie möglich. Trotzdem sind die vier Kumpel aus dem stillgelegten Lehrstollen in Kamp-Lintfort überzeugt: Die Bergbaukultur des Potts wird auch in Zukunft nicht so schnell in Vergessenheit versinken.

QUERSCHREIBERMächtige Maschienen ermögli-chen die Arbeiten unter Tage.

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Alt kocht jung und Jung kocht alt. Rentnerehepaar kocht modern.

Studentin kocht traditionell.Wer schafft es, aus dem Unbe-

kannten einen Gaumenschmaus zu kreieren?

Text & Bilder: Jana Düwell

Superfood

Hausmannskostvs.

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QUERSCHREIBER HEALTHY VS. DEFTIG

Sojageschnetzeltes mit Süßkartoffeln statt Rouladen mit Rotkohl! Helmute und Hans-Dieter Reischel lieben es deftig. Von Vegan und Superfood hält das Rentnerehepaar auf seinem Dorf nichts – Essen soll schmecken und sattmachen. Die Studentin Alina bevorzugt dagegen gesundes und kalorienarmes Essen. Mit Hausmannskost kann sie absolut nichts anfangen. Trotzdem lassen sich beide Parteien auf ein Experiment ein. Sie kochen mit den Lieblings-Lebensmitteln des anderen. Das Ehepaar Reischel bereitet eine Mahlzeit mit gesunden Trendlebensmitteln zu. Alina versucht sich an einem deftigen Sonntagsmahl.

„Ach du meine Güte, das kennen wir doch alles gar nicht. Hansi, komm doch mal.“ Aufgeregt beugen sich die ehemalige Industriekauffrau und der Ingenieur über die Zutaten. „Das kenne ich, das sind Süßkar-toffeln, die ganzen Fernsehköche kochen die gerade im-mer zu“, beteuert der große Fan von Kochsendungen. Seine Frau steckt sich derweilen etwas längliches, rotes in den Mund und kaut mit hochgezogenen Augenbrau-en darauf rum. „Mensch Helmute, du kannst das doch nicht einfach so essen, das sieht aus wie Chili!“ „Ach was, das schmeckt süß“, entgegnet sie frech grinsend und lässt sich gleich noch eine Goji-Beere in den Mund fallen.

Der 75-Jährige schüttelt den Kopf und greift nach einer Schüs-sel, gefüllt mit Quinoa: „Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es sieht aus, als sollte ich es nach draußen bringen und in das Vogelhäuschen streuen.“ Helmute lacht und hält ihm eine Schüssel mit Chiasamen hin: „Und das kannst du auch gleich mitnehmen.“ Fragende Blicke fallen nun auf das vegane Bio-Sojageschnetzelte. „Lass uns lieber

zu McDonalds gehen“, flüstert Hans zu seiner Frau, die sich auf den Oberschenkel haut und wieder laut losprustet.

Die Großeltern stehen in ihrer kleinen u-förmigen Küche und starren auf all diese neuartigen Produkte. Die 72-Jährige entscheidet sich für Süßkartoffeln, Romanesco, Sojageschnetzeltes und lila Möhren. Hans nimmt, was übrig bleibt: Brokkolisprossen und Cashe-wkerne. Sorgfältig krempelt Helmute nun die Ärmel seines hellblauen Hemdes hoch. Dann legen sich die beiden gegenseitig Schürzen um. Für die Hobbybäcke-rin eine mit blauen Streifen, damit ihr beiger Rollkra-genpullover nicht schmutzig wird. Für den Hobbykoch eine rot karierte, die perfekt zu seinen roten Puschen mit Schneeflockenmuster passt.

Improvisationstalent gefragt

Helmute setzt Wasser auf und schält die Möhren, als sie aus dem Augenwinkel sieht, wie ihr Mann die Nu-delmaschine aufbaut: „Was hast du denn damit vor?“ „Na, ich mache Nudelteig für Nudeltaschen, die füllen wir dann mit diesen Sprossen und Kernen.“ Überzeugt von seiner Idee setzt Hans seine Brille auf und holt Öl, Eier und Weizenmehl aus einem der Buchenschränke. „Ach ja gut, das schmeckt wenigstens“, gibt Helmute klein bei, während sie mit beiden Händen und aller Kraft versucht, das Messer durch die Süßkartoffel zu drücken.

Während das Gemüse, wendet sie sich dem Sojageschnetzelten zu: Öffnet die Packung, riecht daran und rümpft die Nase. Für ordentlich Geschmack nimmt sie Butter zum Anbraten und bekommt prompt ein schlechtes Gewissen: „Ich weiß, gesund ist das nicht, aber

sonst schmeckt das doch nach nichts. Und wenn nicht ordentlich Geschmack dran ist, dann isst der Hansi das auch nicht.“ Hans steht nun dicht neben seiner Frau am Herd und nickt heftig.Der Hobbykoch nimmt ebenfalls Butter, tut zwei

Esslöffel davon in eine weitere Pfanne und brät seine Nudeltaschen darin an. Dabei schaut er in den Topf mit den lila Möhren: „Sag mal Helmute, du machst aber schon noch eine Soße dazu, oder?“ Helmute schlägt die Hand vor den Mund: „Ach Hansi, warum hast du das denn nicht schon früher gesagt, das habe ich ja ganz vergessen!“ Hektisch stellt sie einen weiteren Topf auf die Herdplatte und wirft, ganz nach Hausfrauenmanier, wieder ein großes Stück Butter hinein. Mit Mehl und ordentlich Sahne abgebunden entsteht schnell eine cremige Soße, so wie Hans sie am liebsten mag.

Zwei der Küchenschränke sind nun komplett leer. Alle Töpfe und Pfannen stapeln sich in der Spüle. Kreatives Chaos. Helmute lässt sich erschöpft auf die gepolsterte Eckbank fallen, stützt ihre Ellenbogen auf dem massiven Eichentisch ab und streicht sich ihr kinnlanges, weißes Haar hinter die Ohren. „Mo-dern kochen ist verdammt aufwändig.“ Hans schenkt Weißwein ein und serviert die Vorspeise. Nudeln gefüllt mit Sprossen und Cashewkernen, an Feldsalat und Tomaten. Besteck klappert. Helmute kaut bedäch-tig. Neigt immer wieder den Kopf zur Seite. Zieht ihre Augenbrauen zusammen. Keiner spricht. Als die Teller leer sind, schauen sich die beiden an. „Nichts Besonde-res, aber lecker“, findet Helmute. Hans zuckt mit den Schultern: „Also ich finde die Hackfleischfüllung, die wir sonst machen, besser.“

Helmute holt die Schüsseln mit dem Hauptgang aus der Küche und füllt Sojageschnetzeltes mit Süßkartof-feln, Romanesco und lila Möhren auf die mit blauen

Blumenranken verzierten Teller. Wieder herrscht zunächst Schweigen. Hel-mute schaut über den Rand ihrer Brille hinweg und ergreift das Wort: „Diese süßen Kartoffeln finde ich super, die sind so schön weich. Ach, und dir schmeckt es offenbar auch.“ Hans, der sich gerade eine zweite Portion Sojafleisch auffüllt, schaut hektisch auf, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. „Naja, dieses unechte Fleisch schmeckt gar nicht schlecht. Kaum an-ders als normales.“ Am Ende sind die Teller komplett leer. Sie lehnen sich zufrieden zurück, die rechte Hand auf den Bauch gelegt. Es hat gut geschmeckt, doch nochmal würden sie so etwas nicht kochen. „Uns ist das, was wir bereits kennen, lieber. Stimmt`s, Hansi?“ „Da hast du recht. Wie sagt man noch so schön? Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht.“

Jetzt wird‘s deftig

Für Alina sind die Zutaten, mit denen das Rent-nerehepaar gekocht hat, ganz gewöhnlich. Chiasamen gibt es bei ihr jeden morgen zum Frühstück. Quinoa und Süßkartoffeln mindestens einmal in der Woche. Mit dem traditionellen Sonntagsessen, Rouladen, Kartoffeln und Rotkohl, kann sie hingegen nichts anfangen. Alina ist Biologie-Studentin in Braunschweig und stets darauf bedacht, ihrem Körper nur die Nährstoffe zuzuführen, die er tatsächlich braucht. Zum Frühstück gibt es Quark mit Früchten, Samen und Körnern. Zum Mittag meistens eine Salatvariation mit Geflügel und Ballaststoffen, zum Beispiel aus Kichererbsen oder Vollkornreis. Abends verzichtet die leidenschaftliche Läuferin auf Kohlenhydrate, es stehen Fisch oder Ge-flügel mit Gemüse auf dem Tisch.

Vom zweiten Weihnachtstag bei ihrer Großmutter weiß die 21-Jährige, wie Rouladen schmecken sollten, aber die Zubereitung ist ihr ein Rätsel. Dennoch packt auch Alina der Ehrgeiz: „Es wird schon nicht so schwer sein, einmal zu kochen wie Oma.“

„Lass uns lieber zu McDonalds gehen.“

„Ich weiß, gesund ist Butter nicht, aber sonst schmeckt

das doch nach nichts.“

Ohne geht nix: Für Helmute macht Butter den Geschmack.

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den Rotkohl zu. Letzteren zwar nicht auf dem Herd, sondern in der Mikrowelle, aber das spielt im Endeffekt wohl keine Rolle. Eine Roulade, zwei kleinen Kartof-feln und drei Esslöffeln Rotkohl landen auf einem schlichten, weißen Teller. Aus der Soße fischt sie das Gemüse und dickt diese mit Soßenbinder an.Erleichtert atmet sie aus, geht zum Esstisch hinüber, schlägt ihre langen dünnen Beine übereinander und probiert ihr Werk. Sie kaut langsam und lange, runzelt die Stirn: „Ganz schön zäh, die Roula-den hätten wohl länger gebraucht als 75 Minu-ten.“ Alina stochert noch eine halbe Ewigkeit auf ihrem Teller herum, lässt dann fast die Hälfte übrig. „Okay, ich muss echt zugeben: Ich hatte mir das leichter vorgestellt. Ich werde wohl weiterhin lieber die Finger von Hausmannskost lassen. Das kann Oma einfach besser.“

Zwei Generationen, zwei Geschmäcker. Kam früher Deftiges und Kalorienreiches auf den Tisch, ist heute die bewusste und gesunde Ernährung im Trend. Wirk-lich recht machen kann es der Eine dem Anderen wohl nie. Oder etwa doch? Ein veganer Hackbraten wäre ein Anfang.

