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scher »Comisario beauftragt das Inventario - pinakothek.de · sentlichen Auftrags war Botticelli allein des-halb eine naheliegende Wahl, weil der Künst-ler mit seiner in der Via

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Inv. Nr. 1075Pappelholz, 140 × 209,2 cm (gesamt), 139,6 × 207 cm(Malfläche), 3,5 cm (Stärke der originalen Bildtafel)

Inventare Inv. 1822, Nr. 9142 (Inventarmarke);1

Inv. Ludwig I. 1826, Nr. 30;2 Inv. Ludwig I. 1829, I, Nr. 30(Inventarmarke); Inv. Schleißheim 1829, Nr. 17, Inv. Nr. 30;Inv. 1856, Nr. 1075 (Inventarmarke); Inv. 1905, Nr. 503 (Inventarmarke)

Standorte 1825 Schleißheim;3 1836 Alte Pinakothek;4

September 1939 Höglwörth (Auslagerung);5 April 1941 –Mai 1946 Ettal (Auslagerung);6 April 1950 Haus der Kunst;7

seit 1957 Alte Pinakothek8

Erwerbung – ProvenienzJohann Metzger erwarb die aus dem bereits1808 aufgelösten Florentiner KanonikerstiftS. Paolino stammende Altartafel am 21. Sep-tember 1814 für 152,5 zecchini (ca. 280 scudi)von Michele Mazzoni für Ludwigs Privatge-mäldesammlung.9 Johann Georg von Dillisteilte er mit, er hätte sich auch auf einen Preisvon 1.000 scudi eingelassen, weil das Gemäldemehr als 2.000 scudi wert sei.10Die Gelegen-heit zum relativ günstigen Erwerb ergab sich,weil der Anbieter nicht der rechtmäßige Be-sitzer war und somit trotz Angeboten seitensder Florentiner Akademie und der Großher-zogin einen stillen Verkauf ins Ausland bevor-zugte. Mazzoni, laut Metzger als napoleoni-

scher »Comisario beauftragt das Inventarioder Klöster seines Sestiero« aufzunehmen,hatte das »schwarze unbekannte Bild«,11 dasin der Klosterapotheke von S. Paolino überdem Kamin gehangen hatte, unterschlagen.Den Wert des stark verschmutzten Gemäldesahnend, hatte er es nicht auf die Inventarlistegesetzt, sondern den Kanonikern mit demHinweis, dass es ihnen ohnehin genommenwürde, für 6 zecchini abgekauft, ihr Still-schweigen gefordert und die Tafel für ein Jahrin seinem Pferdestall versteckt. Dann – soweiterhin Metzgers glaubwürdiger Bericht –hatte er den namhaften Restaurator LuigiScotti mit Reinigung, Kittung und Retuscheder Malerei beauftragt, dafür 30 zecchini

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S A N D R O B OT T I C E L L IBeweinung Christium 1490/95

1814 durch Kronprinz Ludwig in Florenz erworben.

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1 Hier der Vermerk: »1850 in Staatsgut übergegangen«.2 »Botticelli Sandro / Der Leichnam Christi im Schooß Maria, beweint von den heil. Jungfrauen. Zur Seite, der h. Petrus Paulusu. Hieronymus. Nicht ganz lebensgroße fig.« 3 Inv. Ludwig I. 1826, Nr. 30.4 Inv. Ludwig I. 1826, Nr. 30; Mus. Kat. München 1838, S. 143,Nr. 558.5 Bildakte, BStGS, Inventarabteilung.6 Bildakte, BStGS, Inventarabteilung; im Anschluss gelistet vomCCP, Nr. 28362 (Bildakte, BStGS, Inventarabteilung).7 Bildakte, BStGS, Inventarabteilung. 8 Mus. Kat. München 1957, S. 15, Nr. 1075; Standortkartei,BStGS, Inventarabteilung; Objektdatenbank, BStGS.

9 Zur Erwerbung vgl. hier und folgend Heusinger 1958/59,S. 397–399; Danz 2003, S. 89–92. Die den Erwerbungsvorgang,die Provenienz und den Transport des Gemäldes betreffende Kor-respondenz zwischen Metzger und Dillis in BStGS, Inventarabtei-lung, Metzger-Korrespondenz, Kassette I, Brief Nr. 55, 56, 58; zit.in Heusinger 1956, S. 24–26. Die diesbezügliche Korrespondenzzwischen Dillis und dem Kronprinzen in Messerer 1966, S. 386,Nr. 325/5, S. 388, Nr. 328/3, S. 391, Nr. 331/3, S. 394, Nr. 332/8,S. 396 f., Nr. 334/6, 336/III, S. 400, Nr. 339/5, S. 431, Nr. 365/1,S. 433, Nr. 368/1, S. 466, Nr. 397/V/2. Eine Kopie der auf den30. Mai 1814 rückdatierten »Ricevuta« in München, GHA, Nach-lass König Ludwig I., I A 33; siehe dazu Danz 2003, S. 91. In Metz-gers Abrechnung von Ende 1816 ist ein Betrag von 155,8 zecchini

genannt, weil zusätzlich Gebühren für einen Vermittler und fürTräger angefallen waren; siehe die »Abschrift der ›Rechnung d.Giov. Metzger über für S. K. Hoheit den K. P. v. Bayern eingekauf-ten Gemälde v. 1814–1816‹«, BStGS, Inventarabteilung, Berichteund Aufsätze des k. Directors v. Dillis an S. K. H. den KronprinzenLudwig von Bayern über erhaltene Aufträge, nach Nr. 160 auf130; zit. in Heusinger 1956, S. 39 (Originaldokument München,GHA, Nachlass König Ludwig I., I B 24).10 Metzger an Dillis, 16.12.1814, München, GHA, NachlassKönig Ludwig I., I A 33, zit. in Danz 2003, S. 91. 11 Metzger an Dillis, 01.11.1814, BStGS, Inventarabteilung,Metzger-Korrespondenz, Kassette I, Brief Nr. 56, zit. nach Heusin-ger 1956, S. 25.

gezahlt und sich anschließend von Kennerndie Autorschaft Sandro Botticellis (1445–1510) bestätigen lassen.12

Ursprüngliche Aufstellung – AuftraggeberWie Metzger vermutete, dürfte sich das Al-tarbild vor seiner Auffindung durch Mazzoni

schon längere Zeit in der Klosterapothekevon S. Paolino befunden haben, denn spätes-tens mit dem 1667 beschlossenen Abriss undNeubau der Kirche war die Tafel von ihremursprünglichen Aufstellungsort entfernt wor-den.13 Dass Botticellis Beweinung Christi imJahr 1518 den Hochaltar des alten, relativ

kleinen Kirchenbaus geschmückt hatte undsehr wahrscheinlich auch für diesen Ort ge-schaffen worden war, ist – wie AlexanderRöstel kürzlich zeigen konnte – einem imOktober 1518 verfassten Inventar der Kir-chenausstattung zu entnehmen.14 Dort wirddas Werk auf dem Altar in der »Capella mag-giore« zwar – wie in solchen Dokumentenüblich – ohne Nennung des Autors, aber de-tailliert beschrieben. Es handelte sich dem-nach um eine Tafel mit Flügeln, die eine vonvielen Figuren begleitete Pietà darstellte(»una tavola chon dua sportelli dipintovj unaPieta con molte figure«); über der Tafel,deren Architekturrahmen verloren ist, warenzwei Leuchter tragende Engel aus Terrakottamit hölzernen Flügeln aufgestellt, die vermut-lich den ebenfalls über dem Bild befindlichenvergoldeten Sakramentstabernakel flankier-ten (Abb. 27.1).15 Das Inventar benennt Fro-sino di Cristofano Masini als den Stifter desHochaltars. Dieser war zwischen 1412 und1451 Prior von S. Paolino und bedachte dasKanonikerstift in seinem Testament so groß-zügig, dass sich die Ausstattung von Kircheund Sakristei im Jahr 1518 mehrheitlich sei-nem Vermächtnis verdankte.16 Der Autor des Inventars, Giovanni di Domenico, warebenso wie ein weiterer Kanoniker, Fran-cesco di Cesare Petrucci, als Masinis Testa-mentsvollstrecker eingesetzt. Zugleich am-tierten sie jeweils als Kaplan für eine der beiden Kapellen, deren Einrichtung Masiniin seinem zwischen 1451 und 1453 verfasstenTestament angeordnet hatte. Bei der demhl. Antonius geweihten Kapelle, deren Patro-

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12 Mesnil 1914, S. 207, entdeckte, dass Scotti selbst die Restau-rierung mit einer knappen Randnotiz in seiner Vasari-Ausgabedokumentierte und dabei auch die Herkunft aus S. Paolino ver-merkte. Siehe dazu Heusinger 1958/59, S. 399; Lightbown 1978,Bd. 2, S. 74.13 Zum Beschluss des Neubaus der Kirche vgl. Florenz, ASF, Manoscritti, 625 (Sepoltuario Fiorentino, ovvero Descrizione delleChiese, Cappelle, e Sepolture, Loro Armi, ed Inscrizioni della Cittàdi Firenze e Suoi Contorni, fatta da Stefano Rosselli nell’Anno1657), S. 867; zu S. Paolino im 17. Jahrhundert siehe außerdemPaatz 1940–1954, Bd. 4, 1952, S. 591–593; Puttini 2002, S. 5–20; Puttini 2011, S. 12–25. Alle Hinweise zur Baugeschichte und

der ursprünglichen Ausstattung der Kirche verdanke ich den For-schungen von Alexander Röstel; Röstel 2014. 14 Röstel 2015; Florenz, Archivio Archivescovile di Firenze, VP 5,Visita Pastorale di Giulio de’ Medici, 1518, fol. 369r–v, 383r–385v. Erstmals hat Mesnil 1914, S. 207, auf der Grundlage derNotiz des Restaurators Scotti die Provenienz des Gemäldes ausS. Paolino vorgeschlagen. Dombrowski 2010, S. 326, geht beson-ders auch aus ikonographischen Gründen von einer Aufstellungauf dem Hochaltar der Kirche aus und widerspricht damit den fol-genden Autoren, die die Position auf dem Hochaltar v.a. wegenGröße und Format der Tafel ablehnten: Lightbown 1978, Bd. 2,S. 75; Blume 1995b, S. 31; Burroughs 1997, S. 24; mit Einschrän-kungen auch Locher 1994, S. 67.

