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Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Schleiermachers Religionsbegriff und die Philosophie des jungen Heideggers Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt von Sang-Youn Han aus Inchon, Korea Dekan: Prof. Dr. W. Jaeschke Referent: Prof. Dr. G. Scholtz Korreferent: Prof. Dr. H.-U. Lessing Tag der mündlichen Prüfung: 21. Juli 2005 Bochum, den Juli 2005

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Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik

Schleiermachers Religionsbegriff und

die Philosophie des jungen Heideggers

Inaugural-Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Doktors der Philosophie

vorgelegt von

Sang-Youn Han

aus Inchon, Korea

Dekan: Prof. Dr. W. Jaeschke

Referent: Prof. Dr. G. Scholtz

Korreferent: Prof. Dr. H.-U. Lessing Tag der mündlichen Prüfung: 21. Juli 2005

Bochum, den Juli 2005

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INHALT

EINLEITUNG: HEIDEGGERS REZEPTION DER RELIGIONSPHILOSOPHIE VON SCHLEIERMACHER.........................................6

1. HERMENEUTIK UND PHÄNOMENOLOGIE ............................................................................................... 10 2. DER PRIMAT DER PRAXIS UND DIE ‚SORGE‘ DES DASEINS .................................................................... 15 3. RELIGION UND DIE GESCHICHTLICHKEIT DES FAKTISCHEN LEBENS...................................................... 25 4. SPRACHE, WELT UND SEIN ................................................................................................................... 36

I. SCHLEIERMACHERS BEDEUTUNG FÜR DIE HERMENEUTIK DES FAKTISCHEN LEBENS................................................................................................43

1. DIE QUELLEN VON HEIDEGGERS HERMENEUTIK .................................................................................. 53 1.1. Zum philosophischen Verhältnis von Phänomenologie, Hermeneutik und Theologie

beim frühen Heidegger........................................................................................................................ 54 1.1.1. Die Frage nach dem Sein im scholastischen Umfeld .............................................................................60 1.1.2. Heideggers Husserl-Rezeption...............................................................................................................62

1.2. Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls ............................................................... 66 1.2.1. Geschichte als Leitwort bei Heideggers Kritik an Husserl.....................................................................67 1.2.2. Heideggers Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers ...........................................69 1.2.3. Zur Frage nach der Motivation für Heideggers hermeneutische Wende................................................71

2. HERMENEUTIK UND GESCHICHTE ......................................................................................................... 75 2.1. Das apophantische Als und das hermeneutische Als ................................................................... 76 2.2. Die Bedeutsamkeit ....................................................................................................................... 79

2.2.1 Die Bedeutsamkeit als Zusammenhang der Bezüge des Daseins auf seine Welt....................................79 2.2.2. Bedeutsamkeit und Zuhandenheit ..........................................................................................................81

2.3. Das Problem der Heideggerschen Umweltanalyse: Bedeutsamkeit, Wissen und Denken ........... 83 2.3.1. Die Welterschlossenheit im Alltagsleben und das Denken ....................................................................84 2.3.2. Das vortheoretische Etwas und die Unheimlichkeit des Lebens ............................................................87

2.4. Das faktische Leben und die Geschichte...................................................................................... 89 2.4.1. Die Selbstgenügsamkeit und Unruhe des faktischen Lebens .................................................................90 2.4.2. Die Selbstwelt und die Geschichte.........................................................................................................92

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EXKURS: SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DES REINEN DENKENS UND HEIDEGGERS BEGRIFF DES

BEDEUTENS ............................................................................................................................................... 95

3. DIE RELIGION UND DIE EXISTENZONTOLOGISCHE FUNDIERUNG DES NICHTS: R. OTTOS

BEDEUTUNG FÜR DIE SCHLEIERMACHER-REZEPTION HEIDEGGERS........................................................ 101 3.1. R. Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls ..................................... 101

EXKURS: DAS GEFÜHL UND DAS URTEIL .................................................................................................. 104 A. Das Gefühl als allgemeines Lebenselement ................................................................................. 105 B. Das Gefühl als Urteil und das Abhängigkeitsgefühl .................................................................... 107 C. Das Kreaturgefühl und das Abhängigkeitsgefühl: Urteil und Urteilsenthaltung .......................... 115

3.2. Das Heilige von R. Otto und dessen Bedeutung für die Schleiermacher-Rezeption

Heideggers ........................................................................................................................................ 118 3.2.1. Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls ...........................................120 3.2.2. Die religiöse Betrachtung und die Unheimlichkeit des Seins ..............................................................122

3.3. Die existenzontologische Fundierung des Nichts im theologischen Umfeld ............................. 124 3.3.1. Die vita religiosa..................................................................................................................................126 3.3.2. Die Angst.............................................................................................................................................127

3.4. Das religiöse Gefühl und die Angst als Stimmung der ursprünglichen Geworfenheit des

Daseins in die Welt ........................................................................................................................... 128 3.4.1. Die Geworfenheit und das Nichts ........................................................................................................129 3.4.2. Die Duplizität der selbstweltlichen Lebenserfahrung: Die Eigentlichkeit und die

Uneigentlichkeit.............................................................................................................................................131 3.5. Die Religion und die Entschlossenheit des Daseins zum Sein ................................................... 135

II. SCHLEIERMACHERS BEGRÜNDUNG DER RELIGION UND DIE PHÄNOMENOLOGIE .................................................................................................137

1. SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DER RELIGION....................................................................................... 141 1.1. Das Gefühl und die Epoché........................................................................................................ 141 1.2. Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher ...................................................... 143

1.2.1. Zur Frage der Psychologisierung der Religion bei Schleiermacher .....................................................144 1.2.2. Die Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein in der

Glaubenslehre ................................................................................................................................................148 2. SELBSTBEWUßTSEIN UND RELIGION.................................................................................................... 151

2.1. Diltheys Interpretation des Begriffs Religionsgefühl bei Schleiermacher ................................. 152 2.1.1. Die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins und das Gottesbewußtsein......................154

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2.1.2. Der Sinn der Ursprünglichkeit des religiösen Selbstbewußtseins bei Schleiermacher........................159 2.2. Die Selbstbewußtseinstheorie des jungen Schleiermachers ....................................................... 163

2.2.1. Das Verhältnis zwischen der Religion und dem unmittelbaren Selbstbewußtsein...............................165 2.2.2. Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus und das Problem des

Selbstbewußtseins..........................................................................................................................................167 2.2.3. Die Unzulänglichkeit des Substanzbegriffs für die Erklärung der Einheit des

Selbstbewußtseins..........................................................................................................................................171 2.3. Die phänomenale Welt ............................................................................................................... 176

3. DAS SELBSTBEWUßTSEIN, DIE WELT UND GOTT................................................................................. 182 3.1. Die Welt als Offenbarung Gottes ............................................................................................... 182 3.2. Das Leben als Einheit von Spontaneität und Rezeptivität.......................................................... 185

3.2.1. Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt................................................................186 3.2.2. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Freiheitsbewußtsein....................................................187 3.2.3. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Gottesbewußtsein .......................................................189 3.2.4. Das relative und das absolute Abhängigkeitsgefühl.............................................................................191

3.3. Der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ..................................................... 193 3.3.1. Die ungeteilte Unendlichkeit als Existenzgrund des endlichen Seins ..................................................194 3.3.2. Das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins als Ursache für den Glauben an die

ursprüngliche Vollkommenheit der Welt.......................................................................................................196 3.3.3. Die Bedeutung der Vollkommenheit der Welt.....................................................................................197 3.3.4. Die Bedeutung der Ursprünglichkeit der vollkommenen Welt ............................................................199

3.4. Die Allgegenwart Gottes im menschlichen Bewußtsein als Ursache des Glaubens an die

ursprüngliche Vollkommenheit der Welt .......................................................................................... 201 3.4.1. Zwei Mißverständnisse des Schleiermacherschen Begriffs der Gottesgegenwart in uns .....................201 3.4.2. Die Allmacht Gottes als Inbegriff der Einwirkung des Seins auf den Menschen.................................204 3.4.3. Das religiöse Gefühl und das Kantische Apriori..................................................................................206 3.4.4. Das Natürliche und das Sittliche im Leben..........................................................................................210

4. DIE PHILOSOPHISCHE KONTINUITÄT ZWISCHEN DEN JUGENDSCHRIFTEN SCHLEIERMACHERS

UND SEINER GLAUBENSLEHRE................................................................................................................ 214 4.1. Die Auseinandersetzung des jungen Schleiermachers mit Kant ................................................ 216

4.1.1. Kants Kritik an dem Paralogismus der Seelenlehre der rationalen Psychologie ..................................216 4.1.2. Schleiermachers Kritik an dem Kantischen Begriff der noumenischen Person ...................................218

4.2. Die Religion als Ausrichtung des Menschen auf das Sein ......................................................... 223 4.2.1. Schleiermachers Ablehnung der Idee der Vielheit der noumenischen Substanzen ..............................226 4.2.2. Die Welt – ein substantielles Sein?......................................................................................................228

4.3. Gott und das Universum............................................................................................................. 231 4.3.1. Das Universum als ein phänomenologischer Grenzbegriff..................................................................231 4.3.2. Die Rolle des Gottesbegriffs für die Religionsphilosophie Schleiermachers.......................................233

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III. SEIN UND EXISTENZ ..........................................................................................236

1. SCHLEIERMACHERS BEGRIFF DER RELIGION UND DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REDUKTION ................ 250 1.1. Das Problem der realen Welt ..................................................................................................... 251

1.1.1. Die Wahrnehmung und das Urteil .......................................................................................................254 1.1.2. Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur.........................................................................256 1.1.3. Schleiermachers Analyse der Einheit von Bild und Begriff in der Wahrnehmung ..............................257

1.2. Die Welt und das Nichts ............................................................................................................ 259 1.3. Schleiermachers Frage nach der Beziehung des Denkens zum Gegenstand .............................. 264

1.3.1. Die Seinssetzung beim Empfinden ......................................................................................................265 1.3.2. Die Seinssetzung beim Denken............................................................................................................265 1.3.3. Die Welt als Auffassungssinn..............................................................................................................267 1.3.4. Das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Gedachten ................................................................269

1.4. Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens und die Vernunft........................................................ 273 2. DAS ICH UND DAS PROBLEM DES TRANSZENDENTEN SEINS ................................................................ 277

2.1. Die transzendental-idealistische Position Husserls .................................................................... 278 2.2. Die Unzulänglichkeit der Idee des reinen Ich ............................................................................ 281

2.2.1. Das Problem des fremdem Bewußtseins: Sartres Kritik an Husserl.....................................................281 2.2.2. Schleiermachers Begriff der Liebe als Ermöglichungsbedingung des Bewußtseins vom

Mitmenschen .................................................................................................................................................285 2.3. Praxis und Denken bei Schleiermacher und Heidegger ............................................................. 287

2.3.1. Praxis und Denken bei Heidegger........................................................................................................288 2.3.2. Praxis und Denken bei Schleiermacher................................................................................................292

3. DER ONTOLOGISCHE URSPRUNG DER FRAGE NACH DEM SEIN SELBST................................................ 298 3.1. Die Frage nach dem Sein an sich ............................................................................................... 299

3.1.1. Das In-der-Welt-sein des Daseins und das transzendente Sein ............................................................301 3.1.2. Das Problem des Ansichseins ..............................................................................................................305

3.2. Die Schleiermacher-Kritik des frühen Heideggers und deren Bedeutung für den

Seinsbegriff Heideggers .................................................................................................................... 313 3.3. Heideggers Definition des Seins nach der Kehre und deren Ursprung ...................................... 317

3.3.1. Das Sein als das Einfache ....................................................................................................................318 3.3.2. Heideggers eigene Stellungsnahme zu seiner ‚Kehre‘ .........................................................................322 3.3.3. Das Sein und die Seinsfülle .................................................................................................................331 3.3.4. Das Phänomen des Ansichseins...........................................................................................................335

4. DAS SEIN UND DIE LEIBLICHKEIT DES DASEINS .................................................................................. 340 4.1. Das Seinsphänomen und das Sein des Phänomens .................................................................... 341 4.2. Die Mehrdeutigkeit der Zeitlichkeit bei Heidegger.................................................................... 343

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4.3. Heideggers Aporie der Eigentlichkeit des existenzialen Daseins............................................... 345 4.3.1. Die Rede als Existenzial ......................................................................................................................345 4.3.2. Der konkrete Leib als Bedingung der Zeitlichkeit: Eine Kritik an Heideggers Zeitanalyse.................349

4.4. Schleiermachers Vorwegnahme des phänomenologischen Begriffs der Leiblichkeit und

Heideggers formal-ontologische Analyse der Existenzstruktur des Daseins .................................... 353 4.4.1. Die Leiblichkeit des Daseins als die Grundbedingung für die ontologische Frage nach dem

Sein selbst......................................................................................................................................................354 4.4.2. Heideggers Definition des Daseins als eines Seins zum Ende .............................................................359 4.4.3. Die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Daseins aus der ruinanten Lebensbewegtheit zu

entfliehen .......................................................................................................................................................363 4.4.4. Die Leiblichkeit des Daseins, die Liebe und das Sein..........................................................................366

IV. DIE EXISTENZ UND DAS ABHÄNGIGKEITSGEFÜHL ...............................369

1. SCHLEIERMACHER-REZEPTION IM UMFELD DER PHÄNOMENOLOGIE HUSSERLS................................. 374 1.1. Die Ontologie als notwendige Konsequenz der phänomenologischen Analyse des Selbst........ 374

1.1.1. E. Steins Husserl-Kritik .......................................................................................................................376 1.1.2. Phänomenologie und Ontologie...........................................................................................................382

1.2. Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher und die Hermeneutik Heideggers ....................... 384 1.2.1. Reinachs Einfluß auf E. Stein ..............................................................................................................386 1.2.2. Reinachs Einfluß auf Heidegger ..........................................................................................................388 1.2.3. Reinachs Unterscheidung von expliziten und erlebnisimmanenten Erkenntnissen und deren

Bedeutung für die hermeneutische Wende Heideggers .................................................................................391 1.2.4. Gott und Erlebnis bei Reinach und Schleiermacher.............................................................................394

2. DAS ABHÄNGIGKEITSGEFÜHL ALS UNMITTELBARES EXISTENTIALVERHÄLTNIS ................................ 399 2.1. Das unmittelbare Selbstbewußtsein als der Ermöglichungsgrund für die Entdeckung der

existenzialen Seinsstruktur des Daseins............................................................................................ 401 2.2. Die Intentionalität des Bewußtseins und das Frömmigkeitsgefühl ............................................ 405

2.2.1. Bretschneiders Kritik an Schleiermachers Begriff des frommen Abhängigkeitsgefühls......................405 2.2.2. Die Religion als Gesinnung .................................................................................................................407

V. RESÜMEE ................................................................................................................412

LITERATURVERZEICHNIS .....................................................................................428

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Einleitung: Heideggers Rezeption der Religionsphilosophie von Schleierma-

cher

Auf viele Leser mag die These befremdend wirken, daß Schleiermacher für die

Begründung der Existenzontologie Heideggers in irgendeiner Form von Bedeu-

tung ist. Besonders Gadamer, der in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk Wahr-

heit und Methode die Hermeneutik Schleiermachers als eine Abart der romanti-

schen Genieästhetik bezeichnet hat, hat viel dazu beigetragen, daß die Existenz-

ontologie Heideggers in der Regel als radikaler Gegensatz zu der Hermeneutik

Schleiermachers aufgefaßt wird.

Im Verlauf dieser Arbeit wird aber deutlich werden, daß Heidegger durch seine

Auseinandersetzung mit Schleiermacher einen wichtigen Impuls für seine kriti-

sche Überwindung der Husserlschen Phänomenologie erhalten hat. Das wichtigs-

te Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu zeigen, inwieweit die Lektüre von Schlei-

ermacher Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls beeinflußt hat

und welche Bedeutung die Ansatzpunkte, die Heidegger von Schleiermacher ü-

bernommen hat, für die weitere Entwicklung der Philosophie Heideggers haben.

Die Ausgangsthese, die in dieser Arbeit vertreten werden soll, steht also nicht in

Einklang mit Gadamers Gegenüberstellung von Schleiermacher und Heidegger.

Entgegen dieser Darstellung von Gadamer soll gezeigt werden, daß Heideggers

Auseinandersetzung mit Schleiermacher von entscheidender Bedeutung für seine

Konzeption einer ‚Hermeneutik der Faktizität ist‘, mit der sich Heidegger von der

Husserlschen Phänomenologie kritisch distanziert. Diese These setzt allerdings

voraus, daß Schleiermachers Philosophie einige wichtige Momente enthält, die

für das hermeneutische Denken Heideggers von zentraler Bedeutung sind. Eine

wichtige Nähe zwischen Schleiermachers Ansatz und dem Anliegen der Philoso-

phie von Heidegger besteht m. E. darin, daß Schleiermachers Philosophie eine

phänomenologische Ontologie darstellt. Somit wird in dieser Arbeit noch eine

weitere These vertreten: Schleiermachers Philosophie behandelt die Frage nach

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dem Sein, die durch die erkenntnistheoretische Orientierung an der Vorhanden-

heit (wie bei der Husserlschen Phänomenologie) nicht angemessen beantwortet

werden kann.

Beide Thesen stehen im Widerspruch mit Gadamers Interpretation der Philoso-

phie von Schleiermacher. Allerdings darf man nicht übersehen, daß Gadamers

Schleiermacher-Kritik vor allem gegen die Hermeneutik von Schleiermachers

gerichtet ist, während sich Heidegger, wie wir gleich sehen werden, hauptsächlich

mit Schleiermachers Religionsphilosophie auseinandergesetzt hat. Man kann aber

dennoch der Meinung sein, daß Gadamers Schleiermacher-Kritik insgesamt von

einem Mißverständnis des Schleiermacherschen Ansatzes geleitet wird, das nicht

nur die Hermeneutik, sondern die ganze Philosophie Schleiermachers betrifft.

Ferner wird Gadamers Schleiermacher-Kritik von einer fragwürdigen Interpreta-

tion der Heideggerschen Philosophie begleitet, die m. E. zu sehr die praktische

Dimension des faktischen Lebens hervorhebt. Auch dies steht nicht in Einklang

mit der Ausgangsposition dieser Arbeit. Denn der entscheidende Ansatzpunkt,

den Heidegger bei seiner hermeneutischen Umgestaltung der Phänomenologie

von Schleiermacher übernommen hat, besteht m. E. darin, daß eine ontologische

Frage nach dem Sein selbst weder durch den Primat der theoretischen Betrach-

tung noch durch den Primat des praktischen Verhaltens des faktischen Daseins

angemessen beantwortet werden kann. Denn sowohl die theoretische Betrachtung

als auch das praktische Verhalten des faktischen Daseins setzen eine gewisse

Vorhandenheit voraus, die empirisch konstatierbar sein soll.

In der Einleitung dieser Arbeit werden folglich gelegentlich kritische Auseinan-

dersetzungen mit Gadamer eine Rolle spielen. Dies soll gleichwohl keine grund-

sätzliche Kritik an der gesamten Philosophie von Gadamer sein. Es geht vielmehr

hauptsächlich darum, die unter dem Einfluß von Gadamer weit verbreitete Fehlin-

terpretation der Philosophie Schleiermachers zu korrigieren. Schleiermacher und

Heidegger sind m. E. in gewisser Hinsicht als zwei geistig verwandte Denker zu

betrachten, auch wenn zwischen den beiden natürlich gleichzeitig zahlreiche Un-

terschiede bestehen.

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Diese kritische Auseinandersetzung mit Gadamers Schleiermacher-Rezeption

wird von einigen philologischen Belegen untermauert, die bezeugen, daß Schlei-

ermacher von Heidegger ganz anders interpretiert wird, als man unter dem Ein-

fluß der Schleiermacher-Kritik Gadamers erwarten würde.

Die Tatsache, daß Schleiermachers Philosophie von Heidegger und Gadamer

jeweils unterschiedlich rezipiert wird, hat nun allerdings, wie bereits angedeutet,

auch für die Interpretation von Heideggers ‚Hermeneutik des faktischen

Lebens‘ schwerwiegende Folgen. Es gibt unter den Heidegger-Forschern eine

erstaunliche Diskrepanz bei der Einschätzung der Bedeutung der Hermeneutik

des faktischen Lebens für die weitere Entwicklung der Heideggerschen Philoso-

phie. Dies wird besonders deutlich, wenn man die verschiedenen Aufsätze im

vierten Band des Dilthey-Jahrbuchs, in denen das philosophische Verhältnis zwi-

schen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der Existenzontologie in Sein

und Zeit im Zentrum steht, vergleicht. Man kann hier insgesamt zwei verschiede-

ne Positionen unterscheiden: Es gibt Philosophen, die unter dem Einfluß Gada-

mers das Verhältnis zwischen der Hermeneutik in der frühen Freiburger Zeit Hei-

deggers und der Existenzontologie (zur Zeit von Sein und Zeit) als diskontinuier-

lich bezeichnen, und es gibt auch Philosophen, die gegen diese Position die Kon-

tinuität zwischen diesen beiden Phasen der Philosophie Heideggers besonders

hervorheben. Vereinfacht gesagt kann man die erste Position als eine praxeologi-

sche Deutung bezeichnen, für die die primäre Bedeutung der Hermeneutik des

faktischen Lebens in der Rehabilitierung der praktischen Philosophie besteht. Die

zweite Position betont dagegen, daß für Heideggers Hermeneutik eine Dimension

des faktischen Lebens wichtig ist, die weder als das praktische Verhalten noch als

das theoretische Reflektieren bezeichnet werden kann. Der Bewußtseinsanalyse

Heideggers, für die das Dasein sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem

praktischen Alltagsbewußtsein und dem Bewußtsein der Nichtigkeit des alltägli-

chen Selbsts (Angst) befindet, wird hier eine viel wichtigere Bedeutung zugewie-

sen, als die praxeologische Heidegger-Interpretation annimmt.

Gadamer erkennt in der Analyse des Phänomens der Angst in Sein und Zeit einen

versteckten Einfluß der transzendental-idealistischen Phänomenologie Husserls.

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Heideggers Kehre sei eine Rückkehr zu demjenigen ursprünglichen Denkweg,

den Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit durch eine hermeneutische

Umgestaltung der Phänomenologie eingeschlagen habe. Für die praxeologische

Heidegger-Interpretation ist also Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit ein Werk,

das von dem eigentlichen Anliegen Heideggers wegführt. Dagegen betonen ande-

re Heideggerinterpreten, daß die Existenzontologie zur Zeit von Sein und Zeit

eine Folge der systematischen Entwicklung der Hermeneutik des faktischen Le-

bens ist und daß daher die Beziehung zwischen der Hermeneutik des faktischen

Lebens und der Existenzontologie von Sein und Zeit viel kontinuierlicher ist. Die-

se Unterschiede in der Interpretation von Sein und Zeit werden besonders im drit-

ten Teil dieser Arbeit detailliert erörtert.

In dieser Einleitung soll es vor allem darum gehen, die Grundzüge der Herme-

neutik Heideggers darzustellen. Die Metakritik an Gadamers Schleiermacher-

Kritik ist gerade deswegen für die Einleitung dieser Arbeit ein angemessener

Ausgangspunkt, weil dadurch zwei wichtige Probleme bei der Darstellung des

philosophischen Verhältnisses zwischen Schleiermacher und Heidegger gelöst

werden können: Erstens kann von vornherein deutlich gemacht werden, welcher

Position der Verfasser dieser Arbeit angesichts dieser widersprüchlichen Interpre-

tationen des philosophischen Verhältnisses zwischen der Hermeneutik des fakti-

schen Lebens und der Existenzontologie in Sein und Zeit den Vorzug gibt. Zwei-

tens kann man durch eine kritische Überprüfung von Gadamers Schleiermacher-

interpretation zugleich erkennen, worin das eigentliche Anliegen Heideggers bei

seiner hermeneutischen Neugestaltung der Phänomenologie besteht. Beide Prob-

leme hängen m. E. miteinander zusammen. Gadamer betont bei seiner Heidegger-

Interpretation, wie schon erwähnt, zu sehr die praxeologische Dimension. Dies

zeigt sich sowohl bei seiner Interpretation der Hermeneutik Heideggers als auch

bei seiner Schleiermacher-Kritik. Und da es in dieser Arbeit vor allem um die

Erhellung des philosophischen Verhältnisses zwischen der Hermeneutik Heideg-

gers und der Philosophie Schleiermachers geht, kann die kritische Auseinander-

setzung mit der Praxeologie Gadamers von wichtiger Bedeutung für diese Arbeit

sein: Hält man die praxeologische Heidegger-Interpretation Gadamers für richtig,

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so gibt es keinen Grund anzunehmen, daß Schleiermachers Philosophie für Hei-

degger eine wichtige Rolle spielen könnte.

1. Hermeneutik und Phänomenologie

Für Gadamer ist die Hermeneutik Schleiermachers durch einen Objektivismus

geprägt. Nach ihm habe Schleiermacher die Hermeneutik als Methodologie des

richtigen Verstehens auf die metaphysische Voraussetzung eines für alle Indivi-

duen gemeinsamen Lebenszusammenhanges gegründet: „Der genialen Produkti-

on entspricht auf der Seite der Hermeneutik, daß es der Divination bedarf, des

unmittelbaren Erratens, das letzten Endes eine Art der Kongenialität voraussetzt.

[…] Das ist in der Tat Schleiermachers Voraussetzung, daß jede Individualität

eine Manifestation des Allebens ist und daher ‚jeder von jedem ein Minimum in

sich trägt und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich

selbst‘.“1 Damit meint Gadamer, daß das divinatorische Verfahren Schleierma-

chers von einem naiven Objektivismus ausgehe, indem die dogmatische Annah-

me der Kongenialität aller Individuen eine metaphysische Grundlage für die Ob-

jektivität des hermeneutischen Bewußtseins bilde. Ich lasse hier zunächst offen,

ob diese Behauptungen auf einer richtigen Schleiermacher-Interpretation beruhen.

Statt dessen möchte ich mich darauf konzentrieren, die Bedeutung von Heideg-

gers Schleiermacher-Rezeption für die hermeneutische Wende Heideggers in

seiner frühen Freiburger Zeit zu erhellen. Die Philosophie Schleiermachers, die

nach Gadamer auf dem Reflexionsniveau des naiven Objektivismus stehenbleibt,

ist m. E. in vielerlei Hinsicht bedeutsam für Heideggers Existenzontologie.

Einige Forscher haben inzwischen darauf aufmerksam gemacht, daß Heidegger

gerade durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher in seiner frühen Freiburger

Zeit eine wichtige Anregung für seine hermeneutische Umgestaltung der Phäno-

menologie erhalten hat. Zwei wichtige Heidegger-Forscher, H. Ott und O. Pögge-

1 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke: Bd.1: Hermeneutik I, Tübingen 1986, S. 193.

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ler, heben besonders hervor, daß Heideggers Auseinandersetzung mit Schleier-

macher einen großen Einfluß auf dessen hermeneutische Neuorientierung hatte.2

Man kann von diesen Forschern lernen, daß es zwischen Schleiermacher und

Heidegger viele Gemeinsamkeiten gibt: Beide sind sich darin einig, daß die wirk-

liche Lebenserfahrung nicht in ein philosophisches System der Erkenntnisse um-

gewandelt werden kann. Heidegger ist nach H. Ott und O. Pöggeler durch Schlei-

ermachers Gegenüberstellung der Religion und der am Wissensideal orientierten

Philosophie dazu angeregt worden, die sich als strenge Wissenschaft verstehende

Phänomenologie Husserls zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens umzubil-

den. Dieser direkte Einfluß von Schleiermacher auf den jungen Heidegger soll

daher im ersten Teil der Arbeit detailliert behandelt werden.

Man darf allerdings nicht annehmen, Heidegger habe seine Hermeneutik des

faktischen Lebens als eine philosophische Alternative zur Phänomenologie kon-

zipiert. Der frühe Heidegger hat seine Hermeneutik des faktischen Lebens viel-

mehr als eine neue Form der Phänomenologie verstanden, die der ursprünglichen

Idee der Phänomenologie als einer philosophischen Bemühung um eine radikale

Vorurteilslosigkeit konsequenter treu bleibe als die Phänomenologie Husserls.

Heideggers Vorlesung, die unter dem Titel Grundprobleme der Phänomenologie

im Wintersemester 1919/20 in Freiburg gehalten wurde, zeigt besonders deutlich,

daß das eigentliche Anliegen des frühen Heideggers darin lag, gegen die „Verun-

staltungen der Idee der Phänomenologie“ die Möglichkeit einer genuin phänome-

nologischen Philosophie zu bewahren.3 Heidegger möchte eine Form der „Phä-

nomenologie“ kritisieren, die mit der „Rede von Intuition, Schau, Wesensschau –

die willkommensten Schlagworte, die man sich denken kann“ – die absolute

Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, „um in der intuitions- und sensationshung-

rigen Zeit philosophischen und phänomenologischen Unfug zu treiben.“4 Diese

Aussage kann allerdings auch als eine Kritik an Husserl verstanden werden, da

Begriffe wie Intuition, Schau, Wesensschau, die Heidegger in diesem Zitat als 2 Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, Frankfurt a. M. / New York 1988, 112 ff.; O. Pöggeler, Heideg-ger in seiner Zeit, München 1999, S. 100 ff.; ders. Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg / München 1983, S. 270 ff. 3 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1993, S. 18. 4 Ebd., S. 19.

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unphilosophische Schlagworte abtut, zu Grundbegriffen der Husserlschen Phä-

nomenologie gehören. Das bedeutet aber nicht, daß die Hermeneutik Heideggers

eine gegenphänomenologische Reaktion wäre. Heidegger will vielmehr die an-

geblich phänomenologische Rede von Intuition, Schau, Wesensschau „als über-

triebene Verabsolutierungen von Lesefrüchten und Aperçus“ entlarven, welche

„die echten Tendenzen und die Methode der Phänomenologie diskreditieren.“5

Die Hermeneutik des faktischen Lebens soll nach der Intention Heideggers eine

phänomenologische Kritik sein, die gegen jede Form einer metaphysischen Re-

duktion des Seins auf die gegenständliche Vorhandenheit einen Seinssinn bewah-

ren soll, der der faktischen Lebenserfahrung entspricht. J. Grondin weist darauf

hin, daß die langjährigen „Kontroversen der Philosophie“: „Hermeneutik versus

Ideologiekritik (Gadamer gegen Habermas), Hermeneutik versus Dekonstruktion

(Gadamer und Habermas gegen Derrida)“ „Gegensätze“ voraussetzen, die „zum

großen Teil künstlich sind.“6 Ihm zufolge kann man aus Heideggers früher Her-

meneutik lernen, „daß die Hermeneutik der Faktizität eine ursprüngliche Form

der Ideologiekritik darstellt, indem sie sich im Namen eines autonom zu erobern-

den Wachseins gegen die objektivierende Selbstentfremdung des Menschen rich-

tet.“7

In welchem Sinn kann aber die Hermeneutik der Faktizität als eine Kritik ver-

standen werden? Man muß zwei verschiedene Dimensionen der hermeneutischen

Kritik im Heideggerschen Sinn unterscheiden. Einerseits kann man die Herme-

neutik der Faktizität als eine philosophische Position verstehen, die gegen das

theoretische Interesse der metaphysischen Seinsauslegung die Lebensorientierung

bei dem Verstehensvorgang des faktischen Daseins hervorhebt. Die primäre Be-

deutung der hermeneutischen Kritik besteht aber für Heidegger darin, daß das

Dasein selbst die Möglichkeit hat, die Vergegenständlichung des Seins im natür-

lichen, am praktischen Interesse orientierten Alltagsbewußtsein in Frage zu stel-

len. Das „Man“ als das „alltägliche Selbstsein“ des Daseins, das Heidegger im 4.

5 Ebd., S. 19. 6 J. Grondin, ‚Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion‘, in: D. Papenfuß / O. Pög-geler (Hrsg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 175 7 Ebd.

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Kapitel von Sein und Zeit – besonders im §27 – als eine Antwort der existenzia-

len Frage nach dem Wer des Daseins herausgearbeitet hat, war für Heidegger

bereits während der frühen Freiburger Zeit das zentrale Thema seiner philosophi-

schen Arbeiten.8 Während in Sein und Zeit der „Ruf des Gewissens“ dem alltäg-

lichen Selbstsein des Daseins als Man gegenübergestellt wird, ist in einer frühen

Freiburger Vorlesung von der „Ruinanz“ und „der gegenruinanten Bewegt-

heit“ des Daseins die Rede.9 Der primäre Sinn der hermeneutischen Kritik ist also

die Selbstkritik des Daseins, die gegen das alltägliche Selbstverständnis des Da-

seins gerichtet ist.

Heideggers Verhältnis zu Schleiermacher kann nur in bezug auf diese kritische

Dimension der Hermeneutik richtig verstanden werden. In seinen Ausarbeitungen

und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19, die ursprünglich für

das Wintersemester 1919/20 angekündigt wurde, kann man deutlich erkennen,

daß Heidegger in Schleiermachers Religionsphilosophie eine Art der Lebensphä-

nomenologie erkennt, die am faktischen Leben selbst orientiert ist.10 Heidegger

zufolge unterscheidet Schleiermacher die Religion dadurch von der Moral und

der Metaphysik, daß die Religion weder auf eine „Denkungsart“ noch auf eine

„Handlungsweise“, sondern primär auf das „Gefühl“ bezogen wird.11 Wenn Ga-

damer Schleiermachers Begriff „Gefühl“ als „ein unmittelbares sympathetisches

und kongeniales Verstehen“ definiert, 12 vertritt er eine Schleiermacher-

Auslegung, die von Heideggers Schleiermacherinterpretation deutlich abweicht.

Für Gadamer ist das Gefühl im Schleiermacherschen Sinn deswegen als ein sym-

pathetisches, kongeniales Verstehen auszulegen, weil er in Schleiermachers Her-

meneutik eine am naiven, objektivistischen Methodenideal orientierte Genieäs-

thetik der Romantik erkennt. Das Gefühl Schleiermachers wäre in diesem Sinn

lediglich ein methodologischer Notbehelf, mit dem die Objektivität des herme-

neutischen Bewußtseins, welche angesichts der bei Schleiermacher zum Aus- 8 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 114 ff.; 126 ff.; ders., Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Frankfurt a. M. 1985, S. 85 – 100. 9 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 274 ff.; ders., Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.o., S. 132 f.; 153 f. 10 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1995, S. 319 ff. 11 Ebd., S. 319; 320. 12 H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 194.

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druck gebrachten Irreduzibilität der Individualität auf das begriffliche Systemge-

bilde beinahe unmöglich geworden ist, dennoch gesichert werden soll. Dagegen

weist Heidegger darauf hin, daß Schleiermachers Religionsphilosophie gerade

durch den Begriff des Gefühls eine Dimension des Bewußtseinslebens erschließt,

welche mit der dualistischen Trennung von subjektiv und objektiv überhaupt

nicht erfaßt werden könne. Denn das Gefühl im Sinne Schleiermachers ist nach

Heidegger „ein ursprüngliches Lebens- und Leistungsgebiet des Bewußtseins“,

„in dem Religion allein als bestimmte Erlebnisform sich verwirklicht.“13 Und auf

die Frage, was nun die Religion im Schleiermacherschen Sinn ist, gibt Heidegger

eine eindeutige Antwort: Sie bedeutet eine phänomenologische „epoché“, die das

Bewußtsein in seiner ursprünglichen Seinsweise verstehen läßt.14

Schleiermachers philosophische Bestimmung des „Gefühls“ hat Heidegger somit

zu der Einsicht gebracht, daß eine ontologische Frage nach dem Sein nur durch

die phänomenologische Analyse der Verhaltensweise des Daseins zu dem Sein

selbst beantwortet werden kann. Die Frage: Inwiefern konnte Schleiermachers

Philosophie für Heideggers Umgestaltung der Phänomenologie zu einer Herme-

neutik des faktischen Lebens bedeutsam sein, ist noch mit einer weiteren Frage

verbunden: Wie verhält sich für Heidegger und für Schleiermacher das Dasein

zum Sein selbst? Dadurch, daß er das religiöse Gefühl Schleiermachers als eine

phänomenologische Epoché interpretiert, weist Heidegger zugleich darauf hin,

daß das „Gefühl“ für Schleiermacher keineswegs nur eine Art Sonderphänomen

darstellt, das nur bei den religiös gesinnten Menschen zu beobachten wäre. Es ist

vielmehr ein konstitutives Moment jedes wirklichen Bewußtseins, mit dem sich

das Dasein zu dem Sein selbst verhält. Umgekehrt ist die Frage nach dem Sein

selbst, die über die Grenze einer Erkenntnistheorie hinausgeht, für Heidegger

keineswegs als eine spezifische Problematik der existenzontologischen Philoso-

phie zu verstehen; sie ist vielmehr die ursprüngliche Verstehensweise des Daseins

selbst, die dem Dasein eine kritische Destruktion des überlieferten Bedeutsam-

keitszusammenhanges ermöglicht. Wenn J. Grondin Heideggers „Hermeneutik

13 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 321. 14 Ebd., S. 320.

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der Faktizität“ „als grundsätzliche philosophische Kritik der Kritiklosigkeit der

überlieferten Auffassung vom Menschen“ darlegt, weist er zugleich darauf hin,

daß Heideggers Hermeneutik auf die phänomenologische Fundierung der kriti-

schen Destruktion als einer wirklichen Seinsweise des Daseins zielt; denn die

Hermeneutik der Faktizität hat die „Aufgabe“, „die Auffassung vom Menschen

als ein Objekt für eine indifferente Theorie zu destruieren und an ihre Stelle das

Sein des Menschen als ein eigens zu übernehmendes Seinskönnen einzusetzen.“15

2. Der Primat der Praxis und die ‚Sorge‘ des Daseins

Die Hermeneutik als Destruktion setzt in diesem Sinn nicht nur voraus, daß das

Dasein als ein In-der-Welt-sein notwendig zu einer bestimmten Traditionen ge-

hört. Der Zugehörigkeit zu Traditionen entspricht auch die Möglichkeit des Da-

seins, den überlieferten Sinn des In-der-Welt-seins auf die eigene Seinsmöglich-

keit hin zu überschreiten. Hierin liegt der Grund dafür, warum Heidegger in sei-

nen Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles die Grundbewegtheit

des Daseins nicht nur als „Ruinanz“ bezeichnet, sondern zugleich als das Fragen,

in dem eine „gegenruinante Bewegtheit“ „in der angeeigneten Zugangsweise der

Fraglichkeit“ vollzogen wird.16 In der ruinanten Befangenheit der Sorge zeigt

sich das Dasein als das alltägliche Selbstsein, das am Vollzug seines praktischen

Interesses orientiert ist und insofern gegenüber der öffentlichen Ausgelegtheit des

Seins in der Alltagswelt unkritisch bleibt. Das Sein des Daseins läßt sich aber nie

auf das alltägliche Selbstsein zurückführen, welches schlechthin einen von äuße-

rer Wirksamkeit bestimmten Zustand bezeichnet. Gerade aus der ruinanten Form

der Sorge des Daseins entsteht notwendig die „Darbung“ des faktischen Lebens,

die sich auf das Bewußtsein des Daseins von der Irreduzibilität seines Seins auf

das alltägliche Selbstsein bezieht: „In der Ruinanz, als einer Grundbewegtheit des

Sorgens, macht sich geltend, daß im faktischen Leben ihm selbst ständig irgend-

wie etwas fehlt, und zwar so, daß zugleich mitfehlt die Bestimmung, was es ei- 15 J. Grondin, ‚Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion‘, a.a.O., S. 169. 16 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 153.

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gentlich ist, das fehlt. Es macht sich in der Ruinanz eine Zuständlichkeit, um

nicht zu sagen: die Zuständlichkeit geltend, die wir bezeichnen als ‚Darbung‘ -

das faktisch darbende Leben.“17 Gemäß diesem Sinn der Darbung legt Heidegger

in Sein und Zeit das vom Gewissen angerufene Selbst als eine völlige Unbe-

stimmtheit aus, die sich dem alltäglichen, als Zuständlichkeit zu verstehenden

Selbstsein des Daseins gegenüberstellt: „Das Gewissen ruft das Selbst des Da-

seins auf aus der Verlorenheit in das Man. Das angerufene Selbst bleibt in seinem

Was unbestimmt und leer.“18

Das Problem der Ruinanz und Gegenruinanz im faktischen Leben des Daseins ist

für Heidegger mit der existenzialen Frage nach dem Sinn des Seins verbunden.

Entscheidend ist dabei, daß Heidegger die (metaphysische) Frage nach dem rea-

len Sein dadurch abzulösen versucht, daß er sie von dem ruinanten Charakter des

um sich selbst sorgenden Lebens abhängig macht. So entsteht die Frage nach der

Realität für Heidegger eigentlich nur daraus, daß sich das Dasein stets in einer

Welt bewegt, die in einem bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhang ausgelegt

ist und die im Interesse des Lebens zu einer vorhandenen Gegenständlichkeit um-

gedeutet wird. Zwar unterscheidet sich die Welt dadurch von den bloß gegen-

ständlichen Dingen, daß sie eine Dimension der Zukunft hat, in der die Welter-

fahrung des Daseins über die Grenze der Gegenstandserfahrung hinaus zu einem

Erwartungshorizont erweitert wird. Und gewiß verhält sich das Dasein im Erwar-

tungshorizont in doppelter Hinsicht zum Sinn des Seins, der nicht auf die bloße

Vorhandenheit des gegenständlich Seienden zurückzuführen ist. Erstens zeigt

sich das Sein des Daseins im faktisch ruinanten Leben nur im Phänomen des

„Nichts“, da „faktisches Leben in seiner ruinanten Sorgensweise“ zugleich „für

das Nichtvorkommen seiner selbst für es selbst [sorgt]“; zweitens ist dieses

Nichtvorkommen „kein ordnungsgemäßiges Fehlen an einer Stelle“, sondern „ein

bewegungshafter Ausdruck des Wie des ‚noch Daseins‘ des umweltlichen Le-

bens“, wobei die Welt, die sich im Erwartungshorizont der Welterfahrung des

17 Ebd., S. 155. 18 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 274.

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Daseins zeigt, „den Charakter des Undurchsichtigen“ hat.19 Daß sich die Welt in

der ruinanten Sorgensweise des Lebens als etwas Undurchsichtiges zeigt, bedeu-

tet aber nicht, daß die Welt damit dem Sinn der Gegenständlichkeit entgeht. Die

Pointe liegt vielmehr darin, daß die Welt allenfalls von der ruinanten Sorgenswei-

se des Daseins abhängig ist; daß die Welt stets dadurch zu einer für das Interesse

des Lebens bedeutsamen Welt wird, daß sie sich im Erwartungshorizont des

Noch-Daseins des umweltlichen Lebens in die empirisch konstatierbare Vorhan-

denheit umwandelt. Mit anderen Worten: „Das besagte Nichtvorkommenkönnen

umweltlichen Lebens als Wie seines Noch- und zwar weltmäßigen Begegnens ist

konstitutiv für den spezifischen Widerständigkeitscharakter, der in der Gegen-

ständlichkeit (Realität) der gelebten Welt erfahren wird; insbesondere ist der be-

sagte, in die Weltbegegnisweise eingeschmolzene Charakter des Noch-Daseins

des umweltlichen Lebens konstitutiv für die spezifische Gegenständlichkeit des-

sen, was im Ausgang der Interpretation des Gegenstandssinnes von gelebter Welt

sich als Bedeutsamkeit zudrängt.“20

Heideggers Begriffe wie Ruinanz, Sorge oder Umwelt sind mit sehr komplexen

Analysen verbunden; daher kann ich sie in diesem einleitenden Teil der Arbeit

auch nicht im Einzelnen behandeln. Wichtig für uns ist aber hier, daß der faktisch

ruinante Charakter des Lebens im Spannungsverhältnis zur Heideggerschen Idee

der Hermeneutik als kritischer Destruktion steht. Vereinfacht gesagt besteht die

Ruinanz des faktischen Lebens darin, daß das Dasein im Interesse des Lebens

primär am Handeln orientiert ist. „Das ungehemmte, explosive Losgehen auf und

in die Welt in der Weise des Sorgens, das Sich-in-die-Sachen-stürzen, Zugreifen,

Handanlegen jeweils an die Dringlichkeiten, all das“ läßt „die Welt als nächstge-

gebene“ erscheinen, so daß die anscheinende „‚Unmittelbarkeit‘ des Gegeben-

seins der gelebten Welt“ durch die Handlungsmotive des lebendigen Da-seins

„vermittelt“ ist. 21 Denken wir nun daran, daß eine Handlung einerseits einen

Sinnzusammenhang der für das Interesse des Lebens bedeutsamen Seinsausle-

gungen voraussetzt, andererseits die empirisch konstatierbare Vorhandenheit der

19 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., S. 148. 20 Ebd., S. 148-149. 21 Ebd., S. 149.

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Welt, zu der sich das Dasein beim Handeln verhalten kann. D. h.: Der Primat des

Handelns in der ruinanten Form der Sorge sagt uns nur, daß das Dasein sich zu

einer als Gegenständlichkeit umgedeuteten Welt verhält, aber nicht zum Sein

selbst, das sich von der gegenständlichen Vorhandenheit der Welt gänzlich unter-

scheidet. Gerade wie der Primat des Erkennens bei der philosophischen

Seinsauslegung von der metaphysischen Reduktion des Seins auf die gegenständ-

liche Vorhandenheit ausgeht, endet der Primat des Handelns vor dem Erkennen

ebenfalls mit der gegenständlichen Vorhandenheit des Seins, zu der sich das Da-

sein im praktischen Leben verhält.

Somit wird deutlich, daß die starke Tendenz der heutigen Heidegger-

Interpretation, die Existenzontologie Heideggers als eine praxeologische Wende

vom Primat des Denkens zum Primat der Praxis darzulegen, in vieler Hinsicht

noch revisionsbedürftig ist. So behauptet M. Riedel, daß die Philosophie Heideg-

gers und Gadamers „die Idee einer neuen Weltphilosophie unter dem Primat der

hermeneutischen Vernunft“22 vorbereite. Nach Riedel besteht die Bedeutung der

frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers darin, daß sie „die Anfänge des Pro-

gramms einer ‚Hermeneutik der Faktizität‘“ sind, „womit, bei Lichte gesehen, die

Vorgeschichte der ‚Rehabilitierung der praktischen Philosophie‘ in unserem

Jahrhundert beginnt.“23 Mit der Rehabilitierung der praktischen Philosophie ist

allerdings „die Einholung der Phronesis als eigener Weise der Seinsbesinnung

‚zwischen‘ Techne und Wissenschaft in die Philosophie“24 gemeint, die Heideg-

ger bekanntlich durch seine kritische Auseinandersetzung mit Aristoteles geleistet

habe. Unübersehbar ist dabei, daß der Primat des phronesischen Wissens, wie

Gadamer selbst nachdrücklich betont, notwendig die Legitimation des Vorurteils

bzw. der Tradition zur Folge hat, da ein phronesisches Wissen seinem Wesen

nach an der Anwendung von etwas orientiert ist, was in einem historisch entstan-

denen Lebenszusammenhang als bedeutsam für das Lebensinteresse gilt. O. Pög-

geler beschreibt zutreffend, was Gadamer mit dem Primat des phronesischen

Wissens vor dem theoretischen bzw. kritischen meint: Die ihm zufolge objekti-

22 M. Riedel, Für eine zweite Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 174. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 172.

