Hans Ulrich - Die Einschätzung von kapitalistischer Entwicklung und Rolle des Staates durch den ADGB (Prokla 6)

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    Ulrich

    W. Sch.

    Schoeller

    B. Rabehl

    Redaktionskon ferenz

    1973

    DeutschenGcwerkschaftsbund . , ..... , . . , . . . .

    Werttransfer und

    Seite

    neueren Dic.kussion urn Un-und Akkumulation des

    99Das vietnamesische Lehrstuck der

    Politik der USA 25Probleme und Funktion einer

    137

    Die Zcitschrift wird inklltlich von de r Rcdaktinnskonfcrl'l1Z gcslaltet. Diese Gcstaltung crstrecktsiell nach wic vor nicht aliI' den Anzcigl'nteil. Prcsserechtlich vcyantwortlich fur dicsc Nummer:Jllrgcn Hoffmann, SusannLO Picnig. Hcrausgl'lwr: Vcreinigung zur Kritik de r politischcn Okonomiec.V., Wcstbcrlin. Rcdaktion: Problemc dcs Klassenkampfs, I Berlin 10, Postfach 100529, Telefon:030/31349 13 (Montags 16.30 h 18.30 IIIDie neuen Preisc und lkwgsbcdingungcn fiir die all 1976 erscheincnden Hefte kcinnen bcimRotbuchveriag, 1 Berlin 30, Potsdamer Str. 9E nachgcfragt werden. Bittc Riickporto beilcgen.

    1976 Vl'rlaf! Olle Wolter. 1 Bl'flin 30 . !'o\lfach 4310Druck. Oktoherdruck. We\lbnlinBuchbimkarhcikn: Stein. We.stberlinPrinted in Germany. AIie' Rechte vorhehaltcn

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    Hans UlrichDIE EINSCHATZUNG VON KAPITALISTISCHER ENTWICKLUNGUND ROLLE DES STAATES DURCH DEN ALLGEMEINEN DEUT-SCHEN GEWERKSCHAFTSBUND*Vorwort Es ist eben schwer, eine Ahle in einem Sack zu ver-stecken. Aus dem ideologischen Sack des Reior-mismus ragt bald hier, bald dort die A hie der pein-lichen Wirklichkeit hervor. (L. Leontiew)Die vorliegende Arbeit beschrankt sich auf die Betrachtung des Sacks. Die Ablekommt nur soweit ins Bild, als auf die in der revisionistischen Theorie angelegtenWidersprtiche oder auf den Gegensatz zwischen den selbst von den gewerkschaftli-chen Theoretikern festgestellten Tatsachen und ihrer revisionistischen Interpretationhinge wiesen wird.Wenn in der Arbeit von Gewerkschaftstheorie die Rede ist, so handelt es sichnicht urn eine Bestimmung der Funktion der Gewerkschaften im Klassenkampf, son-dern urn die Darstellung verschiedener Momente einer Theorie, die zur Orientierungder Politik der Organisation dient. Insofern stellt sich die Arbeit nur eine auJl.erstbeschrankte Aufgabe. Es geht darum, die Auffassungen von der Rolle des Staates,die Theorie des organisierten Kapitalismus und der Wirtschaftsdemokratie in ihrerAbhangigkeit voneinander darzustellen und einige Ansatzpunkte fUr eine in der Ar-beit selbst nicht ausgeftihrte Kritik zu formulieren. Eine solche Kritik hatte die aus-ftihrliche Behandlung der Frage einbeziehen mUssen, wie die Staatsillusion, die Theo-rie des organisierten Kapitalismus und der Wirtschaftsdemokratie in den materiel/enVerhiiltnissen und in einer bestimmten, historisch entstandenen Struktur der Organi-sation begrtindet sind. Nur an einigen Punkten wird angedeutet, in welcher Richtungdie Lasung der Frage zu suchen ist. Die Arbeit ist also nur als Vorarbeit zu verste-hen, die einer in einer Darstellung der materiellen Verhaltnisse und der Geschichteder Organisation begrtindeten Kritik der Ideologie vorangehen muJl.te.Nur eine derart begrtindete Kritik kann der Gefahr entgehen, die Geschichtedes gewerkschaftlichen Reformismus als einen blof3 subjektiv motivierten Verratvon Funktionaren an den ursprtinglichen Zielen der Arbeiterbewegung zu interpre-tieren. So ist auch die Kritik der Theorie keineswegs mit einer Kritik oder Ableh-nung des gewerkschaftlichen Kampfesselbst gleichzusetzen. Denn urn Lehren ausder Geschichte der Kampfe der Arbeiterbewegung ziehen zu kannen, m u f ~ der Nach-weis der historischen Wirksamkeit und Bedingtheit sowie der Kritik der Theoriemit der Darstellung der Politik der Organisation und ihrer Einschatzung der ver-schiedenen Etappen der Kampfe verbunden werden.Auf der Ebene der vorliegenden Arbeit laBt sich die Unterscheidung von ge-werkschaftlichem und sozialdemokratischem Revisionismus nicht durchhalten. Dasdrtickt sich darin aus, daB die zitierten Theoretiker sowohl aus dem Bereich der Ge-werkschaften als auch der Partei kommen; oft sind die Personen, wie sich an zahl-reichen Beispieien nachweisen lieBe,einfach austauschbar oder sogar identisch. Aufjeden Fall sind die zitierten Auffassungen als typische zu verstehen, auch wenn diesnieht durch ausfiihrliche Be\ege naehgewiesen ist. Wenn von typisehen Auffassun-gen ,der' Gewerkschaften gesprochen wird, so ist darunter immer die ,offizielle'1 Probleme des Klassenkamp{. Nr. 6

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    Auffassung der reformistischen Ftihrung gemeint. Die Arbeit sttitzt sich insgesamtvor allem auf gewerkschaftliche Publikationen und Dokumente, wie KongreEprotokolle, Jahrbticher, Denkschriften, die wissenschaftliche Zeitschrift des ADGB ,DieArbeit', Publikationen f1ihrender Gewerkschafter oder von Autoren, d ~ e eine ,offizielle' Auffassung wiedergeben. Bine breitere Berticksichtigung der vorhegenden Se-kundarliteratur war nicht beabsichtigt. Auf Arbeiten, die eine ahnliche Problematikbehandeln und parallele Auffassungen vertreten, wie z.B. die von Mtiller/NeusUss,Konig, David, wird in der Regel nicht an jedem einzelnen Punkt verwiesen.

    Teil I. Die Gewerkschaften in der Revolution und am Ende der Nachkriegskrise

    EinleitungDer im folgenden Teil I in einigen unmittelbar untereinander nicht verbundenenund deshalb auch getrennt abgehandelten Punkten gegebene AbriE einiger Entwicklungslinien der Politik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes(ADGB) (0) muE var der systematischen Behandlung der Theorie der Wirtschaftsdemokratie und der darin enthaltenen Auffassung von der Rolle des Staates undden Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung stehen, weil darin einige Elementeund Ankntipfungspunkte der spezifisch wirtschaftsdemokratischen Theorie aufgezeigt werden sollen.Dabei handelt es sich vor allem um den Versuch einer Institutionalisierungder Zusammenarbeit der Klassen, wie er in der Arbeitsgemeinschaftspolitik undder von Wissell (Mitglied der Generalkommission und kurze Zeit Reichswirtschaftsminister) propagierten Gemeinwirtschaft - die schlieElich in den Selbstverwaltungskorpern der Zwangssynikate resultiert - unternommen wird und vor allem in denArtikeln 156 und 165 der Weimarer Reichsverfassung seinen Ausdruck findet.Daneben geht es um die liquidierung der Reste der Ratebewegung, der Be-triebsratebewegung, womit der Schwerpunkt des gewerkschaftlichen Kampfes, zumgroEen Teil auch soweit er Kampf um Lohn und Arbeitszeit ist, in iiberbetrieblicheGremien verlagert und auf die ,Interessenvertretung' gegentiber dem Staat zur Durchsetzung sozialer Reformen und auf Verhandlungen mit dem ,Tarifpartner' festgelegtwird. Nur auf diesen Ebenen lassen sich die Illusionen von einer Gleichberechtigungvon Kapital und Arbeit tiberhaupt aufrechterhalten.*0)

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    Die vorliegende Arbeit, im Rahmen eines Projekts in Miinchen entstanden, ist yom Redaktionskollektiv Gewerkschaften diskutiert und als so wichtig eingeschatzt worden, daEder Redaktionskonferenz ihr Abdruck in unveriinderter Gestalt vorgeschlagen wurde.In diesel Arbeit werden u.a. folgende Abkiirzungen verwendet: BR =Betriebsrate; WRY =Weimarer Reichsverfassung; VO = Verordnung; BuVo =Bundesvorstand; ADGB =Allgemeine! Deutscher Gewerkschaftsbund; Rech.ber. = Rechenschaftsbericht; DA = Die Arbeit; GA = Gewerkschaftsarchiv; MA-Bund =' Allgemeiner freier Angestelltenbund; ADB=Allgemeiner Deutscher Beamtenbund; DGB = Deutscher Gewerkschaftsbund (christliche Gewerkschaft); 1GB = Internationaler Gewerkschaftsbund; SAl =Sozialistische Arbeiter-Internationale; Prot.: vgl. folgende FuBnote; Jb.: vgl. FuBnote 37.

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    Das Scheitem des Versuchs einer friedlichertund allmiihlichen gesellschaftlichen Ullwaizung, wie sk in den Gemeinwirtschaftsvorstellungen noch impliziertwar, drtickt sich neben einer materiellen Krise der Gewerkschaftsbewegung am Endeder Inflation 1923/24 auch in einer ideologischen Neuorientierung aus. Da die. bisherige Programmatik, wenn auch nur in der Phrase, an der Forderung nach einersozialen Revolution festgehalten hatte, mUj3te die gewerkschaftliche Praxis nachdem definitiven Scheitern von Arbeitsgemeinschaft und Gemeinwirtschaft und angesichts der gewerkschaftlichen Staatsbejahung, der sozialpolitischen Fortschritteund der Beteiligung an Korperschaften wie dem Reichswirtschaftsrat und denZwangssyndikaten eine neue, auf eine Analyse der gesellschaftlichen Entwicklunggesttitzte Interpretation erfahren. Diese Interpretation muBte die Praxis des Tageskampfs und def Interessenvertretung und die spezifische Rolle des Staates als einesVertreters des Gemeinwohls und als eines Mittels zur Verwirklichung des Sozialismus in Verbindung mit dem noch aufrechterhaltenen ,Endziel' bringen. Dies wardie Funktion der Theorie der Wirtschaftsdemokratie, auf die dann in den folgendenTeilen eingegangen wird.

    Der letzte Punkt des ersten Teils solI einen kurzen Uberblick tiber die Analyseder Stabilisierungskrise durch den ADGB und die daraus abgeleiteten Forderungengeben, da darin einige Momente der wirtschaftsdemokratischen Auffassung bereitssichtbar werden.

    1. Zur Kontinuitat der gewerkschaftlichen PolitikDie politische Entwicklung im November 1918 stellt sich den offiziellen Gewerkschaftsideologen in der Regel als ein ,Zusammenbruch' des bisherigen ,Obrigkeitsstaates' dar:"So verkehrt es ist, von einer Revolution im Jahre 1918 zu sprechen, wo doch alies Geschehennur Foigeerscheinung der Weltkriegskatastrophe war, und naturgemiiJ3 die am wenigsten belaste-ten. Volksschichten, also die Arbeitnehmer und damit Sozialdemokratie und Gewerkschaftenberufen waren, den Wiederaufbau des Staates einzuleiten, so richtig war es, den Arbeitnehmernals Gesamtheit EinfluB auf die Wirtschaft zu sichern, damit ein Ventil gegen weitere kapitalisti-sche Eruptionen geschaffen und nach und nach iiberhaupt durch Uberfiihrung der kapitalisti-schen in die sozialistische Wirtschaft jedes Gefahrenmoment beseitigt wiirde." (1 )

    Bei Norpel wird eine Seite der Gewerkschaftspolitik hervorgehoben, die,Wirtschaftspolitik' (s. u. zur Zentralen Arbeitsgemeinschaft und zur Sozialisierung), die ihren Ursprung bereits in der Mitarbeit def Gewerkschaften an der Kriegswirtschaft und den Vorbereitungen zur Umstellung def Kriegs- auf die Friedensproduktion hat. (2) Im Nachhinein muE diese Beteiligung an def Wirtschaftspolitik1) Clemens Niirpel, "Der Betriebsrat", in: DA 1924, S. 88; fiir viele andere: Rudolf Hilferding, "Die Sozialisierung und die Machtverhiiltnisse der Klassen" (Rede auf dem 1. Be-triebsratekongreB), Berlin o. J., S. 3 f.; Protokoll der Verhandlungen des elf en Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands, S.462 (Hugo Sinzheimer). (Die Protokolle derGewerkschaftskongresse werden im folgenden abgekiirzt zitiert mit Prot. und nachfolgender Jabiesangabe).

