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Schatten über Myra

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Dragon - Söhne von Atlantis Heft Nr. 49

Schatten über Myravon Hugh Walker

Durch seine kühnen Taten verhalf Dragon Vesta, dem Herrn der Elemente, der viele Jahrhunderte lang hilflos gefangen war, wieder zur rechtmäßigen Herrschaft. Dragon, der »Mann Schicksal«, wie ihn die getreue Wanderwolke Aerula-thane nannte, ist gewiß, daß der Herr der Elemente sein wiedererlangtes Amt nicht mißbrauchen, sondern zum Wohle aller Menschen von Danilas Welt ausüben wird. Nichts hält den Atlanter daher mehr – selbst nicht einmal die verheißungsvolle Aussicht, an Vestas Seite über eine ganze Welt zu gebieten. Er will zurück nach Myra, wo Königin Amee auf ihn wartet.

Aber schon vor seiner Rückkehr durch »das Auge der Götter« erfährt Dragon, daß die Zeitabläufe auf Danilas Welt und der Welt, die er wieder erreichen will, verschieden sind. Ja, es scheint, daß eine Zeitspanne von einem Monat auf Danilas Welt einem halben Jahr auf der Erde entspricht. Und er, Dragon, hat ein halbes Jahr auf Danilas Welt verbracht – also ganze drei irdische Jahre. Vieles ist in der Zwischenzeit auf der Erde geschehen. Throne wechselten ihren Besitzer, blutige Schlachten wurden geschlagen, und Schicksale von Individuen oder ganzen Völkern wendeten sich zum Guten oder zum Schlechten. Auch für Myra und Dragons Thron, den zu halten sich Königin Amee bemüht, sieht es nicht allzu rosig aus. Dunkle Mächte finden sich zusammen, die den Umsturz anstreben. Und die kommenden Ereignisse werfen SCHATTEN ÜBER MYRA …

Die Hauptpersonen des Romans: Amee - Die Königin verteidigt Dragons Thron. Totamas und Talferas - Zwei Daikane die sich der »Mantelprobe« unterziehen. El Haleb - Fürst der Siliker. Maratha - Die Seherin warnt vor drohendem Unheil. Rachmud - Der Herr der Heggaren verbündet sich mit den Kräften der

Dunkelheit. Orcos - Ein geheimnisvoller Fremder erscheint.

1.

Die Wache auf den Zinnen des myranischen Königspalasts überschattete die Augen, um im Glanz der Abendsonne die Flaggen des Schiffes zu erkennen, das langsam an die Kais glitt. Die Ruder wurden eingezogen. Der Wachtposten starrte noch einen Augenblick, während der Zweimaster anlegte, dann schien er entdeckt zu haben, was er suchte, denn er eilte die Treppen des Turmes hinab und über die breiten Marmorstiegen hinunter in den großen Audienzsaal. Mehrere Wachtposten standen vor dem Eingang, Sie starrten ihm neugierig entgegen, aber er nahm sich nicht die Zeit, ihnen die Neuigkeit zuzurufen. Er lief in den Saal. Dort hielt er abrupt an und vergaß für eine Weile, daß er gekommen war, um eine Nachricht zu bringen.

Eine neue Probe neigte sich offenbar ihrem Ende zu. Es war nicht die erste, die er gesehen hatte, doch es war immer wieder ein spannendes Schauspiel, bei Paros Faust! Auch wenn inzwischen keiner mehr recht daran glaubte, daß es wirklich einem gelingen würde, sie durchzustehen und die Hand der Königin zu gewinnen.

Zwei Dutzend Palastwachen sorgten dafür, daß die Mitte des gewaltigen Saales freiblieb. Hinter ihnen scharten sich ein halbes Hundert Männer und Frauen der hohen myranischen Gesellschaft, Fürsten, Ratsmitglieder, Würdenträger des Heeres, Kapitäne der Flotte, Gesandte aus Dan, aus Urgor, aus Katmahzar, aus Zunt, aus Candis, aus beinah allen Provinzen des Reiches.

Sie alle starrten gebannt auf das, was in der Mitte der Halle geschah.

Am meisten aber nahm die einsame Gestalt am Thron Anteil. Amee, die Königin. Sie saß vorgebeugt, die Finger um die Lehnen des hohen Stuhls

geklammert, die Zähne in die Unterlippe gegraben, die meergrünen Augen halb geschlossen. Der Umhang über dem bodenlangen grünen Gewand war von ihren Schultern geglitten, aber sie spürte die Kühle des Raumes nicht mehr.

Zielpunkt aller Blicke war etwas, das selbst nach längerem Hinsehen nicht deutlich erkennbar war. Es besaß die Größe eines Menschen, und es schien in einem seltsamen Tanz begriffen. Es zuckte und torkelte, und seltsame stöhnende Laute stieß es aus. Manchmal konnte man deutlich die menschlichen Umrisse erkennen – unter dem flatternden Gewebe eines Mantels oder Umhangs. Aber dann gab es Augenblikke, da sah man durch die Gestalt hindurch, sah die Zuschauer dahinter, und während man noch an seine Augen griff, die vom angestrengten Schauen schmerzten, verschwand die Leere und schillerte in Farben, deren Namen die Götter wissen mochten, und deren Anblick ebenso unerträglich war wie die Leere. Es gab Augenblicke, da verschwand die Gestalt vollkommen, nur um gleich darauf wie ein Dämon aus dem Nichts hervorzuspringen mit einem wilden Schrei, der die atemlose Stille zerriß.

Die Gestalt war kein Dämon, sondern ein Mann, und seine Schreie waren Ausdruck der Qual. Er tanzte nicht – er wand sich, er krümmte sich, und nur die Götter mochten die Qualen ahnen, die er litt. Mit einem letzten schrillen Schrei, der die Anwesenden erschauern ließ, sprang die Gestalt wie durch eine magische Tür in die Sichtbarkeit, während etwas wie ein farbloser Schleier einige Schritte von ihm entfernt zu Boden fiel.

Während der Mann schwankend dastand, totenblaß und mit verkrampften Fäusten und halb entkleidet, als hätte er versucht, sich das Wams vom Leib zu reißen, ging ein Raunen durch die Menge. Es klang nach Erleichterung und Enttäuschung und schließlich immer deutlicher nach Spott.

Die Königin lehnte sich zurück. Die Spannung war von ihr

gewichen. »Totamas«, sagte sie, und die Anwesenden verstummten. »Du hattest deine Chance. Deine und meine Götter waren Zeugen. Du hast den Mantel des Königs nicht bis zum Sonnenuntergang zu tragen vermocht …«

Der Angesprochene war noch immer nicht frei von den Qualen des Mantels. Kraftlos und schwankend stand er auf den Beinen. Erst langsam schien er zu begreifen, daß er es wie alle anderen vor ihm nicht geschafft hatte.

»Erhabene … Königin …«, stammelte er. »Totamas«, unterbrach ihn die Königin rasch. »In meinem Herzen

wird nur einer diesen Mantel tragen, Dragon, der rechtmäßige König Myraniens. Und es scheint, daß die Götter mit mir sind, die myranischen und die meiner Heimat. Nimm den Mantel, den dir dein Volk gab, den des Königs der Iwaren und des Daikans des Reiches und laß nicht den Spott einiger unhöflicher Gäste meines Hofes dein Herz verbittern, Myranien wäre nichts ohne die Kraft seiner Fürsten und Stammeskönige.«

Der Iwarenkönig verbeugte sich. Er drohte zu fallen, und einige Männer seiner Gefolgschaft drängten sich zwischen die Palastwachen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Aber er fing sich mit einer übermenschlichen Anstrengung und winkte sie mit einer herrischen Geste zurück. Langsam und mit schwerer Stimme sagte er:

»Verzeiht meine … Anmaßung, Königin …« Sie nickte unmerklich, während aus der Menge ein halb

spöttischer, halb mißbilligender Ausruf kam, der dieser Entschuldigung galt.

Während der Iwarenkönig schwankend herumfuhr, sagte Amee eisig: »Wähnt sich Talferas bereits am myranischen Thron, daß er meines treuen Vasallen spottet?«

Totenstille war nach diesen Worten im Saal. Der Iwarenkönig hatte nach dem Schwert gegriffen. Seine Männer

eilten zu ihm. Bevor Talferas antworten konnte, keuchte Totamas: »Der Daikan von Malot hat wohl seine eigenen Pläne, die das Reich

betreffen. Wie sonst sollte es sein, daß die Krieger aus Malot nachts um den Palast schleichen …?«

Wütend trat Talferas vor. Einige seiner Männer folgten ihm zögernd. Die Umstehenden wichen vor ihnen zurück.

»Das ist eine Lüge«, rief Talferas heftig. Wie Totamas war er ein großer Mann, doch ein gutes Dutzend Sommer älter als der Iware, an die fünfzig, und mächtig von Statur. Seine Gefolgsleute wirkten schmächtig gegen ihn. Sein kantiges Gesicht war vor Ärger gerötet. Seine Augen bohrten sich in die des Iwarenkönigs, der ihn trotz seiner Erschöpfung herausfordernd anstarrte.

»Ah, sie trugen wohl myranische Umhänge, aber die Nacht hat gute Augen …«

Der Maloter beruhigte sich sichtlich. Er grinste. »Könnte es sein, daß es iwarische Augen waren …?«

»Genug!« fuhr die Königin dazwischen. Diplomatisch fügte sie hinzu: »Dies sind Zeiten der Gefahr für das myranische Reich. Es ist gut, wenn viele Augen den Palast beobachten. Indes, wer ihn ohne meine Erlaubnis betritt, wird gute Gründe brauchen.«

Die Drohung in den Worten ließ Talferas verstummen. Auch Totamas schwieg. Er verließ mit seinen Kriegern die Mitte des Saales, wo sein Versuch, diesen verfluchten Mantel von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu tragen, so unrühmlich gescheitert war. Wie alle anderen Versuche vor ihm. Die Palastwachen hoben den auf dem Marmorboden kaum sichtbaren Mantel mit ihren Lanzen hoch und legten ihn vor den Thron, wo er wie eine merkliche Barriere zwischen der Königin und den anderen lag.

*

Während Palastdiener Tafeln mit dem abendlichen Essen hereinbrachten, und die Anwesenden zu den Tischen zurückströmten, erhob sich die Königin, um sich zurückzuziehen und sich auf die abendliche Ratsversammlung vorzubereiten.

Der Beobachtungsposten erinnerte sich plötzlich wieder an seine Pflicht. Die beiden Wachen, die Amee begleiteten, wollten ihn aufhalten, aber sie winkte sie zurück.

»Was bringst du, eine Nachricht?« fragte die Königin. Er verbeugte sich. »Ja, erhabene Königin. Eine Nachricht. Das

Schiff des Silikers ist eingetroffen …« »El Haleb«, flüsterte sie erfreut. »Das ist eine gute Nachricht, was

immer er auch bringen mag. Schickt eine Eskorte zum Hafen. Und führt ihn in meine Gemächer, sobald er mich zu sehen begehrt.«

Erfreut lief sie in ihren Schlafraum und warf den Umhang achtlos über den Ankleidespiegel.

»Iwa!« rief sie und eilte in den angrenzenden Raum. Iwa, einst Sklavin und Amme, nun Vertraute der Königin und

Betreuerin des Sohnes, den die Götter Amee und Dragon geschenkt hatten, erhob sich vom Bettchen des Knaben und preßte den Finger an die Lippen. »Prinz Atlantor schläft«, flüsterte sie, »und mögen die Götter geben, daß es eine ruhige Nacht wird. Wenn ich euch einen Rat geben darf, so laßt die Palastwachen verdoppeln, auch wenn die Köche murren. Ich hatte böse Träume …«

»Ja, Iwa, ich werde deinen Rat befolgen. Haleb ist in der Stadt …!« Die ältere Frau nickte. »Ich weiß. Ich sah das Schiff einlaufen.

Königin Amee …« Sie zögerte mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Erwartet nicht zuviel …«

»Nein, Iwa. Sei unbesorgt. Ich dachte nicht wirklich, daß er den König finden würde. Wir wissen, daß etwas Seltsames mit Dragon geschehen ist. Aber selbst vor Marathas Augen sind Schleier …« Sie zuckte die Schultern in stummer Abwehr dieser düsteren Gedanken. Dann straffte sie sich. »Er wird eine Nachricht bringen. Irgendeine. Ich habe oft an ihn gedacht … an ihn und Dajna …«

Iwa nickte erneut. »Dies ist eine Zeit für Freunde, sich zu bewähren und Mut in dieses Haus zu bringen. Er ist ein guter Freund.«

»Einer der besten«, stimmte die Königin zu. »Ah, Iwa, welche Nachricht er auch bringt, es wird gut sein, die vertrauten Gesichter

wiederzusehen. Rasch, Iwa, ich will mich umkleiden. In diesem Kleid käme ich mir vor wie vor einem weiteren … Freier!« Sie spie das Wort aus, als wäre es die Pest.

»Ich weiß«, sagte Iwa begütigend. »Ich beginne diesen Palast zu hassen«, murmelte Amee und hielt

nur mühsam die Tränen zurück. »Und ich hasse Myra. Was bedeutet es schon? Haben sich die Götter gegen uns verschworen, Iwa? Ich werde niemals an der Seite eines dieser myranischen Könige sitzen! Niemals! Eher werde ich …«

»So dürft Ihr nicht reden«, unterbrach sie Iwa tadelnd. »Es ist ein Vermächtnis, das Ihr übernommen habt … an das Euch Eure Liebe bindet, wenn sie Euch wirklich etwas bedeutet …«

»Bedeutete ihm dieses Reich wahrhaftig soviel, Iwa?« Sie trat an das Fenster und starrte in die untergehende Sonne, die die Wasser des Hafens wie flüssiges Feuer funkeln ließ. »Nein, Iwa. Er hatte größere Pläne. Viel größere. Und vielleicht … muß er dazu frei sein …«

Iwa trat zu ihr und ergriff sie am Arm, Sie zog sie fort vom Fenster. »Genug gegrübelt«, befahl sie streng. »Ihr seid nur müde. In Urgor war das Leben nicht einfacher. Es gab Gefahren, die Euch nun nicht mehr bedrohen. Denkt an Cnossos. Ihr seid zur Königin geboren. Wo Ihr auch hingeht, werden Pflichten auf Euch warten, angenehme und schmerzliche. Hadert nicht mit den Göttern, Ihr wißt, daß er lebt …«

»Weiß ich es?« Sie starrte erneut zum Fenster hinaus. »Kann ich sicher sein …?«

»Die Seherin irrt nicht. Sie hat ihn gesehen. Durch Schleier, aber sie hat ihn erblickt.«

»Ja«, flüsterte die Königin. »Aber wir wissen im Grunde nichts. Diese Schleier mögen Welten sein, die er von uns getrennt ist, oder Zeiten, so fern wie jene, an die er sich zu erinnern begann.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist er wieder zurückgekehrt in seine Welt. Wenn sein Herz stark genug daran gekettet war. Über diese Abgründe vermag meine Liebe nicht zu folgen. Er wäre so gut wie

tot …« »Nun ist es genug«, unterbrach Iwa sie barsch. »Wo immer er auch

ist, er wird einen Weg zurückfinden, wenn es einen gibt …« »Ja, Iwa, wenn es einen gibt!« »Nun quält Euch nicht selbst.« Iwa deutete auf das Kinderbett, in

dem der Prinz schlief. »Euer Sohn ist nicht minder ein Vermächtnis. Wenn es die Götter wollen, daß der König nicht mehr wiederkehrt, so schenkt seinem Sohn die Liebe, die Ihr dem Vater nicht mehr geben könnt.«

»Oh, Iwa. Ich weiß ja, daß du recht hast. Hab keine Furcht. Ich bin nicht so schwach wie ich scheine.« Und mit dem Anflug eines Lächelns fügte sie hinzu: »Ich benehme mich wie ein dummes Mädchen.«

Iwa schüttelte den Kopf. »Wie ein verzweifeltes Mädchen«, erwiderte sie sanft.

*

Haleb, fand sie, hatte sich verändert. Äußerlich nur, hoffte sie. Er war ungewöhnlich gekleidet. Seine Beinkleider waren aus einem rötlichen Leder, wie sie es in Myra und auch in Urgor noch nie zuvor gesehen hatte. Sie verschwanden in hochschäftigen Schuhen, die nicht recht zum warmen myranischen Klima paßten. Auch sein Hemd war aus einem dicken Gewebe und reichte bis fast auf die Knie. Er trug die krumme Silikerklinge im Gürtel. Das war aber auch das einzige, das an den einstigen Silikerfürsten erinnerte. Das lange schwarze Haar, das die Menschen am Göverfluß am Hinterhaupt zu einem Knoten banden, hatte er abgeschnitten, daß es fast wie das Dajnas um seine Schultern fiel. Auch das Mädchen war ähnlich gekleidet. Zu warm für myranische Breiten. Sie mußten weit im Norden gewesen sein in diesen eineinhalb Sommern ihrer Abwesenheit. Aber die Züge waren so vertraut wie eh und strahlten die gleiche Zuneigung aus.

Die Königin streckte ihnen die Arme entgegen, die sie mit einer

merklichen Erleichterung ergriffen. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten groß, aber weder Dajna noch Haleb entging die Müdigkeit in den Zügen der Königin.

Sie aßen gemeinsam in den Gemächern der Königin. An dem Mahl nahm auch Partho teil. Es gab viel zu berichten, doch die Erlebnisse der langen Reise schienen bedeutungslos im Vergleich zu den Dingen, die die Königin bedrückten.

Sie waren froh darüber, nach dieser langen Abwesenheit in Myra noch alles beim alten zu finden. Aber gleichzeitig erkannten sie auch, daß Dinge im Gang waren, denn im Hafen standen Schiffe aus den fernsten Provinzen, und bereits im Hafen war die Rede davon, daß es der myranische Thron war, der sie anlockte.

»Habt Ihr Kunde von Dragon?« Die beiden schüttelten traurig den Kopf. »Nein, Königin.

Wenigstens keine direkte. Wir hatten eine Spur, aber sie endete im Nichts …«

»Erzählt.« »Wir kreuzten vor der Westküste der Blauen See, um den Eisfluß

zu finden, von dem Eure Seherin gesprochen hatte. Als wir ihn endlich fanden, brachen die Winterstürme herein. Wir ruderten trotzdem flußaufwärts, aber schon nach wenigen Tagen mußten wir die Fahrt abbrechen: In den mächtigen Eisschollen war kein Vorwärtskommen mehr. Er heißt nicht zu unrecht der Eisfluß. So mußten wir umkehren. Wir segelten nach Süden, denn Dajna wollte ihre Heimat besuchen. Das war nicht leicht, denn außer in den Hafenstädten ist es für einen Mann nicht leicht, freien Fußes das Land zu betreten. Als Gesandter Myras waren zu Anfang viele Türen offen, aber ich sah nur, was sie wollten, daß ich sah, und ich ging keinen Schritt, den sie mich nicht geleiteten. Es machte ihnen Mühe, mich als ihresgleichen anzuerkennen, und sie wußten, daß sich außerhalb des Hofes die meisten Katmahzari gar nicht erst die Mühe machen würden. Ich war ein Mann, und Männer gelten nichts. Das Wort Mann steht für nicht viel mehr als Sklave. Um allen Ärgernissen auszuweichen, reiste ich in Dajnas Gefolgschaft …«

»Als ihr Sklave?« fragte die Königin interessiert. »Ja«, erwiderte Haleb. »Als ihr Sklave.« »Weiber«, brummte Partho, was ihm einen mißbilligenden Blick

Amees eintrug. »Ah, Freund Partho, würdet Ihr nicht das gleiche tun für das

Mädchen, das ihr liebt?« widersprach Haleb. »Laßt ihn nur brummen«, meinte Amee lächelnd. »Er tut es

ohnehin nur noch selten, seit er meine Schwester zur Gemahlin genommen hat.«

Die beiden sahen ihn überrascht an und wünschten ihm die Gunst der Götter.

»Es scheint mir, daß sich vieles verändert hat seit unserer Abreise. Manche Überraschung steht uns wohl noch bevor,«

Die Königin nickte ernst. »Wir wollen später davon sprechen. Fahrt erst fort mit Euerm Bericht.«

Haleb nickte. »Es war eine abenteuerliche Reise durch das Land der Katmahzari bis an den Hof der Königin Agrion. Aber darüber will ich Euch ein anderes Mal berichten …«

»Ihr habt Agrion gesehen?« unterbrach ihn Amee. »Wie ist es ihr ergangen?«

»Sie steht in hohen Ehren. Sie hat es verstanden, Asmyra, die einstige Königin, als Beraterin an sich zu binden. Sie entbietet Euch die freundschaftlichsten Grüße. Auch Euch, Partho.«

Partho nickte nur. Er fand es erstaunlich, wie lebendig die Erinnerung an Agrion noch in ihm war.

Haleb fuhr fort: »Als das Frühjahr kam, segelten wir erneut nach Norden und machten uns zum zweitenmal an die schwierige Fahrt den Eisfluß aufwärts. Immer mehr fanden wir den Bericht der Seherin bestätigt. Die Stämme am Eisfluß berichteten von Dragon und seinem Kampf gegen die Dämonen und von seiner Begegnung mit der Eiskönigin. Zwei Tagesritte westlich eines Berges, den sie den Heiligen Berg nennen, stießen wir erneut auf Spuren. Aber dort endet alles. Es ist …« Er hob hilflos die Hände. »Es ist, als wäre er in diese Wildnis hinausgeritten und nicht mehr zurückgekehrt. Es ist

unmöglich, dort jemanden zu finden, und die Stämme wissen nichts. Sie wüßten es, wenn er zurückgekommen wäre …«

»Maratha sprach von einem Tor, durch das er gegangen sein müsse«, murmelte Amee.

»Ein Tor?« wiederholte Haleb. »Sprach nicht der König des Eisvolkes von einem Tor, durch das

die Dämonen über die Stämme gekommen waren«, meinte Dajna, »und das Dragon verschlossen hätte?«

Haleb nickte. »Ich nahm es nicht für bare Münze«, sagte er. »Sie zeigten es uns. Aber wir fanden nur Felsen und Geröll. Es hätte in das Innere der Erde selbst führen müssen. Aber wenn doch … Wahrheit hinter diesen Worten ist …« Er schüttelte den Kopf.

Dajna unterbrach erneut seine Gedanken. »Sie sprachen auch von einem Mädchen, das bei ihm gewesen sei, und das er zu ihrem Volk zurückbringen wollte. Ein Mädchen, das mit den Dämonen gekommen war …« Sie brach ab. Sie schüttelte den Kopf. »Irgendwie paßt es zusammen, Haleb. Er hatte das Tor verschlossen. Vielleicht war unter den Felsen tatsächlich eine Art Tor, das irgendwohin führte …«

»In eine andere Welt«, flüsterte Amee. »Der Gedanke quält mich immer, so unvorstellbar er auch ist. Und dennoch … kam er nicht auch aus einer anderen Welt …?« Sie schwieg, einen Augenblick lang wieder von Schmerz und Zweifeln und trügerischen Hoffnungen gequält. Schließlich sagte sie: »Maratha ist ohne Botschaft von ihm. Es ist, als ob er tot wäre, und dennoch schwört sie, daß er lebt. Es muß eine andere Welt sein …«

Partho war der einzige, der nicht grübelte und sich so etwas wie ein Tor in eine andere Welt vorzustellen versuchte. Sein Tatendrang lenkte seine Gedanken in andere Bahnen. »Wenn wir tausend Männer nähmen, oder zweitausend, und versuchten, dieses Tor unter den Felsen zu finden …«

Haleb schüttelte den Kopf. »Nein, Partho. Manche dieser Felsen würden auch zehntausend Männer nicht bewegen können. Wenn wahrhaftig ein Tor darunter ist, muß es die Faust der Götter

gewesen sein, die sie begrub.« »Wenn wir«, begann Partho erneut, »wenn wir ein wenig des

Donnerpulvers noch hätten, das uns im Kampf gegen Myra so gute Dienste leistete …«

»Wir könnten es nicht benutzen«, meinte Amee. »Die Männer, die dem König zur Hand gingen, sind bei meinen

Truppen. Einige wenigstens. Es mag nicht schaden, wenn Ihr einen Boten nach Urgor schickt. Damos mag sich mit den weisen Männern am Ah'rath in Verbindung setzen. Vielleicht haben sie noch ein wenig des Pulvers.«

Die Königin schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wäre Dragon hier und Romon noch der Oberste der Weisen … Aber Bandur, der nun Romons Platz einnimmt, will keine Einmischung in die weltlichen Belange. Für ihn ist Meditation der Weg in eine bessere Welt, in das Goldene Zeitalter.«

»Das mag sein«, brummte Partho. »Aber wir sollten es versuchen. Es ist besser als untätig zu warten. Was meint ihr?«

Haleb und Dajna nickten zögernd. Schließlich stimmte auch die Königin zu. »Aber es wird viele Monde dauern, bis Antwort auf unsere Bitte kommt, und länger als ein Jahr, bis wir daran gehen können, das Tor zu suchen. Selbst wenn es uns gelingt, Dragon zu finden und zurückzuholen, werden zwei Sommer ins Land ziehen, oder drei, bis es so weit sein mag.« Sie barg ihr Gesicht in den Händen. »Mögen die Götter geben, daß er früher zurückkehrt. Ich bin nicht stark genug, diesen Thron zu halten. Nicht an der Seite eines anderen …«

Verwundert fragte Haleb: »Was meint Ihr damit, Königin? Es ist also wahr, daß Hände nach der Krone greifen? Wir sahen die Schiffe im Hafen …«

Amee nickte. »Es begann vor sechs Monden. Die Daikane kamen nach Myra und beriefen einen Rat ein, zu dem ich nicht geladen war. Mein Ärger und meine Besorgnis waren nicht unberechtigt. Ich erfuhr noch in derselben Nacht von den Beratungen, denn ein Teil der Daikane hält mir nach wie vor die Treue. Am Morgen darauf

kam dann die offizielle Botschaft. Das Konzil der Daikane, wie sie es nannten, hatte beschlossen, daß den alten myranischen Gesetzen Genüge getan werden müsse. Diese Gesetze besagen, daß keine Frau ursprünglich den Thron innehaben dürfe, und daß sie in Stellvertretung ihres Mannes, des Königs, nicht länger als drei Jahre regieren dürfe. Nach drei Jahren gelte auch ein König, der von Kriegszügen oder anderen Missionen nicht zurückkehrt, als tot. Ich kann diesen Thron nur retten, wenn ich mich erneut vermähle und so dem Reich einen neuen König gebe.«

»Aber was ist mit dem Thronfolger, Eurem Sohn Atlantor?« wandte Dajna erregt ein.