Alle Zutaten liegen auf der mattschwarzen Arbeits-platte in der kleinen Küche, die für Studentenverhält-nisse unglaublich aufgeräumt und vor allem sauber ist. Keine Handabdrücke auf den hochglanzweißen Hän-geschränken, kein Krümel auf dem Boden. Sie verzieht den Mund und nimmt die Packung mit den Schinken-würfeln in die Hand: „Ihh, da ist ja fast nur Fett drin. Also das gäbe es bei mir sicherlich nicht. Wenn Fett, dann nur ungesättigte Fettsäuren.“ Alina streicht sich ihre langen braunen Haare aus dem Gesicht und zieht ihr transparentes Oberteil zurecht, das ihre schmale Taille umspielt.

Fleisch - Eine Herausforderung

Zögerlich öffnet die angehende Biologin die Tüte mit dem Fleisch. Zeigefinger und Daumen greifen einen der langen Fleischlappen und halten ihn in die Luft. „Da ist ja noch Blut dran.“ Mit einem lauten Klatschen fällt das Fleisch auf ein Holzbrett. „Also das ist echt ekelig, ich mache lieber erstmal etwas anderes.“ Die Gemüseliebhaberin nimmt sich die Zwiebel und einige Gewürzgurken. Mit gekonnten Handbewegungen sind diese schnell in kleine Würfel geschnitten. Wohl oder übel ist jetzt das Fleisch an der Reihe. Sie zupft so lange daran herum, bis alle Fleischstücke platt auf dem Brett liegen. Mit einem kleinen Messer, der Griff pink, bestreicht sie das Fleisch mit Senf und verteilt pinge-lig Gürkchen, Speck und Zwiebeln darauf. Mit ihren langen dünnen Fingern rollt sie das Fleisch der Länge nach zusammen und steckt von beiden Seiten Roula-dennadeln hinein, die alles zusammenhalten.

Auf dem Induktionskochfeld brät sie die Rouladen in zwei Esslöffel Olivenöl an. Alina stützt ihre Hände in die Hüfte, hält eine Sekunde inne: „Soßen gibt es bei mir eigentlich nie, wenn dann nur Tomatensoße.“ Verunsichert holt sie aus einem glänzenden Hänge-schrank Instant-Gemüsebrühe. „Normalerweise würde ich keine Pulverbrühe benutzen, aber nur Wasser und Wein bringen doch keinen Soßengeschmack.“ Nach 30 Minuten kommt das geschnittene Suppengrün dazu. Dann fällt es ihr auf. Beschämt hält sie ihre Hand vor die Augen: „Mist, wie dumm, die Gemüsebrühe hätte ich mir dann wohl sparen können“. Unruhig hebt sie immer wieder den Topfdeckel an: „Woher soll ich denn wissen, wann die gut sind?“ Die Rouladen kochen weiter. Alina bereitet problemlos die Kartoffeln und

„Das kann Omaeinfach besser.“

Ungewohnt: Norma-lerweise schält Alina

nur Süßkartoffeln.

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„Bli Bla Blub”

Genau einen Monat hat es gedau-ert, ihn zu treffen. Einen Monat

Schriftverkehr mit ihm – und seinem Management. Und dann endlich

der langersehnte Tag: Ein exklusi-ves Treffen mit einem Promi. Einem Rockstar und Frauenversteher. Dem Bachelorette-Gewinner 2017: David

Friedrich.

Text: Jana AntkowiakBilder: Christian Ripkens & Jana Antkowiak

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David hat das letzte Mal mit zwölfgeweint.

Das Café am Rande der Welt – ein Buch über den Sinn des Lebens. Eine Geschichte über einen jungen Mann am Wendepunkt seines Daseins. Die Hauptfigur stellt sich Fragen: Warum bin ich hier? Führe ich ein erfülltes Leben? Er ist neugierig und will dieses Geheimnis ergründen. Eine Reise zum eigenen Selbst. Diese kurze Buchbeschreibung liest sich beinahe wie eine Beschreibung von David Friedrichs Leben. Ein junger Mann, der noch nach dem Sinn des Lebens sucht. Er macht eine Reise zum eigenen Selbst. Eine Reise durch Afrika und den Dschungel.

#Allüren

Am Abend vor dem großen Tag eine kleine Planänderung von Da-vid: „14 Uhr auch cool für dich? Oder zu spontan?” Kein Problem für eine Querschreiber-Redak-teurin. Noch schnell für 2,99 Euro eine rote Rose gekauft, bei Instagram ein bisschen Werbung gemacht und das Treffen pro-

minent angekündigt. 14.01 Uhr. 14.06 Uhr. 14.18 Uhr. 14.46 Uhr. Kein Lebenszeichen von David. Was für eine Enttäuschung. Dann durchgefroren wieder nach Hause fahren und hoffen, dass er sich noch meldet. Wäre ja sonst peinlich, wurde ja schließlich angekündigt. 17.54 Uhr. Er lebt. Hat den ganzen Tag verschlafen, Jetlag von LA. Acht Entschuldi-gungs-Nachrichten, wie leid es ihm tue. Na gut, Entschuldigung angenommen! Am nächsten Tag ein neuer Anlauf. Und tatsäch-lich: Pünktlich um 14 Uhr schlägt er auf, mit einem Entschädi-gungs-Teddy.

David nimmt beim Betreten der Bar die Hände aus seinem blauen Parker.

„Meine Herrn, war ich hier schon lange nicht mehr!”

„Ach nein? Eine Bekannte hat dich vor ungefähr zwei Wochen

noch hier gesehen.”

„Achja, doch. Mein Gott, man kann auch nichts mehr unbe-

merkt tun.” David bestellt einen Cappuccino.

#Lügenpresse

Verändert hat sich für David in dem letzten Jahr rein gar nichts. Sagt er. Außer, dass Leute jetzt seine Fresse kennen. Sagt er. „Man hat halt ne Reichweite. Und das will ich nicht nur für mich nutzen, sondern auch für Charity-kram. Für Kinderprojekte.” Aber das hängt er nicht an die große Glocke. Sagt er. David wollte eigentlich alles ohne Management machen, aber dann hat er ge-merkt, dass er ohne nicht klar-kommt. „Das war, als die Presse so krass negativ über mich geschrie-ben hat.“ Er wollte, dass die Lü-gen aufhören. „Bei richtigen Stars oder Promis gibt’s Paparazzi. Bei uns Möchtegern-Promis nicht. Und dann wird sich eben viel ausgedacht. Besonders im Print war so viel erstunken und erlo-gen. Die haben sogar von meinem Instagram-Account alte Partyfo-tos genommen und so getan, als seien sie brandaktuell. Hier und da, bli bla blub.” Dass es so krass wird, hätte David niemals gedacht. „Gehst dahin, verdienst ein paar Kröten, hast nen geilen Urlaub – warum nicht?” Er bereut es nicht,

bei der Sendung mitgemacht zu haben. Er fand‘s mega, würde es sofort weiterempfehlen. „Wenne drin bist, dann biste drin!”

#GeschenkvomKönig

David trägt einen schwarzen Schlauchschal, einen beigen Strickpulli mit Löchern und eine

blaue Jeans sowie Vans. Lässig. Er hat auffällig viel Schmuck an. Ring in der Nase, Ring am Finger. Den protzigen Siegelring ziert einen Löwenkopf – ein Glücksbringer von seinem Freund André Hamann. Sein Handge-lenk schmücken zwei Armbänder aus bunten Glasperlen. „Das ist Aberglaube-Kram.” Er nimmt die Armbänder ab und hält sie in beiden Händen, schaut sie ein paar Sekunden an. „Sie sind vom afrikanischen König. Ein Freund vom König hat sie mir geschenkt. Ich hab immer zwei an. Wenn es einem Menschen wirklich schlecht geht, dann schenke ich es der Person irgendwann.“ David nickt. „Das mit dem dicken, lan-gen, roten Stein bleibt immer bei mir. Das andere wird dann jeman-dem, der seelische Unterstützung braucht, beistehen.”

Früher war David alles scheiß-egal. Er hat das gemacht, worauf er Bock hatte. Natürlich ohne jemanden zu verletzen oder ande-re einzuschränken. Sagt er. Dann dachte er sich: „Es fuckt mich so

ab, dass es mich interessiert, was andere sagen.” Und mittlerwei-le juckt es ihn tatsächlich nicht mehr. Sagt er. „Ich bin wieder an dem Punkt angelangt, an dem ich mach, worauf ich Bock hab.” David stößt auf.

„Man sollte sich immertreu bleiben.”

„Man sollte immer nach vorne blicken, nicht nach hinten.”

„Zeit vergeht so schnell. Man sollte alles durchziehen,

was man möchte.” „Man lernt alles voneinander.”„Man ist zu engstirnig. Man

urteilt viel zu schnell.Über Tätowierte oder so.”

„Man sollte hinter die Fassade schauen, bevor man urteilt.”

„Ich brauch nur meine Freunde und meine Familie. Und Freunde, die zu Familie geworden sind. Die mich unterstützen, solche Leute

braucht man im Leben.”Aha.

David könnte auch sagen: Leute sollten mich erstmal kennen ler-nen, bevor sie über mich urteilen. Aber das sagt er nicht. Stattdessen Floskeln über Floskeln.

#ErlebenstattÜberlegen

David hat nicht viele Freun-de. Er kann sie an einer Hand abzählen. Mehr braucht man auch nicht. Sagt er. „Mit der Zeit kristallisiert sich raus, was wichtig ist. Hier und da, bli bla

David´s Motto: You only live once.

Steckbrief

Name: David Friedrich

Geboren: 22.10.1989, Duisburg

Beruf: C-Promi/Schlagzeuger der Band Eskimo Callboy/Gelernter Stahlkocher

Fakten: Gewann 2017 die vierte Staffel der RTL-Reality-Show ”Die Bachelorette”. Kurz darauf Tren-nung von Jessica Paszka.