15 Röstel 2015, S. 522 f., 525 f., 529; anders als in der dort pu-blizierten Rekonstruktion schlägt Alexander Röstel gemäß münd-licher Mitteilung jetzt einen Tabernakel über dem Altarbild vor –dafür spricht auch die im Inventar genannte Leiter: »Una scalla diasse di albero dove se va al sagramento«.16 Zu Masini als Prior und Stifter in S. Paolino vgl. hier und fol-gend Röstel 2015, S. 522–525; siehe sein Testament, Florenz, ASF, Notarile Antecosimiano, 1022. Angesichts der großen Zu-wendungen für S. Paolino ist es überraschend, dass Masini keinerder führenden Patrizierfamilien entstammte und nicht im Quar-tier von S. Paolino (Gonfalone del Leone Rosso) wohnhaft war;siehe dazu Röstel 2015, S. 523.

Abb. 27.1 Rekonstruktion (Alexander Röstel)

natsrecht zunächst der Prior und später dieFamilie Petrucci innehatten, handelte es sichum die Hauptchorkapelle; die dem Namens-patron Masinis, dem hl. Eufrosino, geweihteKapelle befand sich rechts von ihr. StefanoRossellis Sepoltuario Fiorentino ist zu ent-nehmen, dass der Prior vor dem Hochaltar bestattet wurde, dort lag eine marmorneGrabplatte mit einer Reliefdarstellung seinerGestalt.17 Die prominente Grablege doku-mentiert nicht nur Masinis Bedeutung undMacht als Prior und Stifter, sondern auch seinSelbstverständnis und vor allem seinenWunsch, mit der Stiftung des Hochaltars undden dort zu zelebrierenden Messen sein See-lenheil zu befördern. Noch Jahrzehnte späterentsprachen seine Testamentsvollstreckerdieser Intention – wie folgend darzulegen –besonders treffend, indem sie seine Altarstif-tung durch Botticellis Beweinung vollendeten.

Als Adressat eines für S. Paolino so we-sentlichen Auftrags war Botticelli allein des-halb eine naheliegende Wahl, weil der Künst-ler mit seiner in der Via Nuova d’Ognissantibefindlichen Werkstatt Nachbar und Mieterdes Kanonikerstifts war.18Außerdem könnteder aktuelle Prior, der die Entscheidungenfür die Ausstattung des Hochaltars vermut-lich nicht Masinis Testamentsvollstreckernallein überließ, wesentlich zu der Beauftra-gung Botticellis beigetragen haben. Im Okto-ber 1477 war Angelo Poliziano dank der Für-sprache von Lorenzo de’ Medici zum Priorvon S. Paolino ernannt worden und amtiertebis zu seinem Tod im Jahr 1494. Obgleich er

das Tagesgeschäft in die Hände eines Stell-vertreters gab, war der Humanist nachweis-lich mit wesentlichen juristischen und finan-ziellen Vorgängen des Kanonikerstifts be-fasst.19Mit Lorenzo de’ Medici verband ihnhinsichtlich S. Paolino auch die Mitglied-schaft in der Compagnia di S. Paolo, die Pa-tronin eines mit einer Darstellung ebenjenesHeiligen geschmückten Altars in der Kirchewar.20Neben diesen jüngst von Röstel erläu-terten Zusammenhängen sprechen – wie hierzu zeigen ist – auch spezifische Charakteris-tika der Komposition und Ikonographie desBildes für die bereits vielfach geäußerteThese, dass Poliziano als Prior, als Vertrauterder Medici, als Vermieter Botticellis undNachbar seiner Werkstatt wahrscheinlich inden Auftrag und vermutlich ebenso in dieKonzeption der Pietà für den Hochaltar in-volviert war.21Das gilt insbesondere nicht zu-letzt deshalb, weil er zuvor schon als Inspira-tor mythologischer Bildfindungen desKünstlers, wie der Primavera oder der Ver-leumdung des Apelles, gewirkt haben könnte.

Darstellung – Ikonographie – Anlage undKorrekturen der KompositionWie auch der Inventareintrag von 1518 do-kumentiert, war es in Florenz üblich, großfor-matige, mehrfigurige Darstellungen der Be-weinung als »Pietà« – mit weiteren Figuren –zu betiteln.22 Darin spiegelt sich wider, dassdie so identifizierten Gemälde, die Maria mitdem toten Christus im Zentrum der Kompo-sition präsentieren, den Vesperbildern der

nordalpinen Skulptur und auch motivischverwandten Beispielen der altniederländi-schen Malerei nahestehen.23 Im letzten Vier-tel des 15. Jahrhunderts entstand in Florenzeine auffallend große Zahl an Altarbildern,die das apokryphe, zwischen Kreuzabnahmeund Grablegung angesiedelte Geschehenwiedergeben. Sie ergänzen die Beweinungs-szene um Heilige, die der Bilderzählung nichtzugehörig sind und der Pietà wie in einerSacra Conversazione beiwohnen (Abb.27.2).24Dennoch stehen diese Werke in einereindeutigen ikonographischen Tradition vonmehrfigurigen Beweinungsdarstellungen,die, ursprünglich aus dem Geschehen derGrabtragung abgeleitet, dem Betrachter imSinne der Passionsmeditation einen der kon-templativen Versenkung dienlichen Bildge-genstand darbieten.25 In besonderer Weisegilt das für Botticellis Beweinung, die denBezug zwischen Beweinung und Grab verge-genwärtigt, während viele der zuvor genann-ten thematisch verwandten Florentiner Al-tarbilder an die Kreuzabnahme anknüpfen.Von diesen unterscheidet sich BotticellisWerk vor allem aber auch, weil es in der ers-ten Ebene des Bildes die Beweinung als his-toria vorführt, in der drei Klagefrauen und Jo-hannes als stützender Beistand die Gottes-mutter und den Leichnam ihres Sohnesumgeben. Drei ›anachronistische‹ Heilige,Hieronymus, Paulus und Petrus, flankie-ren das Geschehen in ruhiger Pose in einer zweiten Ebene, sodass sie mehr Zeugen alsTeilhaber sind. Erst auf diese Weise wird die

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17 Florenz, ASF, Manoscritti, 625 (Sepoltuario Fiorentino, ovveroDescrizione delle Chiese, Cappelle, e Sepolture, Loro Armi, ed Inscrizioni della Città di Firenze e Suoi Contorni, fatta da StefanoRosselli nell’Anno 1657), S. 861; vgl. Röstel 2015, S. 525. 18 Röstel 2015, S. 529. Zu Botticelli als Bewohner des Gonfalonedell’Unicorno und zur Bedeutung der lokalen Netzwerke siehezuletzt Sman 2015. Zu Botticellis Werkstatt siehe Cecchi 2010,S. 13; Cecchi 2016.19 Zu Poliziano als Prior von S. Paolino vgl. Röstel 2015, S. 527–529, mit ausführlicher Nennung der Quellen und der Literatur.20 Röstel 2015, S. 528; zur Compagnia di S. Paolo siehe Weiss-man 1982, S. 107–161. 21 Polizianos mögliches Mitwirken erörterten v.a. Rousseau1990, S. 250; Burroughs 1997, S. 12 f.; Dombrowski 2010, S. 325.

Zu Poliziano als Botticellis Vermieter siehe Lightbown 1978,Bd. 1, S. 112; Cecchi 2005, S. 20; Cecchi 2010, S. 13.22 Vgl. Röstel 2015, S. 526, mit dem Hinweis, dass Vasari Botti-cellis Beweinung in S. Maria Maggiore (Mailand, Museo Poldi Pez-zoli, Inv. Nr. 1558) als »una Pietà con figure piccole« beschreibt;siehe Vasari-Milanesi 1878–1885, Bd. 3, 1878, S. 312. 23 Schiller 1966–1991, Bd. 2, 1968, S. 190, spricht hinsichtlichder Beweinungsdarstellungen der italienischen Renaissance-malerei vom »zentral-komponierten pietà-ähnlichen Typus«. Zuden ikonographischen Traditionen und Überschneidungen vonBeweinung und Pietà siehe Schiller 1966–1991, Bd. 2, 1968,S. 187–195. Siehe außerdem, v.a. zu Parallelen bei Rogier vander Weyden, Dombrowski 2010, S. 330–334. 24 Vgl. Dombrowski 2010, S. 332 f.; Röstel 2015, S. 526. Eine Auf-

listung zahlreicher Beispiele aus den 1460er bis 1490er Jahren –Werke von Perugino, Jacopo del Sellaio, Cosimo Rosselli, Fran-cesco Botticini, Neri di Bicci und Bernardo di Stefano Rosselli –bei Dombrowski 2010, S. 332, Anm. 593. Hinsichtlich BotticellisBildfindung ist besonders Sellaios Beweinung Christi mit denhll. Jakobus d.Ä., Franziskus, Michael und Maria Magdalena zu berücksichtigen (Florenz, Galleria dell’Accademia, Inv. 1890, Nr. 5069, ehemals Florenz, S. Jacopo de’ Berbetti). Die Popularitätvon Beweinungsdarstellungen am Altar fällt in Florenz, wie zuletzt Röstel 2015, S. 526, betonte, mit einer grundsätzlichenZuwendung zu christozentrischen Bildthemen und einer erstar-kenden Verehrung des Allerheiligsten zusammen. Siehe dazuBorsook 1981; Nagel 2011, S. 13–29, 197–220. 25 Vgl. Schiller 1966–1991, Bd. 2, 1968, S. 187 f.

