Salomon, Postdemokratische Eliteherrshaft Prokla

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    PROKLA. Zeitschrift fr kritische Sozialwissenschaft, Heft 160, 40. Jg., 2010, Nr. 3, 311-323

    David Salomon_________

    Elemente neuer BrgerlichkeitBourgeois und Citoyen in der

    postdemokratischen Elitenherrschaft

    Bourgeois und Citoyen: Der Brger und seine Gesellschaft

    Als CDU und FDP im Kontext der Bundestagswahlen des vergangenen Jahreserklrten, eine gemeinsame Regierung derbrgerlichen Parteien bilden zu wol-len, lsten sie eine breite politische Diskussion aus: Eine brgerliche Koali-tion wollen sie sein, die neuen schwarz-gelben Regenten. Was drfen denndann, bitteschn die anderen sein, die Parteien der Opposition? Un-Brger,Parias, Zaungste der Republik? fragt etwa Thomas Meyer, Chefredakteur derNeuen Gesellschaft Frankfurter Hefte, 2009 im Editorial der Dezemberaus-gabe der Zeitschrift. Die Antwort formuliert er wie folgt: Das Wort brger-lich vereint ja im Deutschen irritierend zwei kontrre Bedeutungen in sich,

    den Bourgeois als privilegierten Besitzbrger und den Citoyen als gleichbe-rechtigten Staatsbrger. Brgerlich knnen beide sein. Ihre hartnckige Ver-wechslung hatte bei vielen 68ern lange Zeit schwere Orientierungskrisen verur-sacht, als sei die brgerliche Demokratie nichts anderes als eine Herrschafts-form des Kapitals. Doch diesmal ist die Sache klar: Schwarz-Gelb ist eine br-gerliche Koalition, und zwar eine besitzbrgerliche. Soweit der Koalitionsver-trag zwischen diesen Reprsentanten des Besitzbrgertums echte Festlegungenenthlt, interpretiert er seine exklusive Selbst-Etikettierung durchaus berzeu-gend: Es dominieren die Interessen des Bourgeois. Was liegt da fr Mitte-

    Links nher, als sich eben zur staatsbrgerlichen Opposition zu erklren. Mitdieser Ergnzung wre der anmaende Sprachgebrauch der Regierungsparteienzurechtgerckt, der auf nichts anderes zielte, als auf Ausgrenzung. (Meyer2009: 1)Fr Meyer scheint der Staatsbrger, als den er den aus der franzsischen Revo-lution stammenden Begriff des Citoyen bersetzt, Gegenbild zum Bourgeois,der sich durch seinen Besitz (an Produktionsmitteln) bestimmt. Die Berufungauf den Brger als Citoyen hat in der Tat in der deutschen Debatte und bezo-gen auf deutsche Zustnde eine lange Tradition, wurde mit ihm doch stets diepolitische Selbstbefreiung des dritten Stands im Kontext der groen franz-sischen Revolution verbunden, whrend in Deutschland die brgerliche Revo-

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    lution von 1848 gescheitert und die Nationalstaatsgrndung 1871 als Vereini-gung zu einem Hohenzollernreich vollzogen wurde. Ganz in diesem Sinnekonnte Heinrich Mann noch 1918 in seinem Essay Kaiserreich und Repu-blik schreiben: Unter uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts lebt auf

    und handelt weiter die franzsische Revolution. (Mann 1960: 429) DerMensch der brgerlichen Revolution, der Citoyen, inkarniert im Emile Zolader Dreyfusaffre, dient Mann als Antitypus zum deutschen Junkerbour-geois, dem Amalgam aus feudalabsolutistischem Privileg und kapitalistischemProduktionsmittelbesitz.1 Die deutschen Ungleichzeitigkeiten, auf die HeinrichMann reagierte, waren auch 1918 noch vergleichbar den anachronistischenKonstellationen, ber die Marx ber siebzig Jahre zuvor in der Einleitung zurKritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schrieb: Krieg den deutschen Zu-stnden! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unteraller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, derunter dem Niveau der Humanitt steht, ein Gegenstand des Scharfrichtersbleibt. (MEW 1: 380) Doch was sich zur Polemik gegenber Zustnden, dieunter aller Kritik stehen, eignet, ist hierdurch noch keineswegs selbst der Kritikenthoben. Den Problemen brgerlicher Gesellschaft und brgerlicher Herr-schaft kommt nicht auf die Spur, wer wie jngst wieder Jrgen Habermas aus Deutschland nach Westen blickt (Habermas 2010). Wer nach Elementenvon alter und neuer Brgerlichkeit fragt, muss vielmehr nach unten schauen,

    dorthin, wo nicht nur das Leben konkret ist, sondern sich auch die Grenzenbrgerlicher (Rechts)Gleichheit zeigten. Die Unzulnglichkeit des Staatsbr-gerschaftsbegriffs wird nicht erst dort sichtbar, wo etwa mit rassistischen Be-grndungen, groen Teilen der Bevlkerung der Staatsbrgerstatus vorenthal-ten und ihre Arbeitskraft hierdurch besonders scharfen Ausbeutungsformenunterworfen wird (vgl. Hirsch 2005: 66, Drre 2010: 125f.), sondern bereitsdort, wo gesellschaftliche Partizipation durch materielle Ungleichheit und un-terschiedliche Stellung im Produktionsprozess daran erinnern, dass brgerlicheGesellschaft stetsKlassengesellschaft ist. In brgerlicher Gesellschaft und br-

    gerlichem Staat sind Citoyen und Bourgeois identifiziert beide unterstehendem Prinzip der Kapitalverwertung. Die Fiktion der Rechtsgleichheit als derFreiheit von immer schon individualisierten Rechtssubjekten Arbeits- und Ge-