Dadurch fiel er im TV auf: Seine lockere und bodenständige Art

Lieblingsgetränk: Wodka

Lieblingsbuch: Das Café am Rande der Welt

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blub.” David ist bodenständig. Geht beim Comedypreis extra an den Fotografen vorbei und vermeidet den roten Teppich. Er ist nicht fame-geil. Sagt er. Aber da stellt sich einem ja die Frage: Warum dann ausgerechnet zur Bachelorette und ins Dschun-gelcamp? Das Dschungelcamp sei die Endstation in einer Karriere, antwortet David. „Aber ich hab bis jetzt ja noch nichts geleistet. War fünf Minuten im Fernsehen. Ich würde mich niemals als Promi bezeichnen oder mich Star nen-nen.“ Er versuche nicht, Storys zu machen und berühmt zu werden. „Ich will Erfahrungen sammeln. Das sind alles Möglichkeiten für mich. Wenn ich die Chance hab, warum sollte ich sie nicht auch nutzen. Mir ist es wichtiger, was zu erleben, statt zu überlegen, was andere darüber denken könnten. Ich hatte den Jackpot überhaupt! Geile Reise, coole Frau!”

#HeuteAbendKino?

Seinen sicheren Job bei Thyssen hat David an den Nagel gehängt und ist als Schlagzeuger mit seiner Band „Eskimo Callboy“ durchgestartet. Zweifel? Nope.

„Werf ich alles hin? Für etwas, was mir Bock macht? – Jep!” Während er über Lebensfreude philosophiert, spielt er mit seinem Zeigefinger am eingepackten Spritzgebäck herum, das auf seiner Untertasse liegt. „Ich hab gar keine Ahnung, was ich heute noch mache. Voll Scheiße. Will ins Kino. Aber weiß nicht mit wem. Kommst du mit mir? Ich hab gar keinen Kontakt zu irgendwelchen Mädels zur Zeit. Ich hätte Bock auf ne coole Frau. Son Sonnen-schein. Eine, die gute Laune verbreitet. Eine, die immer gut drauf ist.” Er tunkt seinen Keks in die letzte Pfütze Schaum.

David ist unternehmenslustig. Ist nicht gern allein zu Hause. Er

möchte jeden Tag was machen, was erleben – Erfahrungen sam-meln und den Sinn des Lebens finden. Er ist ein Lebemann. Er trommelt mit seinen Fingern auf der Tischkante herum. „Was schreibst du da überhaupt auf?”, fragt er zum vierten Mal. „Geh nicht so ins Detail.” Er lacht, nimmt sich eine Kippe aus seiner R1-Schachtel. Ganz leichte Zi-garetten, damit es nach‘m Feiern nicht so einen Schädel gibt. Aber 2018 soll Schluss damit sein. Sagt er. Er stellt sich in den Türrah-men. Einen Fuß draußen. Einen Fuß drinnen. Im Hintergrund singt leise Bob Marley. Alles easy.

David nimmt einen kräftigen Zug an seiner R1. „Vielleicht les ich später einfach ‚Das Café am Rande der Welt‘ weiter.”

David hasst es, wenn jemand mit den Finger-nägeln an der Tafel kratzt.

David würde sich immer noch über rote Rosen freuen.

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Spritzen-Verschwörung

Text & Bilder: Jonas Selter

Alternative Fakten schaffen einen Tummelplatz der Angst im Internet.

Die Auswirkungen reichen tief ins reale Leben hinein - zum Beispiel beim Thema Impfen. Wie sieht diese Welt abseits des

Mainstreams aus?

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QUERSCHREIBER SPRITZEN-VERSCHWÖRUNG

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Personen ist sehr bedenklich und nicht ohne Risiken.“ Bedenken zerstreut Birmanns durch sein Image. Für viele Eltern scheint die ganze Zukunft ihrer Kinder von der sogenannten „Impfentschei-dung“ abhängig zu sein. Lassen sie ihr Kind impfen oder nicht? Und wenn ja, gegen was?

Entscheidungskrise

David machte Bekanntschaft mit der Impfentscheidung kurz vor der Geburt seines ersten Kindes. „Ich war der Skeptiker am Anfang. Meine Frau hat sich schon vorher mit dem Thema beschäftigt.“

Das Paar plante eine natürliche Geburt in einer anthroposophi-schen Klinik. Der anthroposophi-

schen Medizin liegt ein esoteri-sches Menschenbild zugrunde. Körper, Geist und Seele des Pati-enten harmonisch auszubalancie-ren ist dabei das Ziel.

„Sie hat sich viel mit energe-tischen Verbindungen zwischen Menschen beschäftigt. Das ging mir manchmal zu sehr in die esoterische Ecke“, erzählt David mit verliebtem Blick. Davids Frau war die treibende Kraft bei dem

Besuch eines Impfseminars an der Klinik.

David selbst versprach sich davon eine klare Empfehlung. Was er bekam, war totale Ver-unsicherung. So forschte er auf eigene Faust weiter. Antworten fand er zum Beispiel in dem Buch „Impfen - Das Geschäft mit der Angst“. Davids Kopf läuft auf einmal rot an. Mit seiner linken Hand fängt er an, sein Bein zu streicheln. Die Rechte vollführt weiter unbeirrt ihre Gesten.

Anfeindungen

Das Buch beschreibt Todesfälle bei Kindern durch Impfschäden. „Als werdender Vater wird man dann sehr nachdenklich“, erinnert sich David mit flat-ternder Stimme. In einer Kund-enrezension auf Amazon schreibt ein Leser: „Dieses Buch öffnet einem die Augen für die Hinter-gründe der Manipulation und des enormen Drucks, der vor allem auf junge Eltern ausgeübt wird.“ Ein anderer schreibt darüber: „Afrikaner haben nach dem Autoren ein unterentwickeltes Nervensystem im Vergleich zu europäischen Zivilisationen.“ Werke wie „Nicht impfen - was dann?“, „Die Impf-Illusion“, „Die Tetanus-Lüge“ oder „Impfen bis der Arzt kommt“ warten nur darauf, durch nervöse Elternhände zu gleiten. Die Autoren und Ver-lage müssen sich allerdings selbst den Vorwurf gefallen lassen, ein Geschäft mit der Angst der Leser zu machen.

Sechs Jahre später: Der verunsi-cherte David ist heute ein redege-wandter Impfkritiker und Kenner der Szene. „Ich muss aufpassen, dass meine Familie nicht zu kurz kommt“, merkt er mit einem Schmunzeln an. Nächtelang liest er Fachstudien oder Zusammen-fassungen auf Englisch. Seine analogen Freunde teilen seine Thesen nicht. Erntet er im digita-

Das Geschäft mit der Angst macht das Internet zum Basar alterna-tiver Fakten. Die Auswirkun-gen reichen tief ins reale Leben hinein - zum Beispiel beim Thema Impfen. Besorgte Eltern werden zwischen den Pro- und Contra-Argumenten aufgerieben. Die Verunsicherung macht sie letztlich zu Impfgegnern. Wie sieht diese Welt abseits des Main-streams aus?

Souverän und locker kommt er rüber. Mit seiner ruhigen und kla-ren Stimme, dem kurzen schwar-zen Haar und dem Drei-Tage-Bart wirkt er wie ein hipper Versiche-rungsmakler. Für seine Ansichten würden ihn die Leute gerne mal in die Schublade eines Impfgeg-ners stecken, sagt er. David* ist gerade mitten in den Vorbereitun-gen eines Elternstammtischs zur Impfaufklärung. Als Organisator des Stammtischs rechnet er mit einer Handvoll Interessierter. Die Seite impfkritik.de verzeich-net deutschlandweit über 90 die-ser elterlichen Zusammenkünfte. Sie geben ihren Treffen Namen wie „Impffrei gesund“, „imp-fen-pro-contra“ oder “Impfen? Nein, Danke!“.

Scheinbar normal

David ist 43 Jahre alt und lebt wie Millionen andere den Traum des deutschen Mittelstands. Sein Job als Verkaufstrainer bei einer Versicherung bringt viele Stra-ßenkilometer mit sich. Wenn es irgendwie geht, betreut er seine

Schützlinge über das Headset vom heimischen Büro im ländlich gelegenen Eigenheim aus. „So kann ich näher bei meiner Familie sein“, sagt er mit einem Lächeln. Ein richtig fürsorglicher Famili-envater für seine Ehefrau und die zwei kleinen Kinder eben.

Die Initiatoren der Elternstamm-tische treten im Netz als An-sprechpartner nicht selten mit privaten Telefonnummern und E-Mail-Adressen auf.

Treffpunkt: Zwielicht

Auch in Foren kommen sie zusammen. Auf der Seite „impf-schaden.info“ tauschen die User wichtige Erkenntnisse aus, wie „Die Impfgeschichte wird sicher mal ein sehr dunkles Kapitel in der Geschichte der Medizin sein“. Ein anderer schreibt: „Dann hatte ich etliche Jahre noch mit inneren Ängsten vor Krankheiten, die mir durch die Propaganda-Ma-schinerie der Medien eingeimpft wurden, zu tun.“

Auch vor Tieren macht einer der User keinen Halt: „Impffrei, glücklich und gesund: Baby, Katze, Pferd und Hund!“ Auf dieser Plattform wirbt auch David für seinen Elternstammtisch. Seiten

wie diese bieten besorgten Eltern Bestätigung für Sichtweisen abseits des Mainstreams und schüren weitere Ängste.

Zahnpastalächeln

Wie gerät ein Mensch ins Zwielicht dieser Kreise? Bei David führte vor der Geburt seines ers-ten Kindes ein Ernährungssemi-nar zum Umdenken. Dort traf er auf Dr. med. Jürgen Birmanns und seine erhellenden Sichtweisen. Die Erreger um uns herum seien für Birmanns nicht gefährlich. Schließlich verfügt der Körper über eine natürliche Barriere. Zudem fordern die im Impfstoff enthaltenen Zusatzstoffe das kindliche Immunsystem massiv heraus. „Die anwesenden Eltern“, erinnert sich David, „wirkten interessiert und zugleich ver-

unsichert.“ David hat manche Ähnlichkeit zu Birmanns. Die ruhige Stimme gehört dazu. Ebenso ähneln sich ihre Handbe-wegungen beim Sprechen. Der größte Unterschied jedoch: Birmanns hat das Charisma eines Oberarztes einer TV-Serie. Mit seinem kurzen blonden Haar, dem kantigen Gesicht, der großen, schlanken Statur erklärt er im Scheinwerferlicht von Youtube gerne mal, wie das geht mit dem Nie-mehr-erkältet-sein. Birmanns ist für die Gesellschaft für Ge-sundheitsberatung tätig.