Bilderzählung angehalten und in einen »er-zählerisch-anschaulichen Stillstand«26 ver-setzt sowie zur imago, zum ikonischen Bild,überhöht.27Die Nähe zu Pietà-Darstellungenwird zudem durch die Ohnmacht Mariens re-lativiert, denn diese steht »im Gegensatz zuder inneren Haltung der Gottesmutter der›Pietà‹, die nicht vom Schmerz überwältigtwird«.28

Die Ohnmacht signalisiert Marias com-passio und damit ihre Rolle als Miterlöserin.29

Außerdem unterstreicht Botticelli durch siedas Erzählerisch-Momentane des zentralenBildgeschehens, weil sie Ursache der drama-tischen Dynamik im Bildzentrum ist. IhresBewusstseins und ihrer Kräfte beraubt, sinktMaria zur Seite und bietet dem auf ihremSchoß lagernden Leichnam Jesu keinen Haltmehr. Johannes, der durch seinen leuchtendrot-orangen Mantel hervorgehoben wird,tritt deshalb entschlossen an sie heran, um sieehrfürchtig zu stützen und zugleich das Ab-

rutschen des Leichnams zu verhindern.Dabei berührt er die ihm von Jesus als MutterAnvertraute ebenso wenig direkt wie denCorpus Christi, der in einem transparentenLeichentuch liegt. Mit weit nach vorne ge-drehter rechter Schulter und lang gestreck-tem Arm beugt er sich vor, um das Tuch ander Hüfte Jesu zu ergreifen. Wie seine kom-plexe Bewegung, die der Künstler möglichstelegant zu schildern suchte, reflektiert auchdie Mimik des Johannes Zerrissenheit – zwi-schen der eigenen Trauer und der Pflicht,Trost und Halt zu spenden.30

Die beiden knienden Klagefrauen, vondenen die linke als Maria Magdalena zu iden-tifizieren ist, umfassen die Füße und dasHaupt Christi ebenfalls mit dem Leichen-tuch.31 Ihre unmittelbare Berührung desToten mit den Haaren bzw. mit der Wangewird dadurch indirekt akzentuiert und diekörperliche Nähe auch durch das Zusam-menfließen ihrer Schleier mit dem Leichen-tuch betont. Die dritte Klagefrau steht rechtshinter Maria und blickt mit Entsetzen auf dieblutigen Kreuzesnägel, die sie mit ihrer Lin-ken emporhält, während sie mit der Rechtenihr Gewand vor das Gesicht zieht, um sichvor dem Anblick zu schützen oder ihrenSchmerz zu verbergen.32 Ihre Hand mit denNägeln ist prominent an die Bildachse unddamit an die Position herangesetzt, die vorMarias Ohnmacht deren Kopf einnahm.Beim Betrachter entsteht deshalb der Ein-druck, der Anblick der gewaltigen Nägelkönnte kurz zuvor den Zusammenbruch derGottesmutter ausgelöst haben.

Vielfach ist die Schönheit und die Unver-sehrtheit des jugendlichen Christus als be-sonderes Merkmal der Münchner Beweinunganalysiert worden.33Obgleich kein »athleti-

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26 Satzinger/Ziegeler 1993, S. 271.27 Vgl. Körner 2006, S. 359; Dombrowski 2010, S. 333. 28 Schiller 1966–1991, Bd. 2, 1968, S. 190. Schiller führt S. 193aus, dass die Pietà in der Regel auch nicht den Schmerz und dieKlage der Mutter zeigt, während die Beweinung als Leidenssta-tion Christi aufgefasst wird, »bei der die Klage und das Mitleidender Trauernden innerhalb der menschlichen Gefühlssphäre zumHauptthema wird«.29 Körner 2006, S. 358.

30 Vgl. Dombrowski 2010, S. 328.31 Während die beiden anderen Klagefrauen nicht zweifelsfreizu benennen sind, ist im Fall der Maria Magdalena der Bezug zuihrer ersten Begegnung mit Jesus eindeutig; vgl. Dombrowski2010, S. 328, mit dem Vorschlag, dass die andere Kniende even-tuell als Maria Kleophas zu erkennen ist. 32 Körner 2006, S. 359, weist darauf hin, dass das Motiv des Ver-bergens hier – wie in Botticellis Mailänder Beweinung – der inder antiken Kunstliteratur empfohlenen Darstellungsform folgen

könnte, unermesslichen, mimisch nicht mehr darstellbarenSchmerz zu vermitteln. Körner identifiziert die Gestalt fälschlichmit Maria Magdalena, während Dombrowski 2010, S. 328, imVergleich mit nordalpinen Beweinungsgruppen eine Identifizie-rung als Maria Salome vorschlägt.33 Siehe bes. Rousseau 1990, S. 245 f.; Dombrowski 2010,S. 336–338.

Abb. 27.2 Jacopo del Sellaio, Beweinung Christi, um 1491/94, Florenz, Galleria dell’Accademia

scher Körper in beinahe ›heroischer‹ Nackt-heit«,34 sondern ein fahler und spannungslo-ser toter Leib, ist er im Unterschied zu denmeisten zeitgenössischen Florentiner Dar-stellungen tatsächlich weder geschundennoch ausgemergelt. Ebenfalls abweichend istder Leichnam mit dem Kopf nach rechts ge-lagert, weshalb die Seitenwunde weniger insAuge fällt.35 Es sind keine Spuren der Geiße-lung und an der Stirn nur wenige Wundender Dornenkrönung zu sehen. Angesichtsdessen ermutigte auch die vermeintlicheBartlosigkeit zu der These, Botticelli habeeinen klassisch-antikischen, apollinischenChristus geschaffen.36Der kritische Blick unddie bessere Lesbarkeit der Darstellung nachder Restaurierung belegen jedoch, dass erdem Gottessohn einen dünnen Bart malte(Abb. 27.15). Die Annahme, er habe der neu-platonischen Gleichung von Christus undApoll Ausdruck geben wollen, lässt sich –wenn überhaupt – nur hinsichtlich der Licht-fülle des Leichnams aufrechterhalten, leuch-tet dessen wächsern-bleiches Inkarnat dochhell auf. Dass ein antiker MeleagersarkophagBotticelli zur Ausformung und Lagerung desLeichnams inspirierte, ist nicht überzeugendnachweisbar,37 und die reiche Zahl an diffizi-len Aktfiguren, die seine Zeichnungen zur Di-vina Commedia umfassen, macht offensicht-lich, wie routiniert er eine solche Gestalt auchohne konkrete Anregung entwickelt habendürfte – zu berücksichtigen ist dabei MesnilsBeobachtung, dass sich in der Zeichnungzum 33. Höllengesang ein Doppelgänger destoten Christus findet.38

Trotz des engen erzählerischen undräumlichen Zusammenhangs ist es Botticelligelungen, dem Zentrum der Beweinungs-

szene innerhalb der ersten Ebene seinerKomposition eine eigene Sphäre einzuräu-men. Fast unmerklich löst sich der Gegen-stand der Verehrung auf diese Weise aus demBildgefüge heraus. Maria ist durch ihre Ohn-macht dem Toten auch in der Blässe des In-karnats viel enger verbunden als den Trau-ernden (Abb. 27.3). Sie hinterfängt ihn alsmonumentale Sitzfigur und übertrifft dieKörpergröße der übrigen Akteure. Mit dembogenförmig über ihren Schoß gestrecktenLeichnam bildet sie das innere Dreieck derdreistufig gestaffelten Figurenanlage. Dertiefschwarze Mantel schottet sie und ihrenSohn zusätzlich gegen die farbintensive Dy-namik ihrer Umgebung ab und erhöht außer-dem die Leuchtkraft des toten Fleisches. Wieprimär das Knie und der herabhängende Arm anzeigen, dringt die linke KörperhälfteChristi stark aus dem flachen Bildraum he-raus – aus Sicht des Betrachters dem Altar-tisch entgegen.

Die zwei knienden Klagefrauen tragenwie die aus riesigen Felsquadern gemauerteGrabhöhle wesentlich zur dominanten Hori-zontalität des Querformats bei, das für einFlorentiner Altarbild dieser Zeit ohnehineine Besonderheit darstellte.39 Gemeinsammit Johannes und der dritten Klagefrau um-schließen sie das Zentrum der Kompositionebenfalls dreiecksförmig und bilden zugleichüber die Gestalt der Maria hinweg zwei sichin der Bildmitte kreuzende Diagonalen aus,die den Blick des Betrachters auf das Antlitzder Gottesmutter lenken. Die von der gesam-ten inneren Gruppe der Beweinungsszenegebildete Figurenpyramide, die komposito-risch auch einen sprechenden Richtungs -bezug zu dem einst über dem Bild befind -

lichen Tabernakel herstellte,40 bleibt bewusstohne Spitze, weil Marias Kopf zur Seite gefal-len ist und somit den Blick auf eine markanteLeerstelle in der Bildachse freigibt: Unterdem bedrohlich locker gefügten, keilförmi-gen Schlussstein der portalartigen Rahmungder Grabhöhle41 findet das Auge des Betrach-ters nur das dunkle Nichts der Höhle – Sinn-bild für den Moment der größten Finsternisin der unterbrochenen Heilsgeschichte. Mög-licherweise ist der Verzicht auf einen Nimbusbei Christus ein weiterer Hinweis darauf, dassmit seinem Tod Gott die Welt verlassen hat.42

Mit großer emotionaler Intensität führendie der Beweinungsszene unmittelbar zuge-hörigen Figuren dem Betrachter ihre tiefeTrauer vor, die sich der Funktion des Bildesam Hochaltar entsprechend nicht als lauteKlage, sondern als Moment der Hoffnungs-losigkeit und Resignation manifestiert.43Nur

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34 Dombrowski 2010, S. 337.35 Dombrowski 2010, S. 337.36 Als bartlos und apollinisch wird die Gestalt Christi von Olson1975, S. 208, 398 f., Rousseau 1990, S. 245, und Dombroski 2010,S. 337, beschrieben. An der Christusfigur hat Claudia Rousseau1990 ihre These festgemacht, das Bild sei dem Gedenken der Er-mordung des Lorenzo il Magnifico gewidmet gewesen. 37 Vgl. Dombrowski 2010, S. 336 f. Von konkreten skulpturalenVorbildern der Antike oder Renaissance gingen u.a. folgende Autoren aus: Mesnil 1914, S. 209 f.; Rousseau 1990, S. 246 f.;

Blume 1995b, S. 31; Burroughs 1997, S. 21; Körner 2006, S. 359.38 Mesnil 1914, S. 209; Mesnil 1938, S. 167.39 Vgl. Dombrowski 2010, S. 330.40 Damit rückt auch eine weitere Parallele zum dokumentiertenAltarschmuck in den Blick: Denn die links und rechts neben demTabernakel knienden, Leuchter tragenden Engel stellten eine Ent-sprechung zu den am Leichnam Christi knienden Klagefrauen dar.41 Auf Botticellis Vorliebe für eine »Architektonisierung der Na-turform« verweist Dombrowski 2010, S. 329.