»Er kann das Amt erst übernehmen, wenn er achtzehn Sommer alt ist. Wenn er die Intrigen überlebt! So lange ich keinen erwählt habe, ist er sicher. Aber danach wird man ihn aus dem Weg haben wollen, damit der Thron wieder in myranische Hände gelangt. Stirbt der Thronfolger, so geht die Würde ganz auf den neuen König über. Es ist ein grausames Gesetz, und alte Berichte künden davon, daß viel unschuldiges Blut in diesen Hallen geflossen ist zu allen Zeiten …«

»Ihr Götter!« entfuhr es Haleb. »Wie lange bleibt Euch noch Zeit? Einige Monde, wenn meine Zählung stimmt? Die drei Jahre müssen bald voll sein.«

Die Königin nickte blaß. »Sie verkündeten es überall im Reich. Seit fast sechs Monden ist dieses Haus voller Freier, Tag und Nacht, und ich kann es nicht wagen, sie hinauszufegen, so sehr mir auch danach der Sinn steht. Das Volk blickt auf mich, und diese alten Gesetze sind tief verwurzelt. Zudem muß ich diplomatisch sein. Wenn ich einem meine Gunst zeigte, und sei es nur in Freundschaft, könnte er anderntags tot sein, oder die Stämme könnten einander bekriegen.«

»Aber wie … wie haltet Ihr sie Euch vom Leibe?« rief Dajna. »Mit dem Mantel des Namenlosen«, erklärte die Königin. »Der den König unsichtbar machte?« fragte Haleb erstaunt. »Aber

ist es nicht zu gefährlich, ihn in andere Hände zu …« Amee schüttelte den Kopf. »Nein, er ist ein Geschenk der Götter.

Es scheint, daß keiner ihn zu tragen vermag …«

»Wie ist das möglich?« Amee sah Partho an. Der nickte. »Wir wissen es nicht genau«,

erklärte sie. »Eines Tages … es ist länger als ein Dutzend Monde her … da legte ich ihn an.« Sie errötete. »Schmerz und Sehnsucht hatten mich wohl überwältigt«, fuhr sie rasch fort. »Und von diesem Mantel, den er getragen hatte, erhoffte ich mir ein Gefühl … seiner Nähe.« Sie senkte den Blick. »Ich trug ihn nur einen Augenblick lang und über dem Kleid, nur an den Schultern auf nackter Haut. Und dennoch war mir, als brannte er am ganzen Körper. Erst ein leichtes Brennen und Jucken, das bald immer unerträglicher wurde, bis ich mir den Mantel halb rasend von den Schultern riß.« Ihre Miene verzog sich bei dieser Erinnerung. »Ich habe es später noch mehrmals versucht. Ich weiß nicht, wie mein Gatte es ertragen hat. Er trug ihn jedoch ohne Beschwerden. Aber mir wollte es nicht gelingen, auch trotz dicker Kleidung nicht, die ich darunter trug, so daß mich der Mantel an keiner Stelle auf der Haut berührte. Ich vermochte ihn keine Stunde am Leib zu tragen. Auch Partho und Ada haben es versucht. Auch ihnen erging es nicht besser. Das hat uns auf den Gedanken gebracht, damit die Freier auf die Probe zu stellen. Wenn einer wie Dragon den Mantel vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ohne Unterlaß zu tragen vermag, dann … muß ich ihn nehmen, und er wird Myra an meiner Seite regieren, bis Atlantor alt genug ist, die Regentschaft anzutreten.«

Partho nickte unbewußt, als Haleb sie betroffen anstarrte. »Es ist ein mächtiger Zauber, aber was wißt Ihr davon? Wenn es nun einem gelingt …«

»Dann muß ich ihn nach diesen drei Sommern zum Mann nehmen … oder den Thron verlassen. Ich weiß, es ist nichts gewonnen, aber auch nichts verloren. Ich könnte einfach sagen, daß ich meine Wahl erst nach Ablauf der drei Sommer treffen würde. Aber diese Probe hat auch ihr Gutes. Sie hält viele der Männer beschäftigt, die sonst vielleicht auf den Gedanken kämen, dafür zu sorgen, daß der König auch wirklich nicht wiederkehrt. Er wäre nicht der erste König, der mit einem Dolch im Rücken starb in diesem Land …«

Haleb und Dajna nickten. »Wie können wir Euch nur helfen, Königin?«

»Indem Ihr bleibt«, antwortete sie rasch. »Es sind so viele Menschen am Hof, doch so wenige Freunde … Es wird mir Kraft geben, wenn Ihr bleibt. Und wenn diese Frist abgelaufen ist, und der König noch immer nicht da ist, dann Partho …« Sie wandte sich an den Kommandanten ihres Heeres. »Dann werden wir ihn suchen. Wie du es vorgeschlagen hast. Wollt ihr mir dabei helfen …«

Die beiden Männer nickten stumm. Dajna schüttelte den Kopf. »Dann ist dieses Reich verloren«, murmelte sie. »Und es mag sich erinnern, daß Urgor es war, aus dem seine Bezwinger kamen. Ein Rachezug, wie es schon einen gab, scheint mir nicht ausgeschlossen. Nur sind diesmal die Chancen besser, denn Myra ist stärker geworden. Es mag sein, daß sie dieses Mal niemand aufzuhalten vermag. Nein, es ist kein guter Weg, diesen Thron einfach zu verlassen, Königin. Es wird viel Blut über das Land bringen.«

»Was schlagt Ihr vor?« fragte Amee tonlos. »Ich weiß es nicht, meine Königin. Aber wir sollten es beraten.

Was immer auch geschieht, noch sind die Flotte und große Teile des Heeres in Eurer Hand. Stimmt das, Kommandant?« Es war nur ganz und gar nicht mehr das Mädchen, das aus Dajna sprach, es war die Kriegerin.

Partho nickte. »Noch steht alles zum Besten. Und bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Thronfolge ist auch nicht viel zu befürchten. Aber das böse Blut, das sie nun oft gegeneinander treibt, das wird sich gegen den König richten, wenn er doch noch rechtzeitig wiederkehrt. Ihr Appetit auf den Thron ist geweckt. Dann mögen sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen mit List nicht geglückt ist.«

»Ihr meint, die Daikane werden auf die Hauptstadt marschieren und Myra zurückerobern?« fragte Haleb.

Partho zuckte die Achseln. »Möglich war's.« »Ja«, stimmte Haleb zu. »Aber nicht alle, dessen bin ich gewiß.« »Ihr wart lange nicht hier«, wandte Königin Amee ein.

»Ist es möglich, daß das Volk seinen Befreier so rasch vergißt?« meinte Dajna.

»Es vergißt die guten Dinge wie die bösen. König Zogors Greuel sind so vergessen wie Dragons Versuche, das Leben in diesem Reich für alle erträglich zu machen. Diese Menschen wollen die Faust eines Königs spüren, so sind sie es seit jeher gewohnt. Auch wenn es eine gute Faust ist, aber eine Faust muß es sein – und meine ist zu schwach. Der König war zu lange fort.« Sie schüttelte traurig den Kopf.

»So werden wir sie diese Faust wieder fühlen lassen«, rief Haleb heftig.

»Auch die Katmahzari werden für Euch in den Kampf ziehen. Königin Agrion hat es bekräftigt«, sagte Dajna bestimmt.

»Also einen neuen Krieg?« fragte Amee. »Wenn es sein muß. Mit Myra ist sehr viel verloren. Bedenkt es,

Königin Amee.« »Wir wollen nichts überstürzen«, lenkte Dajna ein. »Die Königin

hat recht. Wir waren lange fort. Es gilt erst herauszufinden, wer auf welcher Seite steht. Das ist deine Aufgabe, Haleb. Du bist noch immer Daikan der Siliker.«

Haleb nickte zustimmend. »Wann könnt Ihr frühestens den Rat einberufen?« wandte er sich an die Königin.

»Er wird noch heute zusammentreten«, erklärte sie. Er schüttelte den Kopf. »Das ist zu früh. Ich weiß zu wenig. Könnt

Ihr die Versammlung verschieben?« »Ja«, meinte sie zögernd, »aber es wird wenig Zuneigung

eintragen …« »Wollt Ihr um diese Zuneigung kriechen und betteln?« fragte

Dajna. »Verzeiht mir … es ist meine Katmahzari-Zunge, die spricht. Ich meine …«

»Ich weiß, was Ihr meint, Dajna«, sagte Amee ruhig. »Die Katmahzari-Frauen sind nicht die einzigen, die den Stolz kennen. Aber manchmal bringen Nachgiebigkeit und List mehr ein. Ich habe niemandem Anlaß gegeben, zu glauben, daß ich etwas oder

jemanden fürchte. Oder irre ich, Partho?« »Nein, meine Königin …« sagte Partho langsam. »Aber?« rief sie mit einem Anflug von Ärger. »Es mag nicht schaden, ein wenig von der Faust zu zeigen, von

der El Haleb sprach«, ergänzte er. Amee schwieg. »Wir und mehrere Tausendschaften Eurer Männer aus Urgor

werden ihr Nachdruck verleihen. Der Siliker hat recht. Dieses Volk muß wissen, wer sein Herr ist. Und es scheint, als hätte es Zweifel.«

»Was schlagt Ihr also vor?« »Verschafft mir ein paar Tage, daß ich mich umsehen kann«, bat

Haleb. Die Königin nickte zustimmend. »Wie viele haben diese Probe bereits hinter sich?« »Die Hälfte der Daikane und ein gutes Dutzend von Fürsten und

Königen kleinerer Städte und Gebiete. Aber die Zahl der Freier wächst mit jedem Tag. Der Mißerfolg ihrer Vorgänger scheint niemanden abzuhalten …«

»Wie lange haben sie den Mantel ertragen?« fragte Dajna. »Bis zum Mittag … die meisten. Der beste war Totamas …« »Der Iware?« »Ja. Er ertrug ihn bis weit in den Nachmittag. Er muß Furchtbares

erlitten haben. Ich habe viele Menschen schreien hören, die Qualen litten, aber keinen so wie Totamas.«

»Wer ist der nächste?« fragte Haleb. »Talferas.« Haleb nickte. »Wann?« »Morgen bei Sonnenaufgang.« »Noch eines; die Taurunier, sind sie hier?« »Ja, sie sind hier, Haleb.« »Waren sie dumm genug, sich auf diese Probe einzulassen?« »Nein«, erklärte die Königin mit der Spur eines Lächelns. »Sie

haben bisher nicht den Wunsch geäußert. Sie haben lediglich nach Euch gefragt.«

Haleb grinste. »Das erleichtert vieles«, stellte er fest. »Noch eine Bitte: der Mantel … ich würde ihn gern selbst tragen … nur um zu sehen …« Er brach ab, ein wenig hilflos, weil ihm sein Ansinnen plötzlich zweifelhaft schien.

Amee entging es nicht. Lächelnd sagte sie: »Sicher, Haleb. Versucht es. Iwa wird Euch den Mantel später in die Gemächer bringen. Verzeiht mir, Ihr müßt müde sein. Ich werde sofort alles veranlassen …«

*

Allein in ihren Gemächern starrten der Silikerfürst und das Katmahzari-Mädchen auf den hellerleuchteten Hafen.

»Ich sah diesen Hafen nur einmal so hell«, murmelte El Haleb. »Als Zogor seine Truppen sammelte. Damals feierten sie. Und jetzt feiern sie. Ob wieder Blut fließen wird?«

Das Mädchen lehnte sich an ihn. »Ich hoffte, Frieden hier zu finden«, murmelte sie. »Für eine Weile …«

»Vielleicht liegt es in unserer Hand, diesen Frieden zu schaffen«, erwiderte er.

Aber ihre Gedanken wanderten einen anderen Weg. »Ich habe mein Volk mit neuen Augen gesehen, Haleb. Ich könnte nicht wieder zurück. Ob die Götter uns irgendwann ein wenig Zeit geben … für uns selbst?«

»Hatten wir sie nicht?« fragte Haleb. »Ein wenig zumindest. Diese lange Reise war abenteuerlich, und unsere Klingen sind nicht immer blank geblieben, gewiß, aber wir hatten doch viel Zeit, einander näherzukommen und niederzureißen, was sich immer wieder quälend zwischen uns drängte – meine althergebrachte Vorstellung von Frauen, und deine von Männern. Es war nicht immer leicht, die Götter wissen es …«

»Ja«, murmelte sie. »Ich weiß, was Stolz und Schmach ist. Ich bin sehr froh, daß das alles nicht vermocht hat, das Feuer zu löschen …«

»Es wäre ein mageres Feuer gewesen, Dajna …«

»Ich weiß, mein Liebster, daß es sehr stark ist. Ich spüre es immer in deinen Armen.« Sie legte ihre um ihn. »Es wäre sehr kalt sonst, mein Haleb.« Sie küßte ihn. »Wie konnte es nur geschehen, daß mein Volk dieses Feuer verlor?«

»Hat es das? Während dieser Reise durch das Land der Katmahzari hatte ich nicht den Eindruck, daß die Liebe zwischen den Frauen kalt wäre. Ich hatte genug Gelegenheit, sie zu beobachten …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn rasch. »Nicht überall sind die Sitten wie an Afrigas Hof. Sie ist schamlos. Aber du hast recht. Die Liebe ist eine alte Kunst in Katmahzar. Aber mit wenigen Ausnahmen ist sie nur eine Zwiesprache der Körper, nicht eine der Seelen. Etwas fehlt, etwas, das du mir zu geben vermagst. Es muß etwas sein, das nicht weibisch ist, und das auch den Katmahzari-Männern nicht mehr innewohnt …«

»Weil man ihnen gar keine Gelegenheit gibt, es zu zeigen«, sagte Haleb heftiger als beabsichtigt.

»Nein«, widersprach sie. »Sie sind schwach. Ihr Geist ist stumpf. Sie sind wie eure Sklaven … nein, weniger. Kein Katmahzari-Herz würde auch nur Mitleid an sie verschwenden.«

»Sie brauchen kein Mitleid. Was sie brauchen, ist eine Chance«, antwortete er.

»Stellst du es dir nicht zu einfach vor? Ist Demut nicht viel schwerer zu überwinden als der Stolz, und brauchte der Stolz nicht manchmal unsere ganze Kraft? Mag aus einer geborenen Memme ein mutiger Mann werden?«

Haleb nickte. »Denkst du, diesseits des Sakyra sind alle Männer mutig und alle Frauen sanft? Hast du nicht genug gelernt an Zogors Hof? Hieltst du die weisen Männer, die Söhne von Atlantis, für feige, weil sie Gewalt verabscheuten und Zogors Schergen keinen Widerstand leisteten?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Haleb. Du weißt, daß ich so nicht denke. Aber sind die myranischen Sklaven nicht ein gutes Beispiel? Sind sie wirklich frei geworden durch das neue

Gesetz des Königs? Diejenigen, die sich noch an Freiheit erinnern konnten, für die war es wirklich eine Befreiung. Aber die anderen … jene, deren Eltern bereits Sklaven waren, sie wußten nichts mit ihrer Freiheit zu beginnen. Ihr Dasein ist so sklavisch wie zuvor …«

Er nickte zustimmend. »Es liegt nicht an ihnen allein. Die myranischen Herrn sind gewohnt, Sklaven zu haben. Wie sollte da …«

Ein Pochen an der Tür unterbrach das Gespräch. Iwa kam herein und brachte den Mantel. Er war in dem düsteren Gemach kaum zu erkennen.

»Seid vorsichtig, Haleb«, warnte Iwa. »Ich hörte die Männer darüber reden, die ihn getragen hatten. Nicht nur das Fleisch, auch der Geist fühlt Schmerz …«

»Der Geist …?« »Totamas Augen sind voll der Dämonen, die er sah …« flüsterte

sie hastig. »Und geht nicht ohne Waffe durch diese Gänge. Viele Fremde sind im Palast. Nicht alle kommen, um zu freien. Manche kommen, um zu töten.«

Bevor Haleb erwidern konnte, hatte die Frau das Gemach verlassen. Kopfschüttelnd starrte er auf den Mantel. »Es ist wie zu Zogors Zeiten. Amyron liebt dieses Volk …«

»Amyron …?« »Der Totengott, Dajna.« Das Mädchen ging zur Tür und schob den Riegel vor. »Er wird

uns nicht im Schlaf finden«, erklärte sie. Als sie sich umwandte, war Haleb verschwunden. Einen Moment stand sie vor Entsetzen starr. Dann bemerkte sie einen Schatten in der Mitte des Raumes.

»Haleb …?« rief sie halblaut. »Keine Angst, ich bin hier«, erklärte er zu ihrer Erleichterung. »Ich

nehme an, daß mich der Mantel unsichtbar macht, wie auch den König damals.«

Sie starrte angestrengt. »Nicht ganz, Hal. Ich sehe einen Schatten. Spürst du etwas?«

»Noch nicht. Er ist so leicht wie ein Schleier …«

»Jetzt sehe ich dich deutlich«, rief Dajna. »Der Mantel schillert … rot, grün und blau … er verändert sich ständig …«

»Mir ist ein wenig seltsam«, murmelte Haleb. »Zieh ihn lieber aus«, meinte Dajna besorgt. »Nein. Es ist nicht unangenehm. Ich schätze, es beginnt erst. Ja …

ein Kribbeln … am ganzen Körper …« Es folgte ein Geräusch, als schnappte er nach Luft. »Ihr Götter! Es ist, als säße man in Nesseln. Nein, so vollkommen kann man gar nicht in Nesseln sitzen! Aaaahhh, Dajna, es ist unbeschreiblich …!«

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. Es war ein leises Scharren an der Tür, als ob sich jemand dagegenlehnte.

»Hal!« rief sie halblaut. Sie zog den Dolch aus dem Gürtel und schlich lautlos zur Tür.

Dort preßte sie das Ohr dagegen und lauschte. Sie vernahm Stimmen.

»… schlafen.« »… Weiter …« »… rasch handeln …« Es war nicht alles verständlich, aber es war alles andere denn

beruhigend. Es waren männliche Stimmen. Sie sprachen myranisch, aber der Dialekt war ihr fremd. Sie entfernten sich bereits, als Haleb zur Tür kam. Er hatte den Mantel abgelegt.

»Da waren Stimmen«, flüsterte er. Sie nickte. »Keine guten.« »Wieviele?« Sie schüttelte unsicher den Kopf. »Drei, aber ich kann mich irren.

Ihre Schritte waren nicht zu hören. Sie sprachen davon, daß sie rasch handeln wollten …«

»So müssen wir es auch«, entfuhr es Haleb. Er eilte zur Bank und nahm sein Schwert. Er löschte die Öllampe. Als er zur Tür kam, hatte Dajna bereits geöffnet und spähte vorsichtig den Korridor entlang. Er war leer.

Sie huschten hinaus. »Hier geht es zu den königlichen Gemächern, wenn ich es recht in Erinnerung habe.«

Sie folgten dem Korridor. Feiner Sand knirschte unter ihren Schritten. Dajna faßte ihn am Arm. »Laß uns die Schuhe ausziehen. Man hört uns von weitem.«

Er nickte. »Aber ich trenne mich nur ungern davon. Solches Schuhwerk versteht keiner in ganz Myra anzufertigen. Und dieses Diebsgesindel, das hier nachts herumschleicht …« Er brach ab, als er ihren Finger auf seinen Lippen spürte. Er küßte ihn, was sie mit einer zärtlichen Bewegung lohnte. Dann schlüpften sie aus den Schuhen und stellten sie in eine Nische. Es war bereits zu dunkel, um etwas zu erkennen. Nur durch die Fensteröffnung weit hinter ihnen fiel spärliches Mondlicht.

Als der Korridor nach rechts weiterführte, verschwand auch dieser Schimmer. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Haleb fluchte innerlich. Mit vorgestreckten Händen tastete er sich weiter. Es mochten etwa hundert Schritte bis zur Treppe sein, die in das nächste Stockwerk, und damit zu Amees Gemächern führte.

Auf halbem Weg stieß Halebs Fuß auf etwas am Boden, das klirrend zur Seite flog. Es mußte ein Schwert sein, und wenn es ein Schwert war, mochte auch ein Mann …

Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Eine Tür ging vor ihm auf, und greller Lichtschein von mehreren Fackeln blendete ihn. Dajna erging es nicht besser. Männer quollen hervor mit Dolchen und kurzen Klingen in den Fäusten. Eine Stimme gab ein scharfes, zischendes Kommando. Instinktiv stieß Haleb seine Begleiterin zur Seite und duckte sich. Es war nicht zu erkennen, wie viele es waren, ein Dutzend vielleicht, und sie bemühten sich, leise zu sein.

Im Gegensatz zu Haleb und Dajna. Haleb, der mit seinem Gebrüll den Zweck verfolgte, die Palastwachen herbeizurufen, fuhr wie ein leibhaftiger Dämon zwischen die erstarrten Angreifer, die eine leichte Beute erhofft hatten, eine noch dazu, die sie in aller Stille erledigen konnten. Und mit Dajna irrten sie sich ein zweites Mal. Mit dem Kriegsschrei der Katmahzari war sie wie ein Teufel mitten in den Angreifern. Drei der Angreifer fielen. Haleb durchbohrte einen vierten, der eben Dajnas Kehle umklammerte. Dann waren sie

durch, begleitet von Schmerzens- und Wutschreien der Überrumpelten.

»Bist du verletzt?« keuchte Haleb. »Nein, Hal. Du?« »Nein. Was tun wir?« Der Korridor endete vor der Treppe. Von unten kamen hastige

Schritte. »Der Lärm ist nicht unbemerkt geblieben«, bemerkte er zufrieden.

»Das müssen die Wachen sein.« »Ich fürchte, sie werden nicht mehr viel finden. Hast du jemanden

erkannt?« »Nein. Es ging alles zu schnell. Ich verstehe nicht, was sie wollten

…« »Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn uns die Palastwachen hier

finden«, meinte das Mädchen drängend, »mit den blutigen Waffen in der Hand und barfuß wie Diebe …«

»Das wird sich herausstellen«, erwiderte Haleb schulterzuckend. »Wir haben nicht viele Möglichkeiten, uns zu verkriechen. Entweder wir laufen zurück und den Schurken erneut in die Arme, oder wir laufen die Treppe hinab und den Wachen in die Arme. Was schlägst du vor?«

Sie zögerte einen Augenblick. »Ich laufe überhaupt nicht gern ohne Schuhe herum, und das mag uns den Rest der Nacht blühen, wenn uns die Wachen erst einmal haben …«

»Du meinst, sie werden uns in eine Zelle stecken und die Königin dieser kleinen Störung wegen heute abend nicht mehr belästigen?« Er grinste. »Warum stehen wir dann noch hier?«

Der erste Fackelschein kam von unten, und Stimmen näherten sich. »Ich möchte wissen, warum die sich so Zeit lassen«, brummte Haleb. »Warum sind überhaupt keine Wachen in den oberen Stockwerken …?«

So lautlos wie möglich liefen sie den Korridor zurück. Dort war alles dunkel. Die Angreifer schienen verschwunden. Haleb hielt Dajna zurück. »Sie haben sich aus dem Staub gemacht«, flüsterte er.

»Verdammt, wenn man hier etwas sehen könnte! Ob sie ihre Verwundeten mitgenommen haben …? Ziemlich sicher, wenn man ihnen nicht auf die Spur kommen soll …« Er brach abrupt ab, als sein Fuß gegen etwas Hartes am Boden stieß, das metallisch über den Boden scharrte. Mit einem halblauten Fluch bückte er sich. Gleichzeitig ging eine Tür zu seiner Linken auf, und Männer mit Fackeln und Schwertern strömten heraus.

Jemand rief in südlichem Dialekt: »Es sind die gleichen. Laßt sie nicht entwischen …!«

Haleb blieb keine Zeit, sich darüber zu ärgern, daß er zum zweitenmal in die gleiche Falle gegangen war. Er sah Dajna mit einem Schrei aus den Griffen zweier Männer brechen und den Gang entlanghetzen. Er hatte selbst alle Hände voll zu tun. Diesmal wirkte die Überraschung nicht so nachhaltig. Am Ende des Korridors kamen die Wachen mit Fackeln näher, aber das schien seine Gegner gar nicht zu kümmern. Einer nutzte sein Erstaunen und schlug ihm den Schwertgriff über den Schädel.

2.

Übelkeit weckte ihn. Er lag auf etwas, das sich schaukelnd bewegte. Ein Schiff? Nein, solch einen Sturm gab es nicht. Nach und nach wurden auch andere Sinne wach. Er vernahm Hufgeklapper. Auch unter sich.

Gleich darauf kam ihm seine mißliche Lage voll zu Bewußtsein. Er hing quer über einem Pferd, und seine Hände und Füße waren wie ein Sattel unter dem Bauch des Tieres verschnürt. Außerdem war er geknebelt, was ihn nicht nur am Rufen hinderte, sondern auch an dem dringlichen Wunsch, sich zu übergeben.

Einen weiteren Augenblick später wußte er, daß die Fesseln recht kunstvoll geschnürt waren – zu kunstvoll, und daß er den Knebel nicht ohne seine Hände aus dem Mund bekommen würde. Damit schob er die Fluchtgedanken erst einmal beiseite und versuchte sich zu orientieren.

Viel war in der Finsternis nicht zu sehen. Er sah einen Reiter vor sich, einen hinter sich, aber dem Geklapper nach zu schließen mußten es wenigstens ein halbes Dutzend sein. Sie befanden sich auch nicht mehr in der Stadt. Es gab keinerlei Lichter weit und breit. Lediglich die Sterne konnte er sehen, wenn er den Kopf weit genug drehte.

Das tat er jedoch nur einmal. Der stechende Schmerz im Hinterkopf ließ ihn unter dem Knebel aufstöhnen. Das blieb nicht unbemerkt. Der Reiter hinter ihm rief halblaut: »He! Der Siliker ist wach! Sagt es nach vorn!«

Er hörte, wie die Nachricht nach vorn wanderte, aber nichts weiter geschah.

Immerhin hatte er mit diesem kurzen Blick genug von den Sternen gesehen, um zu wissen, daß sie in südlicher Richtung ritten. Er mußte es später noch überprüfen, wenn dieser Schmerz nachgelassen hatte. Inzwischen sollte er über ein paar Dinge nachdenken.

Seine Entführer kannten ihn also. Sie wußten, daß er ein Siliker war. Ihr Dialekt deutete auf eine der südlichen Provinzen hin, aber auf welche?

Was war mit Dajna geschehen? War sie auch hier als Gefangene? Oder war ihr die Flucht geglückt? Oder hatten ihre beiden Verfolger sie erreicht und …

Entgegen seiner besseren Einsicht begann er, wieder an den Fesseln zu zerren.