Auf deren Website veröffent-licht sie Fragen an den soge-nannten „Ganzheitsmediziner“ Birmanns und seine Antworten. So wandte sich eine verunsicherte Mutter an ihn. Gerade war ein Kind in Berlin an den Masern gestorben. Ihre eigene vierjäh-rige Tochter war nicht geimpft. „Kommt jetzt der Impfzwang?“, fragte sie ihn. Birmanns Einschät-zung der Gefahrenlage: „Das mas-senhafte Durchimpfen gesunder

len Raum Zustimmung, erlebte er im Freundeskreis Anfeindungen. Seitdem lässt er das Thema lieber ruhen. Diskussionen auf Augen-höhe vermisst der 1,70 m große Familienvater.

Ein Gegner, der keiner ist?

Wenn David mit seiner Impfkritik in Fahrt kommt, gerät er schnell in einen Monolog. Wahlweise flie-gen beide Hände durch die Luft oder er tippt mit einem Finger auf den runden Café-Tisch vor ihm. „Die Grundrechte werden durch eine Impfpflicht ausgehebelt“, be-hauptet er. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags überprüfte 2016 die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland. Demnach widerspricht diese dem Grundgesetz. David hat nicht nur damit ein Problem. Ärzte, Pharmakonzerne und Krankenkassen interessieren sich für Geld statt Gesundheit. Die Realität ist weniger drama-

tisch. Dem Robert Koch-Institut zufolge entfielen gerade einmal 0,65% der Ausgaben gesetzlicher Krankenversicherungen auf Impf-stoffe. Arzneimittel veranschlagen 17% der Ausgaben. Medikamente bringen einfach mehr Umsatz.Heute plant David seinen ersten Elternstammtisch. Dabei ist es ihm wichtig, sowohl Argumente für als auch gegen die Impfung von Kindern in die Diskussion zu tragen. Er möchte, dass sich die Eltern ihre eigene Meinung bilden. Sagt er. Wenig später hält er eine Abhandlung darüber, wa-rum Impfen die gesellschaftliche Ordnung bedroht…

Impfstoffe - Was ist drin?

Es gibt Tot- und Lebendimpfstoffe. Die einen enthalten abgetötete Erre-gerteile. Beim anderen kurbeln abgeschwächte und vermehrungsfähige

Erreger die Immunabwehr an. Sogenannte Booster verstärken, ähnlich wie Geschmacksverstärker beim Essen, die Wirkung der Impfung.

Impfschäden - Das Problem?

Bei 211 Mio. Impfdosen gab es 10 600 Ver-dachtsfälle auf Schädigung. Die Behörden

erkannten davon 169 offiziell an. Quelle: Nationaler Impfplan 2012

Zulassung von Impfstoffen

Zuständig in Deutschand ist das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Impfstoffe prüft das PEI viel strenger als Medika-mente für Schwerkranke.

Typische Nebenwirkungen

Dazu gehören Rötungen, Erwärmungen, Schwellungen und Schmerzen an der Injektionsstelle. Allerdings verschwinden sie nach ein paar Tagen.

*Name geändert

Posting aus Impf-gegner-Forum.

Nächtelanges Lesen: Leidet darunter

die Familie?

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Zungen

De Pabscht häts Bsteck zspaat bschtellt.

1

5

2

3

4

Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach.

Fischers Fritze fischte

frische Fische, frische

Fische fischte Fischers

Fritze.

Der Zahnarzt zieht Zäh-ne mit Zahnarztzange im Zahnarztzimmer.

Acht alte Ameisen aßen am Abend Ananas.

1=c, 2=a, 3=e, 4=b, 5=d

//bb

a

c

b

e

d

brecher

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Text: Lukas DraegerBilder: Lukas Draeger & Jana Antkowiak

Den Fußball verfolgen wir so häufig wie wohl keinen anderen Sport. Frü-

her im Radio, seit Jahren aber fast ausschließlich über das Fernsehen – weil wir von der Flimmerkiste nicht mehr loskommen. Oder hat das Ra-dio im Zuge der Fußballübertragung in der heutigen Zeit doch noch eine

Chance? Die Dortmunder Kultkneipe Balke machte den Versuch. 90 Minu-

ten Fußball – ohne Bild. Nur mit dem Radio.

Aus den Augen, aus dem Sinn

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QUERSCHREIBER

78 79

Ein weiterer Kontrahent des Radios: das Smartphone.

auf die Erfahrung - wenn auch nur für 90 Minuten - noch einmal in die Ver-gangenheit einzu-tauchen, überhaupt, Nostalgie einzu-atmen.„When you walk…“, ertönt es aus vier Laut-sprechern in den jeweiligen Ecken des Raumes, „…through a storm…“, stimmen Mann und Frau, Jung und Alt mit ein. Am Tisch links fliegen die ersten schwarz-gel-ben Schals durch die Luft. In diesem Moment ist der Gedanke an eine TV-Übertragung in ganz weite Ferne gerückt. Vielmehr fühlt es sich an wie im Stadion. Weni-ge Minuten später ist dieser Eindruck schon wieder verflo-gen. Die Gespräche der Männer und Frauen an den Steh-tischen werden nun intensiver – und vor allem: lauter.

Friseurbesuch löst König Fußball ab

Die junge, blonde Dame um die 25 hat jetzt den Ball und erzählt aufgeregt aus der vergangenen Woche. BVB-Net-radio-Kommentator Norbert Dickel steht im Abseits, seine Stimme findet nur

ging es ja schließlich auch. Früher, als Oma und Opa das Radio anschalteten, um dem zu lau-schen, was Man-fred Breuckmann, Werner Hansch, Rolf Töpperwien und später Toch-ter Sabine aus den Stadien der Nation in die Wohnzimmer warfen. Es stellt sich aber genau eine Frage: Ist das Radio für die Sportüber-tragung in der heutigen, durchdigi-talisierten Zeit noch eine Alternative zum TV und Strea-ming-Dienst? Oder hat uns die virtuelle Welt ganz und gar in ihren Bann gezogen? Rausgerissen aus den nostalgischen

Erinnerungen von früher macht sich an diesem noch so unverbrauchten Freitagabend, 20 Minuten vor Anpfiff des Spiels, zunächst Vorfreude im Balke breit. Vorfreude

Spiele am Sonntag-mittag (13:30 Uhr) und Montagabend (20:30 Uhr) exklusiv übertragen. Für die Besitzer von Kneipe, Taverne und Pub ein absolutes No-Go. Denn: Das Splitten der Übertragungs-rechte auf ver-schiedene Anbieter bedeutet für sie auch, Abonnements bei diesen verschie-denen Anbietern abzuschließen. Und somit: Höhere Ausgaben für das gleiche Endpro-dukt, für das sie in den vergangenen Jahren noch deutlich weniger zahlen mussten. Allein das Abonnement für den Eurosport-Play-er hätte Wirte und Wirtinnen zu Beginn der aktuellen Bundesliga-Saison 29,99 Euro kosten

lassen. Dazu die nicht weniger güns-tigen Abo-Preise für die übrigen Übertra-gungen durch Sky.Doch es scheint für den Moment ja auch ohne TV-Bild zu klappen. Früher

einzelne Lichtstrah-len durch den Raum schießt. Im Balke, ei-ner Kneipe im Dort-munder Kreuzvier-tel, haben sich heute knapp 30 Personen - mehr Männer als Frauen - getrof-fen. Sie alle wollen gemeinsam Radio hören. Genauer: Das Fußball-Bundes-liga-Gastspiel von Borussia Dortmund beim VfB Stuttgart verfolgen - mit ih-ren Ohren - vor dem Radio. Das Motto des Abends: „Back to the roots“.

Deutsche Kneipen

machen nicht mehr mit

Ihren Ursprung hat die Aktion in der Verteilung der TV-Übertra-gungsrechte für die

laufende Bundesli-ga-Spielzeit. Neben dem Pay-TV-An-bieter Sky darf Eu-rosport mit seinem Eurosport-Player die Freitagsspiele der Bundesliga sowie mögliche

S„chäfer nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt… aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt… Toooor, Toooor, Toooor!!!“. Nein, wir sind nicht zurück im Jahr 1954. Dennoch folgt ein Sprung die Vergan-genheit. Bisher ist es ein gewöhnlicher Freitagabend. Aber kalt ist es. Ein in der Dunkelheit grellgelb erstrahlendes Schild mit der Aufschrift „Spätvorstellung“ lädt ein in die war-me Stube. Zur Tür rein, empfangen von nostalgisch-gemüt-licher Atmosphäre, spielt sich zunächst ein konträres Bild zu dem ab, was wir tag-ein tagaus erleben. Der Blick fällt sofort auf den Boden, die schwarz-weißen Kacheln kommen frisch aus den 80ern.Bei gedämmtem Licht sorgt Kerzen-schein auf einigen Stehtischen für laue Stimmung. An der Bar türmen sich Spirituosen und Biersorten aus der Region. Komplet-tiert wird die Reise in die Vergangenheit durch eine große Diskokugel, die von der Mitte der Decke herunterhängt und

gefühlt spannender als mit Fernsehbild.“

Und dennoch war nach der ersten Spielhälfte bereits klar: Das, was gestern war, ist heute nicht mehr. Die Erinnerung und Nostalgie vergange-ner Tage sind nicht

verflogen, aber eben auch nicht allgegen-wärtig. Was bleibt, ist die Erinnerung. Die Erinnerung an die Zeit, mit der wir gegangen sind. Und das Wissen der Zeit, mit der wir nun gehen. Fußball ohne Fernsehbild wollen wir nicht mehr. Kön-nen wir vielleicht auch nicht mehr. Aber diese kleinen digitalen Zeitreisen lassen uns Vergan-genes reflektieren. Auch, um scheinbar Selbstverständliches wieder schätzens-wert zu machen.

gen könnte. Das aber war auch überhaupt nicht der Gedanke hinter dem „Rudel-hören“.

Die Erkenntnis: Das Experiment bleibt eine schmucke Aktion - ohne dau-erhaften Zukunft-scharakter. Das Bal-

ke machte an diesem Abend einen Schritt zurück, um am Ende zwei Schritte nach vorne zu gehen. Betriebsleiterin Melanie freut sich über die rege Besu-cherzahl an diesem Abend - und das nicht nur wegen der klingelnden Kassen. „Ich finde es gut, dass den Leuten unsere Aktion so gut gefallen hat.“ Ihr Blick schweift kurz ab. „Das war ein bisschen wie in alten Zeiten und niemand wusste so richtig, was passiert, das war

schon jetzt klar: Das Radio läuft dem Bildschirm nicht mehr den Rang ab. Nicht hier, nicht heute, nicht in Zu-kunft.