    Niirpel ist Arbeitsrechtler, voriibergehend Leiter de! Betriebsratezentraie, dann Sachbearbeiter beim ADGB-Bundesvorstand.2) Vgl.Prot.T919 (Rechenschaftsbericht derGeneralkoinmission) S.173 ff. Zuin Oemobllmachungsamt vgL auch Jiirgen Kuczynski, "Die Geschichte der Lage der Arbeiter unterdem Kapitalismus"Bd. 5, Berlin (DDR) 1966, S. 115 ff.3

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    (eine angeblich neue Seite der gewerkschaftlichen Arbeit, die bisher auf sozialpolitische Forderungen beschrankt gewesen sei) zur Fundierung des Marchens vonder ,ungentigenden geistigen Vorbereitung' der Gewerkschaften gegentiber den An-forderungen der Revolution dienen. (3) Von daher leiten sich auch die spaterenForderungen nach def Ausbildung einer gentigenden Anzahl qualifizierter Wirt-schaftsflihrer aboDie andere Seite der Gewerkschaftspolitik, die ,Sozialpolitik' geht im wesentlichen tiber die Forderungen ihres bereits 1917 formulierten ,sozialpolitischen Ar-beiterprogramrns' nicht hinaus (4); ein Teil dieser Forderungen wird schon unmittelbar nach der Revolution (5), ein weiterer Teil in den Jahren 1919/20 (6) verwirklicht. "Anfang 1920 hatte sich sornit auf allen Linien grundsatzlich wieder die Sozialpolitik durchgesetzt." (7)Ein weiterer Punkt muE noch betont werden: Trotz der Forderung nachparitatischer Teilnahme am Wiederaufbau der Wirtschaft halten die Gewerkschaften an ihrem nur-Gewerkschaftstum auch in def unmittelbaren Nachkriegszeitfest. Sie fordern die "strikte Durchftihrung der Demokratie, des Mehrheitswillens

    in der Gesetzgebung und Verwaltung" als Voraussetzung ftir die ,soziale Revolution':"Die Erringung der politischen Demokratie und die Verwirklichung der politischen Forderun-gen und Ziele der Arbeiterbewegung aber is t natiirlich nicht unsere Aufgabe. Mit der politischenRevolution haben wir als Gewerkschaften nichts zu tun, sie gehort nicht zu unseremAufgaben-gebiet. Aber die Durchfiihrung der sozialen Revolution, die Verwirklichung des Sozialismus is tdas Gebiet. auf dem die Gewerkschaften zu Hause sind, auf dem sie mitwirken wollen, . ". (8 )

    Von diesem Standpunkt aus formuliert denn der ADGB-Vorsitzende Leipartdie unrnittelbare Aufgabe der Gewerkschaften:"Der ruhige und stille Kampf der Gewerkschaften, die ziihe und geschlossene Durchsetzung3) Vgl. Sinzheimer, Prot. 1922, S. 462: "Wir waren geistig nicht vorbereitet. Das war dieTragik der deutschen Revolution, die nicht durch organisierten Geisteskampf p l a n m a l ~ i g herbeigefiihrt worden ist, sondern die einfach zustande kam durch den Zusammenbruch."Rudolf Wissell, ebd. S. 466 ff., spricht auch von der "psychischen Unreife der Volksmassen" (S. 473). Dabei hat sogar Hilferding in seiner Rede auf dem B R - K o n g r e ~ die ,Schuld'der Gewerkschaften und der MSPD in der b l o ~ reformistischen Politik der Vorkriegszeitgesehen (Hilferding, "Die Sozialisierung . . . ", S. 3 f.).4) Das Programm enthiilt Forderungen fiir folgende Gebiete: Sozialpolitische Organisationund Statistik, Arbeitervertretung, Organisationsrecht, Tarifvertragsrecht, Schiedsgerich

    te und Einigungsamter, Arbeitsrecht, Arbeiterschutz, Arbeiter- und Angestelltenversicherung, Rechtsprechung, Arbeitsvermittlung, Genossenschaftswesen, Staats- und Monopolbetriebe, Wirtschaftspolitik, internationale Sozialpolitik, Volksernahrung, Wohnungsfiirsorge, Volkshygiene, Volkserziehung; vgl. Prot. 1919 (Rechenschaftsbericht derGeneralkommission) S. 168. Zur Entwicklung der verschiedenen Zweige der Sozialpolitik im 1. Weltkrieg vgl. Ludwig Prel\er, "Sozialpolitik in der Weimarcr Republik", Stuttgart 1949, S. 3-85 (Erstes Buch: Sozialpolitik im 1. Weltkrieg), bes. S. 34 ff.5) Verordnungen yom 23.11. und 23.12.1918 zu: Einfiihrung des Achtstundentags, Arbeiter- und Angestelltenausschtissen, Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten, Tarifvertragen(u.A. auch Unabdingbarkeit und Allgemeinverbindlichkeit).6) Die Bestimmungen des 5. Abschnitts der WRY zu den sozialen Grundrechten, Betriebsrategesetz, voriaufiger Reichswirtschaftsrat (Va yom 19.4.1920).7) Prel\er, "Sozialpolitik . . . ", S. 253.8) Prot. 1919, S. 427; Leipart in seinem Referat zu den Richtlinien liber die kiinftige Wirksamkeit de! Gewerkschaften. Vgl. auch Legiens Rede zum Geschiiftsbericht und S c h l ~ wort, a.a.O., S. 314 ff. und 387 ff. Prot. 1922, Reden von Leipart, S. 324 ff. und Brey,S. 368 ff.4

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    unserer gewerkschaftlichen Forderungen und Ziele. das is t die richtige. die fruchtbare revolu-tioniire Sozialistentiitigkeit. Diese Tiitigkeit auch in Zukunft fortzusetzen. in Gemeinschaftmit den Betriebsriiten und Arbeiterriiten uns gegenseitig helfend und fOrdernd fUr den dauern-den Aufstieg der Arbeiterklasse. da s muJ3 die kiinftige Wirksamkeit der Gewerkschaften sein."(9)

    Die rein sozialpolitische Zielsetzung und die reformistische Strategie sind hierdeutlich formuliert.1m folgenden sollen kurz die Resultate dieser Politik auf einigen Gebieten dargestellt werden.

    2. Die Arbeitsgemeinschafts-PolitikAuf die Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit den Militiirbehorden und denUnternehmerverbiinden - vermittelt durch das Hilfsdienstgesetz von 1916 -braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. (10) Angesichts der beginnenden Revolution hatten sich die Vertreter der Kapitalistenklasse, die flir den Falleines giinstigen Kriegsausgangs die Aufhebung der den Gewerkschaften eingeriiumten Konzessionen planten, eines besseren besonnen: Sie machten in dem Abkommen vom 13. November 1918 den Gewerkschaften einige Konzessionen in bezugauf deren sozialpolitische Forderungen: Anerkennung der Koalitionsfreiheit undder Kollektivvereinbarungen zur Regelung von Lohn und Arbeitsbedingungen, sowie der Gewerkschaften als "berufene Vertreter der Arbeiterschaft", paritiitischeVerwaltung der Arbeitsnachweise und Einrichtung von paritiitischen Schlichtungsausschiissen und Einigungsiimtern; Einrichtung von Arbeiterausschiissen in den Be-trieben; tiigliche Hochstarbeitszeit wird auf acht Stunden festgesetzt; die wirtschaftsfriedlichen gelben Werkvereine werden nicht we iter untersttitzt; zur Durchflihrung des Abkommens, zur Regelung eventueller Streitigkeiten und zur Durchflihrung der MaBnahmen der Demobilmachung - aIle Arbeiter sollten nach Entlassung aus dem Heeresdienst an die frtiheren Arbeitsstellen zurtickkehren konnen(11) - sollte ein ZentralausschuB auf paritiitischer Grundlage (mit einem nachFachgruppen gegliederten Unterbau) gebildet werden, dessen Aufgabe in den am3.12.1918 verabschiedeten Satzungen wie folgt formuliert ist:"Durchdrungen vo n der Erkenntnis und der Verantwortung. daJ3 die Wiederaufrichtung un-serer Volkswirtschaft die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und geistigen Kriifte undallseitiges eintriichtiges Zusammenarbeiten verlangt. schlieJ3en sich die Organisationen der indu-striellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu einer Arbeitsgemeinschaft zusam-men. 1. Die Arbeitsgemeinschaft bezweckt die gemeinsame Losung aller die Industrie und das

    9) Prot. 1919, S. 433 (Hervorhebung nicht im Original).10) ZUI Haltung der Gewerkschaften vgl. vor aHem Prot. 1919 (Rechenschaftsbericht derGcncralkommission), zur Zcntralarbcitsgcmcinschaft S. 171 fL, we iter in drill Artikl'ivon Theodor Leipart, ,.Gewerkschaftcn und Reichswirtschaftsrat", in: DA 1924, S. 194ff .II) ZUlli ,,(;L'ist der Drmobillllachling" hanz Spliedt (Sachbrarbritcr brim ADGB-BuVo) inseinem Aufsatz "Arbeitsmarktpoiitik und Verkiirzung der Arbeitszeit", in: DA 1927,S. 90: " ... wo das fiir die crschiipfte Wirtschaft so dringlichc Zid def Errcichung desg r i i ~ t m o g l i c h c n wirtschaftlichcn Nutzcffekts des Produktionsapparates zunachst zuriicktre(cn m u ~ l e hinter dem noch dringlichercn Zwcck, aus staatspolitischen Griinden mogHehst viele Mensehcn in Arbeit und von der S l r a ~ e zu haltcn ... " Vgl. allch PreHer ,"Soziaipolitik ... ", S. 229.

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    Gewerbe Deutschlands beriihrenden wirtschaftlichen und sozialen Fragen sowie aller sie betreffenden Gesetzgebungs- und Verwaltungsangeiegenheiten." (12)Mit dem AbschluE dieses Abkommens erkHirten die Gewerkschaften implizitihren Verzicht auf eine sofortige Sozialisierung, was flir die Kapitalistenklasse dieErhaltung der Grundlagen ihrer politischen Macht bedeutete und die Gewerkschaf

    ten damit fUr die Zeit der Revolution "zu den wichtigsten Sttitzen der Unternehmerinteressen" machte. (13)Die mit der Zentralarbeitsgemeinschaft eingeschlagene Linie wird auf demNiirnberger KongreE 1919 mit den "Richtlinien tiber die kiinftige Wirksamkeit derGewerkschaften" fortgesetzt:,,3. Die Revolution hat die politische Macht der Arbeiterklasse gestarkt und damit zugleich ih-ren Einflu13 auf die Gestaltung der Volkswirtschaft vergro/3ert. Der Wiederaufbau des durchden Krieg zerriitteten Wirtschaftslebens wird sich in der Richtung der Gemeinwirtschaft unterfortschreitendem Abbau der Privatwirtschaft vollziehen. Die Umwandlung mu/3 planmiiJ3ig betrieben werden und wird von den deutschen Gewerkschaften gefordert."

    Die Organe zur Vorbereitung dieser Umwandlung sind regionale Wirtschaftsklammern - parWitisch besetzte "Selbstverwaltungsorgane der Volkswirtschaft" - ,zusammengefaEt auf Reichsebene. (14) Die Gewerkschaftsftihrer muEten allerdingsversuchen, vor der Arbeiterschaft zu vertuschen, daE die Zentralarbeitsgemeinschaftspolitik eine kompromiBlose Durchsetzung der Sozialisierungsforderungen ausschloE; denn ein offener Verzicht auf die Sozialisierung hiitte die groBe Mehrzahlder Arbeiterschaft gegen die Gewerkschaftsftihrung mobilisiert. (15) Diese Verbindung zwischen der Arbeitsgemeinschaftspolitik und den gemeinwirtschaftlichen12)

    13)

    14)

    15)

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    Prot. 1919 (Rechenschaftsbericht der Generalkommission), S. 177 ff.; zu den Zie1en derKapitalisten die bekannte Broschiire von Jacob Reichert, "Entstehung, Bedeutung undZiel der Arbeitsgemeinschaft", Berlin 1919.Das Abkommen vom 15.11.1918 erfii1lt die meisten Forderungen des (in Fn. 4) genannten sozialpolitischen Programms und bildet die ,Vorlage' fiir die Gesetzgebungs- und VerordnungsHitigkeit des Rats der Volksbeauftragten und der ersten Reichsregierung (vgl.Fn. 5 und 6, Preller, "Sozialpolitik ... ", S. 230). Die Satzung vom 3.12.1918 enthiiltden Kern des Artikels 165 der WRY, der nach d e n _ g r o ~ e n Streiks vom Marz/Aprill919von der MSPD als ,Verankerung' des ,Rlitegedankens' in der Verfassung zugestandenwurde.Emil Lederer, "Die Gewerkschaftsbewegung 1918/19 und die Entfaltung der wirtschaftlichen Ideologien in der Arbeiterklasse", in: Archiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47. Band, Tiibingen 1920/21, S. 237 (bringt gute Ubersicht). Vgl. Hans-HermannHartwich, "Arbeitsmarkt, Verbllnde und Staat 1918-1933", Berlin 1967, S. 7: "Ihre(der Generaikomnrission, Verf.) Zustimmung zur Zentralarbeitsgemeinschaft war angesichts ihrer 1918(19 entscheidenden Position eine eminent politische Entscheidung. Sies c h l o ~ faktisch schon vor dem Scheitern der Sozialisierungspillne eine revolutionare Umgestaltung der Wirtschaftsordnung aus." (Das materialreiche Buch von Hartwich miindetS. 388, Fn. 36, in die ,erschiitternde' Frage: "Aber wie sollen gesellschaftliche Machtpositionen kleiner Gruppen ohne revolutionare ErschUtterungen abgebaut werden? ") .Prot. 1919, S. 57 ff.; Kompetenzen: Behandlung sozial- und wirtschaftspolitischer Angelegenheiten, Ausarbeitung und Begutachtung von Gesetzentwiirfen, unter anderem Vorschriften fiir die Organisation der Betriebe und Wirtschaftszweige zu deren Sozialisierungund Unterstlitzung ihrer Durchfiihrung.Vgl. die Kritik von Richard Miiller, Protokoll1919, S. 434 ff. und 467 ff. und Simon,ebd. S. 478.Wie verbreitet die Sozialisierungsforderungen waren, zeigt vor aHem Peter von Oertzenin "Betriebsri(te in der Novemberrevolution", DUsseldorf 1963, und in "Die PrQblemeder wirtschaftlichen Neuordnung und der Mitbestimmung in der Revolution von 1918",Frankfurt/M. o. J.