    1 Die absolutistischen Klassen waren nicht, wie anderswo, als politische Macht beseitigt, be-

    vor neue Mchte sich durchsetzten. Der Adel und das Heer erwiesen sich als lebendig ge-nug, um alles, was vordrngte umzubiegen und sich nutzbar zu machen. Die Demokratie

    war lebensnotwendig, hier wie berall, und der Brger, ob er wollte oder nicht, vertrat sie.Hier aber war die Demokratie in der Schuld des Absolutismus und ihm untergeben wie ei-nem Glubiger. Die Demokratie hatte das Reich nur erstrebt, gemacht hatte es der Absolu-

    tismus. [...] Die Demokratie machte ihre Shne zu Absolutisten. [...] Ein herrschender Typentstand, der nicht Brger, nicht Junker, aber beides in einem war, ein Wesen mit Sporenund einem Zahlenhirn, ein wandelndes Paradox, begabt, vor nichts zurckzuschrecken, was

    vergewaltigtes, ungerades Denken je ersinnen knnte. (Mann 1960: 399f.)

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    sellschaftsvertrge zu schlieen, ist die immer wieder erneuerte Lebenslge desLiberalismus. Es ist daher keineswegs lediglich eine hartnckige Verwechs-lung vieler 68er, den Zusammenhang von Citoyen und Bourgeois zu beto-nen: Als Staatsbrger ist der Citoyen zunchst nichts anderes als das Rechts-

    bewusstsein der Bourgeoisie, die immer wieder erneuerte Firnis ber der not-wendigen Ungleichheit brgerlicher Verhltnisse.Zugleich ist dieses Rechtsbewusstsein mit all seinen Mngeln und Abstraktio-nen stndiger Quell von schlechtem Gewissen. Die brgerliche Revolutionhatte nicht nur die Produktivkrfte entfesselt, sondern zugleich ein Emanzipa-tionsversprechen formuliert, an dem brgerliche Herrschaft, wenn sie sich ih-rer eigenen Emanzipationsgeschichte nicht mit faschistischen Mitteln entle-digt, gemessen werden kann. Diesen revolutionren berschuss hatte ErnstBloch vor Augen, als er den Citoyen als das am strksten offene Leitbild [...]

    der franzsischen Revolution bezeichnete, dem als Zeichen seiner Leittafeldie Trikolore Freiheit, Gleichheit, Brderlichkeit inhrent aufgegeben sei:Die von ihm fordert, stets so zu handeln, da die Maxime seines Handelnsdas Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden knnte. Dieser von Kantformulierte kategorische Imperativ ist allerdings konsequent erst mglich ineiner klassenlosen Gesellschaft, auf sie hin ist daher das offene Leitbild des Ci-toyen gerichtet, bei Strafe des gekommenen Bourgeois. (Bloch 1977: 189)Folgt man Bloch, so wird der Citoyen nicht als Staatsbrgerzum Gegenbild

    des Bourgeois, sondern dadurch, dass in ihm begrifflich die berwindung desBrgerlichen berhaupt angelegt ist. Wer den Zusammenhang von Bourgeoisund Citoyen ignoriert, indem er vorschnell eine Klientelpolitik fr Besitzbr-ger und staatsbrgerliches Gemeinwohl als Antithese behauptet, trgt dazubei, brgerliche Herrschaft als einzig rechtsfrmige Herrschaftsform hegemo-niefhig zu halten und ihre inhrenten systemischen Widersprche zu nivellie-ren: Erst in der klassenlos gewordenen Gesellschaft htte der kategorischeImperativ seine ideologiefreie Wahrheit. Desgleichen mu das Ideal des Citoy-en erst von den Hllen des Bourgeois befreit werden, damit es als reifste

    Frucht antizipierter menschlicher Bebauung, nicht mehr zur Selbstverschne-rung des Bourgeois brauchbar werden knnte. Was von der brgerlichen Re-volution her als sein Inhalt in ihm steckt, ist deshalb genau zu prfen; wie soviele andere Wunschbilder kommt der Citoyen [...] aus sozialer Unzufrieden-heit. (Bloch 1977: 190)Es mag wirken, als wolle man mit Kanonen auf Spatzen schieen, wenn dieAnnherung an Elemente neuer Brgerlichkeit mit einem so grundstzlichenExkurs beginnt: Allein, ohne diese grundstzliche Begriffsklrung wird man dieSprachverwirrung, die um den Begriff des Brgerlichen im vergangenen Jahr

    vorherrschte, kaum verstehen. Die Vehemenz, mit der Sozialdemokraten undGrne darauf bestanden, das Brgerliche ebenso rechtmig zu vertreten wieCDU und FDP, ist ein Indikator dafr, wie stabil brgerliche Hegemonie