Zudem fällt der Ton immer wieder aus, mal zehn, mal 15, mal 30 Sekun-den. „Ton, Ton“, for-dert eben genau jene Frau, die bis dato in die Welt des Haare-schneidens vertieft war. Das Verlangen nach dem Fernseher, in Wortlaut aus-gedrückt, lässt sich nach einer knap-pen halben Stunde

und einer weiteren brisanten Spielszene nicht mehr zurückhal-ten. „Jetzt wäre ein Bild doch ganz schön, was?“, wirft

jemand noch etwas zurückhaltend in den Raum. Aber das gehört dazu. Zumin-dest heute Abend. Außer dem ein oder anderen Tonausset-zer erleben die Gäste nichts mehr, was sie in der Zukunft vom Fernsehbild abbrin-

Denn: Die Veran-staltung bleibt alles andere als monoton. Im Gegenteil: sogar aufschlussreich.

Erstes Tor bringt die

Offenbarung

Wie sehr wir an der Sportübertra-gung über Bewegt-bild hängen, zeigt das erste Tor des Abends, das für den VfB Stuttgart fällt. Im Radio hören wir den Treffer live. Im Moment des Aufschreis von Kommentator

Dickel aber gehen die besorgten Blicke der Gäste allesamt nach oben – hin zum schwarzen Fernseh-bildschirm, norma-lerweise Star der Kneipe, der es heute aber nicht mal in den Kader geschafft hat. Trotzdem wird

noch wenig Gehör. „Schürrle am Ball.Der schießt jetzt mal…ouhhh“, hallt es plötzlich aus den Lautsprechern und sprengt schlagartig alle Gespräche der Anwesenden. Sofort ist es still im Raum, wo Sekunden zuvor noch monotones Gerede war. Ein Sze-nario, das sich den ganzen Abend fort-setzt. Immer wieder finden die privaten Gespräche der Gäste zurück in den Mit-telpunkt. Nach jeder brisanten Aktion, die in Stuttgart passiert, ein kurzes Aufhor-chen. Anschließend wieder zurück zum Friseurbesuch.

Keinesfalls aber hat das Radio die Stimmung ver-grault. Dafür sind die Aktionen der Gäste durch ihre Gespräche und die Reaktion auf den Radiokommentar zu präsent. Die Betriebs-leiterin des Balke, Me-lanie Adam, stützt diesen Ein-druck mit Bezug auf die Lokale, die auf das Radio verzichten und zum TV greifen: „Ich denke, dass die Stimmung hier heute in Ordnung ist. In Lokalen mit Bewegtbild wird sie aber ähnlich sein.Stimmung? Durchschnittlich, aber auch besonders.

„Jetzt wäre ein Bild doch ganz schön,

was?“

Norbert Dickel steht im Abseits.

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„Hey, ich lebe noch“

Text & Bilder: Leonard Fischer

Mit acht Jahren erkrankt Lena Balitzki an Leukämie. Sieben

Monate lebt sie im Krankenhaus, wo der Killerarzt Dr. Hofmann ihr Leben rettet. Jetzt rettet sie

selber welche.

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QUERSCHREIBER „HEY, ICH LEBE NOCH“

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Körper aus, Kopf, Beine, Arme, Augenbrauen, Wimpern. In einem Isolationszimmer dürfen sich ihr die Krankenschwestern nur mit Mundschutz nähern – Lenas Immunsystem ist ein Wrack. Eine 75-prozentige Überlebenschance geben ihr die Ärzte damals. Lenas Eltern denken häufiger an eine andere Zahl: 25 Prozent.

„Hey, ich lebe noch“

2018: In Lenas Studentin-nen-Zimmer wohnt das Skelett Stan. Der sporadische Kleider-ständer ist derzeit kopflos, eine Freundin paukt die Anatomie des Schädels. Das Muskelsystem des Menschen hängt an der Wand neben ihrem Bett, im Buchregal stehen der „Herold“ für inne-re Medizin, der „Karow“ für Pharmakologie und Toxikologie und die Prometheus-Anatomie-atlanten als Relikt der Vorklinik. Ärztin wollte Lena schon immer werden. In der achten Klasse lässt sie sich zur Schulsanitäterin, spä-ter zur Sanitätshelferin ausbilden. Nach dem Abi – 1,0er-Abschluss

– macht sie ein FSJ beim Arbei-ter-Samariter-Bund, fährt ehren-amtlich den Rettungswagen. Dort trifft die junge Frau Dr. Hofmann nach neun Jahren wieder – mitten im Einsatz.

Während ihrer Zeit im Kran-kenhaus schreibt Lena Geschich-ten. Über den Krankenhausalltag, die Chemo-Therapie, den „Kil-lerarzt Dr. Hofmann“, der sie vier Mal mit der Nadel sticht. Die Beschreibung des Killers: Röt-lich-braunes Haar, braune Augen, 1,76 Meter groß, immer lustig und selbst in kritischen Situati-onen zu Scherzen aufgelegt, von Beruf Killerarzt. Das Opfer: 1,31 Meter klein, kommt oft auf origi-nelle Ideen, blaue Augen, Som-mersprossen, fast neun Jahre alt, haarlos. Sieben Monate verbringt Lena im Krankenhaus.

Die Erfahrungen ihrer Kind-heit, sich unfreiwillig früh mit Leid und Tod auseinandersetzen zu müssen, haben Lena schnell erwachsen werden lassen. „In der Pubertät, wenn die anderen Mädchen ankamen mit Pickeln, Liebeskummer, Mama doof, dach-te ich nur: Hey, ich lebe noch.“ Im Umgang mit Patienten hat sie einen Empathievorteil. Statt klinischer Distanz und kalter Fachkenntnis schießen ihr Erinne-rungen durch den Kopf. „Ich weiß, wie es ist, vom einen auf den anderen Moment aus dem Leben gerissen zu werden.“

In ihrem Medizin-Studium ist Lena Teil der „Krebs-Gang“. Sie hatten Krebs im Knochen, Krebs im Auge oder Krebs in den Lymphknoten. „Viele haben eine medizinische Vorgeschichte“, sagt die junge Frau und nippt an ihrem

Ingwer-Zitrone-Tee, in dem eine Limettenscheibe badet. Es ist die Geschichte eines intrinsischen Drangs, die eigene Vergangen-heit zu verstehen, indem sie neben menschlichen Körpern die Medizin selbst sezieren in zehn Semestern entbehrungsreichen Studiums. Sie wollen lernen zu helfen, nachdem ihnen geholfen wurde. Lena möchte Anästhesistin werden. „Das sind die, die gerufen werden, wenn gar nichts mehr läuft und niemand mehr weiß, wie man den Patienten am Leben halten kann.“ Onkologin ist für sie keine Option. Die Erinnerun-gen sind zu stark.

Leben retten

schwer gemacht

2003: Nach ihrer Entlassung darf Lena dank des Vereins Herzens-wünsche e.V. zur Delfintherapie auf Teneriffa. Ihre Haare sprießen schon wieder wie ihr Lebensmut, den sie mithilfe der Tümmler Stück für Stück zurückgewinnt. Ihrem Lieblingsarzt Dr. Hofmann schickt sie von dort eine Postkarte und bringt ihm ein kleines Surf-brett mit.

5.000 Kilometer weiter südlich: „Ab jetzt stündlich Blutdruck messen.“ Lena Balitzki blickt ein-dringlich in die tiefbraunen Au-gen der Frau mit kurzen, schwar-zen Filzlocken, deren rundlichen Körper eine rosafarbene Kran-kenschwester-Kluft umsäumt.

„Ich weiß, wie es ist, aus dem Leben gerissen

zu werden.“

Lena mit Delfin auf Teneriffa.

Das Baby in der Wiege ist bewusst-los, seine Haut bläulich verfärbt. Die Muskulatur des kleinen Kör-pers zuckt rhythmisch, doch der epileptische Anfall ebbt bereits ab. Behutsam nimmt Lena Balitz-ki das Kind aus der Wiege. Als ausgebildete Rettungssanitäterin weiß sie, dass so ein Fieberkrampf meist glimpflich ausgeht. Nun stößt auch der Notarzt hinzu. Nach kurzer Sicht auf das Kind – alles gut – kreuzt sein Blick den der jungen Frau. Grübelei, Verwunderung, sie kennen sich irgendwoher. „Lena?“ „Dr. Hofmann?“ Neun Jahre sind seit ihrem letzten Treffen vergangen.

80 statt fünf Prozent

Rückblick: Am 6. Mai 2003 kommt die gleiche Lena völ-lig entkräftet von der Schule nach Hause. Die blassen Lippen ihrer Tochter beunruhigen Lenas Mutter, sie sucht einen Arzt auf. Wenige Stunden später der Anruf der Praxis, noch am selben Abend muss die Achtjährige ins Kran-

kenhaus. Untersuchungen erge-ben: In Lenas Knochenmark teilen sich Zellen unkontrolliert und viel zu schnell. Funktionsuntüchtige weiße Blutkörperchen werden massenhaft produziert und ver-drängen die intakten Bestandteile des Blutes. Ein gesunder Mensch hat maximal fünf Prozent unreife weiße Blutzellen im Körper. Bei Lena sind es 80 Prozent. Die Diag-nose: Leukämie.