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vistisch bestimmte Hermeneutik seit Schleiermacher und Dilthey zurückweisend

„geht [Gadamer] auf die ältere Hermeneutik zurück, die nicht wissenschaftstheo-

retisch angelegt war, sondern auch dem praktischen Verhalten des Richters oder

Pfarrers diente und die applicatio […] als wesentliches Moment des Verstehens

herausstellte.“25 Vereinfacht gesagt kann man Gadamers Auslegung der Heideg-

gerschen Hermeneutik des faktischen Lebens folgendermaßen zusammenfassen:

Im faktischen Leben orientiere sich das Dasein nicht eher am theoretischen, son-

dern am praktischen Interesse, und Heidegger wolle gegen die am Wissensideal

orientierte Metaphysiktradition die Phronesis als eigene Weise der Seinsbesin-

nung des Daseins ‚zwischen‘ Techne und Wissenschaft innerhalb der Philosophie

berücksichtigen.

Aber ob das eigentliche Anliegen Heideggers tatsächlich in dieser angeblichen

Rehabilitierung des praktischen Wissens liegt, kann man schon deswegen be-

zweifeln, weil man mit dem Primat der Praxis gar nicht erklären kann, wie sich

das Dasein zu dem Sein selbst verhält. Es ist sicher richtig: Heidegger stellt die

Ruinanz als faktische Sorgensweise des Daseins dar, und man kann daher wohl

davon ausgehen, daß das Dasein für Heidegger nicht primär ein denkendes, son-

dern eher ein handelndes Wesen ist. Wenn sich Gadamer aber auf den „sensus

communis“ von Vico beruft und die aristotelische Phronesis hauptsächlich zur

Sache der „applicatio“ macht, deren Ausgangspunkt die mit dem common sense

zum Ausdruck gebrachte Seinserschlossenheit im historischen Bedeutsamkeitszu-

sammenhang ist, scheint er die Dimension des Seins selbst in der Heideggerschen

Daseinsanalyse verloren zu haben.26 Daß das Dasein das In-der-Welt-sein ist,

kann man sicherlich dahingehend auslegen, daß das Dasein unvermeidlich zu

einer bestimmten Tradition seines Umfeldes gehört; das Dasein befindet sich in

einem historisch entstandenen Sinnzusammenhang, in dem das faktische Leben

eher an der praktischen Anwendung des phronesischen Wissens orientiert ist als

am theoretischen Interesse für Objektivität. Dabei darf man aber nicht ignorieren,

daß die Zugehörigkeit des Daseins zu einer bestimmten Tradition für Heidegger

25 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 304. 26 Vgl. H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 26 ff.; 312 ff.

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der eigentliche Grund für die Entstehung des metaphysischen Seinsverständnisses

ist. Es wurde bereits gezeigt, daß das Phänomen der Welt für den frühen Heideg-

ger von der ruinanten Form der Sorge des Daseins abhängig ist, durch die sich

das Dasein zu einem als Gegenständlichkeit umgedeuteten Seinssinn verhält. In

§6 von Sein und Zeit, der mit dem Titel Die Aufgabe einer Destruktion der Ge-

schichte der Ontologie versehen ist, betont Heidegger dann nachdrücklich, daß

ein metaphysisches Seinsverständnis gerade darin bestehe, das Sein aus der Welt

her zu verstehen: „Die griechische Ontologie und ihre Geschichte, die durch

mannigfache Filiationen und Verbiegungen hindurch noch heute die Begrifflich-

keit der Philosophie bestimmt, ist der Beweis dafür, daß das Dasein sich selbst

und das Sein überhaupt aus der ‚Welt‘ her versteht und daß die so erwachsene

Ontologie der Tradition verfällt, die sie zur Selbstverständlichkeit und zum bloß

neu zu bearbeitenden Material (so für Hegel) herabsinken läßt.“27 Hier kann man

deutlich erkennen, daß darin, daß das Sein aus der Welt her verstanden wird, für

Heidegger der eigentliche Grund für ein metaphysisches Seinsverständnis liegt.

Warum soll es nun ein bloß metaphysisches Denken sein, wenn man das Sein aus

der Welt versteht? Der Grund liegt m. E. eindeutig darin, daß die Welt für Hei-

degger ein von der Vorhandenheit abhängiges Phänomen ist. Die Welt ist ja für

ihn das in der ruinanten Sorge in Gegenständlichkeit übergeschlagene Sein, zu

dem sich das Dasein in seinem praktischen Leben verhält.

Heideggers Unterscheidung von Sein und Welt ist sowohl in seinen frühen Frei-

burger Vorlesungen als auch in Sein und Zeit bemerkbar. Das Sorgen ist insofern

ruinant, als das Seinsverständnis des Daseins reluzent aus seiner eigenen Verfal-

lenheit an seine Welt her stammt: „das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an

seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen,

Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffe-

nen Tradition.“28 Wichtig ist dabei, daß die Ruinanz zugleich die Reluzenz der

Seinsauslegung, das Seinsverstehen aus der Sorgewelt, bedeutet. Die „zur Herr-

schaft kommende Tradition [...] überantwortet das Überkommene der Selbstver-

27 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 21-22. 28 Ebd., S. 21.

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ständlichkeit“, und die Metaphysik gehört gerade zu diesem Überkommenen der

Selbstverständlichkeit, das Sein selbst aus der Welt her zu verstehen, welche das

im praxeologisch fundierten Leben in Gegenständlichkeit übergeschlagene Sein

ist.29

Der Irrtum der einseitig an der Phronesis orientierten Heidegger-Auslegung

besteht darin, aus dem, was Heidegger für die eigentliche Ursache des metaphy-

sischen Seinsverständnisses hält, einen Beweis für die nichtmetaphysische Le-

bensweise des Daseins abzuleiten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß ein

praktisches Handeln zwei Voraussetzungen haben muß: Erstens muß sich das

Dasein in einer Welt befinden, in der das Sein als bedeutsam im Dienst des Le-

bens erschlossen ist; zweitens muß die Welt als vorhanden erscheinen, damit das

Dasein über ein Sein verfügt, zu dem es sich in seinem praktischen Leben verhal-

ten kann. Daß das Dasein ein In-der-Welt-sein ist, bedeutet dann einerseits, daß

alles, was das Dasein in seinem Leben versteht, nicht zu einem objektiven, von

allem Lebensinteresse unabhängigen Seinssinn gehört, sondern zum Bedeutsam-

keitszusammenhang einer Welt, in dem das Sein für das praktische Interesse des

Lebens erschlossen ist. Gadamer hat insofern bei seiner Heidegger-Auslegung

Recht, als er darauf hinweist, daß das Verstehen notwendig von einer Tradition,

einem historisch gebildeten Sinnzusammenhang oder einem Vorurteil ausgehen

muß, das daher nicht unbedingt ein falsches Urteil sein muß. Wenn man aber be-

hauptet, daß das Dasein im faktischen Leben nicht über ein objektives Verstehen

verfügt, nimmt man die Rolle eines reinen Betrachters ein. Diese Behauptung

kann man, solange man dem Vorurteil eine konstitutive Rolle bei jedem Verste-

hen zuerkennt, für richtig halten und ich habe auch keine Absicht, die Richtigkeit

dieser Behauptung in Frage zu stellen. Heißt es dann aber, daß das Dasein, das

beim Verstehen faktisch vom Vorurteil ausgeht, keinen gegenständlichen Seins-

sinn hat? Kann man mit der Hilfe eines ontologischen Primats des praktischen

Handelns erklären, daß das Dasein die Möglichkeit hat, sich zu dem nicht gegen-

ständlichen Sein zu verhalten? Eine solche Erklärung wird wohl kaum gelingen.

Denn gerade für das praktische Handeln ist für das Dasein die Annahme einer

29 Ebd.

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gegenständlichen Vorhandenheit der Welt, die empirisch konstatierbar sein soll,

unerläßlich. Und das metaphysische Seinsverständnis besteht für Heidegger darin,

daß man diesen praxeologischen Ursprung des als real vorhanden erscheinenden

Weltphänomens vergißt; daß die Gegenständlichkeit des Seins, die nur ein vom

handelnden Leben abhängiges Phänomen ist, als das Sein selbst betrachtet wird.

Nun wird man zwar einwenden können, daß die Welt für Gadamer ein von der

Sprache abhängiges Phänomen ist und daher nicht im Sinn der Gegenständlich-

keit bestimmt wird. M. Riedel faßt zusammen, wie Gadamer die Relation zwi-

schen Welt und Sprache im Zuge seiner Hervorhebung des phronesischen Wis-

sens erklärt: „Wir befragen, was Aristoteles und der von ihm geprägten Tradition

selbstverständlich erschienen ist: das ‚Faktum‘, daß der Logos im Bereich der

Praxis nicht einfach erscheint, in der bloß ‚theoretischen‘ Beziehung auf die Sa-

che, so wie es sich mit ihr verhält, in der Sachlichkeit des Wissens im Abstand,

sondern daß er zweifach (δίττον) gefaltet ist. Er entfaltet sich in bezug auf den

ausgesagten Sachverhalt als solchen und auf das Hören des Gesagten, jenes ei-

gentümlich verdeckte Sprachphänomen, das in ‚Aussagen‘ wie der Bitte, dem

Befehl, dem Wunsch immer schon mitgeht und so alles Sagen begleiten können

muß.“30 Die Betonung der Sprachlichkeit weist hier nachdrücklich darauf hin,

daß das Weltverstehen das Hören des Gesagten mitvoraussetzt, das unvermeidlich

mit dem praktischen Handeln bzw. mit der Aufforderung zu bestimmten Hande-

lungen in der Form von Bitte, Befehl oder Wunsch usw. verbunden ist. In der Tat

weist Gadamer auf die „Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung“ hin und

stellt damit den „Gebrauch des Begriffs ‚Welt an sich‘“ in Frage.31 „Der Maßstab

für die fortschreitende Erweiterung des eigenen Weltbildes wird“ ihm zufolge

„nicht durch die außer aller Sprachlichkeit gelegene ‚Welt an sich‘ gebildet.“32

Die Sprache verfügt über „die unendliche Perfektibilität der menschichen Welter-

fahrung“, die nicht zu einem objektiven Wissen der Ansichwelt führt, sondern

„zu einem immer mehr erweiterten Aspekt, einer ‚Ansicht‘ der Welt.“33

30 M. Riedel, Für eine zweite Philosophie, a.a.O., S. 195. 31 H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 450-451. 32 Ebd., S. 451. 33 Ebd.

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Man kann aber auch hier denselben Einwand wiederholen: Wenn Gadamer von

der untrennbaren Verbundenheit von Sprache und Welt ausgeht und den Begriff

Welt an sich in Frage stellt, spielt er eigentlich die Rolle eines neutralen Betrach-

ters. Erstens kann man mit diesem Zweifel am Begriff Welt an sich gar nicht die

Möglichkeit ausschließen, daß die an einem Gespräch Beteiligten gemeinsam das

Ansichsein der Welt voraussetzen, und zweitens darf man auch bei der Annahme

einer untrennbaren Verbindung von Welt und Sprache nicht leugnen, daß ein Ge-

spräch, solange es auf das praktische Handeln bezogen ist, notwendig die

Vorhandenheit der gemeinsamen Welt fordert. Gadamer selbst weist darauf hin,

daß die Sprachbezogenheit der Welt gar nicht bedeutet, daß das Ansichsein der

Welt im wirklichen Gespräch nicht angenommen zu werden braucht. „In jeder

Weltansicht ist das Ansichsein der Welt gemeint“, und die Annahme der vom

einzelnen Dasein gänzlich unabhängig exstierenden Welt an sich ist die notwen-

dige Voraussetzung für ein Gespräch, das zwischen den von verschiedenen Welt-

ansichten ausgehenden Gesprächspartnern stattfindet.34 Gadamer weist zwar mit

Recht darauf hin, daß man eine von der Weltansicht grundverschiedene Ansich-

welt nicht annehmen darf, da die Welt nicht das Sein selbst ist, sondern ein vom

Lebensvollzug des Daseins abhängiges Phänomen darstellt: „Die Mannigfaltig-

keit solcher Weltansichten bedeutet keine Relativierung der ‚Welt‘. Vielmehr ist,

was die Welt selbst ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Ver-

schiedenes.“35 Erklärt Gadamer damit hinreichend die Möglichkeit, wie man mit

Hilfe der faktischen Welterfahrung zu dem Bewußtsein von der ontologischen

Differenz zwischen dem Sein und der Welt gelangen kann? Keineswegs. Er er-

klärt nur, daß das Ansichsein der Welt, das bei jedem Gespräch vorausgesetzt

sein muß, in Wirklichkeit kein selbstverständlicher Begriff ist. Phänomenologisch

gesehen ist es allerdings eine richtige Aussage, daß die Welt kein Ansichsein ist,

sondern ein Phänomen. Man kann aber deswegen nicht die Möglichkeit aus-

schließen, daß die Welt im praktischen Leben unkritisch als ein Ansichsein ange-

nommen wird.

34 Ebd. 35 Ebd.

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Kehren wir nun zu Heideggers frühen Freiburger Vorlesung über Phänomenolo-

gische Interpretationen zu Aristoteles zurück; Heidegger analysiert hier, wie die

Welt durch die ruinante Sorgensweise des Daseins in die gegenständliche

Vorhandenheit überschlägt. Dieses Thema wird auch in vielen Stellen von Sein

und Zeit, besonders in §43, ausführlich behandelt. Dieser Paragraph, der mit Da-

sein, Weltlichkeit und Realität betitelt ist, endet mit dem Ergebnis, daß die Seins-

art des Daseins weder aus der „Realität“ noch aus der „Substanzialität“, sondern

nur aus der „Existenzialität als Sorge“ begriffen werden kann: „Daß Seiendes von

der Seinsart des Daseins nicht aus der Realität und Substanzialität begriffen wer-

den kann, haben wir durch die These ausgedrückt: die Substanz des Menschen ist

die Existenz.“36 Nun weist Heidegger darauf hin, daß die „Interpretation der Exi-

stenzialität als Sorge und die Abgrenzung dieser gegen Realität jedoch nicht das

Ende der existenzialen Analytik [bedeuten].“ 37 Was meint Heidegger damit?

Damit meint er, daß die Interpretation der Existenzialität als Sorge und die Ab-

grenzung dieser gegen die Realität nicht nur darauf abzielen, die Existenzialität

selbst philosophisch als nichtobjektivistischen Seinssinn des um sich selbst sor-

genden Lebens zu bestimmen. Dadurch, daß die „Substanz des Menschen“ aus

der Existenzialität begriffen wird, will er vielmehr „die Problemverschlingungen

in der Frage nach dem Sein und seinen möglichen Modi und nach dem Sinn sol-

cher Modifikationen schärfer heraustreten [lassen]“.38 Was soll dann durch die

Interpretation der Existenzialität als Sorge als das eigentliche Problem in der Fra-

ge nach dem Sein heraustreten? Auf diese Frage gibt Heidegger eine eindeutige

Antwort: Der Ursprung vom Seinssinn als Seiendem liegt in der Seinsart des um

sich selbst besorgten Daseins selbst; „nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seien-

des als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins,

ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.“39 Und da ein metaphysisches Seins-

verständnis nach Heidegger gerade in der Reduktion des Seins selbst auf das Sei-

ende liegt, ist die Seinsart des Daseins (Sorge), durch die das Sein als Seiendes

36 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 212. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd.

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verstanden wird, dafür verantwortlich, daß das Sein metaphysisch als Ansichsein

der Welt vorgestellt wird.

Es ist nun deutlich geworden, daß Heidegger gerade die sorgende Seinsweise des

Daseins, die primär am praktischen Interesse des Lebens orientiert ist, als Ur-

sprung des metaphysischen Seinsverständnisses betrachtet. Zu zeigen, daß das,

was im natürlichen Bewußtsein des Daseins als Ansichsein gesetzt ist, eigentlich

nur ein von der sorgenden Seinsweise des Daseins abhängiges Phänomen ist, ge-

hört in der Tat zu der philosophischen Leistung einer phänomenologischen Kritik.

Heidegger selbst versucht zu zeigen, daß die Begriffe wie Ansichsein, Realität

und Substanzialität gar nicht selbstverständlich anzunehmende Begriffe sind,

sondern zu den Phänomenen gehören, die von der sorgenden Seinsweise des Da-

seins getragen sind. Es ist damit aber zugleich klar geworden, daß man mit dem

Hinweis auf die praxeologische Dimension der sorgenden Seinsweise des Daseins

gar nicht erklären kann, wie sich das Dasein zu dem nicht gegenständlichen Sein

selbst verhält. Denn es ist gerade das praxeologische Wesen des Daseins, was das

Sein als Seiendes verstehen läßt.

3. Religion und die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens

Kehren wir nun zu unserer ursprünglichen Frage zurück: Was hat Heidegger von

Schleiermacher in der Zeit seiner hermeneutischen Umbildung der Phänomenolo-

gie übernommen? Heideggers Ausarbeitungen und Entwürfe zu einer nicht gehal-

tenen Vorlesung 1918/19 belegen deutlich: Schleiermachers Religionsphilosophie

hat Heidegger zu der Einsicht in die Unzulänglichkeit einer Philosophie gebracht,

welche die Frage nach dem Sein entweder erkenntnistheoretisch oder praxeolo-

gisch zu lösen versucht. Zu Schleiermachers zweiter Rede Über das Wesen der

Religion bemerkt Heidegger, daß Schleiermachers Religionsphilosophie die

„Notwendigkeit einer phänomenologischen Einstellung auf das religiöse Erleb-

nis“ belege.40 Worin besteht nun das wesentliche Merkmal des religiösen Erleb-

40 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 319.

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nisses, auf das eine Phänomenologie notwendig eingehen muß? Heidegger er-

kennt, wie schon erwähnt, daß die Religion für Schleiermacher weder als „eine

Denkungsart, ein theoretisches Gebilde“ noch als „ein praktisches Phänomen“ zu

betrachten ist.41 Damit ist der eigentliche Grund genannt, in welchem Sinn für

Heidegger die Religionsphilosophie Schleiermachers auf die Notwendigkeit einer

phänomenologischen Bestimmung des religiösen Erlebnis hinweist. Gerade das

religiöse Erlebnis, auf das sich Schleiermacher beruft, stellt für Heidegger die

Weise dar, wie sich das Dasein zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst verhält.

Weder der Primat der Erkenntnis noch der Primat des praktischen Lebens führen

zur ontologischen Frage nach dem Sein selbst; denn das Dasein ist sowohl bei

seiner theoretischen als auch bei seiner praxeologischen Einstellung auf die

Vorhandenheit einer Welt angewiesen, die empirisch konstatierbar sein soll. D. h.:

Schleiermachers Religionsphilosophie hat Heidegger in der Zeit seiner hermeneu-

tischen Umbildung der Phänomenologie zu der Einsicht gebracht, daß die phä-

nomenologische Destruktion der metaphysischen Seinsauslegung erst dann er-

möglicht werden kann, wenn die phänomenologische Frage nach dem Sein weder

erkenntnistheoretisch noch praxeologisch gestellt wird. Gerade als das „Gefühl“,

„in dem Religion allein als bestimmte Erlebnisform sich verwirklicht“, erweckt

das religiöse Erlebnis im Dasein ein Bewußtsein von etwas, was von der äußeren

Wirksamkeit der seienden Dinge gänzlich unabhängig ist.42 „Der Religion ist die

Betrachtung wesentlich“, die nicht im Sinn einer wissenschaftlichen Gegens-

tandsbetrachtung, sondern im Sinn einer religiösen Zurückgezogenheit vom äu-

ßerlichen Wirkungszusammenhang des Seienden zu verstehen ist: „Betrachtung –

darunter ist zu begreifen ‚alles von äußerer Wirksamkeit zurückgezogene Erregt-

sein des Geistes‘. Sinn und Geschmack für das Unendliche = ‚unmittelbares in

uns Leben des endlichen, wie es im unendlichen ist‘.“43 Und dieser Seinssinn des

Unendlichen, der im religiösen Erlebnis gegeben ist, kann weder durch den Pri-

mat der Handlung (Moral) noch durch den des Wissens (Metaphysik) erschlossen

werden: „So ist“ für Schleiermacher „zunächst zu zeigen der schneidende Gegen-

41 Ebd. 42 Ebd., S. 320. 43 Ebd.

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satz des Glaubens zu Moral und Metaphysik, der Frömmigkeit gegen Sittlich-

keit.“44

Die Frage, welche grundsätzlichen Einsichten Heidegger von Schleiermacher

übernommen hat, ist somit beantwortet: Gerade vor dem Hintergrund von Schlei-

ermachers Religionsbegriff gelangt Heidegger zu der Einsicht, daß eine Phäno-

menologie über die Dyadik von Wissen und Handeln hinausgehen muß, um die

Frage nach dem Sein selbst im echten Sinn phänomenologisch stellen zu können.

Dieser Einfluß von Schleiermacher soll in dieser Arbeit genauer untersucht wer-

den. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Heideggers philosophische Ausei-

nandersetzung mit Schleiermacher schon von zwei wichtigen Heidegger-

Forschern untersucht wurde: H. Ott und O. Pöggeler sind der Meinung, daß Hei-

degger gerade durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher die erste Anregung

zu einer hermeneutischen Umbildung der Phänomenologie erhalten hat. Aber in

welchem konkreten Sinnzusammenhang Heideggers Schleiermacher-Rezeption

zur philosophischen Entwicklung seiner Existenzontologie steht, bleibt bei beiden

Denkern noch unklar. H. Ott behauptet, daß Schleiermachers „Wendung des Re-

ligionsverständnisses ins Existentielle“ „für einige Zeit Heideggers Beschäftigung

mit Luther bis in die frühen Marburger Jahre [bestimmte].“45 Er will dann aber

seine eigenen „Deutungsversuche auf sich beruhen“ lassen, da er seine biographi-

sche Arbeit über Heidegger eher als ein geschichtswissenschaftliches Werk be-

trachtet: „Es [sic: diesen Fragen nachzugehen] ist nicht so sehr das Geschäft des

Historikers“.46 O. Pöggeler erkennt zwar an, daß Heideggers Auseinandersetzung

mit Schleiermacher ein entscheidender Wendepunkt in Heideggers hermeneuti-

scher Neuausrichtung der Phänomenologie gewesen ist: „Der Bezug zu Schleier-

macher zeigt eine Wende; in den Nachkriegsjahren ist die Phänomenologie, der

Heidegger nunmehr folgt, zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens gewor-

den.“47 Es scheint aber, daß er Schleiermachers Wirkung auf Heidegger als etwas

Vorläufiges betrachtet. Er weist darauf hin, daß Heideggers Vorlesung Einleitung

44 Ebd. 45 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 113. 46 Ebd. 47 O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100.

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in die Phänomenologie der Religion vom Wintersemester 1920/21 schon eine

Kritik an Schleiermacher impliziere.48 Dabei folgt er einem linearen Entwick-

lungsmodell des Heideggerschen Gedankens: Ihm zufolge war Heidegger zwar

durch Schleiermacher zu einer Konzeption einer Hermeneutik des faktischen Le-

bens angeregt worden, aber der eigentliche Kernpunkt der Hermeneutik Heideg-

gers, nämlich daß das faktische Leben jeweils historisch verstanden werden muß,

stamme erst aus einer anderen, späteren Quelle: Die urchristliche Eschatologie

bezeuge exemplarisch das kairologische Wesen des faktisch historischen Lebens,

indem sie sich auf den Kairos der Ankunft Christi bezieht.49 Diese Auffassung

von Pöggeler ist m. E. revisionsbedürftig.

Es ist zwar wahr, daß Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen auch

eine Kritik an Schleiermachers Religionsphilosophie geübt hat. Das bedeutet aber

m. E. nicht, daß Heidegger erst durch seine Beschäftigung mit dem Urchristen-

tum zu der Einsicht in die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens gelangen

konnte. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß es Heidegger durch seine Be-

schäftigung mit Schleiermacher möglich geworden ist, die Geschichte nicht mehr

metaphysisch, sondern lebensphänomenologisch zu behandeln. Schon in seiner

Habilitationsschrift über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus,

die Pöggeler zufolge auf die metaphysische, in Hegel kulminierende Theologie

verwies, hat Heidegger vom lebendigen Geist gesprochen, der wesensmäßig his-

torisch ist: „Der lebendige Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist

im weitesten Sinne des Wortes.“50 Heidegger hat dann nach seiner Beschäftigung

mit Schleiermacher diese Geschichte des Geistes durch die Geschichtlichkeit des

faktischen Lebens ersetzt; die Geschichte soll nunmehr nicht mehr kulturphiloso-

phisch-teleologisch – wie in seiner Habilitationsschrift – behandelt werden, son-

dern phänomenologisch, d. h. als Wesensmerkmal des faktischen Lebens selbst.

Dies werde ich im ersten bzw. zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlicher dar-

stellen. Ich möchte mich hier nur auf einige Punkte der Heideggerschen Schlei-

48 Vgl. Ebd., S. 26. 49 Vgl. Ebd., S. 26 ff. 50 M. Heidegger, Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1978, S. 407. Vgl. O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 26.

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ermacher-Kritik konzentrieren, die zusätzlich deutlich machen, was Gadamer bei

seiner praxeologischen Heidegger-Auslegung übersieht.

Es ist wichtig festzustellen, wann Heideggers kritische Auseinandersetzung mit

Schleiermacher begonnen hat. Das lineare Entwicklungsmodell, das Pöggeler bei

seiner Darstellung von Heideggers hermeneutischer Neuausrichtung der Phäno-

menologie vorauszusetzen scheint, erweckt den Eindruck, Heidegger habe zuerst

die Hermeneutik des faktischen Lebens von Schleiermacher übernommen und

dann ein paar Jahre später, also nach seiner Beschäftigung mit dem Urchristentum,

sich von Schleiermacher kritisch distanziert. Dies ist jedoch nicht der Fall. Hei-

deggers Kritik an Schleiermacher beginnt nämlich nicht erst nach seiner Rezepti-

on von Schleiermachers Religionsbegriff, sondern beinahe gleichzeitig mit seiner

emphatischen Anerkennung der phänomenologischen Ausrichtung von Schleier-

machers Religionsphilosophie; also nicht in seiner Vorlesung vom Wintersemes-

ter 1920/21, sondern in seinen Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht ge-

haltenen Vorlesung 1918/19, die eigentlich für das Wintersemester 1919/20 an-

gekündigt wurde. Heidegger nimmt hier zunächst durchaus positiv auf Schleier-

machers zweiter Rede Über das Wesen der Religion bezug: Nach Heideggers

Ansicht offenbare Schleiermachers Religionsbegriff ein genuin phänomenologi-

sches Problembewußtsein. Dann aber folgt eine kritische Bemerkung zu Schlei-

ermachers Glaubenslehre; in dieser Schrift findet Heidegger Ansätze, die im Ge-

gensatz zum phänomenologischen Problembewußtsein der zweiten Rede auf ein

metaphysisches Seinsverständnis verweisen.

Heideggers Kritik richtet sich insbesondere dagegen, daß Schleiermacher das

religiöse Erlebnis – das Gefühl – in seiner Glaubenslehre als ein Gefühl der

schlechthinnigen Abhängigkeit deutet: Denn die schlechthinnige Abhängigkeit

impliziere nach Heidegger einen auf die Naturrealität hinweisenden Sinn des

Seins, so daß Schleiermacher, der mit seinem Religionsbegriff eine Dimension

des sich von der Vorhandenheit des Seienden gänzlich unterscheidenden Seins-

sinns in der faktischen Lebenserfahrung gezeigt habe, für Heidegger phänomeno-

logisch nicht konsequent bleibt: „‚Schlechthinnige Abhängigkeit‘: dieser Deu-

tungssinn ist zu roh, er objektiviert zu sehr in einer seinstheoretischen – spezi-

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fisch die Naturrealität betreffenden – Richtung.“51 Dies ist allerdings eine frag-

würdige Beurteilung. Denn das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl unterschei-

det sich für Schleiermacher gerade dadurch vom relativen Abhängigkeitsgefühl,

daß dieses sich auf die Wechselwirkung der Dinge bezieht, während jenes auf

Gott als das absolute Sein bezogen ist. Und „Gott ist“ im Sinne Schleiermachers,

wie G. Scholtz zu Recht betont, „kein ‚Gegenstand‘, von dem apriorisch syntheti-

sche Urteile zu fällen wären“.52 Er ist weder, so Scholtz, Naturrealität noch An-

sichsein, sondern der höchste Bezugssinn zwischen Sein und Dasein, durch den

sich das Dasein über seine Freiheit und relative Abhängigkeit von äußerer Wirk-

samkeit hinaus zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst verhält: „Es [das Ge-

fühl der Frömmigkeit] ist zugleich die höchste Stufe des Selbstbewußtseins, das

nun seine Freiheit und relative Abhängigkeit und mit diesen die gesamte endliche

Welt in sein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit hineinnimmt und als abhängig

von Gott weiß.“53 Heideggers Behauptung, der Begriff der schlechthinnigen Ab-

hängigkeit sei eine zu stark objektivierende, dingliche Formulierung des religiö-

sen Gefühls, kann also nur dann als richtig betrachtet werden, wenn Schleierma-

cher trotz seiner Unterscheidung von der relativen und der schlechthinnigen Ab-

hängigkeit dennoch zu Recht in dem Sinn kritisiert werden kann, daß sein Got-

tesbegriff das Absolute nicht scharf genug von der metaphysischen – an der

Vorhandenheit des substantiellen Seins orientierten – Idee der Naturrealität tren-

ne.

Ob Heidegger mit dieser Kritik Recht hat, werde ich im zweiten Teil dieser Ar-

beit noch genauer untersuchen. Wichtig ist hier zunächst deutlich zu machen, was

Heidegger intendiert. Er möchte mit seiner Kritik an dem Begriff der schlechthin-

nigen Abhängigkeit gerade das noch konsequenter als Schleiermacher durchfüh-

ren, was in Schleiermachers Religionsphilosophie von einem phänomenologi-

schen Ausgangspunkt aus entwickelt worden ist. Und wenn ich Heideggers Ar-

gumentation richtig verstanden habe, besteht für Heidegger das ureigenste Merk-

mal der Religionsphilosophie Schleiermachers darin, daß bei ihm die Geschichte

51 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, a.a.O., S. 331. 52 G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 132. 53 Ebd., S. 130.

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des Geistes im idealistischen Sinn durch die Geschichtlichkeit des sich selbst zum

Sein selbst verhaltenden Daseins ersetzt wird.

Heidegger findet in der Glaubenslehre Schleiermachers zwei auf die Vorhanden-

heit zurückführbare Begriffe, welche mit dem phänomenologischen Sinn des ge-

schichtlichen Lebens schwerlich vereinbar seien; die „schlechthinnige Abhängig-

keit“, wie bereits erwähnt, und darüber hinaus die „wechselnde Bestimmtheit un-

seres Selbst“.54 Beide hängen voneinander ab: Während die schlechthinnige Ab-

hängigkeit das empirisch als vorhanden konstatierbare Sein (Sein als Naturreali-

tät) voraussetzt, von dem unser eigenes Selbst abhängt, setzt die wechselnde Be-

stimmtheit unseres Selbst allerdings voraus, daß unser Selbst ein gewordenes,

empirisch als vorhanden konstatierbares Seiendes ist. Und so ist die ‚wechselnde

Bestimmtheit unseres Selbst‘ für Heidegger ebenfalls eine zu sehr an den endli-

chen Bestimmungen des Seienden orientierte Formulierung: „‚Die wechselnde

Bestimmtheit unseres Selbst‘ besagt: unser lebendiges Bewußtsein ist ein stetiges

Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situationen. Auch so ist alles noch zu sehr

naturtheoretisch charakterisiert.“55

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Kritik insgesamt eine ablehnende Haltung

Heideggers gegenüber der Religionsphilosophie Schleiermachers zum Ausdruck

bringt. Es wurde schon gezeigt, daß Heidegger die Betrachtung als ein wesentli-

ches Merkmal des Schleiermacherschen Religionsbegriffs versteht. Für die Reli-

gion ist die Betrachtung wesentlich, und das bedeutet nicht, daß sich der religiös

Gesinnte gegenüber der Welt wie ein Wissenschaftler verhalten würde; es bedeu-

tet vielmehr, daß sich das Dasein durch die Religion von äußerer Wirksamkeit

befreit. Die Pointe von Heideggers Kritik an jenem Begriff der wechselnden Be-

stimmtheit unseres Selbst besteht nun darin, daß er gerade zu diesem Sinn der

religiösen, von äußerer Wirksamkeit zurückgezogenen „Gemütslage“ im Wider-

spruch stehe.

Diese Kritik beruht allerdings auf einem Mißverständnis. Wir werden später ein-

sehen können, daß dieses Mißverständnis Heidegger zu einer faktisch solipsisti-

54 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Erlebnisses, a.a.O., S. 331. 55 Ebd.

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schen Position verführt; seine abstrakte Dyadik von Eigentlichkeit und Uneigent-

lichkeit, Selbst und Man in Sein und Zeit legt nahe, daß er die eigene Seinsmög-

lichkeit des Daseins vom gemeinschaftlichen Leben grundsätzlich trennt. Schlei-

ermacher weist dagegen mit diesem Begriff der wechselnden Bestimmtheit unse-

res Selbst darauf hin, daß der Ursprung der Religion nur im Zusammenhang mit

dem gemeinschaftlichen Leben sinnvoll erklärt werden kann. Es ist für Schleier-

macher nur eine bloße Abstraktion, wenn man unter der Religion etwas von der

wechselnden Bestimmtheit, vom stetigen Sichfolgen und Sichdurchdringen von

Situationen gänzlich Unabhängiges versteht. Daher spricht Schleiermacher in der

Glaubenslehre von der „Frömmigkeit der Gemeinschaft“ bzw. „Gemeinschaft-

lichkeit der frommen Erregungen“,56 die er eigentlich schon in seinen Reden klar

56 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (KGA 1. Abt. 7/1), Berlin / New York 1980, S. 40; 43. Obwohl sich Heideggers Anmerkung zur Glaubenslehre Schleiermachers auf die zweite Auf-lage bezieht, werde ich in dieser Arbeit hauptsächlich aus der ersten Auflage zitieren. Dafür gibt es zwei Gründen: 1. Wenn es darum geht, die phänomenologische Seite der Philosophie Schleiermachers hervorzu-heben (und hierin liegt auch einer der wichtigsten Aufgaben dieser Arbeit), so wird man der ersten Auflage den Vorzug geben, da durch die stilistischen Veränderungen in der zweiten Auflage die phänomenologischen Ansatzpunkte der Religionsphilosophie Schleiermachers m. E. schwieriger zu erkennen sind. H. Peiter zitiert in seiner ‚Einleitung des Bandherausgebers‘ für die Glaubens-lehre von KGA wichtige Zeugnisse von C. Stange, der 1910 in seiner kritischen Ausgabe der Einleitung der Glaubenslehre die Texte der ersten und der zweiten Auflage nebeneinander gesetzt habe: „Stange gibt der 1. Auflage den Vorzug, weil er meint, ‚daß insbesondere die Anordnung der zweiten Auflage vielfach die ursprünglichen Intentionen der Systematik Schleiermachers nicht mehr erkennen läßt, resp. selbst direkt verfehlt. Ja, es gibt sogar gelegentlich Stellen in der zwei-ten Auflage, die auch nach ihrem Wortlaut ohne die erste Auflage gar nicht verständlich sind.“ (Ebd., S. LX.) In der Bewertung der Wichtigkeit der ersten Auflage schließe ich mich C.Stange an. Der Grund für viele Veränderungen in der zweiten Auflage liegt vermutlich unter anderem darin, daß Schleiermacher in der zweiten Auflage versucht hat, die phänomenologischen Ansätze der ersten Auflage mit der Sprache der christlichen Dogmatik stärker zu verbinden. G. Scholtz weist in einer Darlegung der Schleiermacher-Rezension von C. J. Braniß darauf hin, daß Braniß im Gefühlsbegriff Schleiermachers, da „in ihm kein ‚Gegenstand‘, kein ‚etwas‘ sich von dem affizierten Subjekt abscheidet,“ eine erhebliche Einschränkung der konkreten Wirkungsweise Gottes auf uns findet: „Trotz der philosophischen Begriffe muß als Ausgangspunkt für die Dog-matik die religiöse Stellung genommen werden. Ins Zentrum der Kritik von Braniß rückt nun der Gefühlsbegriff. […] Ist Gott […] nur im Gefühl, d. h. nur in ‚in uns, aber nicht für uns‘, ergibt sich der Widerspruch, daß wir uns oder nur Gott haben, aber nie haben wir uns durch Gott. Und in seiner Unmittelbarkeit bleibt auch das Abhängigkeitsgefühl selbst ‚immer unbewußt‘ und wir erhalten lediglich ‚eine instinktmäßige Frömmigkeit‘. Außerdem findet das Gottesgefühl am Wis-sen und Wollen seine Schranke und büßt seine Absolutheit ein.“ (G. Scholtz, ‚Historismus‘ als spekulative Geschichtsphilosophie: Christlieb Julius Braniß (1792-1873), Frankfurt a. M. 1973, S. 24.) Ob Braniß hierbei Recht hat, kann man allerdings erst nach der konkreten Analyse der Reli-gionsphilosophie Schleiermachers feststellen, die besonders im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit ausführlich geschehen soll. Wichtig ist hier nun die Möglichkeit, ob diese Schleiermacher-Rezension von Braniß Schleiermacher dazu veranlaßt hat, das Verhältnis zwischen seiner Glau-benslehre und der christlichen Dogmatik noch konkreter darzulegen. Dies führte vielleicht dazu,

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und deutlich dargestellt hat. Besonders in der fünften Rede, in der er gegen die

Idee der natürlichen Religion im Sinne der Aufklärung die positiven Religionen

als einzig mögliche Formen des faktischen religiösen Lebens geltend zu machen

versucht, hebt Schleiermacher besonders hervor, daß eine Religion, die von der

wechselnden Bestimmtheit im gemeinschaftlichen Leben unabhängig wäre, eine

reine Abstraktion ist.57 Anders als Heidegger, der jegliche Form der „Öffentlich-

daß Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre bei der sprachlichen Formulierung seines philosophischen Ansatzes viel vorsichtiger wurde. Durch Schleiermachers Anpassung an die christliche Dogmatik wurden seine phänomenologischen Ansatzpunkte m. E. eher verdeckt, und folglich hat „die stark umgearbeitete Zweitauflage seiner Dogmatik“ (Ebd., S. 38.) für die Aufgabe dieser Arbeit, das phänomenologische Wesen der Religionsphilosophie Schleiermachers zu erhellen, eher Nachteile als Vorteile; die erste Auflage seiner Glaubenslehre ist in dieser Hin-sicht viel angemessener für die Erfüllung unserer Aufgabe. Allerdings muß man auf inhaltliche Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Auflage achten: Da es in dieser Arbeit auch um die Schleiermacher-Rezeption Heideggers geht, ist die Vorliebe der ersten Auflage nur schwer zu rechtfertigen, wenn es zwischen den beiden Auflagen grundsätzliche inhaltliche Veränderung des Grundgedankens gibt. Der Unterschied zwischen den beiden Auflagen ist jedoch nur ein stilistischer, und irgendwelche Veränderung des Grundgedan-kens in der zweiten Auflage kann man ausschließen. Auch D. Offermann weist darauf hin, daß es zwischen beiden Auflagen zwar eine stilistische, aber dennoch keine inhaltliche Veränderung des Grundgedankens gibt: „Es ist beobachtet worden, daß Schleiermacher in der zweiten Ausgabe seiner Glaubenslehre in stärkerem Maße als in der ersten den Begriff ‚unmittelbares Selbstbe-wußtsein‘ als tragend verwendet – ebenso entsprechend den Begriff ‚christlich frommes Selbst-bewußtsein‘ – , dagegen nicht so sehr ‚Gefühl‘ und eben nicht so sehr ‚schlechthinniges Abhän-gigkeitsgefühl‘. Eine solche Ausdrucksverlagerung würde nur der in der zweiten Auflage erfolg-ten Präzisierung des Grundbegriffs entsprechen, jedenfalls ist nicht schon daraus zu schließen, daß die Aussage, die an diese Begriffe anschließt, inhaltlich verändert sei.“ (D. Offermann, Schleier-machers Einleitung in die Glaubenslehre, Berlin 1969, S. 42.) Besonders im dritten Kapitel seines Werkes macht Offermann deutlich, daß die Ausdrucksverlagerung in der zweiten Auflage nur eine stilistische Bedeutung hat. (Vgl. Ebd., S. 38 ff.) 2. Der zweite Grund dafür, warum man bei der Darlegung der Glaubenslehre Schleiermachers der ersten Auflage den Vorzug geben muß, besteht darin, daß die erste Auflage der Glaubenslehre und die Dialektik-Vorlesung von 1822 sprachlich eine innerliche Einheit bilden, die man für eine angemessene Darstellung des Schleiermacherschen Denkens beachten sollte. Schleiermachers Dialektik-Vorlesung von 1822 liegt der ersten Auflage der Glaubenslehre zeitlich am nächsten, und die hieraus resultierende Einheit des sprachlichen Ausdrucks zwischen den beiden Werken ermöglicht die nötige Klarheit für die Untersuchung, aus welchem philosophischen Anlaß Schlei-ermacher das fromme Abhängigkeitsgefühl als ein konstitutives Element des menschlichen Be-wußtseinslebens versteht. (Vgl. Ebd., S. 68 f.) Besonders wenn es darum geht, die phänomenolo-gische Seite der Philosophie Schleiermachers hervorzuheben, kann man in der Dialektik-Vorlesung von 1822 viele Stellen finden, in denen eine Art der phänomenologischen Bewußtsein-sanalyse mit den Ausdrücken, die sich direkt auf die Glaubenslehre Schleiermachers beziehen lassen, vorgenommen wird. Hierüber wird im dritten Teil dieser Arbeit noch einmal die Rede sein. Allerdings wird im Verlauf der Arbeit auch aus der zweiten Auflage der Glaubenslehre zitiert, wenn es für die präzise Darlegung dessen, was Heidegger von der Glaubenslehre Schleiermachers übernommen hat, nötig ist. 57 F. Schleiermacher, Über die Religion (2.-) 4. Aufl. (KGA 1. Abt. 12), Berlin / New York 1995, S. 250 ff. In dieser Arbeit wird es hauptsächlich aus dieser KGA-Ausgabe zitiert. Hierfür gibt es einen wichtigen Grund, der für diese Arbeit von maßgebender Bedeutung ist: Nach der ersten Auflage der Reden über die Religion hat Schleiermacher in den weiteren Auflagen wiederholt

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keit als die Seinsart des Man“ versteht und der eigentlichen Seinsmöglichkeit des

Daseins gegenüberstellt,58 versteht Schleiermacher das religiöse Leben nicht als

einen radikalen Gegensatz zu dem gemeinschaftlichen Leben; er will vielmehr

dem religiösen Erlebnis selbst die Möglichkeit zuweisen, die Geschichte als eine

Geschichte von den sich auf den Sinn des nicht gegenständlichen Seins selbst

ausgerichteten Menschen im konkreten Lebenszusammenhang umzugestalten.

Und gerade darin liegt der Grund, warum Schleiermacher in seiner fünften Rede

das Eigenrecht der positiven Religionen geltend zu machen versucht.

Obwohl oder gerade weil Heidegger unter der religiösen Betrachtung im Schlei-

ermacherschen Sinn etwas von der wechselnden Bestimmtheit des Selbst radikal

Verschiedenes versteht, darf man nicht annehmen, daß Heideggers Kritik an

Schleiermachers Begriff der wechselnden Bestimmtheit des Selbst eine grund-

sätzliche Ablehnung von Schleiermachers Religionsphilosophie bedeuten würde.

Heidegger will vielmehr das, was Schleiermacher mit der religiösen Betrachtung

zum Ausdruck bringt, noch viel radikaler durchführen; er leitet von der religiösen

Betrachtung eine Seinsweise des Daseins ab, die darin liegt, alles, was das Dasein

von der gemeinschaftlichen Lebenswelt übernommen hat, als das uneigentliche

Selbst zu relativieren. Die Zurückgezogenheit des religiösen Daseins von der end-

lichen Welt, die ihm einen Bezug zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst er-

möglicht, versteht Heidegger als eine besondere Form der „Intentionalität“, als

einige stilistische Veränderungen vorgenommen, durch die das phänomenologische Wesen seiner Philosophie viel deutlicher wird. Schleiermacher hat in den weiteren Auflagen der Reden das Wort Universum zunehmend durch das Wort Gott ersetzt, und das Wort Anschauung zwar nicht ganz, aber doch weitgehend beseitigt. In der vorhergehenden Fußnote habe ich darauf hingewiesen, daß die zweite Auflage der Glau-benslehre, verglichen mit der ersten Auflage, keine inhaltliche Veränderung der Grundgedanken zeigt, obwohl es zwischen beiden Auflagen stilistisch einen großen Unterschied gibt. Genau so ist es bei den verschiedenen Auflagen der Reden: Man darf keine inhaltlichen Änderungen der Grundgedanken zwischen den verschiedenen Auflagen vermuten. Man muß vielmehr davon aus-gehen, daß Schleiermacher durch eine stilistische Veränderung seines Werkes die Relation zwi-schen Gott, Welt und Selbstbewußtsein noch deutlicher zu erhellen versucht. Besonders durch die Ersetzung des Wortes Universum durch das Wort Gott versucht Schleiermacher m. E. seine phä-nomenologische Grundeinsicht stäker zu betonen, die mit dem phänomenologischen Begriff der Epoché vergleichbar ist: Im Gottesbewußtsein wird alles, was sich in einer raum-zeltlichen Rela-tion alles endlichen Seienden (Welt) zeigt, nicht als ein reales Sein anerkannt, sondern seinem Wesen nach als ein Phänomen aufgefaßt. Dieser Gedanke wird im zweiten Teil dieser Arbeit detailliert untersucht. 58 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 138.