42 Siehe dazu mit einem Hinweis auf davon abweichende Inter-pretationsvorschläge Dombrowski 2010, S. 329 f., und S. 330,Anm. 579. 43 Vgl. hier und folgend zu Aufbau und Lesart der KompositionDombrowski 2010, S. 326–342. Gert Jan van der Sman geht davonaus, dass die zeitgenössisch und lokal verbreitete Frömmigkeits -literatur, konkret der im benachbarten Konvent von S. Jacopo diRipoli gedruckte Titel La Passione di Gesù Christo von Niccolò Cicer-chia, von prägender Bedeutung für die Ausdruckskraft von Botti-cellis Darstellung gewesen sein könnte; Sman 2015, S. 195–199.

Abb. 27.3 Kopf der Maria

auf den ersten Blick stimmen die drei beglei-tenden Heiligen in diesen Zustand ein: DerMaler lässt trotz der räumlichen Nähe keinenZweifel daran, dass sie nicht an der Szene teil-nehmen, sondern ihr wie einem geistlichenSchauspiel kontemplativ beiwohnen. Eng inden schmalen Raum zwischen der Bewei-nung und deren Kulisse, der Grabhöhle, ein-gepasst, umrahmen sie die figürliche Erzäh-lung und lösen sie aus ihrem eigentlichen Zusammenhang heraus. Das Geschehenwandelt sich im Fall von Hieronymus undPaulus, die beide den Blick senken und ihreLinke zur Brust führen, in eine ihre Herzenbewegende Vision. Petrus dagegen überblicktdie Szene mit ungerührtem Ernst, währender sie mit der Rechten wie beglaubigend seg-net. So wie sein Segensgestus bringt bereitsdie würdevolle Distanz und Ruhe der Heili-gen zum Ausdruck, dass die Beweinung hier

als ein Bild festgehalten wird, mit dem am Sa-kramentsaltar der schöne Corpus Christi aus-gestellt und damit der liturgische Nachvoll-zug des Opfertodes verstetigt wurde.44Der imLeichentuch von den Klagenden gehalteneErlöser ruft, wie Damian Dombrowski tref-fend beschrieben hat, die Assoziation mit derHostie im eucharistischen velumwach, zumalderen elevatio am Altar zu einer Zusammen-schau mit dem gemalten Leib Christi geführthaben dürfte.45 Auf diese Weise regte Botti-cellis Beweinung trotz ihrer Dramatik nichtnur das Mitleiden, sondern in besondererWeise auch die Erlösungshoffnung der Gläu-bigen an und bedeutete im Kirchenraumauch außerhalb der Eucharistiefeier einensteten Verweis auf das im Tabernakel desHochaltars geborgene Allerheiligste.

Die im Infrarotreflektogramm sichtbareerste Anlage des Bildes (Abb. 27.4, 27.8) be-

legt, wie entscheidend der durch die dreiHeiligen markierte ikonische Charakter derBeweinung und damit auch deren eucharisti-sche Lesart für den Auftraggeber und seinenMaler war. Denn die sehr wahrscheinlicheiner ausführlichen Vorzeichnung folgendeursprüngliche Unterzeichnung zeigt nichtnur Hieronymus und Paulus mit andererKopfhaltung sowie merkbar kleiner unddamit dem Geschehen etwas näher, sondernauch Petrus einen Schritt mehr herangetretenund gebeugt der Handlung zugewendet. Erstspät, nach der ersten malerischen Definitionder originären Komposition, nahm Botticelliumfassende Veränderungen vor, wobei die

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44 Bereits Körner 2006, S. 359, betont, dass »das Anhalten derErzählung die Verortung in der sakralen Topographie des Kirchen-raumes« bedeutet.45 Dombrowski 2010, S. 334.

Abb. 27.4 Infrarotreflektogramm (Osiris-Kamera)

Vergrößerung und die neue Positionierungder drei Heiligen eine tiefgreifende Korrekturdarstellten (Abb. 27.8). Grundlegend verän-derte diese vorrangig den Auftritt des Petrus,weshalb auszuschließen ist, dass hier primäreine Anpassung zugunsten einheitlicher Fi-gurenmaßstäbe erfolgte. In jetzt aufrechterHaltung rückte Petrus als Kommentarfigurganz an den rechten Rand der Szene. Er gabso auch den Blick auf den Sarkophag frei unddessen prominenteres Erscheinen war ange-sichts des Bezugs zur Grabstätte des Stiftersvor dem Hochaltar sicherlich ein vom Künst-ler gesuchter Nebeneffekt. Petrus’ Sonder-stellung wird durch seinen strahlend gelbenMantel über dem leuchtend blauen Gewandauch koloristisch unterstützt; er ist durch denstarken Farbklang ebenso hervorgehoben wieJohannes.

Ein verstärktes Interesse an christozentri-schen Bildthemen und eine gesteigerte Auf-merksamkeit für das Sakrament der Eucha-ristie spiegeln sich in den zahlreichen Floren-tiner Beweinungsdarstellungen des spätenQuattrocento wider und dürften auch die Ka-noniker von S. Paolino bei ihrer Themenwahlfür die Hochaltartafel geleitet haben.46Dochneben den bereits erörterten Merkmalen, dieBotticellis Bildfindung klar von den thema-tisch verwandten Werken absetzen, sprichtebenso die Auswahl der drei begleitendenHeiligen dafür, dass das Bild vor allem auf diekonkreten ikonographischen Zusammen-hänge des Kirchenraumes abgestimmt war.47

Die Dominanz der Figur des Petrus mitzwei monumentalen Schlüsseln erklärt sichzunächst aus seiner Rolle als vicarius Christi.

Er verkörpert das Papstamt und scheint dieÖffnung der Grabhöhle wie stabilisierend zu›tragen‹ – so wie er als Fels die Kirche tragensollte (Mt 16,18) –, während die massigenBlöcke auf der linken Seite drückend überHieronymus und Paulus lasten.48 Für die Ka-noniker von S. Paolino war sicherlich die ro-manitas ihrer Kirche von großer Wichtigkeit.Gemäß dem Chronisten Giovanni Villani lagS. Paolino nach dem Vorbild von S. Paolofuori le mura außerhalb der mittelalterlichenStadtmauer49 und laut einer im 15. Jahrhun-dert nah dem Hochaltar angebrachten In-schrift war die Kirche im Jahr 325 in der Zeitvon Kaiser Konstantin und Papst Sylvestererrichtet worden.50 In diesem Kontext reflek-tiert Botticellis souveräner Petrus gemeinsammit Paulus die zeitgenössische Überzeugung,dass Florenz als neues Rom den Weg zur Er-neuerung des Glaubens und der Kirche be-reitet.51 Zudem könnte die Darstellung derzwei so wichtigen Apostel auch auf die legen-däre Konstantinische Schenkung hindeuten,hatte doch der Kaiser diese ausgesprochen,nachdem ihm im Traum die beiden Heiligenerschienen waren.52

Mittels ihrer gelben Mäntel verweist Bot-ticelli auf die Zusammengehörigkeit von Pe-trus und Paulus. Als Patron der Kirche undals Theologe des Todes und der Auferste-hung dürfte Paulus auch unabhängig von Pe-trus ein selbstverständlicher Kandidat für dieAufnahme in das Bild gewesen sein.53 Nichtzuletzt sein gemeinschaftliches Auftreten mitHieronymus legt aber einen konkreten Bezugzur Compagnia di S. Paolo nahe: Diese Fla-gellantenbruderschaft, zu deren Mitgliedern,

wie gesehen, Lorenzo il Magnifico und An-gelo Poliziano zählten, stiftete einen mit einerDarstellung des Paulus geschmückten Altaran der Südwand der Kirche, und in ihremOratorium in der Via Baccia befand sich lautInventar von 1472 ein von Paulus und Hiero-nymus gerahmtes Kruzifix.54 Als Begründerder imitatio Christi erfuhr Hieronymus inFlorenz – wie viele Andachtsbilder und auchzahlreiche Beweinungsdarstellungen bestäti-gen – besondere Verehrung. Als Identifika-tionsfigur wurde der gebildete Eremit undKirchenlehrer in erster Linie von hieronymi-tischen Orden wie den Gesuati und bußfer-tigen Bruderschaften geschätzt.55

Stil – Datierung – ZuschreibungDie Münchner Beweinung ist eine exemplari-sche Schöpfung aus den Anfängen von Bot-ticellis Spätwerk. Von der Forschung wurdesie deshalb lange als prominentes Zeugnisder vermeintlichen, von Giorgio Vasari kol-portierten Affinität des Künstlers zu demBußprediger Girolamo Savonarola missver-standen – zumal einzelne Werke des Meisterszweifellos die in Florenz im ausgehendenQuattrocento verbreitete Endzeitstimmungthematisieren.56 Bis in die letzten Jahrzehntehielt sich die Auffassung, die Altartafel ausS. Paolino markiere unter den Werken der1490er Jahre den Beginn eines vermutlich re-ligiös motivierten stilistischen Umbruchs.57