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    Planen WisselIS(16) wird 1919 aufdem Niitnbeiger K o n g r e ~ sogarnochvonHil-fetding aufgezeigt:Die ,gebundene Planwirtschaft 'bat mit dem Soziallsmus nur das gemeinsam. sie angeb;liOO p ~ l i B i g sein solI. Von Soziallsmus is t darin keine S p u r ~ soildern der ganze Plan geht da-hin. den Unternehmer in seiner KapitalisteneigensOOaft zu erhalten. Es is t die Ubertragung de r. ~ b e i t s g e m e i n s c h a f t ' unmittelbar auf dllll wirtsooaftliche Gebiet. 100 sehe in diesem Plan nicht. eb)mal eine Anniiherung an den Soziallsmus. sondern. einen Ausflul.l de r Lehre von der Harmo-riiezWiSOOen KaPital und Arbeit und ein Mittel, die SOOwierigkeiten fUr de n Kapitaiismus zu er .leiOOtern. Er liiuft darauf hinaus. ein gesetzmliBig erleiOOtertes kapitalistisooes KartllU zu er-scbafflm. Diese .gebundene Planwirtschaft' bedeutet eine Gefahr fur die Sozialisierung und istum so mem zu bekiinlp;fen, als sie gerade fUr jene Wirtscbaftszweige in dill Wege geleite1; wird:die fur. die Sozialisierung die reifsten sind .. 17)

    Mit welchen Einschriinkungen die Gewerkschaftep. selbst ihre Sozialisierungsforderungen verbunden haben, wird im nachsten Abschnitt behamlelt.

    3. Die SozialisierungsforderungenDie ganze.Aufmerksamkeit der MSPD-'und Gewerkschaftsflihrer gilt der Abwehr dersogenannten ,VollsoziaHsierung

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    rung der Produktion, ohne unmittelbare Beteiligung der Arbeiterschaft, ohne Ausschaltung der Kapitalisten (was bei den reformistischen Ideologen als ,Erhaltung derUnternehmerfunktion' apostrophiert wird) , verwirklicht auf ,gesetzlichem Wege'durch die Nationalversamrnlung. Von diesem Standpunkt aus werden die unmittelbaren Forderungen der Arbeiterschaft, vor aliem der Bergarbeiter diffarniert: siewiirden den Sozialismus zu einer Lohnbewegung degradieren. (20) In dem MaBe,in dem die revolutionare Bewegung zurtickgedrangt wird, verbreitet sich die von derAnderung der Machtverhaltnisse scheinbar unbertihrte ,Sozialisierungsdebatte' tiberdie ,Reife' der verschiedenen Industrien, die Verflechtung im Weltmarkt, die Artder Beteiligung der Betriebsleiter, der Verbraucher, der ,Allgemeinheit' (d.h. desStaates), die technische Durchftihrung usw. (21). Die Taktik der Gewerkschaftsftihrer wird von einem professoralen Beobachter wiedergegeben:"VieUeicht war es , massenpsychologisch betrachtet, eine kluge MaJilnahme, als in ienen bewegten Tagen plotzlich au s Flugzeugen die Industriebezirke mit Flugbliittern iiberschwemmt wurden, deren breite Uberschriften verkiindeten: ,Die Sozialisierung is t da'. Die Sozialisierung wardamals nicht da, wie sie auch heute no ch nicht durchgefiihrt werden konnte. Man hat im Parlament ein Gesetz beschlossen, dessen Paragraphen die Massenstimmung beruhigen soUten (meintdas Kohlenwirtschaftsgesetz, Verf.). In einer Geschichte dieser Sozialisierungsbewegung diirftevielleicht jener Vorgang nicht fehlen - als der bekannte Bergarbeiterfiihrer Otto Hue in Miihlheim vor den versammelten Arbeitervertretem der rheinisch-westfiilischen Bergarbeiter jenezweistiindige Rede fiir die Sozialisierung hielt, die in Wirklichkeit eine Darstellung gegen dieMogllchkeiten der sofortigen Umformung der Wirtschaft ... enthielt. Diese Episode is t deshalbin Erinnerung gebracht, um zu zeigen, wie sich gerade die prominent en Fiihrer innerhalb der Arbeiterbewegung in einem Kampf mit ihrer eigenen Masse befanden, und wieviel Mut dazu gehorte, sich diesen aufgeregten Massen entgegenzustellen". (22)

    Obwohl auf dem NUrnberger KongreB sicherlich keine groBe Portion Mut ge-fordert war, befolgte der Referent Umbreit (Redakteur des ,Correspondenzblatts'der Generalkommission und Mitglied der ersten Sozialisierungskomrnission) dochdieselbe Taktik: Grundsatzliches Bekenntnis zur Notwendigkeit der Sozia1i!;ierung,dem dann die Kautelen folgen: Sicherung des Friedens, "Wiederhersteliung unseresWirtschaftslebens", denn: "Ohne Zusammenwirken der Organisationen alier Wirtschaftsfaktoren kann es keine wirtschaftliche Wiederbelebung und folgerichtig auch

    20) "AIlgemeiner K o n g r e ~ der Arbeiter- und Soldatemate . . . ", Sp. 319. Prot. 1919, S. 551~ U m b r e i t ) . Hilferding, "Die Sozialisierung ... ", S. 4; vgl. Preller, "Sozialpolitik . . . ",S.238.21) Vgl. vor allem Hans Schieck, "Der Kampf urn die deutsche Wirtschaftspolitik nach demNovemberumsturz 1918", Heidelberg; Heinrich Strobel, "Die Sozialisierung, ihre Wc.ge u.Voraussetzungen", Berlin 1921.22) Richard Woldt, "Die deutsche Gewerkschaftsbewegung in der Nachkriegszeit", in: Strukturwandlungen der deutschen Volkswirtschaft, Bd. 1, Berlin 1928.

    Aligemeiner KongreB derArbeiter - und SoldatenrateBERLIN 16. BIS 21. DEZEMBER 1918' STENOGRAPHISCHE BERICHTETeilnehmer: Barth, Diiumig, Ebert, Eichhorn, Haase, Heckert, Hilferding,Laufenberg, Ledebour, Leinert, Liidemann, Richard Miiller, Noske, Scheidemann, Seger, Severing, Tost, Zorgiebel, u.v.a.Aus dem Inhalt: Berichte des Vollzugsrates und der Volksbeauftragten;Nationalversammh .ng oder RiitesystemSozialisierung des Wirtschaftslebens

    Verlag Olle & Wolter, Postfach 4310,1000 Berlin 30

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    keinen Sozialismus geben." Deshalb darf auch die Zentrale Arbeitsgemeinschaftnicht durch "rticksHindige Arbeiterauffassungen auseinandergesprengt werden". -Volle Demokratie "in Reich, Staat und Gemeinde und nicht zuletzt in den Betrieben." Denn: "Sozialismus ist eine Sache der Volksgemeinschaft, sie bedarf derMitwirkung des ganzen Volks ... . (23) So enden die SozialisierungsbemtihungenschlieElich bei der Zwangssyndizierung einzelner Wirtschaftszweige - durch Verabschiedung des Kohlenwirtschaftsgesetzes, des Kaliwirtschaftsgesetzes und Schaffung des Eisenwirtschaftsbundes (24) - , die bestenfalls den ZusammenschluE derKapitalisten und Arbeiter der betreffenden Produktionszweige auf Kosten der tibrigen Konsumenten (einschlieElich deI weiterverarbeitenden Industrie) durch ihr ge-meinsames Interesse an Preiserhohungen herbeiftihren kann und derart zur Korrumpierung der Arbeiter beitragt. (25)

    4. Die BetriebsratebewegungAuf die Bestimmungen des Artikel 165 der WRV - die nie reallsiert wurden - so-wie die Arbeit des April 1920 gebildeten - bis 1933 immer noch ,vorlaufigen' -Reichswirtschaftsrats wird wegen ihrer Bedeutungslosigkeit nicht weiter eingegangen. (26) Von Bedeutung fUr die Entwicklung der Gewerkschaften ist allerdingsdie allmahliche Unterordnung der Betriebsrate, die sich im Rahmen einer Verschiebung des KrafteverhaItnisses der Klassen wahrend der Inflation vollzieht (allerdingsauch zu diesem Resultat beitragt) und die Liquidierung der letzten Vberreste defRatebewegung zum Ziel hat. Dies wird von Fraenkel (Arbeitsrechtler und Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes) wie folgt zusammenfassend charakterisiert:"Die Eingliederung der Rate in die Gewerkschaftsbewegung. die nach schwerwiegenden Kiimpfen in de n folgenden Jahren gelang, is t das soziale Meisterstiick der deutschen Gewerkschafts-bewegung der Nachkriegszeit. Nicht mehr besteht jene urspriingliche Gegnerschaft zwischenBetriebsratebewegung und Gewerkschaft. die Betriebsrate sind vielmehr .. zu dem verliingerten Arm der Gewerkschaften innerhalb des Betriebes geworden. die Betriebsrate werden von

    23) Prot. 1919, S. 535 ff, keine Hervorhebung im Original (Ahnlich Leipart, ebd., S. 431);vgL Prot. 1922, S. 471 (Wissell, keine Hervorhebung im Original): "Was vieltach alsKlassenkamp/ ausgegeben wird, ist nichts anderes als der Versuch, an die Stelle dereinen eine andere Klassenherrschaft zu setzen." Die Gewerkschaften aber wollten eineklassenlose Gesellschaft!Der Niirnberger K o n g r e ~ 1919 verabschiedete keinerlei Resolution oder Richtlinien ZU ISozialisierung, die Referate von Umbreit und Hilferding wurden ohne Diskussion ,entgegengc,l)ommen'. Dafiir wurden unter diesem Tagesordnungspunkt zwei Antriige aufObernahme -der bisher militarisch organisierten Bekleidungs- und Instandsetzungsamter unter zivile staatliche Verwaltung bzw. auf Regelung der Heimarbeit verabschiedet!24) Die iibrigen Gesetze, wie das Sozialisierungsrahmengesetz, Gesetze zur Regelung derElektrizitatswirtschaft, zur Einrichtung von A u ~ e n h a n d e l s s t e l l e n , sind in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.25) VgL z. B. bei Oertzen, "Wirtschaftliche Neuordnung ... , S. 67 ff. (siehe auch untenTeil III, 1).26) Siehe u. a. Preller, "Sozialpolitik ... ", S. 264 ff. ("Das Schicksal der Wirtschaftsverfassung"). Fiir eine grundsatzliche Kritik und Einschatzung der Arbeitsgemeinschaftspolitik,der Haltung der Gewerkschaften zur Ratebewegung und des Betriebsrategesetzes siehe Karl Korsch, "Arbeitsrecht fiir Betriebsrate" (1922), Neuauflage Frankfurt1968.