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ein „Urelement des Bewußtseins“, in dem sich „jedes mögliche ‚Sichselbstnicht-

sogesetzthaben‘ [gründet].“59 Und gerade hierin liegt die Antwort auf die Frage,

in welchem Sinn Heideggers Hermeneutik des faktischen Lebens als eine Kritik

zu verstehen ist; alles, was das Dasein aus seiner historisch entstandenen Le-

benswelt, aus der Traditionen und aus der Gemeinschaft als einen Teil seines ei-

genen Selbst übernommen hat, verliert seine Bedeutung für das Dasein dadurch,

daß das Dasein den Bezug zu dem nicht gegenständlichen Sein selbst als ein Ur-

element seines Innenlebens hat. Nicht das am Handlungsvollzug, an der Anwen-

dung der Phronesis orientierte Subjektsein ist für Heidegger der Inbegriff einer

angemessenen existenzontologischen Auslegung des Selbst, es geht ihm viel

mehr darum, ein Bewußtsein davon zu haben, daß das Dasein das Nichts als ein

konstitutives Moment seiner existenzialen Grundstruktur hat. Denn ein Hand-

lungssubjekt, das primär an der Anwendung der lebensweltlichen Klugheit

(Phronesis) orientiert ist, setzt notwendig voraus, daß man sich von den ständig

wechselnden, ineinandergreifenden Alltagssituationen bestimmen läßt. Damit ist

das Wozu (Zu welchem Zweck will man diese oder jene Handlung vollziehen?)

und das Woraus (Aus welchem Grund kommt es dazu, daß man diese oder jene

Handlung vollziehen will?) in einem konkreten Lebenszusammenhang begründet.

Dieses Handlungssubjekt wird aber in der religiösen Zurückgezogenheit von je-

der äußeren Wirksamkeit vom Dasein als ein uneigentliches Selbst entlarvt, das

gar nicht angemessen das eigentliche Sein meines eigenen Daseins charakterisie-

ren kann. Und somit steht das Dasein vor dem Nichts, das im doppelten Sinn zu

betrachten ist; einerseits als die Nichtigkeit des Selbst als eines Modus der von

äußerer Wirksamkeit bestimmten Uneigentlichkeit und andererseits als die Nich-

tigkeit der Welt, die kein Ansichsein, sondern ein vom Lebensvollzug des Da-

seins abhängiges Phänomen ist.

Mit Hilfe dieser Ausführungen wird deutlich, was Heidegger in seiner frühen

Freiburger Zeit unter der ‚Geschichtlichkeit‘ versteht, die für ihn zu dieser Zeit

eines der wichtigsten Themen seiner Hermeneutik der Faktizität ist. Der Sinn der

hermeneutisch verstandenen Geschichtlichkeit besteht für ihn gerade nicht darin,

59 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 332.

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daß das Dasein zu verschiedenen Traditionen gehört, in denen sich eine bestimm-

te Form, die Welt zu betrachten, bildet, die allmählich eine Leitfunktion für das

Dasein in einem konkreten Lebenszusammenhang übernimmt. Er besteht viel-

mehr darin, daß das Dasein mit seiner eigenen Tradition stets in einem Span-

nungsverhältnis steht. Diese Spannung zwischen dem Dasein und der Tradition

kann gar nicht durch eine Praxeologie des Lebens erklärt werden. Denn das Da-

sein muß sich bei einem praktischen Handlungsvollzug als ein Subjekt verstehen,

dessen Handlungsintention von etwas abhängig ist, was in einer Lebenswelt als

bedeutsam für einen bestimmten Zweck gilt.

4. Sprache, Welt und Sein

Heideggers Existenzontologie steht somit in gewisser Hinsicht in einem radikalen

Gegensatz zu Gadamers Traditionalismus. Der Grund dafür liegt nicht nur darin,

daß Heidegger die Bedeutung des Seins selbst von einem metaphysischen Seins-

verständnis strenger unterscheidet als Gadamer; sondern vielmehr darin, daß Hei-

degger dem Menschen einen Bezug zu dem Sein selbst als ein konstitutives

Grundelement der Daseinsstruktur zuweist. Das Dasein, das in seiner ruinanten

Sorge am Vollzug eines bestimmten Handlungszweckes orientiert ist, hat zu-

gleich die Möglichkeit, das von bestimmten Handlungsmotivationen abhängige

Selbst als ein uneigentliches Selbst zu relativieren. Das Dasein, das schlechthin

an applicatio orientiert ist, lebt also für Heidegger in der Seinsvergessenheit. Das

ist der Grund, warum Heideggers Existenzontologie nicht einseitig als praxeolo-

gisch verstanden werden darf.

Der Leser, der mit der Hermeneutik von Gadamer gut vertraut ist, wird hier al-

lerdings einwenden wollen, daß eine Praxeologie im Sinne Gadamers nicht auf

eine bloße Zweckorientierung reduzierbar ist; Gadamer spricht nicht nur von der

Anwendung des phronesischen Wissens, sondern auch von der weltoffenbarenden

Funktion der Sprache, durch die dem praxeologischen Leben des Daseins doch

die Dimension der Wahrheit eröffnet wird: „Die menschliche Sprache muß aber

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insofern als ein besonderer und einzigartiger Lebensvorgang gedacht werden, als

in der sprachlichen Verständigung ‚Welt‘ offenbar gemacht wird.“60 Die Frage ist

nun aber, ob diese weltoffenbarende Funktion der Sprache, wenn sie bloß praxeo-

logisch verstanden wird, das Dasein nicht lediglich zu einer Hypostasierung der

eigenen Weltsicht führt. Es ist sicher richtig, wenn Gadamer selber besonders

hervorhebt, daß man keine Welt an sich, die außerhalb aller Sprachlichkeit liegen

würde, annehmen darf. Damit macht er zwar unmißverständlich deutlich, daß er

die metaphysische Idee der Ansichwelt bzw. des Ansichseins ablehnt. Meine Fra-

ge ist aber, ob er dem faktischen Leben des Daseins selbst die Möglichkeit zu-

weist, das metaphysische Verständnis des Seins als eines Seienden zu überwinden.

Es wurde schon gezeigt, daß Gadamer „die unendliche Perfektibilität der mensch-

lichen Welterfahrung“ voraussetzt, um zu behaupten, daß das Dasein im fakti-

schen Leben „nie zu etwas anderem gelangt als zu einem immer mehr erweiterten

Aspekt, einer ‚Ansicht‘ der Welt.“61 Diese These weist aber höchstens auf einen

Pragmatismus zweiten Grades hin, der mit seinem eigenen Angriff gegen die ro-

mantische Genieästhetik schwerlich zu vereinbaren ist. In welchem Sinn ist diese

sogenannte unendliche Perfektibilität der menschlichen Welterfahrung zu verste-

hen, nachdem Gadamer den methodologischen Objektivismus der romantischen

Hermeneutik abgelehnt hat? Gibt es eine Welt der objektiv feststellbaren Wahr-

heiten, damit sich das Dasein an das richtige Verstehen der objektiven Welt an-

nähern kann? Dann ist allerdings Gadamers Kritik am Objektivismus unhaltbar.

Oder gibt es zwar keine Welt der objektiven Wahrheiten, aber eine allen Men-

schen gemeinsame Vorbedingung der Welterfahrung, mit denen man zumindest

die Plausibilität einer Aussage überprüfen kann? Dann ist seine Hermeneutik

selbst als eine Form der romantischen Genieästhetik zu bewerten, welche eben-

falls etwas wie das allen Individuen gemeinsame Alleben voraussetzt. Mehr noch:

Das faktische Leben des Daseins hat für Gadamer, obwohl er selbst die Idee des

Ansichseins ablehnt, überhaupt keine Möglichkeit, das metaphysische Verständ-

nis des Seins als eines Ansichseins zu überwinden: „In jeder Weltansicht ist das

60 H.-G. Gadamer, Hermeneutik I, a.a.O., S. 450. 61 Ebd., S. 451.

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Ansichsein der Welt gemeint“, sagt Gadamer selber.62 Und weil Gadamer bei

allen Überlegungen vom praxeologischen Handlungsmodell ausgeht, führt sein

Begriff der weltoffenbarenden Funktion der Sprache lediglich zu einer dogmati-

schen Gleichsetzung von Ansichwelt und Weltansicht: „Vielmehr ist, was die

Welt selbst ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiede-

nes.“63

J. Habermas weist mit Recht darauf hin, daß Gadamer das Denken des Seins

selbst, das Heidegger nach der Kehre als Andenken bezeichnet hat, durchaus tra-

ditionalistisch umdeutet: „Wenn ich recht sehe, kann Gadamer das Andenken, das

die Sprachlosigkeit des Mystikers auszeichnet, nur darum so emphatisch als Den-

ken verteidigen, weil er sich das Sein als Tradition zurechtlegt, weil er sich dem

gestaltlosen Sog des schwerlosen Seins nicht überläßt, sondern, den Blick zu He-

gel zurückwendend, dem massiven Traditionsstrom der objektiv gewordenen, der

konkreten, an ihrem Ort und zu ihrer Zeit tatsächlich gesprochenen Worte Rech-

nung trägt.“64 Gadamer mißdeutet somit die Geschichtlichkeit des faktischen Da-

seins bei Heidegger: Er hat Heideggers Philosophie wieder in eine Nähe zur He-

gelschen Phänomenologie des Geistes zurückgebracht, die Heidegger nach seiner

Habilitationsschrift verlassen hat.

Somit können wir nun die Ausgangsfrage dieser Einleitung beantworten: Hei-

deggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher ist deswegen eine entscheidende

Wende gewesen, weil es Heidegger erst durch seine Beschäftigung mit Schleier-

macher möglich geworden ist, von der Metaphysik des lebendigen Geistes im

Sinne Hegels, auf die seine Habilitationsschrift verweist, zu einer Hermeneutik

des faktisch geschichtlichen Lebens überzugehen. Nicht der sprachliche Geist

einer Tradition, von dem aus der praxeologische Vollzug des Daseins geschieht,

sondern das Selbstbewußtsein des Daseins, nämlich das Bewußtsein des Sich-

selbstnichtsogesetzthabens, bildet für Heidegger den wahren Ursprung der Ge-

schichtlichkeit des faktischen Lebens. Und um den Sinn dieser lebensphänome-

62 Ebd. 63 Ebd. 64 J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1981, S. 398.

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nologischen Geschichtlichkeit zu verstehen, muß man über die Grenze der Dya-

dik von Erkenntnis und Praxis hinausgehen.

Die nun folgende Analyse der Beziehung zwischen Schleiermacher und Heideg-

ger gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil wird Schleiermachers Bedeutung für

Heideggers Konzeption der Hermeneutik des faktischen Lebens untersucht. Hier-

bei geht es nicht primär um eine theoretische Reflexion. Vielmehr stellt dieser

Teil einen quellenorientierten Versuch dar, der sich einerseits unmittelbar auf

Heideggers eigene Interpretation der Religionsphilosophie Schleiermachers und

andererseits auf diejenigen Zeitzeugen Heideggers bezieht, die für die Interpreta-

tion von Heideggers Beschäftigung mit Schleiermacher von Bedeutung sind. Das

primäre Ziel des ersten Teils der Arbeit besteht darin, die in bezug auf das philo-

sophische Verhältnis zwischen Heidegger und Schleiermacher relevanten Quellen

zu interpretieren, um hierdurch die Bedeutung der Philosophie Schleiermachers

für Heideggers Ansatz adäquat einschätzen zu können.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Frage, ob Schleiermachers Religionsbe-

gründung von einem phänomenologischen Ausgangspunkt geleitet wird. Dieses

Problem ist insofern für die Erfüllung der Aufgabe dieser Arbeit wichtig, als Hei-

degger m. E. in der Religionsphilosophie Schleiermachers eine phänomenologi-

sche Ontologie erkannt hat, d. h. eine Philosophie, die die ontologische Frage

nach dem nicht auf die Vorhandenheit zurückführbaren Sein gerade durch die

phänomenologische Analyse des faktischen Bewußtseinslebens des Daseins zu

erhellen versucht. Im zweiten Teil wird daher versucht zu zeigen, ob diese

Schleiermacher-Interpretation von Heidegger berechtigt ist. Erst nach einer sol-

chen Analyse kann man beurteilen, inwieweit Heidegger von Schleiermacher

beeinflußt worden ist. Es geht hierbei im Grund genommen um die Frage, ob

Heidegger nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher eine Konzeption der

Philosophie entwickelt hat, die sich von der Religionsphilosophie Schleierma-

chers radikal unterscheidet, auch wenn er den zentralen Ansatzpunkt bei der her-

meneutischen Neugestaltung der Phänomenologie, wie Pöggeler und Ott behaup-

ten, von Schleiermacher übernommen hat. Wenn dagegen Schleiermachers Philo-

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sophie tatsächlich als eine phänomenologische Ontologie zu bezeichnen ist, die

eine ontologische Frage nach dem Sein selbst durch die phänomenologische Ana-

lyse des faktischen Bewußtseinslebens des Daseins zu beantworten versucht,

dann kann man mit Recht vermuten, daß Heideggers Auseinandersetzung mit

Schleiermacher in seiner frühen Freiburger Zeit auch für die weitere Entwicklung

seiner Philosophie von bleibender Bedeutung ist.

Im dritten Teil steht die Beziehung zwischen der Religion im Sinne Schleierma-

chers und der ‚Existenz‘ im Mittelpunkt. Die zentrale These, die in diesem Teil

vertreten werden soll, besteht darin, daß Schleiermachers Begriff der Religion auf

einer existenzontologischen Analyse der Daseinsstruktur beruht. Hierbei geht es

hauptsächlich um eine werkimmanente Analyse: die These, daß Schleiermachers

Religionsphilosophie eine existenzontologische Analyse der Daseinsstruktur leis-

tet, wird zunächst durch die Betrachtung der philosophischen Logik in Schleier-

machers Werken – in der Glaubenslehre und in der Dialektik – detailliert erörtert.

Dabei wird deutlich werden, daß Schleiermacher in vielerlei Hinsicht Heideggers

Existenzontologie vorweggenommen hat. Mehr noch: Dadurch, daß Schleierma-

cher das Abhängigkeitsgefühl, das Handeln im praktischen Leben und das reine

Denken als eine untrennbare Einheit des wirklichen Bewußtseinslebens darlegt,

ist es ihm gelungen, eine überzeugende Erklärung für ein zentrales Problem der

Fundamentalontologie zu geben, das m. E. bei Heidegger ungelöst bleibt: Wie ist

es möglich, daß sich das faktische Dasein trotz seiner Verfallenheit in die

Seinsauslegung im Alltagsleben (das Sein als das Seiende) auf das Sein selbst

ausrichtet? Die werkimmanente Darstellung der existenzontologischen Ansatz-

punkte bei Schleiermacher kann dann abschließend durch Schleiermachers eigene

Aussagen über diese Frage bestätigt werden, in denen Schleiermacher ganz expli-

zit seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls als einen Ausdruck des Existenzial-

verhältnisses unseres Seins beschreibt.

Im vierten und abschließenden Teil der Arbeit wird das Verhältnis zwischen der

Existenz und dem Abhängigkeitsgefühl untersucht. Auf den ersten Blick scheint

es kaum einen Unterschied zwischen diesem Thema und der Thematik des dritten

Teils zugeben. Während aber im dritten Teil die Darstellung der immanenten

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Ansatzpunkte der Existenzontologie in Schleiermachers Werken im Vordergrund

steht, geht es im vierten Teil um eine wirkungsgeschichtliche Analyse der Rezep-

tion der Gedanken von Schleiermacher im Umkreis der Phänomenologen um

Husserl. Im dritten Teil wird somit versucht, durch eine werkimmanente Analyse

innerhalb der Religionsphilosophie Schleiermachers einen existenzontologischen

Ansatzpunkt aufzuspüren: Die philosophischen Überlegungen über das Wesen

der Religion stehen hierbei im Zentrum wie die Existenzialität des Daseins, die

vor allem als eine Ermöglichungsbedingung einer religiösen Gesinnung des Men-

schen ausgelegt wird. Im vierten Teil wird nun gezeigt, daß einige Husserl-

Schüler direkt oder indirekt von diesem existenzontologischen Ansatz der Religi-

onsphilosophie Schleiermachers beeinflußt wurden. Der bekannte Husserl-

Schüler A. Reinach interpretiert z. B. im Zuge seiner Auseinandersetzung mit

Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl als ein jedem Bewußtseinsleben

zugrundeliegendes Existenzgefühl. Das Abhängigkeitsgefühl wird hier vor allem

in bezug auf die philosophische Analyse der allgemeinen Daseinsstruktur inter-

pretiert. Es zeigt sich daher als ein Begriff, der nicht nur religionsphilosophisch

bedeutsam sein kann: Wenn das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck der Existenz-

struktur des Daseins ist, ist es zugleich mit einem philosophischen Anspruch ver-

bunden, der darin besteht, daß es, unabhängig von einer religionsphilosophischen

Betrachtung des Lebens, ein notwendiges Ergebnis der ontologischen Untersu-

chung des Daseins darstellt.

Damit soll allerdings nicht gemeint sein, daß das Abhängigkeitsgefühl für

Schleiermacher nur ein für eine Religionsphilosophie zentraler Begriff wäre. Im

Gegenteil: Im Verlauf dieser Arbeit werden wir sehen können, daß Schleierma-

cher seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls als ein fundamentales Strukturele-

ment jedes wirklichen Bewußtseins betrachtet. Mit anderen Worten verbindet

Schleiermacher mit seiner Analyse des Abhängigkeitsgefühls den Anspruch, daß

jede richtig vollzogene philosophische Analyse des menschlichen Bewußtseins –

auch unabhängig von religionsphilosophischen Fragen – notwendig zu einer An-

erkennung des Abhängigkeitsgefühls als eines fundamentalen Strukturelementes

des Bewußtseins kommen muß. Was im vierten Teil besonders hervorgehoben

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werden soll, ist der Tatbestand, daß einige Husserl-Schüler wie Heidegger, Rei-

nach und unter dessen Einfluß auch E. Stein das Abhängigkeitsgefühl (bzw. Ge-

borgenheitsgefühl) als einen Begriff betrachten, der als ein wichtiger Ansatzpunkt

für die ontologische Analyse der Existenzstruktur des Daseins gelten kann. Be-

sonders wichtig sind hierbei zwei Tatbestände: Erstens betrachtet Reinach das

Abhängigkeitsgefühl – wie Schleiermacher – als einen Ausdruck des Existenz-

verhältnisses unseres Daseins; zweitens macht Heidegger in seiner kritischen Re-

zension der Reinachschen Interpretation des Abhängigkeitsgefühls unmiß-

verständlich deutlich, daß er in demjenigen Existenzverhältnis unseres Daseins,

das im Abhängigkeitsgefühl zum Ausdruck kommt, einen existenzontologischen

Sinn der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens erkennt. Diese zwei Tatbestän-

de können m. E. als ein doppelter Beleg für zwei zentrale Thesen dieser Arbeit

gelten: Erstens hat Heidegger die Religionsphilosophie Schleiermachers tatsäch-

lich als eine phänomenologische Ontologie betrachtet, von der er einige Grund-

gedanken für seine Existenzontologie übernommen hat; zweitens hat Heidegger

die Geschichtlichkeit des faktischen Lebens, die ein zentraler Begriff seiner Her-

meneutik ist, von Schleiermacher übernommen, worauf in dieser Einleitung be-

reits hingewiesen wurde. Schleiermachers Philosophie hat also für die Philoso-

phie Heideggers eine viel wichtigere Rolle gespielt, als man bisher angenommen

hat. Denn das, was Heidegger von Schleiermacher als einen entscheidenden An-

satzpunkt zu seiner hermeneutischen Umgestaltung der Husserlschen Phänome-

nologie übernommen hat, ist auch für die existenzontologische Entwicklung der

Heideggerschen Philosophie von wichtiger Bedeutung. Inwieweit und in wel-

chem konkreten Sinn Schleiermacher auf Heidegger gewirkt hat, werden wir im

weiteren Verlauf dieser Arbeit sehen können.

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I. Schleiermachers Bedeutung für die Hermeneutik des faktischen Lebens

In dem ersten Teil dieser Arbeit geht es darum, Schleiermachers Einfluß auf Hei-

degger detailliert zu untersuchen. Wenn man überprüfen möchte, in welchen As-

pekten Heidegger von der Religionsphilosophie Schleiermachers beeinflußt wur-

de, so muß man vor allem analysieren, wie sich Heideggers Philosophie vor und

nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher verändert hat.

Heideggers Denken orientiert sich nach seiner Auseinandersetzung mit der Reli-

gionsphilosophie Schleiermachers an einer ‚Hermeneutik des faktischen Lebens‘.

Die Zielsetzung des ersten Teils kann daher in zwei Fragen zusammengefaßt

werden: 1. Welche Bedeutung hat Heideggers Beschäftigung mit der Religions-

philosophie Schleiermachers für seine hermeneutische Wende? 2. Welche Rolle

spielt diese hermeneutische Wende für die weitere Entwicklung des Heidegger-

schen Denkens?

Bei beiden Fragestellungen geht es darum, welche Bedeutung man der Schleier-

macher-Rezeption Heideggers für seine Philosophie im ganzen zuweisen kann. In

zwei Fällen darf die Bedeutung von Schleiermacher für Heidegger nicht überbe-

tont werden: 1. Wenn die hermeneutische Wende Heideggers nicht wesentlich

durch das geprägt wurde, was er von Schleiermacher übernommen hat; 2. wenn

die hermeneutische Wende für die weitere Entwicklung der Philosophie Heideg-

gers nur von einer vorübergehenden Bedeutung bleibt. Um des besseren Ver-

ständnisses halber möchte ich hier keinen Hehl daraus machen, daß Heideggers

Denken m. E. sehr weitgehend von der Religionsphilosophie Schleiermachers

beeinflußt wurde. Das bedeutet entsprechend, daß ich zwei Thesen vertreten

möchte: 1. Die hermeneutische Wende Heideggers wurde wesentlich durch das

geprägt, was er von Schleiermacher übernommen hat. 2. Die Hermeneutik des

faktischen Lebens, die Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit themati-

siert hat, ist für seine Philosophie von bleibender Bedeutung.

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In der Einleitung wurde auf zwei Tatbestände hingewiesen: 1. Heidegger versteht

unter der Religion im Sinn Schleiermachers eine phänomenologische Epoché. 2.

Diese phänomenologische Epoché führt Heidegger nicht zu einem Verständnis

der Phänomenologie als einer absoluten Wissenschaft (Husserl), sondern zu einer

phänomenologischen Hermeneutik des faktisch historischen Lebens. Betrachtet

man die beiden Tatbestände im ganzen, wird man leicht einsehen können, daß das

‚faktisch historische Leben des Daseins‘ für Heidegger nicht einfach mit den bio-

graphischen Veränderungen im Verlaufe eines individuellen Lebens gleichgesetzt

werden kann: Ein solches Verständnis des individuellen Lebens kann z. B. für

eine biographische Forschung über eine bestimmte Person sinnvoll sein, die diese

in ihrer persönlichen Eigentümlichkeit betrachtet. Dadurch aber, daß er das fak-

tisch historische Leben mit einer besonderen Form des Bewußtseinslebens ver-

bindet, in dem alle Seinssetzungen des natürlichen Weltbewußtseins enthalten

bleiben (Epoché), erhebt Heidegger einen paradoxen Anspruch: Das Historische

des Lebens, das freilich die Gebundenheit des Daseins an eine bestimmte Lebens-

situation voraussetzt, muß zugleich eine Seinsweise des Daseins bedeuten, die für

jedes Individuum absolut allgemein bleiben soll. Denn dasjenige, zu dem sich das

Dasein nach seiner kritischen Einklammerung aller Seinssetzungen des natürli-

chen Weltbewußtseins verhalten soll, kann nicht etwas sein, was je nach der kon-

kreten Seinssituation anders ist. Gibt man sich mit dem empirischen Tatbestand

zufrieden, daß jedes Bewußtsein ein Bewußtsein von einem besonderen Seienden

bzw. Sachverhalt ist, so ergibt die Rede über die phänomenologische Epoché oder

die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers keinen Sinn. Erst dadurch,

daß man die konkrete Lebensführung des faktischen Daseins auf etwas zurück-

führt, was für jedes Dasein immer absolut gleich bleibt, kann man verstehen, wa-

rum Heideggers Konzeption der phänomenologische Epoché, als die er die religi-

öse Betrachtung im Sinne Schleiermachers versteht, für die philosophische Dar-

stellung der faktisch historischen Lebensführung des Daseins sinnvoll sein kann.

Für Heidegger besteht diese Möglichkeit, daß das Dasein sich trotz seiner not-

wendigen Gebundenheit an eine bestimmte Lebenssituation zugleich zu etwas für

jedes Dasein absolut gleich Bleibenden verhält, im Sein selbst. Allerdings kann

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man die formal-ontologische Dimension des Heideggerschen Denkens betonen

und behaupten, daß die Existenz als Daseinsstruktur für jedes Dasein absolut

gleich bleibt. Aber die Existenz ist nur eine formal-ontologische Bedingung dafür,

daß sich das Dasein einerseits auf das konkrete Seiende ausrichtet, andererseits

auf das Sein selbst ausrichten kann, wie dies nach Heidegger im Phänomen der

Angst zum Ausdruck kommt.65 Die Einsicht, daß die formal-ontologische Exis-

tenzstruktur des Daseins für jedes Dasein gleich ist, ist eigentlich nur eine Aussa-

ge, die man vom Standpunkt des philosophischen Beobachters aus fällen kann.

Auch wenn das Dasein als ein solches Sein definiert werden sollte, das sich zu

seiner eigenen Existenz verhält,66 darf man dabei nicht ignorieren, daß diese Aus-

sage sinnlos bleibt, wenn das Dasein sich nicht zugleich als ein solches Sein ver-

steht, das wesentlich durch die Ausrichtung auf das transzendente Sein bestimmt

ist. Die Existenz bedeutet ja die ausstehende Seinsweise des Daseins (Dasein als

das Sein-bei-etwas), die allerdings das Sein als Transzendenz voraussetzt.67 Das

faktische Dasein, das nach Heidegger ein historisches Leben führen soll, bezieht

sich nicht primär auf seine Existenzstruktur selbst, die zwar als ontologische Be-

dingung für die Seinsoffenheit gelten kann, aber im faktischen Bewußtseinsleben

nicht ohne Begleitung des Bewußtseins des transzendenten Seins erkannt werden

kann. Das heißt: Das Dasein bezieht sich in seinem faktischen Bewußtseinsleben

direkt auf das, was durch diese Existenzstruktur des Daseins als Seinsoffenheit

vorkommt: auf das Seiende in seiner faktisch ruinanten Alltagssituation einerseits,

und auf das Sein selbst, wenn die Nichtigkeit des am Seienden orientierten All-

tagsbewußtseins durch eine Enthaltung aller Seinssetzungen (die phänomenologi-

65 Daß Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit das Phänomen der Angst und den Ver-fall (Seinsvergessenheit im primär am Seienden orientierten praktischen Leben) des alltäglichen Daseins ausführlich analysiert hat, werden wir im Verlauf des ersten Teils noch deutlich werden. 66 Vgl. „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 12.) 67 Besonders im §7 von Sein und Zeit, in dem die Bedeutung der phänomenologischen Methode für seine Existenzontologie erläutert wird, macht Heidegger deutlich, daß er die Transzendenz als das wesentliche Merkmal des Seinsbegriffs versteht. So behauptet Heidegger, daß die Phänome-nologie notwendig das Sein als das transzendente Sein erschließen muß, ja daß hierin die Mög-lichkeit liegt, die Phänomenologie als eine transzendentale Philosophie zu fundieren: „Sein ist transcendens schlechthin. […] Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendenta-le Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendenta-lis.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38.)

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sche Epoché oder die religiösen Betrachtung im Sinn Schleiermachers) offenbar

wird. Das Seiende, zu dem sich das Dasein verhält, ist etwas Variables, was je

nach der Seinssituation etwas Anderes sein kann: Aber das Sein selbst, auch

wenn das Seinsbewußtsein notwendig vom Bewußtsein des konkreten Seienden

begleitet werden muß, kann nicht variabel sein. Einen ähnlichen Gedanken kann

man auch bei Schleiermacher finden: Nach ihm soll „das höchste Wesen […] als

ein schlechthin einfaches gedacht werden“,68 und das bedeutet nun, daß wir uns

in unserem Bewußtseinsleben, da bekanntlich unser Weltbewußtsein nach Schlei-

ermacher vom Gottesbewußtsein begleitet werden muß, notwendig zu etwas ver-

halten, was in jeder Seinssituation absolut allgemein bleibt.

Um die Besonderheit dieser Gedanken hervorzuheben, möchte ich hier zwei

Möglichkeiten vergleichen, die Variabilität des individuellen Lebens nicht bloß

empirisch und psychologisch, sondern vom Standpunkt der Logik und Erkennt-

nistheorie aus zu betrachten. Wenn man die Variabilität des individuellen Lebens

zum Gegenstand der Logik erheben möchte, muß man vor allem danach fragen,

was in welcher konkreten Seinssituation eine solche Variabilität des individuellen

Lebens ermöglicht. Nach einer gründlichen Untersuchung dieser Frage muß man

dann untersuchen, ob man hierbei eine gewisse Allgemeinheit bzw. Gesetzmä-

ßigkeit annehmen darf, die die Analyse der individuellen Variabilität mit Hilfe

der Anwendung logischer Kategorien möglich macht. Hierfür kann man sich zwei

Ausgangspunkte vorstellen:

1. Man kann das Bewußtsein des Daseins als eine Schnittstelle zwischen dem

Individuellen und dem Sozialen betrachten, um damit den Bildungsprozeß

eines individuellen Selbstbewußtseins mit der konkreten und geschichtlichen

Veränderung einer sozialen Umwelt zu verbinden. Dadurch wird es auf zwei

Arten möglich, das Historische des Lebens nicht bloß vom Standpunkt der

rein biographischen Beschreibung aus zu betrachten, sondern vom Stand-

punkt einer allgemeingültigen methodischen Theorie. Man kann einerseits

die universalen Merkmale des menschlichen Bewußtseins hervorheben, die

trotz der Vielfältigkeit des individuellen Bewußtseins bzw. der Verschieden-

68 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36.

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heiten der konkreten Lebensformen dennoch eine wissenschaftliche Verall-

gemeinerung möglich machen; andererseits kann man nach der Möglichkeit

fragen, ob der geschichtliche Prozeß auf die objektive Gesetzmäßigkeit bzw.

allgemeine Entwicklungsformen einer Nation, einer Gesellschaft oder eines

Zeitalters zurückführbar ist. Dies kann eine angemessene Orientierung für

diejenigen sein, die die Geschichtlichkeit des Lebens zum Gegenstand einer

systematischen Wissenschaft machen wollen.

2. Man kann das Historische als ein Grundmerkmal des selbstbestimmten Le-

bens betrachten, das unabhängig davon, in welchem sozialen Milieu sich ein

individuelles Dasein befindet, notwendig zum Ausdruck kommt. Im Unter-

schied zur wissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens des Historischen

stellt sich das Historische hier nicht als ein solches Phänomen dar, das einer

objektiven Gesetzmäßigkeit bzw. einer allgemeinen Tendenz einer bestimm-

ten Region bzw. eines bestimmten Zeitalters unterworfen ist. Für diejenigen,

die das Phänomen des Historischen primär vom Standpunkt der systemati-

schen Wissenschaft betrachten wollen, spielt die Frage, ob das Leben durch

die Selbstbestimmung des Daseins historisch wird, eigentlich keine Rolle:

Denn wichtig ist es bei diesem Ansatz, subjektive und objektive Faktoren he-

rauszufinden, mit denen die Veränderungen des Lebens durch ein Erklä-

rungsmodell der allgemein-notwendigen Gesetzmäßigkeit sinnvoll und über-

zeugend dargestellt werden können. Für diejenigen aber, die das historische

Leben auf die selbstbestimmende Seinsweise des Daseins zurückführen, ist

eine Theorie, in der die Veränderungen im Verlauf eines individuellen Le-

bens in Anlehnung an die allgemein-notwendige Gesetzmäßigkeit erklärt

wird, letztlich nicht relevant: Diese Veränderungen können selbst als a-

historisch bezeichnet werden, wenn sie am Ende nur als ein Prozeß verstan-

den werden, der durch allgemein-notwendige Gesetze über die Welt bzw. ü-

ber die angeborenen Anlagen des menschlichen Bewußtseins vorprogram-

miert ist. Wenn also das Dasein in jeder Situation die Möglichkeit eines his-

torischen Lebens haben soll, muß es zugleich die Möglichkeit haben, eine

bestimmte Weise der Lebensführung nicht passiv unter fremdem Einfluß

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hinzunehmen, sondern sie kritisch zu überprüfen, um sich für eine eigenstän-

dige Lebensführung zu entscheiden.

Heideggers Ausgangpunkt seiner Bestimmung der historischen Lebensführung

des faktischen Daseins folgt der zweiten Stoßrichtung. Zwar kann man einwen-

den, daß der zweite Ausgangspunkt den ersten nicht ausschließe, sondern eher

voraussetze: Denn eine Entscheidung setzt stets das Verständnis der jeweiligen

Lebenssituation voraus, das freilich erst dann ermöglicht werden kann, wenn das

Dasein gewisse allgemeine Bestimmungen zur Verfügung hat; ohne eine Er-

kenntnis des Allgemeinen, ohne eine Verallgemeinerung der erfahrenen Lebens-

welt, ist es nämlich gar nicht möglich, daß das Dasein seine eigene Lebenssituati-

on versteht und hierdurch eine gewisse Entscheidung für sein eigenes Leben trifft.

Dies ist allerdings richtig. Aber dieser Einwand setzt auch voraus, daß das Dasein

mit seiner individuellen Entscheidung weiterhin an eine konkrete Lebenssituation

gebunden bleibt. Nehmen wir ein Beispiel: Herr Schmidt versteht, daß er auf den

lang erwünschten Kauf eines neuen Wagens verzichten muß, um die finanzielle

Situation seines Haushalts nicht zu gefährden; daher entscheidet er sich, auf den

Kauf eines neuen Wagens zu verzichten und statt dessen das Geld für die De-

ckung seiner Schulden zu verwenden. Eine solche Entscheidung setzt freilich

voraus, daß Herr Schmidt allgemeine Regeln versteht, nach denen auch sein eige-

nes Leben geführt werden sollte. Mit dieser Entscheidung überwindet er aber

keineswegs die Gebundenheit seines Lebens an eine alltägliche Lebenssituation.

Wenn es aber bei der Entscheidung darum geht, sich selbst über die Grenze des

an bestimmte Lebenssituation gebundenen alltäglichen Lebens hinauszuführen,

spielt die Entscheidung in diesem üblichen Sinn des Wortes überhaupt keine Rol-

le. Wenn Heidegger die Religion im Sinn Schleiermachers als eine phänomeno-

logische Epoché bezeichnet und in ihr dann eine Ermöglichungsbedingung für die

historische Lebensführung des Daseins findet, kann die Entscheidung des Daseins,

die die Lebensführung des Daseins historisch macht, erst durch einen fundamen-

talontologischen Standpunkt richtig verstanden werden: Denn hier geht es um die

Entscheidung des Daseins, sich über die Gebundenheit seines Seins an das All-

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tagsleben, in dem das Sein vom Standpunkt des Seienden her verstanden wird,

zum Sein selbst hinauszuführen und sich selbst auf das Sein selbst auszurichten.

Um verstehen zu können, was Heidegger mit dem Ausdruck des Historischen

meint, muß man sich vor allem darüber klar sein, daß Heidegger bereits in seiner

frühen Freiburger Zeit das Dasein mit einer für seine Existenzontologie in Sein

und Zeit typische Duplizität der Seinsweise des Daseins betrachtet hat: Die unei-

gentliche Seinsweise des Daseins als eines Man, und die eigentliche Seinsweise

des Daseins, die durch den Ruf des Seins (Gewissen) geleitet wird. In den frühen

Freiburger Vorlesungen Heideggers gibt es Stellen, in denen das Dasein einerseits

in seiner ruinanten Lebensbewegtheit betrachtet wird, andererseits aber im Phä-

nomen der Angst, durch das die fundamentale Nichtigkeit des alltäglichen Welt-

bewußtseins offenbar wird.69 Was das Leben historisch macht, besteht für Hei-

degger nicht etwa in einer Lebensbewegtheit des Daseins, nicht in der Kinesis der

Lebensführung des Daseins. Denn die ruinante Lebensbewegtheit im Alltagsleben

ist für Heidegger eher als eine Tendenz zu bezeichnen, in der sich das Dasein

verliert (das Man als das uneigentliche Selbst). Im §44 von Sein und Zeit, der mit

Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit betitelt ist, weist Heidegger darauf hin,

daß das Verfallen in der existenzontologischen Analyse des Daseins eine Doppel-

rolle spielt: Einerseits verliert das Dasein die Wahrheit des Seins, da seine Le-

bensbewegung im Alltagsleben durch das Verfallen zu charakterisieren ist; gera-

de das aber, was das Dasein durch seine verfallende Lebensbewegtheit als ver-

meintlich Wahrheit über das Sein erhält (nämlich die Auslegung des Seins als des

vorhandenen bzw. zuhandenen Seienden), soll zugleich den fragwürdigen Cha-

rakter dieser vermeintlichen Wahrheit offenbar machen. Was Heidegger damit

meint, besteht in dem Paradoxon, daß die Rede über die Seinswahrheit nicht ohne

die Verdeckung der Seinswahrheit in der verfallenden Lebensbewegtheit des all-

täglichen Daseins möglich ist: „Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner

Seinsverfassung nach in der ‚Unwahrheit‘. […] Zur Faktizität des Daseins gehö-

ren Verschlossenheit und Verdecktheit. Der volle existenzial-ontologische Sinn

69 Besonders im dritten Teil der Vorlesung im Wintersemester 1921/22 (Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles) wird die Beziehung zwischen der Sorge, der Ruinanz und der Angst detailliert untersucht.

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des Satzes: ‚Dasein ist in der Wahrheit‘ sagt gleichursprünglich mit: ‚Dasein ist

in der Unwahrheit‘. Aber nur sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlos-

sen; und sofern mit dem Dasein je schon innerweltlich Seiendes entdeckt ist, ist

dergleichen Seiendes als möglich innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen)

oder verstellt.“70

Darin, daß das Dasein notwendig in der Wahrheit und der Unwahrheit zugleich

ist, besteht m. E. der eigentliche Schwerpunkt in der Heideggerschen Bestim-

mung der existenzial zu verstehenden Alltäglichkeit des Daseins: Gerade in der

existenzialen Seinsweise des Daseins, daß es sich als ein ausstehendes Sein (Exis-

tenz) notwendig zum Seienden verhalten muß, liegt der Grund dafür, daß das

Dasein einerseits in der Unwahrheit (Sein als das Seiende), andererseits in der

Wahrheit (das Bewußtsein der Unmöglichkeit, das Sein selbst mit einem Seien-

den identifizieren) ist. Indem sich das Dasein in der faktisch ruinanten Lebensbe-

wegung in der Alltagssituation befindet, bleibt es in der Unwahrheit. In dieser

Unwahrheit führt das Dasein nicht durch die eigene Selbstbestimmung sein Le-

ben, da das, was im Alltagsleben als sein Selbst fungiert, eigentlich nur ein Man,

ein uneigentliches Selbst ist. Zwar kann man auch schon hier die Möglichkeit

haben, das Leben des faktischen Daseins historisch zu nennen, wenn das Alltags-

leben selbst in seiner Veränderlichkeit erfaßt wird, und folglich wenn auch das

Man, das als das uneigentliche Selbst des Daseins in der jeweiligen Alltagssitua-

tion fungiert, nicht als ein fest stehendes, absolut unvariables Denksystem ver-

standen wird. Aber wenn man dies mit einer strengen Logik des rationalen Den-

kens zu analysieren versucht, nimmt man hierbei die Rolle eines wissenschaftli-

chen Betrachters ein, der die Veränderungen innerhalb eines individuellen Lebens

entweder auf die allgemeinen, objektiv feststellbaren Entwicklungstendenzen

einer Gesellschaft bzw. eines Zeitalters oder auf die angeborenen Anlagen des

subjektiven Bewußtseins zurückführen muß. Die Frage, wie sich das Dasein von

dem Standpunkt seines uneigentlichen Selbst im Alltagsleben kritisch distanzie-

ren kann, bleibt hierbei allerdings unbeantwortet. Gerade hier liegt der Grund

dafür, warum Heidegger in der Religion im Sinne Schleiermachers, die Heidegger

70 Ebd., S. 222.

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als eine phänomenologische Epoché versteht, die Möglichkeit eines faktisch his-

torischen Lebens gesehen hat: Gerade in der religiösen Zurückhaltung des Da-

seins von dem faktischen Lebensprozeß, in dem sich das Dasein als befindlich in

einer Relation mit dem Seienden im praktischen Lebenszusammenhang (das Da-

sein als ein In-der-Welt-sein) befindet, besteht die Möglichkeit, daß das unrichti-

ge Seinsverständnis im Alltagsleben (Sein als das Seiende) dem Dasein offenbar

wird. Erst hieraus kann man die Möglichkeit erkennen, wie sich das Dasein trotz

seiner notwendigen Verfallenheit an die Alltagswelt über die Grenze des unei-

gentlichen Lebens in der Form des ‚Man‘ zum eigentlichen Leben hinausführen

kann. Was Heidegger mit dem Ausdruck des historischen Lebens des Daseins

zum Ausdruck bringen will, kann man also nicht verstehen, wenn man dieser für

Heideggers Philosophie typischen Dyadik von eigentlich und uneigentlich nicht

Rechnung trägt.

Es ist m. E. bereits deutlich geworden, warum die Religion im Sinne Schleier-

machers für den existenzial-hermeneutischen Begriff des historischen Lebens im

Heideggerschen Sinn von entscheidender Bedeutung ist. Allerdings gibt es auch

Unterschiede zwischen beiden Denkern, die ebenfalls nicht von geringer Bedeu-

tung sind. Bei Heidegger gibt es eine scharfe Trennung zwischen dem Denken,

das am Seienden orientiert ist, und dem Bewußtsein des Seins selbst, das nicht

auf das Seiende zurückzuführen ist: Für Heidegger bilden das Denken und das

Bewußtsein des Seins selbst einen unüberwindlichen Gegensatz, es gibt daher in

seiner Philosophie eigentlich keine Möglichkeit, die konkrete Beziehung zwi-

schen der erkennenden Tätigkeit des Menschen und dem Bewußtsein des Seins

selbst herzustellen. Bei Schleiermacher verhält sich dies ganz anders: Zwar er-

kennt auch Schleiermacher an, daß die Gleichsetzung des Seins mit dem vorhan-

denen Seienden – wie bei Heidegger – im praktischen Leben ihren Ursprung

hat.71 Schleiermacher erkennt aber das reine Denken als ein konstitutives Be-

wußtseinselement an und weist ihm die Funktion zu, das Seiende nicht als das

von meinem Sein abgesonderte Dingobjekt zu betrachten, sondern als das an sich

Seiende, das mit meinem Sein in einem konkreten und absolut kontinuierlichen

71 Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, Berlin 1942 (hrsg. von R. Odebrecht), S. 104 ff.

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Wirkungszusammenhang steht. Das Ansich bedeutet allerdings in diesem Zu-

sammenhang nicht ein an sich seiendes Dingobjekt; es hat vielmehr die Funktion,

die Relativität unseres Weltbewußtseins, in dem das Sein primär als eine raum-

zeitliche Relation zwischen den von einander abgesonderten Dingobjekten ver-

standen wird, offenbar zu machen. Dies wird besonders im dritten Teil dieser

Arbeit ausführlich analysiert. Wichtig ist hier zunächst einzusehen, warum Hei-

degger in der Religion im Sinne Schleiermachers die Möglichkeit einer faktisch

historischen Lebensführung des Daseins gesehen hat.

Der besondere Schwerpunkt des ersten Teils besteht darin, zu überprüfen, ob

Heidegger diese Zurückführung der historischen Lebensführung des Daseins auf

die religiöse Dimension des Bewußtseinslebens nicht von einer anderen Quelle

(außer Schleiermacher) übernommen hat. Denn erst dann kann man feststellen,

wie weitreichend Schleiermachers Einfluß auf Heideggers Denken ist und welche

Bedeutung der Schleiermacher-Rezeption Heideggers für seine Philosophie zu-

zuweisen ist. Eine genealogische Beschreibung des Denkwegs, den Heidegger

vor und nach seiner hermeneutischen Wende vollzogen hat, ist daher notwendig

für die Erfüllung der Aufgabe des ersten Teils.

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1. Die Quellen von Heideggers Hermeneutik

In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß Heidegger unter dem Einfluß

von Schleiermacher eine radikale Umdeutung des Begriffs des Historischen

vollzogen hat. Seine Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie hat

ihn zu der Einsicht geführt, daß die Frage nach dem Sein selbst weder erkenntnis-

theoretisch noch praxeologisch gestellt werden darf: Statt dessen ist eine religiöse

Betrachtung dieser Frage erforderlich. Nach Heideggers Rekonstruktion von

Schleiermacher ist es dabei zentral, daß sich das Dasein von äußerer Wirksamkeit

zurückzieht. Dieses Dasein läßt sich in seiner religiösen Zurückgezogenheit we-

der als ein erkennendes Subjekt noch als ein handelndes Subjekt verstehen. Denn

sowohl beim Erkennen als auch beim Handeln bleibt das Dasein der gegenständ-

lichen Interpretation des Seins verhaftet; Erkennen und Handeln sind ohne die

empirisch konstatierbare Vorhandenheit einer Welt nicht möglich.

Die Religion hat die Funktion, dem Dasein bewußt zu machen, daß sein alltägli-

ches Selbstverständnis unangemessen ist. Denn das Selbst ist notwendig, wenn

es sich als ein Subjekt des Erkennens und des Handelns versteht, darauf bedacht,

in der Welt zu wirken und die Welt als Objekt für seine Handlungen zu betrach-

ten. Damit ist der Ausgangspunkt für die Existenzontologie von Sein und Zeit

gelegt, in der das Dasein auf den Gegensatz vom eigentlichen und uneigentlichen

Selbstsein verwiesen ist: Das faktisch historische Leben des Daseins steht für

Heidegger unter dem Spannungsverhältnis zwischen der öffentlichen Ausgelegt-

heit des Seins und dem Bewußtsein von der Nichtigkeit des öffentlich ausgelegten

Seinssinns. Das faktische Leben des Daseins ist gerade deswegen historisch im

Sinne Heideggers, das heißt der Zeitlichkeit und der Endlichkeit unterworfen,

weil das Nichts zur ontologischen Struktur des Daseins gehört; das Dasein hat die

Möglichkeit, dem Gewordensein des öffentlichen Selbsts (Man) das Bewußtsein

des Sichselbstnichtsogesetzthabens gegenüberzustellen, so daß im Ruf des Seins

selbst, der durch das Bewußtwerden der fundamentalen Nichtigkeit des Seinsver-

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ständnisses im Alltagsleben geschieht, die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins

ermöglicht wird.