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    auch in der aktuellen Krise geblieben ist. Tatschlich war es in der Bundesre-publik sptestens seit den achtziger Jahren zunehmend gelungen, den Begriffdes Brgers zu entpolitisieren, indem der Klassencharakter brgerlicher Ge-sellschaft hinter mndigen Brgern, Brgerinitiativen und Wahlbrgern

    verschwand. Indem sie half dem fordistischen Kapitalismus den Schein einernivellierten Mittelstandsgesellschaft (Schelsky) zu geben, das Verhltnis zwi-schen Kapital und Arbeit als Sozialpartnerschaft bezeichnete und die Mitteder Gesellschaft suberlich von den Extremen trennte, hatte die Sozialwis-senschaft in der BRD frh zur Ideologie einer Universalitt des Brgerlichenbeigetragen und eine Soziologie der Verdrngung (Fritz Sternberg) ermg-licht, die vorhergehende Nivellierungen von Herrschaft in den Schatten stellte.Indem der brgerliche Staat nur mehr als unabhngige Moderationsinstanzzwischen der Wirtschaft und der Gesellschaft erschien und nicht als Ver-

    dichtung gesellschaftlicher Krfteverhltnisse und mit einem Gewaltmonopolausgestatteter Garant brgerlicher Eigentumsverhltnisse begriffen wurde,konnte die Illusion gedeihen, dass Volksparteien im Sinne des Gemeinwohlsder Staatsbrger agierten und soziale Marktwirtschaft das Ende der Ge-schichte sei. Verdrngt wurde insbesondere, dass der Anstieg des Lebenshal-tungsniveaus und die Stabilitt, die den Nachkriegskapitalismus zum Golde-nen Zeitalter des Kapitalismus machten, teils die Folge des sozialen Kamp-fes war, den [... die Arbeitnehmerschichten] mittels ihrer Gewerkschaften ge-

    fhrt haben, teils ermglicht durch das allgemeine Steigen des Produktivitts-niveaus, das ein relativ normales Funktionieren der modernen Gesellschaftohne diesen Anstieg, der durch ihren eigenen Klassenkampf vermittelt wurde,nicht zulassen wrde, weil die moderne Gesellschaft auf die Arbeitnehmer alsKonsumenten nicht verzichten knnte (Abendroth 1967a: 358). Die Stabilittdieser Verdrngungsprozesse zeigte sich nicht zuletzt in der postfordistischenPhase, fr die sich inzwischen die Bezeichnung Finanzmarktkapitalismusdurchsetzen konnte. Erst als im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts dieKrisenanflligkeit des kapitalistischen Weltsystems offenbar wurde, betraten

    unbeholfen und tapsig zumeist auch soziale Unruhen erneut die Welt-bhne. Mit ihnen trat auch die Kategorie des strukturellen gesellschaftlichenKonflikts wieder ins Mglichkeitsbewusstsein der Zeitgenossen.

    Krisenbewusstein und Restauration:Karen Horn und der neue alte Neoliberalismus

    Krisenzeiten sind zumeist Zeiten der Desillusionierung, wenn auch nicht im-mer Zeiten der Aufklrung: [D]ie Struktur der Krise erscheint bei nherer Be-

    trachtung als bloe Steigerung der Quantitt und Intensitt des Alltagslebensder brgerlichen Gesellschaft. Da der in der Unmittelbarkeit des gedanken-losen Alltags fest geschlossen scheinende Zusammenhalt der Naturgesetz-

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    lichkeit dieses Lebens pltzlich aus den Fugen geraten kann, ist nur darummglich, weil das Aufeinanderbezogensein seiner Elemente, seiner Teilsystemeauch bei dem normalsten Funktionieren etwas zuflliges ist. (Lukcs 1923:112f.) In Zeiten der Krise schwindet das Selbstverstndlichkeitsbewusstsein, Al-

    ternativlosigkeitspostulate werden hilfloser. Die konomischen Krisen, diestets auch Krisen der Politik sind, stoen Tren auf, die zuvor verschlossenschienen. Dass auch die aktuelle Krise den Kapitalismus verndern wird, istwahrscheinlich. Ob sie etwa in Gestalt eines grnen Kapitalismus zu ei-ner Formation fhren wird, die den Finanzmarktkapitalismus hinter sich lsst,ist umstritten.2 Doch auch gegenwrtig wird Die Zukunft des Kapitalismus so der Name einer Artikelserie in der FAZ3 diskutiert. Die neue Brgerlich-keit, die im Bundestagswahlkampf 2009 insbesondere von der FDP verkr-pert wurde, ist Teil dieser Krisendebatte. Verbindet man die Frage nach dem,

    was im Wahlkampf insbesondere von Seiten der FDP brgerliche Politik hie,mit einigen Schlaglichtern auf das, was neben der unmittelbaren Krisenbe-kmpfung an brgerlicher Politik seit September 2009 die Schlagzeilen be-stimmte, so mag nur schwerlich der Eindruck entstehen, es handele sich beimProjekt einer neuen Brgerlichkeit um eine politische Erfolgsgeschichte: Steu-ersenkungsversprechen, von denen gegenwrtig kaum jemand mehr redet, nurhalb versteckte Klientelpolitik zugunsten einzelner Branchen wie dem Hotel-gewerbe, die Diffamierung Langzeitarbeitsloser Hartz IV-Empfnger als Aus-

    druck sptrmischer Dekadenz die FDP erlebte mit ihren Vorsten bis-lang eine Bauchlandung nach der anderen: Die Zustimmungsrate ist Umfragenzufolge im Tief, bei Sonntagsfragen ist sie vom Wahlergebnis der Bundestags-wahlen weit entfernt.Es wre dennoch verfrht das Thema einer neuen Brgerlichkeit damit fr er-ledigt zu halten. Interessanter und auf lange Sicht hegemoniepolitisch be-deutsamer als die Ebene unmittelbarer Tagespolitik sind die Debatten, diedas politische Geschehen flankieren. So paradox es klingen mag, in ihnen wirdeines deutlich: Gerade die Krise des Finanzmarktkapitalismus liefert das Mate-

    rial fr ein neues Selbstbewusstsein der Bourgeoisie: Der Kapitalismus ist daseinzige System, das sich aufgrund der idealerweise von externen Eingriffen un- verzerrten, die individuellen Interessen abbildenden und koordinierendenRckkopplungsprozesse immer wieder selbst korrigieren kann, schreibt etwaKaren Horn, Leiterin des Berliner Hauptstadtbros des Instituts der deutschenWirtschaft in Kln, in ihrem Beitrag zur FAZ-Debatte: Er ist das einzige Sys-tem, das einen Mangel an Moral oder an Regeln nach gewisser Zeit anzeigtund uns dazu bringt, Moral und Regeln neuerlich einzufordern. Nur in derMarktwirtschaft kann es solche Krisen berhaupt geben und vor allem die