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    den Gewerkschaftenaufgestellt, geschultund kontrolliert, sie sind die Vertrauensleute der Organisationen innerhalb des Betriebs." (27)

    Die Gewerkschaften hatten sich gegen die Bildung von selbstandigen Arbeiterraten ausgesprochen und ihnen nur fUr eine Ubergangszeit eine Existenzberechtigung zuerkannt.Es. wird von keiner Seite bestritten, daJ3 die Arbeiterrate fiir die Durchfiihrung der RevolutiongroJ3em Wert und groJ3ter Bedeutung waren. Durch die Kontrolle, di e sie tiber staatliche undamtliche Organe austibten,. verlrlnderten sie den Zusammenbruch und den Biirgerkrieg und ermoglichten die Fortarbeit des Verwaltungsapparates in Reich, Staat und Gemeinde. Diese Funktion wurde dann durch die au f Grund des weitgehenden demokratischen Wahlrechts erfolgtenWahlen fiir die gesetzgebendenKorperschaften und immer mem eingeengt.""Sie (die Generalkommission, Verf.) vertrat die Ansicht, daJ3 die Arbeiterrate in ersterLinie die Aufgaben von Arbeiterausschiissen in den Betrieben zu erfiillen haben, indem sie dam sorgen sollen, daJ3 die fiir einen Beruf oder eine Industrie von d er gewerkschaftlichen Organisation festgesetzten Lohn- und Arbeitsbedingungen im Betriebe zur Durchfiihrung gelangen,"

    (28)

    Diese Auffassung setzte sich auch auf dem NUrnberger KongreB in den "Bestirnmungen tiber die Aufgaben der Betriebsrate" durch. (29) Gegentiber den Aufgaben, die die Arbeiter- und Angestelltenausschiisse des Hilfsdienstgesetzes hatten,sollte sich im Prinzip nichts andern. So sagt selbst Leipart: '"Miiller (d.i. Richard M., Korreferent z.u L., verf.) wagt es, in derBetri'ebsratsfrage die Aufrlchtigkeit unserer Richtlinien anzuzweifeln. Tatsachlich haben wir die dort vorgeschlagenenBetriebsrate immer als eine alte Forderung, wenn auch unter anderem Namen aufgestellt. Wennwit uns den Bediirfnissen der Zeit anpassen, so ist das auch keine Schande." (30)

    Unter Mithilfe der Gewerkschaftsvertreter wurde der Entwurf des Betriebsrategesetzes bis zu seiner Verabschiedung im Februar 1920 von allen Rechten, dietiber die Mitwirkung in sozialen, unmittelbar die Arbeiter betreffenden Angelegenheiten in Richtung auf eine Produktionskontrolle hinausgingen, gereinigt und ausdem Zusarnmenhang mit den tibrigen Elementen der ,geplanten' wirtschaftlichenRateverfassung gel6st. (31) Unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes setzendie gewerkschaftlichen MaBnalImen zur Unterordnung der Betriebsrate und ZUIZerschlagung der von U ~ P D und KPD organisierten selbstandigen Rateorganisationen ein. Nach einem BeschluB des Bundesausschusses von 1920 und des LeipzigerKongresses von 1922 durften nur eine gewerkschaftliche Einheitsliste in den Be-trieben zur Wahl gestellt werden. (32) A1s Auffangbecken wurde eine gewerkschaftliche Betriebsratezentrale eingerichtet, die die Vorbereitung des ersten (und letzten)allgemeinenBetriebsratekongresses desADGB vom Oktober 1920 tibernahm,auf demsic;h die Gewerkschaften als "Trager der Betriebsratebewegung" durchsetzen konn-27)28)29)30)31)

    32)10

    Ernst Fraenkel, "Kollektive Demokratie", In: Die Gesellschaft 1929, 6. Jg., Bd. 2,S. 103-118, hier S. 111 f.Prot. 1919 (Rechenschaffsbericht der Generaikommission), S. 168 f. Vgl. auch Lederer, "Gewerkschaftsbewegung 1918/19 ...", S. 245 ff .Prot. 1919, S. 60 ff .Prot. 1919, S. 494; vgl. S. 432 (ebentalls Leipart).Die Entstehung des Gesetzes bei Oertzen, "Betriebsrate . . . ", S. 153 ff.; Preller, "Sozialpolitik ... ", S. 249 ff . 1m Zusammenhang mit dem Betriebsrategesetz ist noch das Gesetz iiberdie EntsendullgvonBetriebsriiten in den Aufsichtsrat (Februar 1922) zubeachten;Prot. 1922 (Bericht des BuVo), S. 227 ff., S. 419 f.

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    ten. (33) Aber noch 1922 mahnte Reichsarbeitsminister Brauns (34):..Uberaus bedlmliliOOfiir den Gewerksooaftsgedanken ersOOeint mir auOO eine gewisse E i n b ~ e an Autoritiit del' FUhrung, ich sage nicht: der 'Flihrer; Allegro2en Verhandlungen iiber ArbeitsundLohnfragen sind dadurOO a ~ e r o r d e n t l i c h ersOOwert. Ich brauOOe da s in diesem KreiseniOOt nah:er auszufiihren. Gerade hier haben wtr es mit einer gewissen Uberspannun'g des demokratischeri Gedankens zu tun, die fUr die Demokratie und den GewerksOOaftsgedankeri aul3erordentlich gefahrlich werden kann. 100 glaube abel', der Ubelstand erkliirt siOO aUs del' iiberstiirzten Entwicklung dm; letzten Jahre unci wtrd hoffentlich wieder beseitfgt werden." (35)

    Bereits 1922 hatte jedoch der Bundesvorstand festgestellt, dl& sich ein Be-diirfnis nach einer tiber die ort1iche Ebene hinausgehenden Zusarnmenfassung decBetriebsriite nicht rnem gezeigt habe (36); in den f()lgenden Jahren wird nur nochtiber gelegentliche - ,natiirlich' zum Scheitern verurteilte - Versuche der KPD berichtet, die aber in der Regel den bereits konsolidierten EinfluB des ADGB auf dieBR nicht mem in g r o ~ e r e m Umfang brechen konnen. (37) Ende 1923 stellen dergeschiiftsflihrende AusschuB und der Beirat der Betriebsriitezentrale we Arbeitein, "sodl& in Zukunft, wie aIle anderen, so auch die Betriebsriitefragen durch dies a t z u n g s m ~ i g e n Korperschaften des ADGB mit erledigt werden". (38)

    5. Die materielle und ideologische Krise der Gewerkschaften zu Beginn der Perio4eder relativen Stabilisierung "Nachdem die Entscheidung fliI denkapitaliStischen Wiederaufbau gefaIlen war, m ~ te ~ w a n g s l i i u f i g die Arbeiterschaft die Last en der Reparationen, der Sanierung derReichsfmanzen und, des Aufbaus des Produktionsapparates tragen. Die Wiederhetstellungder ,hormalen' Verwertungsbedingungen des Kapitals bedeutete fliI die Arbeiterschaft verstarkte l.Ohnsenkung, Verlangerung der Arbeitszeit und Verschlechterung der sozialen Leistungen. Angesichts der Kiimpfe, die in den J ahren nach 1920vor aIlem um LOhne, Arbeitszeit und die Abwehr der Angriffe auf die Sozialversicherung geflihrt wurden - auch den Kampf urn die Belastung der Kapitalisten durch Be-sitzsteuern und die Erfassung der ,Sachwerte'; urn Tarifvertriige und Schlichtungswesen, die Erwerbslosenflirsorge - , formuliert 1922 Korsch hoffnungsvoll:..Wieder' einmal erejgnet es siOO in der GeschtOOte der Klassenbewegung des Proletariats, daadie Fehler und Prinzipienlosigkeiten der proletarisOOen Flihrer von den Feinden des Proletariats wieder gut "gemaCht. werden. Die Flihrer der deutsOOen Gewerksooaftsbewegung, die um.des triigetisOOen Phantoms einer ,gemeinwirtschaftliOOen Gleichberechtigung' Willen den geradenWeg des Klassenkampfes verlasSen hatten, werden. zwangsweise aus der Arbeitsgemein-schaft heraus und auf den Weg des Klassenkampfes zuriickgeworfen." (39) ,

    33)34)35)36)37)38)39)

    Prot. 1922 (Bericht des BuVo), S. 229 f. ; vgl. auch das "Rote Gewerkschaftsbuch" (Kotlektivarbeit von August Enderle, Heinrich Schreiner, Jakob Walcher, Eduard Weckerle),Berlin 1932.Brauns (Zentrum) geharte seit der erst en rein biirgerlichen' Regierung Fehrenbach, von1920 bis 1928 allen Regierungen als Arbeitsminister an.Prot. 1922, S. 295.Prot. 1922 (Bericht des BuVo), S; 231.Jahrbuch des. ADGB 1923, S. 146 ff., Jahrbuch des ADGB 1924, S. 99 ff . (die Jahrbiicher werden imfolgenden ziti6rt! Jb.mit Angabe des Jahres).lb . 1923, S. 151.Korsch, "Arbeitsrecht", S.127.

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    Zwar trat der ADGB - nachdem bereits zahlreiche Einzelgewerkschaften ausden Arbeitsgemeinschaften ihrer Industrie ausgetreten waren- erst Anfang 1924 ausder ZAG aus (40); doch bedeutete dies nur die endgi.iltige Liquidierung einer schonlange zuvor gescheiterten Politik. Von den in den N i i r n ~ e r g e r ,Richtlinien' .tiberdie ktinftige Tatigkeit der Gewerkschaften' g e n a n n ~ e n Gebleten ~ e w e r k s c h a f t h c h ~ r Tatigkeit, wie "Wiederaufbau der Wirtschaft, Betnebsdemokratle: Abb.au der Pnvatwirtschaft, Sozialisierung, Arbeitsgemeinschaften usw.", war elgenthch nur derLohnkampf tibriggeblieben. " .... und wenn behauptet werden sollte, daB derLohnkampf heute nur noch die einzige Tatigkeit sei, - so wird es etliche Millie kosten, das zu widerlegen." (41)Die von den Gewerkschaften geforderte endgtiltige gesetzliche Regelung derunmittelbar nach der Novemberrevolution durch Verordnung geregelten sozialpolitis chen und arbeitsrechtlichen Materien (vgl. FuBnoten 5 und 6) sowie der Ausbauund die Vereinheitlichung der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung und derErwerbslosenflirsorge - bzw. deren Umwandlung in eine Arbeitslosenversicherung -konnten in der Inflationsperiode ebenfalls nicht durchgesetzt werden. (42) "AIs vonMitte 1922 an sich die Geldentwertung in ungeheurem Tempo entwickelte, kam dieZeit der Wirtschafts- und Sanierungsprogramme. Die Gewerkschaften verlegten ihreInteressen von der sowieso unmoglich gewordenen sozialpolitischen Ausgestaltungauf die Wirtschaftspolitik." (43)Die gewerkschaftliche Einschatzung der Lage im Jahre 1924 wird von Seidelgut zusammengefaBt:"Das entscheidende Merkmal der 1923 eingetretenen Wendung erblicken wir, zusammenfassend,darin, daB bisher Verluste,sowohl im Inbalt der Tarifvertriige wie im sozialpolitischer Beziehung,nur im Gebiete der materiellen Bedingungen des Arbeitsvertrages eingetreten sind (d.h. alsoLohnsenkung, Verf.), wiihrend der Kreis der sozialpolitischen Gesetzgebung, in dem die Rechts-stellung der Gewerkschaften fundiert ist, der Kreis des kollektiven Arbeitsrechts, im wesentlichen unangetastet geblieben ist. Dadurch trifft die EinbuBe die Massen aber unmittelbar unddaher verdunkelt sie von neuem ihren Blick fUr die Beurteilung der Situation. Aber da s bedeutet auf der anderen Seite, daB die Gewerkschaften durch die Krisis vo n 1923 im Kern ihrerDaseinsbedingungen nicht beriihrt worden sind. Damit is t gleichzeitig der Punkt bezeichnet,an dem der Wall des Widerstandes aufzurichten is t und von dem aus ein neuer Aufstieg zu beginnen hat." (44)

    40)41)42)43)44)

    lur l e n t r a l a r b ~ i t s g e m e i n s c h a f t vgl. Jb. 1923, S. 173 ff. (zur lentralarbeitsgemeinschaft),S. 75 ff.(Ausemandersetzungen zur Lohnpolitik, VOl aHem zu Indexlohn die Entwertungdurch Inflation a u f f a n ~ e n sollten), S. 63 ff . (Kampf urn Achtstundentag):Fntz Kummer, "VertJefung der Gewerkschaftstatigkeit - Fiir ein Gewerkschaftsprogramm", in DA 1925, hier S. 456 f.Eine kurze Dbersicht tiber die vom A r b e i t s r e c h t - A u s s c h u ~ im Reichsarbeitsministeriumbegonnenen Vorarbeiten bei Preller, "Sozialpolitik ... ", S. 255.PreHer, "Sozialpolitik ... ", S. 293; zu den Forderungen der Gewerkschaften zusamm e n f ~ s s e n d vor aHem Jb. 1923, Abschnitte tiber Wirtschaftslage, Steuergesetzgebung,Inflation usw., und: Prot. 1922 (Berich! des BuVo) S. 145 ff. passim.Richard Seidel, Aufstieg und Krise der Gewerkschaftsbewegung", in: Dic Gesellschaft1924, Bd. 1, S. 98.