1.1. Zum philosophischen Verhältnis von Phänomenologie, Hermeneutik und

Theologie beim frühen Heidegger

Der Grundgedanke der Hermeneutik der Faktizität besteht also darin, die Ge-

schichtlichkeit durch eine phänomenologische Analyse als einen Seinssinn des

faktischen Lebens selbst aufzufassen. Dieser Gedanke hat einen theologischen

Ursprung. Otto Pöggeler und Hugo Ott weisen darauf hin, daß Heidegger durch

sein Theologiestudium entscheidende Anregungen für seine Hermeneutik erhal-

ten hat.72 Dies wird auch dadurch bestätigt, daß Heidegger selbst den Ursprung

seiner Hermeneutik seinem Theologiestudium zuweist. In der Schrift Aus einem

Gespräch von der Sprache 1953/54, in dem er einem japanischen Gast über die

Herkunft und Entwicklung seiner Philosophie berichtet, hat er rückblickend be-

merkt, daß die Hermeneutik ihm aus seinem Theologiestudium her geläufig ge-

wesen sei.73 Sein Theologiestudium habe ihm einen entscheidenden Anstoß zum

philosophischen Denken gegeben: Ohne die theologische Herkunft wäre er nie

auf den Weg des Denkens gelangt und Herkunft bleibe stets Zukunft.74

Heideggers Bericht über den theologischen Ursprung seiner Hermeneutik ist

nicht unbedingt dahingehend zu interpretieren, daß die Hermeneutik Heideggers

sich ohne weiteres aus der Hermeneutik Schleiermachers (und Diltheys) ableiten

lasse. Zwar deutet Heidegger selber darauf hin, daß seine Hermeneutik von Dil-

they und Schleiermacher beeinflußt wurde: „Später fand ich den Titel ‚Herme-

neutik‘ bei Wilhelm Dilthey in seiner Theorie der historischen Geisteswissen-

schaften wieder. Dilthey war die Hermeneutik aus derselben Quelle her vertraut,

aus seinem Theologiestudium, insbesondere aus seiner Beschäftigung mit Schlei-

72 Vgl. dazu das vom Heidegger selbst geschriebene Vorwort zur ersten Ausgabe seiner Frühen Schriften, a.a.O., S. 56; H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., 96 ff.; O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 89 f. / S. 100 ff.; ders. Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 270 ff. 73 M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, in: ders., Unterwegs zur Sprache, Frankfurt a. M. 1959, S. 91. 74 Ebd.

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ermacher.“75 Aber dabei darf man nicht übersehen, daß Heidegger gleich zu Be-

ginn seiner philosophischen Laufbahn die Frage nach dem Sein, das nicht als Ei-

genschaft eines Gegenstandes zu verstehen ist, gestellt hat.

Im Jahre 1907 hat der junge Heidegger vom späteren Erzbischof von Freiburg C.

Gröber, den er einen väterlichen Freund aus seiner Heimat nannte, Franz Brenta-

nos Dissertation Von der mannigfaltigen Bedeutung des Seienden nach Aristote-

les (1862) erhalten.76 Die Problematik der Frage nach dem Sein, die in Brentanos

Dissertation behandelt wird, hat ihn zeitlebens begleitet. Heidegger hat von Bren-

tano die Einsicht in die Unreduzierbarkeit des Seins auf das Vorhandensein über-

nommen, die er dann in seiner Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psycho-

logismus besonders durch die Unterscheidung von kategorischem Satz und Exi-

stenzialsatz noch gründlicher analysiert hat.77 Seine Habilitationschrift über Duns

Scotus ist im Grunde genommen der Versuch, diese Frage nach dem Sein mit der

scholastischen Seinslehre in Verbindung zu bringen. 78 Die Hermeneutik Heideg-

gers kann ohne Berücksichtigung dieser Seinsfrage, die er schon in seiner philo-

sophischen Anfangszeit thematisiert hat, nicht richtig verstanden werden. „Der

Name Hermeneutik ist in ‚Sein und Zeit‘ in einer noch weiteren Bedeutung ge-

braucht“, d. h. „jener Weite, die aus dem anfänglichen Wesen entspringt.“79 Die-

se Weite der Hermeneutik, die Heidegger in der ursprünglichen Seinserschlos-

senheit durch das Da des Daseins gesucht hat, ist die Folge langjähriger Untersu-

chungen, die Heidegger seit dem Anfang seiner philosophischen Laufbahn konti-

nuierlich durchgeführt hat.

Heideggers Bericht über die Herkunft seiner Hermeneutik ist aber insofern für

uns von besonderem Interesse, weil seine Erwähnung von Dilthey und Schleier-

macher sich auf den Zeitraum zwischen 1917 und 1919 bezieht, in dem Heideg-

ger sich intensiv mit dem Problem der Religionsphänomenologie beschäftigt

75 Ebd., S. 92. 76 Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 54. 77 Vgl. M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 120 ff. 78 Vgl. A. Wucherer-Huldenfeld, ‚Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin‘, in: H. Vetter (Hrsg.), Hei-degger und das Mittelalter, Frankfurt a. M. (u. a.) 1999, S. 48 ff. 79 M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, a.a.O., 93.

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hat.80 Seine Religionsphänomenologie ist durch ein vorhergehendes Ereignis ge-

prägt, das für ihn zeitlebens von bleibender Bedeutung gewesen ist; „die Abkehr

nämlich vom Katholizismus, vom katholischen System“ 1916, die allerdings auch

eine philosophische Neuausrichtung des einstigen katholischen Theologiestuden-

ten bedeutete.81 „Der Bezug zu Schleiermacher“, den O. Pöggeler als „eine Wen-

de“ des Heideggerschen Denkens bezeichnet, ist für Heidegger eine neue Orien-

tierung gewesen; 82 nach seiner Abkehr vom Katholizismus hat er nach einer neu-

en Möglichkeit gesucht, das religiöse Erlebnis unabhängig von einem theologi-

schen Denksystem zu erklären.

Sicherlich fand Heidegger eine neue Orientierung darüber hinaus auch bei Hus-

serl, der in Freiburg die philosophische Laufbahn des Privatdozenten Heidegger

wesentlich mitbestimmt hat. Aber Husserl selber gab in einem ausführlichen

Brief, den er 1919 an R. Otto geschrieben hat, an, daß er bei Heideggers Konver-

sion vom Katholizismus zum Protestantismus „nicht den leisesten Einfluß ge-

übt“ habe.83

Die Phänomenologie Heideggers, die nach Pöggeler „in den Nachkriegsjahren

[...] zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens“84 geworden ist, steht spätestens

ab 1917 unter dem starken Einfluß von Heideggers Beschäftigung mit Schleier-

macher. Schleiermacher hat mehr als 100 Jahre zuvor nachzuweisen versucht, daß

die Philosophie, verstanden als eine Wissenschaft des Absoluten, für das Ver-

ständnis der Religion unzureichend ist. Durch eine phänomenologische85 Analyse

80 Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 106 ff.; C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen. Heinrich Ochsner zum Gedächtnis, Hannover 1981, S. 158 f. Auch T. Kisiel hebt in seiner Untersuchung der Genese der Konzeption von Sein und Zeit besonders hervor, daß dieser Bericht von Heidegger der einzige Anhaltspunkt ist, den Heidegger selber in bezug auf die Zeit seiner Religionsphänomenologie gegeben hat: „General as it is, this remark on the ‚later‘ en-counter with Dilthey and his work on Schleiermacher is really the only substantive clue that Hei-degger himself offers us to the core-period which is of special interest here. Specifically, we are referring to that obscure and virtually unknown Interregnum (1917-19) in Heidegger’s develop-ment from which he emerges as a ‚protestant apostate‘ and breaks through to his own lifetime thought.” (T. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley / Los Angeles / Lon-don 1993, S. 70.) 81 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 96. 82 O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100. 83 C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 159. 84 O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100. 85 R. Williams weist darauf hin, daß Schleiermacher schon hundert Jahre vor Husserls Be-gründung der Phänomenologie eine Art der Phänomenologie entwickelt hat: „Schleiermacher’s

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des wirklichen Bewußtseins kam er zu dem Ergebnis, daß die Religion generell

als ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl des endlichen Daseins vom Unend-

lichen zu verstehen ist, welches vom gegenständlichen Bewußtsein bei den Er-

kenntnisakten und dem praktischen Handeln grundverschieden ist und gerade als

solches zum Wesensmomente des wirklichen Bewußtseins gehört. Heidegger hat

die Philosophie selbst streng von der Wissenschaft unterschieden, um dadurch

eine Dimension des Seinsdenkens zu erschließen, welche nicht auf das Vorhan-

densein des Gegenstandes zurückführbar ist. Diese Frage hat er freilich, wie

schon erwähnt, gleich am Anfang seiner philosophischen Laufbahn gestellt. Nach

seiner Begegnung mit Schleiermacher wird aber deren Untersuchung nicht mehr

von einer theologischen Ambition begleitet, die noch seine auf die Metaphysik

des Geistes hinweisende Habilitationsschrift charakterisiert. Das faktische Leben

des Daseins selbst ist nunmehr der Ausgangpunkt seiner Philosophie geworden;

das Denken des Seins muß im faktischen Leben selbst begründet sein, wenn es

philosophisch adäquat erfaßt werden soll.

Heideggers Bericht über den theologischen Ursprung seiner Hermeneutik zeigt,

daß sein Denken nicht nur nach, sondern auch vor seiner Beschäftigung mit Dil-

they und Schleiermacher entscheidend durch einen theologischen Einfluß be-

stimmt gewesen ist. Dies wird dadurch bestätigt, daß auch Heideggers frühe

Schriften von theologischen Fragen motiviert wurden.

Daher stellt sich nun die Frage, ob die These, die wir in Anlehnung an die Ar-

beiten von Pöggeler und Ott aufgestellt haben, nicht einer Korrektur bedarf? Muß

man nicht vielmehr davon ausgehen, daß Heidegger bereits vor seiner Beschäfti-

gung mit Schleiermacher über die Grenze der klassischen Erkenntnistheorie hi-

theology is phenomenological in that he approaches the question of God and the entire doctrine of God through a reflective analysis of religious consciousness and its object.“ (R. Williams, Schleiermacher The Theologian, Philadelphia 1978, S. 5.) Vgl.: „One hundred years before Husserl made phenomenology an explicit self-concious philosophical method, Schleiermacher was practicing something very much like it.“ (Ebd., S. 6) Nach ihm hat Schleiermacher in seiner Religionsphilosophie eine Methode verwendet, die der phänomenologischen Reduktion von Hus-serl sehr ähnlich ist („a function similar to the phenomenological reduction“). (Ebd., S. 8). Ob und in welchem Sinn Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Phänomenologie zu bezeichnen ist, wird im zweiten Teil erörtert.

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nausgegangen war, da er schon in seinen frühen Schriften – ausgehend von einem

theologischen Hintergrund – die Frage nach dem Sein thematisiert hat?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es ist einerseits wahr, daß Heidegger

auch in seiner philosophischen Anfangszeit nicht vorhatte, sein Denken aus-

schließlich der Erkenntnistheorie zu widmen. Man wird aber sicherlich nicht

fehlgehen in der Annahme, daß Heidegger bis kurz vor seiner Beschäftigung mit

Schleiermacher in gewisser Hinsicht metaphysisch ausgerichtet blieb. Dies zeigt

sich besonders in seiner Abhandlung „Der Zeitbegriff in der Geschichtswissen-

schaft“. Dieser Aufsatz fällt nach dem bibliographischen Nachweis der Frühen

Schriften inhaltlich mit der Probevorlesung zusammen, die er am 27. Juli 1915

vor der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. zur Erlangung der

venia legendi hielt. Gleich am Anfang des Aufsatzes weist Heidegger darauf hin,

daß seit einigen Jahren in der wissenschaftlichen Philosophie ein gewisser „meta-

physischer Drang“86 erwacht sei. Er befürwortet dieses neue Bemühen um eine

Metaphysik, das aus dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit der reinen Erkennt-

nistheorie für die Lösung der echten philosophischen Probleme entstanden sei:

„Das Stehenbleiben bei bloßer Erkenntnistheorie will nicht mehr genügen. Die

aus einem berechtigten, energischen Bewußtsein von Notwendigkeit und Wert

der Kritik herausgeborene Beharrung in erkenntnistheoretischen Problemen läßt

die Ziel- und Endfragen der Philosophie nicht zu ihrer immanenten Bedeutung

kommen.“87 Heidegger bezeichnet nun „die bald verdeckte, bald offen zutage

tretende Tendenz zur Metaphysik“ in der wissenschaftlichen Philosophie seiner

Zeit „als ein tieferes Erfassen der Philosophie und ihrer Probleme“.88

Das Ergebnis, das Heidegger aus diesen metaphysischen Bestrebungen zieht,

besteht darin, daß die Philosophie eine andere Form der Wissenschaft finden muß,

die nicht „im Sinne der intellektuellen Gewaltsamkeiten der sogenannten ‚natur-

wissenschaftlichen Weltanschauung‘“ zu verstehen ist.89 „Der Zeitbegriff in der

Geisteswissenschaft“ ist qualitativ unterschieden „von dem homogenen Charakter

86 M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 415. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd.

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des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs“, und dieses „Qualitative des histori-

schen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation

– einer in der Geschichte gegebenen Lebensobjektivation.“90 Heidegger spricht

am Ende des Aufsatzes von der „Erkenntnis der fundamentalen Bedeutsamkeit

des historischen Zeitbegriffes“, die „es ermöglichen“ soll, „weiter wissenschafts-

theoretisch in den eigentlichen Charakter der Geschichtswissenschaft einzudrin-

gen.“91

Heideggers Denken ist bis zu dem Zeitpunkt seiner Beschäftigung mit Schlei-

chermacher von der Überzeugung geleitet, daß die Philosophie eine andere Form

der Wissenschaft ist, die nicht von einem bloßen erkenntnistheoretischen Interes-

se, sondern von einem ,metaphysischen Drang‘ zur geistigen Welt des Lebens

geleitet werden soll. Er hat auch am Ende seiner Habilitationsschrift, wie ich in

der Einleitung ausgehend von der Bemerkung Pöggelers gezeigt habe, seine zu-

künftige Philosophie mit einer metaphysischen Theologie Hegelscher Prägung

verbunden: „Die Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der

verehrenden Gottinnigkeit […] steht vor der großen Aufgabe einer prinzipiellen

Auseinandersetzung mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffs-

bildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung, als welches es

alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich

auf gehoben hat, mit Hegel.“92 Diese Idee einer metaphysischen Theologie, die

ausgehend vom „Begriff des lebendigen Geistes“ einen „Einblick in seine meta-

physische Grundstruktur“ eröffnen soll, ist für Heideggers Philosophie nach sei-

ner Beschäftigung mit Schleiermacher nicht mehr ein bestimmender Faktor ge-

wesen.93 Ähnlich wie Schleiermacher in seiner Kritik an der zeitgenössischen

Philosophie idealistischer Prägung deutlich gemacht hat, daß die wirkliche Reli-

gion nicht zum Gegenstand einer metaphysischen Wissenschaft gemacht werden

kann, verzichtet Heidegger unter dem Einfluß von Schleiermacher darauf, die

Frage nach dem Sein durch eine metaphysische Wissenschaft zu erörtern.

90 Ebd., S. 431. 91 Ebd., S. 432. 92 Ebd., S. 411. 93 Ebd., S. 410.

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1.1.1. Die Frage nach dem Sein im scholastischen Umfeld

Pöggeler weist darauf hin, daß „Heidegger in seiner Dissertation und in seiner

Habilitationsschrift der scholastischen Verarbeitung der antiken Seinslehre ge-

folgt [ist].“94 Heideggers Denken sei in dieser Zeit durch den Neukantianismus

geprägt: „Freilich hatte er sich zugleich für die mystische Tradition interessiert;

unter Neukantianern fand er die unmittelbaren Lehrer.“95 Unverkennbar ist aber

auch, daß er schon eine Frage gestellt hat, die für die philosophische Entwicklung

Heideggers von bleibender Bedeutung gewesen ist; die Frage nach dem Sinn des

Seins selbst, das nicht als Eigenschaft eines vorhandenen Gegenstandes verstan-

den werden kann.

Er entwickelt in seiner Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psychologis-

mus 1913 eine wichtige Konzeption des Seins, die später in seiner Habilitations-

schrift um die theologische Dimension des unendlichen Ganzen (das Ens) erwei-

tert wurde und die Heideggers Philosophie ein Leben lang begleitete. In Anleh-

nung an Brentano weist er darauf hin, daß ein kategorisches Urteil (,Irgendein

Mensch ist krank‘) notwendig einen Existenzialsatz (,Ein kranker Mensch ist‘,

oder ,Es gibt einen kranken Menschen‘) impliziert und daß der Sinn des Seins bei

diesem Existenzialsatz nicht als Wesensbestimmung eines Gegenstandes zu ver-

stehen ist; dieser Gedanke, daß der Sinn des Seins nicht als Eigenschaft eines

Gegenstandes hypostasiert werden kann, mündet dann am Schluß seiner Disserta-

tion in der Analyse des impersonalen Urteils (Es blitzt), das Heidegger zufolge

auf den Ereignischarakter des Seins bzw. Existierens verweist. 96 Diese Frage

nach dem Sein, die die Grenze des am Gegenstand orientierten Erkenntnisaktes

überschreitet, wiederholt sich dann in der Habilitationsschrift anhand der Analyse

von Ens und Unum in der scholastischen Seinslehre; das Unum ist keine Eigen-

schaft eines Gegenstandes, sondern eine Privation durch das Nichts, da sich jedes

Eins-Sein (Unum) notwendig von anderen abheben muß. Auch das Ens, verstan-

94 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 9. 95 Ebd. 96 Vgl. M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 120 ff.; S. 187 ff.

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den als das Ganze eines Gegenstandes, ist nicht als eine Eigenschaft des Dinges

zu verstehen, sondern als ein Verweis auf die Existenz von etwas; und da das

Unum gleich ursprünglich die Vielheit des Seienden (das Multum) fordert, ist das

Bewußtsein bei einem Urteil notwendig auf das unendliche Bewandtnisganze von

verschiedenen Seienden ausgerichtet, in dem allein eine Privation von etwas

durch das Nichts geschehen kann; den Seinssinn dieses unendlichen Ganzen, der

weder auf die Existenz vom Seienden noch auf die reine Negation der Existenz

vom Seienden zurückzuführen ist,97 faßt Heidegger in einer These zusammen, die

wiederkehrt, wenn der späte Heidegger das Thema des in der Existenz wesenden

Seins behandelt: Gott west in der Existenz.98

Ich habe nicht vor, Heideggers Untersuchung über die scholastische Seinslehre in

seinen frühen Schriften im Detail zu verfolgen. Dies überschreitet die Grenzen

dieser Arbeit. Für uns ist es aber von Interesse, daß Heidegger gleich am Anfang

seiner philosophischen Laufbahn von einem Problembewußtsein motiviert gewe-

sen ist, das über das Thema der Husserlschen Phänomenologie hinausgeht; daß

die Phänomenologie die Frage nach dem Sein selbst als ihre Aufgabe aufnehmen

soll, dessen Sinn nicht auf das Vorhandensein eines Gegenstandes zurückzufüh-

ren ist, ist der eigentliche Kernpunkt bei seiner Kritik an Husserl.

Betrachten wir nun, daß sich Heidegger kurz nach seiner Habilitation 1915 mit

der Religionsphilosophie Schleiermachers beschäftigt hat. Aus seinen Bemerkun-

97 Laut E. Bréhier ist das Wissen von der Substanz für D. Scotus – im Unterschied zum Thomis-mus – erst durch die Univozität des Seinsbegriffs möglich, die nicht aus den Erfahrungen des gegenständlichen Bereiches abgeleitet werden kann. Das Sein muß bei jedem Urteil einen identi-schen Sinn haben; und diese Univozität des Seinssinns ist die Grundvoraussetzung für das Urteil in jeder gegenständlichen Erfahrung. Und hierin liegt der Grund, warum das Sein nicht schlech-thin relational auf die Vielheit des Seienden zurückzuführen ist, sondern auf das absolute Sein, auf Gott bezogen werden muß: „Un autre moyen pour le thomism d’établir la continuité est la notion de l’analogie de l’être qui unit tout en distinguant; pour Duns Scot, au contraire, être est un term univoque qui a même signification appiliqué aux accidents ou à la substance, à Dieu ou aux créatures, à la matière et à la forme. Sans l’univocité de l’être, aucune connaisance de la substance n’est possible. Des choses sensibles, l’intelligence perçoit seulement les accidents et non pas la substance; si elle peut se représentir la substance, c’est grâce à la notion d’être que lui fournissent les accidents. Sans cette univocité, aucun jugement même n’est possible, car on ne peut énoncer un attribut d’un sujet, si l’être n’a pas le même sens dans l’un et dans l’autre. Sans elle enfin, nous ne pourrions parvenir à la connaissance de Dieu […].“ (E. Bréhier, La philosophie du Moyen Age, Paris 1971, S. 333-334. 98 „Im strengsten, absoluten Sinne wirklich ist nur Gott. Er ist das Absolute, das Existenz ist, die im Wesen existiert und in der Existenz ‚west‘.“ (M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 260.). Vgl.: ebd., S. 214 ff.; S. 287 ff.

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gen zur zweiten Rede über die Religion, in der Schleiermacher das Wesen der

Religion erläutert, erkennt man deutlich, daß Heidegger die Religionsphilosophie

Schleiermachers als eine Phänomenologie betrachtet, die auf den Sinn des Seins

selbst ausgerichtet ist; das Bewußtsein von gegenständlichen Relationen wird in

der religiösen Zurückgezogenheit von innerweltlichen Aktivitäten eingeklammert,

so daß das Dasein hier eine spezifische Form der Intentionalität hat; es ist in der

Religion auf das Seinsganze (das Universum) selbst ausgerichtet, in dem alles in

ununterbrochenem Fließen und Wirken bleibt. Man sieht also, daß Heidegger bei

seiner Beschäftigung mit Schleiermacher jene Frage nach dem Sein selbst weiter-

verfolgt hat, deren Beantwortung er sich gleich am Anfang seiner philosophi-

schen Laufbahn als seine Aufgabe vorgenommen hat.

Es fragt sich nun: Wie ist das genaue philosophische Verhältnis von Phänomeno-

logie, Hermeneutik und Theologie beim frühen Heidegger? Wie ist Heideggers

Hermeneutik auf die Phänomenologie Husserlscher Prägung einerseits und auf

das theologische Denken andererseits bezogen? Darauf können wir jetzt eine ein-

deutige Antwort geben: Heideggers Aufnahme der Husserlschen Phänomenologie

ist von Anfang an durch die Problematik bestimmt gewesen, die aus seiner Be-

schäftigung mit dem theologischen Denken entstanden ist. Streng genommen ist

Heidegger in keinem Moment seines Lebens ein Husserlianer gewesen.

1.1.2. Heideggers Husserl-Rezeption

In Anschluß an diese Überlegungen stellt sich die Frage, ob die in der philosophi-

schen Öffentlichkeit häufig thematisierte hermeneutische Wende Heideggers tat-

sächlich stattgefunden hat. M. E. darf die hermeneutische Wende nicht schlecht-

hin als ein Übergang von der Husserlschen Phänomenologie zur Hermeneutik des

faktischen Lebens verstanden werden. Gegenüber dieser Vorstellung ist schon

deswegen Skepsis angebracht, weil das philosophische Verhältnis des jungen

Heideggers zu Husserl von Anfang an durch eine kritische Distanz geprägt gewe-

sen ist.

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Es hat somit kein Übergang von der Phänomenologie zur Hermeneutik des fakti-

schen Lebens stattgefunden, wenn man unter der Phänomenologie primär die

Phänomenologie Husserls verstehen will. Man muß vielmehr davon ausgehen,

daß die Phänomenologie des frühen Heideggers selbst entscheidend von seinem

Theologiestudium beeinflußt gewesen ist. Streng genommen markiert die herme-

neutische Wende Heideggers nicht einen Übergang von der Phänomenologie zur

Hermeneutik, sondern eher eine Entdeckung der Tatsache, daß die Frage nach

dem Sinn des Seins erst durch die phänomenologische Analyse des faktisch ge-

schichtlichen Lebens richtig erfaßt werden kann. Hierin liegt der Grund, warum

der frühe Heidegger die nötige Methodologie für seine Hermeneutik in der Phä-

nomenologie gesucht hat. Man kann dem Denkweg Heideggers nach seiner Habi-

litation erst dann richtig folgen, wenn man der Dimension des Seinsdenkens beim

jungen Heidegger gebührend Rechnung trägt.

Der Tatbestand, daß Heidegger gleich am Anfang seiner philosophischen Lauf-

bahn die Frage nach dem Sein selbst gestellt hat, ist von maßgebender Bedeutung

für die Frage nach dem philosophischen Verhältnis von Heidegger und Schleier-

macher. Heidegger hat den philosophischen Ansatz, der ihn zur sogenannten

hermeneutischen Wende geführt hat, m. E. unmittelbar nach seiner Habilitation

durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erworben; seine hermeneutische

Wende schlechthin als einen Übergang von der Phänomenologie Husserls zur

Hermeneutik der Faktizität darzulegen, verstellt den wirklichen Denkweg Hei-

deggers, den er nach seiner Habilitationsschrift eingeschlagen hat.

Allerdings kann man auch in der Habilitationsschrift über Die Kategorien und

Bedeutungslehre des Duns Scotus philosophische Bezüge zu Husserl finden. Be-

sonders im zweiten Teil, in dem die Bedeutungslehre von Duns Scotus behandelt

wird, weist Heidegger nachdrücklich darauf hin, daß Husserl „die ‚Idee einer rei-

nen Grammatik‘ wieder zu Ehren gebracht [habe]“; der Punkt, der die Phänome-

nologie Husserls mit der Bedeutungslehre von Duns Scotus verbinde, soll in der

Einsicht bestehen, „daß es apriorische Bedeutungsgesetze gibt, die von der objek-

tiven Gültigkeit der Bedeutungen noch absehen.“99

99 Ebd., S. 327.

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Die Frage, ob man die Habilitationsschrift Heideggers insgesamt als phänomeno-

logisch bezeichnen soll, kann unterschiedlich beantwortet werden. Heideggers

Husserl-Rezeption in dieser Zeit scheint m. E. aber noch von einem neukantiani-

schen Problembewußtsein motiviert gewesen zu sein. Es steht allerdings außer

Zweifel, daß Heidegger im zweiten Teil seiner Habilitationsschrift weitgehend

den Überlegungen folgt, die Husserl besonders in der 4. Logischen Untersuchung

über die Idee der reinen Grammatik dargelegt hat.100 Man kann aber in der Habi-

litationsschrift Heideggers auch philosophische Bezüge zum Denken Rickerts

finden, der das Habilitationsverfahren als zuständiger Fachvertreter betreut hat.

Besonders dadurch, daß er Scotus’ Unterscheidung der Bedeutung in die Modi

essendi, intelligendi activi und significandi activi mit dem neukantianischen

Thema des vorwissenschaftlichen Erkennens verbindet, zeigt sich der starke Ein-

fluß Rickerts auf Heideggers Habilitationsschrift. „Der Modus essendi“, der als

„das Erlebbare überhaupt“ „das im absoluten Sinn dem Bewußtsein Gegenüber-

stehende“ oder „die ‚handfeste‘ Wirklichkeit“ schlechthin, bedeutet, ist Heidegger

zufolge für Duns Scotus nicht unabhängig vom kategorischen Urteilsakt des Be-

wußtseins möglich.101 Denn „auch diese empirische Wirklichkeit“ charakterisiert

sich gerade „als unter ‚ratio‘, d. h. einem Gesichtspunkt, einer Form, einer Be-

wandtnis stehend“, so daß am Ende der Gegenstandsbereich der Naturwissen-

schaft sich als abhängig erweist von einer vorwissenschaftlichen Erschließung der

Welt durch das Reich des immanenten Sinnes;102 „damit kommt nichts anderes

zum Ausdruck, als was man neuerdings dahin formuliert hat: auch die ‚Gegeben-

heit‘ stelle bereits eine kategoriale Bestimmung dar. Es liegen hier ‚elementarste

logische Probleme‘ vor, die, wie Rickert einmal bemerkt, ‚sich erst dem logischen

100 So heißt es bei Husserl: „Es handelt sich ja, genauer ausgedrückt, um die Einsicht, daß sich alle möglichen Bedeutungen überhaupt einer festen, in der generellen Idee Bedeutung a priori voraus-gesetzten Typik kategorialer Strukturen unterwerfen, und daß im Bedeutungsgebiet eine apriori-sche Gesetzmäßigkeit waltet, wonach alle möglichen Formen konkreter Gestaltungen in systema-tischer Abhängigkeit von einer kleinen Anzahl primitiver, durch Existenzialgesetze festgelegter Formen stehen, aus denen sie daher durch reine Konstruktion hergeleitet werden können. Mit dieser Gesetzmäßigkeit kommt uns, da sie eine apriorische und rein kategoriale ist, ein Grund und Hauptstück von der Konstruktion der ‚theoretischen Vernunft‘ zum wissenschaftlichen Bewußt-sein.“ (E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, Tübingen 1993, S. 333) 101 M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318. 102 Vgl. E. Bréhier, La philosophie du Moyen Age, a.a.O., S. 337 ff.

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Forscher erschließen, der auch das ‚vorwissenschaftliche‘ Erkennen in den Be-

reich seiner Untersuchung zieht‘.“103

Heidegger ist in seiner Habilitationsschrift weitgehend der neukantianischen

Tradition seit Windelband gefolgt. Bekanntlich ist Rickert, ausgehend von der

Unterscheidung seines Lehrers Windelband der Natur- und Kulturwissenschaft in

nomothetische und idiographische Wissenschaften, zu dem Ergebnis gelangt, daß

der gemeinsame Bezugspunkt von beiden Wissenschaften in der prophysischen

Welt einer vorwissenschaftlichen Einheit objektiver Wirklichkeit liegt. Am

Schluß seiner Habilitationsschrift präsentiert Heidegger eine Analyse des Katego-

rienproblems, die nachdrücklich die „Notwendigkeit der Miteinbeziehung des

logischen urteilenden Subjekts“ bei der Erkenntnis, die „H. Rickert in seinem

‚Gegenstand der Erkenntnis‘ zum Bewußtsein gebracht hat“, betont.104 Die ob-

jektive Wirklichkeit ist in dem Sinn auf eine vorwissenschaftliche Einheit im

Bewußtseinsleben angewiesen, „daß Gegenständlichkeit nur Sinn hat für ein ur-

teilendes Subjekt, ohne welches Subjekt es auch nie gelingen wird, den vollen

Sinn dessen herauszustellen, was man mit Geltung bezeichnet.“105 Der Begriff

Geltung selbst, der das Zustandekommen eines immanenten Gegenstandbewußt-

seins durch den kategorischen Urteilsakt einerseits und die transeunte Wirklich-

keit des Seins voraussetzt, weist nach Heidegger darauf hin, daß die subjektive

Logik bei jedem Erkenntnisakt vorausgesetzt ist: „Erst vom Urteil aus ist dann

auch das Problem der ‚immanenten und transeunten (‚außerhalb des Den-

kens‘ liegenden) Geltung‘ der Kategorien zu lösen. Ohne Berücksichtigung der

‚subjektiven Logik‘ hat es nicht einmal einen Sinn, von immanenter und tran-

seunter Geltung zu sprechen.“106

Heideggers Denken in seinen frühen Schriften ist nicht schlechthin als phänome-

nologisch zu bezeichnen. Der junge Heidegger war zwar von der Phänomenolo-

gie Husserls stark beeinflußt; gleich in der Einleitung seiner Dissertation hat er

die Überwindung des Psychologismus innerhalb der Logik als die wesentliche

103 M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318. 104 Ebd., S. 404. 105 Ebd., S. 405. 106 Ebd., S. 404.

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Leistung der Husserlschen Phänomenologie anerkannt. Aber in seiner Husserl-

Rezeption selbst war er doch weiterhin der Gedankenlinie der mystischen Tradi-

tion einerseits und der neukantianischen Problematik der vorwissenschaftlichen

Sinnerschließung der Welt seit Windelband andererseits gefolgt. Dem Versuch,

Heideggers Philosophie in seinen frühen Schriften pauschal als neukantianisch

oder phänomenologisch zu bezeichnen, sollte man daher skeptisch gegenüberste-

hen. Man sollte eher davon ausgehen, daß das Denken, das in den frühen Schrif-

ten Heideggers zum Ausdruck kommt, eine eigentümliche Verbindung von scho-

lastischer Mystik, Neukantianismus und Husserlscher Phänomenologie darstellt.

Auf jeden Fall ist es sicher, daß Heideggers Denken in seiner frühen Zeit von

einem theologischen Ansatz motiviert ist, so daß er die Frage nach dem Sinn des

Seins durch eine Weiterführung der scholastischen Seinslehre zu beantworten

versucht. Dieser Thematik ist Heidegger auch nach seiner hermeneutischen Wen-

de treu geblieben. Die Wende, die Heidegger nach seiner Habilitation vollzogen

hat, besteht gerade darin, daß er dieselbe Frage nach dem Sein nun von einem

anderen Gesichtspunkt aus betrachtet.

Dieser Gesichtspunkt ist in der Tat eine phänomenologische Perspektive. M. E.

ist aber auch deutlich, daß die Phänomenologie Heideggers nach seiner Habilita-

tion zugleich hermeneutisch war. Oder genauer formuliert: Die Einsicht, daß die

Phänomenologie im echten Sinn nur als Hermeneutik möglich ist, die die Frage

nach dem Sein selbst durch die phänomenologische Analyse des faktischen Le-

bens zu beantworten versucht, führte Heidegger zu seiner hermeneutischen Wen-

de.

1.2. Heideggers Abkehr von der Phänomenologie Husserls

Es soll nun untersucht werden, worin sich Heideggers Denken nach seiner Wende

zur Hermeneutik des faktischen Lebens von seinem früheren Ansatz unterschei-

det. Welche Folge hat diese Wende für seine philosophische Entwicklung gehabt?

Die Beantwortung dieser Fragen hängt endscheidend davon ab, wie man Heideg-

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gers Bezug zu Schleiermacher beurteilt, unter dessen Einfluß Heidegger seine

Phänomenologie zugleich als eine Hermeneutik zu verstehen beginnt.

1.2.1. Geschichte als Leitwort bei Heideggers Kritik an Husserl

Mit der Veröffentlichung der Freiburger Vorlesungen aus den Jahren 1919 bis

1923 wurde deutlich, daß Heidegger, der sich erst 1915 bei dem Neukantianer H.

Rickert habilitiert hatte, in dieser frühen Zeit seiner philosophischen Laufbahn

beinahe alle zentralen Themen von Sein und Zeit behandelt hat. In Bezug auf

Heideggers Beschäftigung mit den Phänomenologischen Interpretationen zu A-

ristoteles 1921/22 stellt Gethmann sogar fest, daß „das Reflexionsniveau der Vor-

lesung dem Text von Sein und Zeit überlegen“ ist; „die in Sein und Zeit §7 gege-

benen Bestimmungen“ von dem „Begriff der Philosophie“, die „durchaus dogma-

tisch-definitorisch wirken“, sind in jener Vorlesung als Ergebnis anhand konkre-

ter Überlegungen dargestellt.107

Im Wintersemester 1919/20 beklagt Heidegger die „Verunstaltungen der Idee der

Phänomenologie“ durch die „veralteten und gänzlich verworrenen metaphysi-

schen Interessen“. 108 Ihm zufolge hat „die unkritische Verabsolutierung der Idee

der Wissenschaft“ äußerst negative Folgen für die phänomenologische Forschung;

nicht die wissenschaftliche Gegebenheit der Welt, sondern „das faktische Le-

ben“ selbst soll als die eigentliche „Problemsphäre der Phänomenologie“ ange-

nommen werden. Zwei Jahre später bezeichnete er in seinen Phänomenologi-

schen Interpretationen zu Aristoteles den „Grundbezugssinn des Lebens an

sich“ als „das Sorgen“, durch dessen Untersuchung „ein konkreter Ansatz für die

kategoriale Explikation“ der Lebensfaktizität ermöglicht werden soll.109

In Heideggers Denken zeigt sich also schon wenige Jahre nach seiner Habilitati-

on eine starke Distanz zur Husserlschen Phänomenologie. Heidegger ist sich der

Grenzen der Phänomenologie Husserls bewußt. Ott berichtet in seiner Heidegger-

Biographie ausführlich darüber, warum und in welcher Form Heidegger gleich 107 C. F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986/87), S. 36. 108 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 18 f. / 23 f. / 41 ff. 109 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a.a.O., 1985, S. 89.

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am Anfang seiner eigenen phänomenologischen Arbeiten über Husserl hinausge-

gangen ist. Heidegger hat sich nach seiner Habilitation nicht nur mit der Phäno-

menologie Husserls beschäftigt. In dieser Zeit hat er sich vor allem in die protes-

tantische Theologie vertieft, die später in seinen frühen Freiburger Vorlesungen

intensiv behandelt wurde.110 Heidegger, der bereits in den frühen zwanziger Jah-

ren als „heimlicher König […] im Reich des Denkens“ 111 betrachtet wurde, ist

durch sein Theologiestudium zu einer Hermeneutik der Lebensfaktizität gelangt,

deren methodologische Grundlage die Phänomenologie ist.

Die Phänomenologie des jungen Heideggers wurde von einer theologischen Fra-

gestellung bestimmt. Ein wichtiger Zeuge dafür ist H. Ochsner, der sich 1915 mit

dem anderthalb Jahre älteren Heidegger anfreundet. Er nimmt ab dem Winterse-

mester 1916/17 an den Lehrveranstaltungen des neuen Privatdozenten Martin

Heidegger teil. Im Winter 1917/18 begleitet er Heidegger auf dem Weg zu Hus-

serl für ein philosophisches Gespräch. Aus den Berichten über dieses Gespräch,

die Ochsner später seinem Freund Bernhard Welte vermittelte, kann man erken-

nen, daß Heidegger in der Phänomenologie Husserls eine unkritische Verabsolu-

tierung der Idee der Wissenschaft gesehen hat: „Heidegger habe schon ganz am

Anfang begriffen, daß ‚Husserls Ansatz bei all seiner Bedeutung doch keine pri-

ma philosophia sein konnte, weil Husserls ‚Gegenstand‘ der abstrakte des theore-

tischen Wissens der Wissenschaft war, als ein sehr abkünftiges‘ - demgegenüber

der in den konkreten Formen des Daseins sich konstituierende vergegenständlich-

te Gegenstand ‚ein viel ursprünglicherer und früherer ist.‘“ 112 In einer Schrift, die

B. Welte zur Erinnerung an H. Ochsner geschrieben hat, wird der Punkt genannt,

an dem sich der Gedanke H. Ochsners an den Gedanken des jungen Heideggers

anschließt: H. Ochsner hat „in der Zusammenarbeit mit Husserl bei aller Aner-

kennung seiner grundsätzlich weitreichenden Bedeutsamkeit doch auch schon

dessen Einseitigkeit gespürt“; bei Husserl muß sich „die Frage nach der ge-

schichtlichen Bestimmtheit der Gegebenheiten der Welt verhüllen“, da für ihn

110 Vgl. H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 101 f. / 103 f. / 112 ff. 111 H. Arendt, ‚Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt‘, in: Merkur 7 (7/1969), S. 895. 112 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 103. Diese Informationen stammen nach Ott aus den Ta-gebuchnotizen von Bernhard Welte (1957).

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„die wissenschaftliche Gegebenheit eine nicht mehr zu befragende Selbstver-

ständlichkeit“ ist.113 Die Leitidee, die Heidegger über Husserl hinausführt, sei die

Betonung der Geschichte, die bekanntlich in den frühen Freiburger Vorlesungen

eine zentrale Rolle spielt: Heidegger habe Husserls phänomenologischen „Ansatz

radikalisiert, da ihm die Frage nach der geschichtlichen Bestimmtheit der Gege-

benheit der Gegenstände und des Zuganges zu ihnen wesentlich gewor-

den“ sei.114

1.2.2. Heideggers Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleiermachers

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Heidegger, der sich erst 1915 beim

Neukantianer H. Rickert über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns

Scotus habilitiert hat, schon 1917/18 anfing, eine an der Geschichtlichkeit orien-

tierte Phänomenologie zu entwickeln. Ott gibt aber keine konkrete Erklärung

dafür, was Heidegger gerade in dieser anfänglichen Zeit seines phänomenologi-

schen Neuansatzes dazu gebracht hat, die Geschichte als eine Leitidee der Phä-

nomenologie zu betrachten. Oder genauer: Wodurch Heidegger nach seiner Habi-

litation die Einsicht gewonnen hat, daß die Geschichte durch eine phänomenolo-

gische Analyse des faktischen Lebens selbst behandelt werden soll, bleibt bei Ott

weitestgehend unklar.

Seine biographische Darstellung konzentriert sich auf Heideggers Auseinander-

setzung mit dem Protestantismus, der Heidegger „die Zugänge zu anderen Sicht-

weisen“ gebahnt haben soll.115 Er weist darauf hin, daß sich Heidegger in erster

Linie mit F. Schleiermacher beschäftigt hat. Schleiermacher stellt in seiner zwei-

ten Rede Über die Religion eine These über das Wesen der Religion auf, die für

Heidegger von bleibender Bedeutung gewesen ist: Das „Wesen“ der Religion „ist

weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will

sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es

andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindli-

113 C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 214. 114 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 103. 115 Ebd., S. 112.

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cher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“116 Ott legt diese These dahingehend

aus, daß beim Religionsbegriff Schleiermachers eine „Wendung des Religions-

verständnisses ins Existentielle“ ansatzweise deutlich werde. 117 Ott behauptet

also, daß Schleiermachers Religionsbegriff bei der hermeneutischen Wende Hei-

deggers eine große Rolle gespielt hat, indem er Heidegger auf das Existentielle

als den eigentlichen Gegenstand des philosophischen Denkens aufmerksam ge-

macht hat. Und diese These ist nicht nur von Ott vertreten worden. Wie wir be-

reits gesehen haben, ist auch Pöggeler zu demselben Ergebnis gelangt.118

Pöggeler und Ott sind sich darin einig, daß Schleiermachers Religionsbegriff

eine zentrale Rolle für Heideggers Hermeneutik des faktischen Lebens spielt;

diese Dimension des Denkens bleibe der Husserlschen Phänomenologie ver-

schlossen, weil sie an der Idee der abstrakten Wissenschaft orientiert sei. Beide

stellen anhand der Briefe von H. Ochsner fest, daß Heidegger sich im Sommer

1917 mit Schleiermacher beschäftigt hat.119 Pöggeler weist auf den augenfälligen

Unterschied hin, der zwischen Heideggers neuen philosophischen Ansatz und

seiner auf eine metaphysische Theologie ausgerichteten Habilitationsschrift be-

steht: „Heidegger hatte seiner Habilitationsschrift einen Schluß angehängt, der

auf die metaphysische Theologie verwies, die in Hegel noch einmal kulminierte.

Kurze Zeit später, am 1. August 1917, hatte Heidegger sich jedoch in einer Rede

in einem privaten Kreis auf Schleiermachers Reden über die Religion bezogen.

Schleiermacher zeigt, daß wir nicht mit vorgefaßten Begriffen von Gott und Un-

sterblichkeit in die religiöse Dimension des Lebens eintreten dürfen, daß wir

vielmehr allenfalls im vorsichtigen Eindringen in diese Dimension solche Begrif-

fe bilden können.“120

116 F. Schleiermacher, Über die Religion (1. Auflage), in: Schleiermachers Werke (hrsg. von O. Braun / J. Bauer) Bd. 4, Aalen 1967, S. 50 (nach der Originalpaginierung). 117 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 113. 118 Vgl. O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 100. 119 Vgl. Ebd., S. 26; ders., Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 270 f.; H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 101.ff. 120 O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 26.

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1.2.3. Zur Frage nach der Motivation für Heideggers hermeneutische Wende

Man kann somit festhalten, daß die Auseinandersetzung mit Schleiermacher eine

deutliche Wende im Denken Heideggers ausgelöst hat. Aber der Grund dafür ist

m. E. noch erklärungsbedürftig.

Was hat Heidegger von seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher gegen

1917 gewonnen? Ott und Pöggeler weisen darauf hin, daß Schleiermachers Reli-

gionsbegriff Heidegger zur Einsicht in die Unzulänglichkeit der Idee der Wissen-

schaft für eine phänomenologische Philosophie gebracht habe. In der Tat läßt

Heideggers strenge Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie in den

frühen Freiburger Vorlesungen keinen Zweifel daran, daß hierin der entscheiden-

de Unterschied zwischen ihm und Husserl liegt. Husserl geht in den Ideen zu ei-

ner reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie ausdrücklich

davon aus, daß die Phänomenologie zu einer strengen Wissenschaft werden soll.

„Die philosophische Epoché“ soll erst dadurch ermöglicht werden, daß „wir uns

hinsichtlich des Lehrgehaltes aller vorgegebenen Philosophie vollkommen des

Urteils enthalten und alle unsere Nachweisungen im Rahmen dieser Enthaltung

vollziehen.“121 Und in diesem Sinn sind die Phänomenologen „die echten Positi-

visten“, wenn der „‚Positivismus‘ soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung

aller Wissenschaften auf das ‚Positive‘, d. i. originär zu Erfassende, bedeutet.“122

Sie lassen sich „durch keine Autorität das Recht verkümmern, alle Anschauungs-

arten als gleichwertige Rechtsquellen der Erkenntnis anzuerkennen – auch nicht

durch die Autorität der ‚modernen‘ Naturwissenschaft.“123 Dagegen sieht Hei-

degger in der „Scheidung von strengwissenschaftlicher Philosophie und Weltan-

schauungsphilosophie“ einen Grundfehler des philosophischen Denkens; eine

solche „Scheidung ist […] abzuweisen, […] weil sie überhaupt nicht gemacht

werden darf und an der Wurzel falsch ist; m. a. W., weil sie in einer Dimension

121 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (Husserliana III/1), Den Haag 1976, S. 39. 122 Ebd., S. 45. 123 Ebd.

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‚vollzogen‘ ist, die dem Ursprünglichen gegenüber, in dem verbleibend Philoso-

phie sich expliziert, sekundär abgesetzt und verdinglicht ist.“124

Die Frage ist aber, ob für Heidegger diese Einsicht in die Unzulänglichkeit der

Idee der Wissenschaft für eine strenge Philosophie wirklich neu gewesen ist.

Wenn man das am faktischen Leben selbst orientierte Denken Heideggers betont

und meint, Heidegger sei durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher zur Ein-

sicht in die Unzulänglichkeit der am Wissen orientierten Phänomenologie Hus-

serls gekommen, erweckt man den Eindruck, daß Heidegger jener Idee der Philo-

sophie als strenger Wissenschaft gegenüber vorher unkritisch gewesen wäre. Das

ist jedoch nicht der Fall; Heidegger hat, wie gezeigt, gleich am Anfang seiner

philosophischen Laufbahn die Frage nach dem Sein selbst als die Aufgabe der

Philosophie bestimmt.