    2 Vgl. etwa die kontrren Positionen von Karl Heinz Roth (2009) und Jrg Huffschmid (2009).3 Inzwischen liegen die Beitrge auch als Sammelband vor: Schirrmacher/Strobl (2010).

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    damit verbundene Selbstreinigung und Innovation. (Horn 2010: 22) Die Kri-se erscheint hier als karthatischer Wendepunkt, allerdings nicht zu einer neuenZhmung oder Einhegung des Kapitalismus durch die Abwendung von neoli-beralen Regulierungsmodellen (denn in der Tat ist auch der entfesselte Kapi-

    talismus auf Regulation und Staatlichkeit angewiesen, ohne die die notwendigeRechtssicherheit zur Verfgung berEigentum gar nicht mglich wre), son-dern im ursprnglichen Sinn von Katharsis als moralische Luterung, dieauf den neoliberalen Pfad der Tugend zurckfhren soll: Die wahre neolibe-rale Schule aus den dreiiger Jahren versteigt sich gerade nicht zur Heiligspre-chung der individuellen Gier und der kollektiven Regellosigkeit. Sie entwirft vielmehr einen Ordnungsrahmen, der die Grundwerte der Freiheit und Ge-rechtigkeit, der Verantwortung und Solidaritt auch in der Wirtschaft harmo-nisch zu verbinden erlaubt. Neoliberalismus ist eben nicht einseitig und

    deswegen auch nicht ideologisch. (Ebd.: 18) Der Neoliberalismus in seinerreinen und wahren Gestalt erscheint somit als die eigentliche Verheiung einerharmonischen Gesellschaft (auch auerhalb der Volksrepublik China).Die Strke von Horns Artikel liegt darin, dass die Autorin auch dies typischfr Krisenzeiten ihre normativen Prmissen nicht hinter Zahlen und techno-kratischem Pragmatismus versteckt. Kapitalismus ist ihr eine Wirtschaftsform,die zukunftsgerichtet durch Kapitalbildung, also Sparen und Investieren aufWohlstandsmehrung zielt ein konomisches Miteinander, das sich in freiwil-

    ligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produk-tionsmitteln konkretisiert (ebd.). Ganz in diesem Sinne betont sie: Damitsich die deutsche Gesellschaft auch heute noch hinter der Sozialen Marktwirt-schaft versammeln kann, braucht es folglich mehr als ein Ntzlichkeitsargu-ment. Es braucht eine philosophische Begrndung. Entgegen dem kruden uti-litaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker sind Mrkte nmlichnicht nur Wohlstandsmaschinen. Sie sind als Plattform der Interaktion auchsoziale Rume Rume, in denen es wesentlich, wie in den anderen Sphrender Gesellschaft auch, um individuelle Wrde, Selbstbestimmung und Freiheit

    geht, und darauf aufbauend um gegenseitig vorteilhafte Kooperation im Rah-men allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens. (Ebd.: 19) Freie Mrkte undkapitalistische Produktionsweise erscheinen somit als Hhepunkt einer moral-philosophischen Konstruktion, systemische Krisen als Zuchtmeister. Ihm ent-kommen zu wollen, bedeutet, auf den Hayekschen Weg zur Knechtschaft zugeraten. Horn holt weit aus, wenn sie Thomas Hobbes bemht, dessen Aus-weg ber einen Gesellschaftsvertrag bedeute, dass alle Brger ihre natrli-chen Rechte abtreten an einen Staat mit unbegrenzter Herrschaftsgewalt4:In einem hnlichen Schwanengesang der brgerlichen Kapitulation stimmen

    4 Unreflektiert bleibt indes das liberale Moment des Vertragstheoretikers Hobbes. Zum kom-plexen Verhltnis Hobbes zum Liberalismus vgl. insb. Macpherson (1973: 21ff.).

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    nun exakt 358 Jahre spter die Kapitalismuskritiker mit dem Ruf nach einemmassiv aufgersteten Primat der Politik mit ein. (Ebd.: 20) Bezug nehmendauf einen Allgemeinplatz des Bloggers Thomas Strobl, demzufolge die Politikeine Verantwortung fr die Gesellschaft habe, der sie nachkommen msse