    PROKLA 2W. SemmlerKapitalakkumulation, Staatseingriffe und LohnbewegungRedaktionskollektiv GewerkschaftenThesen zur Gewerkschaftsanalyse

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    . Neben g r o ~ e n finanziellen Verlusten - was sich vor alleni in den AusgabenfUr Untetsttitzungen, Streiks und Verwaltung niederschlug - erlittendie Gewerkschaften g r o ~ e Mitgliederverluste: Die Zahl der Mitglieder fiel vom St)ptember 1922von mnd 8,07 Mio. (Hochststand) auf 4,024 Mio. im Dezember 1924. (45) Aberauch dieser Entwicklung gewinnen die Gewerkschaftsftihrer eine positive Seite ab:Die ungeschulten, radikalisierten Arbeiter, in ihren Hoffnungen auf schnelle Erfolge enttliuscht, verlassen die Organisation, wei! in der Zeit der Inflation materialleErfolge nicht erreicht werden konnen und die Gewerkschaften sich auf den Kampfgegen die parlamentarische Republik, d.h. auf a ~ e r p a r l a m e n t a r i s c h e Aktionen,politische Streiks usw. nicht einlassen wollen. (46) Preller f ~ t diese Auffassungin seiner (gewerkschaftsoffiziosen) ,Geschichte der Sozialpolitik' kurz zusammen:" . . . erst diese von gewerkschaftlich ungeschulten Elementen gereinigten Organisationen der Jahre ab 1924 hatten nun die innere Kraft zum Aufbau im gewerkschaftlichen Sinne. Jetz!' erst konnte sich die wirklicl;te Kraft der Gewerkschaftenentfalten". (47) Gegeniiber einer Einschlitzung, die die gewerkschaftlichen Aufga-

    45)

    46)

    47)

    Zu den Finanzen vgl. Jb. 1923 S. 136 ff., zu den Mitgliederzahlen S. 141 und Jb. 1931,S. 299 ff. 1m folgenden eine ebersicht fiber die Entwicklung (Mitgliederzahlen im Jahresdurchschnitt, auf zehntausend gerundet):1916 03701917 1,1101918 1,6601919 5,4801920 7,8901921 7,5701922 7,9001923 7,1401924 4,6201925 4,1601926 3,9801927 4,1501928 4,6501929 43101930 4,8201931 4,420Nur ein Beispiel: Das Zehn-Punkte-Programm des ADGB vom November 1921 wird "vonden arbeitenden Massen begeistert aufgenommen". Ais Beweis dafiir werden die zustimmenden Resolutionen zahlreicher Ortsausschiisse usw. angeflihrt - wobei aber offenbareinige tiber das ,Klassenziel' hinausgeschossen sind: sie fordern den Generalstreik und lassen nach dem Bericht des BuVo auch in etlichen Filllen die ,tiefere Kenntnis der wirtschaftspolitischen Problematik' vermissen. Bei der Beratung tiber ausserparlamentarischeAktionen - "Versammlungen, Kundgebungen" - kamen B u n d e s a u s s c h ~ usw. "stetszu der Erkenntnis, d a ~ aIle solche Aktionen . . . doch s c h l i e ~ l i c h in die parlllmentarischeAktion einmtinden, die durch sie s c h l i e ~ l i c h kaum mehr wesentlich b e e i n f l ~ t werdenkann. Selbst politische Streiks wirken sich erst im Reichstage aus, da die derzeitige Regierung doch nur der Geschiiftstrliger der M e h r h ~ i t s p a r t e ! e ! 1 ist." Was hilft} " : ...die.systematische Aufriittelung der Massen zu allmahlicher pohbscher Erkenntms, dIe eme mnereGesundung des Volkes und einen Sieg bei den nachsten Wahlen verbiirgt." (Prot. 1922,Bericht des BuVo S. 149 ff.) Ex post werden die Zehn Punkte dann als programmatische (!) Forderungen ausgegeben, bei deren Aufstellung man sich dartiber im klaren ge-wesen sei, sie keinesfalls ,auf einen Schlag' durchzusetzen waren (so Leipart, .Prot.1922 S. 331 nachdem zahlreiche Diskussionsredner die Taktik des BuVo angegriffenh a t t e ~ , vor ailem D ~ m a n n (S. 346 ff.) und Walcher (S. 336 ff.). Ahnlich:. Die Taktikdes ADGB 1923 vor allem wahrend der Ruhrbesetzung. Vgl Jb. 1924, S. 32 ff.Prellf,lr, ,;Sozialpolitik . . ", S.182; vgl: auch Seidel, "Krise der G e w e ~ k s c h a f t s b e w e g u n g ... ", S. 85 f. passim, LOthlft Erdmann,,,Det Wegdet Gewerkschafteh", ih:DA 1924;S.2f.

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    ben von den dutch die Offensive.der Kapitalistenklasse verandertenMachtverhaltnissen her bestimmen will (48), beharren die Gewerkschaften dar auf, daB die Grundlagen ihrer Tatigkeit erhalten geblieben (s.o. Seidel), die Angriffe der Kapitalistenauf diese Rechte abgeschlagen und die Organisationen aufrechterhalten wordenseien."Wir sind in der yergangenheit nicht immer freiwillig in da s politische Leben des Staates ein-getreten und werden es auch in Zukunft nur in dringenden Fiillen tun. Wer dann davon spricht,dal3 die Gewerkschaften zuriickgedriingt wordenseien, dem lassen wir gern die Freude an die-sem Glauben, der nur dadurch entstanden ist, daJ3 wir uns in unserer Tlitigkeit wieder m em aufdie eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben bescmlinkt baben, ... Wenn auch die Mitglieder-zahlen der Gewerkschaften kleiner geworden sind, als sie voriibergehend waren, den Einflul3,der den Gewerkschaften in der Wirtschaft und im Staate zukommt, lassen wir uns deshalb nichtverkleinern". (49)Ahnlich Erdmann (Schriftleiter der theoretischen Zeitschrift des ADGB):"Nach dem Zerfall der Arbeitsgemeinschaften und nach dem Absterben der Wirtschaftsbiindeis t der direkte Einflul3 der Gewerkschaften auf die Wirtschaftsfiihrung, der auch zur Zeit de sBestehens dieser Institutionen geringer war, als den grol3en und im Kern gesunden Pliinen ent-sprach, wesentlich zuriickgegangen. Die Gewerkschaften sind, von ihrem wirtschaftspolitischenEinflul3 im Reichswirtschaftsrat abgesehen, bewul3t ( !) zuriickgekehrt zu den Methoden gewerkschaftlichen Kampfes, denen sie ihren Aufschwung verdanken." (50)

    Aber auch bei einer ,bewuBten' Ruckkehr zu den ,bewahrten Methoden'braucht die Gewerkschaftsflihrung aufeinen ,Schuldigeh' nicht zu verzichten: DieSpalter- und Zersetzungspolitik der KPD. (51)Ausdruck der geschilderten materiellen Krise der Gewerkschaften, ihrer Nie-derlage in der Durchsetzung der Gemeinwirtschaft usw., ist der Versuch der Neubestimmung der Aufgaben der Gewerkschaftsbewegung fUr die folgenden Jahre.Von einer Krise der Ideologie kann man insofern reden, als an die Stelle der griindlich zerstOrten gememwirtschaftlichen und arbeitsgemeinschaftlichen Illusionen keine klare Bezeichnung der neuen Aufgaben, sondern eine theoretische und programmatische Hilflosigkeit tritt, die sich um die Analyse der Ursachen der Niederlagenicht bemiiht (worin der Keirn flir die spateren Wirtschaftsdemokratie-Illusionen bereits gelegt ist) und die diffuse Forderung nach "Se1bsthilfe" (Aufhauser) aufstellt.Eine Vielzahl von Artikeln (auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werdenkann) (52) in der theoretischen Zeitschrift ,Die Arbeit' versucht diese Vorstellungzu konkretisieren. Was ist nun unter ,selbsthilfe' zu verstehen? Zum ersten eine48) Vgl. die Diskussionsreden von Walcher und auch Dillmann, Prot. 1922, S. 336 ff. bzw.346 ff.49) Prot; 1925, S. 113 (Bericht des BuVo, Leipart).50) Lothar Erdmann, "Zu den Richtlinien fiil" die kiinftige Wirksamkeit der Gewerkschaften", in: DA 1925, S. 393. Erdmann war bis 1933 Schriftleiter der 1924 gegriindetenZeit schrift.51) Nur einige Belege: Jb. 1923, S. 146-148, 150; Prot, 1922 (Bericht des BuVo) S. 116ff., 194 f. passim (Leipart); Jb. 1924, S. 31, S. 169 ff.; Prot. 1925, S. 335 (Brandes)usw.52) Vgl. die Artikel von: Fritz Kummer, "Vertiefung der Gewerkschaftstiitigkeit - FiiI" ein

    Gewerkschaftsprogramm", in: DA 1925, S. 456-67; Karl Zweig, "Gewerkschaftliche Zeitenwende", in: GA 1924, S. 1 ff.; Siegfried Aufhiiuser, "Wirtschaftsfond der Gewerkschaftcn", in: DA 1925, S. 547-549; Weitere Artikei Von Lothar Erdl11arinRudolfWil"brandt, Martin Wagner, Roderich von Ungern-Sternberg, Bern Meyer, R i ~ h a r d SeidelH. Schliestedt usw. '14

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    Wendung zum Wiederaufbau der Organisation, zur Intensivierung des Lohnkampfszur Hebung der weit unter das Vorkriegsniveau gesunkenen LOhne; zum zweiteneine Wendung zu genossenschaftlichen und gildensozialistischen Vorstellungen, wobei einerseits der Glaube an die M6glichkeit einer partiellen AushOhlung des Kapitalismus, andererseits die Forderung nach der Heranbildung eines "wirtschaftlichenGeneralstabs" zur Leitung der (spater) zu errichtenden Gemeinwirtschafteine Rolle spielt (letzteres soli eine Wiederholung der Misere von 1918/19 verhtiten, als nachjener Auffassung der "Mangel an einem wirtschaftlichen Unterbau fUr die Verwirklichung der Gemeinwirtschaft" fUr das Scheitern der Revolution verantwortlich war(52a); zum dritten eine Wendung zu ,praktischer Wirtschaftspolitik auf Basis derrestaurierten kapitalistischen Produktionsweise' (zu diesem dritten Punkt vergleichefolgenden Abschnitt).So kann man also zusammenfassend keinesfalls von der von Korsch erhofften- von den Nackenschlagen des Kapitals erzwungenen - Rtickkehr zum Klassenkampf sprechen. Der Beginn der Periode der relativen Stabilisierung sieht die Ge-werkschaften einerseits wieder in den ausgetretenen Pfaden; Lohnkampf, gesetzli

    che Sozialreform, genossenschaftliche Selbsthilfe. Andererseits ist eine neue Aufgabe aufgenommen: die an den ,gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten' orientierte ,Produktionspolitik'. Den Versuch der Zusammenfassung der verschiedenen Aufgabengebiete, kombiniert mit dem Versuch, sie mit dem noch aufrechterhhltenensozialistischen ;Endziel' in Verbindung zu bringen, finden wir in der Theorie derWirtschaftsdemokratie, auf deren Zusammenhang mit der oben skizzierten ideologischen Krise im dritten Teil weiter eingegangen wird.

    6. Die Analyse der Stabilisierungskrise und die gewerkschaftlichen ForderungDie gewerkschaftIiche Analyse dieser Peri ode soli hier kurz skizziert werden, weildarin bestimmte typische Auffassungen von der Rolle des Staates und dem Wesender kapitalistischen Produktionsweise zum Ausdruck kommen, so z. B. in den Vorwtirfen, die die Gewerkschaften dem individuellen Kapitalisten machen - ,fehlerhafte Betriebsftihrung' - , anstatt ihn als Charaktermaske zu begreifen, die als Agentdes Kapitals so handeln m u ~ , wie sie handelt, solange sie nicht auf den gesammelten Widerstand der Arbeiter s t 6 ~ t .