Die Einsicht, daß das Sein nicht als eine Hypostasierung der Eigenschaft eines

Gegenstandes betrachtet werden kann, führte den jungen Heidegger zur scholasti-

schen Seinslehre, in der der Sinn des Seins entscheidend vom in der Existenz

‚wesenden‘ Gott abhängt. Seine Habilitationsschrift ist eine Weiterführung dieser

Frage nach dem Sein selbst und endet mit dem auf eine metaphysische Theologie

verweisenden Schluß; Heidegger spricht von dem „lebendigen Geist“, der „we-

sensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes“ sein sollte.125

Zwar darf man nicht annehmen, daß Heidegger mit seiner Rede vom historischen

Geist bereits eine Hermeneutik des faktischen Lebens im Sinne hatte; die vom

lebendigen Geist ausgehende Theologie ist weder Phänomenologie noch Herme-

neutik; sie ist für den frühen Heidegger eine Metaphysik, die, wie Pöggeler rich-

tig zeigt, an Hegel anknüpft.126 Die Betonung des „historischen Geistes“ zeigt

aber unmißverständlich, daß Heidegger auch in dieser frühen Phase seines Den-

kens jene Gleichsetzung der Philosophie mit der strengen Wissenschafts- oder

Erkenntnistheorie ausdrücklich ablehnt: „Das erkenntnistheoretische Subjekt deu-

tet nicht den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes, geschweige denn

124 M. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, Frankfurt a. M. 1993, S. 11-12. 125 M. Heidegger, Frühe Schriften, Frankfurt a. M., S. 407. 126 Vgl. Ebd., S. 411 ff.

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seinen Vollgehalt. Und erst durch Hineinstellung in diesen erhält das Kategorien-

problem seine eigentliche Tiefendimension und Bereicherung.“127

Es liegt allerdings auf der Hand, daß man alleine mit dem Hinweis auf Heideg-

gers Unterscheidung zwischen Philosophie und Wissenschaft nicht ausreichend

erklären kann, was genau der Anlaß für seine hermeneutische Wende gewesen ist.

Die Religion ist für Heidegger sicherlich deswegen von Bedeutung, weil sie auf

etwas theoretisch Unverfügbares verweist. Diese Erklärung reicht aber nicht aus,

wenn man verständlich machen will, warum der Bezug zu Schleiermacher als

eine Wende des Heideggerschen Denkens bezeichnet werden soll. Hätte Heideg-

ger im Religionsbegriff Schleiermachers nur jene nicht am Wissen orientierte

Dimension des Denkens wiedererkannt, dann würde sein Bezug zu Schleierma-

cher keine große Wende in seiner philosophischen Entwicklung markieren, son-

dern nur eine kurzfristige Übergansphase ohne besondere Bedeutung sein. Hei-

deggers Ablehnung der erkenntnisorientierten Philosophie stellt nämlich über-

haupt keinen besonderen Wendepunkt seines Denkens während seiner frühen

Freiburger Zeit dar. Vielmehr besteht Heideggers hermeneutische Wende darin,

daß er in dieser Zeit die Idee einer Metaphysik des geschichtlichen Geistes auf-

gibt, und daß er den Sinn der Geschichte nun durch die phänomenologische Ana-

lyse des faktischen Lebens erkennen will. Die Bedeutung von Heideggers Ausei-

nandersetzung mit Schleiermacher kann in dieser Hinsicht erst dann richtig er-

kannt werden, wenn man die Frage klärt, ob Heidegger die Religionsphilosophie

Schleiermachers als eine Position aufgefaßt hat, die die Frage nach dem Sinn der

Geschichte von einer Metaphysik des objektiven Geistes befreit und durch eine

Analyse des Seinssinns des faktischen Daseins ersetzt.

Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher markiert in der Tat eine

bedeutende Wende; erst durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher ist Hei-

degger zu der Einsicht gelangt, daß die Phänomenologie im strengen Sinn nur als

Hermeneutik des faktischen Lebens möglich ist. Die Frage ist aber, worin für

Heidegger der Kernpunkt von Schleiermachers Religionsphilosophie besteht.

Was ist der Grund, warum Schleiermachers Religionsbegriff Heidegger auf die

127 Ebd., S. 407.

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Faktizität des Lebens als eigentlichen Gegenstand des philosophischen Denkens

aufmerksam gemacht hat? Was ist der endscheidende Unterschied zwischen sei-

ner Hermeneutik des faktischen Lebens und der Metaphysik des geschichtlichen

Geistes, auf die seine Habilitationsschrift verwiesen hat?

M. E. läßt sich die hermeneutische Wende Heideggers vor allem durch eine neue

Betrachtung der Frage nach dem Sinn der Geschichte charakterisieren. Wie be-

reits betont wurde, darf man die hermeneutische Wende Heideggers nicht

schlechthin als einen Übergang von einer Phänomenologie zu einer Hermeneutik

bezeichnen. Sie ist eher eine Wende innerhalb einer Fragestellung, die Heidegger

noch stärker beschäftigte als die Phänomenologie Husserlscher Prägung. Die Fra-

ge nach dem Sein selbst, deren Antwort Heidegger ursprünglich mit Hilfe einer

Metaphysik des geschichtlichen Geistes zu finden versucht hatte, stellt Heidegger

nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher auf eine neue Weise.

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2. Hermeneutik und Geschichte

Es wurde schon zu Beginn des ersten Kapitels darauf hingewiesen, daß die Ge-

schichtlichkeit des faktischen Lebens der eigentliche Kern der Hermeneutik Hei-

deggers ist. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus von ent-

scheidender Bedeutung für Heideggers hermeneutische Wende.

Pöggeler weist darauf hin, daß Heidegger „das Anliegen der Hermeneutik nicht

primär von der sog. Hermeneutik des Aristoteles nahegebracht worden ist, son-

dern von der Hermeneutik der theologischen Tradition“.128 Damit ist zugleich

ausgedrückt, daß für Heidegger die auf Aristoteles zurückgehende Aussagenlogik

für ein ontologisches Denken, dem es um das Sein selbst geht, unzulänglich ist.

Man kann einen klaren Beleg für diese These in der frühen Freiburger Vorle-

sung vom Wintersemester 1919/20 finden, in der eine Unterscheidung der Welt-

erschlossenheit durch das Da des Daseins in verschiedene Bekundungsgestalten

von Selbstwelt, Mitwelt und Umwelt vorgenommen wird. Diese Vorlesung ist

wohl der erste Versuch Heideggers, seinem hermeneutischen Denken einen eige-

nen systematischen Ansatz zu verleihen. Heidegger selber verweist in einer An-

merkung am Ende des 15. Paragraphen von Sein und Zeit darauf, „daß er die

Umweltanalyse und überhaupt die ‚Hermeneutik der Faktizität‘ des Daseins seit

dem W.S. 1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat.“ 129 Der

Kernpunkt dieser Vorlesung besteht darin, daß das hermeneutische Verstehen

nicht primär auf das Als der begrifflichen Gegenstandbestimmung verwiesen ist,

sondern auf das hermeneutische Als der Bedeutsamkeit, das als solches notwendig

mit einer konkreten, historischen Lebenssituation des Daseins verbunden ist.130

Damit ist Heideggers Einsicht in die Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheits-

begriffes in Sein und Zeit vorweggenommen; die Wahrheit, die seit Aristoteles

ihren Ort in der Übereinstimmung des Urteils mit seinem Gegenstand hat, ist für

eine Fundierung der hermeneutischen Wahrheit unzulänglich.131

128 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 270. 129 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 72. 130 Vgl. M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 110 ff. 131 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 214 ff.

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Hierbei ist wiederum die Geschichtlichkeit entscheidend. Nur dadurch, daß das

Verstehen auf die historische Lebensweise des faktischen Daseins zurückgeführt

wird, wird eine hermeneutische Philosophie möglich, die über den abkünftigen

Wahrheitsbegriff der Aussagenlogik hinaus zum ursprünglichen Phänomen der

Wahrheit gelangt. Die Frage nach dem Wesen der hermeneutischen Wahrheit

hängt also untrennbar mit der Frage nach dem Wesen des Historischen zusammen;

nur wenn man analysiert, was Heidegger unter dem Historischen versteht, kann

man das wirkliche Anliegen seiner hermeneutischen Wende erkennen.

Somit stellen sich in Bezug auf diese Arbeit zwei Fragen: 1. Wie läßt sich Hei-

geggers neues Verständnis der Geschichtlichkeit, das seiner Hermeneutik der

Faktizität zugrunde liegt, bestimmen? 2. Läßt sich diese neue Bestimmung der

Geschichtlichkeit auf seine Beschäftigung mit Schleiermacher zurückführen?

2.1. Das apophantische Als und das hermeneutische Als

Heidegger stellt aus der Prädikation, also der Verwendung von prädikativen Ele-

mentaraussagen zur Beurteilung und näheren Bestimmung eines Subjekts, das Als

als eine Grundstruktur der Aussage heraus. Und dieses Als bezeichnet er im An-

schluß an Aristoteles als ein apophantisches Als, bei dem das Verstehen auf die

Vorhandenheit eines Seienden bezogen ist.132 Das hermeneutische Als ist dage-

gen das ursprüngliche Als, das direkt auf die anfängliche Erschlossenheit des

Seins durch das Da des Daseins bezogen ist.133

Heideggers Unterscheidung zwischen dem apophantischen Als und dem herme-

neutischen Als zeigt, daß seine Existenzontologie von Sein und Zeit in gewisser

Hinsicht weiterhin durch den Ansatz seiner philosophischen Anfangszeit be-

stimmt ist. Heidegger hat in seinen frühen Schriften wiederholt darauf hingewie-

sen, daß das ‚Sein‘ in einem Existenzialsatz nicht schlechthin als eine Eigenschaft

eines Gegenstandes zu verstehen ist. Die Erschlossenheit des Seinssinns, der im

Existenzialsatz zum Ausdruck kommt, muß anfänglicher und ursprünglicher sein

132 Vgl. Ebd., S. 153 ff.; O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., 268 ff. 133 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 158 f.

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als die kategorische Wesensbestimmung eines Gegenstandes. Jeder kategorische

Satz läßt sich, wie Heidegger in Anlehnung an Brentano behauptet, in einen Exi-

stenzialsatz umformen; die kategorische Wesensbestimmung eines Gegenstandes

ist notwendig auf die vorhergehende Erschließung des Seinssinns angewiesen.

Heideggers Unterscheidung zwischen dem apophantischen und dem hermeneuti-

schen Als geht von diesem Grundgedanken aus, den er gleich zu Beginn seiner

philosophischen Laufbahn entwickelt hat.

„Die Aussage“ ist nach Heidegger „als abkünftiger Modus der Auslegung“ zu

verstehen, da das „Was, als welches die Aussage das Vorhandene bestimmt“,

„aus dem Vorhandenen als solchem geschöpft [wird].“ 134 Diese komplizierte

These kann erst dann richtig verstanden werden, wenn man der Existenz im Hei-

deggerschen Sinn gebührend Rechnung trägt; die Existenz, die als Sein des Sei-

enden bei jeder Wesensbestimmung von etwas durch das kategorische Urteil im-

plizit mitgedacht ist, gehört nicht zur Eigenschaft des Vorhandenen. Dieser Ge-

danke ist allerdings nicht neu; er ist, wie schon gezeigt, die eigentliche Hauptthe-

se von Heideggers Dissertation. Heidegger hat auch in seiner Habilitationsschrift

diesen Grundgedanken durch eine Analyse der scholastischen Seinslehre weiter

verfolgt; das Ens, das als das Ganze von etwas nicht schlechthin als Eigenschaft

eines Gegenstandes zu verstehen ist, läßt sich nur als Verweis auf die Existenz

von etwas in der Bewandtnisganzheit von Seienden verstehen. Denn das Bewußt-

sein vom Ganzen eines Seienden setzt notwendig voraus, daß etwas durch die

Privation von anderen Seienden als ein Unum abgesondert wird; und eben deswe-

gen, weil dieses Unum durch eine Absonderung eines Seienden von anderen Sei-

enden (Multum) entsteht, ist die Existenz des Unum notwendig auf das Ganze des

Seins, aus dem es herausgelöst wurde, bezogen und setzt somit in Heideggerscher

Sprache eine Bewandtnisganzheit voraus. Die These, daß die Aussage ein abkünf-

tiger Modus der Auslegung ist, ist nun darin begründet, daß „das begegnende

Vorhandene“ in der apophantischen Auslegung nicht mehr auf diese Bewandtnis-

ganzheit bezogen wird, sondern durch die prädikativen Elementaraussagen „in

seinem So-und-so-vorhandensein bestimmt [wird]“: „Das ‚Als‘ greift in seiner

134 Ebd., S. 153; 158.

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Funktion der Zueignung des Verstandenen nicht mehr aus in eine Bewandtnis-

ganzheit.“135

„Das ‚Als‘“, das primär als die Grundstruktur des Verstehens überhaupt zu be-

zeichnen ist, „wird“ nach Heidegger durch die apophansis (das aufweisende Se-

henlassen von etwas als etwas) „in die gleichmäßige Ebene des nur Vorhandenen

zurückgedrängt“.136 Die Aussage, die apophantisch etwas in seinem So-und-so-

vorhandensein sehen läßt, führt zur „Nivellierung des ursprünglichen ‚Als‘ der

umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung“, da das Als in

einer Aussage „bezüglich seiner Möglichkeiten der Artikulation von Verwei-

sungsbezügen von der Bedeutsamkeit, als welche die Umweltlichkeit konstituiert,

abgeschnitten [ist].“137 Der Grund, warum die Hermeneutik des Aristoteles für

die Hermeneutik der Faktizität unzulänglich ist, liegt also darin, daß das Verste-

hen ursprünglich auf die Dynamik des Lebenszusammenhanges verwiesen ist, in

dem alles Seiende im Bewußtsein der Bewandtnisganzheit alles Seienden ver-

standen wird. Das apophantische Als, das in der Übereinstimmung des Urteils mit

seinem Gegenstand seinen Ort hat, ist nur eine abgeleitete Form der umsichtigen

Auslegung des Daseins, in der das Seiende in bezug auf das Ganze des Seins be-

trachtet wird.

Heidegger stellt in Sein und Zeit diesem bloß theoretisch vorgehenden apophan-

tischen Als der Aussage „das existenzial-hermeneutische ‚Als‘“ gegenüber, wel-

ches als das „ursprüngliche ‚Als‘ der umsichtig verstehenden Auslegung“ situati-

onsgebunden ist.138 In seiner Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 bringt er

noch deutlicher zum Ausdruck, was dieses hermeneutische Als bedeutet; es ist

„das ‚Als‘ der Bedeutsamkeit, das notwendig immer situationsentwachsenes, his-

torisches ist.“139

135 Ebd., S. 158. 136 Ebd. 137 Ebd. Vgl. O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 268 ff. 138 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 158. 139 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 114.

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2.2. Die Bedeutsamkeit

Was ist nun die Bedeutsamkeit? Was heißt es genau, daß das hermeneutische Als

das Als der Bedeutsamkeit ist? In Sein und Zeit kann man verschiedene Definiti-

onen der Bedeutsamkeit finden, die aus der Perspektive des begrifflichen Den-

kens beinahe sinnlose Aussagen darstellen. Die erste Definition der Bedeutsam-

keit gibt Heidegger in §18 von Sein und Zeit, in dem die Weltlichkeit der Welt

durch das Begriffspaar ‚Bewandtnis‘ und ‚Bedeutsamkeit‘ erläutert wird: Die Be-

deutsamkeit ist das „Bezugsganze“ des „Bedeutens“: „Sie ist das, was die Struk-

tur der Welt, dessen, worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht. Das Dasein

ist in seiner Vertrautheit mit der Bedeutsamkeit die ontische Bedingung der Mög-

lichkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der Seinsart der Bewandtnis

(Zuhandenheit) in einer Welt begegnet und sich so in seinem An-sich bekunden

kann.“140

2.2.1 Die Bedeutsamkeit als Zusammenhang der Bezüge des Daseins auf seine

Welt

Auf den ersten Blick scheint diese Definition ein Zirkelschluß zu sein: Die Be-

deutsamkeit ist zuerst als das Bezugsganze des Bedeutens, also des bedeutungs-

verleihenden Aktes des Daseins definiert; dieses Dasein, durch dessen Akt die

Bedeutsamkeit ermöglicht wird, ist selber die ontische Bedingung der Möglich-

keit der Entdecktheit von Seiendem, die die Vertrautheit des Daseins mit der Be-

deutsamkeit voraussetzt. Bei einer genaueren Betrachtung erkennt man jedoch,

daß diese Definition von einer Analyse der kontingenten Struktur der Welter-

schlossenheit durch das Dasein ausgeht; die Struktur der Welterschlossenheit

wird durch die Unterscheidung verschiedener Bezugsmodi des Daseins zur Welt

als ein Bedeutsamkeitszusammenhang aufgefaßt, der als solcher auf die umsichti-

gen Verhaltensweisen des Daseins zu seiner Welt verweist. In §69 spricht Hei-

degger von einem „im umsichtigen Besorgen beschlossene[n] Verstehen einer

Bewandtnisganzheit“, das in einem vorgängigen Verstehen der Bezüge des Um-

140 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 87.

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zu, Wo-zu, Dazu, [und des] Um-willen [gründet].“141 Es folgt eine Aussage, in

der die Bedeutsamkeit klar als ein Zusammenhang von diesen Verhaltensweisen

des Daseins zu seiner Welt (Um-zu, Wo-zu, Dazu, Um-willen) definiert wird:

„Der Zusammenhang dieser Bezüge wurde früher als Bedeutsamkeit herausge-

stellt.“142

Die Bedeutsamkeit ist in diesem Sinn nicht primär auf die Sinnerschlossenheit

eines konkreten Seienden bzw. einer Situation verwiesen; sie ist eher ein formal-

ontologischer Begriff, der eine kontingente Struktur des Weltverstehens und

Welthabens aufweist. Die Welt selber gehört bei Heidegger zur Kategorie der

formalontologischen Begriffe, da ihre Weltlichkeit von der Verhaltensweise des

Daseins zur Welt abhängt: „Das Worin des sichverweisenden Verstehens als

Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist

das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich

verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht.“143 Und schließlich ist

auch das Bedeuten nicht primär auf eine konkrete Aussagesituation verwiesen,

sondern auf die kontingente Struktur der Verhaltensweise des Daseins zu seiner

Welt, durch deren Analyse Heidegger verschiedene Bezüge des Daseins zu seiner

Welt darlegt: „Das Verstehen läßt sich in und von diesen Bezügen selbst verwei-

sen. Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als be-

deuten.“144

Schon in seinen frühen Freiburger Vorlesungen hat Heidegger den Zusammen-

hang der Beziehungen des Daseins auf seine Welt wie in Sein und Zeit als Be-

deutsamkeit bezeichnet. Besonders die Vorlesung vom Wintersemester 1919/20

über die Grundprobleme der Phänomenologie und die Vorlesung vom Winterse-

mester 1920/21 über die Phänomenologie des religiösen Lebens zeigen, daß sich

Heidegger in seiner Freiburger Zeit mit diesem Thema sehr intensiv auseinander-

gesetzt hat.

141 Ebd., S. 364. 142 Ebd. Das Wort ‚früher‘ im Zitat bezieht sich auf §18, S. 87ff. 143 Ebd., S. 86. 144 Ebda., S. 87.

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In Grundprobleme der Phänomenologie ist die „Bedeutsamkeit als Wirklich-

keitscharakter des faktischen Lebens“ schlechthin definiert.145 D. h.: Jede Erfah-

rung, die ich in meinem Leben mache, ist notwendig auf die Bedeutsamkeit ver-

wiesen, die als der Zusammenhang der Beziehungen meines Verhaltens zu mei-

ner Welt zu verstehen ist.

2.2.2. Bedeutsamkeit und Zuhandenheit

Man darf freilich daraus, daß die Bedeutsamkeit primär auf die kontingente

Struktur der Welterschlossenheit bezogen ist, nicht schlußfolgern, daß sie mit den

konkreten Lebenssituationen nichts zu tun hätte. Im Gegenteil: Die Bedeutsam-

keit ist gerade als solche bei jeder konkreten Lebenssituation zu beobachten, und

allein in diesem Sinn ist sie als der Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens

zu bezeichnen. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen: „Teetrinkend nehme ich

meine Tasse in die Hand; im Gespräch habe ich meine Tasse vor mir stehen. Es

ist nicht so, daß ich etwas Farbiges oder gar Empfindungsdaten in mir als Ding

auffasse und dieses Ding als Tasse [betrachte], die in Raum und Zeit bestimmt ist,

etwas, das in Wahrnehmungssukzessionen sich gibt, eventuell auch nicht existie-

ren könnte.“146 Dieses Beispiel zeigt, daß die Bedeutsamkeit eine konkrete Le-

benssituation voraussetzt, in der das Dasein in der Vertrautheit mit der öffentli-

chen Welterschlossenheit lebt. In einer faktischen Lebenssituation nehme ich

nicht ein Ding wahr, das aus dem Fluß der kontinuierlichen Wahrnehmungsdaten

als ein Gegenstand konstruiert wird, sondern eine Tasse, ein Zeug, durch das sich

das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden als etwas Bedeutsames für

meine eigene Lebensführung zeigt. Der entscheidende Punkt von Heideggers

Auffassung besteht nun darin, daß diese Bedeutsamkeit die einzige Möglichkeit

des Daseins ist, die Welt zu erfahren: „‚Meine Tasse, aus der ich trinke‘ – in der

Bedeutsamkeit erfüllt sich ihre Wirklichkeit, sie ist sie selbst. Ich lebe faktisch

immer bedeutsamkeitsgefangen, und jede Bedeutsamkeit hat ihren Umring von

145 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 104. 146 Ebd., S. 104.

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neuen Bedeutsamkeiten: Beschäftigungs-, Beteiligungs-, Verwertungs-, Schick-

salshorizonte.“147

Heidegger hat also in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1919/20 das wichti-

ge Thema von der Zeughaftigkeit des Seins des in der Umwelt begegnenden Sei-

enden in Sein und Zeit vorweggenommen. Die Grundvoraussetzung dafür ist sei-

ne These, daß das Sein des Daseins wesentlich durch die Sorge bestimmt ist; „das

Zeug“ ist dann „das im Besorgen begegnende Seiende.“148 Die Bedeutsamkeit,

die Heidegger als den Sinn der hermeneutischen Auslegung der Welt überhaupt

darlegt, erweist sich in diesem Sinn als die Zeughaftigkeit, die sich aus dem Sein

des Daseins selbst, nämlich aus der Sorge, ergibt.

Heidegger versteht unter der Bedeutsamkeit die zeughafte Erschlossenheit der

innerweltlichen Dinge. Dies ist eine konsequente Folge aus seiner These, daß das

Dasein in einem Bedeutsamkeitszusammenhang lebt, der auf die Bezüge des Da-

seins auf seine Welt – nämlich das Um-zu, Wo-zu, Dazu, Um-willen – verwiesen

ist. Wie die Bedeutsamkeit verweist auch die Zeughaftigkeit auf das Bewandtnis-

ganze der Umwelt, so daß durch die umsichtigen Verhaltensweisen des Daseins

zu seiner Welt diese Welt als ein Verweisungszusammenhang von etwas auf et-

was erschlossen wird: „Ein Zeug ‚ist‘ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug

ist wesenhaft ‚etwas, um zu . . .‘ . Die verschiedenen Weisen des ‚Um-zu‘ wie

Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine

Zeugganzheit. In der Struktur ‚Um-zu‘ liegt eine Verweisung von etwas auf et-

was.“149

147 Ebd., S. 104 f. 148 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 68. 149 Ebd.

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2.3. Das Problem der Heideggerschen Umweltanalyse: Bedeutsamkeit, Wissen

und Denken

Die Zuhandenheit, die bekanntlich in Sein und Zeit als die Seinsart des Zeugs

definiert wird,150 ist für Heidegger die ursprüngliche Möglichkeit des Daseins,

einen Zugang zu dem Sein des Seienden zu erhalten. Seine These, das hermeneu-

tische Als sei das Als der Bedeutsamkeit, ist in diesem Sinn eine Kombination

von drei Annahmen:

1. Die Welterschlossenheit verweist auf die Verhaltensweise des Daseins, die

notwendig eine intentionale Struktur hat (Um-zu, Dazu, Wo-zu, Um-willen).

2. Das Dasein zielt dabei nicht primär auf ein theoretisches Wissen, sondern auf

die praktische Zugangsmöglichkeit zu dem Seienden, dessen Seinsweise als Zu-

handenheit eines Zeugs zu bezeichnen ist.

3. Ein Zeug ist streng genommen nie, da es auf das Bewandtnisganze von etwas

auf etwas verwiesen ist, das notwendig mit dem Sich-befinden des Daseins in

einer jeweiligen, konkreten Lebenssituation verbunden ist.

Heideggers Analyse der Zuhandenheit ist allerdings m. E. höchst problematisch;

sie beruht auf einer abstrakten Trennung zwischen praktischen und theoretischen

Wissen. Genauer gesagt: Heideggers einseitige Betonung des praktischen Zu-

gangs zu dem Sein des Seienden ist nur eine Folge davon, daß die Frage danach,

unter welchen Bedingungen das Erwerben des praktischen Wissens möglich ist,

ausgeblendet wird. Man wird aber wohl annehmen müssen, daß theoretisches

Wissen über die Welt immer schon notwendig ist für praktisches Handeln in der

Welt. Eine einseitige Betonung der praktischen Erschließung der Welt als zuhan-

dene Bewandtnisganzheit ignoriert daher m. E. die Bedeutung des theoretischen

Wissens. Dies soll im Folgenden näher untersucht werden.

150 Vgl.: „Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ‚Handlichkeit‘ des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit“ (Ebd., S. 69.)

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2.3.1. Die Welterschlossenheit im Alltagsleben und das Denken

Es ist auffällig, daß Heidegger die Welterschlossenheit im Alltagsleben als Aus-

gangpunkt seiner Analyse des Bedeutsamkeitszusammenhanges nimmt. In

Grundprobleme der Phänomenologie hebt Heidegger hervor, daß das faktische

Leben ein Leben in der ‚geöffneten Situation‘ ist: „Der Sinn von ‚Existenz‘ liegt

im faktischen Leben in den aktuell erfahrenen, erinnerten oder erwarteten Be-

deutsamkeiten, so daß das so und so bestimmte erinnerungs- oder erfahrungs-

oder erwartungsmäßige Erfahren in einer vollen konkreten Einheit sich vollzieht

(geöffnete Situation). Auch wo in bestimmt Erfahrenem theoretische Momente

stecken, sind diese einschlußweise da, eingegangen in die jeweils lebendige Be-

deutsamkeit. Sie kommen ihrem Eigen-Sinn nach nicht zum Recht; entsprechend

ist auch phänomenal kein theoretisches Verhalten aufweisbar.“ 151 Eine Folge

dieser Annahme ist, daß bei Heidegger die Auffassung des Seinenden als Zuhan-

denheit (z.B. als Tauglichkeit eines Hammers, einer Tasse, eines Stuhls etc.) im-

mer stärker betont wird und die Rolle des theoretischen Wissens vernachlässigt

wird.

Betrachten wir nun genauer, inwiefern man die Seinsweise des Zeugs als Zuhan-

denheit verstehen kann. Ich benutze z.B. einen Stein als einen Hammer, um etwas

zu zerbrechen. Die Voraussetzung für diese Verwendung des Steines ist aller-

dings das vorhergehende Wissen davon, daß der Stein hart ist. Das Wissen von

der Härte des Steines ist genauso wie die Zuhandenheit eines Zeugs auf das Be-

wandtnisganze von etwas auf etwas verwiesen: ohne Vergleich mit den anderen

Seienden ist die Rede von der Härte eines Dinges sinnlos. Kann man nun aber

daraus schlußfolgern, daß die Härte des Steins die Dienlichkeit des Steins als ei-

nes Hammers (Zuhandenheit) aufzeigt? Gewiß: Man kann die Härte des Steins als

die Möglichkeit des Steins verstehen, ein Hammer zu sein. Bedeutet dies nun, daß

der Stein von Anfang an als ein Hammer da gewesen ist? Offensichtlich nicht:

Ohne vorhergehende Erfahrung, durch die mir die Härte des Steins bewußt wird,

habe ich keine Möglichkeit, den Stein als Hammer zu benutzen. D. h.: Die Härte

des Steins zeigt zwar die Möglichkeit, den Stein als ein Zeug zu einem prakti- 151 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 106.

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schen Zweck zu benutzen; dies ist aber nicht primär ein Ausdruck der Zuhanden-

heit des Steins, sondern darin zeigt sich vielmehr das Wesen bzw. die Eigenschaft

eines Dinges, durch die erst die Möglichkeit entsteht, dieses Seiende als ein Zeug

zu benutzen oder es einen ‚Stein‘ zu nennen (‚Stein‘ als ein Name für bestimmte

Dinge, die einen gewissen Grad der Härte als ihre Eigenschaft haben).

Der Irrtum von Heidegger besteht darin, daß er die vielen verschiedenen Mög-

lichkeiten des Daseins, dem Sein des Seienden zu begegnen, auf den praktischen

Bezug des Daseins, auf die Zuhandenheit des Seienden reduziert. Unser Wissen,

daß ein Stein hart ist, ist selbstverständlich kein rein theoretisches Wissen, falls

man darunter ein rein objektives Erkennen verstehen will: schon die Qualität des

Seienden selbst (Härte) läßt die untrennbare Verbindung von dem Wahrnehmen-

den und dem Wahrgenommenen bei jedem Urteil über etwas erkennen. Gerade

weil diese Qualität ohne Vergleich mit den Eigenschaften anderer Dinge sinnlos

ist, ist unser Wissen, daß ein Stein hart ist, von Anfang an auf das Bewandtnis-

ganze von etwas auf etwas verwiesen und insofern sind solche Qualitäten immer

mehr als nur eine Eigenschaft eines Gegenstandes.

Dieses Bewandtnisganze ist aber nicht schlechthin das Bewandtnisganze der

Zuhandenheit, das durch die Verhaltensweise des Daseins auf das Sein des Sei-

enden in der Form von Um-zu, Dazu, Wo-zu und Um-willen ermöglicht wird. So

kann beispielsweise ein Wissen über Eigenschaften eines Gegenstandes auch

durch Zufall entstehen: Zufällig habe ich entdeckt, daß etwas sehr klebrig ist.

Dabei ist die Erfahrung, daß es klebrig ist, mit einem unangenehmen Gefühl ver-

bunden, da meine Hände durch das Berühren des Gegenstandes klebrig wurden.

Somit wird man zwar auch bei diesem Beispiel sagen können, daß auch dieses

Wissen mit meinen Intentionen verbunden ist: Es gehört zu meiner Absicht, das

Entstehen dieses unangenehmen Gefühls zu vermeiden. Das Wissen von der

Klebrigkeit des Gegenstandes habe ich aber zuerst durch das zufällige Offenbar-

werden seiner Eigenschaften erhalten, durch das ich dann natürlich auch die Mög-

lichkeit habe, dieses Wissens nun für meine Absichten zu nutzen, d. h. in diesem

Fall werde ich beispielsweise weitere Berührungen mit solchen Gegenständen in

Zukunft vermeiden. Mit anderen Worten: Das Wissen ist primär eine Entdeckung

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der Eigenschaften eines Dinges, durch die wir allein einen Zugang zum Sein des

Seienden haben können. Und die Zuhandenheit, die wir in unserem Alltagsleben

als eine Zugangsmöglichkeit zum Sein des Seienden haben, ist eigentlich nur ein

nachträgliches Phänomen gegenüber dieser Entdeckung.

Der m. E. folgenreichste Irrtum von Heidegger besteht darin, daß er aus der kon-

tingenten Struktur des praktischen Wissens paradigmatisch den Modus des Den-

kens überhaupt ableitet. Betrachten wir ein weiteres Beispiel: Ich habe gestern ein

seltsames Geräusch gehört, das ich mir zuerst nicht erklären konnte. Nach einer

längeren Überlegung vermute ich, daß dieses Geräusch vielleicht von einem Ra-

dio verursacht wurde, das unter das Bett gefallen ist. Nachdem ich unter dem Bett

das klingende Radio gefunden habe, weiß ich, daß das Geräusch tatsächlich aus

dem Radio kam. Dabei ist meine Absicht, die Ursache für das unbestimmte Ge-

räusch zu finden, von meinem praktischen Interesse geleitet: das Geräusch verur-

sacht in mir möglicherweise Angst, Neugierde oder Streß usw. Und das Wissen,

daß die Ursache für das Geräusch das Radio ist, ist in diesem Sinn ein praktisches

Wissen, mit dem ich mein praktisches Interesse erfüllen kann. Kann man aus die-

ser Verbindung des Wissens mit lebensweltlichen Absichten ableiten, daß das

Denken in jedem Fall notwendig und schlechthin ein praktisches Denken ist?

Offenbar nicht. Denn ohne die Beziehung auf die Sachrelationen selbst, in denen

etwas unabhängig von meinem eigenen Willen oder Lebensinteresse geschieht,

kann ich nicht zu einem Wissen gelangen, das für meine praktischen Lebensinte-

ressen dienlich sein kann. D. h.: Das reine Denken, das rein im Sinn der Unredu-

zierbarkeit auf das praktische Interesse des Lebens ist und als solches um des

Denkens selbst willen vollzogen wird, ist die notwendige Voraussetzung für die

Möglichkeit, ein Wissen zu haben und dieses Wissen dem praktischen Interesse

dienlich zu machen.

Freilich ist die Bedeutsamkeit im Sinne Heideggers, die durch das praktische

Verhalten des Daseins zu seiner Umwelt erschlossen ist, auch dann implizit vor-

handen, wenn es um rein theoretisches Wissen geht und man wird auch darin

Heidegger zustimmen können, daß das Wissen, das angeblich ein rein theoreti-

sches Wissen von etwas ist, im faktischen Leben in die jeweils lebendige Bedeut-

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samkeit eingegangen sein muß, um überhaupt als Wissen wirksam sein zu können.

Aber das Denken zielt nicht schlechthin auf ein Wissen, das wie ein fertiges Pro-

dukt für eine praktische Anwendung da ist. Das Denken legt vielmehr davon

Zeugnis ab, daß unser Leben stets von der Unwissenheit begleitet wird, die auch

in der Form der Anerkennung der Unreduzierbarkeit des Seins auf den Bedeut-

samkeitszusammenhang unseres Lebens zum Bewußtsein kommt.

2.3.2. Das vortheoretische Etwas und die Unheimlichkeit des Lebens

In Grundprobleme der Phänomenologie betont Heidegger in bezug auf das Phä-

nomen der Erfahrung von etwas Fremden, daß auch diese Erfahrung von etwas

gleichsam ‚Bestimmungslosen‘ selber auf einen bestimmten Bedeutsamkeitszu-

sammenhang verwiesen ist: „Auch das ‚etwas‘, das ich so erfahre, das ich als

bestimmungslos, unbestimmt erfahre, erfahre ich in der Unbestimmtheit eines

bestimmten Bedeutsamkeitszusammenhangs […].“152 Einerseits kann man dieser

These durchaus zustimmen, da etwas immer nur unbestimmt ist vor dem Hinter-

grund dessen, was ich schon weiß. Andererseits ist Heideggers Beschreibung der

verschiedenen Möglichkeiten, mit denen man auf eine fremdartige Erfahrung

reagieren kann, m. E. eine unangemessene Vereinfachung. Ich höre „ein ‚uner-

klärliches‘ Geräusch im Zimmer (‚es ist etwas nicht in Ordnung‘, ‚es ist etwas

nicht geheuer‘).“153 Mit diesem Beispiel will Heidegger auf die „Unheimlichkeit

des Lebens“ hinweisen, die nach ihm ebenfalls ein Bestandteil der Bedeutsamkeit

des Lebens ist.154 Die Unbestimmtheit, die beim Hören eines unerklärlichen Ge-

räusches entsteht, ist in dieser Hinsicht ein Beispiel für ein unheimliches Moment

des Lebens im Sinne Heideggers.

Allerdings erkennt Heidegger nicht an, daß die Erfahrung von etwas Fremden

notwendig eine gewisse theoretische Reflexion auf eine mögliche gegenständli-

che Erklärung der unerklärten Erfahrung zur Folge hat: „Dieses ‚Etwas‘ des fakti-

schen Erfahrens hat seinem Sinngehalt und seiner Sinnfunktion nach nicht das

152 Ebd. 153 Ebd. 154 Ebd., S. 107.

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mindeste zu tun mit dem formallogischen Etwas der Gegenständlichkeiten, das

Korrelat ist des freien Prozesses der Formalisierung, der frei ist, weil er sinngene-

tisch an keine bestimmte Stufe der Theoretisierung gebunden ist.“155 Er versteht

sogar unter den fremden Erfahrungen des faktischen Lebens den Inbegriff dessen,

was im Leben als etwas Unheimliches vorkommt, das angeblich weder dem theo-

retischen Denken noch dem Denken im faktischen Bedeutsamkeitszusammen-

hang zugänglich werden könne: „Während im Sinne des formallogischen Etwas

überhaupt [...] absolute und radikalste Unterbindung faktisch lebendigen perso-

nalen Lebensbezugs (‚Leer‘-form) [liegt], trägt das vortheoretische Etwas die

höchste potentielle und volle Unheimlichkeit des Lebens und zwar seiner un-

durchsichtigen, aber doch lebendigen Erwartungszusammenhänge, ohne daß ge-

rade die geringste Abgehobenheit des besonderen Welt- und Erfahrungsstils vor-

läge.“156

Heidegger versteht also offenbar unter unbestimmten, fremden Erfahrungen et-

was Unheimliches, mit dem das Dasein stets nur auf eine vortheoretische Weise

umgehen könne. M. E. ist diese Interpretation der Fremdheitserfahrung nicht dif-

ferenziert genug. Heidegger ignoriert die Art, in der das Dasein mit solchen Er-

fahrungen wirklich umgeht, indem er diese Erfahrungen schlechthin als ein Zei-

chen der Unheimlichkeit des Lebens interpretiert. Zwar wird man nicht leugnen

wollen, daß das Leben Momente der Unheimlichkeit hat, die die Grenze des Den-

kens und des Erklärbaren überschreiten. Aber die Erfahrung von etwas Unbe-

stimmten ist m. E. nicht primär als ein Bewußtsein von der Unheimlichkeit zu

verstehen, gegenüber der das Denken ohnmächtig sei. Sie ist eher als ein Anlaß

zu betrachten, der das Dasein für seine eigene Lebensführung stets zum richtigen

Denken (d. h. zu einer Erklärung der fremden Erfahrung) auffordert. Diese Erklä-

rung kann nur durch eine theoretische Ausrichtung des Daseins auf die Sache

selbst geleistet werden. Die Unbestimmtheit hat in diesem Sinn eine richtungs-

weisende Funktion für das Dasein, durch die das Worauf des Bewußtseins beim

Denken offenbar wird; auf die Identität von Sein und Denken muß ich ausgerich-

155 Ebd., S. 106 f. 156 Ebd., S. 107.

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tet sein, da etwas, was in meinem Bewußtsein vorgestellt wird, oder die Sachlage,

die als eine so oder so seiende Relation von Seienden verstanden wird, von mei-

nem Willen und Lebensinteresse unabhängig existiert. Ich höre ein seltsames Ge-

räusch, dessen Ursache ich jetzt nicht erklären kann. Die Unbestimmtheit, die ich

beim Hören dieses unerklärlichen Geräusches habe, ist nicht bloß eine abstrakte

‚Unheimlichkeit‘, sondern eher eine Motivation zum Nachforschen und Nach-

denken über die Ursachen dieses Geräusches, durch die mein Bewußtsein auf die

Sachrelation selbst ausgerichtet wird, in der etwas unabhängig von meinem Wil-

len und Lebensinteresse geschehen ist; ich gehe über meinen vertrauten Umgang

mit der Bedeutsamkeit hinaus zur unbekannten Sachrelation selbst. Erst nachdem

das Geräusch sich als etwas erwiesen hat, was ich mit meinem eigenen Denkver-

mögen überhaupt nicht erklären kann, stellt sich das Gefühl der Unheimlichkeit

ein.

2.4. Das faktische Leben und die Geschichte

Heideggers Analyse der Bedeutsamkeit ist aber insofern für unseren Zusammen-

hang interessant, als daß sich darin ein neues Verständnis der Geschichte zeigt,

das sich bis zu seiner Freiburger Zeit nicht bei Heidegger nachweisen läßt. Die

Geschichte ist, wie bereits gezeigt, auch in seiner Habilitationsschrift das zentrale

Thema. Die Geschichte wird dort aber als die Geschichte des lebendigen Geistes

aufgefaßt, der als wahres Subjekt der Weltanschauungen der Zeitlichkeit des Le-

bens eine metaphysische und teleologische Dimension geben soll: „Der lebendige

Geist ist als solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wor-

tes. Die wahre Weltanschauung ist weit entfernt von bloßer punktueller Existenz

einer vom Leben abgelösten Theorie. Der Geist ist nur zu begreifen, wenn die

ganze Fülle seiner Leistungen, d. h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird,

mit welcher stets wachsenden Fülle in ihrer philosophischen Begriffenheit ein

sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Gei-

stes Gottes gegeben ist. Die Geschichte und deren kulturphilosophisch-

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teleologische Deutung muß ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kate-

gorienproblem werden […].“157

Das Geschichtliche ist in seiner Hermeneutik der Faktizität nun aber nicht mehr

auf einen absoluten Geist bezogen, der sich im Sinne Hegels in der Geschichte

entfaltet; sondern auf die jeweilige Seinssituation des Daseins selbst, in der das

Dasein sich in seinem selbstweltlichen Vollzug zeigt.

2.4.1. Die Selbstgenügsamkeit und Unruhe des faktischen Lebens

Das Dasein befindet sich nach Heidegger nun in einem Spannungsverhältnis zwi-

schen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit; die eigentliche Seinsweise läßt sich

nicht mehr als Ausdruck eines souveränen Geistes verstehen, der dem praktischen

Sinnzusammenhang des Alltagslebens autonom gegenübersteht, sondern die ei-

gentliche Seinsweise ergibt sich aus der faktischen Lebensbewegtheit des Daseins

selbst, die vom umsichtigen, praktischen Umgang des Daseins mit seiner Umwelt

abhängig ist. Alle zentralen Ansätze der Problematik des Alltagslebens in Sein

und Zeit, mit denen Heidegger dort die Struktur des Daseins analysiert und dabei

die Alltäglichkeit als die fundamentale Seinsart des Daseins in seiner jeweiligen

Seinssituation darlegt, finden sich somit bereits in der Vorlesung vom WS

1919/20. Besonders im zweiten Kapitel des ersten Teils kann man deutlich er-

kennen, daß Heidegger in dieser Vorlesung die ersten Ansätze der existenzonto-

logischen Analyse des Alltagslebens in Sein und Zeit entwickelt hat. Hier betont

er den „Situationscharakter der Selbstwelt“, die in der „Selbstgenügsamkeit“ ih-

ren eigenen „Grundcharakter“ habe.158 Die Selbstgenügsamkeit wird als ein dy-

namisches Moment des Lebens aufgefaßt, 159 sich von der „Unruhe des Le-

bens“ zu befreien und nach einer möglichen „Ruhefindung“ zu streben; 160 das

Sein des Daseins wird hier durch den sorgenden Umgang mit der Umwelt charak-

157 M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 407f. 158 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 62; 63. 159 Vgl. H. Vetter, ‚Grundbewegtheit des faktischen Lebens und Theoria. Zu Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen und zur ‚theologischen Jugendschrift‘‘, in: ders. (Hrsg.), Heidegger und das Mittelalter, a.a.O., S. 90 ff. 160 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 63.

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terisiert, bei dem das Dasein eine Bewegung, ein Hin- und Her zwischen der Un-

ruhe des Lebens und der möglichen Ruhefindung vollzieht. Hierin liegt der erste

Ansatz für Heideggers wichtige Einsicht in die untrennbare Verbindung des ei-

gentlichen und des uneigentlichen Selbstseins; daraus, daß die Bewegung des

Daseins ein Hin- und Her zwischen der Unruhe des Lebens und der möglichen

Ruhefindung ist, entsteht die existenzontologische Notwendigkeit, die alltägliche

Sinnerschlossenheit des Seins als einer Bewandtnisganzheit von Zuhandenheiten

als Ausgangpunkt des Daseinsentwurfs auf die Selbstwelt zu betrachten. Mit an-

deren Worten: „Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abge-

lösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existenzielle Modifikation

des Man als eines wesenhaften Existenzials.“161

Heideggers These in Grundprobleme der Phänomenologie, das hermeneutische

Als der Bedeutsamkeit sei ein situationsentwachsenes, historisches, ist ein Beleg

dafür, daß Heidegger in seiner frühen Freiburger Zeit eine entscheidende Wende

vollzogen hat, durch die sein früheres Geschichtsverständnis überwunden worden

ist, das an der Logik der Begriffsbildung orientiert war. Die Dynamik der Selbst-

genügsamkeit, in der sich das Dasein in seinem Bewegtheitscharakter, in einem

steten Hin- und Her zwischen der Unruhe des Lebens und der möglichen Ruhe-

findung zeigt, ist der Ursprung für die existenzontologische Analyse der Ge-

schichtlichkeit; sie weist auf die existenziale Struktur der „Selbständigkeit“ hin,

die nach der Auffassung von Sein und Zeit als „eine Seinsweise des Daseins“ zu

verstehen ist und „deshalb in einer spezifischen Zeitigung der Zeitlichkeit [grün-

det].“162 Gerade diese selbstweltlich geschehende Bewegtheit des Daseins ist der

wirkliche Ursprung der Geschichtlichkeit; und wenn die Geschichte auf diesen

Ursprung der spezifischen Zeitigung der Zeitlichkeit durch den selbstweltlichen

Vollzug des Daseins zurückgeführt wird, ist schon „damit über den Ort des Prob-

lems der Geschichte entschieden.“163

161 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 130. 162 Ebd., S. 375. 163 Ebd.