Die ältere Forschung sah in diesem Stilwan-del, der mit dem angeblichen Niedergangvon Botticellis Karriere zusammenfiel, zu-meist einen Verlust der Renaissancequalitä-ten seines früheren Schaffens und fand ihre

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46 Vgl. Röstel 2015, S. 526. Zur Popularität christozentrischerBildthemen siehe Nagel 2011, S. 13–29, 197–220. Zur Verehrungder Eucharistie bzw. zum Corpus-Domini-Fest siehe Borsook1981; Newbigin 2010.47 Es ist bemerkenswert, dass unter den Heiligen weder ein Namenspatron Masinis noch einer der Heiligen zu finden ist,deren Festtage seiner Stiftung gemäß am Altar gefeiert werdensollten; vgl. Röstel 2015, S. 526.48 Dombrowski 2010, S. 340 f. 49 Villani-Moutier/Gherardi Dragomanni 1845, Bd. 1, S. 127(Buch III, Kap. 2); vgl. Dombrowski 2010, S. 342; Röstel 2014, S. 8.50 Vgl. Röstel 2015, S. 526 f., sowie Dombrowski 2010, S. 342,

und Burroughs 1997, S. 25. Die Inschrift überliefert Richa 1754–1762, Bd. 4, 1756, S. 120–123; siehe Paatz 1940–1954, Bd. 4,1952, S. 591 und S. 598, Anm. 2.51 Burroughs 1997, S. 24 f., mit der Beobachtung, dass die Ma-donna an der Florentiner Porta Romana von Petrus und Paulusflankiert wurde. 52 Röstel 2015, S. 527.53 Dombrowski 2010, S. 333, weist darauf hin, dass alle dreiHeiligen »in engster biographischer Beziehung zu Christus stehen«.54 Röstel 2014, S. 44 f.; Röstel 2015, S. 527 f. Zur Compagnia di S. Paolo siehe Weissman 1982, S. 107–161.

55 Vgl. Röstel 2015, S. 527.56 So wie Bode 1921a, S. 170, der die Beweinung als das»Hauptwerk unter den nach Savonarolas Regeln gemalten Bil-dern« beschreibt, wertet es auch noch Cecchi 2005, S. 318, alsideale Verkörperung der Vorstellungen, die Savonarola von reli-giöser Kunst gehabt haben dürfte. Eine Prägung durch Savonaro-las Wirken sprechen u.a. auch folgende Autoren an: Schmarsow1923, S. 105 f.; Rolf Kultzen in Mus. Kat. München 1975, S. 29;Olson 1975, S. 399; Cornelia Syre in Mus. Kat. München 2007,S. 72. Zu Vasaris Zerrbild von Botticellis Vita siehe Rehm 2009b. 57 Vgl. Körner 2006, S. 357 f. Zur Fehleinschätzung von Botti -cellis Spätwerk siehe Schumacher 2009, S. 49.

grundsätzliche Geringschätzung seiner reli-giösen Malerei – wie sie aus Ronald Light-bowns Urteil über das Münchner Bildspricht58 – im Spätwerk bestätigt.59Die neuekarge, expressive und schließlich manchmalschroffe Gestaltung sowie die Verstöße gegendie Regeln von Anatomie und Perspektive er-schienen den Kennern vielfach so fremd, dasssie darin auch im Fall der Beweinung Indizienfür die Beteiligung der Werkstatt erkanntenoder aber schlussfolgerten, der Meister könneausschließlich den Entwurf geliefert haben.60

Als Datierung wurden für die Altartafel ent-weder die Zeit um 1490 oder die späten1490er Jahre vorgeschlagen.61

Dank zahlreicher Studien zum Gesamt-werk und kritischer Analysen seiner religiö-sen Malerei erfuhr Botticellis später Stil inden letzten zwei Jahrzehnten eine grundle-gende Neubewertung – unterstützt durch diekritische Lektüre von Vasaris Vita des Künst-lers und die Auswertung der belastbaren biographischen Fakten.62 Damit konnte die eigenwillige, irritierend retrospektive wie ar-tifiziell-avantgardistische Manier, die nichterst mit der Münchner Beweinung hervortritt,als Ergebnis einer kontinuierlichen künstle-rischen Entwicklung nachgezeichnet werden,die keinesfalls mit einem ideologisch inspi-rierten Stilbruch zu verwechseln ist. Denndie archaisierenden Elemente der Spätwerke,wie sie folgend für die Beweinung zu erörternsind, sind nicht nur Phänomene eines aufernste und metaphysische Themen konzen-trierten Altersstils, sondern wurzeln, wie zu-

letzt in erster Linie Körner und Dombrowskibelegen konnten, in konstanten Stilmerkma-len von Botticellis Malerei. Sie stellen derenkompromisslose Steigerung dar und bestäti-gen, dass der Künstler in seinen späten Jahrenmit ungebrochenem Selbstbewusstsein undmit großer Sensibilität für die gesellschaft-lich-religiösen Umbrüche die zunehmendeIntellektualisierung bzw. Spiritualisierungseiner Bildsprache betrieb. VermeintlicheFehler, ein oftmals bewusstes Ignorieren desRegelwerks der neuzeitlichen Malerei undqualitative Mängel der betreffenden Werkedürften teils der neuen Prioritätensetzungdes Meisters geschuldet sein, gehen aberwährend der letzten Schaffensjahre ohneFrage auch auf eine stärkere Beteiligung derMitarbeiter seiner Werkstatt zurück. Am Bei-spiel der Beweinung wird deutlich, wie schwereine präzise Differenzierung diesbezüglichvor allem bei den Werken der 1490er Jahrevorzunehmen ist.

Die Altartafel aus S. Paolino zeigt mit derharten Zeichnung und Modellierung der Fi-guren und ihrer Gewänder sowie mit demkalt leuchtenden, kontrastreichen Kolorit nureine Verstärkung entsprechender Merkmale,die bereits Botticellis in den Vorjahren voll-endete Altarbilder charakterisieren. Auch dertiefe Ernst und die in ruhige Würde gebun-dene Expressivität verbinden die MünchnerBeweinungmit dem Bardi-Altar (1484/85),63

dem Altar von S. Barnaba (1487–1489),64 derMarienkrönung aus S. Marco (um 1490/92;Abb. 27.5)65 und der Verkündigung aus Ce-

stello (1489/90).66Die extreme Kargheit derDarstellung, die nur noch den Reichtum derFarben zulässt und der auch geringfügigschmückende Details – wie die Unterzeich-nung dokumentiert – geopfert wurden,67

findet sich vergleichbar jedoch nur in der Cestello-Verkündigung.68 Aber die kühle Arti-fizialität des Bardi- und des Barnaba-Altars,die diese zwar primär ihrem Detail- undSchmuckreichtum verdanken, ist auch derVerkündigungund der Beweinungnicht fremd:Obgleich sie eine viel stärkere emotionaleSpannung aufbauen und auch physische Be-wegung veranschaulichen, verbergen dieseDarstellungen nicht, mit wie viel Kalkül ihreKompositionen erarbeitet wurden und wiestarr sie zugunsten ikonischer Wirkung ge-fügt oder gar stillgestellt sind.

Der artifizielle Charakter der Bewei-nungsszene resultiert wesentlich aus der Do-minanz der flächig-zeichnerisch entwickel-ten Figurenkomposition gegenüber dem gewohnten Bestreben nach überzeugenderTiefenräumlichkeit und Plastizität. Wiezuvor auch bei seinen großen mythologi-schen Werken stellt Botticelli hier die Prota-gonisten in reliefartigem Aufbau in einemwie eine Bühne anmutenden Raum von ge-ringer Tiefe vor.69Bewusst arbeitet der Malergegen die räumliche Illusion und hebt damitdie objektivierende Distanz zwischen Be-trachter und Dargestelltem auf. Eine inkon-sistente, zugleich Aufsicht wie Untersichtsuggerierende Perspektive unterstützt diesenEffekt.70 Die Verleumdung des Apelles offen-

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58 Lightbown 1978, Bd. 1, S. 112: »[...] but the polished accomplishment of the work [...] suggests that the subject wasnot yet one that touched him deeply. Even the careful finish ofthe metallic draperies, smoothly varied in colour, suggests satis-faction in a well-wrought artefact rather than any deep urge offeeling.«59 Siehe dazu Joannides 1995; vgl. Burroughs 1997, S. 12. Zuden weiterhin erfolgreichen späten Schaffensjahren Botticellissiehe Rehm 2009a, S. 149–246, bes. S. 237; Rehm 2009b,S. 132–135. Zur Geringschätzung von Botticellis religiöser Male-rei, v.a. seinen Altartafeln, in der Forschung siehe Dombrowski2010, S. 9 f. 60 Eine Beteiligung von Mitarbeitern erkennen Streeter 1903,S. 131 f.; Mesnil 1914, S. 210; Gamba 1936, S. 188 f.; Salvini1958, Bd. 2, S. 52. Eine Ausführung durch die Werkstatt nach

einer Zeichnung bzw. einem Karton vermuteten Berenson 1903,Bd. 1, S. 84; Horne 1908a, S. 287 f.; Mesnil 1938, S. 166 f. Marle1923–1938, Bd. 12, 1931, S. 174, lehnte eine Zuschreibung anBotticelli gänzlich ab. 61 Für eine Zusammenfassung der Zuschreibungen und Datie-rungen der älteren Forschung siehe Mus. Kat. München 1975,S. 29 f., Nr. 1075; Lightbown 1978, Bd. 2, S. 75, Nr. B.61. 62 Siehe bes. Joannides 1995; Ausst. Kat. Boston 1997; Körner2006; Dombrowski 2010; Ausst. Kat. Frankfurt a.M. 2009; Rehm2009a.63 Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 106.64 Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890, Nr. 8361.65 Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890, Nr. 8362.66 Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. 1890, Nr. 1608.