    Mit der Nichtverlangerung verschiedener Demobilmachungsverordnungen (zurArbeitszeit und zur Wiedereinstellung von Arbeitern in ihre friiheren Betriebe) Ende1923 und mit der Stabilisierung des Geldwertes traten wichtige Veranderungen fUrdie gewerkschaftliche Politik ein. Zur Verbesserung der Verwertungsbedingungenversuchte das Kapital nun zwei Punkte anzugreifen. Zum einen sollte eine Verlangerung der Arbeitszeit durchgesetzt werden (nachdem durch die Arbeitszeitverordnung yom Dezember 1923 die Durchbrechung des Achtstundentages Iegalisiert wor-52a) Martin Wagner, "Gemeinwirtschaftspolitik", in DA 1924, S. 47; typisch hierfiir auchSinzheimer: "Der .Kampf , ~ ~ das neue Arbeitsrecht", in DA 1924, S. 65: "Der Kampfu!ll das neue A r b e l t s r e ~ h t . '. I II DA 1924, S. 65: "Der. I \ a ~ p f , nicht die Gestaltung war

    ~ I e Hauptso!ge der sozIalistischen Bewegung. Das sozIalistIsche Denken war im wesentlichen auf dIe Analyse der kapitalistischen Welt, nicht auf den geistigen Aufbau konkreter. sozialistischer Lebensformen getichtet. So konnte es kommen, daJb auch heutc nochke1l!e. v

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    den war), was mit Hilfe der Zwangsschlichtung in vielen Fallen gelang. (53) Zumzweiten sollte das Lohnniveau auf einem moglichst niedrigen Stand festgehaltenwerden, da die automatisch fortschreitende Entwertung der LOhne durch die Inflation nach der Stabilisierung des Geldwerts zu Ende war. (54) Eine propagandistische Offensive gegen die gegeniiber der Vorkriegszeit angeblich unerhort gestiegenen Belastungen durch OffentHche Abgaben, Soziallasten, Frachten und Transportkosten u. a. sollte deren Abbau durch die biirgerliche Regierung sowie die Durchsetzung verschiedener Erleichterungen - Einfiihrung oder Erhohung von Zollen -vorbereiten. 1m folgenden sollen jedoch die daraus resultierenden Kampfe nichtweiter verfolgt, sondern die Einschatzung der Stabilisierungskrise und die darausabgeleiteten Forderungen der Gewerkschaften sowie ihre Begriindung dargestelltwerden. (55)Nach Auffassung der Gewerkschaften muBten, "die Ursachen der Wirtschaftskrisis auf die fehlerhafte Betriebsftihrung und Wirtschaftspolitik eines erheblichenTeils des Unternehmertums zuriickgeftihrt werden". (57) Die Kriegs- und Inflationsgewinne, die Enteignung vor allem der Rentnerschichten und der Druck aufdie Lebenshaltung der breiten Massen haben den einzelnen Unternehmen ungeheure Gewinne gebracht, "die, anstatt dem Staate durch entsprechende Besteurung die Mittel zur Abstoppung der Inflation zu gewahren (!), zu einer in vielenFallen unsinnigen Anhaufung vOn Sachwerten benutzt wurden" (58), wobei an dieStelle der Ausnutzung des technischen Fortschritts die "rein mechanische(n) Ver-breiterung der bestehenden Einrichtungen trat".J59) Mit dem Ende der Inflation,dem Wegfall des Dumping-Exports usw. muBte eine ,Reinigungskrise' eintreten, diedie Oberkapazitaten und die technische Riickstandigkeit gegeniiber dem Weltmarktniveau offenbar machen und vor aHem die durch "reine Effektenspekulation entstandenen Finanzkonzerne" zum Zusammenbruch bringen sollte. (60) Durch diezu Beginn groBziigige Kreditgewahrung der Rentenbank und durch das Einstromenauslandischer Kredite traten jedoch verschiedene "Krisenunterbrechungen" ein.In der Denkschrift ,Gegenwartsaufgaben der deutschen Wirtschaftspolitik'heiBt es dazu weiter:"In diesen Zeiten . zogen die deutschen Unternehmer in ihrer. Preispolitik, im Abbau zugro/ler Lagerhaltungen und in der Rationalisierung der Gesamtproduktion nicht hinreichenddie Folgerungen, die notwendig gewesen waren, um zu einer wirklichen Uberwindung dieserKrise zu gelangen. Vielmehr gewohnten sie sich daran, auch teure kurzfristige Kredite aufzu-nehmen, um Lagerbestiinde und unzweckmiiJ3ige Produktionen durchzuhalten und eine Preis-politik zu treiben, die Deutschland zum teuersten Land der Welt gemacht hat. Ihre Kartell-organisationen und die vo n ihnen entscheidend beeinfluBte Politik des Hochschutzzolles be-giinstigen diese falsche Preispolitik.

    53)54)55)

    56)57)58)59)60)16

    Vgl. Hartwich, "Arbeitsrnarkt ... ", S. 270 f., 275 f., 319, 329; Jb. 1923, S. 63 ff. (zumVorstoll. der Schwerindustrie im Ruhrgebiet); Jb. 1924, S. 115 ff.Jb. 1924, S. 62 ff.Dabei stiitze ich mich auf zwei jeweils als Antwort auf eine Eingabe der Vereinigung derDeutschen Arbeitgeberverbande bzw. eine Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie verOffentlichte Denkschriften des ADGB: "Wirtschaftskrisis und Gewerkschaftsforderungen" (von: ADGB, AfA-Bund, DGB, Gewcrkschaftsring, Juli 1925);"Gegenwartsaufgabcn deutschcr Wirtschaftspolitik" (von: ADGB, AfA-Bund, Fcbruar1926). Dabei werden nUI die mit deT Problemstellung in Zusammenhang stehenden For-derungen beriicksichtigt, also keine Forderungen ZUI Handelspolitik, Agrarpolitik, offentlichen Finanzwirtschaft usw.Entfiillt."Wirtschaftskrisis . . . ", Vorwort." G e g e n w a r t ~ u f g a b e n " , S. 5."Wirtschaftskrisis", S. 14 f.Fritz Konig, .,Die neue Ara der Zusammcnschliissc", in: DA 1935, S. 306.

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    Verschiirft wurde diese Entwicklung durch die Kreditpolitik der Banken. Di e Bankenberiicksichtigten bei der Leitung des schwachen Kreditstromes nichtdie volkswirtschaftlichzweckmaLligsten Unternehmungen, sie wandten sich nicht gegen da s unwirtschaftliche Durchhalten von Warenvorraten zu hohen Preisen oder von iiberziihligen Produktionsbetrieben; sie lieLlen sich vielmehr von rein privat-kapitalistischen Gesichtspunkten leiten und fragten daher fastnur nach ihren Sicherungen.""Nicht Zerstiirung .. . der produktiven Kriifte offenbart die gegenwiirtige Krise, sondernnur eine ernste Storung des Produktionsprozesses, die ausgeht von Storungen in der Zirkula-lion, hervorgerufen durch den Mangel an Kaufkraft der groLlen Masse der Bev6lkerung, von einerfalschen Verwendung des Sozialprodukts." (61)

    Die Kapitalister. sehen nun wiederum den nach Auffassung der Gewerkschaften falschen Ausweg in einer Senkung der LOhne, VerHingerung der Arbeitszeit,Hochhalten der Preise mittels Kartellierung und Zollpolitik; die ,volkswirtschaftliche Vernunft' - d. h. die Gewerkschaft - fordert aber: Untersttitzung des Rationalisierungsprozesses, Steigerung der Arbeitseinkommen, Preissenkung, planmaBigeKreditwirtschaft; vor aHem die Steigerung der Arbeitslbhne soll danach ungeahntevolkswirtschaftliche Vorteile bieten. Auf der einen Seite mtissen die Gewerkschaften zwaranerkennen, daB Reallohnsteigerungen "im allgemeinen nur mit gleichzeitiger Steigerung der Produktivitat erreicht werden ... (kbnnen)." (62) 1m Zusammenhang mit der Unterkonsumtionstheorie wird diese Abfolge nun aber umgekehrt:die ,produktionspolitisch gtinstigen' Wirkungen - neben den sozialen Vorteilen -einer Lohnerhbhung liegen a) in einer Steigerung der Massenkaufkraft, damit Uberwin dung der Krise, b) in einem Zwang zur Rationalisierung fill die einzelnen Unternehmen, was gleichzeitig die Ausschaltung unrentabler Unternehmen - der "Eiterbeulen" (Tarnow) der Wirtschaft - ZUI Folge hat, c) in einer Starkung des innerenMarktes, die den Ubergang zur Massenproduktion - "groBer Umsatz bei geringemNutzen" - ermbg1icht. (63)

    In bezug auf die Wiedergewinnung des Achtstundentags werden die Ergebnisse der bi.irgerlichen ,Arbeitswissenschaft' vbllig unkritisiert tibernommen: "Eingehende Untersuchungen fUr die verschiedensten Wirtschaftszweige haben einwandfrei ergeben, daB bei Verki.irzung der Arbeitszeit eine erhebliche Steigerung der Arbeitsintensitat einzutreten pflegt." (64)

    Die volkswirtschaftlich sinnvolle Durchftihrung der Rationalisierung erfordert(nach der Denkschrift) zweierlei:- sie muB die Entstehung von Uberkapazitaten, die durch eine unkoordinierteDurchftihrung der Rationalisierungin den einzelnen Unternehmen einer Branchedrohen, vermeiden; deshalb mtissen ,Wirtschaftsrate' mit Beteiligung der Gewerkschaften daran mitarbeiten;- die ,Fehlleitung' von Krediten m u l ~ - vor aHem wegen des Mangels an leihkapital- verhindert werden mittels der Beeinflussung der Privatbanken durch die Reichs-bank und den Ausbau der offentlichen (staatlichen und kommunalen) Hanken ZlI"Instrumenten einer Kreditverteilung" unter Berticksichtigung volkswirtschaftlicherGesichtspunkte. (65)61) "Gegenwartsaufgaben", S. 6f., 8.62) Ebenda, S. 23.63) Ebenda, S. 9, 23 f., 26, 33.64) Ebenda, S. 25. Es wird also iiberschcn, d a l ~ diesc Sleigerung def inlcl1sitiit cin Vcrsuchdes Kapitalisten ist, in der verkiirzten Arbeitszeit die gleichc oder sagar cine hbhcrc Leistung aus dem Arbeiter herauszuholen, mit den entsprcchcnlicn Foigen fiir den Arbeiter, wie erhbhte Anfhlligkeit fiir Krankhcit, [fiihcre Invalidital usw.65) Ebenda, S. 27 f.2 Probleme des Klasscn/(Qr1'1pfs Nr. 6 17

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    "Wenn die Gewerkschaften sich fUr die Rationalisierung aussprechen, so selbstverstlindlich unterder Voraussetzung, daJ3 der volkswirtschaftliche und soziaie Zweck auch tatslichlich erreichtwird. In jedem Fall durchgefiihrter Rationalisierung muJ3 die Wirkungam Sinkender Freise undan der Erhohung der Lohne im entsprechenden AusmaJ3 unmittelbar erkennbar sein."Nur auf dem Wege tiber diese Steigerung der Massenkaufkraft konnen die arbeitslosenArbeitnehmer von neuem Beschliftigung finden. Die gegenwartig oft getibte Methode (!), dieRationalisierung ohne gleichzeitige Preisverbilligung und Lohnerhohung durchzufiihren, muJ3die Krise der Uberproduktion erzeugen". (66)

    Das Sinken der Preise solI durch die Errichtung eines "Kartellaufsichtsamtes"gesichert werden, das nach einer Untersuchung der Preispolitik einzelner Kartellemittels der Anrufung des bestehenden Kartellgerichts die Auflosung von Kartellenerzwingen soIl, "wenn deren Politik gegen die Interessen der GesamtwirtschaftverstoBt". (67)Sowohl die Einschatzung der Stabilisierungskrise als auch die Forderungender Gewerkschaften wurden hier ausftihrlicher referiert, weil hier bereits zahlreiche Punkte sichtbar werden, die bei der weiteren Behandlung der wirtschaftsdemokratischen Ideologie aufgegriffen werden miissen: die illusionare ,gesamtwirtschaftliche' Orientierung unter Anerkennungder kapitalistischen Produktionsverhaltnisse;die Zirkulationssphare als Ausgangspunkt; der Appel an ,den Staat' als GarantenplanmaBiger Wirtschaftsftihrung (in bezug auf Kartell- und Kreditpolitik).66) Ebenda, S. 31 ff.67) Ebenda, S. 35.

    PROKLA3

    PROKLA418

    E. AltvaterZu einigen Problemen des StaatsinterventionismusM. BaumgartnerEntwicklungstendenzen in der westdeutschen LandwirtschaftRedaktionskollektiv GewerkschaftenZu einigen Aspekten der Klassenkampfe in West europa in den60er JahrenP. Bohmer, Jon OarkDer Streik der Bergarbeiter in EnglandAutorenkollektivChile zwischen biirgerlicher Legalitat und sozialistischerRevolution

    M. SalvatiDer Ursprung der gegenwartigen Krise in ItalienG. ArmanskiZUI Kritik der Theorie der neuen MittelklasseRedaktionskollektiv GewerkschaftenZUI Intensivierung der Arbeit in der BRD (l)C.MocklinghoffAspekte der Geschichte und Theorie der Biindnispolitikder KPD und DKP (I )

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    Teil II.Einschatzung derRolle des Staates und die gewerkschaftlicheOrganisationOrganisierter K a p i t a l i s m u ~ , Wirtschaftsstaat, Konjunktur undKrise

    EinleitungThe theoretische Einschatzung des Verhaltnisses von kapitalistischer Gesellschaftund Staat sowie die Einschatzung der Ehtwicklungstendenzen des Kapitalismusliefern die Voraussetzungen, ohne die die Theorie der Wirtschaftsdemokratie nichtzU verstehen ist. Erst vor dem Hintergrund eines ,klasseimeutralen Staates' undei1!er ,krisertfreien Hoherentwicklung' des Kapitalismus kann die Theorie der Wirtschaftsdemokratie als realistisch geIten. Wenn fUr die Auseinandersetzung zwischenrevolutionaren und reformistischen Positionen in der Vorkriegszeit die Gegensatzein der Einschatzung der beiden genannten Fragen das wesentliche Unterscheidungsrrterkmal sind, so. gilt dies ebenso fUr die Theorie der Wirtschaftsdemokratie. (67a)Nach wie vor gilt die Einschatzung Rosa LuxemburgS, die sie in ,SozialrefoIthoder Revolution' formuliert hat:..Wer sich . . . fiir den gesetzlichen Reforniweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung derpolitischen Macht und zur Umwlilzung der Gesellschaft ausspricht. wiihlt tatsachlich nichteinen ruhigeren. sicheren. langsameren Weg zum gleichen Ziel. sondern auch ein anderes Ziel.namlieh statt der Herbeifiihrung einer neuen Gesellschaftsordnung blo13 unwesentliche Veriinderungen in der alten. So gelangt man von dem politischen Ansichten des Revisionismuszudemselben SchluB. wie von seinen okonomischen Theorien: da13 sie ini Grunde genonimennicht' auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung. sondern blo13 auf die Reformierung4er kapitalistischen. nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondem auf das Mehr oderWeniger der Ausbeutung. mit einem Wort auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswiichseund nicht des Kapitalismus selbst abzielen". (68)