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2.4.2. Die Selbstwelt und die Geschichte

Heidegger versteht also das hermeneutische Problem der Geschichte als ein

selbstweltliches. Daran erkennt man sehr gut, daß Heideggers Denken zwischen

seiner frühen Freiburger Zeit und der Zeit der Publikation von Sein und Zeit eine

große Kontinuität hat. In Sein und Zeit betont Heidegger nachdrücklich, daß die

Geschichte im philosophischen Sinn nicht objektgeschichtlich verstanden werden

soll. Der Ort des Problems der Geschichte „darf nicht in der Historie als der Wis-

senschaft von der Geschichte gesucht werden“.164 Denn die ursprüngliche Ge-

schichtlichkeit im selbstweltlichen Vollzug des Daseins wird sowohl durch die

Logik der objektgeschichtlichen Begriffsbildung, als auch durch die Orientierung

an den historischen Ereignissen als spezifischen Objekten eines wissenschaftli-

chen Bewußtseins verstellt: „Selbst wenn die wissenschaftstheoretische Behand-

lungsart des Problems der ‚Geschichte‘ nicht nur auf ‚erkenntnistheoreti-

sche‘ (Simmel) Klärung des historischen Erfassens oder die Logik der Begriffs-

bildung historischer Darstellung (Rickert) abzielt, sondern sich auch nach der

‚Gegenstandsseite‘ orientiert, so wird in dieser Fragestellung die Geschichte

grundsätzlich immer nur als Objekt einer Wissenschaft zugänglich.“165 Dieser

Gedanke, daß der Sinn der Geschichte in philosophischer Hinsicht nicht in den

historischen Gegebenheiten als dem Gegenstand für eine wissenschaftliche Un-

tersuchung ihren Ursprung hat, sondern in der selbstweltlichen Bewegtheit des

Daseins, ist der Hauptgedanke seiner Freiburger Vorlesungen.

In der Vorlesung vom Sommer-Semester 1920 – mit dem Titel: Phänomenologie

der Anschauung und des Ausdrucks – spricht Heidegger von der „Strenge der

Philosophie“, die „ursprünglicher als alle wissenschaftliche Strenge“ sein soll.166

Diese philosophische Strenge besteht ihm zufolge darin, daß kein absoluter Aus-

gangspunkt des sicheren Wissens angenommen wird. „Wir haben […] weder ein

absolutes Bewußtsein, noch eine absolute Faktizität“; nur „das Selbst im Erfahren

seiner selbst ist die Urwirklichkeit“, die eine strenge Philosophie als ihren Aus-

164 Ebd. 165 Ebd. 166 M. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, a.a.O., S. 174.

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gangspunkt nehmen soll.167 Damit hat er deutlich gemacht, daß die selbstweltli-

che Existenzweise des Daseins der Ausgangspunkt seines hermeneutischen Den-

kens ist.

Im Anhang A der Grundprobleme der Phänomenologie werden die „konkrete[n]

Ausdrucksgestalten des Geistes“ erwähnt, die der eigentliche Untersuchungsbe-

reich der phänomenologischen Forschung sein sollen. 168 In diesem Gedanken

weist Heideggers Hermeneutik sowohl eine Kontinuität als auch Unterschiede zu

seiner früheren Philosophie auf.

Heidegger hat sich in seiner Habilitationsschrift sehr intensiv mit der Unter-

scheidung des Demonstrativpronomens in das „Demonstrativum ad sensum“ („il-

le currit“) und das „Demonstrativum ad intellectum“ („haec herba crescit in horto

meo“) bei Duns Scotus beschäftigt.169 Dabei liegt der Hauptpunkt seiner Ausfüh-

rungen darin, daß das Demonstrativum ad intellectum (haec) nicht primär auf die

Vorhandenheit eines Gegenstandes zurückzuführen ist, sondern eher auf die je-

weilige Seinssituation des Geistes. Heidegger will in Anlehnung an diese Lehre

von Duns Scotus zeigen, daß die Sprache in ihrem lebensweltlichen Ursprung

notwendig den Charakter der Jeweiligkeit hat. Die Personalpronomen bei einem

wirklichen Gespräch sind ein typisches Beispiel dafür, daß jede Sprechsituation

auf das Sein eines individuellen Einzelwesens verwiesen ist. Zwar bleibt die Be-

deutungsfunktion eines Pronomens bei jedem Einzelsatz identisch; aber die Be-

ziehung auf eine bestimmte Person, die bei dem Gebrauch eines Pronomens in-

tendiert ist, kann nicht identisch bleiben, da sie von der Situation abhängt. Mit

anderen Worten: „Die Bedeutungsfunktion“ von Pronomen „ist eine ganz be-

stimmte, die Erfüllung eine jeweils andere, so oft ein anderes Ich die Bedeutung

aktualisiert.“170 Dieser Gedanke läßt sich auch in Heideggers späterer Daseins-

analyse wiederfinden. Er will einerseits zeigen, daß die Phänomenologie „den

echten lebendigen Ursprung nicht in einem letzten leeren Allgemeinen [sucht],

sondern in diesen oder jenen konkreten Gestaltwesen“, die mit verschiedener Be-

167 Ebd., S. 174. 168 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 147. 169 M. Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 318. 170 Ebd., S. 319.

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deutung erfüllt werden können.171 Aber solche Pronomen wie „dies“ und „je-

nes“ sind „nicht wahllos aufgegriffen[e Wörter], sondern durch die rein deforma-

tive Kritik gewonnen“; sie sind durch das Da des Daseins „geoffenbarte Sinnbe-

züge“, „die als reine Ausdrucksgestalten des Lebens“ selbst bei jeder konkreten

Seinssituation gegeben sind; die Bedeutungsfunktion dieser Wörter ist also be-

stimmt, obwohl ihre konkrete Bedeutung je nach der spezifischen Lebenssituation

anders ist. 172

Allerdings ist Heideggers Analyse der Jeweiligkeit, die jede auf eine wirkliche

Lebenssituation bezogene Aussage kennzeichnet, in seiner Habilitationsschrift

hauptsächlich von einem erkenntnistheoretischen Interesse geleitet. In der Selbst-

anzeige zu seiner Habilitationsschrift weist er selber darauf hin, daß er im II. Teil

(Bedeutungslehre) versucht hat, „die prinzipiellen Thesen über Akt und Aktsinn

der Bedeutungs- und Erkenntnisakte, weiterhin die Grundformen von Bedeutung

überhaupt […] herauszuarbeiten“; während er im ersten Teil (Kategorienlehre)

„die allgemeinsten Gegenstandbestimmtheiten überhaupt“ dargelegt hat.173 Seine

hermeneutische Analyse der Ausdrucksgestalten des Lebens orientiert sich dage-

gen nicht primär an der Möglichkeit des Erkennens, nämlich wie der Erkenntnis-

akt in der jeweiligen Seinssituation geleistet wird, sondern an dem selbstweltli-

chen Vollzug des Daseins selbst; das Dasein ist nun nicht mehr als ein Subjekt

eines Erkenntnisaktes aufzufassen, sondern als ein Entwurf auf die Selbstwelt, der

durch die Unruhe des Lebens selbst motiviert wird.

171 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 147-148. 172 Ebd. 173 M.Heidegger, Frühe Schriften, a.a.O., S. 412.

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Exkurs: Schleiermachers Begriff des reinen Denkens und Heideggers Begriff

des Bedeutens

Den aufmerksamen Lesern wird sicherlich bekannt sein, daß zwischen dem Den-

ken Schleiermachers und dem Heideggers ein großer Unterschied besteht; zwar

verweist für Schleiermacher das Verstehen ebenso wie für Heidegger notwendig

auf den einen konkreten, historischen und faktischen Lebenszusammenhang; er

ist aber zugleich derjenige Philosoph, der gerade aus der untrennbaren Verbin-

dung von Wissen und Lebensinteresse, die Heidegger etwas zu voreilig als ein

untrügliches Indiz für den wesentlichen Zuhandenheitscharakter des Seienden für

das Dasein betrachtet, die philosophische Notwendigkeit erwiesen hat, das reine

Denken als ein fundamentales Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins

anzunehmen. Das reine Denken, das nicht um des praktischen Interesses willen

geleistet wird, sondern um des Denkens selbst willen, soll nach Schleiermacher

„in jedem einzelnen schon in und an dem anderen Denken vorhanden“ sein.174

Einerseits betont Schleiermacher – wie Heidegger – die notwendige Mitgesetzt-

heit des praktischen Lebensinteresses beim Denken, die man auf das Verhältnis

Daseins zu seiner Umgebung zurückführen kann: „Sobald aber die Empfindungs-

und Begehrungszustände einen begleitenden Ausdruck gewinnen, der uns,

gleichviel jetzt, ob mit Recht oder Unrecht, nicht mehr als eine rein mechanische

Rückwirkung erscheint, so setzen wir voraus, daß diese Zustände vorgestellt wer-

den, und dies schreiben wir dem geschäftlichen Denken zu, insofern diese die

Verhältnisse zwischen dem Einzelwesen und seinen Umgebungen insgesamt aus-

drückt, sowohl wie sie sind, als wie sie angestrebt werden.“175 Ein geschäftliches

Denken kommt aber niemals ohne Verbindung mit dem künstlerischen Denken

einerseits und dem reinen Denken andererseits zustande.

Das künstlerische Denken ist bei jedem wirklichen Bewußtsein mitgesetzt, da

alles, was im Bewußtsein vorgestellt wird, die Tätigkeit des Daseins („das freie

174 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 24. 175 Ebd., S, 30.

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Bilden und Vorstellen“) voraussetzt, durch die die „künstlerischen Hervorbrin-

gungen“ der Vorstellung aus den „Sinnesdaten“ ermöglicht werden.176

Das reine Denken ist ebenfalls notwendig bei jedem wirklichen Bewußtsein mit-

gesetzt, da unser Bewußtsein stets von einer gewissen Unbestimmtheit begleitet

werden muß, welche auf etwas, worauf das Bewußtsein bei einem aktuellen

Denkvorgang ausgerichtet ist, verweist: das Seinsganze, in dem etwas unabhän-

gig von meinem Willen und Lebensinteresse geschieht. Die Vorstellung selbst,

die durch die zusammenhängende Wirkung von dem geschäftlichen und dem

künstlerischen Denken zustande kommt, ist zugleich ein Beleg dafür, daß das

Dasein gerade in seinem Handeln aus dem praktischen Lebensinteresse auf die

Sache selbst ausgerichtet sein muß. Denn im aktuellen Denkprozeß hat diese

Ausrichtung gerade als ein dem praktischen Lebensinteresse dienlich seiendes

Wissen zugleich eine richtungsweisende Funktion, durch die im Inneren des Da-

seins ein Streben nach der Identität von der Vorstellung und dem vorgestellten

Seienden entsteht: „In dem Setzen der Gegenstände und des Vonaußenbestimmt-

seins aber ist schon eine Richtung auf das Wissen und auf das Bestimmen des

Seins. Denn das eben beschriebene Interesse des Subjekts hat es nur mit den Zu-

ständen desselben zu tun, wie sie durch die momentanen Veränderungen des Au-

ßer-ihm bestimmt werden.“177

Diese Einsicht ins dialektische Wesen des menschlichen Bewußtseins ist von

grundlegender Bedeutung für das Wesen der Religion im Sinne Schleierma-

chers.178 Unser Selbstbewußtsein muß gerade deswegen notwendig vom Abhän-

176 Ebd. 177 Ebd. 178 In seiner Kritik an E. Brunner (und F. Flückiger) weist D. Offermann darauf hin, daß Brunner das unmittelbare Selbstbewußtsein irrtümlicherweise aus der Dialektik abgeleitet habe. Offer-mann zufolge zeichnet sich Brunners Schleiermacher-Interpretation wesentlich durch „eine ge-schlossene Gleichungskette“ der Begriffe aus, die der Religionsphilosophie Schleiermachers nicht gerecht werden kann: „Gefühl (als ganz und gar der Empfänglichkeit angehörend) = völlige Pas-sivität = Selbstbewußtsein (Indifferenzpunkt von Wissen und Wollen [Definition der Dialektik!]) = Bewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit. Unter dieser Voraussetzung muß man ja in der Aporie enden: ‚Gefühl war also zuerst etwas ganz Passives und Gegenstandsloses.; mit einem Male wird es aber zum Denker, und zwar zum Denker hochabstrakter Gedanken‘.“ (D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 48; Vgl.; E. Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, S. 65 ff.) Offermann möchte dann seine Kritik an dieser unzulänglichen Gleichsetzung der Begriffe dahingehend erweitern, daß das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl in der Glaubenslehre nicht einfach aus der Analyse des Abhängigkeitsgefühls bzw. des Selbstbe-

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gigkeitsgefühl begleitet werden, da das Worauf des Denkens voraussetzt, daß

alles, was in meinem aktuellen Bewußtsein vorgestellt wird, durch das Sein außer

mir mitbestimmt ist. In seiner Glaubenslehre weist er darauf hin, daß „das from-

me Gefühl überhaupt nur zur Erscheinung kommt, d. h. wirkliches zeiterfüllendes

Selbstbewußtsein wird, indem es sich mit einem bestimmten Moment des sinnli-

chen Selbstbewußtseins einigt: so ist auch jede Beschreibung desselben die eines

bestimmten innern Gemüthszustandes, und dies ist die ursprüngliche Form“ des

frommen Gefühls.179 Das fromme Gefühl ist in diesem Sinn ein Ausdruck, den

Schleiermacher in seiner Dialektik der notwendigen Selbstausrichtung jedes wirk-

lichen Bewußtseins auf die Sache selbst gegeben hat: „Da aber jede Bestimmtheit

des sinnlichen Selbstbewußtseins auf ein bestimmendes außer dem Bewußtsein

zurückweist, welches Aeußere wegen des allgemeinen Zusammenhanges nur als

ein Theil des Gesammtseins auftritt“, muß das Selbstbewußtsein durch ein from-

mes Gefühl begleitet werden, das nur insofern fromm ist, solange das Bewußtsein

auf das gesamte Sein, in dem sich das im sinnlichen Bewußtsein vorkommende

Äußere befindet, bezogen ist.180 Schleiermacher bringt also mit seinem Begriff

des Abhängigkeitsgefühls die Bezogenheit des Selbstbewußtseins auf das Be-

wandtnisganze des Seienden zum Ausdruck, und als Gefühl wird dieses Ausge-

wußtseins in der Dialektik abgeleitet werden darf. Dabei liegt die Pointe darin, daß das unmittel-bare Selbstbewußtsein nicht einfach mit dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verwech-selt werden darf: „[W]ir bezweifeln schon die Gültigkeit der oft wie selbstverständlich genannten Beziehung ‚unmittelbares Selbstbewußtsein‘ = ‚Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‘.“ (D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 50) M. E. kann man diesen Ausführungen im wesentlichen zustimmen, auch wenn eine solche strikte Trennung der Glaubenslehre und der Dialektik allerdings problematisch ist: Das unmittelbare Selbstbewußtsein bezieht sich, wie Offermann selbst richtig darstellt, einerseits auf das Bewußt-sein des Einzelnen von seinem Sein-in-der-Welt, andererseits auf das von Bewußtsein seines Sein-in-Gott. Es versteht sich von selbst, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein nur im zweiten Sinn als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit verstanden werden kann. (Vgl.; Ebd., S. 53 ff.) Man sollte aber m. E. dennoch davon ausgehen, daß die Glaubenslehre und die Dialektik voneinander abhängen. Damit ist nicht nur gemeint, daß die Dialektik primär am Denken orien-tiert sei, während die Glaubenslehre primär am Religionsgefühl ausgerichtet sei, wobei das Den-ken und das Religionsgefühl nur zwei Seiten einer Medaille seien. Vielmehr besteht die eigentli-che Pointe der Beziehung zwischen Dialektik und Religionsphilosophie darin, daß für Schleier-macher sowohl das Denken als auch die Religion wesensmäßig auf die gemeinschaftliche Lebens-führung zurückzuführen sind; Schleiermacher weist dem Gespräch die religionsstiftende Funktion zu, und dies ist der Grund, warum seine Glaubenslehre nur in bezug auf seine Dialektik richtig verstanden werden kann. 179 F. Schleiermacher, Der Christliche Glaube, a.a.O., S. 119. 180 Ebd.

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richtetsein des Bewußtseins auf die Sachrelation selbst deswegen bezeichnet, weil

die Beziehung auf das Sein notwendig die Form des Glaubens hat: das Ganze des

Seins kann niemals zum Gegenstand eines begrifflichen Denkens werden, son-

dern umgekehrt muß jedes Denken im Grunde auf die Selbstausrichtung des Da-

seins auf das Ganze des Seins selbst verwiesen sein, das im Selbstbewußtsein in

der Form eines unmittelbaren Gefühl des Seins bewußt ist.

Der entscheidende Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger besteht

also darin, daß jener aus der kontingenten Struktur des Wissens selbst, daß es

notwendig mit einem etwa selbstweltlichen Vollzug des Daseins verbunden ist, die

Identität von Denken und Sein (Wissen) als Ideal jedes wirklichen Denkens ablei-

tet; gerade wegen der Mitgesetztheit des Lebensinteresses beim Erkennen muß

das Dasein in seinem wachen Bewußtsein notwendig nach der Identität von Den-

ken und Sein streben, da ohne diese Identität kein Erfolg der Handlung gewähr-

leistet werden kann. Heidegger dagegen trennt das Gebiet der vertrauten Bedeut-

samkeit im faktischen Leben abstrakt von dem Gebiet der Unbestimmtheit; er

berücksichtigt nicht, daß das Phänomen der Unbestimmtheit nicht schlechthin als

ein Zeichen der Unheimlichkeit des faktischen Lebens zu verstehen ist, sondern

eher als eine Motivation zum reinen Denken aufzufassen ist, die das Dasein bei

jeder konkreten Lebenssituation haben muß. Das Bedeuten, das im Heidegger-

schen Sinn auf den sorgenden Bezug des Daseins auf seine Umwelt – auf die Be-

deutsamkeitsverhalte wie Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen – bezogen ist, läßt

sich zwar als ein fundamentales Moment jedes wirklichen Denkens verstehen; die

radikale Reduktion des verstehenden Vollzugs des Daseins auf die Bedeutsam-

keitsverhalte, die als solche den Zuhandenheitscharakter des Seienden in der

Welterschlossenheit voraussetzt, ist aber widersinnig und entspricht nicht der

Vollzugsform des wirklichen Denkens.

Ferner darf man hierbei nicht ignorieren, daß sowohl das Denken als auch das

Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher nur in bezug auf das gemeinschaftliche

Leben richtig verstanden werden können. G. Scholtz weist darauf hin, daß die

Dialektik Schleiermachers nicht nur als eine Korrespondenztheorie verstanden

werden darf. Gegen Diltheys Auslegung der Dialektik, die einseitig die Dialektik

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auf die antike Wahrheitstheorie von Platon und Aristoteles zurückführt, hebt

Scholtz hervor, daß für Schleiermacher „die Übereinstimmung des Denkens mit

sich selbst als Übereinstimmung der Denkenden, d. h. durch den Dialog sich rea-

lisiert“. Gleich „wie er in der Dialektik die fürs Erkennen konstitutive Rolle des

Gesprächs kaum heraushob“, hat Dilthey „die Dialektik als antike Korrespon-

denztheorie, nicht aber zugleich als moderne Konsensheorie aufgefaßt.“ 181

In der Tat ist es m. E. richtig, daß die Dialektik ohne diese Einbeziehung des

gemeinschaftlichen Zusammenwirkens der Denkenden nicht adäquat erfaßt wer-

den kann. Ja, gerade hier liegt der Grund, warum die Religionsphilosophie

Schleiermachers erst dann richtig verstanden werden kann, wenn die untrennbare

Verbindung von der Glaubenslehre und der Dialektik oder von dem Gefühl und

dem Denken anerkannt wird. Es wurde schon in der Einleitung darauf hingewie-

sen, daß die Religion für Schleiermacher nur als Religionsgemeinschaft realisier-

bar ist. Die Religion, die als Ausdruck der frommen Erregungen im Einzelnen –

im Inneren des Einzelnen – auftritt, tritt in dem Moment ihrer sprachlichen Äuße-

rung in die Situation des Dialoges zwischen den frommen Menschen in einer

Gemeinschaft. Und wie der Streit der Denkenden (Dialog) nicht nur auf das ge-

meinsame Sein, sondern auf die Verschiedenheit und Begrenztheit der Urteile

über dasselbe Sein zurückzuführen ist, so zeichnet sich jede Religion dadurch aus,

daß „die Beschaffenheit der frommen Gemüthszustände des Einzelnen nicht ganz

aufgeht in dem für die Gemeinschaft als gleichanerkannten“.182 Die Religion hat

immer zugleich eine innere und äußere Dimension, genauso wie auch das Selbst-

bewußtsein sowohl in seiner inneren Bestimmtheit als auch in seiner Äußerung in

einer gemeinschaftlichen Lebensführung betrachtet werden kann: „Endlich wie

allerdings in den frommen Erregungen selbst wiewol zusammengehörig doch

unterschieden werden kann die innere Bestimmtheit des Selbstbewußtseins selbst

von der Aeußerung desselben: so pflegt man die Gliederung der mittheilenden

und fortpflanzenden Aeußerungen der Frömmigkeit in einer Gemeinschaft die

äußere Religion nennen, den Gesamtinhalt aber aller frommen Erregungen in den

181 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1995, S. 257. 182 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 43.

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Einzelnen nennt man dann die innere Religion.“183 Schleiermacher zufolge ist

aber die Trennung der inneren und der äußeren Religion nur eine Abstraktion:

„denn keines von beiden existirt als Religion für sich allein, und [so] wird es da-

her immer besser sein, dieser ganzen Terminologie zu entrathen.“184

Diese Einsicht in das dialektische Wesen der Religion, die darin besteht, daß das

gemeinschaftliche Leben für die Religion eine konstitutive Rolle spielt, findet

allerdings in der Heideggerschen Umweltanalyse keine Berücksichtigung. Seine

Analyse der Momente der Bedeutsamkeit des Daseins – die auf die Zwecke und

Absichten des Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen rekurriert – ist m. E. nicht

umfassend genug, um wirklich dem Phänomen der Bedeutsamkeit gerecht zu

werden. Sie ist schon deswegen als einseitig zu bezeichnen, weil hier die Mög-

lichkeit des Sinnhabens überhaupt auf die praktische Zweckorientierung des Da-

seins reduziert wird.

Es stellt sich daher die Frage: Warum zeigt sich das Dasein seinsentschlossen,

wenn das Bewußtsein des Seins (Angst) als der Grund für die Abkehr des Daseins

von dem Sein (Verfallen in die Alltagswelt) zu verstehen ist? Es ist m. E. Heideg-

ger nicht gelungen zu zeigen, warum das Dasein sich nicht nur des Seins bewußt

wird, sondern sich auf das Sein selbst ausrichtet. Schleiermacher stellt dagegen

mit seiner Erläuterung der Begriffe des reinen Denkens und des Abhängigkeitsge-

fühls überzeugend dar, daß die Selbstausrichtung des Daseins auf das Sein selbst

als eine kontingent-notwendige Form des wirklichen Bewußtseins verstanden

werden muß.

183 Ebd. 184 Ebd.

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3. Die Religion und die existenzontologische Fundierung des Nichts: R. Ottos

Bedeutung für die Schleiermacher-Rezeption Heideggers

Nach der bisherigen Analyse stellt sich die Frage, ob man Schleiermachers Ein-

fluß auf die Hermeneutik der Faktizität nicht überbewertet, wenn man Heideggers

Auseinandersetzung mit Schleiermacher als eine entscheidende Wende des Hei-

deggerschen Denkens bezeichnet. Ist der große Unterschied zwischen Heideggers

und Schleiermachers Position nicht ein Beleg dafür, daß der Ursprung der Hei-

deggerschen Hermeneutik nicht in der Religionsphilosophie Schleiermachers zu

suchen ist? Ich glaube, daß dieser Unterschied zwischen beiden Denkern selbst zu

einem großen Teil eine Folge des Schleiermacher-Studiums von Heidegger ist,

das allerdings nicht nur die Schriften von Schleiermacher, sondern auch die über

Schleiermacher umfaßt. Der Grund dafür, warum Heidegger unter dem Phäno-

men der Unbestimmtheit primär das Unheimliche des faktischen Lebens versteht,

ist sehr wahrscheinlich der, daß er in seiner frühen Freiburger Zeit unter dem Ein-

fluß eines theologischen Denkers stand, der die Religionsphilosophie Schleierma-

chers um eine mystische Dimension erweitern wollte: Die Rede ist von Rudolf

Otto. An derselben Textstelle, in der Heidegger das unbestimmte Etwas schlecht-

hin als ein Phänomen der Unheimlichkeit des Lebens interpretiert, findet sich eine

Formulierung, die man offensichtlich auf das theologische Denken von R. Otto

zurückführen kann. Heidegger spricht dort von dem „‚Etwas‘ im mysterium tre-

mendum.“185

3.1. R. Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls

Das mysterium tremendum ist ein Begriff von Otto, den er als einen Ausdruck für

die Erfahrung des Absoluten verwendet.186 Im Anhang B der Grundprobleme der

185 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 107. 186 R. Otto hat in seinem Hauptwerk Das Heilige insgesamt sechs Momente des Numinosen ange-geben, die den wesentlich irrationalen, über die Grenze des rationalen Denkens hinausgehenden

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Phänomenologie findet sich eine ergänzende Erläuterung dieses Ausdrucks; das

unbestimmte Etwas ist nach dieser Erläuterung in einem faktischen Lebenszu-

sammenhang primär als das Unheimliche zu verstehen und soll gerade als solches

von der unbestimmten Dingheit (Formalisierung aus dem theoretischen Interesse)

abgegrenzt werden: „Dagegen ist das Etwas als Unbestimmtes in einem Bedeut-

samkeitszusammenhang denkbar erfüllt, geladen mit Leben, so daß es einen dro-

henden, beängstigenden Charakter annehmen kann.“ 187 Es ist daher plausibel

anzunehmen, daß der Begriff mysterium tremendum von R. Otto sowohl für die

Schleiermacher-Rezeption Heideggers als auch für seine Begründung der exis-

tenzontologischen Hermeneutik nicht von geringer Bedeutung gewesen ist.

R. Ottos Hauptwerk Das Heilige, dessen erste Ausgabe 1917 erschien, ist mit

einem Untertitel versehen, in dem das eigentliche Anliegen dieses Werkes in aller

Kürze zusammengefaßt ist: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und

sein Verhältnis zum Rationalen. Der Ausgangspunkt dieses Werkes ist Schleier-

machers Definition der Religion als eines frommen Abhängigkeitsgefühls, durch

die vor allem zum Ausdruck gebracht wird, daß das religiöse Erlebnis, in dem das

Absolute sich in seinem überrationalen Wesen zeigt, nicht zum Gegenstand des

begrifflichen Denkens gemacht werden kann. „Ein sehr bemerkenswertes Ele-

ment solchen Erlebnisses hat Schleiermacher glücklich herausgegriffen“, indem

er „es das Gefühl der ‚Abhängigkeit‘ [nennt].“188

R. Otto zufolge ist aber „zweierlei [...] an dieser […] bedeutenden Entde-

ckung“ Schleiermachers „auszusetzen“.189 Er weist zuerst darauf hin, daß „das

von ihm [Schleiermacher] eigentlich gemeinte Gefühl [...] nach seinem besonde-

ren Wie eben nicht Abhängigkeitsgefühl im ‚natürlichen‘ Sinne des Wortes“ be-

deutet.190 Gemeint ist dabei, daß Schleiermacher das religiöse Erlebnis durch

einen Vergleich mit bekannten Abhängigkeitsgefühlen aus den anderen Lebens-

Ursprung der Religion demonstrieren sollen: Das Kreaturgefühl als Reflex des numinosen Objekt-gefühls im Selbstgefühl, Myterium tremendum, numinose Hymnen, Ungeheuer, und das Sanctum als numinoser Wert. (Vgl.; R. Otto, Das Heilige, München 1971. Siehe besonders die Erläuterung der numinosen Momente des religiösen Lebens Kapitel 3 - 9.) 187 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 217. 188 R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 9. 189 Ebd. 190 Ebd.

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Page 104: Schleiermachers Religionsbegriff und die Philosophie des ...webdoc.sub.gwdg.de/ebook/dissts/Bochum/Han2005.pdf · Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und

gebieten erörtert. „Schleiermacher unterscheidet“ zwar „selber nachdrücklich das

Gefühl frommer Abhängigkeit von allen anderen Abhängigkeits-gefühlen“, in-

dem er es als ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl bezeichnet.191 Aber das

ändere nichts daran, daß das fromme Gefühl selbst aus dem Verhältnis des Men-

schen zu übrigen innerweltlichen Seienden abgeleitet worden ist. Auf die „Ab-

hängigkeitsgefühle […] auf anderen Gebieten des Lebens und Erlebens“, die als

„Gefühle eigener Unzulänglichkeit Ohnmacht und Gehemmtheit durch Verhält-

nisse der Umgebung vorkommen können“, ist also der eigentliche Sinn der Ab-

hängigkeit zurückzuführen, in dem der Bezug des Daseins auf innerweltlich Sei-

endes zum Ausdruck kommt.192 Die Besonderheit des religiösen Erlebnisses wird

aber nicht adäquat erfaßt, wenn man es aus der Analogie mit der Bezugsweise des

Menschen auf die Sachen (Abhängigkeit als Ausdruck einer Beziehung zwischen

Einzelwesen und Sachen) verstehen will: „Aber doch eben nur als das ‚schlecht-

hinnige‘ von bloß bezüglichen: das heißt, er unterscheidet es nur als das absolute

vom relativen, als das vollendete von allem gradweisen, aber nicht durch eine

besondere Qualität. Er übersieht, daß wir eigentlich doch nur eine Analogie zur

Sache selber im Auge haben, wenn wir es Abhängigkeitsgefühl nennen.“193 Aus

diesem Grund ersetzt Otto das fromme Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers

durch ein neues Wort, das die besondere Qualität des religiösen Gefühls besser

zum Ausdruck bringen soll: das Kreatur-gefühl.

„Der zweite Fehler der Bestimmung Schleiermachers“ besteht nun nach Otto

darin, daß das Abhängigkeitsgefühl eigentlich nur eine Bestimmung des Men-

schen ist, die auf keine Art „den eigentlichen Inhalt des religiösen Gefühles selbst

bestimmen“ kann.194 Otto zufolge ist das fromme Abhängigkeitsgefühl nur „ein

Selbstgefühl, das heißt ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner

selbst, nämlich meiner Abhängigkeit.“195 Die Begegnung mit dem Göttlichen sei

dadurch auf „einen Schluß“ zurückgeführt, „indem ich nämlich zu ihr [Abhän-

191 Ebd. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Ebd., S. 10. 195 Ebd.

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gigkeit] eine Ursache außer mir hinzudenke“.196 Ottos Einwand besteht nun darin,

daß dieser Vorgang eigentlich „völlig gegen den seelischen Tatbestand [ist]“; das

Selbstbestimmen des Menschen im Kreatur-gefühl geschieht nicht vor seiner Be-

gegnung mit dem Göttlichen; man muß vielmehr davon ausgehen, daß das „‚Kre-

atur-gefühl‘ […] selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung ist“,

„gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ‚Scheu‘)“,

das durch die vorhergehende Begegnung mit dem Göttlichen entstanden ist.197

Zwar wird man nach Otto mit Schleiermacher insofern einverstanden sein, als daß

dieses Gefühlsmoment, das durch die Begegnung mit dem Göttlichen entsteht,

„selber zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht.“198 Aber die Scheu

vor dem Göttlichen, die ein durch die Begegnung mit dem Göttlichen entstande-

nes Gefühlsmoment ist, sei offensichtlich ursprünglicher als das Kreaturgefühl,

das Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl nennt und irrtümlicherweise als das

ursprüngliche religiöse Erlebnis verstehe: „Nur wo numen als praesens erlebt

wird, wie im Falle Abrahams, oder wo ein Etwas numinosen Charakters gefühlt

wird, also erst infolge einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein

wirkliches oder vermeintliches Objekts kann als deren Reflex das Kreatur-gefühl

im Gemüt entstehen.“199

Exkurs: Das Gefühl und das Urteil

R. Ottos Kritik, Schleiermacher habe mit seinem Begriff des Abhängigkeitsge-

fühls das religiöse Erlebnis des Göttlichen auf eine logische Schlußfolgerung

zurückgeführt, scheint m. E. sehr problematisch zu sein. Zwar weist Otto darauf

hin, daß das von Schleiermacher gemeinte Gefühl nicht das Abhängigkeitsgefühl

sei; damit meint er freilich, daß der Begriff Abhängigkeitsgefühl etwas Wesentli-

ches erfaßt, auch wenn er kein glücklicher Ausdruck ist. Ottos Interpretation des

Abhängigkeitsgefühls bei Schleiermacher scheint mir aber weder in bezug auf das 196 Ebd. 197 Ebd., S. 10 f. 198 Ebd., S. 11. 199 Ebd.

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schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl noch in bezug auf das relative Abhängig-

keitsgefühl gerechtfertigt werden zu können.

A. Das Gefühl als allgemeines Lebenselement

Schon seine Behauptung, die Abhängigkeit sei eigentlich auf die Gefühle eigener

Unzulänglichkeit, Ohnmacht und Gehemmtheit durch Verhältnisse der Umge-

bung bezogen, zeigt, daß er den eigentlichen Hauptgedanken bei dem Ausdruck

Abhängigkeit im Sinne Schleiermachers übersieht. Das Abhängigkeitsgefühl ist

für Schleiermacher keineswegs ein Ausdruck der Unzulänglichkeit und Ohn-

macht eines Handelnden, der sich etwa in einer ungünstigen Handlungssituation

befindet. Es ist vielmehr ein fundamentales Strukturmoment jedes wirklichen Be-

wußtseins und kommt daher sowohl dem frommen Bewußtsein zu (in der Form

des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl) als auch dem auf innerweltliche Din-

ge bezogenen Bewußtsein (in der Form eines relativen Abhängigkeitsgefühls, das

zugleich auf ein Freiheitsgefühl verweist).

G. Scholtz weist darauf hin, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher

nicht primär als ein zufälliges Begleitmoment des Lebens zu verstehen ist, das

nur bei einem vereinzelten Erkenntnis- bzw. Handlungsbewußtsein vorkommen

würde: „Aber das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist als Gefühl zugleich

Bewußtsein, nämlich ‚Selbstbewußtsein‘, genauer ‚unmittelbares Selbstbewußt-

sein‘. Darin liegt, daß dies Gefühl nichts Zufälliges, sondern ein ‚allgemeines

Lebenselement‘ ist, gegründet im ‚schlechthin gemeinsamen Wesen des Men-

schen‘.“200

Gerade in dieser Einsicht in das gemeinsame Wesen des Menschen liegt der

Grund, warum das Abhängigkeitsgefühl als ein Strukturmoment jedes wirklichen

Bewußtseins zu betrachten ist. Es ist sicher richtig, daß das Abhängigkeitsgefühl

in gewisser Hinsicht auf das Verhältnis vom Menschen zum Seienden verweist.

Daraus kann man in der Tat die Trennung von Selbst und Außenwelt ableiten, da

ohne diese Trennung auch kein Abhängigkeitsgefühl entstehen kann. Eine solche

200 G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, a.a.O., S. 129f..

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Trennung wäre aber nicht möglich, wenn wir kein Bewußtsein davon hätten, daß

alles im Erkennen Getrennte doch zu einem gemeinsamen Seinsganzen gehört.

Auf diese kontingent-notwendige Struktur des Bewußtseins, daß nämlich das

Differenzbewußtsein stets vom Bewußtsein der Zusammengehörigkeit alles end-

lich Seienden zu einem Seinsganzen begleitet werden muß, ist für Schleiermacher

das Abhängigkeitsgefühl verwiesen: „Daß aber das Abhängigkeitsgefühl an sich

in Allen dasselbe ist, zugegeben die größere oder geringere Unvollkommenheit

nach dem Maaß der Entwicklung, dies ist darin gegründet, daß es an sich nicht

auf bestimmten Differenzen des Selbstbewußtseins beruht, sondern auf der Mög-

lichkeit aller dieser Differenzen, d. h. auf dem Bewußtsein, welches schlechthin

das gemeinsamste ist und weit hinausgeht über das, wodurch die einzelne Persön-

lichkeit bestimmt wird.“201

Mit dem Begriff Abhängigkeitsgefühl drückt Schleiermacher eine fundamentale

Möglichkeit des Daseins aus, sich auf die Sache selbst auszurichten und dadurch

ein wirklich rationales Denken zu erlangen. Denn das Abhängigkeitsgefühl ist

notwendig nur in der Form der Anerkennung möglich, daß mein Sein selbst auf

eine objektive Sachrelation angewiesen ist, in der etwas unabhängig von meinem

Willen und Lebensinteresse geschieht.202 Aber für ihn ist das Gefühl der Abhän-

201 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 125. 202 S. Holm weist darauf hin, daß für R. Otto das Problem, ob die Welt einen realen Grund hat, nicht primär eine Sache der Erkenntnistheorie ist, sondern eine religiöse Frage darstellt. Nach Holm geht Otto dabei von Fries’ Philosophie aus, die durch den Begriff Ahnung über die Grenze des Kantischen Phänomenalismus zum realen Seinsgrund selbst hinauszugehen versucht: „Otto ist der Ansicht, daß es der Naturwissenschaft gleichgültig sein könne, ob ihre Welt Vorstellung oder Realität sei; aber für den Religiösen ist es nicht gleichgültig. […] Kant habe einen Fehlschluß begangen, wenn er von der Apriorität der Erkenntnis auf ihre Idealität schließt und in die Sphäre der praktischen Vernunft hinübergehen muß, um mit Hilfe von ihren Postulaten zu der Wirklich-keit zu kommen, die sowohl die Religion wie die Moral fordern. An dieser Stelle nimmt Otto seine Zuflucht zu Fries’ Philosophie, die durch ihre Ahnung die Formen der Erkenntnis und die Schale der Phänomene transzendiert. Wir begegnen hier dem bekannten Versuch der Romantik, zu dem hinauszugelangen, was dahinter liegt, und es war ja gerade das Privilegium des Genies, das ausführen zu können. Deshalb trat Otto auch der Behauptung Schleiermachers entgegen, daß prinzipiell alle Menschen die Veranlagung für das Divinatorische besäßen.“ (S. Holm, ‚Apriori und Urphänomen bei R. Otto‘, in: E. Benz (Hrsg.), Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswis-senschaft und die Theologie heute, Leiden 1971, S. 74.) Auch ich nehme nicht an, daß Otto in seiner Religionsphilosophie die Dimension der Transzendenz ignoriert hätte. Er hat z. B. in sei-nem früheren Werk Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theo-logie (1909) die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glaube gestellt; ihm zufolge können wir durch das „Wissen“, das „auf die sinnanschauliche Welt [geht]“, „nicht positive Erkenntnisin-halte über transzendente Wesenheiten“ gewinnen. (R. Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilo-

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gigkeit gerade als solches nicht primär die Folge eines logischen Schlusses, der

als solcher freilich nicht als allgemeines Merkmal des menschlichen Lebens an-

zuerkennen wäre, sondern nur als ein Begleitmoment von einzelnen Bewußtsein-

sakten verstanden werden könnte, die nicht von jedem gleichermaßen vollzogen

werden. Darum beschränkt sich das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher

nicht auf das Wechselverhältnis von einzelnen, differenten Seienden; es beruht

vielmehr auf der Möglichkeit aller dieser Differenzen, wie wir im obigen Zitat

gesehen haben. Und diese Möglichkeit ist für Schleiermacher nicht primär ein

geheimnisvolles mythisches Moment des Lebens, sondern eher eine kontingent-

notwendige Existenzbedingung des Differenzbewußztseins selbst; jedes Diffe-

renzbewußtsein muß stets von diesem Bewußtsein des Seinsganzen begleitet sein.

B. Das Gefühl als Urteil und das Abhängigkeitsgefühl

Es spricht nichts dagegen, daß Abhängigkeitsgefühl in gewisser Hinsicht als eine

Form des Urteils zu verstehen ist. Der Satz: ‚Ich fühle mich abhängig vom einem

anderen Seienden‘, setzt schon voraus, daß mein Bewußtsein auf das Seiende

gerichtet ist, das als das von meinem eigenen Sein getrennte Seiende wahrge-

nommen bzw. erkannt wird. Das Urteil, das in der Form des Abhängigkeitsge-

sophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, S. 81f.) Er zeigt dann – ausgehend vom Fries’schen Begriff ‚ahnen‘ – daß er dem Gefühl ein besonderes Erkenntnisvermögen zu-weist: „Was aber das Begreifen nicht vermag, das vermögen wir im Gefühl. Das Gefühl gibt uns zu Wissen und Glauben eine dritte Art von Erkenntnis, eine beide verbindende und zur Einheit bringende: das ‚Ahnen‘.“ (Ebd., S. 83-84) Man kann also keineswegs behaupten, R. Otto hätte das unmittelbare Realitätsbewußtsein im Gefühl nicht richtig erfassen können. Die Frage ist nur, ob er in seinem Hauptwerk Das Heilige die richtigen Konsequenzen aus seinen früheren Überlegungen gezogen hat. S. Holm weist auf die auffällige Differenz hin, die zwischen Das Heilige, dessen erste Auflage 1917 erschien ist, und Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwen-dung auf die Theologie besteht. „Das Buch über Kant und Fries ist von einem Philosophen ge-schrieben, und das religiöse Apriori wird hier im großen und ganzen philosophisch behandelt. Otto fragt, was da sein muß, damit ein Zusammenhang im Dasein sein kann, und die Antwort ist: Gott. Dies ist eine transzendentale Deduktion. Falls wirklich ein Zusammenhang im Dasein ist, dann muß auch Gott sein.“ (S. Holm, ‚Apriori und Urphänomen bei R. Otto‘, a.a.O., S. 82.) Holm zufolge ist eine solche philosophische Konsequenz in Das Heilige nicht zu finden: „Dagegen ist es höchst unrein in dem Werk ‚Das Heilige‘. Hier ist es ein psychisches Datum, das ein Urdatum genannt wird. Es ist ein Urphänomen, das nicht auf anderen Phänomenen beruht, sondern causa sui oder von Gott ist. Es ist folglich nicht rein, es ist nicht formal, es ist nicht transzendental, son-dern eher etwas in Richtung einer übersinnlichen Epiphanie. Es ist sozusagen ein corpus alienum in der Welt der Relationen, wo es vor aller anderen Erfahrung ist, diese aber nicht bedingt, wie es mit Kants reinem Apriori der Fall ist.“ (Ebd.)

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fühls enthalten ist, ist somit bereits eine Erfassung einer Differenz, auch wenn das

Sein des anderen Seienden nicht mehr als ein völlig unbestimmtes Etwas wahrge-

nommen wird; mir wird zumindest die Trennung von meinem Sein und dem Sein

des Seienden außer mir vermittelt, so daß das Sein mir als ein Verhältnis von dif-

ferenzierten Seienden erscheint. Man darf daraus aber nicht ableiten, daß das Ab-

hängigkeitsgefühl bereits ein Wissen wäre. Ein Wissen ist nach der Definition in

der Dialektik Schleiermachers „ein von allen gleichmäßig produziertes Denken

unter der Form des Urteils“.203 Das Urteil, das in meinem Abhängigkeitsgefühl

enthalten ist, kann also erst dann als ein Wissen gelten, wenn es durch eine theo-

retische Reflexion als ein Urteil anerkannt wird, das von jedem Individuum me-

thodisch nachvollzogen werden kann. Ferner ist es beachtenswert, daß die Religi-

on im Sinn Schleiermachers ein Begriff ist, der durch ein mit der phänomenologi-

schen Reduktion sehr ähnliches Verfahren gewonnen wurde. Wie wir gesehen

haben, betont Heidegger nachdrücklich, daß die Religion im Sinn Schleierma-

chers als eine Epoché zu verstehen ist, die durch eine Art der phänomenologi-

schen Reduktion als die ursprüngliche Form des Bewußtseins herausgebildet ist.

Schleiermacher selber weist in der Glaubenslehre darauf hin, „daß es Augenblik-

ke giebt, in denen hinter einem irgendwo bestimmten Selbstbewußtsein alles

Denken und Wollen zurücktritt.“ 204 Das Bewußtsein in diesen Augenblicken,

denen gegenüber jedes am Handeln und Erkennen orientiertes, von der Selbstver-

ständlichkeit der Existenz vom handelnden Subjekt einerseits und von der Welt

andererseits ausgehendes natürliches Bewußtsein eingeklammert ist, kann m. E.

zutreffend als eine phänomenologische Epoché bezeichnet werden. Darüber wird

im zweiten Teil noch ausführlicher zu handeln sein.

Was bedeutet es aber, daß alles Denken und Wollen hinter dem Selbstbewußt-

sein zurücktritt? Das bedeutet, daß das Bewußtsein nicht nur auf das Verhältnis

von differenzierten Dingen und Begriffen verwiesen ist, sondern von Anfang an

auch auf das unendliche ganze Sein, von dem mein endliches Sein abhängig sein

muß. So ist das Abhängigkeitsgefühl im primären Sinn ein Moment, indem nicht

203 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 249. 204 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 26.

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meine Abhängigkeit von diesem oder jenem einzelnen Seienden zum Ausdruck

kommt, die lediglich Ausdruck der Wirkung eins Objektes auf ein reflektiertes

Handlungs- bzw. Erkenntnissubjekt ist. Im Abhängigkeitsgefühl erfahre ich mich

vielmehr in der Form des Einssein mit dem Sein oder besser; als ein Sein-im-

ganzen-Sein, das stets das Bewußtsein von Differenz begleiten muß: „Mit diesem

Charakter reiner Abhängigkeit hängt aber auch zusammen, daß dasjenige, wovon

wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine äußerli-

che Weise uns gegenüberstehend gegeben werden. Denn was uns so gegeben

wird, darauf können wir uns der Gegenwirkung – die an sich immer möglich

bleibt, indem ein sinnlich wirkendes auch für sinnliche Rückwirkungen empfäng-

lich sein muß – nur durch freiwillige Entäußerung begeben, und die Frömmigkeit

muß schon vorausgesetzt werden, um diese Entäußerung hervorzubringen.“205

Somit wird deutlich, daß das fromme Abhängigkeitsgefühl nicht auf ein Seiendes

bezogen ist, das uns auf eine äußerliche Weise als ein Objektsein gegeben ist.