    (Strobl 2010), holt sie zum groen Gegenschlag aus: So adrett gewandet sichheute der Abschied von Eigenverantwortung und Privatsphre, der Freibrieffr staatliche Bevormundung, zu Ende gedacht letztlich die totalitre Versu-chung. Zwar wnscht sich niemand mehr einen absoluten Herrscher. An seineStelle tritt deshalb eine zunehmend absolute Demokratie, die Herrschaft derMehrheit ber die Minderheit. Auf die Spitze getrieben, lsst uns diese Kollek-tivierung aber keine privaten Grten mehr, die wir frei nach Voltaires Candidebebauen knnen. (Ebd.: 21)Die Brgerlichkeit von Horns Artikel besteht folglich keineswegs in einer of-

    fenen Klientelpolitik zugunsten des Bourgeois und auf Kosten des Citoyen.Eine sich blo staatsbrgerlich formierende Opposition knnte der von Horngeforderten philosophischen Begrndung nicht beikommen, besteht dochfr Horn die zentrale Aufgabe des Staates, ja im Kern politisches Handelnselbst, gerade darin, die Spielregeln zu definieren (ebd.: 22), innerhalb dererprivate Initiative und individuelle Wrde vermittelt durch Mrkte allein gedei-hen knnen. Der Citoyen ist hier przise jener Vertragsbrger, der sich mitanderen Vertragsbrgern in jenem konomischen Miteinander befindet, das

    sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum anden Produktionsmitteln konkretisiert. Der Kapitalismus erscheint hier gera-dezu als jene Verkrperung der sittlichen Idee, als die Hegel in seiner Rechts-philosophie den Staat begriff. Anders als der programmatische Citoyen Blochsist der Vertragsbrger Horns mit einer Leittafel ausstaffiert, auf der die Marx-sche Parodie der revolutionren Trias Freiheit, Gleichheit, Bentham offen-legt, wie man die uneingelsten Emanzipationsversprechen des Brgertumsdadurch entsorgt, dass sie im Sinne einer Soziologie der Verdrngung fr ein-gelst erklrt werden. Der Citoyen, als braver Grtner im eigenen oder als auf-

    strebender Unternehmer seiner Arbeitskraft im fremden Garten, ist vielmehrdarum bemht seine Eigenverantwortung wahrzunehmen und seine Privat-sphre zu schtzen nicht zuletzt vor den Zumutungen absoluter Demokra-tie.Ebenso wie auch der alte Neoliberalismus, der in jeder Sentenz hinter HornsArgumentation steht, ist ihr Artikel freilich durch und durchideologisch nicht blo im Sinne einer deskriptiven, das politisch-reflexive selbst bezeich-nenden Wortbedeutung, sondern auch im Sinne des pejorativen Ideologiebe-griffs, den Horn zurecht als den Vorwurf von Einseitigkeit rekonstruiert. Denn

    von den Akteuren selbst und ihrer Lebenslage ist in Horns normativ aufgela-denem Lob der Vertragsfreiheit so wenig die Rede wie in ihrer Angstvision voneiner absoluten Demokratie. Wo sich Gesellschaften hinter einer wie auch

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    immer sozialen Marktwirtschaft versammeln knnen, als seien sie opakeKollektive, kann noch so viel vonindividueller Wrde die Rede sein: KonkreteIndividuen kommen genaugenommen gar nicht vor.5 Die Auskunft darber,von welcher Freiheit und welcher Gerechtigkeit hier die Rede ist, bleibt Horn

    ebenso schuldig wie eine Reflexion ber jene, denen der durch die Spielregelnangestrebte Wohlstand der Nationen nicht zugutekommt.6 Diesen Aspektenwidmen sich freilich andere Beitrger der Debatte.

    Kapitalismus und Demokratieoder Probleme des Klassenkampfs

    Die Stadt hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit habenund gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte.

    Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevlke-rung, die nicht konomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben vonHartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Pro-zent. Dieser Teil mu sich auswachsen. Eine groes [Fehler im Original! DS]Zahl an Arabern und Trken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Poli-tik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, auer fr den Obst- undGemsehandel, und es wird sich auch keine Perspektive entwickeln. Das giltauch fr einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventio-nierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat. Diese

    Jobs gibt es nicht mehr. Berlin hat wirtschaftlich ein Problem mit der Greseiner Bevlkerung. [...] Meine Vorstellung wre: generell kein Zuzug mehrund perspektivisch keine Transferleistungen mehr fr Einwanderer. [...] Ichwrde aus Berlin eine Stadt der Elite machen. [...] Dazu gehrt, den Nichtleis-tungstrgern zu vermitteln, da sie ebenso gerne woanders nichts leisten soll-ten. Die Thesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators und heutigen Bun-desbankers Thilo Sarrazin (2009) sind bekannt und wurden in den Medienvielfach diskutiert. Zu seinen Verteidigern gehrte der Philosoph Peter Sloter-dijk, der in fr ihn ungewhnlicher Klarheit in der Zeitschrift Cicero Stel-lung bezog: Weil er so unvorsichtig war, auf die unleugbar vorhandene Integ-

    5 Dies knnte daran liegen, dass Karen Horn vermutlich ebenso wie weiland Margaret That-

    cher nursolche Individuen kennt, die es fr erfllend halten, nach ausgiebiger und langan-haltender Arbeit sich als mndiger Kunde befreit darum zu kmmern, bei welchem Ener-gieanbieter oder bei welcher Telefongesellschaft sie den gnstigsten Vertrag erhaschen kn-nen und mithin nicht der totalitren Versuchung unterliegen, ihre Privatsphre in Arbeits-zeitverkrzung geschtzt und ihre Eigenverantwortung durch Mindestlhne gestrkt zu se-hen.