Nie wieder

Kartoffelsuppe

Dröhnender Bass, verklebte Schuhsohlen, Alkohol fließt in rauen Mengen. Mediziner-Party eben. Lena ist inzwischen 23 Jahre alt. Sie ist mit einigen Freundin-nen gekommen, trifft bekannte Gesichter, redet über dies und das, regelmäßig die Einladung zum Trinken, aus der zuweilen eine Aufforderung wird. Lena lehnt ein Glas ab, auch den nächsten Shot, sie verweigert Wodka-O und Flying Hirsch. Immer wieder muss sie sich erklären, warum sie nicht will. „Es wurden schon so viele Medikamente in meinen Körper gepumpt. Ich muss ihm nicht noch zusätzliches Lebergift zumuten.“ Auch sonst lebt die

Medizinstudentin gesund, viel Obst, drei Mal pro Woche Ak-robatik. Kartoffelsuppe kann sie nicht mehr sehen, die gab es im Krankenhaus zu oft. Lena kennt den Wert der Gesundheit. „Ich habe damals den Jackpot geknackt. Den Gewinn will ich nicht ver-schwenden“.Die größten Probleme der acht-jährigen Lena nach der Diagno-se: kein Besuch von Freunden, kein Milcheis, kein Obst, keine frischen Erdbeeren von der Oma, kein kühlendes Bad im Jahrhun-dertsommer 2003 mit Tempera-turen von über 40 Grad Celsius. Die Infektionsgefahr ist zu hoch. Die Ärzte legen einen Port in die Schulter der Achtjährigen, durch den Medikamente unmittelbar in eine Vene geleitet werden. Die Chemotherapeutika töten alles, was sich schnell teilt, Krebszellen und Kollateralschäden, verwüs-ten Lenas Körper von innen. Die Haare fallen ihr am ganzen

Das Opfer: 1,31 Meter klein, blaue Augen, Sommer-sprossen, fast neun Jahre alt,

haarlos.

Mit einem Blick auf die Bilderwand taucht Lena in ihre Vergangenheit ein.

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QUERSCHREIBER „HEY, ICH LEBE NOCH“

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Leukämie darf sie das eigentlich nicht. Frust macht sich breit in der angehenden Medizinerin, die hergekommen war, um zu helfen. Dass man es ihr so schwer macht, hat sie nicht erwartet. Plötzlich sirrt es, Dunkelheit - Stromaus-fall, nicht zum ersten Mal. „Wir glauben, dass Sie die Einzige sind, die hier wirklich Leben rettet“, sa-gen zwei Patienten und schenken der jungen Frau ein bedauerndes Lächeln. Das gibt neuen Mut.Schwere Krankenhaustüren schwingen auf, Lena und Dr. Hof-mann schieben das Baby auf einer

Fahrtrage in die Notaufnahme der Dortmunder Kinderklinik. Die Gänge der Notaufnahme, deren grelle Leuchtstoffröhren

„Jede Stunde. Hörst du?“ Seit elf Stunden arbeitet Lena ohne Pause, sie muss heim. Schlafen, um mor-gen wieder fit zu sein. Seit einer Woche ist die 23-jährige Medi-zinstudentin allein auf Station in einem ghanaischen Krankenhaus, selten schaut ein Arzt vorbei. Am nächsten Morgen kommt sie früh zurück in die Klinik. Der Pati-ent ist tot. Ein Blick in die Akte zeigt: Der Blutdruck wurde nicht gemessen.

„Der Tod ist

Gottes Wille“

Wer in Ghana Leben retten will, hat es nicht leicht. Sechseinhalb Wochen versucht Lena es trotz-dem. „Wenn jemand krank ist, sagen die Leute, man soll beten. Und wenn jemand stirbt, dann war es Gottes Wille.“ Viele sind „abgenippelt“, wie Lena es nennt. Viele sterben wegen Nichtigkei-ten, Unfähigkeit oder Unwillen des Personals. An den Ressourcen scheitert es oft nicht, die meis-ten Leben sind mit Basismedizin zu retten. Als die Blutkonser-ven einmal ausgehen, spendet Lena einfach selbst. Wegen der

Am nächs-ten Morgen kommt sie

früh zurück in die Klinik. Der Patient ist tot.

Die medizinischen Bedingun-gen in Ghana sind karg.

die Elefanten, Giraffen und Zebras an den bunt bemalten Wänden er-hellen, gehörten bis vor wenigen Jahren zur onkologischen Am-bulanz. Lena und Dr. Hofmann kehren an den Ort zurück, an dem sie sich vor neun Jahren schon einmal gegenüberstanden. Er wie heute mit rötlich-braunem Haar, braunen Augen, 1,76 Meter groß. Sie 1,31 Meter klein, blaue Augen, Sommersprossen, haarlos. Wo damals eine Glatze war, hat Lena nun einen dichten, dunkelblonden Schopf, der ihr ungezwungen auf die Schultern fällt.

Noch nicht genug

„Hast du noch nicht genug von Ärzten?“, fragt Dr. Hofmann spitzbübisch, während sie das Kind in Richtung Arztzimmer bringen. „Offenbar nicht“, denkt Lena Balitzki und wendet sich wieder ihrem kleinen Patienten zu.

„Wenn jemand krank ist, sagen die Leute, man

soll beten.“

Lena mit ihrem kopflosen Mitbewohner Stan.

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Lass uns streiten!

„Kameraden im Namen der Demo-kratie – dafür lasst uns streiten!“, proklamiert Charlie Chaplin am

Ende seiner Schlussrede in „Der gro-ße Diktator“. 78 Jahre nach dem Film streiten die Mitglieder und Speaker von „Köln spricht“ und „Wuppertal spricht“ beim Bier über die Frage:

Dürfte sich ein AfD-Mitglied bei euch engagieren? Zu Besuch bei einem

demokratischen Stammtischohne Parolen.

Text: Isabell FrischBilder: Isabell Frisch & Tobias Scheffel

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LASS UNS STREITEN!

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Es ist später Abend, als die 18 Mitglieder mit der Organisations-besprechung für die nächste Ver-anstaltung in Köln fertig sind. Die Aufgaben sind verteilt und 15 von ihnen beschließen noch „auf ein Bier ins Soylent Green“ zu gehen. Das Viertel rund um die Kyffhäu-serstraße 23 ist gut besucht und die Leute stehen mit Wollmützen sowie Jutebeuteln vor urigen Kneipen. Auch Lisa, Lena, Patrick und Sarah tragen scheinbar gerne alternativen Chic.

Sarah Maschek hat Hunger und geht in die Dönerbude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der etwas andere Stammtisch ist Thema Nummer eins. „Zu Anfang gibt es immer einen politischen Monatsrückblick. Den macht meist unser Gründer Fabian. Manchmal glaubt man gar

nicht, wie viel in einem Monat passiert“. Sie lacht laut los. Das heißt bei uns „Was hat dich am meisten bewegt“.

„Frag mich alles“

Mit ihren 1,74 m sitzt die junge Frau auf dem Barhocker an der schmalen grauen Theke der Dönerbude. Ihre braunen Haare fallen knapp über die Schulter. Damit sie sich besser unterhalten kann, dreht sie sich nach rechts. „Außerdem diskutieren wir unter dem Motto ‚Frag-mich-alles’. Wer an dem Abend Moderator oder Moderatorin ist, darf nicht mitdis-kutieren. “ Überzeugt von dem Konzept, bleibt Sarah realistisch: „Moderatoren sollen neutral blei-ben. Wir schaffen es nicht immer, aber wir lernen dazu.“ Beim letz-ten Satz lächelt sie verschmitzt. Bei diesem Format hat bereits eine Borderlinerin ihre Geschichte erzählt. Auch der Rapper Amer Wakkan hielt schon das Mikrofon in der Hand. Amer sprach über seine Flucht aus Syrien und wie er sich ein neues Label in Köln suchte. Demnächst soll ein Jour-nalist Rede und Antwort stehen. Genüsslich beißt Sarah in ihren Döner: „Hier gibt es das beste Fladenbrot – selbstgebacken.“ Sie ist eine dieser kommunikativen sowie ständig fröhlichen Frauen und sieht eine Herzensangelegen-heit in diesem Projekt. Zu allen Fragen weiß sie eine Antwort,

ansonsten hakt Sarah konsequent nach. Neben „Köln spricht“ ist sie Parteimitglied bei den Grünen. Dort ist sie weniger aktiv, erzählt sie, und setzt ihre Becks-Dose aus Aluminium zum nächsten Schluck an.

Zurück in der Kneipe treffen wir den Initiator Fabian Guzzo. Orientiert am Londoner Vorbild lud er via Facebook „aus Jux und Tollerei“ zum ersten demokra-tischen Speakers Corner 2016 in Köln ein. „Das Ganze ist aus ei-nem völligen Zufall entstanden.“ Innerhalb von 24 Stunden setzten 1400 Menschen ihren Daumen unter die Veranstaltung. „Ich habe vorher schon einige Partys orga-nisiert, aber damit fühlte ich mich total überfordert.“ Der 29-Jährige schüttelt den Kopf. „Mit sowas konnte ja auch niemand rechnen.“ Fabian ist noch immer eupho-risch, wenn er von den Anfängen spricht. Nachdem er in der Grup-pe um Hilfe bat, trafen sich eine Woche später die ersten Mitglie-der. Zum Auftakt am Aachener Weiher kamen 500 Besucher. „Da-mals stand ein Mikrofon auf der Bühne, ich besorgte einen DJ, die Besucher brachten Decken sowie Getränke mit und jeder konnte sich spontan anmelden.“ Bis zu 15 Minuten stritten die Speaker am Mikrofon zu einem für sie wichtigen Thema. „Es waren auch grenzwertige Beiträge dabei, bei denen Besucher die Veranstaltung verließen.“ Der Student zuckt mit den Schultern. „Wir hatten einen Gast, der an Aids erkrankt ist und darüber sprach, dass dies keine Krankheit sei.“

Auf ein Bier!

Das gedämpfte Licht scheint auf das rustikale Mobiliar in der Kneipe. Die Wände sind zur Hälfte in schwarz und zur ande-ren Hälfte in grün gestrichen. In der Mitte befindet sich die Bar aus massivem Holz. Gegenüber stehen einige Teammitglieder am Kicker. Andere lassen die vorhe-rige Besprechung beim Bier und

Chefsache: Gründer Fabian diskutiert mit Sarah.

einer gedrehten Zigarette vor der Tür Revue passieren. Dazu gehört auch Patrick Koch. Über politi-sche Themen redet er gerne. Er selbst ist FDP-Mitglied. Der junge Mann trägt eine gelbe Cap mit dem Schirm nach hinten. Über dem Verschluss an seiner Stirn ist ein Loch. Er redet weniger als Sarah und Fabian. Bei Fragen runzelt er skeptisch die Stirn, hört aber genauer zu. Er dreht seinen Kopf nach rechts und überlegt. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Christian Lindner und Sebastian Kurz sind authen-tisch. Das hat Hand und Fuß. Sie sind rhetorisch gut drauf“, antwortet der junge Mann auf die Frage, was er von ihnen hält. Seine Einschätzung zu dem neuen Chef in Österreich gibt Anlass für weitere Fragen: Siehst du es kri-tisch, dass Sebastian Kurz von der konservativen ÖVP unmittelbar nach seiner Wahl in Koalitions-verhandlungen mit der rechten FPÖ, statt der sozialdemokrati-schen SPÖ getreten ist? Patrick schüttelt den Kopf, während er zurück in die Kneipe geht: Er sieht es nicht kritisch.