Nach einer Weile gab er es erschöpft auf. So einfach es gewesen wäre, in der Dunkelheit zu verschwinden, so gründlich hatten sie vorgesorgt, daß dieser Fall nicht eintrat.

Vorsichtig begann er erneut den Himmel zu beobachten, und nach und nach wurde seine erste Erkenntnis bestätigt: sie ritten nach Süden.

Langsam wich die Übelkeit von ihm. Nur der pochende Kopfschmerz blieb. Sie ritten mehrere Stunden. Haleb hatte kein Zeitgefühl, außer daß es ihm endlos schien, aber der Mond ging auf und wanderte ein gutes Stück am Himmel hoch, bevor sie ein düsteres Gebäude erreichten, das ein Tempel sein mochte, oder einer der Wehrhöfe der Ziegenbauern, die in diesem Teil des Landes lebten. Es war in der Finsternis nicht zu erkennen. Einen Tagesritt südlich von Myra begann das Heggarengebiet, Rachmuds Herrschaftsgebiet. War der Daikan der Heggaren sein Entführer?

Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, zu grübeln. Er würde es früh genug erfahren. Das Gebäude schien jedenfalls für den Rest der Nacht als Quartier bestimmt. Sie ritten in einen gepflasterten Hof mit viel Geklapper und begannen abzusteigen. Jemand gab Befehle, und jemand anderer gab sie weiter. Das Haus war offenbar unbewohnt, denn niemand kam heraus, obwohl der Lärm, den die Ankömmlinge verursachten, unüberhörbar war.

Zwei Männer machten sich an Haleb zu schaffen. Doch zu seinem Bedauern lösten sie seine Fesseln nur so weit, daß sie ihn vom Pferd heben konnten. Auch sein Knebel blieb. Solcherart trugen sie ihn in einen der Ställe, in dem es penetrant nach Ziegen stank. Doch waren

keinerlei Tiere anwesend. Sie verknoteten den Siliker an einem der großen Balken und ließen ihn in der Finsternis zurück.

Fluchend starrte er hinter den beiden Männern her, die lachend nach draußen verschwanden. Dann zerrte er erneut an seinen Fesseln, bis er erkannte, daß es nur eine Vergeudung von Kraft war.

Wieder verging geraume Zeit.

*

Er nickte ein – und dies trotz der unbequemen Stellung. Was ihn weckte, waren die groben Hände dreier Männer, die ihn losbanden.

Sie nahmen ihn in ihre Mitte, ohne ihn loszulassen, und schoben ihn aus dem Stall, quer über den Hof und durch eine Tür in einen großen Raum. Ein großer Tisch war als Tafel gedeckt, und die Reste eines Mahles standen noch darauf. Auf Fellen um einen Kamin saßen ein Dutzend Männer, während andere mit sklavischer Ergebenheit Becher füllten und den Raum säuberten, oder einfach mit Fackeln in Händen dastanden.

Haleb zweifelte nicht, daß es Sklaven waren. Und es gab nur einen, der sich des Königs Verbot der Sklaverei mehr oder weniger offen zu widersetzen wagte – um so mehr, da dieser König nun verschollen schien.

Rachmud, der Daikan der Heggaren! Seine war eine der größeren Provinzen, dazu noch vor den Toren Myras, eine Position, die den Königshof wohl zu manchen Kompromissen verleitete, um so mehr als Rachmud es verstand, sich als treuer und pflichtbewußter Provinzstatthalter ins Licht zu setzen, bei dem man davor zurückscheute, ihm wegen innerer Angelegenheiten auf die Füße zu treten.

Haleb hatte sich nicht getäuscht. Rachmud saß bei den Männern am offenen Kamin. Er hatte ihn nur einmal gesehen während einer Versammlung zu Zogors Zeit, aber er erkannte ihn sofort wieder.

Er war ein großer, hagerer Mann mit dunklem, kaum schulterlangem Haar, einem vollen Bart und einem schmalen Mund,

der von Härte und Gnadenlosigkeit kündete. Sein Blick war stechend – durchdringend. Haleb fühlte unwillkürlich Schauder, als diese nun fast schwarzen, von einem fanatischen Feuer belebten Augen ihn maßen. Drei Dutzend Sommer mochte der Heggare alt sein, und zweifellos war er der älteste unter den anwesenden Männern. Sie alle musterten ihn mehr oder weniger grimmig, als ihn die Wachen auf die Gruppe am Kamin zuschoben.

Die Spur eines Grinsens war auf Rachmuds Gesicht, als er sagte: »Von allen, die ich heute gern in die Finger bekommen hätte, warst du der allerletzte, Haleb.«

»Was soll ich denn hier?« entgegnete der Siliker. »Wir wollten alle den Idioten bei Licht sehen, der zweimal in

dieselbe Falle rennt«, meinte einer der Männer, und die Runde lachte lauthals. Auf ein Zeichen Rachmuds allerdings schwiegen sie so abrupt, als wäre ihnen das Lachen im Hals steckengeblieben.

»Es ist in der Tat amüsant«, stellte er fest, »aber mir ist im Gegensatz zu diesen Tölpeln klar, daß du kein Dummkopf bist. Du wähntest lediglich, daß wir vor den heranrückenden Wachen die Flucht ergriffen hätten. Um die Neugier in deinen Augen zu befriedigen, will ich dir auch noch sagen, daß die Wachen unsere eigenen Männer waren. Die echten lagen seit geraumer Weile gut verschnürt in einer Kammer. Auch verspreche ich dir, daß meine Männer am Morgen für die Respektlosigkeit bestraft, werden, mit der sie dem Daikan der Siliker begegneten …«

Die Männer um ihn wurden merklich blaß, besonders jener, dem die Bemerkung mit dem Idioten entschlüpft war.

»Soviel kann ich dir zur Erhaltung deiner Ehre garantieren. Was allerdings die Erhaltung deines Lebens betrifft, so liegt das vollkommen in deiner Hand.« Das klang kalt und drohend, trotz, oder vielleicht gerade wegen der Beiläufigkeit, mit der er es sagte.

»Was willst du von mir?« fragte Haleb. Er hatte keine Furcht. Rachmud schien etwas von ihm zu wollen. Das verbesserte seine Lage wesentlich. Unaufgefordert und ohne um Erlaubnis zu fragen, setzte er sich und rieb seine leicht schmerzenden Handgelenke.

»Ich will den Mantel«, erklärte Rachmud unbewegt. »Du willst ihn stehlen?« entfuhr es Haleb. Rachmud lächelte. »Ich muß ihn für eine Nacht haben. Und du

wirst mir dazu verhelfen.« »Wie stellst du dir das vor?« begann Haleb. »Einfach genug, Siliker. Die kleine Wildkatze, die bei dir war, wird

ihn uns bringen …« »Ihr habt sie also nicht erwischt«, stellte Haleb mit Genugtuung

fest. Der Heggare nickte ungerührt. »Sie wird trotzdem tun, was ich

verlange. Es mag ihr nicht gefallen, mit den kleinen Stücken vorlieb zu nehmen, die ich ihr von dir senden werde. Ein Ohr vielleicht zu Beginn. Das ist noch kein großer Schaden und doch ein großer Anreiz, meinem Wunsche zu entsprechen. Was meinst du?«

Haleb gab keine Antwort. Er preßte nur die Lippen aufeinander, daß sie ein schmaler Strich waren. Nach einem Augenblick knurrte er: »Wie soll sie das bewerkstelligen?«

»Das ist ihre Sache. Sie wird ihn finden, oder …« »Finden?« fragte Haleb überrascht. »Ist er verloren …?« »Das nehme ich nicht an. Ich hoffe es um deinetwillen nicht. Wir

fanden ihn nicht, weder im Thronsaal, noch in den Gemächern der Königin, wo er üblicherweise aufbewahrt wird. Vielleicht befindet er sich wieder in der Schatzkammer. Es blieb uns nicht genug Zeit, es herauszufinden. Außerdem hatten wir dich, das vereinfachte alles. Das Risiko ist nun deines und das des Mädchens, nicht mehr unseres. Und nun gib mir etwas, das sie wiedererkennen wird.«

In Haleb jagten sich die Gedanken. Ihm war durchaus klar, daß es wenig nützte, sich zu widersetzen. Sie waren in der Lage, sich zu nehmen, was er nicht freiwillig gab. Vielleicht bot sich später ein Weg zur Flucht.

»Nimm mein Schwert«, sagte er deshalb. »Sie wird es erkennen.« Der Heggare nickte. Dann winkte er den drei Männern. »Ich sehe,

du bist vernünftig. Das ist gut. Bringt ihn nach oben und schließt ihn ein. Zwei stehen Wache. Eure Köpfe rollen, wenn er entkommt!«

Die Männer zerrten Haleb hoch und im Hintergrund des Raumes auf eine Treppe zu. Einen Augenblick lang erwog er, sich loszureißen und die Eingangstür zu erreichen zu versuchen, aber die Chance, daß er sie lebend erreichte, war zu gering. Selbst wenn er tot war, konnten sie Dajna Teile von ihm senden. Es war überhaupt fraglich, ob sie ihn am Leben lassen würden, nach allem, was er gesehen hatte und wußte. Aber ohne Waffen hatte eine Flucht keinen Sinn. Er konnte sich nicht einmal gegen die Gefahren der Wildnis zur Wehr setzen. Es gab Berglöwen und andere Raubkatzen in dieser Gegend.

Nein, es war besser, wenn er abwartete. Seine Chancen konnten sich nur verbessern.

Sie stießen ihn über eine schmale Treppe hoch und in einen kleinen Raum. Die Tür fiel hinter ihm zu, und ein Riegel wurde knirschend vorgeschoben. Stimmen waren noch kurz zu hören, dann wurde es still.

Der Raum besaß ein Fenster. Es war unvergittert, aber er sah gleich darauf, daß eine Flucht daraus nicht zu schaffen war. Die Mauer war glatt und fugenlos und machte ein Hinabklettern unmöglich. Ein Sturz aus dieser Höhe bedeutete den sicheren Tod.

Der Raum enthielt eine alte Truhe, eine Bank und einen kleinen Tisch. Er brachte eine Weile damit zu, die Truhe zu öffnen, doch gelang es ihm nicht. Schließlich streckte er sich auf der Bank aus, als er sich erinnerte, daß er in dieser Nacht noch kein Auge zugetan hatte.

Was wollte Rachmud mit dem Mantel? Die Frage beschäftigte ihn eine Weile, während die Müdigkeit ihn überschwemmte. Hatte auch der Heggare Ambitionen auf den myranischen Thron? Natürlich, warum nicht! Und er wollte offenbar klüger sein als die anderen und das Geheimnis herausfinden!

Wenn der Mantel sich nicht in ihren Gemächern befunden hätte, wäre er nun bereits in Rachmuds Händen.

Er fragte sich, was Dajna tun würde. Eines war jedenfalls sicher. Er grinste bei dem Gedanken. Rachmud unterschätzte sie bei weitem.

*

Er kam nicht zum Schlafen. Gerade als er resigniert am Einnicken war, vernahm er seltsame

Geräusche vor der Tür zu seiner Kammer. Er sprang auf und schlich zur Tür und preßte das Ohr dagegen. Irgend etwas ging draußen vor. Er hielt den Atem an. Jemand keuchte, stöhnte und war still. Eine Stimme flüsterte: »He, Kalwin, was war das?«

Das mußte einer seiner Wachen sein. Kalwin gab keine Antwort. »Kalwin!« rief der andere halblaut. Und einen Augenblick später:

»Großer …!« Ein dumpfer Schlag folgte, und der Gott, den der Posten anrufen

wollte, blieb ungenannt. Während er noch verwirrt dastand, mit dem Ohr am Holz, wurde

der Riegel hochgeschoben. Er wich zurück, als die Tür auf glitt. »Haleb?« flüsterte eine Stimme, die von allen am willkommensten

war. »Dajna!« entfuhr es ihm erleichtert. Er streckte die Arme nach ihr

aus und tastete in der Finsternis. Er vermochte sie nicht zu sehen, obwohl Mondlicht durch das Fenster kam und schwacher Fackelschein von außerhalb der Kammer.

»Hier bin ich«, seufzte sie und erschien wie durch Zauberei vor ihm. »Matra, keinen Augenblick länger hätte ich das Ding ertragen.«

Jetzt erst fiel ihm auf, daß sie etwas von den Schultern zog. Den Mantel! »Aber ohne ihn«, fuhr sie fort, »wäre es viel schwieriger gewesen

…« Sie lächelte und küßte ihn. »Verzeih mir, daß ich dich so lange schmachten lassen mußte, aber sie hatten überall Wachen, und vollkommen unsichtbar macht der Mantel nicht. Man muß wohl sein Geheimnis kennen, um ihn ertragen und benutzen zu können. Aber jetzt sollten wir uns beeilen. Bist du bereit?«

»Habe ich dir schon gesagt, daß ich dich bewundere«, flüsterte er. »Ich werde darauf zurückkommen, wenn wir erst wieder in Myra

sind, mein Liebster. Aber nun müssen wir uns beeilen. Du weißt, daß die Königin den Mantel braucht, bevor die Sonne aufgeht. Komm …«

Sie schlichen nach unten. Der Hof schien leer, aber Dajna hielt ihn zurück. »Gegenüber steht ein Wachtposten. Wenn er nicht schläft, hat er diesen Eingang genau im Auge. Einer von uns muß im Mantel hinaus und dafür sorgen, daß er schläft. Du, Hal. Denn mich bringen heute keine zehn Pferde mehr in diesen verfluchten Mantel.«

Er nickte und nahm den Mantel und den Dolch, den sie ihm reichte.

»Du mußt das Mondlicht vermeiden«, warnte sie. »Der Mantel beginnt manchmal zu schillern. Dann ist er deutlich zu erkennen. Aber im Schatten ist er kaum zu sehen. Gib acht … auf dich.«

Er drückte ihre Hand und verschwand nach draußen. Es war ein seltsames Gefühl, denn er kam sich nackt und schutzlos vor, während er die dunkleren Teile des Hofes entlangschlich. Aber niemand schien ihn zu bemerken.

Aus dem Hauptgebäude kamen grölende Stimmen. Rachmud und seine Kumpane waren offenbar noch am Zechen. Der Mond stand bereits ziemlich tief am Himmel. Mitternacht war längst vorbei.

Undeutlich sah er vor sich den Wachtposten. Er lehnte gegen einen Balken und bemühte sich wach zu bleiben, was ihm seinem Mienenspiel nach zu schließen, nicht leichtfiel. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, als daß er den Heranschleichenden bemerkt hätte – mit oder ohne Tarnmantel. Haleb ließ sich Zeit. Erst als er so nah war, daß der andere seine Anwesenheit instinktiv zu spüren begann, schlug er mit dem Dolchknauf zu. Lautlos ließ er die schlaffe Gestalt zu Boden gleiten.

Alles war ohne einen verräterischen Laut geschehen. Er war sehr zufrieden mit sich. Aber der Mantel fing an zu jucken und zu brennen. Hastig sah er sich um.

Wenn es weitere Wachtposten gab, wären sie sicher Dajna bereits aufgefallen. Er biß die Zähne zusammen. Der Mantel begann

verdammt ungemütlich zu werden. Sie mußten sich beeilen. Er lief zurück. Das Mädchen kam ihm erleichtert entgegen. »Zu

den Pferden! Die Ställe sind dort drüben. Ich werde zwei holen. Kümmere du dich um das Tor …«

Haleb schüttelte den Kopf. »Das ist zu riskant. Sie werden uns folgen, und sie kennen die Gegend besser. Wir müssen alle Pferde mitnehmen.«

Sie nickte. Er schlich zum Tor. Ein weiterer Wachtposten lehnte dort. Er war

wacher als sein Vorgänger, aber er bemerkte den heranschleichenden Siliker erst, als es bereits zu spät war -obwohl Haleb, der sich in dem Mantel bereits äußerst unbehaglich fühlte, keine besondere Vorsicht mehr walten ließ.

Er zerrte den Betäubten an die Mauer und öffnete das Tor weit. Das ging alles andere denn lautlos.

Die Zecher verstummten. Haleb lief zu den Ställen und zurück und erreichte sie, als die Tür

des Hauptgebäudes aufging und einige Männer ins Freie stürmten. »Dajna, rasch!« rief Haleb keuchend und riß die Stalltüren weit

auf. »Heeejjjaaaaahhh …! Vorwärts, ihr Biester!« rief das Mädchen,

und Haleb fiel mit anfeuernden Rufen ein. Die Pferde drängten sich einen Augenblick im Stalleingang – lange genug, daß die beiden aufsitzen konnten. Wiehernd galoppierten sie über den Hof, wo die überraschten Männer schlagartig nüchtern wurden. Aber sie kamen zu spät. Einer erreichte die Tiere und versuchte Dajna zu fassen, aber eines der nachfolgenden Pferde trampelte ihn zu Boden.

Dann waren sie durch das Tor und hatten Mühe, sich in der felsigen, zerklüfteten Umwelt zurechtzufinden. Die hastigen Blicke, die sie zurückwarfen, zeigten ihnen immer mehr zuckende Fackeln. Aber sie verschwanden bald außer Sicht.

Nach einer guten Reitstunde ließen sie die übrigen Pferde frei. Als sie Myra erreichten, war der erste Schimmer der Morgendämmerung am Himmel.

3.

Da sie nach dieser Flucht einen reichlich verwilderten Eindruck machten, zudem ohne Schuhwerk ritten und überhaupt seltsam gekleidet waren, zögerten die Palastwachen am Tor, sie einzulassen. Auch starrten sie verblüfft auf Halebs Pferd, das, wie sich bei Licht zeigte, einen kostbaren Sattel trug, der mit Wappen und Insignien Rachmuds verziert war. Er hatte in der Dunkelheit ausgerechnet das Pferd des Heggaren erwischt! Bevor die erstaunten Wachen, die das Pferd offensichtlich erkannten, eine Bemerkung machen konnten, gab er ihm einen kräftigen Schlag auf den Rücken, daß es wiehernd die Straße hinabjagte und in der Nacht verschwand.

»Nun, läßt du uns endlich ein?« knurrte Haleb. »Ich sagte dir bereits, daß uns die Königin erwartet.«

»Die erhabene Königin erwartet niemanden um diese nächtliche Zeit. Wenn Ihr der Probe beiwohnen wollt, müßt Ihr bei Sonnenaufgang wiederkommen. Vorher dürfen keine Neugierigen in den Palast.«

»Ohne uns wird es heute keine Probe geben«, erklärte Haleb geduldig. »Bist, du neu hier, daß du den Daikan der Siliker nicht kennst …?«

»Der wollt Ihr sein? Mir ist schon manche Anmaßung unterge …« Er brach ab und sah den Siliker genauer an. »Aber Ihr seht ihm ähnlich, und das sind die schlimmsten. Ihr rührt Euch nicht vom Fleck, bis ich vom Kommandanten Befehl erhalten habe, was mit Euch zu tun ist. Kowal!« Er winkte dem zweiten Posten zu, der in der Nähe des Tores stand und wartete, bis der heran war. »Paß auf die beiden auf. Der Kommandant soll das entscheiden …«

»Welche beiden?« brummte Kowal. »Oder meinst du das Pferd?« Der erste Posten fuhr herum. Auch Haleb sah sich überrascht um. Dajna war verschwunden. Sie mußte den Mantel umgelegt haben. »Wo ist das Mädchen?« entfuhr es dem Posten. »Welches Mädchen?« fragte Haleb und konnte sich ein Grinsen

nicht ganz verbeißen. Der Posten starrte ihn wütend an, »Wollt Ihr mich zum Narren

machen? Erst das Pferd … und nun das Mädchen …« »Pferd? Mädchen?« meinte Kowal. »Ist alles in Ordnung mit dir?« »Ach, halt den Mund!« rief der Posten wütend. »Ich werde …« Aber niemand sollte seine Absichten erfahren, denn in diesem

Moment kamen hastige Stimmen aus denn Palastinnern, und Fackellicht flammte da und dort auf. Dajna kam in Begleitung eines Mannes an die Tür, der mit erregter Stimme schnarrte: »Laßt ihn 'rein, ihr Narren!«

Haleb wartete nicht darauf, bis die verblüfften Posten sich besannen. »Kümmert euch um das Pferd«, brummte er und eilte auf Dajna zu.

»Der Kommandant ist bereits auf dem Weg nach oben. Die Wachablösung sollte erst jetzt am Morgen erfolgen. Sie wissen noch gar nichts. Sie haben nichts bemerkt.«

»Dann werden sie eine Überraschung erleben«, bemerkte Haleb. »Hast du jemandem gesagt, daß Rachmud hinter der ganzen Sache

steckt?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Gut. Außer der Königin und Partho braucht es vorerst niemand

zu wissen. Die Königin wäre sonst wohl gezwungen, gegen ihn vorzugehen. Das könnte in der augenblicklichen Lage unabschätzbare Folgen haben. Außerdem lassen wir so Rachmud im unklaren und finden so besser heraus, was er plant.«

Das Mädchen nickte. »Aber es ist nicht ungefährlich.« »Das ist es in keinem Fall.« Die Wachen kamen von oben und brachten ihre bewußtlosen

Kameraden, ein Dutzend an der Zahl. Sie lebten und waren unverletzt, und die Götter mochten wissen, wie es Rachmud und seinen Männern gelungen war, die Wachen so gründlich und nachhaltig außer Gefecht zu setzen. Sie waren jedenfalls nicht niedergeschlagen worden. Man versuchte sie zu sich zu bringen, indem man sie ins Gesicht schlug und mit kaltem Wasser übergoß.

Aber das brachte alles nicht die erwünschte Wirkung. Sie regten sich nicht. Der Kommandant sah bald ein, daß nichts weiter übrigblieb, als abzuwarten, bis sie von selbst aufwachten.

Partho war auch verständigt worden. Seine besorgte Miene erhellte sich, als Haleb ihm zu verstehen gab, daß alles geklärt sei. Er hielt den Wachkommandanten an, verstärkte Wachsamkeit walten zu lassen und vorerst Stillschweigen über die Vorkommnisse zu bewahren.

Haleb und Dajna berichteten Partho, was vorgefallen war. In der Zwischenzeit hatten die Wachen auch die Schuhe gefunden, worüber Haleb und Dajna sehr erleichtert waren.

Partho war sehr nachdenklich. »Ich dachte mir schon, daß es mit Rachmud noch Ärger geben würde«, stellte er fest. »Er war es, der im Konzil der Daikane am stärksten für dieses alte Gesetz eintrat, und der alle anderen wieder aufwiegelte, wenn sie sich besänftigen ließen. Er ist sehr oft hier und sieht sich die Proben genau an. Niemand weiß, was in seinem Schädel vorgeht. Er hat sich bisher nicht selbst für die Probe angemeldet, aber niemand hegt Zweifel daran, daß er es tun wird. Er ist auf den Thron scharf. Der Zwiespalt frißt ihn auf. Auf der einen Seite freut ihn jeder Mißerfolg der Daikane, auf der anderen fürchtet er nichts mehr, als daß es ihm ähnlich ergehen könnte. Spott ist etwas, das er am wenigsten verträgt. Daher will die Ratte ganz sichergehen. Wir müssen den Mantel gut bewachen. Es könnte wohl sein, daß er etwas herausfindet, das uns bisher entgangen ist. Es heißt, daß er sich nicht nur auf sein Schwert verläßt. Man flüstert von Vorgängen in seinem Schloß …«

»Zauberei?« fragte Haleb. Partho nickte. »Es scheint so. Wir dürfen ihn nicht unterschätzen.

Aber … ihr müßt verdammt müde sein nach dieser mißlichen Nacht. Schlaft bis zum Mittag. Talferas wird seine Probe bald beginnen. Er wird nicht vor dem Mittag aufgeben. Sein Stolz wird es nicht zulassen, daß er früher aufgibt als Totamas. Wenn Rachmud kommt, werde ich ihn im Auge behalten. Ich werde die Königin

unterrichten und dafür sorgen, daß Wachen den Korridor im Auge haben, in dem sich eure Gemächer befinden. Ich glaube nicht, daß er am Tage etwas wagen wird.«

*

Alpträume quälten Haleb, bis er gegen Mittag aufwachte. Auch Dajna wälzte sich unruhig neben ihm. Wie er spürte auch sie instinktiv, daß Gefahren bevorstanden.

Haleb warf einen Blick auf den Korridor und entdeckte vier Wachen. Er bat, daß man etwas zu essen brachte und daß man Partho von ihrem Erwachen verständige.

Kaum daß sie angekleidet waren, erschien Königin Amee selbst. Sie war sehr erleichtert, als sie sah, daß alles zum besten um die Freunde stand. Während sie aßen, erfuhren sie, was sich inzwischen zugetragen hatte.

Rachmud war nicht erschienen, um der Probe Talferas', des Daikans von Malot, beizuwohnen. Der Audienzsaal war voll von Neugierigen. Talferas' beißender Spott während der vorangegangenen Proben hatte Wut und Neugier bis zum Siedepunkt geschürt. Wenn einer das Maul so voll nahm, dann mußte er sich verdammt sicher fühlen. So war seit Tagen das gepflügelte Wort: Wenn einer es schafft, dann Talferas! Er wußte wohl auch, daß sie seiner am meisten spotten würden, wenn er versagte.

»Talferas' Probe erfüllt Euch mit Besorgnis, nicht wahr?« fragte Dajna.

Die Königin nickte zustimmend. »Er wird nicht aufgeben. Er weiß, daß es sein Ende ist, wenn er aufgibt. Bereits jetzt leidet er Höllenqualen. Es ist furchtbar. Manchmal bin ich nicht sicher, ob es recht war, diese Probe zu fordern. Sie ist grausam … nicht nur während dieser Qualen selbst, auch danach. Spott mag quälender sein für einen Mann als der Schmerz …«

»Niemand zwingt sie dazu«, widersprach Dajna.