67 Die Unterzeichnung zeigt, dass die rechts kniende Klagefrauursprünglich mit einem gemusterten Schal geschmückt war. 68 Ein Grund für diese ästhetisch reizvolle, dem Inhalt angemes-sene Reduzierung auf das Wesentliche könnten selbstverständ-lich auch die limitierten Mittel der Auftraggeber gewesen sein.Für die Cestello-Verkündigung ist bekannt, dass sie inklusive Rah-men für die vergleichsweise geringe Summe von 30 fiorini ausge-führt wurde. 69 Vgl. zu den stilistischen Merkmalen hier und folgend Dom-browski 2010, S. 327. 70 Vgl. Dombrowski 2010, S. 329: »Die Füße von Johannes undPetrus sind steil von oben gesehen, die Felslaibung hingegen legteinen niedrigen Augenpunkt nahe; beidem widerspricht die fron-talansichtige Darstellung des Sarkophags.«

bart, dass sich der Künstler in den 1490erJahren nicht nur bei religiösen Darstellungendie Freiheit nahm, seine Figuren in eine aus-drucksstarke Choreographie zu zwingen. Erzeichnete sie mit extrem gestreckten Glied-maßen und verlangte ihnen eckige Bewegun-gen ab. Bei der Beweinung fällt überdies eineunstimmige Proportionierung der Figurenins Auge. Auch der schöne Körper Christi,der, wie gesehen, Anlass zu neuplatonischenInterpretationen gab, zeigt etwa mit seinenbiegsamen dünnen Beinen, dass er ebensowenig einem Ideal antikisch-naturalistischerSchönheit verpflichtet ist wie die Venusdar-stellungen des Meisters.

Obschon es in der Florentiner Malerei,wie beschrieben, an einer inspirierenden

Tradition von Darstellungen der Beweinungund Grablegung und damit an konkretenVorbildern für spezifische Motive – wie z.B.für die Grabhöhle mit Fra Angelicos Grable-gung aus der Predella des Altars für S. Marco(Kat. Nr. 13) – nicht mangelte, ist die formal-stilistische Nähe von Botticellis Beweinungzu Bildfindungen Rogier van der Weydensbesonders bemerkenswert.Während Botti-cellis Spätwerk ohnehin auf ein gesteigertesInteresse an der niederländischen Malereiund im Besonderen an der Kunst Rogiers

schließen lässt,71 überrascht seine Beweinungin Gegenüberstellung mit dessen Kreuzab-nahme im Prado72 mit konkreten Parallelender Bildsprache beider Künstler; hervor-zuheben sind diesbezüglich der knappe,schreinartige Bildraum, die enge Reihungund Verschränkung der Figuren sowie ihreextremen Haltungen und der intensive emo-tionale Ausdruck.73

Auf der Basis der stilistischen wie auchder thematisch-motivischen Charakteristikasowie mit Blick auf die potenzielle Bedeu-

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71 Vgl. Nuttall 1992, S. 76 f. Das Studium einzelner Werke Ro-giers wäre Botticelli in Florenz möglich gewesen; zur Verbreitungund Wertschätzung von dessen Werken in Italien siehe CollobiRagghianti 1990, S. 9–18; Nuttall 2004, S. 4 f., 32–34.

72 Madrid, Museo Nacional del Prado, Inv. Nr. PO 2825.73 Diese Parallelen haben zuletzt v.a. Körner 2006, S. 358 f., und Dombrowski 2010, S. 330 f., aufgezeigt.

Abb. 27.6 Sandro Botticelli, Beweinung Christi, um 1495/1500, Mailand,

Museo Poldi Pezzoli

Abb. 27.5 Sandro Botticelli, Marienkrönung, um 1490/92, Florenz,

Galleria degli Uffizi

tung von Polizianos Priorat für die Auftrags-vergabe ist sich die jüngere Forschung in derFrage der Datierung der Beweinung weitge-hend einig.74 Die Annahme, dass die Altar-tafel innerhalb der ersten fünf Jahre des letz-ten Jahrzehnts des Quattrocento entstandensein dürfte, wird durch die hier dargelegtenZusammenhänge untermauert und legt fol-gende Überlegungen zur Einordnung in Bot-ticellis Schaffen der 1490er Jahre sowie zurZuschreibung nahe: Unter den Altarbilderndes Meisters steht die Beweinung stilistisch –in erster Linie hinsichtlich Figurenzeichnungund Farbigkeit – der sehr wahrscheinlich zwischen 1490 und 1492 geschaffenen Ma-rienkrönung (Abb. 27.5) am nächsten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer charakteristischenStrenge und Schlichtheit enthält auch dieBildsprache der spätestens 1490 vollendetenCestello-Verkündigung enge Parallelen zu derTafel aus S. Paolino. Schwächere Partien derfigürlichen Darstellung der Beweinung, dieabschließend noch aufzuschlüsseln sind, las-sen schon Ähnlichkeiten mit den danach ent-standenen Altären, der Londoner Trinität(Pala delle Convertite)75 und dem Pfingstwun-der in Birmingham,76 erkennen, deren Aus-führung zu großen Teilen die Werkstatt über-nahm. Unter den profanen Werken ist, wiebereits Dombrowski betont hat, besondersdie ebenfalls um 1490/95 zu datierende Ver-leumdung des Apelles durch vergleichbarekompositorische Entscheidungen – die eben -so energische wie zugleich angehaltene Bild-erzählung und den flachen Bildraum betref-fend – und ähnlich extrem bewegte Figurengeprägt.77Da sie fraglos nach dem Vorbild derAltartafel in S. Paolino entwickelt wurde,markiert die aus S. Maria Maggiore stam-mende, heute in Mailand befindliche Bewei-nung Christi (Abb. 27.6),78 die vermutlich inder Mitte oder der zweiten Hälfte der 1490er

Jahre entstanden ist, den terminus ante quemfür das Münchner Werk.79

Die erstmals weitgehend sichtbar ge-machte detaillierte Unterzeichnung des Ge-mäldes (Abb. 27.4, 27.8) lässt keinen Zweifeldaran, wie intensiv sich Botticelli um dieKomposition bemühte und dass er ihre Pla-nung und Festlegung nicht aus der Hand gab.Auch noch nach der ersten malerischen An-lage der Darstellung nahm er wesentliche Ver-änderungen vor. Vor allem die späte Korrek-tur der Haltung der drei begleitenden Heili-gen trug dazu bei, dass diese Figuren beigenauerer Betrachtung bislang – ohne Kennt-nis der jüngsten technischen Untersuchun-gen – den Eindruck erwecken konnten, einenachträgliche Zutat zu sein. Denn sie sind ins-besondere im Fall von Paulus und Hierony-mus unglücklich eng in die mittlere Bildebeneeingepasst und besitzen einen von der erstendunklen Untermalung beeinträchtigten In-karnatton sowie Schadensbilder, die ebenfallsauf die späten Veränderungen zurückgehenund eine schwächere Ausführung suggerie-ren. Zudem legen auffallend mangelhafte De-

tails wie an erster Stelle die rechte Hand desPaulus nahe, eine eigenhändige Ausführungdieser beiden Figuren infrage zu stellen. Mal-technisch, aber auch hinsichtlich der fein dif-ferenzierten Gestaltung der Köpfe sind hierjedoch keine nennenswerten Abweichungengegenüber der restlichen Darstellung zu kon-statieren, die übrigens auch in anderen Berei-chen – etwa bei der linken Hand der Mariaoder dem linken Fuß des Petrus – irritierendeDarstellungsmängel aufweist. So gibt es keinekonkreten Anhaltspunkte, der Werkstatt desMeisters spezifische Teile der ausgeführtenMalerei zuzuschreiben.80Dennoch rechtferti-gen die qualitativen Differenzen zu den vor-angehenden Altarbildern die Hypothese, dasssich bei der Beweinungneben den stilistischenPhänomenen des Spätwerks partiell bereitsauch die in den letzten Schaffensjahren au-genfällig zutage tretenden Nachlässigkei-ten und damit vermutlich die zunehmendeWerkstattbeteiligung bei der Ausführung gro-ßer Projekte ankündigen.

Andreas Schumacher

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74 Lightbown 1978, Bd. 1, S. 112 (um 1489/92); Pons 1989,S. 87 (um 1495); Caneva 1990, S. 106 (frühe 1490er Jahre); Rousseau 1990, S. 245, 260 (um 1492/93); Blume 1995b, S. 33(um 1485/92); Burroughs 1997, S. 12 (um 1492/94); Zöllner2005, S. 254 (um 1494/95); Körner 2006, S. 357 (um 1490);Dombrowski 2010, S. 327 (um 1494/95).

75 London, Courtauld Institute Art Gallery, Inv. Nr. P.1947.LF.38.76 Birmingham, Art Gallery, Inv. Nr. 1959P31.77 Vgl. Dombrowski 2010, S. 327.78 Siehe zum Werk Anm. 22.79 Zur Mailänder Beweinung siehe zuletzt Ausst. Kat. Mailand2010, S. 84 f. (Alessandro Cecchi); Dombrowski 2010, S. 349–356.

80 Zuschreibungen von Teilen des Gemäldes oder der gesamtenAusführung an die Werkstatt wurden u.a. von folgenden Autorenvorgeschlagen: Streeter 1903, S. 131 f.; Horne 1908a, S. 287 f.;Mesnil 1914, S. 210; Gamba 1936, S. 188 f.; Mesnil 1938, S. 166 f.;Salvini 1958, Bd. 2, S. 52.