Untersuchen wir nun, in welchem Sinn das Abhängigkeitsgefühl als ein Urteil

verstanden werden kann. Der Urteilssatz, daß ich mich von etwas abhängig fühle,

setzt zwei vermeintliche Gewißheiten voraus; die Gewißheit meines Seins und die

Gewißheit des Seins von etwas Anderem, das als das äußere Sein meinem eige-

nen Sein gegenübersteht. Diese Gewißheit in diesem Urteilssatz ist für Schleier-

macher insofern nur eine vermeintliche Gewißheit, als daß die Trennung zwi-

schen einem Ich und einem Objekt nicht eine selbstverständliche Gegebenheit im

ursprünglichen Selbstbewußtsein ist, sondern lediglich eine Folge einer Objekti-

vierung durch die Selbstreflexion. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Ein-

sicht, daß das Gefühl in dieser Form ein Begleitmoment des einzelnen Bewußt-

seinsaktes ist; das Gefühl kommt hier in der Form der Gewißheit des Seins von

einzelnen und differenzierten Seienden vor, also als ein Bewußtsein, das auf die

Differenz bezogen ist. Aber ein solches Gefühl, das auf die Differenz, auf den

Gegensatz von mir und dem Außensein bezogen ist, bildet für Schleiermacher

nicht den primären Sinn des Abhängigkeitsgefühls. Das „fromme Gefühl“ ist

„immer ein reines Gefühl der Abhängigkeit“, und „[bezeichnet] nie ein Verhältnis

205 Ebd., S. 33.

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der Wechselwirkung“.206 D. h.: Das Abhängigkeitsgefühl bezieht sich nicht pri-

mär auf die Gewißheit von der Existenz von dem Ich einerseits und dem Ob-

jektsein andererseits, die bei einem Urteilssatz ‚Ich fühle mich abhängig von et-

was‘ vorausgesetzt wird. Es ist eher, wie wir bereits erwähnt haben, ein funda-

mentales Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins, ohne das kein Bewußt-

sein von Differenz möglich ist. Mit anderen Worten: Das Bewußtsein davon, daß

alles endliche Seiende nur als ein Sein im ungeteilten Seinsganzen existieren

kann, begleitet jedes Bewußtsein einer Differenz; diese beiden Momente (Be-

wußtsein der Einheit und Bewußtsein der Differenz) sind sozusagen nur zwei

Seiten derselben Medaille.207

206 Ebd., S. 32. 207 Bekanntlich versteht M. Frank das unmittelbare Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers als ein präreflexives Bewußtsein, das J. P. Sartre in seinem Versuch einer phänomenologischen Ontologie als die ursprüngliche Bewußtseinsform darstellt. Besonders seine Kritik an G. Deleuze, der „aus dem Geschehen der Differenzierung selbst – ohne transzendenten Rekurs auf eine grün-dende Einheit – das Faktum unseres Selbstbewußtseins“ zu erklären versucht, zeigt klar und deut-lich, daß er unter der Präreflexivität die Ermöglichungsbedingung für eine solche Differenz ver-steht: „Offenbar ist Vertrautheit mit sich kein Sachverhalt, der dem Kriterium der Identität unter-steht. Mithin gibt es Gründe, an der Ansicht festzuhalten, daß die Ermöglichungsbedingung der Repräsentierbarkeit von Welt einerseits, der unaufhörlichen Verschiebbarkeit dieser Repräsentati-on andererseits nicht eine vor-bewußte ‚différence avec soi‘ (oder ‚différence interne‘, ‚différence en soi‘) sein kann, daß es sich vielmehr um ein durchaus prä-reflexives (und mithin a fortiori prä-differentielles) Bewußtsein handeln muß.“ (M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a. M 1984, S. 481) Ferner weist Frank darauf hin, daß Deleuze die Seinsweise der Individualität ichhaft auffaßt und damit die Möglichkeit, seine Theorie der Differenz ausgehend von einer Theo-rie des individuellen Selbstbewußtseins zu begründen, verspielt: „Alles, was Deleuze zur Seins-weise der Individualität sagt, wäre mit Schleiermachers und Sartres Auffassung versöhnbar, so-fern Deleuze dem Individuum eine Theorie des individuellen Selbstbewußtseins zuordnete. Genau das tut er nicht, weil er mit der von ihm bekämpften Repräsentationstheorie des Selbstbewußtseins darin übereinkommt, daß Bewußtsein grundsätzlich ichhaft beschaffen sei“. (Ebd., S. 485) Inwieweit Franks Rekonstruktion von Deleuzes Ansichten zutreffend ist, kann hier nicht unter-sucht werden. Allerdings hat er in Bezug auf Schleiermacher recht, wenn er ausführt, daß das Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers nicht primär als ein ichhaft beschaffenes Bewußtsein zu verstehen ist. Zugleich muß man aber hinzufügen, daß der Begriff Präreflexivität für das rich-tige Verständnis des Begriffs Selbstbewußtsein irreführend sein kann. M. Frank weist selbst dar-auf hin, „daß das Reflexionsmodell dem Erfahrungsbestand von Selbstbewußtsein unangemessen ist“; Frank zufolge „[orientiert sich Deleuze] am Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins“; und er will dann infolgedessen die Frage, wie das Ego trotz seines „späkuläre[n] Doppel[s]“ nach der reflexiven Selbstobjektivierung die „Identifikation der beiden unterschiedenen Momente“ leisten kann, lediglich dadurch lösen, daß er „Selbstbewußtsein für einen speziellen Fall des Aufeinan-derverwiesenseins zweier Elemente“ hält. (Ebd., S. 476f.) Es gibt nach Deleuze „keine (weder hypothetische noch faktische) Identität“, die „das Differenzmoment, das jeder Wiederholung anhaftet, unterdrückt: Jede Reflexion wäre mithin eine nicht-identische Spiegelung“. (Ebd.., S. 477) Unübersehbar ist aber dabei, daß man bei der Gleichsetzung von dem unmittelbaren Selbstbe-wußtsein und dem präreflexiven Bewußtsein Gefahr läuft, einen fiktiven Anfangszustand des Bewußtseins anzunehmen, in dem die Differenz von Selbst und Welt einerseits und von identisch-

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bleibendem Ich und sich-wandelndem Ich nicht bewußt wäre. Frank interpretiert Deleuze vor dem Hintergrund einer bestimmten Selbstbewußtseinstheorie, nach der das „Selbstbewußtsein“ „nicht Bewußtsein von einem Ich (ob ‚Je‘ oder ‚Moi‘) [ist]“. Es ist vielmehr das „Bewußtsein (von) Bewußtsein“. (Ebd., S. 486) Frank zufolge räumt Deleuze zwar zurecht ein, daß das Prinzip der Individuation weder auf Je noch auf moi zurückzuführen ist. Dennoch bleibe er weiterhin am Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins orientiert; die Bewegung von sich zu sich wird dabei allerdings nicht als ein solcher Prozeß verstanden, in dem die Vertrautheit mit einem wiederholba-ren Selbst entsteht; in der Bewegung von sich zu sich entsteht „die Individualität“, die „mit sich vertraut [ist] in einer Weise, die sich gleichwohl von der Gewißheit der Reflexion und der Rekur-sivität der Repräsentation unterscheiden läßt; denn es handelt sich um die Vertrautheit eines Nicht-Wiederholbaren, also auch nicht Instantanen (Gegenwärtigen).“ (Ebd., S. 480) Frank weist nun darauf hin, daß „wir doch nicht darauf verzichten“ dürfen, eine Erklärung der Art und Weise zu verlangen, wie das ‚unbestimmte, flottierende, kommunizierende, eingehüllt-enthüllende‘ (und nicht-ichhaft organisierte) Individuum von sich Kenntnis hat“. (Ebd., S. 487). Die Antwort auf diese Frage findet er im Begriff der Präreflexivität. Diese Idee ist scheinbar eine notwendige Konsequenz aus der These, daß das Ich erst nach der Selbstreflexion vorkommt. Es muß ein „Vor-Ich“ geben, und Deleuze bringt dieses Vor-Ich zwar mit dem Ausdruck „‚ante-moi et ante-Je‘ zum Ausdruck, aber er nimmt dabei die Frage nicht ernst genug, „in welcher Weise es mit sich vertraut ist, d. h. wie es von sich weiß.“ (Ebd.) Die Präreflexivität ist für Frank also ein Begriff, der dem Selbstbewußtsein trotz des fehlenden Ichs als eines wiederholbaren Identitätsprinzips doch auf eine andere Weise eine Identität gewährleisten soll. Hier zeigt sich wohl der Einfluß seines akademischen Lehrers E. Tugendhat, der, ausgehend von der sprachlichen Analyse des propositionalen Satzes, das Selbstbewußtsein als ein Vorbewußtsein interpretiert: „Da das Selbstbewußtsein vorbewußt sein kann, braucht es sich auch nicht sprach-lich zu artikulieren.“ (E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1993, S. 26) Auch M. Frank hebt durch seine strenge Trennung des Selbstbewußtseins von dem Ichbewußtsein hervor, daß das Selbstbewußtsein das „Bewußtsein (von) Bewußtsein“ ist, „das seinerseits Bewußtsein von etwas Nichtbewußtem (z.B. einem Sachverhalt) ist“. Eine solche De-finition des Selbstbewußtseins ist aber leer und unzulänglich. Es ist zwar richtig, daß das Selbst-bewußtsein vorbewußt sein kann. Bewußtsein ist Bewußtsein von einem Sachverhalt, und das Ich, das bei einem Satz wie Ich weiß, daß p (p = propositionaler Sachverhalt, der nach Tugendhat nicht unbedingt intentional bzw. bewußt sein muß. Vgl.; Ebd., S. 21 ff.) als ein Subjekt gesetzt wird, kommt erst nach der Selbstreflexion zum Bewußtsein; das Bewußtsein ist eigentlich ein Bewußt-sein, daß p, aber nicht ein Bewußtsein vom Ich, das ein Bewußtsein, daß p hat. Aber ein solches Bewußtsein, auf das das zweite Bewußtsein in der Form von Bewußtsein von Bewußtsein bezogen sein sollte, ist doch ein Bewußtsein eines Sachverhaltes, dessen Intention auf die Außenwelt ge-richtet ist und mithin das Bewußtsein von Einzelgegenständen (intentionales Gerichtetsein des Bewußtseins auf etwas) nicht ausschließt, sondern impliziert; nur die Außenwelt ist hier nicht als ein einzelnes Objekt gedacht, sondern als ein Sachverhalt, in dem ein unbestimmter (nicht unbe-wußter) Horizont mit impliziert ist. Es muß deutlich werden, daß das, was Tugendhat und Frank als das Nichtbewußte im ersten Bewußtsein darlegen wollen, eigentlich nicht das Nichtbewußte bedeutet, sondern ein Horizontbewußtsein, das ohne Bewußtsein von differenzierten Einzelge-genständen nicht möglich ist: „Das Bewußtsein von etwas, so hat sich jetzt gezeigt, ist propositio-nal. Es bezieht sich nicht auf Objekte im üblichen Sinn dieses Wortes, sondern auf Propositionen. Es hat oder impliziert die Struktur Bewußtsein[,] daß p.“ (Ebd., S. 21) Und falls man das Selbstbewußtsein schlechthin als ein Bewußtsein von diesem Bewußtsein, daß p definiert, zeigt dieses Selbstbewußtsein sich dann als ein reflektiertes Selbstbewußtsein; das Ich, das bei einem Bewußtsein von einem Sachverhalt (Bewußtsein von p) latent bleibt, kommt erst im Bewußtsein von diesem Bewußtsein (das Bewußtsein vom Selbst, das sich bewußt ist, daß p) zutage. Man wird diesen Zirkel nun nie dadurch verlassen können, daß man einen unsinnigen Begriff wie das präreflexive Selbstbewußtsein als eine vorbewußte Einheit des Seins in die Strukturanalyse des Selbstbewußtseins einführt. Das Selbstbewußtsein ist ein Bewußtsein von sich selbst, und verweist darum notwendig auf eine reflexive Struktur. Auch wenn man das Selbstbewußtsein nicht als Bewußtsein von Ich, sondern als Bewußtsein von Bewußtsein verstehen will, kann diese reflexive Struktur nicht vermieden

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Daß das Bewußtsein notwendig auf das Seinsganze bezogen ist, ist m. E. nicht

nur ein Ausdruck eines mystischen Denkens.208 R. Otto hat daher durchaus Recht,

wenn er im Gegenteil die fehlende mystische Dimension im Religionsbegriff

Schleiermachers beklagt. Es ist eher ein nüchternes Denken, das das Hinausgehen

über die Grenze des an der Differenz orientierten Denkens gerade dadurch er-

möglicht, daß durch die Analyse des wirklichen Bewußtseinslebens das Bewußt-

sein vom Seinsganzen als ein kontingent-notwendiges Strukturelement jedes wirk-

lichen Selbstbewußtseins dargelegt wird. Es gibt für Schleiermacher keinen ratio-

nalen Grund anzunehmen, das Bewußtsein sei schlechthin auf die Differenz be-

werden. Schleiermachers Intention besteht nun m. E. nicht darin, diese reflexive Struktur des Selbstbewußtseins als eine theoretische Abstraktion abzuwerten. Schleiermacher will sie vielmehr als existenziale Grundstruktur jedes wirklichen Selbstbewußtseins deuten, die existenzial in dem Sinn ist, daß das Selbst hier nie als ein reines Ich vorkommt, sondern als ein Sein-in (Sein-in-Gott für ein frommes Selbstbewußtsein und Sein-in-der-Welt für ein relatives Selbstbewußtsein) bzw. als ein Sein-bei, das ohne Bewußtsein von Differenz nicht möglich ist. Nach Schleiermacher kann man zwei verschiedene Momente des Selbstbewußtseins unterscheiden, nämlich „ein Selbstbe-wußtsein von uns als den sich immer gleichbleibenden, und in besonderen wieder ein anderes von uns als den von einem Augenblick zum anderen veränderlichen“; und „beides sind nur Be-standtheile jedes bestimmten Selbstbewußtseins, indem jedes ist ein unmittelbares Bewußtsein des Menschen von sich als verändertem.“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31) Was Schleiermacher mit diesem doppelten Bezug des Selbstbewußtseins meint, werden wir im 2. Teil noch im Detail erörtern. Wichtig ist hier zunächst, um das Selbstbewußtsein gerade im Sinne Schleiermachers verständlich zu machen, einzusehen, daß das Selbstbewußtsein weder als eine vorbewußte Einheit des Seins noch als Bewußtsein von Bewußtsein definiert ist, sondern explizit als ein Bewußtsein von sich selbst, das einerseits ein Bewußtsein von sich als dem stets identisch Bleibenden und andererseits das Bewußtsein von sich als dem Veränderlichen ist. Und gerade dieser doppelte Selbstbezug im Selbstbewußtsein ist die Ermöglichungsbedingung für die Selbst-ausrichtung des Daseins auf das Sein selbst. Denn „mit dem bestimmten Selbstbewußtsein ist unmittelbar verbunden die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursa-che, d. h. das Bewußtsein, es sei etwas von uns unterschiedenes, ohne welches unser Selbstbe-wußtsein jetzt nicht so sein würde“. (Ebd.) Schleiermacher hebt dann hervor, daß ein solches Bewußtsein nicht ein Bewußtsein eines Gegenstandes ist, sondern ein Bewußtsein vom Selbst: „jedoch wird deshalb das Selbstbewußtsein nicht Bewußtsein eines Gegenstandes, sondern es bleibt Selbstbewußtsein, und man kann nur sagen, daß in dem Selbstbewußtsein der erste Be-standtheil ausdrücke das für sich sein des Einzelnen, der andere aber das Zusammensein desselben mit anderen.“ (Ebd.) Da ein Bewußtsein von sich nicht möglich ist, das nicht die Differenz voraussetzt zwischen sich und der Außenwelt einerseits und zwischen dem eigenen aktuellen Bewußtsein als Subjekt und dem ‚ich‘ als Gegenstand dieses Bewußtseins andererseits, ist die Annahme der Präreflexivität des Selbstbewußtseins m. E. nicht akzeptabel für die Erklärung des Selbstbewußtseins. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß ein Bewußtsein von der Differenz notwendig von einem Bewußtsein vom Seinsganzen begleitet werden muß. Und das Bewußtsein vom Seinsganzen ist nicht eine präreflexive Einheit des Seins, die bei einem aktuellen Bewußtsein des Erkennenden und des Handelnden zurücktritt; es ist vielmehr ein Strukturmoment jedes wirklichen Bewußtseins. 208 Vgl. dazu; „Er [Schleiermacher], der einzige wirklich große Theologe des Jahrhunderts, ist gleichsam der Wurzelstock, von dem, wie Absenker, unterirdisch mit ihm verbunden, die ‚christ-liche Mystik‘ der modernen Theologie herkommt.“ (E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 4)

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zogen. Schon die einfachsten Formen des Wissens, nämlich daß es außer mir et-

was gibt, oder die einfachsten Formen des Handelns, ein unbestimmtes Ding zu

beobachten und zu ergreifen, setzen schon ein Bewußtsein davon voraus, daß ich

und dieses etwas außer mir zu einem gemeinsamen Seinsganzen gehören. Denn

ohne ein Bewußtsein davon, daß ich und das andere Seiende zu einem Seinsgan-

zen gehören, kann ich keine Motivation entwickeln, auf das Seiende außer mir zu

wirken und somit in ein aktuelles Wirkungsverhältnis zu ihm zu treten.

Bekanntlich nennt Schleiermacher das Abhängigkeitsgefühl ein unmittelbares

Selbstbewußtsein, das vom Ich streng unterschieden werden muß: „Freilich sagt

man, das unmittelbare Selbstbewußtsein sei das Ich. Dieses bedeutet nun zweier-

lei. Entweder ist das Ich Objekt, und zwar nicht als Moment gesetzt, sondern abs-

trakt genommen, oder der Sich-selbst-bewußte ist das Ich. Das letztere ist dann

aber nicht das unmittelbare, sondern das reflektierte Selbstbewußtsein, wo man

sich selbst zum Gegenstande geworden ist.“209 Das Gefühl ist also ein Bewußt-

seinszustand, bei dem man sich in seinem unmittelbaren Einssein mit dem Seien-

den, in der Zusammengehörigkeit zu einem Seinsganzen von sich und dem Sei-

enden findet, während die Trennung von dem Ich und dem Sein außer mir eine

gewisse Objektivierung durch die Selbstreflexion bedeutet. Das Abhängigkeitsge-

fühl als ein Urteil zu verstehen heißt in diesem Sinn, die Abhängigkeit als eine

Beziehung zwischen dem Ich als dem reflektierten Selbstbewußtsein und dem

Sein zu verstehen.

Somit ist nun deutlich, daß die Gewißheit von jenem Urteilssatz, ich fühle mich

abhängig von anderen Seienden, für Schleiermacher nur eine vermeintliche Ge-

wißheit ist, wenn das Ich als ein vom anderen Sein getrenntes Sein verstanden

wird. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, Schleiermachers These eines

notwendigen Zusammenhanges von Wesen und Relation zu berücksichtigen, die

Schleiermacher durch seine Beschäftigung mit Platon gewonnen hat. Die Einsicht,

daß „jedes seiende Wesen durch seine Relationen auch in gewissem Sinne ein

Nichtseiendes wird“, führt Schleiermacher zu einer besonderen Urteilslehre, nach

der das Sein, das im Denken als Subjekt gesetzt ist, zugleich als ein Nichtsein zu

209 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 287f.

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verstehen ist.210 Jedes „Urteil“ wird nach Schleiermacher dadurch vollzogen, daß

„das Prädikat außer dem Subjekt gesetzt“ wird, also „das Nichtsein des Sub-

jekts“ behauptet wird.211 Das bedeutet vor allem: „Das Subjekt weist uns zurück

auf einen ganzen vorhergehenden Prozeß von Begriffsbildung, der mit der Fixie-

rung des Gegenstandes angefangen hat […].“212 Daraus folgt, daß sowohl das Ich

als auch die Außenwelt in gewissem Sinn als das Nichtseiende aufzufassen sind,

da beides nur Folgen einer vorhergehenden Fixierung des Gegenstandes sind (das

Ich kommt nur als ein Sein-in vor, also als ein mit dem Ausdruck in-der-Welt-

seiend prädiziertes Subjekt). Das Ich ist also nicht das absolute Sein, da das abso-

lute Sein nach Schleiermacher ein solches Sein ist, von dem „nichts […] prädi-

ziert werden kann“. Das ‚Ich‘ ist daher lediglich ein Produkt eines Urteils, das aus

der vorhergehenden Fixierung des Gegenstandes folgt.213 Auch wenn dieser Ge-

danke höchst spekulativ anmutet, so kann man dennoch einen ähnlichen Gedan-

kengang auch bei den modernen Denkern finden, die zwar von der Husserls Phä-

nomenologie ausgehen, aber doch Husserls Übergang zu einem transzendentalen

Idealismus durch die Einführung des Begriffs eines reinen Ichs als dem absoluten

Sein entschieden ablehnen: J.-P. Sartre, A. Gurwitsch und – letztlich auch – M.

Heidegger u. a. Dieses Problem werden wir im dritten Teil noch im Detail behan-

deln.

Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß das Abhängigkeitsgefühl, verstan-

den als Folge eines logischen Schlusses, nichts mit der Religion im Sinn Schlei-

ermachers zu tun hat. Ein solches Gefühl, das in der Form eines Urteils über die

Gewißheit eines bestimmten Seienden vorkommt, ist für Schleiermacher kein

frommes Abhängigkeitsgefühl. Ihm zufolge soll „jedes Moment des Erkennens,

ohne Unterschied des Gebietes und des Gegenstandes, von einem Gefühl beglei-

tet“ sein, „welches die Gewißheit des Erkennenden von dieser bestimmten Sache

ausdrückt“; „dies aber“ darf nicht als ein „frommes“ bezeichnet werden, „indem

210 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 266. 211 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 205 212 Ebd. 213 Ebd., S. 209

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es zugleich die Neigung des Erkennenden zu dem bestimmten Gegenstand aus-

spricht, und also von dieser abhängt.“214

C. Das Kreaturgefühl und das Abhängigkeitsgefühl: Urteil und Urteilsenthaltung

Ferner wird Ottos Versuch, das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl zu

ersetzen, um das religiöse Erlebnis von der Rationalität des Denkens zu befreien,

von einem Mißverständnis vom Wesen des Gefühls und des Urteils geleitet. Otto

behauptet, daß das, was Schleiermacher mit dem Abhängigkeitsgefühl zum Aus-

druck bringt, eigentlich als Kreaturgefühl zu verstehen ist. Diese Behauptung

impliziert dann aber auch eine weitere Behauptung, nämlich daß das Abhängig-

keitsgefühl als eine Form des Urteils zu verstehen ist, das eigentlich auf unser

Verhältnis zu dem gegenständlich Seienden zurückzuführen ist. Hierin liegt für

ihn der Grund, warum das Abhängigkeitsgefühl für die Definition des Wesens der

Religion unangemessen ist. Er möchte durch diese Ersetzung des Abhängigkeits-

gefühls durch das Kreaturgefühl die rationalen Elemente, von denen die Religi-

onsphilosophie Schleiermachers nicht frei ist, beseitigen; das religiöse Erlebnis,

das Schleiermacher seiner Ansicht nach unangemessen mit dem Begriff Abhän-

gigkeitsgefühl zum Ausdruck bringen wollte, soll nun vom Standpunkt des mysti-

schen Denkens aus verstanden werden.

Die Frage ist allerdings, ob wirklich ein prinzipieller Unterschied zwischen dem

Abhängigkeitsgefühl und dem Kreaturgefühl besteht. Otto nennt offenbar zwei

Gründe dafür, warum das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl ersetzt

werden müsse. Der erste Grund liegt darin, daß das Abhängigkeitsgefühl eigent-

lich das Resultat einer logischen Schlußfolgerung sei, das als solches keineswegs

dem genuin religiösen Erlebnis entsprechen kann; und der zweite Grund ist, daß

das Gefühl, das in der Form von Abhängigkeitsgefühl bzw. Kreaturgefühl vor-

kommt, nur ein abgeleitetes Gefühl ist, dem ein echt religiöses Gefühl vorausge-

hen muß: das mysterium tremendum, das durch die Begegnung mit dem Numino-

sen erzeugt wird.

214 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 29.

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Folglich stellt sich dann aber die Frage, wie das Bewußtsein vom mysterium tre-

mendum selbst möglich ist? Was ist die Bedingung dafür, daß wir uns des myste-

rium tremendum bewußt werden? M. E. ist ein Bewußtsein des mysterium tre-

mendum, das nicht das Wirkungsverhältnis zwischen mir und dem mir äußerlich

Seienden voraussetzt, nicht möglich. Damit soll nicht gesagt sein, daß ein spezifi-

sches Seiendes vorausgesetzt werden muß, ohne welches das mysterium tremen-

dum nicht möglich ist. Ich meine nur, daß das mysterium tremendum nur als das

Unbegreifliche möglich ist, das freilich ein Bewußtsein davon voraussetzt, daß

etwas begreiflich ist. Ohne Verständnis davon, daß ich etwas begreife und begrei-

fen kann, auch wenn es noch nicht ausreichend bestimmt ist, kann ich nicht ein

Bewußtsein vom mysterium tremendum haben. Denn das Bewußtsein vom myste-

rium tremendum ist nur als eine Folge eines Urteils möglich, nämlich daß ich

etwas nicht verstehen kann, weil es meinen Verstand prinzipiell übersteigt. Sonst

ist das Moment des tremendum nicht auf das mysterium zurückzuführen, sondern

auf etwas Bedrohliches, vor dem Ich Angst bzw. Furcht habe. Und daß irgendein

Seiendes als etwas Bedrohliches bewußt wird, bedeutet natürlich wiederum nicht,

daß es etwas Unbegreifliches ist.

Auch das Kreaturgefühl ist eigentlich nur eine Folge des Urteils, durch das der

Charakter des Verhältnisses zwischen meinem Sein und dem Numinosen auf eine

bestimmte Weise entschieden wird. Denn das Bewußtsein davon, daß mein eige-

nes Sein nicht von mir selbst in die Welt gebracht worden ist, ist nicht möglich

ohne eine Reflexion über die Frage, woher mein eigenes Sein letztlich stammt.

Das Bewußtsein von der Geschöpflichkeit meines eigenen Seins entsteht nicht

vor, sondern erst nach dem Bewußtsein davon, daß sich mein Sein unabhängig

von meinem Willen je schon in der Welt befindet. Ferner wird das Wesen des

unendlichen Seins beim Kreaturgefühl im Sinne Ottos als das Irrationale (Gott

als Schöpfer) verstanden bzw. beurteilt (in der Form eines abgeleiteten zweiten

Urteils, das aus dem ersten Urteil, daß sich mein Sein unabhängig von meinem

Willen je schon in der Welt befindet, folgt). Somit wird das Absolute bzw. das

unendliche Sein von der Dimension des rationalen Denkens getrennt.

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Eine solche radikale Trennung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen

ist dem Religionsverständnis von Schleiermacher fremd. Aber das bedeutet nicht,

daß das Wesen der Religion bei Schleiermacher durch ein rationales Denken voll-

ständig logisch bestimmt wird. Zwar setzt das schlechthinnige Abhängigkeitsge-

fühl nicht notwendig die Anerkennung Gottes als eines Schöpfers voraus, falls

man unter dem Schöpfer irgendein Wesen versteht, dessen Erfahrung ein irratio-

nales Verständnis vom Ursprung der Welt erfordert. Aber das Urteil darüber, ob

Gott als ein irrationales Wesen erfahrbar ist, ist bei einer Verwendung des Kon-

zeptes des Abhängigkeitsgefühls nicht negativ entschieden, sondern eher enthal-

ten. Die Möglichkeit, daß Gott in einer positiven Religion mit dem mystischen

Weltverständnis verbunden sein kann, ist bei Schleiermacher gar nicht ausge-

schlossen.

Schleiermacher selber verbindet das Abhängigkeitsgefühl mit dem Begriff der

Schöpfung, die aber in einem rein religiösen Sinn verstanden werden soll. Unter

der Schöpfung darf man nach Schleiermacher nicht einen Akt der Freiheit verste-

hen, der in Analogie zu dem auf die Vorhandenheit der Welt bezogenen mensch-

lichen Aktbewußtsein gebildet wird: „In Gott können bei der Schöpfung keine

Freiheit bestimmende Gründe gesetzt werden, weil er selbst in keinen Zusam-

menhang mit etwas anderem gesetzt ist.“215 Die Schöpfung bezieht sich nicht auf

einen möglichen Willensakt Gottes, der lediglich eine Analogisierung Gottes mit

der Existenz des endlichen Daseins bedeuten würde. Für Schleiermacher ist „die

Schöpfung der Welt“ vielmehr „die reine Offenbarung“ von Gottes „Wesen“, in

der sich alles Endliche, zu dem sich das Dasein in seinem Bewußtsein der Frei-

heit verhält, in seiner Abhängigkeit vom Unendlichen zeigt.216

Das schlechthinnige Abhägigkeitsgefühl, das Otto als ein vom Bezug des Da-

seins zu dem endlichen Seienden abgeleitetes Phänomen versteht, hat also bei

Schleiermacher eine doppelte Funktion. Einerseits wird der Seinscharakter des

weltlich Seienden, zu dem sich das rationale Denken verhält, anerkannt, da die

Welt als Offenbarung des Wesens von Gott nicht als bloßes Nichts verstanden

215 Ebd., S. 147. 216 Ebd.

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werden kann. Andererseits läßt sich das, was durch das rationale Denken als wahr

erkannt wird, im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl nicht verabsolutieren;

alles, was sich in seiner weltlichen Vorhandenheit zeigt, ist nicht schlechthin das

Wesen des Gottes selbst, sondern das Offenbarwerden seines Wesens.

Bei Schleiermacher ist die Beziehung zwischen Gott und Welt überhaupt nicht

als die zwischen Sein und Nichts verstanden, wie Otto in seinem mystischen

Denken des Numinosen geltend machen will. Scholtz hebt in seiner Darstellung

der Religionsphilosophie Schleiermachers besonders hervor, daß die Frömmig-

keit (Beziehung auf Gott) und das Freiheitsbewußtsein (Beziehung auf die Welt)

bei Schleiermacher nicht schlechthin als Gegensätze verstanden werden: „Da wir

aber aus relativer Abhängigkeit nicht herauskommen und auch unsere Freiheit

nicht uns selbst verdanken, ist unser Grundgefühl das der schlechthinnigen Ab-

hängigkeit. Daraus folgt, daß die Frömmigkeit nicht das Freiheitsbewußtsein aus-

schließt, sondern vielmehr voraussetzt.“217 Bei Otto ist die Religion vom Welt-

bewußtsein radikal getrennt, so daß die rationalen Momente des Bewußtseins im

Kreaturgefühl lediglich in ihrer radikalen Nichtigkeit empfunden werden. Im Ge-

gensatz dazu ist die Religion bei Schleiermacher auf die Möglichkeit verwiesen,

die Frage nach dem Wesen der rationalen Wahrheit jenseits von formal-logischen

Gegensätzen wie Sein und Nichts zu stellen.

3.2. Das Heilige von R. Otto und dessen Bedeutung für die Schleiermacher-

Rezeption Heideggers

Ottos Kritik an Schleiermacher hat auf Heideggers Schleiermacher-Rezeption

einen großen Einfluß ausgeübt. Es steht außer Zweifel, daß sich Heidegger in

seiner frühen Freiburger Zeit mit der Religionsphilosophie von Otto beschäftigt

hat. Dafür gibt es mindestens zwei philologische Belege. Der erste Beleg ist ein

Brief von Husserl an Otto vom 5. März 1919, in dem Husserl eine empfehlende

Stellungnahme für seinen Schüler H. Ochsner abgibt. Husserl berichtet, wie er

Ottos Werk Das Heilige erhalten hat und welchen Eindruck er davon bekommen

217 G. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, a.a.O., S. 130.

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hat: „Durch H. [Heidegger] und O. [Ochsner] […] wurde ich im letzten Sommer

auf Ihr Buch über das Heilige aufmerksam und es hat stark auf mich gewirkt, wie

kaum ein anderes Buch seit Jahren. Gestatten Sie, daß ich meinen Eindruck so

fasse: Es ist ein erster Anfang für eine Phänomenologie des Religiösen, mindes-

tens nach all dem, was eben nicht über eine reine Deskription und Analyse der

Phänomene selbst hinausgeht.“218 Der zweite Beleg sind Heideggers Vorarbeiten

zur Rezension von Rudolf Otto, Das Heilige, 1917, die ein Teil von Heideggers

Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19 sind.

Hier nennt Heidegger zwei prinzipielle Probleme, die im Ottos Werk behandelt

werden: „1. Problem des historischen Bewußtseins“, und „2. Problem des Irrati-

onalen“.219 Beide hängen voneinander ab. Das erste Problem betrifft das „Be-

wußtsein personaler Existenz und erfüllter originärer Lebenssphäre“, welches auf

die „durchlaufende herrschende Konstituierungsform“ des lebendigen Bewußt-

seins zurückzuführen ist. Das zweite Problem bezieht sich dann auf „die Konsti-

tuierung einer originären Objektivität“, durch die das Irrationale (das Heilige)

„nicht als theoretisches Noema – auch nicht als irrational theoretisches – “ erlebt

wird, „sondern als Korrelat des Aktcharakters ‚Glaubens‘, welcher selbst nur aus

dem grundwesentlichen Erlebniszusammenhang des historischen Bewußtseins

heraus zu deuten ist.“220 Das Bewußtsein personaler Existenz und erfüllter origi-

närer Lebenssphäre ist also nicht nur in dem Sinn ein historisches Bewußtsein,

daß es „bezüglich der […] sich andrängenden Welten“ irgendwelche rationalen

Verstehensmöglichkeiten schafft, die zugleich als Möglichkeiten zur Bewältigung

der selbstweltlichen Lebensführung vorkommen.221 Sondern nach Heidegger ist

auch und gerade das Heilige für Otto das eigentliche und bestimmende Moment

des Bewußtseins, das zum grundwesentlichen Erlebniszusammenhang des histo-

rischen Bewußtseins selbst gehört.

218 C. Ochwadt / E. Tecklenborg, Das Maß des Verborgenen, a.a.O., S. 159. 219 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen, a.a.O., S. 332 f. 220 Ebd. 221 Ebd., S. 332.

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3.2.1. Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls

Heideggers Bemerkungen zu Das Heilige zeigen, woher Heidegger die eigentli-

chen Ansätze seiner Kritik an der Glaubenslehre Schleiermachers entnommen hat.

Heidegger hat seine Kritik an der Glaubenslehre erst einige Monate nach seinen

Bemerkungen zur zweiten Rede verfaßt, in denen der phänomenologische Charak-

ter der Religionsphilosophie von Schleiermacher nachdrücklich betont wurde; die

Religionsphilosophie Schleiermachers wurde hier durchaus positiv einge-

schätzt.222 Das Heilige von Otto erschien 1917, also im gleichen Jahr, in dem

Heidegger seine Bemerkungen zur zweiten Rede und zu §§3-4 der zweiten Aufla-

ge der Glaubenslehre geschrieben hat. Heideggers Vorarbeiten zur Rezension von

Das Heilige folgen unmittelbar nach seiner Kritik an der Glaubenslehre, in der –

gerade wie in Das Heilige – die seinstheoretische Seite des Abhängigkeitsgefühls

bemängelt wurde. Schon hieraus läßt sich wohl entnehmen, daß Heidegger sehr

wahrscheinlich erst nach der Lektüre von Das Heilige die Ansätze für seine Kritik

an der Glaubenslehre gewonnen hat.

Gerade wie Otto findet Heidegger den wesentlichen Mangel an Schleiermachers

Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls darin, daß er die Beziehung

des Menschen zu Gott „zu sehr in einer seinstheoretischen – spezifisch die Natur-

realität betreffenden – Richtung [objektiviert].“223 Das Heilige von Otto grenzt

sich dadurch von dem Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers ab, daß es nicht als

theoretisches Noema – auch nicht als irrational theoretisches – aufgefaßt wird.

„Die Aufpfropfung des Irrationalen auf das Rationale“, die beim Begriff des

schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls zu finden ist, „muß vermieden und be-

kämpft werden.“224 Ferner ist auch der Versuch von Schleiermacher, „unser le-

bendiges Bewußtsein“ als „ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von

Situationen“ zu deuten, für Heidegger ebenfalls „zu sehr naturtheoretisch“, da

hier die Abhängigkeit des Daseins vom Sinnzusammenhang einer kulturellen

222 Vgl.; „One sees the beginning of Heidegger’s critique taking shape in an extended note on Schleiermacher’s The Christian Faith §§3-4, which postdates the avobe selective reading of the Second Speech (by all accounts in the summer of 1917) by at least several months.“ (T. Kisiel, The Genesis of Heideggers Being and Time, a.a.O., S. 92). 223 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 331. 224 Ebd., S. 333.

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Lebenswelt überbetont wird.225 „Die religiöse Erlebniswelt braucht ihre Selbst-

gewißheit sich nicht durch eine Messung an kulturkritischen ‚Gesetzlichkei-

ten‘ und Ideen zu sichern“, die das Reduktionsverfahren unseres lebendigen Be-

wußtseins auf einen historischen, aber zugleich in seinem Zustandscharakter er-

blickten Sinnzusammenhang einer Kultur voraussetzt: „Es muß […] das prinzi-

pielle Phänomen der Eigenbeständigkeit originärer Gewißheitsgebungen heraus-

gestellt und in seiner jeweilig abgesteckten Bewußtseinsherrschaft dargetan wer-

den“, wenn man das religiöse Erlebnis im vollen Umfang als einen Ausdruck des

wirklichen Bewußtseinslebens selbst verstehbar machen will.226

Hierin liegt der Grund, warum Heidegger die Unbestimmtheit von etwas primär

als ein Zeichen der Unheimlichkeit des Lebens versteht. Heidegger will, ausge-

hend von Ottos Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls, das

religiöse Erlebnis streng vom rationalen Denken unterscheiden. Daß das Heilige

nicht als theoretisches Noema – auch nichts als irrational theoretisches – zum

Problem gemacht werden darf, bedeutet in diesem Sinn, daß die Religion auf eine

Dimension des Bewußtseinslebens verwiesen sein muß, in der alles Rationale als

grundsätzlich nichtig erscheint. Das Etwas, das als unbestimmt erlebt wird, bleibt

ein Element der rationalen Sinn-Relationen, welches in einem Bezug zu dem rati-

onalen Verständnis der Welt steht. Dagegen ist das Etwas, das als unheimlich

erlebt wird, auf das genuin religiöse Erlebnis verwiesen, welches dem rationalen

Denken schlicht nicht zugänglich ist. „Das ‚Numinose‘“, das Otto als „das Son-

derelement im Heiligen minus des sittlichen und rationalen Momentes“ darlegt,

ist also für Heidegger viel geeigneter als Ausdruck des religiösen Erlebnisses als

das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl im Sinne Schleiermachers, das seiner

Ansicht nach zu sehr im Rahmen einer objektivistischen Seinstheorie verbleibt.227

225 Ebd., S. 331. 226 Ebd., S. 333. 227 Ebd.

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3.2.2. Die religiöse Betrachtung und die Unheimlichkeit des Seins

Man darf freilich nicht annehmen, daß Ottos Kritik am Abhängigkeitsgefühl Hei-

degger zu einer generellen Abwertung der Religionsphilosophie Schleiermachers

geführt hätte. Otto selber bleibt trotz seiner Kritik an Schleiermacher im großen

und ganzen dem Grundgedanken Schleiermachers treu, indem er nicht im theore-

tischen Denken, sondern im Gefühl die eigentliche Instanz für die Wesensbe-

stimmung des religiösen Erlebnisses findet. Er möchte durch die Ersetzung des

Abhängigkeitsgefühls durch das Kreaturgefühl die Religionsphilosophie Schlei-

ermachers nicht ablehnen, sondern radikalisieren, um dadurch die mystische Di-

mension des religiösen Erlebnisses noch stärker hervorzuheben.

In der Einleitung wurde gezeigt, daß Heidegger die religiöse Betrachtung im

Sinne Schleiermachers – die Zurückgezogenheit des Daseins von äußerer Wirk-

samkeit – als das eigentliche Wesen des religiösen Erlebnisses betrachtet. Die

religiöse Betrachtung, die Heidegger in seinen Bemerkungen zu der zweiten Rede

als eine Art der phänomenologischen Epoché – Einklammerung des an der

Vorhandenheit orientierten natürlichen Weltbewußtseins – versteht, wird dann in

seinen Bemerkungen zu §§3-4 der Glaubenslehre zugleich als eine spezifisch

religiöse Selbstbestimmung des Daseins in seinem religiösen Gemütszustand ver-

standen: das Bewußtsein des „Sichselbstnichtsogesetzthaben[s]“, das allerdings

das Zurückgezogensein des Daseins von äußerer Wirksamkeit voraussetzt. 228

Phänomenologisch betrachtet ist die Existenz des Selbst, verstanden als ein Ge-

wordensein in einem konkreten Lebenszusammenhang, bei dem religiösen Be-

wußtsein nicht vorausgesetzt. Das Dasein leistet in der religiösen Betrachtung

eine Art der phänomenologischen Reduktion; die Existenz des Selbst (des alltäg-

lichen Selbstseins des Daseins) wird im Verfahren der Epoché zusammen mit

dem Vorhandensein der Welt eingeklammert. „Erfüllung und Erfülltsein“ vom

personalen Bewußtsein „können phänomenologisch […] nicht als Gewordensein,

überhaupt nicht als seinsmäßig gedeutet werden“; und hierin liegt der eigentliche

Sinn der religiösen Betrachtung, dem der Begriff der schlechthinnigen Abhängig-

keit nicht gebührend Rechnung trägt. Das Wesen des Daseins ist keineswegs das 228 Ebd., S. 332.

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„Sichselbstsetzenkönnen“, das im Abhängigkeitsgefühl in der Form von Sich-

selbst-setzen-als-abhängig-von-etwas durch die logische Schlußfolgerung zum

Ausdruck kommt.229 „Sein eigenster Urgrund ist zugleich und eigentlich ewiger

Beruf als absolutes Konstituens des Geistes und Lebens überhaupt“, und hierin

allein „gewinnt der Begriff der Intentionalität seine apriorische Deutung als Ur-

element des Bewußtseins.“230

Heideggers Kritik am Begriff der Abhängigkeit bedeutet also nicht eine generelle

Abwertung der Religionsphilosophie Schleiermachers, sondern eher deren Kor-

rektur; das phänomenologische Wesen des religiösen Erlebnisses, das Schleier-

macher mit dem Begriff der religiösen Betrachtung richtig zum Ausdruck ge-

bracht hat, soll von seinstheoretischen Elementen gänzlich befreit werden. Hei-

degger bleibt auch nach seiner Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige

dem Grundgedanken Schleiermachers treu, daß das Wesen der Religion in der

Zurückgezogenheit des Daseins von äußerer Wirksamkeit liegt. Nun aber führt

Ottos Kritik am Begriff des Abhängigkeitsgefühls Heidegger zu der Einsicht, daß

das religiöse Erlebnis, das Schleiermacher als ein Zurückgezogensein von äußerer

Wirksamkeit definiert, im faktischen Leben notwendig zur Erfahrung der Un-

heimlichkeit führt.

Otto weist darauf hin, daß „das ‚Abhängigkeitsgefühl‘ oder besser das Kreatur-

gefühl eine erst nachfolgende Wirkung“ hat, „nämlich eine Abwertung des erle-

benden Subjektes hinsichtlich seiner selbst. Oder anders ausgedrückt: Das Gefühl

einer ‚schlechthinnigen Abhängigkeit‘ meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl

einer ‚schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)‘ seiner.“ 231 Damit

begründet Otto seine These, daß das Abhängigkeitsgefühl oder das Kreaturgefühl

als ein Selbst-Gefühl (Selbstbestimmen) keineswegs das religiöse Erlebnis um-

fassend bestimmen kann, sondern sich nur als ein subjektives Begleitmoment

eines anderen Gefühls (nämlich der Scheu) verstehen läßt. Dieses ursprüngliche

religiöse Gefühl der Scheu ist nach Otto das mysterium tremendum. Erst durch

die Erfahrung des Absoluten, das wegen seiner absoluten Überlegenheit im Inne-

229 Ebd. 230 Ebd. 231 R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 11 f.

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ren des Menschen ein Gefühl der Unheimlichkeit verursacht, entsteht das „Krea-

turgefühl“; und dieses „Gefühl ist [das Gefühl] eigener Nichtigkeit, eigenen Ver-

sinkens gegenüber dem in der ‚Scheu‘ objektiv erlebten Schauervollen und Gro-

ßen selbst.“232

3.3. Die existenzontologische Fundierung des Nichts im theologischen Umfeld

Ottos Gedanke, daß das Dasein in einem religiösen Erlebnis sich seiner eigenen

Nichtigkeit gewahr wird, ist für Heideggers Denken von entscheidender Bedeu-

tung. Das Wesen der Religion besteht im „Gefühl der Kreatur, die in ihrem eige-

nen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über aller Kreatur ist.“233

Hierin liegt wahrscheinlich der eigentliche Ursprung des Heideggerschen Ver-

suchs, den existenzialen Ursprung der Sorge auf die „Grundbefindlichkeit der

Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ zurückzuführen.234

Freilich darf man nicht ignorieren, daß auch Kierkegaard für den Heideggerschen

Begriff der Angst von Bedeutung gewesen ist. „Am weitesten ist S. Kierkegaard

vorgedrungen in der Analyse des Angstphänomens“,235 sagt Heidegger; und diese

Aussage kann zugleich als ein Beleg dafür gelten, daß Heideggers Begriff der

Angst wohl auch von Kierkegaard beeinflußt wurde. Aber Kierkegaard analysiert

das Phänomen der Angst „im theologischen Zusammenhang einer ‚psychologi-

schen‘ Exposition des Problems der Erbsünde“, ohne die Möglichkeit in Betracht

zu ziehen, das Phänomen der Angst im Rahmen der existenzialen Problematik zu

behandeln.236 Er hat nach Heidegger „das Existenzproblem als existenzielles aus-

drücklich ergriffen und eindringlich durchdacht. Die existenziale Problematik ist

ihm aber so fremd, daß er in ontologischer Hinsicht ganz unter der Botmäßigkeit

Hegels und der durch diesen gesehenen antiken Philosophie steht.“237

232 Ebd., S. 19 f. 233 Ebd., S. 10. 234 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 184. 235 Ebd., S. 190. 236 Ebd. 237 Ebd., S. 235.