»Niemand, und doch etwas – ihre Ehre. Nicht alle tun es, weil die Gier auf diesen Thron sie treibt. Es ist eine Herausforderung für jeden unverheirateten Fürsten. Manche kommen, weil sie mich begehren. Andere, weil sie sich in ihrer Ehre verpflichtet fühlen, diese Probe für mich, für ihre Königin, der sie ergeben sind, auf sich zu nehmen. Ihnen gilt meine Sympathie. Und die Niederlage, der verletzte Stolz mag manchen Freund in einen Feind verwandeln.« Sie schüttelte den Kopf nachdenklich und nagte an ihrer Unterlippe. »Totamas stand immer an meiner Seite, auch im Rat. Aber nun bin ich mir seiner nicht mehr so sicher. Etwas Fremdes ist in seinen Augen. Er spricht zu sich … von Bildern, die in seinem Geist sind. Einer, der seinen Worten lauschte, kam zu mir leichenblaß und berichtete mir davon. Er vermochte Totamas' Worte nicht zu wiederholen, aber sie hatten ihn mit großem Entsetzen erfüllt.«

»Es gibt überall furchtsame Narren«, meinte Haleb wegwerfend. »Ich hatte vor, mit Totamas zu sprechen. Ich werde es gleich tun, bevor Rachmud zuvorkommt …«

»Der sprach bereits mit ihm. Kurz nach der Probe. Sie saßen eine Weile beisammen, wie mir meine Männer berichteten, und Rachmud war es, der in der Hauptsache redete.«

»Das kann ich mir denken«, fluchte Haleb. Ein Bote brachte eine Nachricht, die die Königin erbleichen ließ. »Fürst Talferas tobt«, berichtete der Mann aufgeregt. »Er hat

einem Eurer Männer einen Schild entrissen und auf den Thronstuhl geschleudert. Ihr wäret jetzt tot, wenn Ihr dort gesessen hättet. Dank sei den Göttern, erhabene Königin …«

»Hat er den Mantel abgelegt?« fragte Haleb rasch. »Nein, Herr. Aber er wütet wie ein Berserker …!« »Diese Narren …«, murmelte Dajna. »So mutig und so dumm!

Aber ich wollte, es gäbe ein paar ihrer Sorte in Kathmahzar …« Haleb lächelte. »Du vergißt eines, mein Liebling«, sagte er. »Dort

ist nicht die Sorte von Frauen, für die sie so mutig und so dumm wären … Nicht mehr!« fügte er rasch hinzu.

*

Der Thronsaal bot das seit mehreren Monden gewohnte Bild. Aber für Haleb und Dajna war es neu. Ein Herold verkündete die Ankunft der Königin und der neuen Gäste. Die Anwesenden erhoben und verneigten sich. Partho kam der Königin entgegen.

»Ihr habt gehört, was geschehen ist?« fragte er. Sie nickte unmerklich. »Wollt Ihr, daß die Probe abgebrochen wird?« »Nein, Partho, es wäre nicht fair …« »Ach, fair oder nicht, es ist Euer Leben, das bedroht ist. Ich habe

Bogenschützen postiert. Sie werden schießen, wenn nur eine falsche Bewegung gegen den Thron geschieht. Und das werdet Ihr mir nicht ausreden!«

»Gut, Partho«, sagte sie zögernd. »Ich bin einverstanden.« Sie bot ihm den Arm, und er führte sie zum Thron. Alle nahmen wieder Platz.

Haleb betrachtete die Gestalt, die abseits saß – reglos und gut sichtbar, denn der Mantel hatte aufgehört, seinen Träger zu verbergen. Er hatte eine schwärzliche Färbung angenommen. Talferas' Gesicht war totenblaß, seine Augen geschlossen, sein Mund zusammengekniffen, seine Hände zu Fäusten verkrampft -als wollte er in sich nach Kraft suchen.

Dajna umklammerte schmerzhaft seinen Arm. Haleb wandte sich schaudernd ab. Er betrachtete die übrigen Anwesenden, die in ihren festlichen Gewändern an den Tafeln saßen, aßen und tranken und sich unterhielten, als wäre das nichts, das vor ihren Augen geschah. Haleb dachte daran, daß diese Proben seit mehreren Monden stattfanden und inzwischen wohl den Reiz der Neuheit verloren hatten. Bis auf die Augenblicke, da sie zu Ende ging. Und sicherlich war es nicht ohne Bedeutung, wer diese Probe länger ertrug. Er fragte sich, ob es nach all diesen Fehlschlägen noch Anwärter gab, die wirklich erhofften, oder glaubten, diese Probe bis zum Ende durchzustehen.

Er wandte sich an Dajna. »Sieh dich um und halte Ausschau nach Rachmud. Ich werde mit Totamas reden.«

»Ja, Hal. Wenn du siehst, daß ich mit der Hand an mein Ohr greife, dann habe ich eine Nachricht für dich.«

Er nickte unmerklich und steuerte auf eine der vordersten Tafeln zu, an der er den Iwarenkönig entdeckt hatte. Neben ihm saß Beomar, ein Enkel Totamas', den er bereits aus jungen Tagen kannte. Der Junge, er mochte an die achtzehn Sommer zählen, winkte Haleb erfreut zu – im Gegensatz zu Totamas, der ihm gleichgültig entgegenblickte.

»Die Götter müssen mit dir sein, Haleb«, rief der Junge mit erleichtertem Grinsen. »Du bist das erste freundliche Gesicht, das ich hier sehe …« Er machte auf der Bank Platz für den Siliker. »Ich bin froh, daß du hier bist. Es gab gestern bereits Gerüchte von deiner Ankunft, und daß du eine weite Reise hinter dir hast im Auftrag der Königin. War da nicht ein Mädchen an deiner Seite vorhin …? Setz dich. Mein Onkel erwacht zuweilen aus seinem Trübsinn, in den er seit gestern verfallen ist, weil er diesen Mantel nicht bis zum Schluß ertragen hat. Ich finde es ja gut, daß ihn nur der tragen kann, dem er gehört. Den gleichen Zauber könnte ich für mein neues Schwert gebrauchen, von dem meine Brüder nicht die Finger lassen wollen. Setz dich doch …«

Haleb lächelte. Er kannte den überschwenglichen Redefluß des Jungen. »Du hast recht, Beo, die Götter waren mit mir, und das war auch ein Mädchen an meiner Seite …«

Totamas sah auf und schien Haleb erst jetzt wahrzunehmen. Die Freude über das Wiedersehen war seiner Miene wohl abzulesen, aber es war, als wäre es unter einem Berg begraben.

»Haleb«, sagte er unsicher. Er wandte den Blick wieder Talferas zu, dessen nun verzerrtes Gesicht deutlich zu erkennen war. »Sieh ihn dir an«, murmelte Totamas. »Jetzt kommen die Bilder … sie werden ihn genauso fertig machen wie mich. Sie sind schlimmer als der Schmerz …«

»Bilder?« wiederholte Haleb.

»Ja, Haleb. Man merkt erst gar nicht, daß dieser Saal verschwunden ist. Nichts ist um einen. Gar nichts. Schwärze. Und man fällt. Man glaubt, man fällt in einen Abgrund ohne Ende. Und plötzlich steht man wieder hier zwischen diesen Gaffern, und alles dreht sich. Sieh, wie er wankt. Der Narr gibt nicht auf!«

»Ein Narr wie du, Totamas«, sagte Haleb grinsend, aber er war beeindruckt von den Worten des Iwaren.

Totamas hörte ihn gar nicht. Er hatte nur Augen für Talferas. Haleb sah sich um. Er bemerkte den schlohweißen Kopf Konglis, des Dainkans von Meynaral nicht weit vom Thron, und neben ihm den geschorenen Schädel Sungurs, des Ermunokers. Dajna vermochte er nicht zu entdekken. Besorgt wandte er sich an Beomar. »Ich brauche deine Hilfe, Beo.«

Der Junge sah ihn erstaunt an. Dann nickte er aufgeregt. »Du mußt vorsichtig sein. Es ist nicht ungefährlich.« Die Begeisterung des Jungen stieg. »Was ist es?« »Erinnerst du dich an das Mädchen, das bei mir war?« Beomir nickte. »Ich möchte, daß du sie findest und im Auge behältst …« Der Junge schien ein wenig enttäuscht. Rasch fuhr Haleb fort: »Ich

muß wissen, mit wem sie zusammen ist und wer sich in ihrer Nähe herumtreibt …«

»Oh, du bist eifersüchtig?« »Nein. Aber es könnte sein, daß man sie entführen will.« »Entführen?« entfuhr es dem Jungen. »Ist sie so wichtig? Wer ist

sie? Ich muß unbedingt etwas über sie wissen, wenn ich ihr auf den Fersen bleiben soll.«

»Aber sei vorsichtig, hörst du. Und tritt ihr nicht zu nahe. Sie hält nicht sehr viel von unseren Sitten. Sie ist eine Katmahzari …«

»Eine Amazone? Eine echte Amazone …?« Haleb nickte lächelnd. »Und noch etwas. Wenn sie mit der Hand

an ihr Ohr greift, dann bedeutet das etwas, das ich besser wissen sollte. Aber du riskierst nichts, was auch passiert, versprich mir das. Und du kommst sofort, wenn etwas geschieht, das dir seltsam

vorkommt.« Beomar nickte und war verschwunden. »Was hast du mit dem Jungen vor«, sagte Totamas unvermittelt. »Ich brauche seine Hilfe. Und ich brauche auch deine …« »Du hast etwas vor, und du bist voller Unruhe. Was hat es mit der

Katmahzari zu tun?« »Sie bedeutet mir sehr viel, und sie ist in Gefahr. Wir sind alle in

Gefahr. Auf welcher Seite stehst du?« »Es gab Zeiten, da warst du diplomatischer, Haleb …« »Wir sind Freunde, Totamas. Was sollte ich dir vorheucheln?« Totamas starrte ihn lange an. Schließlich sagte er müde: »Du hast

recht, Haleb. Diese Probe hat aus mir einen Greis gemacht. Nicht äußerlich, ich weiß, aber im Kopf ist mir, als hätte ich ein volles Leben hinter mir, und nicht nur eines. Mein Herz ist alt, Haleb, noch nicht gebrochen, aber steinalt. Und nun sehe ich an seinen Augen, wie es ihm geschieht.« Er deutete auf den noch immer reglos dasitzenden Talferas, an dem der Mantel wieder zu verschwimmen begann. Das Schwarz löste sich auf, wurde durchsichtig mit nichts dahinter – nur Leere. Auch Talferas selbst wurde wie eine Gestalt aus Nebel – dünner und dünner, bis nur noch die Augen brannten, als hingen sie wesenlos unter der schwachschillernden Kapuze.

Wimmern erfüllte plötzlich den Saal. Die kaum noch sichtbare Gestalt krümmte sich.

»Es sind wieder die Bilder. Wenn einer bis zum Mittag ausgehalten hat, spürt er kaum noch Schmerzen. Es sind nur die Bilder, die ihn verrückt machen. Und die Gedanken … fremde Gedanken, die sich einschleichen und flüstern, flüstern …« Er schüttelte sich. »Warum verlangt sie das nur?«

Haleb riß sich vom Anblick der gepeinigten Gestalt los. »Wer verlangt was?«

»Die Königin«, murmelte Totamas. »Warum fordert sie ihre Gefolgsleute zu solch einer Teufelsprobe heraus?«

»Das tut sie nicht«, erwiderte Haleb. »Nein?« meinte der Iware mit einem trockenen Lachen.

»Nein«, wiederholte Haleb fest. »Es ist nur Euer Stolz, der Euch das glauben läßt.«

»Meinst du?« widersprach Totamas. »Dann laß dir sagen, daß man als Feigling gilt, wenn man es nicht tut. Und die Königin müßte die Versicherungen meiner Treue in diesen unsicheren Tagen als puren Hohn empfinden, wenn ich nicht auch bereit gewesen wäre, für sie bei dieser Probe meine Kraft zu messen. Ich bin ohne Weib, und sie müßte glauben, ich verschmähte sie …«

»Denken alle so wie du?« fragte Haleb. »Das weiß ich nicht. Aber von vielen weiß ich es …« »Daß die Ehre sie treibt, und nicht die Gier auf den Thron, da der

König fort ist, und es ein leichtes Spiel scheint?« Er sah den Siliker an. »Es gibt auch solche, die den Thron haben

wollen um jeden Preis. Rachmud will ihn. Und Talferas und ein halbes Dutzend anderer …«

»Und dir und den anderen ist nie der Gedanke gekommen, daß diese Probe nur den Zweck hat, diese Thronhaie in ihre Schranken zu weisen?«

Totamas starrte ihn an. »Du denkst auch, daß der König wiederkommt?«

Haleb nickte. »Hatte deine Fahrt mit dem König zu tun?« »Ja.« »Hast du ihn gesehen?« Halelb schüttelte den Kopf. »Wir fanden seine Spuren, und wir

fanden alle Zeichen der Seherin bestätigt. Alle ihre Worte stimmten. Und sie sagte auch: Der König lebt!«

Der Iware schwieg. Schließlich sagte er: »Es ist dieses alte Gesetz …«

»Das Rachmud gerade rechtkam. Und ihr hattet nichts Besseres zu tun, als ihn zu unterstützen …«

»Wir unterstützten ihn nicht. Aber die Mehrheit war für dieses alte Gesetz …«

»Ein altes Gesetz! Seit drei Sommern ist dies ein neues Myranien

mit vielen neuen Gesetzen. Warum weigertet ihr euch nicht, es anzuerkennen? Wollt ihr wahrhaftig, daß einer wie Rachmud König über Myranien wird? Zogors Zeiten wären rasch wieder da, und alle Tyrannei hätte einen neuen Beginn.«

Totamas gab keine Antwort. Er starrte auch nicht mehr auf die sich windende Gestalt in der Mitte des Saales. Er saß versunken da. Haleb störte ihn nicht. Er sah wieder zu den Tauruniern, die ihn noch nicht entdeckt hatten. Er bemerkte Dajna nicht weit von ihnen und atmete auf. Sie sah nicht zu ihm her. Sie schien eine Tür zu beobachten. Keine zehn Schritte von ihr entfernt entdeckte er den Jungen, der kein Auge von Dajna ließ.

»Nun, wie ist es?« begann Haleb schließlich. »Warten wir, bis die Welt über uns zusammenstürzt, oder unternehmen wir etwas?«

Totamas nickte langsam. »Du warst schon immer ein Träumer, Haleb. Aber ob der König nun lebt oder nicht – ich wäre nie Rachmuds Vasall. Es ist an der Zeit, einige Gespräche zu führen.« Er erhob sich und winkte Haleb beruhigend zu.

Der Siliker starrte ihm befriedigt nach, wie er sich an die nächste Tafel begab und dort auf den Daikan der tarkanischen Stämme einredete.

Er erhob sich und begab sich zu Sungur und Kongli, die ihn lautstark begrüßten. Auch Dajnas Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tafel. Haleb winkte ihr zu, und sie kam an den Tisch. Haleb stellte sie den beiden Fürsten der verbündeten taurunischen Stämme vor, und die erkannten das Mädchen augenblicklich wieder.

»Ist das nicht die kleine Sklavin, die vor Zogars Augen um unseren Tisch tanzte, als …« Er brach ab, und seine Miene verdüsterte sich. Sie dachten mit Grimm an diesen Tag, da zwei von Halebs treuesten Gefolgsleuten durch die kalte Willkür des Königs in diesem Saal einen grausamen Tod gefunden hatten.

»Ja«, sagte Haleb. »Sie ist es. Und sie rettete mich damals aus dem Kerker des Königs.«

Talferas' Schreie unterbrachen ihr Gespräch. Sie blickten gebannt auf den Mantel, dessen Äußeres schillerte und zu zerfließen schien.

Nach einer Weile beruhigte sich Talferas wieder und saß still auf seinem Stuhl.

Dajna zog Haleb zur Seite. »Ich werde beobachtet.« »Von wem?« »Ein Junge«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, was er will, aber er ist

beharrlich. Zweimal versuchte ich ihm zu entwischen, ohne Erfolg. Und einmal versuchte ich mit ihm zu reden – auch ohne Erfolg. Er beginnt mich zu beunruhigen …«

Haleb grinste. »Der dort?« Er deutete auf Beornar, der scheinbar unbeteiligt in einiger Entfernung stand.

»Ja, der. Warum lachst du?« »Ich ahnte nicht, daß der Bursche so gut ist. Dem habe ich

befohlen, ein Auge auf dich zu haben …« »Du?« Sie sah ihn erstaunt an. »Oh, nur damit ich weiß, für welche Männer du dich interessierst,

wo du schon einmal auf den Geschmack gekommen bist«, erwiderte er grinsend.

Sie lächelte. »Dann wird dieser Bericht sehr dürftig ausfallen«, meinte sie bedauernd. »Ich habe nämlich immer nur einen angeblickt,«

»Das ist am schlimmsten, mein Liebling. Wer ist es? Gestehe!« »Jener athlethisch gebaute Halbgott nahe der Tür.« Haleb sah sich unauffällig um. »Am Eingang steht niemand außer

den Wachen«, stellte er fest. »Nicht der Eingang. Die kleine Tür links hinter dem Thron. Der

Mann steht nun fast davor.« Haleb sah sich den Genannten an und schüttelte den Kopf. Dort

stand ein schmächtiger, krummbeiniger Bursche. »Wenn du den meinst, den ich sehe, dann mögen seine krummen Beine von der Last seines schlechten Gewissens herrühren, aber Muskeln hat er nie besessen. Was ist mit ihm?«

Dajna vermochte ihr Lachen nur mühsam zu verbeißen. Schließlich sagte sie: »Seit wir hier sind, treibt er sich in der Nähe dieser Tür herum – als warte er auf etwas.«

»Wohin führt diese Tür?« »Auf einen Korridor. Aber sie ist verschlossen. Ich hatte noch

keine Gelegenheit, Partho zu befragen. Rechts neben dem Thron befindet sich eine weitere Tür mit dem Ratssaal und einem kleinen Audienzraum dahinter. Da geht die Königin manchmal hinaus. Es stehen Wachtposten davor. Was tun wir?«

»Abwarten und den Mann im Auge behalten. Ich werde Parthos Aufmerksamkeit ebenfalls auf ihn lenken.«

*

Bis zum späten Nachmittag geschah jedoch nichts, so daß sowohl Dajna als auch Haleb und Partho zu der Überzeugung kamen, daß man wohl übervorsichtig war. Zudem stellte sich heraus, daß er zur Gefolgschaft Talferas' gehörte.

Talferas gab nicht auf. Der Sonnenstand zeigte, daß er den Mantel bereits länger als Totamas ertrug.

Die Königin saß blaß auf ihrem Thron und ließ kein Auge von ihm. Ihrer Miene war nicht zu entnehmen, was sie dachte – aber in ihr mußte alles kalt sein, den um die Stuhllehnen verkrampften Händen und der Blässe ihres Gesichtes nach zu schließen.

Besonders Wagemutige schlossen die ersten Wetten ab. Es sah so aus, als gäbe es für Talferas tatsächlich eine Chance, daß er durchhielt. Anfeuernde Zurufe wurden laut.

Als wäre das Schlimmste vorbei, wurde Talferas immer ruhiger. Auch der Mantel, der während des ganzen Tages ohne Unterlaß Farbe und Sichtbarkeit ständig gewandelt hatte, wurde träger. Er hörte auf zu schillern, wurde fast farblos, daß man ihn in der dämmrigen Halle kaum erkennen konnte, und veränderte sich nicht mehr erkennbar.

In sich versunken und reglos, als hätte er damit eine Abwehr gegen die Dämonen des Mantels gefunden, saß er, bis die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Die Anwesenden starrten atemlos vom Fenster zu Talferas und wieder zum Fenster zurück.

»Die Sonne!« rief einer. »Sie ist untergegangen!« »Talferas hat es geschafft!« Keiner hatte Augen für die Königin, die schluchzend auf dem

Thron zusammensank. Die Wachen hielten die Heranstürmenden zurück. Einer forderte Talferas auf, den Mantel abzulegen. Die Probe sei vor aller Augen bestanden!

Aber Talferas regte sich nicht. Zwei Wachen machten sich daran, ihm den Mantel abzunehmen.

Seine Gestalt wurde sichtbar. Sie sank haltlos zusammen. Ein Raunen ging durch die Anwesenden.

Erst als sie ihn hochhoben, und einer ihm mit einer Fackel ins Gesicht leuchtete, sahen sie, daß seine Augen gebrochen waren. Und sie spürten, daß er kalt war. Er mochte bereits seit Stunden tot sein.

Sie legten ihn auf den Boden und den Mantel neben ihn. Einer der Wächter trat vor den Thron, auf dem Amee noch immer versunken saß. Sie hatte noch nicht erkannt, was geschehen war.

»Erhabene Königin, Talferas, Fürst von Malot, Daikan des myranischen Reiches, ist tot.«

Einen Augenblick herrschte lähmendes Schweigen. Dann brach ein Sturm von aufgeregten Stimmen los. Partho drängte sich durch die Wachen, um den Toten zu untersuchen. Vier Maloter Gefolgsleute ließen sich nicht abweisen. Mit grimmigen Gesichtern ließen sie sich um ihren toten Fürsten nieder. Ein fünfter gesellte sich dazu. Haleb sah, daß es der Mann war, den Dajna an der Tür beobachtet hatte. Er hatte offenbar andere Absichten, als um seinen Herrn zu trauern. Er bückte sich und nahm den Mantel auf. Von den Umstehenden machte keiner Anstalten, ihn aufzuhalten. Allen stak zu sehr das Entsetzen in den Gliedern. Der Mantel schien keinem wichtig.

»Partho!« rief Haleb, aber der Lärm schluckte seinen Ruf. Während der Mann sich mit seiner Beute durch die

dichtgedrängten Männer und Frauen davonmachte, erreichte Haleb die beiden Wachtposten vor dem Thron, die ihren Platz nicht verlassen hatten. Er deutete auf den Fliehenden. »Rasch, haltet ihn

auf. Er hat den Mantel!« Sie eilten hinter ihm her. Es sah aus, als würden sie die Tür vor

ihm erreichen. Auch die anderen schienen nun aufmerksam zu werden, unter anderem die Bogenschützen, die Partho postiert hatte.

Ein Pfeil ragte plötzlich aus dem Arm des Fliehenden, ein zweiter aus der Brust, der tief im Herzen stecken mußte. Dennoch stieß der Mann weder einen Schrei aus, noch brach er zusammen. Ohne sich um die tödliche Wunde zu kümmern, eilte er in großen Sprüngen auf die Tür zu. Der erste der Thronwächter stellte sich ihm in den Weg und rammte ihm das Schwert bis zur Parierstange in den Leib. Beide taumelten unter der Wucht des Stoßes.

Dann geschahen zwei Dinge, die den Zuschauern Entsetzensschreie entlockten. Selbst Haleb fühlte eine Kälte seinen Rücken hinabkriechen. Er hatte Ähnliches schon einmal in diesem Palast erlebt.

Der Durchbohrte riß sich mit einem Ruck los von dem entsetzten Wachtposten. Der zweite Thronwächter verhielt mitten im Schritt, als er sah, wie sich der Mann das Schwert aus dem Leib riß und es zur Seite schleuderte. Es geschah mit gespenstischer Lautlosigkeit. Und die erstarrte Menge sah, daß kein Tropfen Blut aus den gräßlichen Wunden floß!

Der Mann schien sich der Starre der Zuschauer bewußt. Er hatte es plötzlich nicht mehr so eilig. Er schien die Furcht zu genießen, die er verbreitete. Seine Bewegungen waren ein wenig eckig, als er sich herumdrehte und allen zugrinste. Er verbeugte sich spöttisch.

Dann lief er auf die Tür zu – und durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht vorhanden.

Einen Atemzug lang hielt diese Starre nach seinem Verschwinden noch an, dann kam Bewegung in den Saal. Partho überbrüllte das Stimmengewirr und hetzte die Palastwachen hinter dem Fliehenden her.

Auch von Haleb fiel die Lähmung ab. Feuer! durchzuckte es ihn. Das hatte auch damals geholfen, als sie tief unten in den Gewölben

der Kerker Zamoc, den Magier bekämpften. Auch er hatte nicht geblutet. Auch ihm hatte ein Schwert nichts anzuhaben vermocht. Aber dem Feuer hatte dieses leblose Fleisch nicht widerstanden.

»Feuer!« brüllte er Partho zu. »Nehmt Fackeln. Sie sind die einzigen Waffen …!«

Aber es währte eine Weile, bis die schwere Tür geöffnet war. Dazu mußte erst der Schlüssel geholt werden. Danach war von dem Fliehenden keine Spur mehr zu entdecken. Der Korridor führte zu einem Nebenausgang des Palasts. Zwar standen dort auch Wachen, doch hatten diese nichts bemerkt.

Der Fliehende hatte wohl den Tarnmantel angezogen und war so unbemerkt an den Wachen vorbeigekommen. Nach allem, was sie später darüber hörten, dankten sie wohl den Göttern, daß sie ihn nicht bemerkt hatten.

Haleb hegte keine Zweifel darüber, wo der Mantel zu finden sein würde. Daß Zauberei im Spiel war, bestärkte ihn nur in seiner Vermutung. Flüsterten die Menschen nicht davon, daß Rachmud in seiner Burg unheiligen Beschwörungen nachging …?

4.

Die Gruppe, die kurz nach Sonnenuntergang den Palast verließ, bestand aus sechs Reitern – El Haleb, Dajna, Totamas und Piran, ein Stammesführer der Iwaren, und zwei Häuptlinge aus Malot, Tarl und Aslaf, die herausfinden wollten, was mit ihrem Bruder Meras geschehen war. Meras war es gewesen, der den Mantel gestohlen hatte. Aber nicht allein das gab ihnen Rätsel auf, mehr noch die gespenstische Art, mit der es geschehen war.

Unter Halebs Führung ritten sie nach Süden. Dajnas starkem Orientierungssinn verdankten sie es, daß sie trotz der Dunkelheit das Gebäude fanden, in dem Haleb in der Nacht zuvor von Rachmud gefangengehalten worden war.

Aber der einsame Hof war leer. Rachmud hatte ihn wohl nur als vorübergehenden Unterschlupf gewählt, weil er nah an Myra lag. Aber nun, da Haleb das Versteck kannte, war es für ihn nutzlos geworden.

Nach einem kurzen Aufenthalt ritten sie weiter nach Südosten, bis sie die Straße nach Reghar erreichten. Dieser folgten sie ohne Rast, bis sie in der Morgendämmerung die Mauern Reghars vor sich sahen, der Hauptstadt von Rachmuds Daikanat, das sich nach Süden weit über den Amyr erstreckte.

Sie weckten einen Stallvermieter, der mit verschlafenem Gesicht alle ihre Wünsche erfüllte, als er die Geldstücke klimpern hörte. Da es für eine unbemerkte Annäherung an Rachmuds düstere Festung im Westen der Stadt bereits zu hell war, beschlossen sie, die Straße nach Myra zu bewachen, da es immerhin möglich war, daß Rachmud früher handelte als erwartet. Der unsichere Punkt in den Überlegungen war die Zeit, die Meras gebraucht hatte, um den Mantel zu Rachmud zu bringen. Es war Zauberei im Spiel. Meras, der im Saal kaum noch Menschliches an sich gehabt hatte, mochte mit der Geschwindigkeit eines Dämons zur Burg seines Herrn geflogen sein. Andererseits mochten sie auch alle nur einer

Massengaukelei zum Opfer gefallen sein, und Meras, wohl in Rachmuds Gewalt aber durchaus menschlich, war wie sie die halbe Nacht geritten, um Reghar zu erreichen. Es war besser, kein Risiko einzugehen. Rachmud war jeder Teufelei fähig.