    6 Sicher, Fragen dieser Art stammen aus dem Arsenal des kruden utilitaristischen Materialis-mus der Kapitalismuskritiker, der mit Dietmar Dath sagt: Moral ist Glckssache und setztDeckung der wichtigsten Lebensverhltnisse voraus; meistens hat man andere Sorgen. (Dath2008: 14)

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    rationsscheu gewisser trkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen,ging die ganze Szene der deutschen Berufsemprer auf die Barrikaden, umihm zu signalisieren: Solche Deutlichkeiten sind unerwnscht. Man mchtemeinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Kfig voller

    Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Kfigstandards kei-fen und hetzen. Sobald einmal ein scharfes Wort aus einem anderen Narrenk-fig laut wird, bricht auf der Stelle eine abgekartete Gruppendynamik los. Da-bei geht es zu, als gelte es, einen Wettbewerb in Emprungsdarstellung zu ge- winnen: Wer schafft es, seine Konkurrenten an Wrdelosigkeit beim Eifernund Geifern zu bertreffen? Einigermaen fassungslos sieht man mit an, wiedann die Mechanismen der Trivialmoral in endlosen Schleifen abgespult wer-den bis hinauf in die Spitzen der Gesellschaft. (Sloterdijk 2009). Die vonSloterdijk entworfene Choreographie hie der einsame Wahrheiten kundtu-

    ende Unvorsichtige, da die wilde, trivialmoralistische Meute ist instruktiv frseine Argumentation. Sptestens seit der Schrift Zorn und Zeit besteht Slo-terdijks intellektuelles Projekt darin, das Verhltnis von Elite und Masseneu zu justieren und brgerlicher Herrschaft neue Legitimationsquellen zu er-schlieen: In Anknpfung an die klassische griechische Philosophie fordertSloterdijk, die Leistungstrger der Gesellschaft mssten die Tugend des Stol-zes (thyms) wiedergewinnen, den eine psychoanalytisch-erotische undstrukturell sozialdemokratische Moderne ihnen ausgetrieben htte: Whrend

    die Erotik Wege zu den Objekten zeigt, die uns fehlen und durch deren Be-sitz oder Nhe wir uns ergnzt fhlen, erschliet die Thymotik den Menschendie Bahnen, auf denen sie geltend machen, was sie haben, knnen, sind undsein wollen. (Sloterdijk 2008: 30) Wie Horn nhert sich auch Sloterdijk denZeitfragen normativ. Bei ihm freilich steht nicht die Setzung, nur der Markt-mechanismus garantiere menschliche Wrde und Freiheit am Anfang, sonderndie psychopolitische Diagnose unterdrckten Stolzes auf Seiten der Eliten.In Sloterdijks groer Erzhlung zeichnet insbesondere der linke Flgel der Ar-beiterbewegung verantwortlich fr das strukturell schlechte Gewissen der

    Bourgeoisie: Die strategischen Erfolge des Marxismus beruhten, wie manrckblickend feststellen kann, auf dessen berlegenheit bei der Formulierungeines hinreichend przisen Modells fr das potentiell und aktuell geschichts-mchtige Zornkollektiv des damaligen Zeitalters. Die magebliche thymoti-sche Wir-Gruppe sollte von da an das Proletariat, genauer das Industrieprole-tariat heien. (Ebd.: 196) Dem thymotischen Projekt der Arbeiterbewegungentsprach Sloterdijk zufolge, eine chronische Defensivposition der Leistungs-trger.Entscheidend fr sein politisches Projekt ist letztendlich, dass er einen histori-

    schen Rollentausch propagiert, demzufolge nicht die Eigentmer von Produk-tionsmitteln, sondern die Bezieher von Transfereinkommen als eigentlicheAusbeuter erscheinen. Es geht dem Nietzscheaner Sloterdijk um nichts gerin-

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    geres als um eine Umwertung der Werte, auf dass vielleicht nicht die blondeBestie, wohl aber der Leistungstrger sein gesundes (Raubtier)Gewissen zu-rckerlange. Ein solches Umwertungsprojekt setzt zunchst die Nivellierungtradierter Kategorien voraus. Folgerichtig liest man in Zorn und Zeit ber

    Klassen: Wer nach Stalin und Mao weiter von Klassen spricht, macht eineAussage ber die Tter- und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktu-ellen (Klassen-)Genozid. Klasse ist, wie klgere Marxisten seit jeher wuten,nur an der Oberflche ein beschreibender Begriff der Soziologie. In Wahrheitkommt ihm hauptschlich eine strategische Realitt zu, da sich sein Inhalt al-lein durch die Formierung eines kmpfenden Kollektivs [...] materialisiert. Werihn affirmativ, und eo ipso performativ benutzt, trifft letztlich eine Aussagedarber, wer wen unter welchem Vorwand auszulschen berechtigt sein soll.(Ebd.: 256) Und an anderer Stelle heit es: Authentisches Klassenbewustsein

    bedeutet Brgerkriegsbewutsein. (Ebd.: 200) Nun ist fraglos richtig, dass derKlassenbegriff in marxistischer Tradition stets ein Begriff an der Grenzscheidevon Sozialstruktur und politischer Kollektivsubjektivitt war, der soziale Lageund soziale Kmpfe in ihrem Verhltnis zueinander fassen sollte. Die Identifi-zierung solcher Kmpfe mit genozidalen Praktiken verfolgt indes lediglich denZweck mit Schockeffekten eine zentrale Kategorie des politischen und theore-tischen Gegners zu diskreditieren: Noch hat das Publikum nicht zur Kennt-nis genommen, wieweit der Klassismus vor dem Rassismus rangiert, was die