    1. Die Einschatzung der Rolle des StaatesWenn auch Leipart auf dem NUrnberger KongreB noch verbal an der N o t w e n d i ~ k e i t der Revolution insofern festhalt, als er die ,politische' Revolution als Aufgabe derPartei bezeichnet (s. o. I. 1), so wird doch diese Form der Arbeitsteilung unter denArbeiterorganisationen balddadurch hinfallig, daB auch die SPD nunmehr im Gorlitzer Programm von 1921- das 1923 durch das Heidelberger Programm ersetztwird, was aber nur eine verbale Radikalisierung bringt - offen eine revolutionareEntwicklung zum Sozialismus tiber eine politische (sprich: Koalitionsregierung) und~ r t s c h ~ t l i c h e (sprich: Gemeinwirtschaft) Vbergangsperiode propagiert. (69) "Sotellen slch also der gewerkschaftliche und der politische Reformismus in die r e v o l u ~ 67a)68)69)

    \Dazu vor allem Wolfgang Miiller/Christel Neusii1l., "Die Sozialstaatsillusion und der Wi-derspruch von Lohnarbeit und Kapital", in: Sozialistische Politik 1970, Nr. 6/7, S. 4 ff.(Neudruck in: Probleme des Klassenkampfs, Sonderheft 1, S. 7 ff.)Rosa Luxemburg, "Sozialreform oder Revolution? ", in: dies., Politische Schriften",8d.1, Frankfurt 1967, 114 L 'Vgl. Erika Komg, "Vom Revisionismus zum ,demokratischen Sozialismus' .. Berlin(DDR)1964, S. 128 ff. '

    19..

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    tioniire Aufgabe des Sozialismus im Endeffekt ebenso, wie Heines edle Polen sichin die Zahlung der Zeche teilten: ,Und da keiner wollte leiden, daB der andre fUrihn zahie, zahlte keiher von den beiden' ". (70) ,Den historischen Hintergrund fUr die Einschiitzung des Staates als eines zur,Einftihr:ung' des Sozialismus tauglichen Instruments bilden zwei Entwicklungen:Die pariamentarische Verantwortung der Regierung, die damit zu einem Instrument der rnittels des allgemeinen Wahlrechts zu erringenden Parlamentsmehrheitwird, ist die eine. So schreibt z. B. Tarnow:..... die Situation, in der wir uns befinden, (ist) die, daB auf dem politischen Vormarsch derArbeiterbewegung grundsiitzlich der Sieg erfochten ist. Die Grundlagen des Staates sind heuteso , daB die Arbeiterklasse berechtigt ist, die politische Macht auszuiiben, daB es nur von ihremWillen abhiingt, ob sie von diesem Rechte Gebrauch macht. Es is t eine Frage der politischenAufkIarung, nicht mehr der Staatsverfassung." (70a)

    Diese scheinbare Offenheit der politis chen Verfassung bleibt mit dem Ab-riicken von einer revolutioniiren Zieisetzung aber ohne Bedeutung.Von groBerer Relevanz ist die zweite Entwicklung: die Ausdehnung der Staatsfunktionen, die Entwicklung zum ,Wirtschafts- und Sozialstaat', die vor allem im er-sten Weltkrieg beschleunigt wird, einerseits wegen der Notwendigkeit der Anspannung aller Produktionskriifte in der Kriegswirtschaft, andererseits wegen der Notwendigkeit der Pazifizierung der Arbeiter durch sozialpolitische Zugestiindnisse undKooperation mit den ,berufenen Vertretern' der Arbeiterschaft ( d. h. der Gewerkschaftsbiirokratie) in staatlichen Institutionen. Paul Lobe gibt einen impressionistischen Uberblick:

    "Der Staat ist, man mag es billigen oder verwerfen, zwangsliiufig Wirtschaftsstaat und Sozial-staat geworden. Er sorgt - immer in gewissen Grenzen selbstverstiindlich - fiir die schwangereMutter und das neugeborene Kind, er zwingt die Heranwachsenden nicht nur in die Schule,sondem iiberwacht ihre Gesundheit, fijrdert ihre Leibesilbungen und ihre Spiele. Er ilbernimmteinen Teil der beruflichen Ausbildung, nicht nur der Akademiker, sondem auch fiir den Hand-werker, Bauem und Arbeiter. Er regelt die Versicherung der Kranken, der Invaliden, der Unfall-verletzten, der Alten, er sichert in gewissem Umfange die Arbeitslosen. Er mischt sich in dieLohnkiimpfe ein, schlichtet unter den Streitenden, zwingt sie zur Arbeit zuriick oder zur tiff-nung geschlossener Fabriken. Er beeinfluBt Einfuhr und Ausfuhr, begiinstigt oder iiberwacht dieKartelle, wird selbst grijBter Arbeitgeber auf verschiedenen Gebieten. Er iibemimmt die SorgefUr Millionen Kriegsbe'schiidigte und Hinterbliebene, die Entschiidigung der Gefliichteten undVeririebenen, die Betreuung der Kri p 1Sgriiber. Von der Wiege bis zur Bahre greift di e Hand desStaates in die privaten Angelegenheit n des einzelnen wie der Gruppen in einem friiher nie ge-kannten MaBe ein". (71)

    Auf das Problem des Wirtschaftsstaates soll im 3. Abschnitt dieses Teils imZusammenhang mit der Theorie des organisierten Kapitalismus eingegangen werden.In diesem Kapitel wird die (auch fUr die gewerksdlllftliche Autfassung wichtigere)Einschatzung des Soziaistaates weiter verfolgt.70)70a)71)

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    Korsch, "Arbeitsrecht . . . ", S. 67 f., F u ~ n o t e 7.Fritz Tarnow, "Die Stellungnahme Jer freien Gewerkschaften zur Wirtschaftsdemokratie", Jena 1929, S. 4. Vgl. auch Rudolf Hilferding, "Probleme der Zeit", in: Die Gesellschaft 1924, Bd. 1, S. 12 f.Loebe, "Die Krise des Parlamentarismus". Nord und SUd. Mai 1928. Zitiert bei P.Lapinski, "Der Sozialstaat. Etappen und Tendenzen seiner Entwicklung", in: Unter dem Banner des Marxismus 1928, S. 377 f.

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    Bei Lapinski (71a) wird recht gut herausgearbeitet, daB die Eritwicklung zum,Sozialstaat' immer zwei Elemente enthalt: zum einen den Ausbau der s o z i a l p o l i t i ~ schen Gesetzgebung seIber - d. h. konkret: Arbeitslosenversicherung, Kranken- undUnfallversicherung,Invaliden- Knappschafts- und Angestelltenversicherung,Regelungder Arbeitszeit, Arbeiterinnenschutz, Gewerbeaufsicht und Unfallverhtitung usw.:alles Gebiete, auf denen Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung auch gegentiber biirgerlichen Regierungen gewisse Erfolge erreichen konnten (72): zum anderenden Versuch zur Institutionalisierung der Zusammenarbeit der Klassen - entwederauf der Ebene der ,Selbstverwaltung' oder durch staatliche Vermittlung und wennnbtig Zwang: Tarifvertrag und Zwangsschlichtung, Betriebsrategesetz, Reichswirtschaftsrat, Beteiligung an der Verwaltung der Sozialversicherung, der Arbeitsamter,an den Arbeitsgerichten usw.Die Basis fUr einen kontinuierlichen ,sozialen Fortschritt' und den Ausbau derSozialgesetzgebung und damit die Basis des Glaubens an die schrittweise "Oberwin-dung der kapitalistischen ,Willkiir' bildet eine krisenfreie Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, die einerseits dem Staat erst die Mbglichkeit ZUI Ausdehnungder Sozialpolitik gibt, andererseits bei den den Gewerkschaften infolge erfolgreicher Lohnkiimpfe die Illusion von der Oberwindung der Verelendung der Arbeiterklasse entstehen laBt. (73) Indem die Verelendung nicht mehr als Ausdruck der ge-gensatzlichen Form verstanden wird, die die Entwicklung des gesellschaftlichen71 a) Lapinski, "Der Sozialstaat ... , S. 386 ff., 391 f. passim. Die Entwicklung der beidenTendenzen wird von Lapinski im einzelnen nur fiir die Kriegszeit dargestellt; die angekiindigte Fortsetzung der Analyse fiir die Etappen der Revolution und der relativen Stabilisierung (vgl. S. 418) ist - zumindest in der deutschen Ausgabe der Zeitsehrift - niehtmehr erschienen.72) So schreibt auch Braunthal: "So l ~ t sich z. B. feststellen, unter der Herrschaft des

    demokratischen Parlamentarismus, rein biirgerliche Regierungen manehmal in sozialpolitischen Fragen von proletarisch beeinfiuEten Regierungen sieh kaun1 unterscheiden,und zwar ausschlieElich deshalb, weil sie die Abwanderung der proletarischen Wiih1er zuden proletarischen Parteien verhindern wollen. Das beste Beispiel dafiir bietet die Herrscbaft des ,Biirgerblocks' in Deutschland (1926-28), unter der die Arbeitslosenversicherung und das Arbeitsgerichtsgesetz geschaffen wurden und der Apparat des staatlichenSchliehtungswesens weitgehend zugunsten der Gewerkschaften spielte." Alfred Braunthai, "Die Wirtschaft der Gegenwart und ihre Gesetze", Berlin 193.0, S. 216.73) Naphtali (1928): "Der Kampf urn die Beseitigung des kapitalistischen Systems wirdnoch ein langer und schwerer sein. Aber es ist den Gewerkschaften gelungen, einer en!scheidenden kapitalistischen Tendenz entgegenzutretenund sie zu iiberwinden, der Tendenz der Verelendung. Die Tendenz des wachsenden Elends des Proletariats ist durch diemoderne Arbeiterbewegung iiberwunden worden. leh will nicht dariiber streiten, wievielerreicht ist, wie man das Erreichte wert en soll, aber die Verelendungstendenzen sind iiberwunden, und der Aufstieg der Arbeiterklasse ist vorhanden, mag man ihn auch fiir viel zulangsam halten." Prot. 1928, S. 175.In diesem Zusammenhang muE auf ein grundlegendes Interpretationsmuster der revisionistischen Theoretiker hingewiesen werden, das bei Naphtali im letzten Satz angedeutet ist: Die sozialpolitisehen Erfolge der Gewerkschaften werden kaum in ihrer Bedeutung und ihrem Stellenwert in Beziehung gesetzt zur historischen Stufe der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenkiimpfe. In der Regel werden die Zeit en unentwickelter Sozialreform der ,zwar noch mangelhaften', aber doch machtig verbreiterten Sozialgcsctzgcbung gegeniibcrgcstcllt, so daE der Eindruek cines kontinuierlichcn , Vorwiirtsund Aufwiirts" e,:\tsteht. Die unzwcifelhaftcn Erfolge der Arbeitcrbewcgung ;uf diescmGeblet fUhren mit der Verabsoluticrung dieser Scite der kapitalistischcn Entwickhmgzu c i n c ~ volligcn Fchlcinschiitzung der aktuellen Tendenzen. (Einigc Bcispiclc bciNaphtab, Prot. 1928, S. 179 ff.) Dicse Fchleinschatzung endct schlicElich dabci, dieAnalysc.der ,schillchtcn Wirklichkllit' zugunstcn dcrFeststcllung, dliE sich ,in1 Prinzip'doch immer mohr ,das Prinzip' der Ancrkcnnung dcr Arbciterbcwcgung im Staat durchsctzt, aufzugebcn.