Vom Besitzer der Ställe und Herberge erfuhren sie, daß es noch eine zweite Straße nach Norden gab, die wenig benutzt war und vom Schloß im Westen einen weiten Bogen nach Norden schlug.

So entschied Haleb, daß sie sich trennten. Totamas, Piran und Aslaf sollten in der Herberge bleiben und die Straße im Auge behalten. Wenn etwas Ungewöhnliches geschah, sollten sie versuchen, die andere Gruppe zu benachrichtigen und gleichzeitig einen Boten an Partho nach Myra zu senden.

Haleb, Dajna und Tarl machten sich mit frischen Pferden auf den Weg, die zweite Straße zu finden und sich an das Schloß heranzupirschen. Dabei mußten sie die Stadt in großem Bogen umreiten. Sie waren bis tief in den Vormittag unterwegs, bis sie schließlich die wenig befahrene und kaum erkennbare Straße fanden. Das Gebiet war sehr felsig und uneben, daß sie wenig Übersicht hatten, deshalb ritten sie in großen Abständen mit Tarl als Vorhut, denn ihn würden mögliche Späher Rachmuds nicht erkennen, während ihnen Halebs Gesicht und auch das Dajnas mit großer Wahrscheinlichkeit vertraut war.

Die Stadt lag hinter felsigen Hügeln verborgen, so daß sie sie erst sahen, als sie bereits ziemlich nah heran waren. Das Schloß hingegen mit seinen vier spitzen Türmen und den selbst im Sonnenlicht düster wirkenden Mauern blieb den ganzen Ritt über in ihrem Blickfeld. Das mochte bedeuten, daß ein Späher im Turm, wenn er gute Augen besaß, auch sie längst entdeckt haben mußte. An einem geschützten Platz, von dem aus sie das restliche Stück der Straße bis zum Fuß des Schloßbergs gut übersehen konnten, lagerten sie. Sie wachten abwechselnd und konnten so ein wenig des versäumten Schlafes nachholen.

Der Mittag und der halbe Nachmittag verflossen, ohne daß sich etwas ereignete. Auch von Totamas' Gruppe kam keine Nachricht.

Haleb wurde unruhig. Aber er zwang sich zur Geduld. Was ihn am meisten beunruhigte, war die Tatsache, daß er nicht wußte, worauf er eigentlich wartete. Oder daß er sich geirrt hatte und Rachmud einen zweiten Unterschlupf in der Nähe Myras besaß. Lediglich daß Zauberei im Spiel war, schien ihm darauf hinzudeuten, daß sich Rachmud in seinen Bau zurückgezogen hatte.

Als die Dämmerung hereinbrach, flammten auf der Festung flackernde Lichter auf, die meisten auf dem Westturm.

»Es sieht aus, als ob er hier wäre«, meinte Tarl. »Keine raschen Schlüsse«, erwiderte Haleb. »Selbst wenn er nicht

da ist, wohnen Leute im Schloß. Aber wir werden es feststellen, sobald es dunkel genug ist, daß wir unbemerkt herankommen.«

Während sie warteten, wurde ein Teil der Stadt heller von unzähligen Fackeln und Lampen. Aber auf der Festung selbst änderte sich nicht viel. Vereinzelte winzige Lichter taten kund, daß sich gelegentlich eine einsame Gestalt über die Zinnen bewegte, doch davon abgesehen blieben die Lichter auf den Westturm und die unmittelbaren Räume beschränkt. Der Rest der Festung lag schwarz unter dem Abendhimmel.

Haleb schickte Tarl los, um Totamas die Nachricht zu bringen, daß er mit Dajna versuchen wollte, in das Schloß zu gelangen. Wenn sie bis zum Morgengrauen nicht zurück wären, läge es in seiner Hand, Partho und die Königin zu unterrichten.

*

Als Tarl in der Nacht verschwunden war, saßen auch Haleb und Dajna auf und ritten auf die Festung zu. In der Finsternis war der Weg kaum zu erkennen. Lediglich das schwarze Felsmassiv, auf dem das Schloß stand, wies ihnen den Weg, und die Lichter weit oben. Sie ließen die Pferde zurück und schlichen das letzte Stück zu Fuß. Nichts regte sich, und ihre Schritte, ihr Keuchen und das gelegentliche Poltern der Steine unter ihren Schuhen schienen ihnen verräterisch laut. Das Licht der Sterne war spärlich genug. Über den

westlichen Teil des Himmels zogen Wolken. Bis zum Aufgehen des Mondes war noch viel Zeit. Die Luft roch salzig. Es würde Sturm geben, vom Meer her.

Das Gelände begann unvermittelt anzusteigen. Der erste dichtbewachsene Steilhang lag vor ihnen. Sie schlichen daran entlang. Wenn es hier eine Straße gab, auch wenn sie spärlich benützt war, dann mußte es auch irgendeinen Eingang geben. Ein Tor.

Obwohl sie alles genau absuchten, so gut es in der Dunkelheit möglich war, hatten sie den Eingang bereits passiert, als sie mit der Nase darauf gestoßen wurden.

Sie vernahmen plötzlich Stimmen, erst dumpf und fern, aber gleich darauf deutlich und aus nächster Nähe. Während sie zusammengekauert und mit angehaltenem Atem lauschten, kam ein halbes Dutzend Männer direkt aus dem Hang hinter ihnen. Sie hatten drei Pferde bei sich. Zwei Männer stiegen auf und nahmen das dritte am Zügel.

»Reitet so schnell ihr könnt«, sagte einer. »Dann könnt ihr im Morgengrauen wieder da sein. Es gibt noch Arbeit.«

»Sicher«, brummte einer der Reiter. »Ihr wißt ja, was ihr zu tun habt.« »Ja, ja …« Die Pferde tänzelten unruhig. »Ich wollte, ich könnte mit. Er ist heute wieder im Turm. Da geht

alles nicht mit rechten Dingen zu …« »Wir haben's auch nicht besser. Da kommt ein Gewitter.

Vorwärts!« Die Reiter verschwanden mit lautem Hufschlag in der Finsternis.

Die Männer starrten ihnen noch einen Augenblick nach, dann verschwanden sie im Hang.

»Es muß eine Höhle sein«, flüsterte Dajna. Haleb nickte. Sie kletterten vorsichtig auf die Stelle zu, wo sie die

Männer gesehen hatten. Innerlich fluchend hielt Haleb inne, als sich Steine unter seinen Schuhen lösten und ein Stück nach unten rollten.

Die beiden hielten den Atem an.

Auch die Männer hatten das Geräusch gehört. Einer erschien wieder aus einem Felsspalt, so nah, daß er Haleb fast berührte. Haleb nützte den Moment. Er legte ihm die Hand um den Mund und riß ihn mit einem Ruck nach hinten, daß er mit Kopf und Schultern gegen den Fels prallte. Betäubt glitt er ein Stück nach unten und lag still.

Aber das Geräusch war nicht unbemerkt geblieben. »Helar?« kam eine Stimme aus dem Fels. Haleb murmelte etwas mit verstellter Stimme, undeutlich genug,

daß der andere zu wenig verstand, um Verdacht zu schöpfen. »Was sagst du? Komm schon endlich …!« Haleb murmelte erneut. Es war ein gefährlicher Augenblick, wenn

er in die Höhle stieg, denn gegen den helleren Himmel konnten sie seine Umrisse gut genug sehen. Aber die Chance war zu verlockend, um sie nicht zu nützen. Und Ärger gab es ohnehin bereits, denn die beiden würden nicht ohne ihren Freund hineingehen. Hastig bedeutete er Dajna, den Bewußtlosen zu fesseln. Dann stieg er vorsichtig nach innen. Dabei zog er seinen Dolch aus dem Gürtel.

»Na, endlich, Helar«, brummte die Stimme zufrieden. Haleb erreichte ebenen Grund, Undeutlich sah er die beiden

Männer vor sich. Sie hatten ihm bereits den Rücken zugewandt und schritten ins Innere. Nach etwa zwanzig Schritten tauchte ein Lichtschimmer vor ihnen auf, schwach, aber deutlich erkennbar durch den Spalt einer eisernen Tür.

Jetzt galt es zu handeln. Im Licht würden sie sofort erkennen, daß es nicht Helar war, der hinter ihnen her kam. Mit einem raschen Schritt erreichte er seinen Vordermann, schlug ihn von hinten nieder und fing ihn, bevor er fallen konnte. Es war nicht ohne ein leichtes Stöhnen abgegangen. Der vorderste drehte sich um, gerade als Haleb den schlaffen Körper hochhob.

»Was ist …?« »Halt ihn!« schnappte Haleb und stieß ihm den Bewußtlosen in

die Arme. Verblüfft fing der Mann ihn. Den Augenblick nützte Haleb, um

ihm das Messer an die Kehle zu setzen. Er mußte es mehr spüren, als er es sah, und er erstarrte sofort.

»Wenn du schreist oder andere Dummheiten versuchst, bleiben sie dir im Hals stecken!«

»Ja, Herr!« erwiderte der andere mühsam. »Sind noch Wachen da drinnen?« »N-nein.« »Sei gewarnt, Freund. Wenn sie da sind, können sie dich begraben

…« »J-ja … Herr …« »Dann geh voran.« Vorsichtig drehte sich der Mann um. Haleb tastete an seinen

Gürtel und nahm ihm einen Dolch ab. Sonst schien der Mann unbewaffnet. Mit dem Messer an der Kehle schob er ihn vorwärts. Sie erreichten die Tür und stiegen in einen Korridor. Fackellicht kam aus einem Raum nicht weit vor ihnen. Vorsichtig schob er den Mann darauf zu. Die Kammer erwies sich als leer. Mehrere Fackeln brannten, mit denen die Männer vermutlich hier herabgekommen waren.

Er stieß ihn hinein. »Nimm den Gürtel ab!« Zögernd kam der Mann dem Befehl nach. »Wer seid Ihr?« »Neugier bringt nur Ärger. Beeil dich. Meine Geduld ist nicht

unerschöpflich.« »Ja, Herr … aber ich werde meine Beinkleider verlieren ohne den

Gürtel …« »Um so besser«, stellte Haleb fest. »Grund genug, eine Weile hier

unten zubleiben.« Er fesselte ihm die Hände und knebelte ihn mit einem Teil seines

Wamses. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Doch es war nur Dajna mit

einem Bewußtlosen. »Der dritte?« »Der ist noch draußen.« Als beide verschnürt waren, begaben sie sich noch einmal nach

draußen, um den letzten zu holen. Dann verriegelten sie die Tür. »Lassen wir sie hier?« fragte Dajna. Haleb nickte. »Das verschafft uns Vorsprung genug.« Er wandte

sich an den wachen Gefangenen und schob ihm den Knebel zur Seite. »Wo ist der Aufgang zu den Räumen des Fürsten?« Erst der blanke Dolch machte den Mann gesprächig. Er beschrieb den Weg. Es schien eine recht verwirrende Anordnung von Korridoren.

Dajna schüttelte den Kopf. »Warum nehmen wir ihn nicht mit?« »Ja, das wird das beste sein«, stimmte Haleb zu. Er löste die

Fußfesseln des Mannes. Dann nahmen sie jeder eine Fackel und löschten die übrigen.

Sie schoben den Gefangenen vor sich her. Eine Falle brauchten sie vorerst nicht zu befürchten, aber Haleb ließ ihren Führer nicht im Zweifel, daß er als erster sterben würde, wenn er krumme Absichten hegte.

Korridor und Stiegen waren feucht und roh behauen. Dies war noch nicht die Festung, dies war noch der Berg. An manchen Wänden floß Wasser abwärts. Doch schließlich erreichten sie einen Korridor, dessen quaderförmige, glattbehauene Steine zeigten, daß sie nunmehr das Schloß selbst betreten hatten.

Niemand begegnete ihnen. »Ich glaube, daß wir den weiteren Weg besser allein suchen, Hal.« »Du hast recht. Wir werden unseren Freund hier irgendwo

abstellen.« Der Mann sah die beiden ängstlich an. Haleb sah sich um und

entdeckte eine Tür schräg gegenüber. Sie war nicht verschlossen. Der kleine Raum enthielt nicht viel – einige Fackeln, Feuerstein, eine Schüssel mit einem Rest von Wasser, offenbar zum Löschen der Fackeln gedacht. Vermutlich nahm man sich hier Fackeln, wenn man durch den Berg nach unten ging.

Haleb schob den Mann hinein und fesselte ihm die Beine. »Ich sehe, daß es dir nicht schwerfallen wird, dich bemerkbar zu machen. Aber laß dir Zeit. Wenn wir dich hören, bleibt uns keine Wahl, als dich ganz zum Schweigen zu bringen.«

Der Mann nickte hastig. Haleb schloß die Tür. Zum Verriegeln gab es nichts. »Wir können nur hoffen, daß die Angst ihn aufhält«, murmelte er. Dajna nickte. »Wohin nun?« »In den westlichen Turm.« »Wir können hier tagelang suchen, ohne den Mantel zu finden«,

meinte das Mädchen. Haleb schüttelte den Kopf. »Wenn wir erst Rachmud haben, ist

auch der Mantel nicht weit.« »Sollten wir die Fackeln nicht löschen?« »Dazu ist immer noch Zeit. Komm.« Wie im myranischen Palast war es auch in diesem gewaltigen

Haus schwer, sich zu orientieren. Zweimal mußten sie zu den Zinnen hochsteigen, um festzustellen, wo sie sich befanden. Beim zweitenmal waren sie weiter vom Westturm entfernt denn zuvor.

Als sie schließlich den Turm erreichten, war Mitternacht nicht mehr weit.

»Es wird gefährlich«, flüsterte Haleb. »Ich weiß, mein Liebster. Es ist besser, wenn wir uns trennen, und

uns wieder hier treffen … wenn der Mond am höchsten steht …?« Er nickte zögernd. »So vermag einer den anderen vielleicht zu befreien, wenn etwas

schiefgeht.« »Gut. Trennen wir uns.« Er nahm sie in die Arme und küßte sie.

Als er sie freigab, murmelte er: »Aber mir ist nicht wohl dabei. Wir waren Narren, hier einzudringen …«

»Ja«, flüsterte sie. »Wir sind Narren.« Sie drückte ihren Mund auf seinen. »Aber alles hat seinen Preis. Was auch geschieht, Hal, denk an das Feuer, das zwischen uns brennt …« Sie strich mit den Fingern über seine Wange und verschwand in der Dunkelheit. Einen Augenblick lauschte er, aber er vernahm kein Geräusch. Sie war lautlos wie eine Katze.

*

Nachdem sie sich von Haleb getrennt hatte, galt ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Vorhaben. Sie wußte, daß sie dieses Schloß nicht lebend verlassen würden, wenn man sie entdeckte. Sie waren hier eingedrungen wie Diebe. Und Rachmud würde sich nichts Besseres wünschen, als sie in die Finger zu bekommen. Sie wußten bereits zuviel, und was sie nicht wußten, das ahnten sie. Nein, es war alles andere als klug gewesen, dieses Wagnis auf sich zu nehmen. Aber gleichzeitig schätzte sie diesen Mut, der den Männern ihres Volkes so fremd war.

Sie betrat den Turm und befand sich in einem schmalen Gang. Links und rechts war eine Tür. Sie lauschte bei beiden eine Weile, vernahm aber kein Geräusch. Als sie sie zu öffnen versuchte, wurde sie enttäuscht. Sie waren verschlossen – nicht durch Riegel, sondern Schlösser.

Sie schlich den Gang entlang und erreichte nach wenigen Schritten die Mitte des Turmes. Von weit unten kam ein Lichtschimmer. Sie sah, daß eine enge Wendeltreppe nach unten führte und über ihr nach oben. Nur ein dünnes rostzerfressenes Geländer schützte vor einem tödlichen Sturz in die Tiefe. Nachdenklich starrte sie einen Augenblick hinab. Wenn sie erst auf der Treppe war, und jemand kam ihr entgegen, dann würde sie sich kaum noch rechtzeitig verbergen können, wenn sie sich nicht gerade in der Nähe eines der Gänge befand. Vielleicht gab es einen anderen Weg.

Sie eilte zurück auf die Zinnen und betrachtete den Turm. Die nächste Fensteröffnung war nicht erreichbar. Aber die darauffolgende. Ein gewagter Sprung brachte sie auf ein Dach, das ein wenig tiefer lag. Sie landete alles andere denn geräuschlos. Keuchend rollte sie sich an die Mauer und lauschte mit mühsam angehaltenem Atem.

Nichts regte sich. Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigte, dann schlich sie an der

Turmmauer entlang, bis die Fensteröffnung über ihr war. Ein Sprung brachte sie auf den Sims. Sie zog sich hoch und starrte ins

Innere. Im ersten Augenblick vermochte sie nichts zu erkennen, aber nach

und nach nahm sie Umrisse und Formen war. Sie blickte in ein Schlafgemach. Es war das einer Frau. Aber niemand befand sich darin.

Dajna dankte den Göttern. Rasch kletterte sie ins Innere und lauschte erneut. Geräusche

waren um sie, die sie nicht zu deuten vermochte. Sie kamen von weiter unten.

Und deutlich vernahm sie das Klirren von Ketten. Das mußte von oben kommen.

Auf einen Blick erkannte sie, daß dieses Schlafgemach seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden war. Überall war Staub und der Geruch von Moder.

Es mochte ein gutes Versteck sein, wenn es zu fliehen galt. Die Tür war nicht verriegelt. Sie trat hinaus und stand in einem

Korridor, der dem glich, durch den sie das erstemal den Turm betreten hatte. Die Tür gegenüber war ebenfalls offen. Der Raum dahinter war ein Frauengemach. Auch dieses wirkte seit langer Zeit verlassen. Sie trat zurück auf den Korridor und folgte ihm. Er endete wiederum vor der Wendeltreppe. Sie hatte nicht viel gewonnen – außer einem möglichen Versteck. Sie befand sich lediglich ein Stockwerk höher.

Sie vernahm die Geräusche nun deutlicher, aber der Hall trug nur verwaschene Laute hoch, die unheimlich klangen, doch nicht zu erkennen waren. Gleich darauf hörte sie aber die Ketten wieder.

Es kam von oben. Sie warf einen Blick nach unten. Alles schien still. In dieser Höhe

würden die Fackeln sie auch nicht mehr beleuchten. Vorsichtig, das Geländer nur als Führung, nicht als Stütze benutzend, tastete sie sich hoch. Sie erreichte einen weiteren Gang und hielt an, um zu lauschen. Fahles Mondlicht fiel durch eine Öffnung. Es roch nach Stroh und Fäulnis.

Das Klirren war wieder hörbar. Es kam von noch weiter oben –

aus der Spitze des Turmes. Dajna folgte den Treppen und stand vor einer Tür. Sie versuchte sie zu öffnen, doch sie war verschlossen. Dajna tastete nach dem Schloß und fand zu ihrer Überraschung, daß nur ein einfacher Riegel vorgeschoben war.

Sie lauschte. Drinnen hielt jemand den Atem an. Dajna schob den Riegel zur Seite und zog die Tür auf. Sie öffnete

sich leise knarrend. Undeutlich sah sie zwei Gestalten an der gegenüberliegenden

Wand. Sie waren halb aufgerichtet und starrten ihr entgegen. »Nur immer herein«, sagte eine Stimme mit einem bekannten

Klang. »Hier ist jeder willkommen, wenn er nicht Rachmud heißt!« Mit einem warnenden Zischen trat sie hastig ein und zog die Tür

zu. »Totamas …!« entfuhr es ihr. »Um der Götter willen seid still. Ich bin es, Dajna.«

»Dajna!« entfuhr es dem Iwarenkönig verblüfft und erfreut zugleich. »Woher wißt Ihr, daß wir hier sind?«

»Ich habe alles nur nicht Euch hier erwartet. Wer ist bei Euch?« »Piran«, antwortete der zweite Gefangene. »Euch müssen wahrlich

die Götter senden …« »Ja, das glaube ich auch«, antwortete das Mädchen

kopfschüttelnd. »Wo ist Aslaf?« »Er ist tot«, erwiderte Totamas grimmig. »Sie schossen ihm einen

Pfeil in den Rücken. Dann überraschten sie uns im Schlaf. Dieses Schwein von Wirt hat uns verraten …«

»So bleibt abzuwarten, was Tarl tut. Wir schickten ihn zu Euch.« »Dann ist er inzwischen Aslaf in Amyrons Reich gefolgt«, meinte

der Iware bitter. »Rachmuds Schergen wissen vom Wirt, daß wir sechs sind. Sie suchen überall. Er kann ihnen nicht entkommen.«

Dajna ballte die Fäuste. »Wie seid Ihr angekettet?« »Nur an den Armen«, erklärte Totamas. »Aber fest genug für

einen Elefanten. Man braucht einen Schlüssel, um die Schellen aufzuschließen …«

»Und an der Wand?«

»Wir haben es schon versucht. Dazu müßte man ein Stück des Turms abtragen. Das Eisen, an dem diese Kette hängt, ist ein Teil der Mauer …«

»Wer hat den Schlüssel?« »Rachmud selber. Es sieht so aus, als wären wir verdammt

wichtige Gefangene für ihn.« »Was hat er gesagt?« »Nichts, was wiederholenswert wäre«, knurrte Totamas. »Aber was kann ich für Euch tun?« fragte Dajna verzweifelt

darüber, daß es keinen Weg zu geben schien, die beiden zu befreien. »Den Schlüssel«, sagte sie im selben Atemzug. »Ich werde diesen Schlüssel finden …«

»Nein«, fiel ihr Totamas ins Wort. »Das Risiko ist zu groß. Es ist unmöglich, ungesehen an ihn heranzukommen. Rachmud hat den Schlüssel bei sich.«

»Ich werde Rachmud töten, wenn es der einzige Weg ist …« »Er ist immer von seinen Männern umgeben, besonders heute, da

er die Geister beschwören will. Nein, Ihr müßt fliehen, Dajna. Berichtet im Rat, was geschehen ist. Ich weiß, daß wir Hilfe finden werden. Gestern abend gewann ich viele für Haleb und die Königin. Sie werden nicht davor zurückscheuen, dieses Schloß mit dem Schwert zu nehmen, und diesen Dorn aus dem myranischen Fleisch zu ziehen. Ihr müßt fliehen. Ihr müßt Hilfe von außen bringen …«

Er brach ab. In der Stille hörten sie deutlich Schritte, die sich schlurfend

näherten. Dajna drückte sich eng an die Wand, Die Schritte verharrten.

Offenbar war der Ankömmling erstaunt darüber, daß die Tür nicht verriegelt war. Er öffnete sie, leuchtete mit einer Fackel hinein und brummte etwas Unverständliches, als er die beiden Gefangenen in unveränderter Lage bemerkte. Er konnte Dajna nicht sehen, solange er nicht ganz hereinkam. Aber diese Absicht hatte er nicht.

»Hier ist Essen«, brummte er und stellte eine Schüssel mit wenig anregend riechendem Inhalt auf das Stroh. Damit zog er sich

zurück, und Dajna wurde klar, daß er dabei war, sie mit den anderen einzuschließen. Sie sprang zur Tür, gerade, als er sie schließen wollte, und rammte ihr ganzes Körpergewicht dagegen. Das Krachen der Tür wurde übertönt von einem Schrei. Dajna stieß die Tür auf und sah den Wächter durch die Wucht des vorangegangenen Stoßes über das schmale Geländer kippen. Die Fackel kreiste wild. Ein zweiter langgezogener Schrei folgte, als er in die Tiefe stürzte. Er schlug mit einem dumpfen Ton auf, dem aufgeregte Stimmen und hastige Schritte folgten.

»Ihr Götter!« entfuhr es Piran. »Nun ist alles aus!« »Noch bin ich frei«, widersprach Dajna. »Betet für mich.« Sie lief die Treppe nach unten. Im Fackellicht schimmernde

Gesichter starrten zu ihr hoch. Es war nicht zu erkennen, ob sie sie bemerkten. Die aufgeregten Stimmen mochten dem toten Wächter gelten.

Aufatmend erreichte sie den Gang, der zu den Frauengemächern führte. Dort hielt sie an und wartete. Aus fast allen unteren Stockwerken kam nun Licht. Ein gutes Dutzend Gestalten waren auf der Treppe mit Fackeln unterwegs.

Dajna wartete nicht länger. Sie lief in das Schlafgemach und warf einen Blick auf das mondüberflutete Dach. Es würde ein riskanter Sprung sein – aber besser, als hier auf die Kerle zu warten. Rasch begann sie aus dem Fenster zu klettern. Als sie sich fallen ließ, schlug ein Pfeil neben ihr in den Stein. Sie rollte in Deckung. Ein zweiter Schuß folgte. Sie hörte in einiger Entfernung das Aufprallen der metallenen Spitze. Hastig blickte sie um sich. Aber sie vermochte den Schützen nicht zu entdecken. Von ihrer Deckung aus hatte sie kaum Überblick über das Dach. Um einen Fluchtweg zu finden, mußte sie ihre Deckung aufgeben. Wenn der Schütze kein Anfänger war, mochte es einen raschen Tod bedeuten.

Aber sie konnte auch hier nicht bleiben. Bald mochte es für eine Flucht zu spät sein.

Sie sprang. Sie hörte das Schnappen der Sehne. Der Aufschlag war weit rechts

von ihr. Im nächsten Augenblick, als sie auf die Beine kam, sah sie den Schützen, der nach einem neuen Pfeil in seinen Köcher griff. Sie zog ihr Messer aus dem Gürtel und lief auf ihn zu. Sie hob es zum Wurf, als er den Pfeil an die Sehne legte und spannte.

Dajna warf und ließ sich gleichzeitig fallen. Der Schütze schrie gurgelnd auf und kippte nach hinten über die Zinnen. Der Pfeil schwirrte in den Himmel.

Keuchend richtete sich Dajna auf. Der Schütze war in die Tiefe gestürzt, und mit ihm ihr Messer, ihre einzige Waffe. Aber sie hielt sich nicht mit Bedauern auf. Gebückt lief sie den Wehrgang entlang, bis sie den dunklen Nordturm erreichte.