Der Gründer Fabio, wie ihn die meisten nennen, steht an der

Theke des „Green“. Er trägt eine beige Jeans, eine blaue Jacke und Chucks. Auf der Nase sitzt eine Brille aus einem Metallgehäuse. Im Hintergrund läuft Punk, Rock, Ska und Metal. „Diversität ist wichtig.“ Er grinst und macht eine Geste, die an Don Vito Corleone aus „Der Pate“ erin-nert. Mit Anfang 20 ist Fabio in die FDP eingetreten und hat als passives Mitglied „mit Herzblut an den Kapitalismus geglaubt.“ Dieser Glaube schwand und er trat aus. Anschließend enga-gierte sich Fabian ehrenamtlich für Flüchtlinge und schloss sich den Linken an. Doch auch diese Partei entsprach nicht dauerhaft seinen Vorstellungen: „Ich wollte nicht mehr ständig mit alten weißhaarigen Männern diskutie-ren, die viel sprechen und wenig sagen.“ Heute unterrichtet der 29-Jährige, neben seinem Psycho-logiestudium, Flüchtlinge an der Volkshochschule. Seinen Bachelor in Journalismus hat er bereits abgeschlossen und bald soll es in Richtung Politik und Soziologie gehen. „Ankommen bedeutet für mich stillstand.“

Links, grün, liberal

„Zu Anfang ging es vor allem um den Austausch“, erzählt Fabi-an. Dabei waren Linke wie Rechte willkommen. „Trotzdem sollte es ein Gegenpol zum ansteigenden Rechtsruck sein.“ Routiniert spult der Gründer seinen Text zu solchen Fragen runter. Doch es gab auch Rückschläge. Der Ansturm an Besuchern ließ nach. „Wir haben nur von Veranstal-tung zu Veranstaltung gedacht“, reflektiert er. Außerdem hat es Probleme im Team gegeben. Der Wendepunkt kam bei „Z2X – Die neuen Visionäre“, einem Festival von „Zeit online“. Fabio stellte

dort sein Konzept von „Köln spricht“ vor und gewann den Award. „Danach sind neue Leute in unser Team gekommen. Men-schen wie Sarah, die neuen Input lieferten.“ Aus zwölf Mitgliedern sind mittlerweile 34 in Köln, fünf in Wuppertal und acht Aktive in Düsseldorf geworden. „Das gab mir nochmal einen richtigen Schub und Motivation.“

Neue Kräfte gaben neuen Input - und so ging es weg von dem links grünen Image. „Hin zu mehr Diversität.“ Das ist Fabian besonders wichtig und kommt auch in anderen Städten an. Und so streiten sich Mitglieder und Gäste neben Köln auch durch Düsseldorf, Wuppertal und Gie-ßen. Bonn ist in Planung. In Essen muss das Team noch wachsen, bevor es losgehen kann. Wie viel Manpower ein Team mitbringt, so sieht auch die Veranstaltung aus. Jede ist anders. „Zwischen den Impulsreden sorgen Bands

„Wir schaffen es nicht immer, aber wir lernen

dazu.“

Neue Kräfte gaben neu-en Input.

Sarah und Patrick hören ganz genau hin und bleiben kritisch.

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QUERSCHREIBER

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für eine musikalische Auszeit, in der sich die Gäste austauschen können.“ Wer noch nicht genug hat, sucht sich einen Platz in der „Sprich-weiter-Ecke“ oder geht zu „Quatsch mit Soße“. „Dabei stehen sich wildfremde Menschen gegenüber und beantworten Fragen, die vom Moderationsteam gestellt werden“, erklärt der Initi-ator von „Köln spricht“.

Zu später Stunde sind die Meisten schon gegangen. Sarah, Lena, Patrick und Fabian stehen noch mit ein paar Freunden vor der Tür des „Soylent Green“. Im Hintergrund leuchtet das Logo. Eine Hälfte schwarz, die ande-re grün. So, wie es auch in der Kneipe aussieht. Zeit, um sich ein bisschen über aktuelle politische Ideen auszutauschen. „Frauen sind bei dem Thema Gleichbe-rechtigung noch zu emotional.“ Sarah, die Frau der klaren Worte. Ihre Mitbewohnerin Lena steht neben ihr und nickt. „Das sehe ich auch so. Und die Männer halten da immer noch zusammen“, ergänzt sie selbstbewusst. Bei „Köln spricht“ liegt der Anteil an Frauen und Männern jeweils bei 50 Prozent. „Wir versuchen das auch auf der Bühne paritätisch

zu halten.“ Fabian schaut rüber zu den Mädels. Bisher hat er die Erfahrung gemacht, dass sich die weiblichen Speaker weniger trau-en. „Es ist wichtig, Frauen mehr zu ermutigen.“ Fabian ist da ganz überzeugter Feminist.

Würdet ihr ein AfD- Mitglied akzeptieren?

Patrick zieht bei der Frage er-neut die Augenbrauen zusammen. Dann dreht er den Kopf nach rechts zum Billardtisch. Um nicht von dem grünen Licht geblendet zu werden, blinzelt er mit den Augen. Dann sagt er: „Ja! Aber ich weiß auch, dass es geteilte Meinungen dazu gibt.“

Sarah und Fabian stehen vor der Theke. Hinter ihnen der Kicker, an dem noch ein paar junge Leute spielen. Sarah schaut Fabian skeptisch an. Die Nase gerümpft. Fabian blickt an ihr vorbei in Richtung der Schnapsflaschen, hinter der Theke. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Er überlegt. „Klar.“ Daraufhin zuckt Sarah mit den Schultern. „Wenn die Person ins Team passt und sich integriert.“ Sie ergänzt. „Ich habe bei ‚Köln spricht’ einen Grundsatz gelernt - sachlich und inhaltlich hart zu streiten bedeutet nicht, sich nicht gerne zu mögen.“ Ein breites Grinsen zeichnet sich auf Sarahs Gesicht ab.

Damit Gäste wie Mitglieder richtig streiten können, benö-tigten sie eine möglichst große Palette an politischen Einstellun-gen. „Rechts außen würde uns sehr freuen. Lars Müller, einer von uns, ist sehr konservativ - auch wenn er sich selbst als links bezeichnet.“ Sarah und Fabian lachen. „Diversität kann uns nur weiterbringen.“ Fabian schließt die Diskussion á la Corleone ab. Alle trinken ihr Bier aus. Für heute wurde genug gestritten. In 10 Minuten kommt die Bahn.

Let‘s talk about Politik - ein Stammtisch ohne Parolen.

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Zwischen Knast und Kundschaft

Tobias wohnt bei seiner Oma. Und dealt mit Drogen, um seinen Traum von der Angelhütte in Holland zu

verwirklichen. Über einen früheren Einser-Schüler mit Knasterfahrung...

Text & Bilder: Erik Asmussen

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QUERSCHREIBER

9796

Er griff einen Lehrer an - nächste Station: Hauptschule. Dort brachte es der chro-nische Schulschwän-zer immerhin zum Abschluss nach der neunten Klasse. 2011 war das. Dabei wäre sicherlich mehr für ihn drin gewesen. Intelligen-ter als seine meisten Berufskollegen ist Tobias zweifelsoh-ne. Er drückt sich vernünftig aus und bedient sich beim Bezahlen des Bil-lardtischs sogar der Höflichkeitsformeln danke und bitte.

Der Tod seiner Mutter

änderte alles

Wahrscheinlich warf ihn der Tod sei-ner Mutter aus der Bahn. Sie starb 2009, seinen Vater kennt er nicht. Der lebt in Italien, wohl ein früherer Urlaubsflirt der Mutter. Seitdem lebt er bei seiner Oma. Bei - und nicht mit. Er würde zwar „nie etwas auf sie kommen lassen“, dennoch scheinen Enkel und Großmutter kein besonders inniges Verhältnis zu haben. Sie essen nicht zu-sammen und sehen sich generell selten. Wann sie zuletzt etwas zusammen unternommen

er im Gefängnis saß. Für das Risiko lässt sich Tobias fürst-lich entlohnen. In der Anklageschrift hieß es, er würde mehr als 120.000 Euro pro Viertel-jahr verdienen, prahlt Tobias und schmunzelt selbst-gefällig. „Für die nächsten Jahre habe ich ausgesorgt.“ Aber eben nicht für immer. Daher jagt Tobias weiterhin das schnelle Geld. Sein Plan: „Wenn ich ge-nug gebunkert habe, dann haue ich ab. Ich kaufe mir in Hol-land eine Hütte am Meer und angel.“ Und selbst, wenn er seinen ambitionier-ten Lebensplan mit einem anderen Job finanzieren könnte: „Nichts auf der Welt bringt mich dazu, arbeiten zu gehen.“ Er blickt entschlos-sen drein. „Ich lasse mir nicht sagen, was ich zu tun habe.“

Ein Blick auf seine Schullaufbahn verleihen seinen Worten zusätzliche Glaubwürdigkeit. Die begann mit Ein-sen in der Grund-schule, endete aber weniger glorreich. Nach kurzer Zeit auf dem Gymna-sium wechselte er auf die Realschule. Dort schaffte er es nicht mal bis zum Halbjahres-Zeugnis.

Sozialstunden ab, aber absitzen musste Tobias noch nie.

120.000 Euro pro Vierteljahr

„Das war schon heftig“, sagt Tobias mit ruhiger Stimme und versenkt die rote Neun. Rund eineinhalb Jahre sind seitdem vergan-gen. Der dauergrin-sende, junge Mann mit einer markanten Gesichtsform und Millimeter-Schnitt bei einem seiner wenigen Hobbys: Billard spielen.