Abb. 27.7 Kopf des hl. Johannes, makroskopische Aufnahme und Ausschnitt Infrarotreflektogramm (Osiris-Kamera). Quadrierung (roter Pfeil), erste Unterzeichnung (blauer Pfeil), erste Farbanlage (gelber Pfeil), zweite Unterzeichnung

(grüner Pfeil)

BildträgerDer Bildträger besteht aus sechs tangential geschnittenenPappelholzbrettern. Sie sind Stoß auf Stoß verleimt worden,wobei die Kernseite jeweils zur Bildvorderseite ausgerichtetist.81 Der Faser- und Brettverlauf ist vertikal. Eine Fugensi-cherung ist weder mit bloßem Auge noch im Röntgenbilderkennbar. Um eine Verwölbung der Tafel zu vermeiden,wurden rückseitig zwei horizontal verlaufende Gratnuteneingearbeitet, in denen je eine Gratleiste verläuft.82

MaltechnikDer Grundierungsauftrag ist mehrschichtig, jedoch insge-samt so dünn, dass die Holzoberflächenstruktur im Streiflichtablesbar ist.83Vor dem Auftrag der Farbschichten wurde dieGrundierung mit einer Bindemittelschicht isoliert.84

Anhand des Infrarotreflektogramms lässt sich der viel-schichtige Entstehungsprozess der Kompositionsanlage undder Malerei sehr detailliert nachvollziehen. Auf die grun-dierte Fläche wurde zunächst mit einer Schlagschnur undKohlenstaub ein Linienraster aufgebracht.85 Eine gleicher-maßen gerasterte, nicht mehr erhaltene Vorzeichnungwurde mithilfe dieser Konstruktionslinien in vergrößerterForm auf die Tafel übertragen. Für die eigentliche Ausfüh-rung kamen feine Pinsel und ein flüssiges kohlenstoffhalti-ges Medium zum Einsatz. Die Pinselführung ist in allen Bild-partien routiniert, und doch wurden viele Formverläufe erstdurch mehrfaches Nachziehen konkretisiert.

Vor allem im oberen Bildbereich ist nachvollziehbar,dass diese Unterzeichnung bereits in erste Farbflächen um-gesetzt wurde, bevor eine umfangreiche Kompositions -änderung erfolgte, bei der eine weitere Pinselunterzeich-nung aufgebracht wurde (Abb. 27.7).86 Die Korrekturenbetrafen bildwichtige Bereiche, aber auch nebensächlicheDetails, wobei der Umfang von einer um wenige Millimeterverschobenen Konturlinie bis hin zu veränderten Körperhal-tungen und Gesten reicht (Abb. 27.8). Die gravierendstenÄnderungen betrafen die hll. Paulus, Hieronymus und Pe-trus, die zunächst dichter und stärker gebeugt am zentralen

Geschehen positioniert waren, zusätzlich brachte sie die an-fänglich kleiner konzipierte Grabnische in engeren Kontaktzur Mittelgruppe. Es wurden außerdem die Kopf- und Hand-haltungen aller anderen Figuren korrigiert. Auch die Klei-dung war zumindest für die Klagefrau vorne rechts zunächstprachtvoller geplant. In der Pinselunterzeichnung ist ein auf-wendig besticktes Schultertuch mit Fransen angelegt, dasin der sichtbaren Malerei nicht ausgeführt wurde.

Für die geraden Linien des Sarkophags finden sich denFarbauftrag vorbereitende Ritzungen in der Grundierung.Die im Röntgenfilm sichtbaren, leicht verzogenen Linienlegen nahe, dass kein Lineal als Hilfsmittel benutzt wurde.Weitere geritzte Unterzeichnungslinien für die geraden Kan-ten von Kompositionselementen wie den Schlüsseln des Pe-trus und dem Schwert des Paulus entstanden erst, nachdemschon Farbe aufgebracht war (Abb. 27.9).

Obwohl die Unterzeichnung sehr detailliert ist, bot sieletztlich nur eine Orientierung für die Formen der verschie-

denen Farbflächen. Im gesamten Werkprozess der farbigenGestaltung fanden, ähnlich wie in der Kompositionsanlage,immer wieder Anpassungen von Form- und Konturverläufenstatt. Entlang der Grenzen ist zu beobachten, wie die Farb-flächen in die benachbarten Partien hineinreichen, sodasssich z.B. Inkarnat- und Gewandfarbschichten immer wiederwechselseitig überlagern.87 Dieses Vorgehen zeugt voneinem stets formsuchenden Künstler, der sich aber auchselbstbewusst über die Unterzeichnung hinwegsetzt. Auf-grund dieser wiederholten Überlagerung benachbarterFarbflächen lässt sich nicht rekonstruieren, ob bestimmteBildpartien vor anderen fertiggestellt wurden. Es ist eheranzunehmen, dass das Gemälde auf der gesamten Flächekontinuierlich Schicht um Schicht entstand.

Der Aufbau der Inkarnate erfolgte mit unzähligen Pin-selstrichen in feinem strichelnden Auftrag. In allen anderenBildpartien ist dieser für Temperamalerei so charakteristischeFarbauftrag abgelöst durch eine flächige Malweise mit

429

81 Laut Bisacca/Castelli 2012, S. 75, verwendeten professionelleTafelmacher kernnah tangential geschnittene Bretter, um unterAussparung des Kerns die größtmögliche Brettbreite zu erhalten.Dabei wurde stets die Kernseite als Bildseite benutzt, da sie auf-grund der kompakteren und gleichmäßigeren Struktur wenigerzum Schrumpfen neigt als die tangential ausgerichtete Außen-seite. 82 Mit dem Aufkommen immer größerer rechteckiger Altar-formen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden auchdie Anforderungen an die Tafeln hinsichtlich Konstruktion undStabilität komplexer. Ein weiteres sehr frühes Beispiel für die

originale Verwendung dieser Gratleisten ist Botticellis Marien-krönung aus S. Marco (Abb. 27.5); siehe Bisacca/Castelli 2012, S. 85.83 Als Füllstoff konnten für die Grundierung Gips und in gerin-ger Menge Dolomit nachgewiesen werden. Diese und alle folgen-den Pigment- und Bindemitteluntersuchungen wurden am Doerner Institut durchgeführt; Berichte zu Pigmentanalysen04.08.2014 und 05.07.2016, Doerner Institut; Bindemittelanaly-sen 2016, Doerner Institut.84 Bei dieser in den Querschliffen (z.B. Abb. A27.1b, A27.6,A27.7b, A27.8 im Anhang) und stereomikroskopisch klar differen-

zierbaren Bindemittelschicht handelt es sich um eine proteinhal-tige Isolierung, wohl Leim. Diese Schicht wurde nach der Unter-zeichnung aufgebracht, stereomikroskopisch nachvollziehbar imroten Gewand der Klagefrau vorne rechts. Sie diente zum einender Fixierung der Unterzeichnung und zum anderen der Isolie-rung des Untergrundes.85 Die Kantenlänge der Quadrate variiert zwischen 21 und 22 cm. 86 Die korrigierende Unterzeichnung ist mit breiterem Pinselausgeführt als die erste Unterzeichnung. 87 Wegen dieser malerischen Vorgehensweise ist die stereomi-kroskopische Untersuchung der Schichtenabfolge auf die oberen

Abb. 27.8 Kontrastreduzierte Farbabbildung mit nachgezeichneter Kompositionsanlage

größeren Pinseln, oft auf durchgetrockneten Farbschichtenübereinander und zum Teil auch nass in nass gestaltet.

Für die Modellierung verschiedener Helligkeitswerteund Farbschattierungen sind zwei Prinzipien nachvollzieh-bar. Die Inkarnate sowie die blauen und mit rotem Farblackgestalteten Gewänder basieren auf einer hellen Unter-legung. Die hellen Bereiche sind nur dünn mit Farbe bedeckt,sodass das unterliegende Weiß als Reflektor mitwirkt. Jedunkler der Farbton ist, desto mehr Farbschichtlagen wur-den aufgetragen.88 In den Inkarnaten sind zeichnerische De-tails durch nachfolgende Farbschichten in ihrer zunächst akzentuierten Linearität gebrochen und schimmern nurnoch zart von unten durch. Augen, Münder, Nasen und Kon-turlinien wurden in verschiedenen Rosa- und Brauntönen

strichelnd darauf aufgebracht.89 Die weiteren Farbflächenwie die grünen, gelben und hellroten Gewänder und derHintergrund wurden in einem mittleren Helligkeitswert an-gelegt und, davon ausgehend, in mehreren Schichten mitfließenden Übergängen sowohl ins Dunkle als auch ins Helleaufgehellt bzw. abgedunkelt. Hier sind die Schichten jeweilsähnlich dick mit einer zusätzlichen Farblage für die Detail-gestaltung z.B. der Felsen. Ohne Modellierung innerhalb derFarbflächen blieben nur die Attribute der hll. Petrus und Pau-lus und die Grashalme im Vordergrund, bei denen jeweilsunterschiedliche Grüntöne der einzelnen Halme der leben-digen Farbigkeit der Wiese dienen.

Die Malerei wurde auf der gesamten Bildfläche in bemerkenswert vielen dünnen Farbschichten aufgebaut.

Besonders variantenreich ist die Farbwirkung der roten,grünen und gelben Gewänder. Durch den differenziertenEinsatz der üblichen, zur damaligen Zeit zur Verfügung ste-henden Farbmittel gelang es Botticelli, das nuancierte Ko-lorit seiner Malerei zu erzielen. Der Farbton der Unterle-gung, die Anzahl der Schichten, die unterschiedlichenSchichtstärken und die jeweilige Pigmentierung boten ihmdafür einen großen Gestaltungsspielraum. Beispielhaft fürdie aufwendige Ausführung sei hier der Aufbau des rotenUmhangs des hl. Hieronymus aus 14 einzelnen Schichtengenannt.90 Eher ungewöhnlich in der Farbgebung ist dasschwarze Gewand der Maria (Abb. 27.10).91

Stereomikroskopisch beobachtete Phänomene zeugenvon einem differenzierten Gebrauch verschiedener Binde-mittelsysteme. Die Komponenten scheinen sowohl inner-halb eines Schichtenaufbaus als auch für bestimmte Pig-mente bzw. Farbausmischungen zu variieren.