Einen Augenblick lang wähnte sie sich in Sicherheit. Aber noch bevor sie einen Eingang in den Turm fand, kamen ihr ein halbes Dutzend Männer entgegen, mit Fackeln in der einen und blanken Klingen in der anderen Faust. Als sie sich zur Flucht wandte, sah sie, daß der ganze Wehrgang im Fackelschein erhellt war. Von beiden Seiten starrten ihr funkelnde Klingen entgegen.

Langsam wich sie zu den Zinnen zurück. Keines dieser Schwerter würde sich von ihrem Blut röten …

Aber die Männer hatten es nicht eilig, nun da sie sie in der Falle wußten. Aus dem Westturm näherte sich eine Gestalt, der die Männer hastig Platz machten.

»Es ist ein Mädchen, Herr«, sagte einer. Dajna hatte Rachmud zwar nur einmal im Dunkeln gesehen, aber

sie zweifelte nicht, daß er es war, der vor ihr stand. »So sehen wir uns doch noch wieder«, sagte er spöttisch. »Es ließ sich nicht vermeiden«, erwiderte sie kalt. »Das bedaure ich auch … für dich, um so mehr, als ich keine Pläne

mehr mit dir habe. Wirklich, deine Lage ist nicht beneidenswert.« Er lächelte, als sie schwieg und ihn furchtlos ansah. »Ich nehme an, daß auch Haleb bereits in diesen Mauern ist. Das erleichtert manches. Ich werde euer Schicksal in meine Hände nehmen und werde es phantasievoll gestalten. Das ist etwas, wozu ich nicht mehr Zeit haben werde, wenn ich den myranischen Thron innehabe …« Mit

einem kalten Lächeln wandte er sich an die Männer: »Schließt sie ein. Aber seid gewarnt … sie ist ein katmahzarischer Teufel und hält nicht viel von heggarischen Sitten. Ich will ihr Gelegenheit geben, sie zu lernen. Was meint ihr, ob sie es bei Kwesas lernt?«

Die Männer grinsten. Sie leistete keinen Widerstand, als sie sie in die Mitte nahmen und nach unten führten. Sie unterdrückte die instinktive Furcht, die ihre Hilflosigkeit als Gefangene der Männer ihr einflößte. Es war eine alte Katmahzari-Furcht – ein Ende durch jene zu finden, die sie verachteten. Aber noch war Haleb frei. Noch bestand Hoffnung. Und sie hatte schon einmal Geduld und Demut gelernt – als Sklavin an König Zogors Hof. Selbstauferlegt, aber nicht weniger schmerzlich. Eine gute Vorbereitung auf das, was nun kommen mochte.

So folgte sie den Männern gleichmütig. Der Großteil kehrte auf ihre Posten zurück, aber die zehn, die sie in ihrer Mitte hatten, waren noch immer zu viele. Hätte sie nur eines dieser Schwerter gehabt! Doch die Männer waren wachsam. Es war nicht sie, die sie fürchteten, sondern Rachmuds Grimm, wenn ihnen das Mädchen entkommen sollte.

Sie gelangten in eine Schmiede, und Dajnas Herz sank, als man ihr schwere Ketten anlegte. Sie wußte, nun lag ihr Schicksal in den Händen der Götter – und in Halebs.

Bevor sie sie in eine Zelle stießen, suchte einer der Männer sie nach Waffen ab. Er tat es gründlich, und es schien ihm Spaß zu machen. Aber es war ein kurzes Vergnügen, denn mit einer blitzschnellen Bewegung schlang das Mädchen ihre Ketten um den Hals ihres Bedrängers und zog zusammen, daß er röchelnd zu Boden sank. Im Nu hatten die anderen die Klingen in den Fäusten. Sie waren bleich. Einen Augenblick hatten sie den Katmahzari-Teufel unterschätzt.

»Wenn mir einer zu nahe kommt, stirbt er!« sagte das Mädchen drohend.

Sie zog die Kette fester zusammen, als der Mann nach seinem Dolch greifen wollte. Er ließ es.

»So ist es besser. Und wenn ihr wollt, daß er am Leben bleibt,

dann schließt jetzt meine Ketten auf. Aber nur einer …« Die Männer starrten sie einen Augenblick unschlüssig an. Sie

verstärkte drohend den Druck um den Hals ihres Gefangenen, der halb erstickt auf stöhnte.

Im nächsten Augenblick wußte sie, daß sie etwas unterschätzt hatte: die Furcht dieser Männer vor Rachmud! Sie war größer als die Angst um das Leben ihres Gefährten. Sie stürzten sich auf sie und schlugen mit den Fäusten auf sie ein, bis sie ohne Besinnung war. Dann befreiten sie ihren halbtoten Gefährten aus den Schlingen der Ketten und schleiften das Mädchen zu ihrer Zelle.

*

Als das Mädchen in der Dunkelheit verschwunden war, stieß Haleb in den Turm ein. Er entdeckte zwei Türen in einem schmalen Korridor. Von weiter hinten kam vages Licht.

Er lauschte. Stimmen waren undeutlich zu hören. Eine dröhnte in einem beschwörenden Singsang auf und ab. Er war sicher, daß es Rachmuds Stimme war, aber er konnte nicht erkennen, woher sie kam. Niemand schien in seiner unmittelbaren Nähe zu sein.

Er huschte zu einer der Türen und lauschte erneut. Innen war alles still. Vorsichtig versuchte er, sie zu öffnen. Sie glitt leise knarrend auf. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen vage Umrisse – Schränke und Regale. Seine tastende Hand fand Schriftrollen. Er mußte sich in einem von Rachmuds privaten Gemächern befinden. Gleich darauf vernahm er Schritte. Ein Blick in den Korridor zeigte ihm, daß sich in einiger Entfernung Lichtschein näherte.

Vorsichtig schloß er die Tür und tastete sich durch den Raum. Einer der Schränke bot ihm Schutz, als sich die Tür öffnete, und ein Mann mit einer Fackel hereinkam …

Rachmud! Haleb bemerkte, daß zwei Begleiter vor der Tür stehenblieben. Der

Daikan schob die Fackel in eine Halterung an der Wand. Er nahm eine Rolle aus einem der Schränke und studierte sie mißmutig. Er

griff nach zwei weiteren. Gleich darauf schien der Daikan gefunden zu haben, was er

suchte. Mit mehreren Rollen unter dem Arm griff er nach der Fackel und eilte zur Tür. Ohne abzuschließen, verschwand er mit seinen Männern.

Haleb wartete noch einen Augenblick, bis die Schritte verklungen waren. Dann schlich er hinterher.

Er folgte dem Fackelschein und gelangte zur Turmmitte und damit zur Wendeltreppe. Ein Stück unter ihm stiegen die drei Männer vorsichtig hinab und verschwanden in einem Gang. In dem schwachen Schein des sich entfernenden Fackellichts eilte er die Treppe hinab. Dabei mußte er erfahren, daß das schmale Eisengeländer wenig Halt bot, als er sich daran festzuklammern versuchte. Es klirrte, und das Geräusch pflanzte sich nach beiden Richtungen fort. Haleb erwartete jeden Augenblick, daß seine Unvorsichtigkeit Wachen herbeilockte, und er wußte, daß diese Treppe ein schlechtes Versteck war. Deshalb lief er mit halsbrecherischen Schritten weiter nach unten, bis er einen Gang vor sich entdeckte. Mühsam verhielt er mitten im Schritt.

Rachmud und die beiden Männer befanden sich vor ihm und verschwanden eben durch eine Tür an der linken Seite des Korridors. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schlich Haleb mit blanker Klinge hinterher. Er lauschte an den Balken, vernahm aber nur die unverständlich murmelnde Stimme Rachmuds. Eine Weile mühte er sich vergeblich ab, durch die winzigen Ritzen im Holz etwas zu erkennen.

Schließlich gab er es auf. Eine Tür gegenüber erregte seine Aufmerksamkeit. Sie war ebenfalls nicht verschlossen. Eine Fackel brannte an der Wand. Es mußte erst vor kurzem jemand hiergewesen sein.

Der Raum enthielt Regale und Tische, die beladen waren mit Gefäßen aller nur erdenklichen Formen und Größen; mit Krügen und Fässern, mit Schalen und Töpfen. Jedes war mit Schriftzeichen versehen, deren Bedeutung Haleb fremd war. In manchen befand

sich feines Pulver, in manchen Körner, in anderen Flüssigkeiten. Auf einem der Tische stand eine große Waage. Aber es befanden sich nicht nur tote Dinge im Raum. In Käfigen sah er Ratten, Frösche, Schlangen und anderes seltsames Getier.

Haleb wußte, daß er hier an Rachmuds geheimstem Ort war – in der Vorratskammer des Magiers. Was er sah, war nicht anderes als die Pulver und Säfte, die er für seine unheiligen Rituale und Beschwörungen benötigte.

Er erinnerte sich an den monotonen Singsang, den er vorhin gehört hatte; nun wußte er, was es war – eine Beschwörung! Rachmud war dabei, seine dunklen Kräfte anzurufen, und allein die Dämonen mochten wissen, welche Schurkerei er plante.

Er mußte rasch handeln. Er verließ den Raum und lauschte erneut an der gegenüberliegenden Tür. Diesmal vernahm er wieder Rachmuds monoton murmelnde Stimme – sie klang wie die eines Priesters, der seine Gebete spricht. Aber Haleb wußte zu gut, daß Rachmud keine Gebete sprach – zu keinen guten Göttern wenigstens!

Aber er mußte Rachmud allein haben. Wie konnte er die beiden Helfer von seiner Seite locken, ohne daß ihr Meister Verdacht schöpfte?

In diesem Augenblick sah er aus den Augenwinkeln, daß sich Fackelschein über die Treppe näherte. Es war zu spät, in die Kammer zurückzuschlüpfen. Er drückte sich eng an die Wand, das Schwert halb zum Stoß erhoben.

Ein älterer Mann erschien mit einer Schüssel mit wenig appetitlichen Speisen und schritt an Haleb vorbei, ohne ihn zu bemerken. Haleb beobachtete ihn, wie er weiter nach oben stieg. Gab es da oben einen Gefangenen im Turm?

Die Schritte des Alten verklangen nur langsam. Haleb schlich zur Kammer. Hier konnte er sich notfalls zurückziehen, wenn es die Lage erforderte.

Während er sich noch einen Plan zurechtzulegen versuchte, ertönte von oben ein Schmerzensschrei, und gleich darauf einer des

Entsetzens. Bevor er in die Kammer zurücksprang, sah Haleb einen Körper und eine Fackel an der Korridormündung vorbeifallen. Hastig schloß er die Tür bis auf einen Spalt. Was auch immer da oben geschehen war, in wenigen Augenblicken mußte die Hölle los sein. Die Schreie hatten das ganze Schloß geweckt. Gleichzeitig dachte er, daß dies vielleicht die Ablenkung war, die er gebraucht hatte …

Durch den Spalt sah er, wie sich die Tür gegenüber öffnete. Die beiden Männer stürzten heraus, dicht gefolgt von Rachmud. Sie eilten den Korridor entlang auf die Treppen zu und verschwanden dort nach unten. Von überall her kamen Stimmen. Die Aufregung nahm mit jedem Augenblick zu.

Haleb riß seine Tür auf und lief über den Gang auf jene nun offenstehende Tür zu, durch die Rachmud und seine Begleiter gekommen waren.

Geblendet schloß er die Augen. Der Raum war nicht sehr groß, und das halbe Dutzend Fackeln erfüllte ihn mit schmerzender Helligkeit. Auf einem großen, altarähnlichen Tisch lagen die Schriftrollen, die Rachmud vorhin geholt hatte. Auch hier stand eine Waage. Auf einer der Schalen befand sich ein weißes Pulver, das aussah wie Salz. Eine Schale mit einer klebrigen Flüssigkeit stand auf dem Rost einer Feuerschale. Die Flüssigkeit kochte und verbreitete einen süßlichen, nicht unangenehmen Duft.

Die Wände des Raumes waren mit schweren Vorhängen verhängt, die von der Decke bis zum Fußboden reichten und viel von dem Licht schluckten. Auch neben dem Tisch befanden sich Töpfe und Schalen mit wenig anheimelnden Flüssigkeiten und Inhalten.

Er befand sich in Rachmuds Hexenküche! Neugier trieb ihn zum Tisch. Er betrachtete eine der Schriftrollen,

doch des Lesens unkundig wie er war, sagten ihm die fremdartigen Zeichen nichts.

Er eilte zur Tür zurück und lauschte in den Korridor hinaus. Die Geräusche klangen entfernter – wie von außerhalb des Turms. Gut. Das gab ihm Zeit, sich umzusehen. Vielleicht fand er den Mantel.

Dies war der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort. Hinter dem Tisch entdeckte er zwei schwere Truhen. Sie ließen

sich leichter öffnen als erwartet. In einer befanden sich seltsame Figuren mit dämonischen Masken, manche aus Gold, manche aus Marmor. Ihr Anblick ließ ihn schaudern. Etwas Unbegreifliches ging von ihren starren, funkelnden Zügen aus, etwas Lähmendes, als wären Seelen hinter diesen Fratzen. Rasch schloß er den Deckel wieder.

Benommen öffnete er die zweite Truhe. Zu seiner Enttäuschung enthielt sie Schriftrollen. Aber sie schienen älter als die übrigen – gelb und brüchig. Doch nur Schriftrollen – kein Mantel.

Er erhob sich und sah sich um. Der Raum war zu unübersichtlich, als daß etwas wie dieser ohnehin nicht leicht sichtbare Mantel ins Auge gefallen wäre. Ein roter Mantel hing um einen Stuhl, er war wohl eines von Rachmuds Kleidungsstücken. Auf einem Tisch im hinteren Teil des Raumes standen kostbare, metallene Kassetten. Er nahm sich nicht die Zeit, nach ihrem Inhalt zu sehen. Er tastete die Vorhänge ab, fand dahinter jedoch nur die nackten Wände.

Während er noch damit beschäftigt war, näherten sich Schritte. Es gelang ihm noch unter den Vorhang zu kriechen, bevor der Ankömmling den Raum betrat. Durch das Gewebe des Stoffes konnte er leidlich gut sehen. Er hielt den Atem an, als Rachmud den Raum betrat und sich mißtrauisch umsah, als spürte er die Anwesenheit eines Fremden. Doch nach einem Augenblick begab er sich an den Tisch und studierte einen Moment die Schriftrolle, die auch Haleb in Händen gehabt hatte. Dann wandte er sich der kochenden Flüssigkeit zu und nickte zu sich.

Halebs Blick wanderte zur Tür. War Rachmud allein zurückgekommen? Ohne seine Begleiter? Was war da draußen geschehen.

Dajna! durchzuckte es ihn. Hatten sie Dajna entdeckt? Gleichzeitig wurden seine Augen groß, und er stieß einen

lautlosen Fluch aus. An einem Haken an der Tür hing etwas Schillerndes:

Der Mantel! Wie hatte er ihn nur übersehen können? Wie einfach wäre es

gewesen, damit einfach zu verschwinden. Nun ging es vielleicht nicht ohne Blut ab. Er faßte sein Schwert fester und bereitete sich zum Sprung.

»Balgis!« rief Rachmud ungeduldig. Haleb entspannte sich ein wenig. Ein Mann erschien in der Tür,

»Herr?« »Laß Molnor holen. Und schafft mir Kyrella herbei!« »Ja, Herr.« Der Mann verschwand. Haleb zögerte. Seine Neugier hielt ihn

zurück. Was hatte der Daikan vor? Molnor kannte er nicht. Aber der Name Kyrella hatte einen bekannten Klang. Hieß nicht so das Mädchen aus dem Osten, das Rachmud vor mehr als zehn Sommern zum Weib nahm, und von dem er noch an Zogors Hof berichtete, daß sie an einer Krankheit gestorben sei, gegen die seine Heiler nichts zu tun vermochten?

Wenn aber Kyrella seit vier Sommern tot war …? Was hatte der Magier zu tun vermocht, wo die Heiler versagt hatten?

Er wurde auf keine lange Probe gestellt. Jemand pochte an der Tür. »Molnor, Herr!«

»Herein mit ihm!« Eine Gestalt erschien, die Haleb unwillkürlich schaudern ließ,

obwohl ihm Geschöpfe dieser Art nicht fremd waren und eher Mitleid in ihm erweckten. Molnor war eine Mißgeburt, ein Hofzwerg, wie er häßlicher noch keinen gesehen hatte. Er wäre ein kräftiger hochgewachsener Mann gewesen, hätten die Götter nicht beschlossen, ihn mit einem Buckel auszustatten, der ihn niederdrückte, so daß er hochblicken mußte, um einem Mann ins Gesicht zu sehen. Aber Halebs Mitleid erstarb rasch, als er die Verschlagenheit in den Augen des Zwerges sah und die hündische Ergebenheit, die er Rachmud entgegenbrachte. Er sagte etwas, aber die Töne, die seine Kehle hervorbrachte, glichen mehr dem Geschnatter eines Affen und dem Grunzen eines Schweins.

Der Daikan klopfte ihm auf den Buckel. »Guter Molnor. Heute habe ich einen Lohn für dich … für deine treuen Dienste in all diesen Zeiten. Einmal sollst du wie ein Mann fühlen …«

Die Tür öffnete sich erneut. Zwei Männer führten eine Frau herein. Kyrella! Ja, sie war es. Er erkannte sie wieder – auch wenn sie

grausam verblüht war. Sie war nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst, die Haut bleich, der Körper knöchern, der Blick stumpf. Das blonde Haar hing verwildert um ihre Schultern. Es war so glanzlos wie ihre ganze Erscheinung. Sie trug ein Kleid, dessen Farbe unter all dem Schmutz nicht mehr zu erkennen war. An den Knöcheln ihrer bloßen Füße waren Ketten, wie auch um die Gelenke ihrer Hände.

Von Grauen geschüttelt, fragte sich Haleb, ob sie diese vergangenen vier Sommer, in einem von Rachmuds Kerkern zugebracht hatte. Sie war nicht krank und nicht gestorben! Sie war stumpf wie ein Tier von dem Leid, das sie durch diesen Teufel ertragen mußte! Mit übermenschlicher Beherrschung hielt Haleb an sich. Jetzt in gerechtem Zorn die Klinge zu führen, hätte nur ein vorzeitiges Ende bedeutet.

Ein Rest von Leben kam in die Frau, als sie Rachmud erblickte, doch es war nicht Haß, nur Hoffnung.

»Hat alles … ein … Ende …?« sagte sie mühsam. Rachmud schien sich an ihrem Anblick zu weiden. »Bald. Sei

versichert, meine Teure. Die Götter müssen es wahrhaft gut mit dir meinen. Keiner blieb in meinen Kerkern so lange am Leben wie du. Könnte es sein, daß sie an deiner Liebe zu diesem jungen Narren Gefallen fanden?«

»Kannst du nicht verzeihen?« bat sie mit schwacher Stimme. Die Männer mußten sie stützen. »Du hast ihn gemordet. War es nicht Rache genug, daß sein junges Blut vor meinen Augen floß?«

»Ah, ich gab mir Zeit, meine leidenschaftlichen Gefühle für dich wiederzufinden, meine teure Kyrella«, erwiderte er sarkastisch. »Aber sie sind ausgeblieben. Die Götter mögen meine Zeugen sein. Ich weiß, daß du einsam bist in deinem Turm. Deshalb habe ich

beschlossen, dir einen Gefährten zu geben … für eine Weile …« Mit einer spöttischen Verbeugung deutete er auf den Zwerg. Die Augen der Frau weiteten sich vor Entsetzen. »Nein!« rief sie

und begann sich in den starken Armen der Männer zu wehren. Diese hielten sie mitleidlos fest.

Molnor blickte sie an. Es machte ihm nichts aus, hochblicken zu müssen. Die Hilflosigkeit machte sie so klein, wie er war. Sein Herr machte sie ihm zum Geschenk. Er würde sie zu ihm hinabkrümmen. Er sah es an Rachmuds Augen. Er schnatterte und sprang hin und her wie im Taumel. Seine Augen verschlangen sie mit dem ganzen unerfüllten Hunger seines Lebens.

Kraftlos hing sie im Griff der Männer. »Nein …«, bettelte sie tonlos. »Um der Götter willen …«

Haleb wollte vorstürzen, als der Zwerg nach der Frau griff, doch der Daikan hielt Molnor zurück. »Geduld, mein treuer Diener. Ich verspreche dir, sie wird dich nicht abweisen. Sie wird dir die Zuneigung entgegenbringen, die dir gebührt. Hab Geduld.«

Kyrella starrte ihn entsetzt an, als er die Schale mit der Flüssigkeit vom Feuer nahm und ein wenig in eine kleinere Schale goß. Damit ging er auf die Frau zu. Er benetzte die Finger, lächelnd. »Der Vater meines Vaters, so wird mir berichtet, liebte die Frauen nie länger als eine Nacht. Und dennoch gab es nur wenige Nächte, in denen er ausruhte. Er war ein weiser Mann, der um die Kraft der Säfte wußte und die Magie der Kräuter und der Sterne. Ich habe seine Schriften gut studiert. Wir wollen sehen, ob die Berichte lügen.«

Damit tauchte er die Finger in die Flüssigkeit und benetzte die Frau an Hals und Brust und Armen. Er strich über ihr Gesicht, wo die Tropfen wie Tränen blieben. Es schien einen Augenblick fast, als wäre eine Regung in ihm, denn er sagte: »Dieses Gesicht habe ich geliebt.«

»Du hast es zerstört«, erwiderte sie tonlos. »Nicht genug«, erwiderte er kalt und schüttelte die restlichen

Tropfen ab, als wollte er sich damit von diesem Anflug von Gefühl freimachen.

Molnor sah seinen Herrn fragend an. Rachmud gab ihm die Schale. »Gieß es dir über, mein Freund. Sie

wird dich unwiderstehlich finden.« Er grinste. Der Zwerg hob die Schale und goß sich die Flüssigkeit über den

Kopf. Rachmud beobachtete ihn und die Frau gespannt. Haleb nicht

minder. Was nun geschah, verblüffte ihn so sehr, daß er vergaß, dazwischenzuspringen.

Der Zwerg ließ die Schale langsam sinken. Sie entglitt seiner Hand.

Rachmud bedeutete den Männern, die Frau loszulassen und zurückzutreten. Sie gehorchten zögernd.

Kyrella wandte sich halb um, als wollte sie fliehen, aber mitten in dieser Bewegung geschah etwas mit ihr. Statt zu fliehen, machte sie einen Schritt auf den Zwerg zu. Das Entsetzen schwand aus ihren Zügen. Ihr Gesicht wurde weich und rötete sich von einer inneren Wärme.

Haleb glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Kyrella sah den Zwerg verlangend an. Es war ein schmachtender

Blick, der ihm den Magen umdrehte. Sie streckte die Arme aus. »Molnor«, seufzte sie. »Mein Geliebter …«

Auch der Zwerg schien nicht mehr Herr über sich. Sie glitten einander in die Arme unter dem schallenden Lachen Rachmuds. Die Umwelt schien für sie versunken.

Der Daikan wurde des Spiels nach einem Augenblick müde. Er winkte seinen Männern. »Schafft die beiden Turteltauben in den Turm und bringt mir den Zwerg, wenn er wieder ernüchtert ist.«

Die Männer hatten Mühe, die beiden voneinander zu lösen. Sie nahmen die Frau zwischen sich und führten sie hinaus. Der Zwerg folgte willig hinterher.

Als Rachmud sich umwandte, sah Haleb Triumph in seinem Gesicht. »Die alten Zeichen waren richtig«, murmelte der Daikan. »Der alte Zauber wirkt. Amee. Stolze Amee! Du wirst mir den Thron von Myra zu Füßen legen …«

Haleb schauderte.

*

Der Siliker spannte sich. Jetzt war der günstigste Moment, diesem Spuk ein Ende zu

machen. Rachmud stand in Gedanken versunken vor ihm. Amee mit diesem Liebeswasser an sich zu binden, konnte noch

nicht der ganze Plan Rachmuds sein. Es blieb noch immer die Probe. Was hatte er mit dem Mantel vor? Ihn auf ähnliche Weise zu entschärfen? Mit einem alten Zauber die Wirkung bannen?

Oder war es einfacher, viel einfacher? Ohne Mantel keine Probe! Erneut zögerte Haleb. Vielleicht konnte er noch mehr in Erfahrung

bringen, wenn er sich geduldete. Solch eine Gelegenheit kam kein zweites Mal.

Er sah, wie Rachmud zur Tür ging und den Mantel nahm. Er warf ihn über. Nach einer Weile verzog er grimmig den Mund, als die unangenehmen Gefühle begannen und sich rasch steigerten. Mit einer hastigen Bewegung nahm er ihn ab.

»Balgis!« Balgis erschien in der Tür. »Herr?« »Bringt mir den Iwaren.« Haleb erschrak bei diesen Worten. Welchen Iwaren meinte

Rachmud? Konnte es sein, daß Totamas in seiner Hand war? War deshalb keine Nachricht von ihm gekommen?

Haleb war plötzlich sehr froh, daß er gewartet hatte. Seine Vermutungen erwiesen sich bald darauf als richtig. Der Iware, den die Männer hereinführten, war in der Tat Totamas. Er trug Ketten, aber er schien unverletzt.

»Ah, Totamas«, rief Rachmud jovial, »ich sehe erfreut, daß dein Mut ungebrochen ist. Ich habe eine Aufgabe für dich.«

»Den Teufel hast du!« erwiderte der Iware. »Oder bist du so einfältig zu glauben, ich wäre dein Handlanger, nur weil ich in

Eisen liege?« Rachmud lächelte. »Du gibst dich trügerischen Hoffnungen hin,

Totamas. Myra wird nicht erfahren, daß du dich in Reghar befindest. Wenn du auf deine Katmahzari-Freundin hoffst, so muß ich dich enttäuschen. Wir haben sie hinter Schloß und Riegel. Kwesas, der Sklavenhändler, wird mir einen guten Preis zahlen. Er schätzt Temperament …«

Dajna gefangen! Haleb zwang sich mit aller Kraft, ruhig zu bleiben.

»Ich bin sicher, daß auch Haleb im Schloß ist, und wir haben dafür gesorgt, daß keine Maus ins Freie gelangt. Nein, in Myra weiß man gar nichts, und du wirst dafür sorgen, daß alle Zweifel an meiner Person beseitigt werden.«

Totamas spuckte ihm vor die Füße. »Du unterschätzt mich …« Rachmud grinste. »An dir würde ich keinen Gedanken

verschwenden. Aber ich kenne meine Macht. Es ist recht und billig für den zukünftigen Herrscher Myras, daß Könige ihm als Sklaven dienen. Bringt ihn her!«

Die Männer schoben den Iwarenkönig vorwärts. »Hierher, auf den Tisch mit ihm. Kettet ihn an!« Er schob die Rollen beiseite und stellte die Waage auf den Boden.