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    Reichtums als Anhaufung der Produktionsmittel in der Form von Kapital gegen-tiber der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft annehmen muB,wiId die ,LOsung' des Klassengegensatzes innerhalb der bestehenden Produktionsweise vorbereitet, der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital in den Gegensatz vonArm und Reich verkehrt. In dem MaBe, in dem Lohnkampf und Sozialreform auseinem Mittel zum letzten Zweck der Gewerkschaftsbewegung sich entwickeln, nehmen die Gewerkschaften ,Anteil' an der Entwicklung des Kapitalismus, sind sie anProsperitat interessiert:"Man mag iiber die funktionelle Abhiingigkeit der Sozialpolitik von der Rentabilitat der Wirtsehaft denken wie man will. Eins is t jedenfaUs sieher. Die Gewerksehaften werden nicht eherruhen, als bis die deutsehe Wirtsehaft so organisiert ist, daB nicht bei ieder Gelegenheit ihre Un-rentabilitat zu m Vorwand genommen werden kann, die Grenzen dar wirtsehaftlichen Freiheitder Arbeitnehmer enger zu ziehen". (74)

    Darliber hinaus geht der Zusammenhang zwischen sozialpolitischen Zugestiindnissen und def aktuellen oder zumindest potentiellen Verscharfung def Klassengegensatze verloren, der blirgerliche Staat wird zu einem Staat mit "sozialen Ptlichten"(75). Scheinen diese ,sozialen Ptlichten' anerkannt, verliert auch def Klassenkampfan Scharfe."Die Formen des Klassenkampfes haben sieh gewandelt, und im glelehen MaLle wie der Geistsozialer Demokratie in unsere staatliehen Einrichtungen einzieht, mildern sleh die Formen, indenen er zum Austrag kommt. Je mehr sieh das Prinzip der kollektiven Regelung der sozialenund wirtsehaftliehen Fragen durehsetzt . . . , werden gleichsam neutrale Zonen geschaffen, indenen nicht die sozialen Sonderinteressen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern gemeinsame Produktlonsinteressen in den Vordergrund treten konnen, vorausgesetzt, daLl die Betatigung in diesen Korperschaften der Selbstverwaltung als eine praktisehe Erziehung zu demo-kratischen Verstiindigung iiber gemeinsame Aufgaben aufgefaBt wird". (76)

    In der Praxis foot dies zur v611igen Aufgabe irgendwelcher ,Klasseninteressen',die Gewerkschaften iibernehmen die Rolle def Htiter des Gemeinwohls. Das wechselseitige Verhaltnis von Anerkennung des Staates und dessen sozialpolitischen ,Ptlichten' wird von Leipart 1925 auf dem Breslauer KongreB zusammenfassend formuliert:"Trotz unserer festen Entschlossenheit, mit allen unseren Kriiften die berechtigten Interessender Arbeiterklasse ... zu vertreten, wollen wir gegenuber dem einseitigen Machtstreben des Un-ternehmertums unsererseits doch an der alten Auffassung festhalten, daB iiber den einseitigenInteressen der einzelnen Geselischaftsschlchten und Klassen das groBe gemeinsame Interessedes Volksganzen, also des Staates steht . . . . Aber die Huter der Staatsinteressen sollen nichtverlangen, daB die Gewerkschaften in der Vertretung der ihnen anvertrauten Interessen immerund ganz allein mit einem guten Beispiel vorangehen. (d . h. also in der Aufgabe der ,anvertrau-ten Interessen', Verf.) ... Denn wenn die in den Gewerkschaften organisierlen Arbeiter auchwissen, was sie dem Staate schuldig sind, so kennen sie doch andererseits auch die Pflichten des74) Lothar Erdmann, "Der Weg der Gewerkschaften", in: DA 1924, S. 5. (Die Grenzen, diedie Sozialpolitik auch an der internationalen Konkurrenz findet, lassen sich z. B. an demjahrelangen Tauziehen urn die Ratifizierung des sog. ,Washingtoner Abkommens' (1919)tiber die internationale Durchfiihrung des Achtstundentags aufzeigen. Das Abkommenwurde von den wichtigsten ,IndustrieHindern' nicht ratifiziert).75) "Gegenwartsaufgaben ... ", S. 14.76) Lothar Errlmann, "Zu den Richtlinien ftir die kiinftige Wirksamkeit oer Gewerkschaften", in: DA 1925, S. 391 f. Vgl. bel Naphtali u. a., "Wirtschaftsdemolcratie - ihr We-sen, Weg und Ziel", (Berlin 1928) Frankfurt 1966, S. 128 (diese programmatischeSchrift wird im folgenden mit "Wirtschaftsdemolcratie ... " zitiert).22

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    Staates, und ihre Unzuriedenheit, ja ihre Emporung dartiber, wie der Staat seine Pflicht zumSchutze der Interessen der arbeitenden Bevolkerung immer wieder vernachliissigt hat, ....warund is t deswegen nur zu berechtigt. Ich warne aus diesem Grunde besonders die ietzigen Hiiter der Staatsinteressen. Sie saen Wind, und es konnte leicht geschehen, daB sie eines TagesSturm ernten." (77)

    Auf die Auffassung von der Rolle der Gewerkschaften selbst, wie sie hierzum Ausdruck kommt, wird we iter unten noch eingegangen. Hier ist wichtig festzuhalten, daB die Gewerkschaften die bestehende Staatsform als diejenige akzep"tieren, in der nach Hilferding "die Klassengegensatze am ehesten ohne gewaltsameEruption ausgetragen werden konnen." Hilferdings Begriindung:"Denn zweierlei bewirkt die demokratische Verfassung: einmal werden die politischen Starkeverhrutnisse standig gemessen und diese Kenntnis der Kriifte erleichtert ihre Beriicksichtigung;sodann setz.en sich diese Krafte unmittelbar urn in die Bildung des Staatswillens, der in der Demokratie nur die Resultante des Willens der StaatsbUrger ist, als solcher sich erst bildet, nicht alsWille einer von der Masse abgesonderien, anders bestimmten Herrschaftsorganisation ihr vonauJ3en entgegentritt". (78)

    Trotz der Anerkennung der formalen Demokratie kann naturlich uber dieKlassenverhaltnisse nicht einfach hinweggegangen werden, die ,Koalitionen' (dieder Form nach den Klassengegensatz noch ausdrucken) werden als notwendigeIntegrationsfaktoren erkannt. So sagt schon 1922 der gewerkschaftliche Arbeitsrechtler Sinzheimer:"Die Koalition ist nicht, wie die Gegner heute noch zu m Teil sagen, ein Streikverein. nichtnur ein Faktor fUr Lohnbewegungen, sondern die positive Grundlage unseres gesellschaftlichen, unseres Volks- und Staatslebens. In dem Augenblick, wo sie verschwiinde, wUrden Staatund Volk verfallen". (79)

    Die Ansatze zu einer ,pluralistischen Demokratietheorie' (79a) - von Fraenkel spater treffend als die "Staatstheorie des Reformismus" apostrophiert (80) -finden sich sowohl bei den ,praktischen' FUhrern als dann auch bei den revisionistischen Theoretikern der Gewerkschaftsbewegung. So sieht z. B. Fraenkel die Be-deutung des "neugeschaffenen Arbeitsrechts" darin, daB es "das Bindeglied zwi-schen Republik und Arbeiterschaft" darstellt. (80a) Dies Bindeglied kann seineFunktion aber nur erflillen im Zusammenhang mit den bestehenden Koalitionen;Fraenkel schreibt:"Die freiwillig gebildeten Organisationen kristallisieren sich in stets verstarktem MaJ3e zu lntegrationsfaktoren des staatlichen Lebens heraus . . . wir glauben, daB durch den Ausbau der77) Prot. 1925, S. 117 f.78) Rudolf Hilferding, "Realistiseher Pazifismus", in: Die Gesellschaft, 1924, Bd. 2, S.I11.In "Probleme der Zeit" (ebenda, Bd. 1) wird das Staatsproblem von Hilferding gestelltmit der Frage "nach der grundlegenden Beziehung zwischen Staat und Staatsvolk" (!)(S.1).79) Prot. 1922, S. 442. Kurz vor der zitierten Stelle sagt Sinzheimer: "Ieh stelle fiir den Aufbau eines kiinftigen Koalitionsrechts den Satz in den Vordergrund, d a ~ die Koalitionein Organ der gesellschaftlichen Verfassung geworden ist, ein Rechtsbildungs- und Verwaltungsorgan". (S. 441 f.)79a) Von Fraenkel mit ,arbeitsgemeinschaftslichem Akzent' - d.h. Betonung der Selbstver-waltung durch die Verbiinde unter dem Signum ,kollektive Demokratie' entwickelt

    (siehe F u ~ n o t e 81).80) Ernst Fraenkel, "Strukturanalyse der rnodernen Dernokratie", in: Beilage zur Wochenzeitung Das l'arlament, 6.12.1969, S. 23.80a) Ernst Fraenkel, "Die politische Bedeutung des Arbeitsrechts", in: Die Gesellschaft, 1932,Bd. 1, S. 42 f. Vgl. auch Miiller/Neusiili, "Sozialstaatsillusion . . . ", S. 46, F u ~ n o t e 127.23

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    kollektiven Demokratie die Parlamentsverdrossenheit . . iiberwunden werden kann, dann niimIich, wenn die Bevolkerung nicht nur im Augenblick der Stimmabgabe an der Bildung des Staats-willens beteiligt sein wird, soridem durch ihre Organisationen standig an dem IntegrationsprozeBdes realen Staates teilnimmt . Nimmt man hinzu, daB die Anschauungen der Wirtschaftsorga-nisationen fiir die ihnen nahestehenden Parteien vo n maBgeblicher Bedeutung sind (neben derdirekten ,Anhorung' durch die Regierung Verf.), so muB man feststellen, daB zwar nicht diestaatsrechtliche Verantwortung, aber die politische Beeinflussung in starkem MaBe von den Ab-geordneten des Parlaments auf die Fiihrer der Wirtschaftsorganisationen iibergegangen ist" (81).Und der Praktiker Leipart schreibt:"Wohl allgemein wird heute die Meinung vertreten, daB die Gewerkschaften zwar nicht unpoli-tisch sein konnen, daB sie jedoch von Parteipolitik sich fernznhalten haben. Um so mehr miissen sie aber Arbeiterpolitik treiben. Die Gewerkschaften wollen nicht eine politische Arbeiter-partei' sein. aber sie beanspruchen als wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiter ihren be-rechtigten EinfluB auf die Politik des Staates ". (82)

    Die Akzeptierung der formalen Demokratie und die Eskamotierung der Klassengegensiitze kann natiirlich den existierenden Klassenkampf, wie er vor allem inKiimpfen urn 10hn und Arbeitszeit immer wieder elementar auibricht, nicht aus derWelt schaffen. Doch sind die Gewerkschaftstheoretiker bestrebt, nun auch demKampf urn die unmittelbarsten Interessen der Arbeiter eine ,gesamtwirtschaftlicheBegriindung' zu geben. Der 6konom und gewerkschaftliche Theoretiker Erik Nolting (Dozent an der Akademie der Arbeit) schreibt dazu: "Es ist ein Beweis fUr dieErstarkung und Vertiefung der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, sie demGegner in sein Operationsfeld nachzufolgen und eine Auseinandersetzung yomStandpunkt der gegnerischen Priimissen anzubieten wagte." Nolting stellt die ,produktionistisch-profitwirtschaftliche' (= kapitalistische) Auffassung der ,Menschen -okonomie' (= sozialreformistische Auffassung) gegeniiber, woraus sich fUr ihn einWiderstreit miteinander unvereinbarer Prinzipien ergibt. Das Dilemma lost sich wiefolgt auf: "Nicht,ethische, nur volkswirtschaftliche Kritik, die das produktionistische Wirtschaftsergebnis als entscheidendes Kriterium gelten liiBt, trifft an den Lebensnerv dieser Ordnung, die nicht stiirzt, wenn man sie als ethisch anruchig, sondern wenn sie als wirtschaftlich unpraktikabel und widerspruchsvoll nachgewiesenworden' ist". (83) Zum Beweis seiner Auffassung bemiiht Nolting wiederum den1ohnkampf; der einzelne Kapitalist

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    Ders., "Kollektive Demokratie", S. 113 f.Theodor Leipart, "Die Stellung der Gewerkschaften in der internationalen Arbeiterbewegung", in: DA, 1924, S. 27. Vgl. Braunthal, "Wirtschaft der Gegenwart . . . ", S. 239:"Die Frage der Teilnahme an der Regierung ist eine nebensachliche Angelegenheit verglichen mit der umwiilzenden Tatsache, in der heutigen Phase der gesellschaftlichenEntwicklung der StOflt unter dem dauernden, immer stiirker anwachsenden Druck desProletariats steht und diesen Druck auf die Wirtschaft weiterwiilzen muj3. In dieser Tatsache driickt sich die Teilnahme des Proletariats an der StOfltsgewalt aus . ." . Erik Nolting, "Der volkswirtschaftliche Sinn der Gewerkschaften", in: DA, 1926, S. 186f. Der daselbst erwiihnte Herr Stresemann scheint ein Vorlaufer von Karl Schiller gewesen zu sein, denn Nolting schreibt ihm folgende Auffassung iiber die Gewerkschaften zu:"Mit solchen Leuten kann man keine praktische Politik treiben, weil sienoch nicht einmal das Abc aller Wirtschaftspolitik begriffen haben, die Fabrikschlote rauchen mllsesen, bevor wir uns urn die Verteilung des Arbeitsertrags nach ethischen Gesichtspunktenunterhalten k.onnen. DiemenschlicheArbeitskraftsei keine Ware, fur eigneteine hohereWiirde als den to ten Dingen! Ja, hebt man die Gesetze der Wirtschaft durch moralischeProteste auf? ..

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    " . . . driingt zwangsliiufig danach, durch Lohndruck die Gewinnresultate zu vergrol3ern. WasfUr jeden einzelnen Untemehmerproduzenten (83a) rent