Er hatte reichlich Zeit, um einiges zu verändern. Das einzig Neue: ein Rauchendes-Totenk-opf-Tattoo auf dem

austrainierten Ober-arm. Einen besseren Schulabschluss, eine Lehre machen - Pustekuchen. Er schläft immer noch bis zwölf Uhr. Und er hat seinen alten Job wieder. Denn für den braucht er kein Vorstel-lungsgespräch oder Führungszeugnis. Keinen seiner Käu-fer interessiert, ob

Beamte des Sonder-einsatzkommandos sein Reich im Dachbodengeschoss des zweistöckigen Hauses auf den Kopf. Sie werden nicht wirklich fün-dig. Denn Tobias ist ja nicht dumm. „Ich pass immer auf, dass ich nichts zuhause habe, eigentlich habe ich ja damit gerech-net, dass das eines Tages passiert.“ Ganz so schlau, wie der 22-Jährige gerne sein würde, ist er aber auch nicht. Denn die Menge an Rauschgift und seine Sammlung an unerlaubten Waffen reicht den Beamten, um ihn mitzuneh-men. Wortlos vorbei an seiner Oma,

die wie angewur-zelt da steht, wird er ins blau-weiße Taxi verfrachtet. Die Fahrt wird ihm bezahlt, dafür darf er sich das Ziel nicht aussuchen: U-Haft. Ungewissheit. Wie lange? Wohin? Was wartet dort auf ihn? Nach „Jugendsün-den“ wie Diebstahl leistete er zwar das ein oder andere Mal

Stell dir vor, du baust Scheiße. Die Polizei holt dich morgens ab und durchsucht das Haus deiner Familie. Dann: Knast. Während deine Freunde den Sommer genießen, sitzt du wochenlang in Untersuchungs-haft. Ungewissheit, für wie lange und was danach kommt. Plötzlich Erleich-terung. Du darfst wieder raus. Und was machst du dann? Dein Le-ben umkrempeln, Reue zeigen, einen Neuanfang starten? Oder: Du machst einfach weiter, wo du aufgehört hast. So wie Tobias*, 22 Jahre alt, aus Wuppertal. Beruf: Drogendealer.

Anfang Juni 2016. Acht Uhr morgens. Tobias wird unsanft geweckt. Schlimm genug, dass es noch so früh ist, denn für gewöhnlich beginnt er seinen Tag gegen zwölf Uhr. Schlim-mer noch: Es ist nicht seine Oma, bei der Tobias wohnt, sondern die Polizei. Im Beisein seiner fassungslosen Groß-mutter stellen vier

nicht einmal danach gefragt, als er wieder zurückkam.

Über die Zeit hinter den schwe-dischen Gardinen hat er ohnehin nicht viel zu berichten. Nur, dass er Glück hatte: Ein Bekannter saß zur selben Zeit in der selben JVA. Er habe ihm Vieles erleichtert und ist von der flüchtigen Bekanntschaft zu einem engen Ver-trauten avanciert. „Er war schon ein paar Wochen länger da als ich.“ Gut für Tobias, denn so hatte er jemanden „zum Chillen, Reden und jemanden, der mir Tipps gibt.“ So schlimm, wie das Gefängnisleben oft dargestellt wird, sei es ohnehin nicht gewesen. „Draußen wird viel Scheiße geredet. Wenn du clever bist, gehst du Stress aus dem Weg und lässt dich nicht provozieren.“ Ärger wollte er eh nicht machen, um seinen

in dem man Fragen stellt, wenn das gan-ze Haus mal wieder nach Gras stinkt. Ob man als Teenagerin wirklich jemanden anhimmelt, der Dro-gen verkauft und be-reits Gefängnis-Luft schnupperte? Wohl eher nicht. Das kann auch Tobias nicht abstreiten. Entspre-chend entschuldigte er sein sechswö-chiges Fehlen im letzten Sommer mit einer Urlaubsreise. Tobias ließ sich also die Mittelmeer-Son-ne in Spanien auf den Bauch scheinen, und starrte nicht rund 20 Kilometer entfernt von Zu-hause an die Decke einer Acht-Quad-ratmeter-Zelle. Das glaubt vielleicht eine Grundschülerin. Aber nicht seine Großmutter. Au-ßerdem stand sie ja in der ersten Reihe, als Tobias abgeführt wurde. „Wir haben bis heute kein Wort über den Vorfall ge-sprochen.“ Sie habe

zum Handball-Trai-ning. „Wenn ein Elternteil stirbt, dann wächst man sehr zusammen. Für sie bin ich der Größte“, erzählt er mit leuchtenden Augen. Nur blöd,

dass Anna langsam, aber sicher erwach-sen wird. Und bald in das Alter kommt,

ändern mussten.“Nur bei einer

Sache wird der harte Tobias ganz weich. Seine zehnjährige Schwester Anna*. Sein wunder Punkt. Wenn er zur Ab-wechslung keinen

kriminellen Aktivi-täten nachgeht, holt er sie von der Schule ab. Oder bringt sie

haben? Daran kann sich Tobias nicht mehr erinnern.

Naheliegend, dass sich seine rebellische Attitüde auf die zerrüttete Familien-struktur zurückfüh-ren lässt. Da passt es ganz gut, dass er die Rapper des Hambur-ger „Künstler“-Kol-lektivs 187 Stra-ßenbande als seine Vorbilder nennt. Denn die haben ebenso ein Prob-lem mit staatlichen Strukturen. Und prahlen - natürlich - mit dem Konsum und Verkauf von Drogen. „Und der Staat lutscht mein Schwanz, man ich kack auf die Bank. Hauptschule abge-schlossen - 3,6 - hat-te elf Jahre Schule aber keinen Respekt. Und ich scheiß aufs Gesetz…“, rappt deren Frontmann Bonez MC. Tobias ist begeistert: „Die haben es allen ge-zeigt und verdienen jetzt auch Millionen, ohne dass sie sich

Das einzig Neue:Ein Totenkopf-Tatoo.

„Für meine Schwester bin ich der Größte“

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hinzu. „Wenn man mir alles nachweisen könnte, könnte ich laut meinem Anwalt mit mit drei bis zehn Jahren rechnen“, sagt Tobias und grinst wieder. Er ist zuversichtlich, dass es nicht so kommt. „Wenn das so wäre, warum wurde dann immer noch kein Prozess eröffnet?“ Mit diesem Gefühl der Unbesiegbarkeit haben sie ihr Ge-schäft nach einigen Wochen des Fü-ße-Stillhaltens nur Wochen nach Tobias’ Freilassung wieder ans Laufen gebracht. „Wenn man in einer Größenordnung wie ich unterwegs ist, dann gibt es Leute, die verlassen sich auf einen. Und zwar verbindlich.“ Da sei es nicht so leicht, einfach einen Schlussstrich zu ziehen. Außerdem braucht Tobias noch mehr Geld, um seinen Traum vom Eigenheim im Land der blühenden Tulpenfelder zu verwirklichen. Ein normaler Job kommt ja bekanntlich nicht in Frage. Und wer weiß: Sollte er ver-urteilt werden, dann muss er wohl noch schneller weg, als ihm lieb ist. Denn Eins steht fest: „In den Knast gehe ich nicht noch mal“, stellt Tobias klar, während sein Handy vibriert. Nach einem kurzen Telefonat verabschiedet er sich, er muss los. Kundschaft wartet.

Motorroller als Fortbewegungsmit-tel. Auch bei Justin und Lukas stürmte das SEK im vergan-genen Juni die Woh-nungen. Justin stand zu diesem Zeitpunkt unter der Dusche. Im Gegensatz zu Tobias kamen die beiden 23-Jährigen mit dem Schrecken davon. Lukas musste eine Nacht mit einer Zelle Vorlieb neh-men, Justin wurde nur vernommen und durfte dann gehen.

Unter der Dusche, als das SEK in

die Wohnung stürmte

Ihnen wird vorgeworfen, beim Verkauf von Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen geholfen zu haben. Während-dessen hat Tobias’ vorläufige Anklage-schrift schon mehr

Tinte verbraucht. Bei ihm gesellen sich der Besitz und der Verkauf von Betäubungsmitteln

selbstverständlich mit ihm am Billard Tisch. Obwohl das Kontaktverbot noch immer Bestand hat. Wenn es draußen kalt ist, sind sie oft hier. Auch sonst verbringen die Drei eigentlich jeden Tag miteinander. Neben ihrer größten Leidenschaft, dem Kiffen, zocken sie stunden- oder auch

tagelang im On-line-Casino oder Ego-Shooter-Games am PC. Im Sommer steht Zelten und Angeln auf dem Programm. Au-ßerdem wird fast täglich trainiert. Entweder im Fit-nessstudio, oder mit Boxhandschuhen im

Garten von Tobi-as Oma. Obwohl keiner der drei einen Führerschein (mehr) besitzt, nutzen sie

verlassen. Da spricht wieder der Rebell aus Tobias. Auch mit den weiteren Aufla-gen hält er es nicht ganz genau. Außer der Meldepflicht, die stichprobenartig zwei Mal im Monat vorgenommen wird (morgens der Anruf, dann muss er sich im Laufe des Tages persönlich vorstellig werden), ist ihm der

Kontakt zu allen Personen, die an dem noch laufenden Prozess beteiligt sind, untersagt. Ver-tuschungsgefahr.

Blöderweise sind die weiteren Ange-klagten seine zwei besten, und auch „einzigen wirklichen Freunde“. Justin*

und Lukas*. Sie haben ihn in die Post-Gefängnis-Kur Amsterdam beglei-tet. Und stehen nun

Aufenthalt nicht zu verlängern. Nur die Ungewissheit sei „tödlich“ gewe-sen. Genau wie die Langeweile. Denn außer mit Freigang, Bücher lesen und selbstverständlich Liegestütz machen wusste Tobias nichts Sinnvolles mit seiner Zeit anzu-fangen. „Und das Essen ist, wie man es sich vorstellt. Zum Kotzen.“

Stunden nach der Entlas-

sung gegen die Auflagen

verstoßen

Und was macht ein (wieder) freier Mann, nachdem er endlich entlassen wurde: Essen gehen. „Und danach bin ich mit Freunden nach Amsterdam gefah-ren.“ Und das, ob-wohl er nur Stunden zuvor das Gefängnis unter Auflagen

verlassen durfte. Wegen geringfü-giger Fluchtgefahr lautet eine davon: nicht das Land zu

Tobias bei einem sei-ner wenigen Hobbies: Billardspielen.

Laut einer Studie der Bundesregierung wird jeder dritte Ex-Häftling rückfällig. „Sie wissen in der Regel nicht, wo sie wohnen und arbeiten sollen. Deshalb nehmen fast alle wieder Kontakt zu

ihrem alten kriminellen Leben auf“, sagt der Kriminologe Bernd Maelicke

(Hamburger Abendblatt)

*Name geändert

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