Die beiden Männer hoben den gefesselten Iwaren auf den Tisch. Er wehrte sich, bis einer ihn schlug, daß er halb ohne Besinnung lag, während sie ihn festbanden. Ein halbes Dutzend weiterer Männer, die an der Tür erschienen, hielten Haleb davon ab, einzugreifen. Sie meldeten, daß sie die gefesselten Wachen am Tor im Berg gefunden hatten. Ein Mann und ein Mädchen hatten sie überfallen, als Borgis und seine Männer wegritten.

Der Daikan nickte. »So ist Haleb im Schloß, wie ich es erwartete. Sucht nach ihm!« Plötzlich rief er die Männer zurück. »Nur zwei waren es?«

»Ja, Herr.« »So fehlt noch einer. Der Wirt sprach von sechs Ankömmlingen

…«

»Herr?« fragte der Anführer der Männer. »Weckt den Stadtkommandanten. Laßt die Truppen ausreiten. Bis

nach Myra, wenn es sein muß. Und nehmt alle fest, die fremd hier sind. Wir müssen ihn finden.«

»Ja, Herr.« Rachmud wandte sich Totamas zu, der wieder zu sich kam. »Du

wirst uns sagen, wie der Mann hieß, der sechste, der euch begleitete.«

Totamas sah ihn triumphierend an. In Haleb jagten sich die Gedanken. Sie hatten Tarl also nicht

gefangen. Mochten die Götter geben, daß er nicht wartete, sondern nach

Myra geritten war, als er Totamas und die beiden anderen nicht mehr vorfand. Piran und Aslaf befanden sich wohl auch hier. Die Lage wurde immer verhängnisvoller. Fast alle Freunde waren gefangen. Rachmud mochte sie kaltblütig töten, wenn er versuchte, sie mit Gewalt zu befreien. Er durfte nicht ohne sie fort. Aber er war allein, und es mochte Tage dauern, bis er Dajna in diesem mächtigen Bau gefunden hatte.

Rachmud beugte sich über Totamas, berührte ihn mit den Fingern an Hals und Schläfen. Sein Blick bohrte sich in den des Gefangenen.

Der Triumph im Gesicht des Iwarenkönigs erlosch langsam. Seine Züge entspannten sich. Seine Fäuste öffneten sich. Mit einem ungläubigen Ausdruck sank er zurück.

Haleb sah nicht genau, was geschah, denn der Heggare stand mit dem Rücken zu ihm. Blut floß plötzlich aus einer kleinen Wunde an Totamas' Brust.

Rachmud sprach ungeheuer rasch in einer Sprache, die Haleb nicht verstand. Es erinnerte ihn an den Singsang, den er schon zuvor vernommen hatte. Die Männer an der Tür zogen sich ängstlich zurück.

Es wurde merklich kalt im Raum – und totenstill. Haleb wußte instinktiv, daß Totamas' Leben in Gefahr war, daß es

die Kälte des Todes war, die er fühlte. Amyrons eiskalte Hand griff

in diesen Raum. Zu seinem Entsetzen merkte Haleb, daß er sich nicht zu bewegen

vermochte. Alle seine Glieder schienen zu Eis erstarrt. Fast hätte er in panischer Furcht geschrien, als er sah, was mit Totamas geschah.

Der Iware lag steif und reglos. Seine Haut hatte die wächserne Farbe des Todes. Er atmete nicht!

Aus der Wunde an seiner Brust begann etwas Weißliches zu quellen, wie Rauch aus einer Schale. Doch der Rauch verflüchtigte sich nicht. Er ballte sich über Totamas und nahm nach und nach Form und Umrisse eines Menschen an. Ein Schädel formte sich, Schultern, der Rumpf … Die Gestalt wuchs aus Totamas' Leib heraus. Züge zeigten sich in dem nebelhaften Kopf.

Totamas Züge! Haleb kämpfte gegen die Panik an, aber die Kälte ließ allen

Widerstand in ihm erstarren. Hilflos und von Grauen geschüttelt sah er zu, wie die nebelhafte Gestalt sich vervollkommnete. Einer Nabelschnur gleich hing noch ein dünner Faden zwischen den beiden Körpern.

Immer klarer wurden die Züge des geisterhaften Körpers. Die durchscheinenden Schleier verdichteten sich. Der Körper wurde mit jedem Augenblick fester, bis nichts Geisterhaftes mehr an ihm war.

Da stand Totamas über seinen Leichnam gebeugt! Rachmud griff nach dem dünnen Rauchfaden und zerriß ihn. Ein

gequälter Schrei war im Raum, ein unirdisches Wimmern, das in Halebs Kopf widerhallte.

Dann war der Bann plötzlich gebrochen. Haleb vermochte sich zu bewegen. Grauen und Wut über Totamas' Tod trieben ihn vorwärts. Mit blanker Klinge sprang er auf Rachmud zu. Ein erstickter Schrei kam von seinen Lippen. Sein Opfer fuhr herum. Aus den Augenwinkeln sah er die Männer auf ihn zustürzen.

In Rachmuds Gesicht war keine Überraschung, nur Hohn. Seine Hand schnellte vor. Etwas flog auf Haleb zu und traf ihn im Gesicht, bevor er zustoßen konnte.

Staub nahm ihm einen Moment die Sicht. Er schloß die Augen.

Alles um ihn brannte, als ob er in haushohe Flammen gesprungen wäre. Die Welt um ihn loderte. Die Glut nahm ihm den Atem. Er spürte, daß es kein wirkliches Feuer war. Aber diese Erkenntnis nützte ihm nichts. Der Schmerz war wirklich genug. Er war dankbar für die Schwärze, die ihn aufnahm.

5. Sein Erwachen war wie nie zuvor …

Er fühlte Fesseln, aber keine Stricke; Schmerz, aber keine Wunden; Lebendigkeit, aber kein Leben!

Er blickte auf sich selbst hinab, auf seinen totenbleichen Körper, der reglos in einem länglichen Behälter lag. Er war von ihm getrennt. Es gab kein Zurück ohne den Willen des Meisters.

Neben seinem lag Totamas' Körper, ebenso bleich und reglos. Haleb wartete. Eine vage Erinnerung an Gefühle war in ihm, der

er nachhing. An Dajna. Aber es war so fern und bedeutungslos. Es gab nur einen Willen, dem er gehorchte. Es gab nur einen Weg,

wieder in seinen Körper zurückzukehren – dieser Wille und dieser Weg hießen Rachmud!

Der Daikan der Heggaren saß auf seinem Stuhl und betrachtete Haleb nachdenklich.

»Komm her!« Haleb trat näher. Er ging, weil er gewohnt war zu gehen. Aber er

wußte, daß er nicht zu gehen brauchte. Er konnte schweben; fliegen; nicht einmal diese mächtigen steinernen Mauern würden ihn aufhalten. Nichts würde ihn aufhalten, kein Element.

Doch – eines! Die Flamme, die in der Feuerschale loderte, erfüllte ihn mit dem einen Gefühl, das ihm geblieben war, weil es aus der Seele und aus dem Geist kam: Furcht!

Als er vor Rachmud stand, sah er teilnahmslos, wie dieser einen Dolch aus dem Gewand zog. Mit einer raschen Bewegung stieß er ihn in Haleb bis ans Heft in die Brust.

Haleb zuckte zurück – alte Reflexe, an die sich der Geist gewöhnt hatte, damit der Körper überlebte. Aber nun erfüllten sie keinen Zweck mehr. Die Klinge drang ein, zerschnitt den auf so magische Weise verfestigten Rauch, aus dem dieser Körper entstanden war. Aber der Schmerz blieb aus, denn er war dem Fleisch verhaftet. Auch floß kein Blut, und keine Wunde blieb. Das Schwert und die

Magie – hier standen sie einander gegenüber. Rachmud lächelte zufrieden und steckte den Dolch wieder in den

Gürtel. »Ein starker Zauber. Er gelingt besser mit jedem Mal. Und ich

stehe erst am Beginn. Geheimnisse über Geheimnisse stecken in diesen Schriften. Ich werde sie alle ergründen – wie meine Väter es taten. Bereits beginnen die Menschen meine Macht zu fühlen. Furcht ist in ihren Augen, wenn sie mir begegnen. Sie sind schwach in ihrer Furcht. Eines Tages werden nur noch Geister meine Sklaven sein – wie du, Haleb. Und Dämonen werden mir gehorchen. Denn hier sind die Worte und die Rituale aufgezeichnet, sie zu rufen und zu bannen. Und sich ihrer Kräfte zu bedienen. Du wunderst dich, warum ich dir das alles sage?«

Haleb gab keine Antwort. Er lauschte. Es war keine Kraft in ihm, von sich aus etwas zu tun, zu fragen. Seine Neugier lag begraben unter dem Gewicht von unsichtbaren Ketten.

»Ich bin einsam«, fuhr Rachmud fort. »Wie alle großen Männer muß ich allein sein. Nur der Einsame ist großer Gedanken fähig. Aber manchmal liebe ich es, mit den Dingen zu reden, die mir gehören. Du weißt, daß du unverwundbar bist?«

»Ja«, antwortete Haleb mit leerer Stimme. »Daß du keinen Schmerz fühlst, nichts von dem, was den

menschlichen Leib peinigt?« »Ja.« »Daß dich keine Gefühle hindern, weder Liebe noch Mitleid noch

Treue … nur Gehorsam!« »Nur Gehorsam«, wiederholte Haleb. »Ich habe auch die Sterne befragt«, fuhr Rachmud fort. »Aber noch

gelingt es mir nicht, alle Zeichen zu deuten. Dennoch bin ich meiner Zukunft recht gewiß.« Er lächelte selbstsicher. »Und wenn erst Myra in meiner Hand ist, werden Heere deinesgleichen in die Welt hinausmarschieren … unverwundbar und graueneinflößend und ohne Mitleid …«

Er erhob sich. »Es ist noch Zeit, bis Totamas aus Myra zurückkehrt

und berichtet. Er ist mit dem Mantel unterwegs. Er bringt ihn zurück. Es soll alles seinen rechten Lauf nehmen. Ich will meine Macht über diesen Mantel beweisen, indem ich diese Probe über mich ergehen lasse. Nicht mit Kraft, sondern mit Klugheit überwinde ich das Feuer, das den Träger des Mantels verbrennt. Ich habe dieses Feuer gespürt und ertragen, um es zu verstehen. Ich weiß, welche eine Kraft König Dragon besitzt, die ihn dieses Feuer ertragen läßt – die Liebe und Leidenschaft, die von der Königin erwidert wird. Ich kenne die Macht der Gefühle. Nur sie brennen wie die Kräfte des Mantels. Wer in Gefühlen verbrennt, spürt dieses andere Feuer nicht mehr. Zudem ist es nicht ohne Logik. Die Königin verzehrt sich nach ihm. Nurdiese Leidenschaft unterscheidet ihn von allen anderen Männern. Und alle anderen vermögen den Mantel nicht zu tragen. Daß Totamas den Mantel so lange ertrug, mag mit seiner Treue zur Königin erklärt sein. Bei Talferas war es der Haß. Darum starb er …« Nachdenklich schritt er auf und ab.

»Dieser Dragon muß ein Magier sein wie ich. Aber ich werde seinen Liebeszauber brechen. Ich werde dafür sorgen, daß Amee sich nach mir verzehrt. Ich muß sie besitzen. Sie und den Thron.«

Er trat auf Haleb zu und berührte ihn. Einen Augenblick war es, als ob er erschrak bei der Berührung. »Du wirst deine Hände verhüllen und vermeiden, daß dich jemand berührt. Es ist für einen Menschen nur schwer zu ertragen. Sie würden Verdacht schöpfen. Aber nun wollen wir sehen, wie vollkommen mein Werk ist, wie gut alle Gefühle getilgt sind. Folge mir!«

Er schritt voran aus dem Raum. Haleb folgte ihm, halb schwebend, halb schreitend. Sie verließen den Turm und stiegen in die Keller des Schlosses. Sie kamen an einer Schmiede vorbei, vor der sich mehrere Wachen mit dem Schmied unterhielten. Einer der Männer lag am Boden. Sein Hals zeigte blutige Spuren.

Rachmud grinste, als er es bemerkte. Die Männer starrten ihm unsicher entgegen.

»Sagte ich euch nicht, daß sie ein Teufel ist? Lebt er noch?«

»Ja, Herr …« »Führt uns zu ihr!« Die Männer beeilten sich und führten den Daikan und seinen

stillen Begleiter zu einer Zelle. Sie schlossen auf. Das Mädchen war mit einem Sprung an der Tür. Überrascht hielt

sie inne, als sie Haleb neben Rachmud bemerkte – frei und ohne Ketten.

»Haleb …?« entfuhr es ihr. Gleichzeitig sah sie den Hohn in Rachmuds Gesicht und ahnte, daß etwas nicht stimmte.

Haleb antwortete nicht. In seinen ausdruckslosen Zügen zeigte sich keine Regung.

Einen Moment glaubte sie, daß er diese Teilnahmslosigkeit spielte, und sie verfluchte, daß sie sich verraten hatte. Aber gleichzeitig schien es ihr absurd, denn Rachmud wußte, daß sie einander nicht fremd waren.

»Sag mir, was du empfindest!« befahl Rachmud. »Ja«, antwortete Haleb ausdruckslos. »Ich … empfinde … nichts

…« Er sagte es mühsam, als fiele es ihm schwer, zu sprechen. »Aber du erkennst sie wieder?« »Ich erkenne … sie.« »Du hast sie geliebt?« »Ich … weiß es … nicht …« »Liebst du sie noch?« »Ich liebe … nicht.« Dajna starrte ihn entsetzt an, »Haleb. Was hat er mit dir gemacht?

Haleb, mein Liebster …?« »Er ist mein Sklave«, erklärte Rachmud. »Ist er tot?« »Nein. Aber er lebt auch nicht … nicht wie ein Mensch. Faß sie

an!« Sie wich zurück, als Haleb auf sie zutrat. Es war eine instinktive

Furcht vor der Fremdheit in ihm. Aber dann hielt sie inne und wartete. Sie versuchte, in seinen Augen die Wahrheit zu ergründen. Doch seine Augen waren leer.

Als er sie am Arm berührte, schrie sie auf. Die Kälte, die von seinem unmenschlichen Körper ausströmte, erfüllte sie bis tief ins Innerste mit Verzweiflung.

»Du Scheusal«, sagte sie tonlos und starrte Rachmud ins Gesicht. »Du Ungeheuer …«

Auch die Männer waren mit bleichen Gesichtern vor der gespenstischen Szene zurückgewichen. Sie brachten Rachmud keine Liebe entgegen. Was sie stärker an ihn band, war die Furcht – eine Furcht nicht nur vor menschlicher Macht.

»Die Götter werden auch für dich eine Hölle schaffen, in der du für allen Schmerz bezahlen wirst …«

»Die Götter, sagst du?« Rachmud lachte schallend. »Und der Dämon in deinem Geist! Sei verflucht …!« Rachmud lachte erneut. »Ah, Haleb, komm zurück. Du hast recht

daran getan, sie zu vergessen«, sagte er spöttisch. »Schließt sie ein!« Zögernd näherten sich die Männer und schlossen die Tür. Ihre

Hände zitterten. Ihre Blicke folgten Halebs manchmal gewichtlos schwebender Gestalt. Ihre Lippen bewegten sich wie im Gebet zu den Göttern, die eben noch geschmäht worden waren.

In einem hatte der Daikan recht. Die Furcht machte seine Helfer schwach.

*

Im Morgengrauen kam Totamas zurück. Rachmud hatte den Rest der Nacht geschlafen. Halebs magischer

Körper litt nicht an Schwäche und Müdigkeit. Er blieb in der Nähe seines erstarrten menschlichen Körpers, als ob es ihm in all der Gefühllosigkeit dennoch so etwas wie Geborgenheit vermittelte. Mehr noch – sein menschlicher Leib strömte ihm aus dieser Nähe vage Erinnerungen an das Leben zu, und auch umgekehrt fand solch eine Verbindung statt. Nicht alle Bande waren erloschen. Grimm und Schmerz flossen hin und zurück – zu schwach, um mehr als eine kostbare Erinnerung zu sein, und doch stark genug,

daß sich unendlich langsam die eiskalten Fäuste des erstarrten menschlichen Körpers ballten und Tränen über das Gesicht rollten.

Als der Morgen graute, sah Haleb, wie Totamas durch die Wand kam und vor Rachmuds Lager hielt.

Der Daikan war sofort hellwach. »Hat jemand Verdacht geschöpft?«

»Nein«, erklärte Totamas. »Wem hast du den Mantel gegeben?« »Partho.« »Stellte er Fragen?« »Ja.« »Welche? Sprich!« »Wo ist Haleb? Wo sind die anderen?« »Was hast du geantwortet?« »Sie sind auf dem Weg nach Myra.« »Gut. Ich sehe, daß dein Gedächtnis nicht gelitten hat. Wann soll

die Probe stattfinden?« »In zwei Tagen.« Rachmud nickte. »Wußte Partho von deiner Gefangennahme?« »Nein.« »Bist du sicher?« »Er sprach nicht davon.« Nachdenklich murmelte Rachmud: »So muß sich dieser Tarl noch

in der Umgebung Reghars herumtreiben. Aber es ist nicht mehr wichtig. Er kann meinen Plänen nicht mehr schaden, auch wenn ihn die Soldaten nicht finden. Nichts wird uns mehr aufhalten. Und du, mein Freund …« Er wandte sich an Haleb. »Der du Zugang zu den königlichen Gemächern hast und ein inniger Freund Amees bist, du wirst dafür sorgen, daß die Königin reichlich mit diesem Liebeswässerchen benetzt ist …« Er winkte den beiden zu, sich zurückzuziehen. »Wir brechen auf, sobald es hell ist. Haltet euch bereit.«

»Wir sind bereit«, antworteten beide wie aus einem Mund.

6.

Königin Amee blickte unsicher auf die Frau, die mit schlafwandlerischer Sicherheit in ihr Gemach kam, obwohl ihre Augen blind waren.

»Maratha«, sagte sie verwundert. Sie erhob sich und lief ihr entgegen. Sie ergriff die Hand der Seherin. »Maratha, was bringst du mir …?«

»Keine Bilder, die du ersehnst, Amee. Keine, die dein und mein Herz leichter machen könnten. Nur eine Ahnung …«

»Eine Ahnung?« »Mein innerer Blick dringt ins Leere. Ich sehe nichts. Ich bin nur

von jener Unruhe erfüllt, mit der ich immer die Gefahr erahnte. Hüte dich vor …« Sie brach ab. Ihre blinden Augen öffneten sich einen Augenblick weit, als sähe sie damit.

»Es ist seltsam«, murmelte sie. »Ich vermag es nicht deutlich zu erkennen. Es ist, als wäre Haleb … tot …«

Amee erschrak. »Haleb tot …? Du mußt dich irren, Maratha. Totamas berichtete gestern, daß Haleb auf dem Weg nach Myra wäre. Er würde mich nicht belügen. Du mußt dich irren …!« Sie sagte es fast beschwörend.

Maratha schüttelte den Kopf. »Ich irre mich nie. Es geschieht nur manchmal, daß ich die Bilder nicht richtig deute.«

»Nun jetzt … jetzt hast du Zweifel?« fragte Amee eindringlich. »Ja«, antwortete Maratha. »Es ist, als sähe ich ihn hier in Myra,

dennoch ist er tot an einem anderen Ort …« »Wo, Maratha? Kannst du erkennen, wo?« Wieder bekamen die Augen der Seherin diesen intensiven

Ausdruck. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein. Es ist ein … Wall von Kräften um ihn … alte Kräfte, die lange schliefen …«

»Zauberei?« Aber Maratha erwachte aus ihrer Entrückung. Sie zitterte unter

einer plötzlichen Schwäche. Amee führte sie fürsorglich zur Bank,

wo sie auf den Kissen Platz nahm. »Du mußt vorsichtig sein«, murmelte sie. »Die Wolken sind schwarz über diesem Haus.«

»Was bedeutet es?« »Daß alles geschehen mag … und daß es vielleicht in unseren

Händen liegt.« Beide schwiegen. Schließlich brach Amee die Stille: »Ich war stark in all dieser Zeit

… ohne … ihn. Die Götter wissen, daß ich litt, und daß ich selbst aus deinem Leiden Kraft schöpfte. Aber nun …« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht bin ich nur müde … aber ich habe Angst, Maratha. Wenn auch Haleb und Dajna, die mir immer wieder Hoffnung gaben, verloren sind …«

»Halte die Augen offen, wenn Rachmud kommt. Er ist nicht der Mann, der sich auf sein Glück verläßt. Er bereitet alles wohl vor. Er hatte den Mantel. Vielleicht hat er das Geheimnis ergründet. Es heißt, daß in Reghar seit tausend Sommern Zauberei geschieht, die den Menschen nichts Gutes will. Und Rachmud ist einer, der mit ihr spielt. Er ist machtbesessen genug, auch Dinge zu wagen, die über seine Kräfte gehen könnten. Er will den Thron, und er begehrt dich. Und er ist nicht der Mann, den diese Mantelprobe aufhalten wird, wie sie auch ausfallen mag. Ich weiß es. Ich sehe in einen Mann hinein, wenn ich ihn ansehe. Und Rachmud habe ich mir bereits vor geraumer Zeit gut angesehen. Er ist eiskalt genug, um über Leichen zu gehen. Aber er ist nicht klug genug. Ich weiß, daß du ihm gewachsen sein wirst. Aber sei wachsam.«

»Wie?« »Indem du allen und allem mißtraust.« Die Königin nickte. »Magie«, fuhr die Seherin fort, »ist immer ein Trugbild, eine

Täuschung der Sinne, oder ein Widerspruch zu den Gesetzen der Natur und der Elemente …«

»Dieser Meras«, flüsterte Amee, »der den Mantel stahl … Ich sah, wie ihn Pfeile durchbohrten, ohne daß er etwas zu spüren schien. War er ein Trugbild? Oder das Werk jener alten dämonischen

Kräfte, von denen du gesprochen hast?« »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Es ist schade, denn

meinem inneren Auge wäre nichts verborgen geblieben. Aber ich fühle, daß wir davon noch mehr zu spüren bekommen werden …« Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Doch gibt es reinigende Kräfte auf der Erde, denen auch sie nicht gewachsen sind. Das Feuer ist die mächtigste von allen.«

»Das Feuer«, wiederholte Amee murmelnd. »Daran soll es nicht mangeln …«

*

Rachmuds Gruppe, bestehend aus einem Dutzend von Gefolgsleuten, unter ihnen auch Molnor, der seinen Herrn auf fast allen größeren Ritten begleitete, drei magischen Körpern, Haleb, Totamas und Meras, und natürlich dem Daikan selbst, verließ am Morgen Reghar und erreichte am späten Nachmittag das einsame Gebäude, zu dem man einst Haleb entführt hatte. Dort wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Wenige Stunden vor Morgengrauen brach die Gruppe nach Myra auf, wo bei Sonnenaufgang die Probe beginnen sollte.

Rachmud ging kein Risiko ein. Wenn er kurze Zeit vor der Probe in Myra eintraf, blieb niemandem genug Zeit, seine drei seltsamen Begleiter genauer ins Auge zu fassen. Sie hatten Befehl, nach Verabreichung des Liebeswassers die Gesellschaft zu verlassen, damit niemand Verdacht schöpfte. Meras durfte den Palast gar nicht betreten. Zu leicht mochte man ihn wiedererkennen. Aber sie sollten in Bereitschaft bleiben. Wenn es unerwarteten Ärger gab, dann würden sie eingreifen – unverwundbar und furchteinflößend.

Als Rachmud in der Morgendämmerung den Palast erreichte, erlebte er eine erste Überraschung: Während aller Proben, die er mitangesehen hatte, waren so früh am Morgen kaum Neugierige anwesend gewesen. Er hatte damit gerechnet, daß es nur wenige Zeugen gab.

Aber nun sah er, daß alle versammelt waren, mehr als er je bei einer Probe gesehen hatte. Erwarteten sie solch ein einzigartiges Ereignis? Es schmeichelte ihm fast. Sie sollten es haben!

Er war froh, daß er nun nur mit seinen Männern in den Palast kam. Haleb und Totamas, so hatten sie beschlossen, sollten ein wenig später folgen, so daß es aussah, als kämen sie allein und nicht in der Gefolgschaft Rachmuds.

Die Blicke, die ihm und seinen Männern folgten, waren nicht freundlich. Aber das kümmerte ihn wenig. Das würde vergolten werden, wenn er am Thron saß. Ein großes Säubern würde in diesen Hallen stattfinden – und kein Blut sollte dabei fließen. Er brauchte Sklaven – gefühllos und gehorsam und übermenschlich. Hunderte. Tausende.

Arrogant, als wäre er bereits der Herr über Myra, zog er mit seinem Gefolge in den Saal ein. Alle nahmen Platz.

Noch fehlte die Königin. Sie warteten auf den Sonnenaufgang. Während des Wartens fiel

ihm noch ein seltsamer Umstand auf, aber er maß ihm keine Bedeutung bei. Ungewöhnlich viele Fackeln und Lampen brannten im Saal. Beinah jeder zweite hielt eine Fackel in der Hand, obwohl längst die Helligkeit des Morgenhimmels durch die großen Fenster fiel. Eine Wolke von Qualm begann sich an der Decke zu sammeln.

Gut – sie sollten sie genau sehen: Amees Leidenschaft für ihn. Er lächelte im Vorgefühl des Triumphs.

*

Dem Befehl folgend, schritten Haleb und Totamas in den Palast. Da die meisten bereits im Thronsaal versammelt waren, begegneten sie kaum jemandem. Sie erregten kein Aufsehen. Wer sie sah, grüßte sie. Sie begingen keine Fehler.

In der Nähe des Saales trennten sie sich. Totamas blieb zurück, während Haleb auf die Gemächer der Königin zusteuerte. Er empfand nichts, und nichts erinnerte ihn. Alte Loyalitäten waren

ausgelöscht. Sie schlummerten in seinem menschlichen Körper, einen Tagesritt nach Süden entfernt.

Es gab nur einen, der befahl, nur einen, dem er gehorchte. Er nahm das Fläschchen aus dem Gürtel. Unerwartet hielten ihn die Wachen vor dem Eingang zu Amees Privatgemächern auf.