    Freisetzung genozidaler Energien im 20. Jahrhundert anging. (Ebd.: 256) FrSloterdijk wird Lenin zum linksfaschistischen Original (ebd.: 231), das vonden rechtsfaschistischen Bewegungen lediglich national-sozialistisch ko-piert worden sei.Totalitarismustheoretische Plattitden dieser Art sind fraglos nicht neu. Zu-recht verweist Axel Honneth darauf, dass man meine, das alles schon zukennen und glaube ein Amalgam aus Gehlen und Ernst Nolte vor sich zuhaben, nur dass die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus und derengemeinsame Rckfhrung auf Motive der Gier und des Ressentiments hier

    hemdsrmeliger, ja protziger daherkommt (Honneth 2009). Die Nivellierungdes Unterschieds von Faschismus und Sozialismus mit dem entlastendenKollateraleffekt, dass der Faschismus nicht mehr als Form brgerlicher Herr-schaft thematisierbar wird sowie der Nivellierung der Kategorie Klasse alsKeimform (links)faschistischer Ideologie, ist indes nur der erste Schritt inSloterdijks groer Erzhlung. Den Nivellierungen klassischer Kollektive folgtdie Rekonstruktion neuer Grogruppen. Im bereits zitierten Aufsatz fr Cice-ro befindet sich eine aussagekrftige Auswertung der Bundestagswahl, in derder Philosoph im Wahlergebnis der Linken und der Liberalen die eigentliche

    Sensation ausmacht. Hier zeige sich eine zukunftsentscheidende Antithese:Zum ersten Mal in der Geschichte der neueren deutschen Demokratie tretensich in den Gewinnern des 27. September zwei Gruppen gegenber, die man

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    so noch nicht miteinander konfrontiert sah. Man mchte fast an einen Klas-sengegensatz unbekannten Typs glauben, der bisher nicht bis zur offenen Kol-lision herangereift war. Definiert man jedoch den Begriff der Klasse, demMarxschen Sprachgebrauch gem, durch die Stellung im Produktionspro-

    zess, so sind die neuen Kontrahenten keine Klassen. [...] An der neuen politi-schen Front stoen [...] zwei finanzpolitische Grogruppen aufeinander: hierdie Transfermassengeber, die aufgrund von unhintergehbaren Steuerpflichtendie Kassen fllen, dort die Transfermassennehmer, die aufgrund von sozialpo-litisch festgelegten Rechtsansprchen die Kassen leeren. (Sloterdijk 2009) Nurunschwer erkennt man hier den intellektuellen Bezugspunkt fr WesterwellesDiagnose sptrmischer Dekadenz. Bedenkt man freilich die im gleichenArtikel geuerten Sympathien fr Sarrazin, der immerhin empfahl die Un-produktiven mglichst aus der Stadt zu treiben, und erinnert sich dessen,

    dass Sloterdijk meint, der Klassenbegriff laufe in letzter Instanz auf die Legiti-mierung genozidaler Auslschungspraktiken hinaus, so erschliet sich erst imTextvergleich die mgliche Konsequenz des Sloterdijkschen Programms. Ge-naugenommen luft es auf die potentielle Rehabilitierung brgerlicher Herr-schaftsformen heraus, die in zentralen Aspekten an den deutschen Faschismusund seine Mordprogramme erinnern.Sloterdijk freilich denkt seine Konzeption (vorerst) nicht in dieser Richtung zuEnde. Wenige Monate vor der Bundestagswahl war im Juni 2009 auch sein

    viel diskutierter Beitrag zur Zukunft des Kapitalismus in der FAZ erschie-nen. Schon in seinem Essay Die Revolution der gebenden Hand hatte erseine neue Ausbeutungslehre unterbreitet und ganz im Sinne Karen Horns gegen Rousseauistische und Marxistische Traditionen den privaten Gartender Eigentmer verteidigt. Gegenwrtig lebten wir keineswegs im Kapitalismus,sondern in einem massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden Se-mi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage (Sloterdijk 2010: 67),dessen keynesianisch vergiftete Staaten (ebd.: 69) die Zukunft des Systems wirklich gefhrdeten. Seinerzeit schlug er als Ausweg die Installierung einer

    souvernen Mzenatenherrschaft (vgl. Salomon 2010) vor, in der an die Stelle von Zwangssteuern Geschenke an die Allgemeinheit treten sollten, ohnedass der ffentliche Bereich deswegen verarmen msste (ebd.: 69f.). Der neugewonnene Stolz der Leistungstrger werde es schon richten. Im Cicero-Aufsatz wird die Vision einer Neuerfindung der Gesellschaft przisiert: Es gilteine Integrationsformel hherer Stufe zu finden, kraft welcher eine zunehmendheterogene Staatsbevlkerung als Leistungstrgergemeinschaft jenseits der di-vergierenden Herkunftskulturen bestimmt wird. Diese Formel kann nur durcheinen neuen Gesellschaftsvertrag zustande kommen, der die Leistungstrger

    aller beteiligten Seiten in die Mitte der sozialen Synthesis rckt. (Sloterdijk2009). Was hier so nebuls allgemein daherkommt, ist nichts anderes als dieAufforderung zur Abschaffung institutionalisierter Solidarsysteme und Rechts-

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    ansprche fr jene Nicht-Leistungstrger, die notwendig an die Peripherieder sozialen Synthesis geraten, wenn die Leistungstrger in die Mitte rcken.Fraglos ist Axel Honneth zuzustimmen, wenn er die Sloterdijksche Argumen-tationsweise als die intellektuelle Ausgeburt eines Klassenkampfs von oben