Die flächig angelegten Untermalungsschichten enthal-ten oft winzige Luftbläschen, die durch die nachfolgendendünnen Modellierungsschichten bzw. -lasuren in der Regelabgedeckt sind (Abb. 27.11). Die Bläschen weisen auf einwässriges Bindemittelsystem wie Tempera hin.92Nach demPrinzip »fett auf mager« folgten darauf Öllasuren mit flie-ßenden weichen Übergängen.93 In wenigen Partien wie z.B.dem Gras im Vordergrund und Petrus’ Haaren scheinen diePinselstriche der oberen Farbschicht von der unteren abzu-

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sichtbaren Farbschichten beschränkt. Tiefere Einblicke bis auf dieGrundierung sind die Ausnahme. 88 In den blauen Gewändern verschiebt sich außerdem die Zu-sammensetzung der Pigmentierung zu einem geringeren Weiß-und einem höheren Blauanteil. In den roten Gewändern ist in denaufliegenden Lasuren kein Weiß, sondern nur noch roter Farblackenthalten.89 Fast alle Inkarnate liegen auf einer kühl-weißen Unterlegungaus Bleiweiß und Grüner Erde, auf die eine flächig aufgetragene

ockerfarbige Schicht folgt. Die anschließende Modellierung be-steht aus mehreren Schichten verschiedener Rosafarbtöne. Großegrüne Pigmentpartikel sind in vielen Inkarnatschichten zu finden.90 Siehe den Beitrag von Heike Stege, Ulrike Fischer und DanielaKarl in diesem Band; siehe Analysenbericht 05.07.2016, DoernerInstitut, und Querschliff Abb. A27.9 im Anhang.91 Im Querschliff (Abb. A27.7a im Anhang) konnten brauner undgelber Ocker, roter Farblack, Kohlenstoffschwarz (Beinschwarzoder Pflanzenschwarz) und Bleiweiß nachgewiesen werden.

92 Die gängige Interpretation von Luftbläschen als »Tempera-bläschen« kann bislang nicht wissenschaftlich untermauert wer-den. Luftblasen können auch in anderen Bindemittelsystemenvorkommen.93 Siehe Cennini-Verkade 1916, S. 120 (Kap. 144). Hier be-schreibt Cennini eine mehrschichtige Malerei mit unterschied -lichen Bindemitteln, zunächst in Eigelb, darauf in Öl gebundeneFarbe.

Abb. 27.12 Haare des hl. Petrus, makroskopische

Aufnahme. Vom Untergrund abperlender Farbauftrag

Abb. 27.13 Nimbus der hl. Maria Magdalena,

makroskopische Aufnahme. Vergoldung

Abb. 27.9 Schlüssel des hl. Petrus, mikroskopische

Aufnahme. In die Farbschicht geritzte gerade Unter-

zeichnungslinien

Abb. 27.10 Schwarzes Mariengewand, mikroskopische

Aufnahme. Kein Blauanteil enthalten

Abb. 27.11 Roter Umhang des hl. Hieronymus, mikro-

skopische Aufnahmen. Winzige Luftbläschen

perlen (Abb. 27.12). Protrusionen in der braunen Farbeder Felsnische deuten auf einen hohen Ölanteil, was auchder Grund für das Abperlen sein könnte. Einen insgesamt er-kennbar höheren Bindemittelgehalt weisen die grünen Ge-wänder auf, vermutlich wegen der vergleichsweise sehr gro-ßen Partikel des kupferhaltigen mineralischen Grünpig-ments. Die kleineren Ultramarinpartikel sind im Gegensatzso gering gebunden, dass eine Filmbildung des Bindemittelskaum erkennbar ist.

Die Heiligenscheine wurden mit Blattgold auf einemrot-bräunlichen Anlegemittel gestaltet. Für die Punktewurde das Anlegemittel vermutlich mit einem leicht ausge-faserten Holzstäbchen aufgestempelt. Dabei tauchte mandieses in das Anlegemittel ein, stupfte eine Reihe Bindemit-telpünktchen auf und wiederholte den Vorgang, wobei biszum nächsten Eintauchen eine Sequenz ähnlicher, rapport-artig kleiner werdender Punkte entstand (Abb. 27.13).

Ein originaler Überzug konnte nicht nachgewiesen wer-den. Auf der Bildoberfläche liegen mindestens vier späteraufgebrachte Naturharzfirnisse.94

Spätere Veränderungen – ErhaltungszustandDer Erhaltungszustand des Gemäldes ist durch das vielfältigeZusammenwirken von maltechnisch bedingt unterschied-lichen Alterungsphänomenen, äußeren Einflüssen und ver-schiedenen früheren Eingriffen geprägt. Zu einem unbe-kannten Zeitpunkt wurde der Bildträger zumindest links,rechts und oben verkleinert.95 Für das Jahr 1812 ist belegt,dass die verschwärzte Gemäldeoberfläche gereinigt undzahlreiche Wurmlöcher gekittet und retuschiert wurden.96

Wohl im Zuge dieser Maßnahme wurde die Malschicht starkverputzt. Nicht mehr vorhandene originale Farbmodellie-rung ist besonders problematisch im Inkarnat Christi, imschwarzen Mantel der Mutter Maria und in blauen Gewand-partien. Außerdem ist die Gestaltung der weißen Tücher undSchleier durch frühere Eingriffe stark reduziert. Um dem Ge-mälde wieder einen geschlossenen Gesamteindruck nachder Vorstellung des 19. Jahrhunderts von florentinischer Re-naissancemalerei zu verleihen, wurden nicht nur die Fehl-stellen retuschiert, sondern zur Kaschierung fehlender bzw.

verputzter Farbschichten auf der gesamten Bildfläche dünneLasuren und Übermalungen aufgetragen. Diese großflächigeÜberarbeitung, die alle Bildpartien betraf, bestimmte seitdem maßgeblich den Eindruck des Gemäldes (Abb.27.14). 1913 wurden Risse in den Fugen verleimt, mit rück-seitig aufgebrachten Klötzchen gesichert und außerdem dieRückseite mit Benzin getränkt.97 In Kernholznähe tendiertder Bildträger nach wie vor zur Rissbildung.

In einer umfassenden Restaurierung wurden von 2015bis 2017 unter anderem alte Retuschen, Übermalungen undFirnisschichten abgenommen (Abb. 27.18).98 Das Ge-mälde erscheint heute heller und kühler in seiner Farbigkeitund damit dem Erscheinungsbild seiner Entstehungszeitähnlicher (Abb. 27.15, 27.16, 27.19). Partien, die imVerlauf der Bildentstehung verändert wurden, treten dabeimarkanter hervor. Hier sind der abweichende Schichtenauf-bau wie auch die Fehlstellen und fehlenden Lasuren schonim 19. Jahrhundert alterungsbedingt stärker sichtbar ge-worden und wurden seinerzeit ebenfalls durch großflächige

Übermalungen verbrämt. Vor allem dunkle tiefer liegendeSchichten irritieren die Homogenität eigentlich zusammen-hängender Farbflächen (Abb. 27.17, 27.20). In der Stirndes hl. Johannes erscheint z.B. die nur teilweise darunter-liegende braune Farbschicht der Grabnische heute kontrast-reicher als zur Entstehungszeit der Malerei (Abb. 27.7).Dieses optische Phänomen gehört jedoch als Bestandteil derkomplexen Genese des Gemäldes zum nunmehr wieder un-verfälschter erlebbaren ästhetischen Gesamteindruck derMalerei.

Ulr ike Fischer

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94 Am Querschliff (Abb. A27.4 im Anhang) konnten vier Firnis-schichten identifiziert werden. 95 Auf keiner der vier Seiten sind Grundierungsgrate erhalten,ein Malrand deutet sich nur am unteren Rand an. Ebenso fehlenjegliche Spuren einer ursprünglichen Einrahmung oder Montagein einem Altarzusammenhang. Würde man das Übertragungsras-ter der Komposition allseitig zu vollständigen Quadraten ergän-zen, ergäbe sich ein Tafelformat von ungefähr 150,5 x 236,5 cm.96 Die Restaurierung wurde in Florenz von Luigi Scotti durchge-

führt; siehe die kunsthistorischen Ausführungen und Heusinger1958/59, S. 397–400.97 Restaurierungsbericht 20.01.1913, Doerner Institut. Weiter-hin gibt es Schwarz-Weiß-Photographien aus den Jahren 1932und 1957, die auf mögliche Restaurierungen hinweisen, ohnedass diese dokumentiert sind.98 Die Restaurierung hat Wibke Neugebauer durchgeführt, eine Publikation ist in Vorbereitung; Restaurierungsbericht 2017,Doerner Institut.

Abb. 27.14 Zustand vor der 2017 abgeschlossenen Restaurierung

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Abb. 27.15 Christus und kniende Klagefrau, makroskopische Aufnahmen. Zustand vor und nach der 2017 abgeschlossenen Restaurierung

Abb. 27.16 Kopf der hl. Maria Magdalena, makroskopische Aufnahmen. Hellere und kühlere Farbwirkung des Violetts

Abb. 27.17 Linke Hand Christi, makroskopische Aufnahmen. Während des Mal-

prozesses veränderter Konturverlauf mit durchscheinenden dunklen Farbschichten

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Abb. 27.18 Hl. Petrus vor der Felsnische, makroskopi-

sche Aufnahmen. Glattere Wirkung des Steins nach

Entfernung der verfärbten Retuschen

Abb. 27.19 Stehende Klagefrau, makroskopische

Aufnahmen. Hellere und kühlere Farbwirkung des

Grüns

Abb. 27.20 Roter Umhang des hl. Johannes und gelber

Umhang und Schwert des hl. Paulus, makroskopische

Aufnahmen. Während des Malprozesses veränderter

Konturverlauf mit durchscheinenden dunklen Farb-

schichten