»Kennt ihr mich nicht?« fragte Haleb. »Doch, Herr. Ihr seid Haleb, der Daikan der Siliker.« »So laßt mich durch. Ich bin sicher, die Königin erwartet mich.« »Wir haben unsere Befehle, Fürst. Geduldet Euch einen

Augenblick.« Haleb wartete gleichmütig, während einer der Männer sich nach

drinnen begab. Wenig später erschien eine Frau an der Tür. Es war Iwa. Sie

entschuldigte sich, daß man ihn warten ließ, und führte ihn hinein. Aber sie brachte ihn nicht zu Amee, sondern in den Raum für die halboffiziellen Empfänge. Dort bat sie ihn zu warten.

Während er wartete, wußte er, daß ihn jemand beobachtete, doch nicht mit menschlichen Augen, sondern mit einer anderen Art von Blick, die so magisch war wie sein Dasein. Die innere Welt nach außen gekehrt. Dieser Blick vermochte ihn zu berühren. Er vermittelte ihm ein Gefühl, nicht eines, das er selbst empfand, aber eines, das aus der Frau kam, die ihn beobachtete.

Er wußte, wer sie war. Maratha, die Seherin. Ein Wandel ging mit ihm vor. Immer mehr von ihrem Innern,

ihren Gefühlen strömte auf ihn über. Es war gleichgültig, ob es ihre oder seine Gefühle waren. Er spürte sie mit. Er liebte, haßte, litt und freute sich mit.

Viel Menschliches wurde in diesem Augenblick wieder in ihm wach, das in seinem fernen Körper begraben lag. Er besaß keine eigenen Empfindungen, aber seine gepeinigte Seele lieh sich ihre aus und machte sie zu seinen eigenen.

Der sklavische Gehorsam lähmte ihn noch immer, aber anderes wurde ebenso stark: Haß – Haß auf seinen Peiniger; Liebe – Liebe für Dajna, für Amee, für den König und Myra, für alle Dinge, die

ihm etwas bedeutet hatten; Grimm – Grimm über seine Hilflosigkeit.

Es wuchs, und schließlich triumphierte es über den Gehorsam. Er sah Maratha auf sich zukommen.

Mühsam hob er die Hand mit dem Fläschchen und hielt es ihr entgegen. »Leert es«, sagte er. Das Sprechen kostete seine ganze Kraft. Er wußte, daß es nicht das Sprechen selbst war, vielmehr der Verrat, die Verweigerung des unmenschlichen Gehorsams. »Nicht … Amee …«

Sie nahm es aus seiner eisigen Hand, und er spürte das Erschrecken in ihr bei der Berührung.

Die Königin betrat den Raum. »Haleb!« rief sie, aber ihre Stimme zitterte bei seinem Anblick.

»Haleb, was ist …?« Eine ungeduldige Handbewegung Marathas ließ sie verstummen. »Was bewirkt es?« fragte sie Haleb. »Leidenschaft«, erwiderte er mühsam. »Für Rachmud?« »Ja.« »Und du solltest es ihr geben«, fuhr sie fort. Es war keine Frage. »Maratha, er ist so seltsam … so fremd … was ist mit ihm?« fragte

Amee besorgt. »Ich kann es nicht genau erkennen. Aber es ist nur ein Teil von

ihm hier. Er hat keine Gefühle. Sie blieben in Rachmuds Schloß zurück …«

»Keine Gefühle …?« rief die Königin. »Um der Götter willen, was bedeutet das? Was hat Rachmud ihm angetan?«

»Ich weiß es nicht, Amee.« Sie schüttelte den Kopf. »Können wir nichts tun?« »Ich weiß es nicht.« Sie winkte, als Amee erneut zum Sprechen

ansetzte. »Sei still!« sagte sie heftig. »Es übersteigt meine Kräfte, ihm Kraft zu geben und an mehr als nur an ihn zu denken.« Zu Haleb sagte sie: »Wo ist Dajna?«

»Im Palast …«

»So wie du?« »Nein.« »Gibt es noch andere, die so sind wie du?« »Totamas«, antwortete er. »Meras … er will viele …« Er brach ab.

Er spürte, wie die Kräfte der Frau nachließen, wie er wieder frei von ihr wurde. Nur der Gehorsam war die treibende Kraft in ihm. Hätte er den Befehl gehabt zu töten, so hätte er nun getötet – mitleidlos, kalt. Aber er hatte nur den Befehl, das Liebeswasser für Amee abzugeben und sie zu überzeugen, daß sie es benützte.

»Meine Kräfte schwinden«, sagte Maratha. »Er ist wieder Rachmuds Geschöpf …«

»Können wir helfen …?« fragte Amee bleich. »Vielleicht«, antwortete die Seherin. »Aber es braucht Zeit … und

einen guten Plan. Aber nun ist dein Leben in Gefahr, deine Freiheit. Du mußt deine Rolle gut spielen.«

Haleb war wieder frei, leer von Gefühlen, außer dem Drang, zu gehorchen. Er sah das Fläschchen in Marathas Hand. Er wollte danach greifen, doch sie wich zurück.

»Es ist für die Königin«, sagte er. Es klang drohend. Amee begriff rasch. »Was ist es, Haleb?« »Ein Wasser, das den Duft von Blumen des Südens besitzt, und

das Euch schützen wird vor bösem Zauber. Benetzt Euch damit.« Erfreut ging sie auf Maratha zu und nahm ihr das Fläschchen aus

der Hand. »Habt Dank, Haleb.« »Du mußt nun gehen, Königin«, drängte Maratha. »Die Sonne

geht auf. Es ist nicht mehr viel Zeit.« »Ja, Maratha«, stimmte Amee zu und ließ sich von ihr zur Tür

führen. »Ihr benützt es? Noch heute?« sagte Halebs Stimme kalt. »Ja, Haleb«, erwiderte Amee. »Ich verspreche es.« Der Auftrag war ausgeführt. Niemand hielt ihn auf, als er die

Gemächer der Königin verließ.

7.

Rachmud lächelte siegessicher, als er die Königin den Saal betreten sah. Sie hielt das Fläschchen in ihrer Hand. Sie roch daran. Er wußte, daß der Duft stark und anziehend war. Wenn sie daran roch, würde sie es auch benutzen. Es war unfehlbar.

Kurze Zeit später, als Partho und einige Palastwachen den Mantel hereintrugen, bemerkte er, wie sie ihre Finger benetzte und den Hals.

Triumph erfüllte ihn. Er hatte nur Augen für Amee, so daß ihm die blinde Frau entging, die sich zielstrebig einen Weg durch die Versammelten bahnte, um in die Nähe seines Gefolges zu gelangen.

Die Königin erhob sich und verkündete den Beginn der Probe. Rachmud begab sich in die Mitte des Saales und legte den Mantel

um. Er lachte innerlich. Wenn sie dieser einfachen Zauberei nicht gewachsen war, wie hilflos und ihm ausgeliefert würden sie erst sein, wenn er sich an die größeren Dinge heranwagte, deren Geheimnisse in seinem Schloß schlummerten?

Wenn er die Dämonen beschwor, die hinter der Wirklichkeit lauerten? Mit ihrer Hilfe würde er sich die Welt Untertan machen.

Eines Tages … Während er noch darüber nachsann, wurde ihm vage bewußt, daß

nicht alles nach Plan verlief. Sein Liebeszauber sollte längst wirken. Er begann zwar erste

Regungen der Leidenschaft zu fühlen, aber Amee saß entspannt am Thron und schien offenbar nichts zu spüren. Oder beherrschte sie sich so sehr?

Nein, in ihren Zügen war keine Anspannung zu bemerken, nichts, das einen inneren Kampf verriet.

Was war geschehen? Wirkte der Zauber nicht? Hatte er irgend etwas nicht bedacht? Während noch diese Zweifel an ihm nagten, wurde ihm auch noch etwas anderes bewußt.

Der Mantel begann ihn langsam, aber unaufhaltsam in sein Feuer

zu hüllen. Noch waren die Schmerzen zu ertragen. Aber daß sie überhaupt kamen, erschütterte sein Selbstvertrauen zutiefst.

Dann begann dieses andere Feuer zu brennen, das der Leidenschaft. Für eine Weile löschte es das Brennen des Mantels aus. Aber die Leidenschaft war nutzlos, denn sie glühte nicht zwischen ihm und Amee, wie er es geplant hatte, um ihre Liebe für Dragon zum Erlöschen zu bringen.

Von plötzlichem Schrecken erfüllt, erkannte er, daß die magische Leidenschaft erwidert wurde. Jemand hinter ihm … Jemand, der sich ihm näherte.

Er fuhr herum – und erstarrte. Molnor befand sich auf halbem Weg zwischen ihm und den

Zuschauern. Er sah seinen Herrn verlangend an. Die Versammelten starrten verblüfft und gebannt zugleich auf den mißgestalteten Zwerg. Aber keinem konnte der schmachtende Blick entgehen, mit dem das häßliche Geschöpf seinen Herrn bedachte.

Rachmud stieß einen Wutschrei aus, der den Zwerg jedoch nicht beeindruckte. Vereinzeltes Lachen klang auf, das Rachmud das Blut ins Gesicht trieb.

Jemand hatte ihn betrogen! Haleb? Nein, er konnte nichts anderes als gehorchen. So gab es jemanden hier, der ihn durchschaut hatte! Er würde seinen Triumph nicht auskosten!

Rachmuds Wut wurde durch etwas anderes hinweggespült. Das magische Wasser tat seine grausame Wirkung. Der Heggarenfürst erschauerte, als die Gestalt des häßlichen Zwerges vor seinen Blicken zu etwas begehrenswertem wurde, zu etwas von solcher Lieblichkeit, daß es seine Sinne berauschte. Amee war vergessen. Es gab nur ein Glück auf dieser Erde, und es lag in den Armen dieses himmlischen zwergenhaften Geschöpfes.

»Molnor«, murmelte er mit bebender Stimme. Auch der Zwerg, der zu spät bemerkt hatte, wie die Seherin ihm

die Flüssigkeit überschüttete, war nun voll in ihrem Bann. Er lief auf seinen Herrn zu.

Nur Amee und Maratha ahnten, was geschehen würde. Die

übrigen Anwesenden starrten in sprachloser Verblüffung auf das groteske Bild der beiden sich innig umarmenden Männer, die einander zärtliche und leidenschaftliche Worte zuflüsterten.

Irgendwo begann eine Gruppe zu lachen. Das brach weitgehend den Bann. Bemerkungen flogen hin und her.

»Ist das so üblich in Reghar?« »Wahrlich seltsame Bräuche haben die Heggaren!« »Seht einmal nach, vielleicht ist es ein weiblicher Zwerg!« »Muß ja nicht der Zwerg weiblich sein, nicht wahr?« »Holde Rachmuda!« Der ganze Saal brach in wieherndes Lachen aus. Schließlich gebot Amee dem grausamen Spiel Einhalt. »Trennt die

beiden!« Die Wachen hatten indes Mühe, die beiden Verliebten zu trennen. »Schafft den Zwerg in ein Bad und schrubbt ihn gründlich, das

wird ihn ernüchtern!« Unter dem schallenden Gelächter der Versammelten kam

Rachmud langsam wieder zur Besinnung. Verletzter Stolz ließ ihn rot sehen. Die ohnmächtige Wut schwemmte die sinnlose Leidenschaft fort, die ihn vor allen zum Gespött gemacht hatte. Sie würden grausam dafür bezahlen – als seine Sklaven.

Die Königin bat um Ruhe. »Laßt mich erklären, was das alles zu bedeuten hat …«

»Hüte dich, Amee!« rief Rachmud ergrimmt. »Droht Ihr mir, Daikan? Vor aller Ohren?« Mit aller Macht bezähmte er sich. Zuviel war jetzt durch

Unbedachtsamkeit zu verlieren. »Es war ein magisches Wasser, das diese beiden zu Narren

machte. Aber es war nicht für den bedauernswerten Molnor bestimmt, sondern für mich!«

Ein Raunen ging durch die Menge. »Um zu zeigen, welche Schurkerei geplant war, und welcher

Kräfte und Mittel sich dieser Teufel unter uns bedient, gestattete ich diesen kleinen Scherz. Aber die Lage ist ernster. Ihr alle, die Ihr treu

zu diesem Thron gestanden habt, Ihr alle seid in tödlicher Gefahr. El Haleb, der Daikan des Gövergebietes, und Totamas, der König der Iwaren, befinden sich in seiner Gewalt, und sie sind nicht die einzigen. Die Götter allein wissen, was ihnen geschah. Es mag sein, daß sie nicht mehr leben …«

Rachmud wußte plötzlich, daß sein Leben in Gefahr war. Mit wütenden Rufen sprangen die Daikane und Gefolgsleute auf; ihre Fäuste waren an ihren Schwertern. Der Saal war plötzlich von grimmigen Rufen erfüllt, und die Ahnung von Blut lag in der Luft.

Amees schneidende Stimme brachte atemlose Stille. »Halt! Es geschieht kein Mord hier vor meinen Augen. Solange ich auf diesem Thron sitze, wird dem Unschuldigen wie dem Schurken Gerechtigkeit widerfahren!«

Sie erhob sich. »Fürst der Heggaren. Ich enthebe Euch Eures Amtes eines Daikans des myranischen Reiches. Für die Euch zur Last gelegten Verbrechen gegen Menschen und gegen die Krone des Reiches verhafte ich Euch. Über Euch wird nach eingehender Untersuchung entschieden werden. Über Euer Herrschaftsgebiet wird ein Mitglied des Reichsrats regieren, bis die Nachfolge geklärt ist!«

Sie gab den Wachen einen Wink, Rachmud festzunehmen. Mit einem erstickten Schrei wich Rachmud vor ihnen zurück. »Das

wagt Ihr nicht! Wenn einer dieser Hofnarren Hand an mich legt, wird Blut fließen!«

Die Wachen zögerten einen Augenblick. Den nutzten Rachmuds Gefolgsleute, sich mit blanken Klingen um ihn zu scharen.

»Haleb! Totamas!« brüllte er mit sich überschlagender Stimme. Der Saal erstarrte. Die Stille versank in einem vielstimmigen Aufschrei, als zwei

Gestalten durch die Marmorwand des Saales kamen. Sie hatten die bekannten Züge, aber jeder spürte, daß sie nicht ihresgleichen waren.

Nur Dämonen, Geister und andere unmenschliche Kreaturen vermochten durch steinerne Wände zu gehen, weil sie selbst kein

fester Stoff waren. Und ohne Fleisch und Blut. Das waren nicht Haleb und Totamas! Das waren Teufel, die

Rachmud aus der Hölle beschworen hatte. »Greift an!« brüllte Rachmud außer sich vor Wut. Sie gehorchten. Ohne Waffen, nur mit Händen und Zähnen und

der lähmenden Kälte ihrer Körper stürzten sie sich mitten in die schreiende Menge.

Aber während einige in blinder Panik zurückwichen, drangen andere vor. Haleb und Totamas waren mit einemmal umringt von Wachen, die hell lodernde Fackeln auf sie gerichtet hielten. Mit Schreien, die nicht menschlich klangen, wichen die magischen Gestalten zurück, aber nicht mehr als einen Schritt, denn auch hinter ihnen loderten Flammen. Ein Feuerkreis umgab sie.

»Zurück!« schrie Rachmud, der um die Macht des Feuers wußte. Aber es gab kein Entweichen mehr. Rachmud erkannte, daß er

diese Schlacht verloren hatte. Mit einem Schrei riß er den Mantel von sich. Jetzt gab es nur noch eines: Flucht! Aber er würde wiederkommen!

Keiner vermochte zu sagen, wie es ihm gelang, den Saal zu verlassen, und an Parthos Soldaten vorbeizukommen, die den Palast umstellt hatten. Aber es verwunderte auch keinen (außer Partho). Er war ein Magier. Für ihn gab es Mittel und Wege, die niemand ahnte.

Was zurückblieb, war sein Gefolge und Haleb und Totamas, die unbeweglich inmitten der Flammen standen.

»Was soll mit ihnen geschehen, erhabene Königin?« fragte einer. »Verbrennt sie!« gellte ein vielstimmiger Schrei durch die Halle. »Nein!« Es war Maratha, die Einspruch erhob. »Nein. Laßt sie

gehen. Sie sind nur seine Sklaven, und wir wissen, wie wir ihrer Herr werden können …«

»Aber sie werden wieder über uns herfallen, wenn er es befiehlt!« »Deshalb müssen wir trachten, ihn zu vernichten. Nur so können

wir sie befreien.« »Gibt es denn noch eine Rückkehr ins Leben für sie?« »Ja. Ich weiß es. Sie sind nicht tot oder untot. Ihr Geist ist nur in

einem magischen Körper gefangen. Wenn wir ihn verbrennen, werden sie sterben …«

»Laßt sie gehen!« befahl Amee. Nur zögernd wichen die Wachen zurück. Als der Kreis sich

öffnete, glitten die beiden hoch wie Schemen. Sie sprangen nicht, sie schwebten. Und sie verschwanden im kalten Marmor.

»Wohin gehen sie?« fragte Amee. »Nach Hause«, antwortete Maratha. »Nach Hause?« »Dort wo ihre Körper sind.« »Und Rachmud«, murmelte Amee düster. »Ja, und Rachmud. Aber sei frohen Mutes, Königin. Du hast die

erste Schlacht gewonnen.« »Und wir werden auf die zweite nicht warten. Vielleicht gelingt es

Partho noch, ihn vor seiner Höhle abzufangen. Wenn nicht, mag es Krieg mit Reghar bedeuten.«

*

Rachmud gelang die abenteuerliche Flucht. Von seinem Schloß aus beobachtete er Parthos Truppen, etwa zweihundert Männer, die sich daranmachten, vor den Toren Reghars zu kampieren.

Er tobte und wütete in seinem Turm, aber er war klug genug, Parthos Streitmacht in Ruhe zu lassen, obwohl ihm allein in Reghar genügend Kräfte zur Verfügung standen, sie ohne viel Aufhebens niederzumachen. Sie würden wiederkommen, in größerer Stärke. Auf diesem Weg würde er den kürzeren ziehen.

Dennoch ließ er sein Schloß für die Verteidigung vorbereiten und befahl dem Stadtkommandanten, alle Kräfte bereitzuhalten.

Aber das war es nicht, was ihn wirklich bewegte. Was ihn in allem Grimm so ruhelos durch seinen Turm trieb, war Furcht. Er wußte, daß er in der Lage war, Kräfte zu wecken, die ganz Myranien verschlingen mochten, wenn sie einmal erwacht waren. Er brauchte sie – ein wenig davon. Doch er wußte aus den alten Schriften seiner

Vorväter, daß diese Kräfte nicht immer willig waren; daß der, der sie beschwor, auch ihr erstes Opfer sein mochte; und daß nichts ihm eine Garantie gab.

Doch er brauchte sie, oder er war verloren. Er besaß noch keine Erfahrung. Dies waren Bereiche der Magie,

die selbst seine kalte Seele schaudern ließen. Der Preis, das wußte er, war Blut und Leben und Verdammnis.

Er war bereit, diesen Preis zu zahlen, doch nicht mit seiner eigenen Verdammnis. Er war bereit, Ströme von Blut zu zahlen, Tausende von Leben zu geben. Die Dämonen mochten sich nehmen, was sie begehrten, wenn sie ihm zur Macht verhalfen …

Erneut brütete er über seinen Schriftrollen. Wieder wanderten seine Gedanken zurück zu den Geschehnissen

am myranischen Hof – wie schon tausendmal in diesen zwei Tagen seit seiner Rückkehr. Und wieder erbebte er vor Grimm bis in die tiefsten Gründe seiner eitlen Seele.

Er ertrug die Niederlage. Was er nicht ertrug, war der Spott, war die Erinnerung an die grinsenden Fratzen.

Er betrachtete die drei reglosen Gestalten seiner magischen Sklaven. Sie waren nun wertlos, da jeder ihre Verwundbarkeit kannte. Er hatte sie überschätzt. Selbst wenn er eine ganze Armee ihresgleichen besaß – ein einziges Steppenfeuer würde sie hinwegfegen wie ein Kornfeld.

Nein, diese primitive Art der Magie vermochte ihm nun nicht mehr zu helfen. Er brauchte etwas, das seine Feinde hinwegzufegen vermochte.

Er würde es wagen! Er mußte seine Rache haben – was es auch kostete! Und hier war

ein erstes Angebot. Wenn er seinen Sklaven die menschliche Gestalt wiedergab, daß sie Fleisch und Blut waren, dann erfüllten sie noch einen sehr nützlichen Zweck:

Seine Opfergabe an den Dämon, den er beschwören würde.

*

Sein Entschluß war gefaßt, seine Furcht, wenigstens in diesem Augenblick, in den Hintergrund des Bewußtseins gedrängt. Es währte eine Weile, bis er die Formeln für die Rückverwandlung der Sklaven gefunden hatte (es war das erstemal, daß er es tat). Und wie bei jedem Zauber, den er aus den alten Rollen studierte, erfüllten ihn Eifer und Neugier, und wuchs das Gefühl der Macht in ihm.

Meras war der erste, an dem er es versuchte. Doch Meras starb unter seinen beschwörenden Händen und Worten. Das war ein Schlag gegen sein Selbstbewußtsein. Nicht, daß er Meras' Tod in irgendeiner Weise bedauerte, außer daß der Dämon sich nun mit zwei Opfern begnügen mußte. Er hätte das Katmahzari-Mädchen nicht an Kwesas verkaufen sollen. Sie wäre ein guter Ersatz gewesen. Aber andererseits hatte Kwesas ihn immer mit den wichtigen Säften und Kräutern versorgt, die er für seine Beschwörungen benötigte. Nun, Opfer würden nicht schwer zu finden sein.

Er studierte die Formeln erneut und entdeckte den Fehler. In kurzer Zeit waren die beiden in ihre Körper zurückgekehrt. Bis sie erwachten, würde er bereit sein. Er ließ sie fesseln und legte sie in die Nähe des Tisches, der ihm als Altar dienen würde. Meras' Leiche legte er daneben. Es mochte immerhin sein, daß der Dämon auch an ihr noch Geschmack fand.

Nach diesen Grundvorbereitungen begab er sich ans Fenster und schüttelte drohend die Faust in Richtung auf Parthos Lager. Der Grimm verzerrte sein Gesicht. Ein Blick in den Spiegel hätte ihm gezeigt, daß er den Dämon nicht erst beschwören brauchte – daß er selbst einer war!

Es wäre eine Erkenntnis gewesen, die sicherlich seiner Eitelkeit geschmeichelt hätte.

Er öffnete die beiden Truhen im Hintergrund des Raumes. Der einen entnahm er eine bronzene Figur. Feurige Rubinaugen funkelten in einem grausamen Gesicht.

Er stellte sie auf den Altar, entzündete Fackeln rund um sie. Die

zuckenden Flammen verliehen ihr ein seltsames Leben. Das Gesicht zuckte wie in höhnischem Lachen.

Aber wohl nur in der Einbildung eines götter- und dämonenfürchtigen Menschen. Rachmud sah nichts dergleichen.

Aus der zweiten Truhe nahm er eine Schriftrolle, deren Vergilbtheit und Brüchigkeit auf unermeßliches Alter hinwies. Vorsichtig rollte er sie auf und las sie murmelnd. Er hatte sie schon oft in Händen gehalten. Er wußte sie fast auswendig. Aber immer wieder war ihm das Wagnis zu groß erschienen.

Aber nun war es nicht mehr nur Neugier, die ihn trieb. Nun trieb ihn Rachsucht und Haß. Gab es bessere Diener des Mutes?

Dann begann er die nötigen Ingredienzen zusammenzutragen: ein Pulver, das brannte und einen betäubenden Duft aussandte; Kräuter, die im rechten Augenblick verbrannt werden mußten; eine ölige Flüssigkeit, mit der er sein Gesicht benetzen mußte; Kreide, um das Symbol des Dämons zu malen – ein Zehneck auf blutrotem Untergrund, denn es war Querachol, der zehnte in der Hierarchie der Blutdämonen.

Als er damit fertig war, sah er, daß auch seine Gefangenen erwacht waren und seiner Tätigkeit mit wachsendem Grauen zusahen.

Er grinste. »Zwei Daikane des myranischen Reiches. Glaubt ihr nicht auch,

daß selbst ein verwöhnter Dämon mit solch einem Opfer hilfreich gestimmt wird …?«

Er beobachtete sie einen Augenblick lang, als sie versuchten, ihre Fesseln abzustreifen. Ihre vergeblichen Bemühungen erheiterten ihn. Als sie innehielten, sagte er: »Ihr seid die ehrenvollen ersten. Es wird viel Blut fließen in kommenden Zeiten …«

Damit wandte er sich dem Altar zu. Er nahm einen Stab und hob ihn beschwörend.

»Querachol! Höre mich!« Es folgten eine Reihe von Worten einer alten Sprache, deren

Bedeutung längst vergessen war. Auch sein Großvater hatte sie

nicht verstanden. Das war für ihn einer der Gründe gewesen, die Beschwörung nicht vorzunehmen. Aber für Rachmud gab es nun kein Halten mehr.

Er wiederholte die Worte, so gut er sie zu lesen vermochte. Dann rief er erneut:

»Querachol! Höre mich!« Ein kalter Lufthauch wehte über ihn und die Gefangenen hinweg

und brachte die Fackeln fast zum Verlöschen. Rachmud wich zurück. Die Gefesselten rissen an ihren Banden.

Eine Stimme, die von der verschlossenen Tür her kam, ließ Rachmud herumfahren. Eine nur undeutlich erkennbare Gestalt stand dort.

»Wirf den Stab fort, du Unfähigster aller Unfähigen!« Wie von einer Tarantel gestochen, warf Rachmud den Stab von

sich. »Du Narr! Willst du sterben? Wer einen Dämon mit Blut lockt,

weckt seinen Hunger. Und wer seinen Hunger weckt, wird ihm zum Sklaven! Aber du hast Glück, Rachmud. Denn ich bin gekommen, dir zu deiner Rache an Myra zu verhelfen …!«

»Wer … wer bist du?« stammelte der Daikan. »Ich bin Orcos. Man nennt mich den Meister der Dämonen!«

ENDE

Königin Amee hat die ersten Anschläge gegen die Krone von Myranien erfolgreich abwehren und selbst die hartnäckigsten Bewerber um ihre Hand auf Distanz halten können.

Rachmud, der Daikan der Heggaren, ist aber selbst nach einer schmählichen Niederlage nicht bereit, sich in sein Schicksal zu fügen. Die Magie soll ihm helfen und der MEISTER DER DÄMONEN …

MEISTER DER DÄMONEN unter diesem Titel erscheint auch der nächste Dragon-Band. Autor des Romans ist ebenfalls Hugh Walker.