    (Honneth 2009) charakterisiert.Wie schon Karen Horn in ihrer Polemik gegen absolute Demokratie ist Slo-terdijks Gesellschaftsvertrag der Leistungstrger die vulgarisierte Ideologie einerpostdemokratischen Elitenherrschaft, die freilich ihrerseits durchaus in einerklassischen Tradition liberaler Einschrnkung demokratischer Partizipationsteht (vgl. hierzu Canfora 2006, Losurdo 2008). Was Sloterdijk ebenso wieHorn verdrngt, ist, dass kapitalistische also notwendig auf Profitmaximie-rung gerichtete konomie stets Surplusbevlkerung produziert, die von derTeilhabe am konomischen Leben der Gesellschaft temporr oder ewig aus-

    geschlossen bleibt. Doch auch diejenigen doppeltfreien Lohnarbeiter, dienicht in die Reihen der Reservearmee gezwungen oder dauerhaft aus dem Pro-duktionsprozess abgedrngt werden, bleiben in Abhngigkeit von fremderWillensmacht (Abendroth 1967b: 141) gefangen. Es ist dieser Grundwider-spruch von Einschluss und Ausschluss, von formaler Freiheit und materialerAbhngigkeit, der innerhalb der brgerlichen Gesellschaft notwendig bestehenbleibt. Das Sloterdijk-Projekt versteht sich als langfristige hegemoniale Strate-gie, als Reformation (Sloterdijk 2009). Sein Aufruf zum antifiskalischen

    Brgerkrieg (Sloterdijk 2010: 67) ist in der Terminologie Gramscis gespro-chen weit eher als Stellungs- denn als Bewegungskrieg konzipiert. Auch des-halb sollte man nicht, blo weil erste Versuche der FDP, Elemente aus ihm inpraktische Politik umzusetzen, vorerst zu scheitern scheinen, vorschnell aufseine Wirkungslosigkeit vertrauen. In der Konsequenz der Sloterdijkschen, wieder Hornschen, Politik liegt die Begrenzung des Citoyens auf jene, die eineStellung im Produktionsprozess innehaben. Die Zahnlosigkeit einer blostaatsbrgerlichen Opposition, die den Begriff des Citoyens a priori als demdes Bourgeois berlegen und entgegengesetzt begreift, liegt auf der Hand. Die

    Widersprche antagonistischer Gesellschaften zu fassen und substantielle De-mokratie (als unter kapitalistischen Bedingungen stets nur partiell zu verwirk-lichendes Projekt, das auch eine weitgehende Wirtschaftsdemokratie ein-schliet) zu verfolgen, macht die Kategorie der Klasse ebenso notwendig wiedie Orientierung auf soziale Kmpfe. In diesem Sinne freilich knnte derBlochsche Citoyen, dessen Versprechen nur jenseits von alter wie neuer Br-gerlichkeit eingeholt werden kann, durchaus als Leitbild aktuell bleiben.

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    Literatur

    Abendroth, Wolfgang (1967a):Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwiedund Berlin.

    (1967b): Wie abhngig ist der Arbeitnehmer? in: Uwe Schultz (Hrsg.): Freiheit, die sie meinen,

    Frankfurt/Main.Bloch, Ernst (1977): Experimentum Mundi Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, in:ders. Werke Bd. 15, Frankfurt/Main

    Canfora, Luciano (2006):Eine kurze Geschichte der Demokratie, Kln.Dath, Dietmar (2008):Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frank-

    furt/Main.Drre, Klaus (2010): Landnahme und soziale Klassen; in: Hans-Gnter Thien (Hrsg.):Klassen im

    Postfordismus, Mnster.Habermas, Jrgen (2010): Wir brauchen Europa! in:Die Zeit, 20. Mai.Hirsch, Joachim (2005):Materialistische Staatstheorie, Hamburg.Honneth, Axel (2009): Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe Zum neuesten Schrifttum des Peter Slo-

    terdijk in:Die Zeit, 24. September.Horn, Karen (2010): Modell Deutschland; in: Frank Schirrmacher; Thomas Strobl (Hrsg.): DieZukunft des Kapitalismus, Berlin.

    Huffschmid, Jrg (2009): Das Ende des Finanzmarktkapitalismus; in: Z. Zeitschrift MarxistischeErneuerung Nr. 78, Juni.

    Roth, Karl Heinz (2009):Die globale Krise, Hamburg.Losurdo, Domenico (2008):Demokratie oder Bonapartismus Triumph und Niedergang des all-

    gemeinen Wahlrechts, Kln.Lukcs, Georg (1923): Geschichte und Klassenbewutsein, Berlin.Mann, Heinrich (1960): Kaiserreich und Republik; in: ders.:Essays, Hamburg.Meyer, Thomas (2009): Editorial zu:Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, Dezember.

    Salomon, David (2010): Sloterdijks Revolution Auf dem Weg in eine Mzenatensouvernitt;in: Jan Rehmann; Thomas Wagner (Hrsg.):Angriff der Leistungstrger Das Buch zur Sloter-dijkdebatte, Hamburg.

    Sarrazin, Thilo (2009): Klasse statt Masse Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Met-ropole der Eliten; in:Lettre InternationalHeft 86.

    Schirrmacher, Frank; Strobl, Thomas (Hrsg.) (2010):Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.Sloterdijk, Peter (2008):Zorn und Zeit Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/Main. (2009): Aufbruch der Leistungstrger, in: Cicero, November. (2010): Die Revolution der gebenden Hand, in: Frank Schirrmacher; Thomas Strobl (Hrsg.):

    Die Zukunft des Kapitalismus, Berlin.Strobl, Thomas (2010): Wohlstand fr alle, in Frank Schirrmacher; ders. (Hrsg.): Die Zukunft des

    Kapitalismus, Berlin.