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Allerdings muß man festhalten, daß auch Otto den Begriff ‚Angst‘ im Rahmen

des theologischen Denkens behandelt, das, gerade wie bei Kierkegaard, auf die

psychologische Exposition des Problems des religiösen Erlebnisses angewiesen

ist. Gewiß: Die Religion beruht nach Otto auf einem irrationalen Erlebnis, das als

solches nicht nur auf die ontologische Grundstruktur des Daseins verweist, son-

dern auch etwa auf die emotionalen Erregungen (das mysterium tremendum und

das Fascinans), deren Exposition ebenfalls eine Sache der psychologischen Ana-

lyse ist. Dennoch ist es auffällig, daß Heideggers Analyse der Angst und die dar-

aus folgende Beschreibung des Schuldigseins des Daseins eine verblüffende Ähn-

lichkeit mit den Ausführungen hat, mit denen Otto das religiöse Erlebnis als Kre-

aturgefühl beschreibt. Betrachten wir zwei Thesen in Sein und Zeit, die für Hei-

deggers Definition des Schuldigseins von zentraler Bedeutung sind: 1. „Seiend ist

das Dasein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.“ 2. „Der eigene

geworfene Grund zu sein, ist das Seinkönnen, darum es der Sorge geht.“238 Bei

beiden Thesen ist deutlich, daß das Schuldphänomen und das Kreaturgefühl den

gleichen ontologischen Grund voraussetzen: das Sein des Daseins ist nicht vom

Dasein selbst ermöglicht. Ebenso wie Otto aus dem Kreaturgefühl die Nichtigkeit

als das wesenhafte Merkmal des religiösen Erlebnisses ableitet, sieht Heidegger

gerade in diesem Schuldphänomen die ontologische Notwendigkeit, daß die

„Nichtigkeit in der Struktur der Geworfenheit [liegt]“.239

Auch die folgenden zwei Überlegungen können helfen, die Frage nach der Be-

deutung von Otto für Heideggers Daseinsanalyse richtig zu beantworten. 1. Es

gibt keine frühere Schrift von Heidegger, in der er das Dasein mit dem Angstphä-

nomen bzw. der Geworfenheit in Verbindung bringt. Aber unmittelbar nach der

Lektüre von Das Heilige, in dem Otto das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers

durch das Kreaturgefühl ersetzt, beginnt Heidegger, für die Unruhe des Lebens

bzw. für die Angst Interesse zu zeigen. 2. Die Unheimlichkeit im Sinne von Otto,

die sich im Kreaturgefühl als Gefühl der eigenen Nichtigkeit des Daseins zum

Ausdruck bringt, ist in gewisser Hinsicht als existenziale Unheimlichkeit zu be-

238 Ebd., S. 284. 239 Ebd., S. 285. Vgl. hierzu auch unten §3.4.

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zeichnen. Zwar ist es sicher richtig, daß Otto das Gefühl der eigenen Nichtigkeit

nicht selten als ein Gefühl der Selbstabwertung betrachtet, das als solches kei-

neswegs als existenzial bezeichnet werden kann. Dieses Gefühl beruht aber zu-

gleich auf der ontologischen Faktizität des Daseins, des eigenen Seins nie mäch-

tig sein zu können. Diese Nichtigkeit gehört also auch für Otto zur wesenhaften

Seinsstruktur des Daseins selbst, die weder auf das Vorhandensein des Seienden

noch auf das Ich zurückzuführen ist.

Die Unheimlichkeit ist sowohl für Otto als auch für Heidegger ein Bewegrund

für das Dasein, sich aus der alltäglichen Weltverfangenheit zurückzuholen und

ein im existentialen Sinn historisches Leben zu ergreifen. Was mit diesem histori-

schen Leben gemeint ist, wird in Abschnitt 3.4. näher erläutert.

3.3.1. Die vita religiosa

Das erste Moment des Numinosen, das Kreaturgefühl, ist nach Otto einerseits auf

„das schon ausgeführte abdrängende Moment des tremendum mit der ‚ma-

jestas‘“ zurückzuführen; andererseits aber auf das anziehende Moment, nämlich

das Moment des fascinans, das im numinosen Hymnen (als drittes Moment) kon-

kret zum Ausdruck kommt.240 Das Moment des fascinans führt die Menschen zu

einem religiösen Leben, das von dem an praktischen Zwecken orientierten Leben

des alltäglichen Daseins grundverschieden ist: „Das Innehaben selber und das

Ergriffensein vom numen wird Selbstzweck, wird um seiner selbst willen gesucht,

mit Aufbietung der raffiniertesten und wildesten Verfahren der Askese. Die ‚vita

religiosa‘ beginnt.“241 Die vita religiosa, die auf die anziehende Wirkung des

Numinosen im religiösen Erlebnis zurückzuführen ist, unterscheidet sich dadurch

von der sogenannten existenzialen Entschlossenheit des Daseins im Heidegger-

schen Sinn, daß sie mit einer konkreten Belohnung verbunden ist, wie Erlösung

(als Ziel des religiösen Lebens) und Wohlgefühl (das Numinose als das Moment

des fascinans oder die Religion als Geschmack des Menschen für das Unendliche

im Schleiermacherschen Sinn): „Und in diesen seltsamen, oft bizarren Zuständen 240 R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 42. 241 Ebd., S. 44.

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numinoser Ergriffenheit zu weilen wird selber ein Gut, ja ein Heil, das gänzlich

verschieden ist von den durch Magie erstrebten profanen Gütern.“242 Die vita

religiosa ist aber nicht primär als ein besonderes Phänomen zu verstehen, das nur

wenige Menschen durch ihre religiöse Selbstbesinnung verwirklichen, sondern

eher als eine existenziale Grundmöglichkeit des menschlichen Lebens, sich aus

der Befangenheit des rationalen Denkens zu befreien; die anziehende Kraft des

Numinosen weist darauf hin, „daß über und hinter unserem rationalen Wesen ein

Letztes und Höchstes unseres Wesens verborgen liegt [,] das nicht sein Genüge

findet in Sättigung und Stillegung Triebe und Begehrungen. Die Mystiker nann-

ten es den ‚Seelengrund‘.“243

3.3.2. Die Angst

Die Angst im Sinne Heideggers beinhaltet hingegen keinerlei Aspekte einer reli-

giösen Begeisterung, die dem Dasein irgendeinen positiven Grund (wie z. B. Zu-

versicht oder Erlösungshoffnung) für eine Ausrichtung auf das Sein selbst gibt.

Das Dasein flieht stets vor seiner eigenen Seinsmöglichkeit, und das Verfallen in

das Alltagsleben ist daher ein Phänomen, das das Sein des Daseins existenzial

bestimmt und somit auch das Wesensmerkmal seines In-der-Welt-seins darstellt:

„Dieser Charakter des In-Seins wurde dann konkreter sichtbar gemacht durch die

alltägliche Öffentlichkeit des Man, das die beruhigte Selbstsicherheit, das Selbst-

verständliche ‚Zuhause-sein‘ in die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins

bringt.“244 Für Heidegger besteht aber in der Angst explizit die Möglichkeit, die

Verfallenheit an das Man zu überwinden: „Die Angst dagegen holt das Dasein

aus seinem verfallenden Aufgehen in der ‚Welt‘ zurück. Die alltägliche Vertraut-

heit bricht in sich zusammen.“245

Während Otto also die vita religiosa sowohl vor dem Hintergrund der bedrohli-

chen Momente des Numinosen einerseits als auch vor dem Hintergrund der erhe-

benden Momente andererseits erörtert, akzeptiert Heidegger nur das bedrohliche 242 Ebd., S. 44 f. 243 Ebd., S. 49. 244 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O, S. 188 f. 245 Ebd., S. 189.

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Moment des Seins selbst als Grund für die Selbstausrichtung des Daseins auf das

Sein selbst. Hierin liegt der Grund, warum Heidegger das Sein des Daseins als

durch die Sorge bestimmt versteht. Die Sorge besteht einerseits darin, daß das

Dasein sich um Innerweltlich-Seiendes sorgt bzw. seine alltäglichen Besorgungen

in der Welt verrichtet; andererseits aber darin, daß die Sorge des Daseins und ihre

Umwandlung der Welt zu einer zeughaften Umwelt auf die Angst als existenziale

Grundbefindlichkeit des Daseins zurückzuführen ist: „Die verfallende Flucht in

das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Un-

heimlichkeit, die im Dasein als geworfenen, ihm selbst in seinem Sein überant-

worteten In-der-Welt-sein liegt. Diese Unheimlichkeit setzt dem Dasein ständig

nach und bedroht, wenngleich unausdrücklich, seine alltägliche Verlorenheit in

das Man.“246 Und diese Unheimlichkeit entsteht nicht nur bei Vorkommnissen,

deren Erklärbarkeit die Grenze des rationalen Denkvermögens überschreiten:

„Die Angst kann in den harmlosesten Situationen aufsteigen“, da das Verfallen in

das Alltagsleben schon eine Folge der Angst als einer ausgezeichneten Erschlos-

senheit des Daseins ist: „Die alltägliche Art, in der das Dasein die Unheimlichkeit

versteht, ist die verfallende, das Un-zuhause ‚ablehnende‘ Abkehr.“247

Die Angst hat also bei Heidegger eine doppelte Funktion. Einerseits ist sie der

eigentliche Grund für das Verfallen des Daseins, da das Verfallen eine das Un-

zuhause ablehnende Abkehr darstellt; andererseits aber ist sie zugleich der Grund

dafür, daß das Dasein aus seiner Weltverfallenheit zurückkehrt, auch wenn es in

seinem Alltagsleben keinen Grund hat, sich durch irgend etwas bedroht zu fühlen.

3.4. Das religiöse Gefühl und die Angst als Stimmung der ursprünglichen Gewor-

fenheit des Daseins in die Welt

Es stellt sich nun die Frage, was Heidegger mit seiner Behauptung ausdrücken

möchte, daß die Angst auch in den harmlosesten Situationen aufsteigen kann?

Heidegger meint damit, daß die Angst des Daseins ein Gefühl der grundwesentli-

chen Nichtigkeit seiner selbst ist. Ähnlich wie das Kreaturgefühl das Dasein zu 246 Ebd. 247 Ebd.

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der Einsicht bringt, daß sein eigenes Sein nicht von ihm selbst in die Welt ge-

bracht ist, ist das Dasein in seiner existenzialen Sorgestruktur auf die ursprüngli-

che Geworfenheit seines Seins verwiesen: „Seiend ist das Dasein geworfenes,

nicht von ihm selbst in sein Da gebracht.“248

3.4.1. Die Geworfenheit und das Nichts

Der Sinn der Geworfenheit, die der unhintergehbare Ausgangspunkt des sorgen-

den Lebensvollzugs ist, kann erst dann angemessen verstanden werden, wenn

man das Bewußtseinsmoment, in dem das Sein des Daseins in seiner grundwe-

sentlichen Nichtigkeit erblickt wird, als den eigentlichen Sinn der Geworfenheit

versteht. Hierin liegt der existenzial-ontologisch erweiterte Sinn der phänomeno-

logischen Reduktion, den Heidegger nicht primär von der Phänomenologie Hus-

serls, sondern eher von der Religionsphilosophie von Schleiermacher und Otto

übernommen hat. Die religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers, in der die

Existenz des Ichs und der Welt eingeklammert ist, wird von Heidegger unter dem

Einfluß von Otto dahingehend interpretiert, daß die Angst als Grundbefindlich-

keit des Daseins betrachtet werden muß. Die Sorgestruktur ist, sofern sie auf die

Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins zurückzuführen ist, ein konkretes Le-

bensapriori, das jedem praktischen Handeln vorausgeht und daher nicht einen

Vorrang des praktischen Lebens vor dem theoretischen bedeutet: „Die Sorge liegt

als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch ‚vor‘ jeder, das heißt

immer schon in jeder faktischen‚Verhaltung‘ und ‚Lage‘ des Daseins. Das Phä-

nomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des ‚praktischen‘ Verhaltens vor

dem theoretischen aus.“249

Die Sorgestruktur ist nach Heidegger auf drei Existenzialien bezogen: „Das Sein

des Daseins ist die Sorge“, die „in sich Faktizität (Geworfenheit), Existenz (Ent-

wurf) und Verfallen [umfaßt].“250 Dabei muß man die ursprüngliche Faktizität

der Geworfenheit und das Verfallen genau unterscheiden. Das Verfallen ist für

248 Ebd., S. 284. 249 Ebd., S. 193. 250 Ebd., S. 284.

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Heidegger zwar ebenfalls ein Existenzial; es ist aber ein Existenzial in dem Sinn,

daß es eine kontingent-notwendige Folge des sorgenden Lebensvollzugs des Da-

seins ist. Das Verfallen in die Welt ist eine Abkehr vom Un-zuhause, und diese

Abkehr ist selbstverständlich nur als ein nachträglicher Lebensvollzug möglich,

den das Dasein aus dem Bewußtsein seiner Geworfenheit, d. h. aus der Angst als

dem Bewußtsein von der Unheimlichkeit des Seins, durchführt.

Der selbstweltliche Vollzug des Daseins – d. h. die je-meinige Art, das Leben zu

erfahren – hat also nicht primär einen praxeologischen Ursprung. Es ist zwar rich-

tig, daß nach Heidegger das Dasein sein eigenes Leben faktisch durch das prakti-

sche Verhalten zur Welt führt: „Existierend kommt es nie hinter seine Geworfen-

heit zurück, so daß es dieses ‚daß es ist und zu sein hat‘ je eigens erst aus seinem

Selbstsein entlassen und in das Da führen könnte. Die Geworfenheit aber liegt

nicht hinter ihm als ein tatsächlich vorgefallenes und vom Dasein wieder losge-

fallenes Ereignis, das mit ihm geschah, sondern das Dasein ist ständig – solange

es ist – als Sorge sein ‚Daß‘.“251 Dabei liegt die Pointe allerdings in der Hervor-

hebung des selbstweltlichen Charakters des Daseins, nämlich daß das Dasein als

Sorge dieses ‚daß es ist und zu sein hat‘ ist. Aber der Grund dafür, warum Hei-

degger den selbstweltlichen Charakter des Daseins hervorhebt, liegt nicht

schlechthin darin, daß Heidegger praxeologisch den selbstweltlichen Vollzug des

Daseins als Grundmerkmal der daseinsmäßigen Lebensführung darlegen will; er

will vielmehr – ausgehend von seiner Unterscheidung von dem eigentlichen

Selbst und dem uneigentlichen – zeigen, was das Dasein von seinem Verfallen ins

alltägliche Dasein zu seiner ursprünglichen Existenzstruktur des selbstweltlichen

Daseins im eigentlichen Sinn zurückbringt. Und ähnlich wie Otto das Wesen der

Religion im Gefühl eigener Nichtigkeit findet, die sich im Kreaturgefühl aus-

drückt, weist Heidegger die grundwesentliche Nichtigkeit des Seins des Daseins

auf, deren Bewußtsein (Gefühl) das Dasein zum Bewußtsein seiner Schuldigkeit

führt: „Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit

durchgesetzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener

Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Da-

251 Ebd.

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sein ist als solches schuldig, wenn anders die formale existenziale Bestimmung

der Schuld als Grundsein einer Nichtigkeit zurecht besteht.“252

3.4.2. Die Duplizität der selbstweltlichen Lebenserfahrung: Die Eigentlichkeit

und die Uneigentlichkeit

Die Angst, die als Grundbefindlichkeit des Daseins eine ausgezeichnete Erschlos-

senheit des Daseins bedeutet, wird in Sein und Zeit explizit als der eigentliche

Ausgang des sorgenden Lebensvollzugs bezeichnet. Dieser Gedanke ist auch in

den frühen Freiburger Vorlesungen von Heidegger zu finden, besonders in

Grundprobleme der Phänomenologie, wo die Selbstgenügsamkeit als Grundcha-

rakter der Selbstwelt definiert wird.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Selbstgenügsamkeit des Lebens

dynamisch gemeint ist.253 Der Grundcharakter der Selbstwelt ist in dem Sinn als

selbstgenügsam zu charakterisieren, daß sämtliche Impulse, sein Leben zu gestal-

ten, einen selbstweltlichen Charakter haben, weil sie aus der selbstweltlich geleb-

ten Seinssituation des Daseins entstehen und das Dasein zu einer neuen, ebenfalls

selbstweltlich zu lebenden Seinssituation führen: „Aus der eigenen Geschichte

der Selbstwelt selbst erwachen die Motivierungen zu neuen Tendenzen, und die

Erfüllungen dieser laufen als solche immer zurück in die Selbstwelt und ihre je-

weiligen erfüllungsbereiten Situationen, die faktische des faktischen Lebens

sind.“254 Dabei liegt die Pointe keineswegs in der Behauptung, der Grundcharak-

ter der Selbstwelt liege in der Selbstgenügsamkeit. Heidegger will vielmehr die

Bedingungen zeigen, unter denen neue Orientierungen in der selbstgenügsamen

Lebensführung des Daseins entstehen.255

In §23 der Grundprobleme der Phänomenologie, dessen Titel Das Problem der

Gewinnung der Grunderfahrung der Selbstwelt ist, weist Heidegger darauf hin,

252 Ebd., S. 285. 253 Siehe oben 2.4. 254 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 63. 255 Vgl. dazu G. Imdahls Dissertation über Heideggers Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen: „Man könnte von einer Eigendynamik der Habitualitäten des Lebens sprechen, denen sich das Selbst eigens entwinden muß, um die Selbstgenügsamkeit aufzuheben.“ (G. Im-dahl, Das Leben verstehen, Würzburg 1997, S. 112)

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daß die Frage nach dem Grundcharakter der Selbstwelt zugleich die Frage nach

der „Erfahrung der Selbstwelt“ ist, „in der diese selbst als solche in ihrer Abge-

hobenheit erfahren wird.“256 Heidegger will „die Weise des Erfahrens der Selbst-

welt, ihren eigenen Sinn, die darin beschlossenen Tendenzen und Möglichkei-

ten“ verstehen; und dabei handelt es sich nicht um eine Frage, wie die Lebenser-

fahrung insgesamt als eine selbstweltliche auszulegen ist, sondern, „was hier ü-

berhaupt Abhebung heißt, wie sie möglich ist, wie es zu besonderen Erfahrungen

kommt und zwar kommt durch und in Abhebung aus der faktisch vollen Lebens-

erfahrung“.257

Diese auf den ersten Blick sehr unklaren Aussagen von Heidegger kann man erst

dann richtig verstehen, wenn man die Heideggersche Unterscheidung von eigent-

licher und uneigentlicher Seinsweise bei seiner Analyse des Selbstseins berück-

sichtigt. Heidegger definiert in Sein und Zeit die unthematische Lebensweise des

alltäglichen Daseins als ein Existenzial; das Dasein ist kontingent-notwendig ins

Man (uneigentliches Selbst) verfallen und „[d]as eigentliche Selbst beruht nicht

auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine

existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.“258 Die

Überwindung der alltäglichen Verfallenheit an das Man ist in diesem Sinn als ein

Vorgang zu verstehen, in dem das Dasein sich von seinem uneigentlichen Selbst

abwendet. Heidegger spricht davon, daß sich diese eigentliche Selbstwelt ‚abhe-

ben‘ muß von den einfachen und einheitlichen Erfahrungen der Alltagswelt und

stellt der ‚Abgehobenheit‘ der Lebenswelt die „faktische unabgehobene Lebens-

erfahrung“ des Dasein gegenüber. Es geht also darum, wie es möglich ist, die

alltägliche Verfallenheit an das Man zu überwinden und eine die alltägliche ein-

heitliche Lebenserfahrung transzendierende Perspektive einzunehmen.

In §24 (Der Bedeutsamkeitscharakter des konkreten Lebenszusammenhangs)

werden zwei Probleme behandelt, deren Analyse m. E. der eigentliche Ursprung

der Konzeption des Alltagslebens in Sein und Zeit ist: a) Die Einheit der alltägli-

chen Lebenserfahrung, und b) die Rolle der ‚Bedeutsamkeit‘ für das Wirklich- 256 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 101. 257 Ebd. 258 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 130.

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keitsverständnis des faktischen Lebens. Es wurde bereits erläutert, daß die Be-

deutsamkeit eines Dinges sich aus seiner ‚Zuhandenheit‘ in einer gegebenen Situ-

ation ergibt. Ich nehme ein solches Ding nicht einfach nur wahr, sondern verwen-

de es für einen Zweck, wie z. B. eine Tasse, aus der ich trinke – und in diesem

Zuhandenheitscharakter des Seienden (für mein Lebensinteresse als Zeug dienlich

zu sein) besteht der Sinn der Aussage, daß die Bedeutsamkeit die Wirklichkeit

des faktischen Lebens überhaupt bestimmt: „Ich lebe faktisch immer bedeutsam-

keitsgefangen“. Da ich im Alltag immer in einem Bedeutsamkeitszusammenhang

gefangen bleibe, findet keine Reflexion oder Distanzierung von der Welt statt, in

der die Dinge ‚abgehoben‘ von bzw. außerhalb ihrer lebensweltlichen Bedeutung

betrachtet werden, so daß Heidegger die Lebenserfahrung im Alltagsleben als

„die faktisch unabgehobene Lebenserfahrung“ bezeichnet. Ich möchte hier im

Folgenden von der Einheitlichkeit der faktischen Lebenserfahrung sprechen.259

In der Vorlesung über die Phänomenologie des religiösen Lebens vom Winter-

semester 1920/21 kann man noch deutlicher erkennen, was Heidegger mit dieser

Einheitlichkeit der faktischen Lebenserfahrung meint. Er grenzt dort die faktische

Lebensweise von der theoretischen Lebensweise ab, die einerseits den Erfah-

rungsgegenstand vom theoretischen Interesse her als ein von dem Bedeutsam-

keitszusammenhang des Lebens getrenntes und somit abgehobenes Objektsein

bestimmt, und die andererseits das Subjekt der Erfahrung als ein Ich von den an-

deren Seienden abhebt: „Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als

Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht

einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was

ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Ge-

hobenheit u. ä. Ich selbst erfahre nicht einmal mein Ich in Abgesetztheit, sondern

bin dabei immer der Umwelt verhaftet. Dies Sich-Selbst-Erfahren ist nicht theore-

tische ‚Reflexion‘, ist nicht ‚innere Wahrnehmung‘ u. ä., sondern selbstweltliche

Erfahrung, weil das Erfahren selbst einen weltlichen Charakter hat, bedeutsam-

keitsbetont ist, so zwar, daß die eigene erfahrene Selbstwelt faktisch gar nicht

259 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 104.

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mehr von der Umwelt abgehoben ist.“260 Somit wird deutlich, daß die faktische

einheitliche Lebenserfahrung mit der Selbstgenügsamkeit des faktischen Lebens

identisch ist, die Heidegger in den Grundproblemen der Phänomenologie als

Grundcharakter der Selbstwelt bezeichnet.

Die oben besprochene Erfahrung des Unheimlichen, die Heidegger in seiner frü-

hen Freiburger Zeit von Ottos Begriff des Numinosen als mysterium tremendum

übernommen hat, ermöglicht eine andere Form der Distanzierung von der alltäg-

lichen Lebenserfahrung, die im Unterschied zur theoretischen Lebensweise, die

Subjekt und Objekt trennt, die ursprüngliche und eigentliche Seinsweise des fak-

tischen Daseins erhellt. Hierin liegt der entscheidende Grund dafür, warum Hei-

degger von der theologischen Herkunft seiner Hermeneutik spricht. „Das tiefste

historische Paradigma für den merkwürdigen Prozeß der Verlegung des Schwer-

punktes des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt

der inneren Erfahrungen gibt sich uns in der Entstehung des Christentums“, be-

hauptet Heidegger in den Grundproblemen der Phänomenologie.261 Dabei ver-

steht Heidegger die im Christentum vollzogene Verlegung des Schwerpunktes

des faktischen Lebens in die Selbstwelt als eine selbstweltliche Distanzierung,

durch die das Dasein sich von seiner weltverfangenen Lebensführung zurückholt:

„Was im Leben der christlichen Urgemeinden vorliegt, bedeutet eine radikale

Umstellung der Tendenzrichtungen des Lebens“, die „meist“ als „Weltverneinung

und Askese“ verstanden wird.262 Und gerade diese selbstweltliche Askese und

Weltabkehr ist nach Heidegger als der eigentliche Ursprung der Geschichte zu

verstehen: „Hier liegen die Motive für die Ausbildung ganz neuer Ausdruckszu-

sammenhänge, die sich das Leben schafft, sogar bis zu dem, was wir heute Ge-

schichte nennen.“263

260 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 13. 261 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 61. 262 Ebd. 263 Ebd.

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3.5. Die Religion und die Entschlossenheit des Daseins zum Sein

Es ist nun deutlich geworden, daß die religiöse Betrachtung im Sinne Schleier-

machers, die Heidegger als das Zurückgezogensein von äußerer Wirksamkeit

versteht, der Anfang des Heideggerschen Verständnisses der Geschichte ist. Sie

wurde allerdings durch Heideggers Beschäftigung mit Otto dahingehend modifi-

ziert, daß die Angst als das Grundphänomen des Lebens hervorgehoben wird; die

Unheimlichkeit des Seins, die dem Dasein seine eigene Nichtigkeit bewußt macht,

ist für Heidegger die notwendige Folge davon, daß das Dasein sich von seiner

Verfallenheit an die Welt löst. Die Eigentümlichkeit des religiösen Lebens, die

Schleiermacher im Zurückgezogensein von äußerer Wirksamkeit gesehen hat,

bleibt für Heideggers Hermeneutik des faktischen, geschichtlichen Lebens wei-

terhin von maßgebender Bedeutung. Daher ist für Heidegger, der die Religion im

Sinne Schleiermachers als eine phänomenologische Epoché versteht, die „Ge-

schichte im eigentlichsten Sinn“ „der höchste Gegenstand der Religion“, wie er in

seinen Bemerkungen zur zweiten Rede behauptet.264

In Sein und Zeit spricht Heidegger von „der uneigentlichen Geschichtlichkeit“, in

der „die ursprüngliche Erstrecktheit des Schicksals verborgen [ist].“265 Die Mög-

lichkeit, diese uneigentliche Geschichtlichkeit des einheitlichen faktischen Le-

bens zu überwinden, besteht nun in der „Treue der Existenz zum eigenen Selbst“,

die die „angstbereite Entschlossenheit“ bedeutet.266 Hieraus kann man erkennen,

daß die Möglichkeit des Daseins, aus der uneigentlichen Geschichtlichkeit des

alltäglichen Lebens in die ursprüngliche Geschichtlichkeit zurückzukehren, ent-

scheidend von dem Phänomen der Angst abhängt, das auf das Gefühl der eigenen

Nichtigkeit zurückzuführen ist. Diese Erkenntnis der existenzialen Möglichkeit

des Daseins, ein eigentliches Leben zu führen, hat Heidegger erst durch seine

Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie gewonnen: 1917, also

unmittelbar nach seiner metaphysisch-theologischen Habilitationsschrift, hat er

im Religionsbegriff von Schleiermacher eine phänomenologische Epoché gese-

hen, die das faktische Dasein selbst in seinem religiösen Zurückgezogensein von 264 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 322. 265 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 391. 266 Ebd.

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äußerer Wirksamkeit erreicht. Diese religiöse Zurückgezogenheit des Daseins

wurde dann nach seiner Beschäftigung mit der Religionsphilosophie von Otto

dahingehend modifiziert, daß das Gefühl der eigenen Nichtigkeit – die Angst –

als das Wesensmerkmal des religiösen Bewußtseins anerkannt wird. Heideggers

Dualismus zwischen dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen, der schon

in seiner frühen Freiburger Zeit sein Denken bestimmt, wurde entscheidend von

der Religionsphilosophie Schleiermachers und Ottos beeinflußt.

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II. Schleiermachers Begründung der Religion und die Phänomenologie

Im ersten Kapitel wurde gezeigt, inwiefern Heidegger Schleiermachers Religi-

onsphilosophie als eine Art Phänomenologie betrachtet. Im Vordergrund stand

das religiöse Gefühl bei Schleiermacher, das Heidegger als eine phänomenologi-

sche Epoché auffaßt.

Im Gefühl ist das Dasein auf eine Bewußtseinsform verwiesen, die sich vom

Denken und Handeln grundsätzlich unterscheidet. Das Dasein ist im aktuellen

Denken und Handeln an der Vorhandenheit bzw. Zuhandenheit des Seienden ori-

entiert, und es tritt hier in ein Wirkungsverhältnis mit dem Seienden; es ist als ein

In-der-Welt-sein je schon in einer Beziehung zum Seienden, und das Seiende

zeigt sich nach Heideggers Umweltanalyse nicht bloß als das Vorhandene, son-

dern als das Zuhandene, dessen bedeutsame Erschlossenheit für das Leben auf die

Bedeutsamkeitsverhalte des Daseins wie Um-zu, Wo-zu, Dazu und Um-willen

zurückzuführen ist. In der religiösen Betrachtung, die für Schleiermacher das

Zurückgezogensein des Daseins von äußerer Wirksamkeit bedeutet, erkennt Hei-

degger nun den Grund dafür, warum das faktische Leben, obwohl es ontologisch

bedeutsamkeitsverfangen ist, historisch wird.

Das Leben ist für Heidegger einerseits auf den Vollzug der Sorge des Daseins

angewiesen, durch den die Welt als ein Zusammenhang der Zuhandenheiten er-

schlossen ist, andererseits ist es auf das Sein selbst bezogen. Das Dasein, das in

der alltäglichen Lebenssituation bedeutsamkeitsverfangen bleibt, gelangt in der

Grundbefindlichkeit (Angst) seines Seins zum Bewußtsein seiner grundwesentli-

chen Nichtigkeit. Das Dasein befindet sich in einem Spannungsverhältnis zwi-

schen dem uneigentlichen Selbst und dem eigentlichen. Dabei ist Ottos Kritik an

dem Begriff Abhängigkeitsgefühl von Schleiermacher, die Heidegger durch seine

Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige 1917 kennengelernt hat, für

Heidegger von großer Bedeutung. Die Zurückgezogenheit des religiösen Daseins

wird nun als die Unruhe des Lebens bezeichnet. Das Sein selbst, auf das sich das

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Dasein in seiner (religiösen) Zurückgezogenheit ausrichtet, zeigt sich nun als un-

heimlich. Hieraus entwickelt der frühe Heidegger die paradoxe Bezeichnung der

Dynamik der Selbstgenügsamkeit. Die Bewegung des faktischen Lebens ist Rui-

nanz, also ein Verfallen ins Alltagsleben, eine Abkehr des sorgenden Daseins

vom Sein selbst. Diese Bewegung des faktischen Lebens bleibt aber insofern dy-

namisch, weil sie vom Bewußtsein des Seins selbst begleitet wird, was Heidegger

mit Begriffen wie die Unruhe des Lebens, die Unheimlichkeit des Seins und die

Angst des Daseins zum Ausdruck bringt.

Der Ursprung dieses Gedankens einer Dynamik der selbstgenügsamen Lebens-

bewegung liegt wohl in Heideggers Beschäftigung mit Schleiermachers Religi-

onsphilosophie. Allerdings wurde Heideggers Schleiermacher-Rezeption durch

seine Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige stark beeinflußt. Aber

wenn Heidegger in seinen Bemerkungen zur zweiten Rede Schleiermachers die

Geschichte als das zentrale Thema der Religionsphilosophie Schleiermachers

hervorhebt, zeigt er zugleich, daß er gerade durch seine Beschäftigung mit

Schleiermachers Religionsphilosophie den entscheidenden Ansatzpunkt für seine

am faktischen Leben orientierte Hermeneutik erhalten hat. Heidegger hat bis zu

1915/16 nach einer Möglichkeit einer metaphysischen Geschichtswissenschaft

gesucht, wie wir zu Beginn des ersten Kapitels (im ersten Teil) anhand seines

Aufsatzes ‚Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft‘ deutlich gemacht ha-

ben. Nach seiner Beschäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie im

Jahr 1917 spricht Heidegger nicht mehr von einer metaphysischen Wissenschaft

der Geschichte. Die Geschichte, die Heidegger in seinen Bemerkungen zu Schlei-

ermachers zweiten Rede als den eigentlichen Sinn des religiösen Lebens hervor-

gehoben hat, wird nun aus der Perspektive der an der Lebensfaktizität orientier-

ten Hermeneutik betrachtet.

Heideggers Bemerkung, Schleiermachers Religion sei eine Form der phänome-

nologischen Epoché, kann wie folgt erläutert werden: Das Sein der Welt, das im

natürlichen Selbstbewußtsein des alltäglichen Daseins als selbstverständliche

Voraussetzung für das Denken und das Handeln angenommen wird, wird in der

religiösen Zurückgezogenheit von äußerer Wirksamkeit kritisch eingeklammert.

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Nach seiner Beschäftigung mit Ottos Hauptwerk Das Heilige interpretiert nun

Heidegger das religiöse Zurückgezogensein dahingehend, daß die Einklamme-

rung der Welt im religiösen Bewußtsein als Ursprung der Angst – der Grundbe-

findlichkeit des Daseins – umgedeutet wird. Dabei darf man allerdings nicht an-

nehmen, Schleiermacher betrachte das religiöse Selbstbewußtsein und das Welt-

bewußtsein als getrennte Momente, da die echte Dimension des Seins für Schlei-

ermacher erst durch das Sichzurückziehen des Daseins von äußerer Wirksamkeit

ermöglicht werde, während Heidegger die Angst und das Alltagsbewußtsein des

selbstgenügsamen Lebens als untrennbare Strukturmomente des Lebens betrachte.

Im Gegenteil: Für Heidegger stellt Schleiermacher die Religion als ein fundamen-

tales Strukturelement des Lebens dar, und hierin liegt der Grund dafür, warum

Heidegger das Geschichtliche als das eigenste Thema der Religionsphilosophie

Schleiermachers bezeichnet. Das faktische Leben des Daseins, das nach der Um-

weltanalyse Heideggers bedeutsamkeits- und weltverfangen bleibt, wird dadurch

historisch, daß es kontingent-notwendig auf das Bewußtsein vom Sein selbst, das

Schleiermacher mit dem Begriff der Religion zum Ausdruck gebracht hat, ver-

wiesen ist.

In diesem Kapitel soll überprüft werden, ob Schleiermachers Religionsphiloso-

phie tatsächlich als eine Phänomenologie verstanden werden kann. Dabei liegt

der Schwerpunkt der Analyse wiederum in der Rolle der Geschichte. Kann man

Schleiermachers Religionsphilosophie als eine spezifische Form der Phänomeno-

logie bezeichnen, die, wie Heidegger in seinen Bemerkungen zur zweiten Rede

Schleiermachers behauptet, die Geschichtlichkeit als ihr zentrales Thema hat?

Hierbei geht es um die Frage, ob die Religion im Sinne Schleiermachers die Rolle

spielt, dem Dasein die Ausrichtung auf das Sein selbst, das nicht auf das Seiende

zurückgeführt werden kann, zu ermöglichen. Dem existenzontologischen Sinn der

Geschichtlichkeit des faktischen Lebens liegen m. E. zwei Definitionen des Da-

seins zugrunde: Erstens kann das Dasein nicht mit dem Sein als Subjekt identifi-

ziert werden, sondern es muß als ein Seiendes verstanden werden, dessen Exis-

tenzstruktur die Seinserschließung durch das Da des Da-seins notwendig in sich

schließt; zweitens ist dem Dasein die Möglichkeit gegeben, sich von der Verfal-

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lenheit ins Alltagsleben zur ursprünglichen Geschichtlichkeit des faktischen Le-

bens zurückzuholen, wie sie Heidegger in Sein und Zeit mit den Begriffen wie

Gewissen, Ruf des Seins usw. thematisiert. Daher ist die ontologische Differenz

zwischen dem Sein und dem Seienden für Heidegger nicht bloß als das Ergebnis

einer philosophischen Betrachtung zu verstehen, sondern sie ist ein fundamenta-

ler Ermöglichungsgrund für die faktisch geschichtliche Lebensführung des Da-

seins selbst. Zu fragen ist hier also, ob Schleiermacher mit seinem Begriff der

Religion die Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst zum Ausdruck bringt,

die allerdings das Bewußtsein von der ontologischen Differenz zwischen dem

Sein und dem Seienden voraussetzt.

Die Beantwortung dieser Frage kann allerdings nicht darauf hinauslaufen,

Schleiermachers Philosophie mit der Phänomenologie Husserlscher Prägung

gleichzusetzen. Schon daraus, daß Heidegger durch seiner Auseinandersetzung

mit Schleiermacher seine hermeneutische Wende vollzogen hat, kann man erken-

nen, daß für Heidegger Schleiermachers Religionsphilosophie als eine alternative

Form der Phänomenologie zu verstehen ist. Heidegger versteht die Religionsphi-

losophie Schleiermachers als eine Phänomenologie, die – im Unterschied zur

Husserlschen Phänomenologie – die faktisch historische Lebensführung des reli-

giösen Daseins als ihren wichtigsten Inhalt hat. Wir wollen nun überprüfen, ob

diese Interpretation zutreffend ist. Dafür müssen wir vor allem nach den Inhalten

und der Struktur der Religionsphilosophie Schleiermachers fragen.

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1. Schleiermachers Begriff der Religion

1.1. Das Gefühl und die Epoché

Es wurde bereits gezeigt, daß Heidegger als das Wesen der Religion im Sinn

Schleiermachers die religiöse Betrachtung versteht, in der sich das Dasein vom

äußeren Wirkungsverhältnis zwischen den endlich Seienden zurückzieht. Man

kann aus den folgenden Passagen der zweiter Rede erkennen, daß diese Ausle-

gung richtig ist: „Denn freilich ist der Religion die Betrachtung wesentlich, und

wer in zugeschlossener Stumpfsinnigkeit hingeht, wem nicht der Sinn offen ist

für das Leben der Welt, den werdet Ihr nie fromm nennen wollen; aber diese Be-

trachtung geht nicht wie Euer Wissen um die Natur auf das Wesen eines Endli-

chen im Zusammenhang mit und im Gegensatz gegen das andere Endliche, noch

auch wie Eure Gotteserkenntniß, wenn ich hier beiläufig noch in alten Ausdrük-

ken reden darf, auf das Wesen der höchsten Ursache an sich und in ihrem

Verhältniß zu alle dem, was zugleich Ursache ist und Wirkung […].“267 Verein-

facht ausgedrückt ist hier die Religion insofern als eine ‚Betrachtung‘ definiert,

als daß sie unmittelbar auf das Wesen der höchsten Ursache geht, aber nicht auf

das Wesen des endlichen Seienden, das nur im Wirkungszusammenhang mit den

anderen Seienden als seiend betrachtet werden kann.

Schleiermacher geht aber nicht davon aus, daß man sich in der religiösen Be-

trachtung auf das jenseitige Seinsgebiet des Absoluten ausrichtet, welches von

dem diesseitigen Seinsgebiet des endlich Seienden getrennt bleibt. In der religiö-

sen Betrachtung holen wir uns zwar vom Wirkungszusammenhang zwischen den

endlichen Seienden zurück. Das bedeutet aber nicht, daß unser Bewußtsein um

der religiösen Wahrheit willen die Mannigfaltigkeit alles Endlichen einfach hinter

sich läßt. Der Sinn der religiösen Betrachtung besteht vielmehr darin, daß das

Endliche nicht nur in seinem Verhältnis zu den anderen endlichen Seienden zu

betrachten ist, sondern auch in seiner kontingent-notwendigen Abhängigkeit vom

267 F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 53.

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Unendlichen; „die Betrachtung des Frommen ist nur das unmittelbare Bewußtsein

von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unend-

liche, alles Zeitlichen im Ewigen durch das Ewige.“268

Es ist wichtig zu erkennen, daß Schleiermacher das religiöse Bewußtsein – das

Gefühl – nicht als ein Sonderphänomen versteht, sondern als ein fundamentales

Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins auffaßt. Es ist zwar wahr, daß „das

Erkennen, das Gefühl und das Handeln“ unterschiedliche Momente des bewußten

Lebens darstellen und in diesem Sinn „nicht einerlei sind“; sie sind aber „doch

unzertrennlich“, das wache Bewußtsein ist notwendig auf diese drei Elemente

verwiesen.269 Das bedeutet einerseits, daß das religiöse Gefühl in jedem wirkli-

chen Bewußtsein mitgesetzt ist; andererseits aber auch, daß kein wirkliches Be-

wußtsein möglich ist, das nicht auf eine bestimmte Gegenständlichkeit bezogen

wäre.

Daraus ergibt sich aber nun eine schwierige Frage, die im Hinblick auf den Ver-

gleich von Schleiermachers Religionsphilosophie mit der Phänomenologie von

entscheidender Bedeutung ist: In welchem Sinn ist die religiöse Betrachtung als

eine phänomenologische Epoché zu bezeichnen? Bedeutet die Epoché nicht eine

Enthaltung von jeglichem Urteil über einen Sachverhalt, die nach der konsequen-

ten Durchführung einer phänomenologischen Untersuchung zur kritischen Ein-

klammerung jedes gegenständlich Seienden führen soll? Husserl behauptet ganz

explizit, daß wir, wenn die phänomenologische Reduktion konsequent durchge-

führt werden soll, nicht umhinkönnen, alles, was durch den thetischen Akt des

Bewußtseins als Gegenständlichkeit zu setzen ist, kritisch einzuklammern. 270

Inwiefern kann also Heidegger in der religiösen Betrachtung Schleiermachers

eine Art der phänomenologischen Reduktion erkennen? Bleiben wir auch in der

268 Ebd. 269 Ebd., S. 62. 270 „Es ist ferner anzumerken, daß nichts im Wege steht, korrelativ auch in Ansehung einer zu setzenden Gegenständlichkeit, welcher Region und Kategorie auch immer, von Einklammerung zu sprechen. In diesem Falle ist gemeint, daß jede auf diese Gegenständlichkeit bezogene Thesis auszuschalten und in ihre Einklammerungsmodifikation zu verwandeln sei. Genau besehen, paßt übrigens das Bild von der Einklammerung von vornherein besser auf die Gegenstandsphäre, eben-so wie die Rede vom Außer-Aktion-setzen besser auf die Akt- bzw. Bewußtsseinssphäre paßt.“ (E. Husserl, Ideen zu einer Reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 64.)

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religiösen Betrachtung im Sinn Schleiermachers dem natürlichen Bewußtsein

verhaftet, weil unser Bewußtsein immer noch auf das gegenständlich Seiende

bezogen ist?

Man kann diese Frage nicht angemessen beantworten, wenn man nicht die be-

freiende Funktion des religiösen Gefühls berücksichtigt: In der religiösen Be-

trachtung holen wir uns von unserer praktischen Lebensführung zur ursprüngli-

chen Einheit von Anschauung und Gefühl zurück. Das religiöse Gefühl bietet die

Möglichkeit, „in das innerste Heiligthum des Lebens [hinabzusteigen]“, in wel-

chem „allein […] das ursprüngliche Verhältniß des Gefühls und der Anschau-

ung“ betrachtet werden kann.271

Dies ist ein Gedanke, der wahrscheinlich zu den schwierigsten Thesen der gan-

zen Philosophie Schleiermachers gehört. „Die Religion der Reden“ ist, wie Dil-

they richtig meint, „nicht bloß Gefühl, sondern immer auch Anschauung.“272 In

der Tat spricht Schleiermacher von dem „Einssein“ und der „Trennung“ von Ge-

fühl und Anschauung im innersten Heiligtum des Lebens.273

1.2. Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher

Was bedeutet es aber, daß Gefühl und Anschauung eine Einheit bilden? Setzt die

Anschauung als visuelle Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen nicht etwas ob-

jektiv Vorhandenes voraus, während das religiöse Gefühl nicht auf das in diesem

Sinne Objektive zurückgeführt werden kann? Dilthey weist darauf hin, daß

Schleiermacher selbst in Bezug auf diese Frage unsicher sei und daher in der

zweiten (1806) und dritten (1821) Auflage der Reden die ‚Anschauung‘ durch

andere Begriffe ersetzt habe: „In den weiteren Auflagen verschwindet zwar die

‚Anschauung‘ nicht ganz; aber an vielen Stellen wird sie gestrichen; an anderen

wird sie durch unbestimmtere Ausdrücke wie ‚Ansichten‘, ‚Wahrnehmun-

gen‘ ersetzt; dabei ist die 3. Auflage in der Vermeidung des Begriffs der An-

schauung noch ängstlicher als die 2. Auflage. Der Grund dieser Änderung leuch- 271 F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 58. 272 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2 (GS = Gesammelte Schriften, XIV/2), Göttingen 1966, S. 579. 273 F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 58.

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tet ein und wird sich uns unten noch stärker aufdrängen. Die Religion soll nicht

irgendwie als etwas Objektives erscheinen; namentlich nicht in Analogie zur

Spekulation stehen; deshalb wird sie immer ausschließlicher in das Gefühl verlegt,

und das Gefühl wird immer ausschließlicher subjektiv gefaßt.“274

Auch E. Brunner gelangt in seinen Arbeiten über Schleiermacher zu dem glei-

chen Ergebnis. Nach ihm habe die Anschauung Schleiermachers „einen kogniti-

ven Charakter“; „Schleiermacher sah sofort ein, daß seine ‚Religion‘ dadurch in

gefährliche Nähe der Spekulation gerückt [wird].“275 Wie Dilthey behauptet auch

Brunner, daß Schleiermacher „von der zweiten Auflage an, immer ausschließli-

cher, das subjektive Moment hervorgehoben [hat], bis endlich im Religionsbeg-

riff der Glaubenslehre jede Spur von Inhaltlichkeit ausgetilgt ist: Religion ist rei-

nes Selbstbewußtsein.“276

1.2.1. Zur Frage der Psychologisierung der Religion bei Schleiermacher

Dilthey und Brunner sind sich in zwei Punkten völlig einig. Erstens stellt Schlei-

ermachers Konzept der Anschauung für beide eigentlich nur eine Wiedergabe der

Schellingschen intellektuellen Anschauung dar.277 Zweitens führe Schleierma-

chers Versuch, seinen Begriff der Religion von der Spekulation möglichst fern zu

halten, zu einer Überbetonung des Subjektiven: Schleiermachers Religionsphilo-

sophie erweise sich somit als psychologisch. „Die späteren Auflagen“ der Reden

sind nach Dilthey ein Versuch, jenen mystischen Augenblick, in dem Gefühl und

Anschauung eins sind, als „eine psychische Tatsache“ darzulegen. Dilthey zufol-

274 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 579. Auch E. Huber stellt in seinem Werk Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher detailliert dar, warum und auf welche Weise Schleiermacher den Begriff der Anschauung in der 2. und 3. Auflage der Reden vermieden hat. (Vgl. E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1972, S. 52 ff.) 275 E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 42. 276 Ebd. 277 Vgl. „Diese Anschauung hat nun (das war der Grund der späteren Ähnderung) alle wesentli-chen Züge gemein mit dem was wenig später Schelling unter dem Namen intellektuelle Anschau-ung als Prinzip seiner Philosophie einführte, oder mit dem, was wir heute aus der Neu-Schellingschen Philosophie Bergsons besser unter dem Namen Intuition kennen.“ (Ebd., S. 41-42); „Es scheint uns aber vor allem nötig, auf Schellings Philosophie zu verweisen. Jener geheimnis-volle Augenblick Schleiermachers scheint uns nichts anderes zu sein als Schellings intellektuelle Anschauung […].“ (W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 580.)

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ge besteht also Schleiermachers Anliegen darin, die ursprüngliche Einheit von

Gefühl und Anschauung „psychologisch nachzuweisen“. 278 Brunner schließt

Schleiermachers Religionsphilosophie sogar an die Errungenschaften der „Auf-

klärung“ an, die „den christlichen Begriff der Offenbarung mit dem der natürli-

chen Religion vertauscht“ habe: „Die Deisten und Hume haben ebenso wie

Schleiermacher nach dem Wesen der Religion als psychischer Funktion ge-

fragt.“279

Diese Behauptung wird aber von einer unklaren Konnotation begleitet. Zugege-

ben: Die Religion ist für Schleiermacher, wie Dilthey und Brunner behaupten,

eine psychische Tatsache. Ergibt sich daraus aber, daß Schleiermacher die Religi-

on einfach auf psychische Tatsachen reduziert? Es steht natürlich außer Zweifel,

daß für Schleiermachers Religionsphilosophie die psychologische Dimension

nicht von geringer Bedeutung ist. Entscheidend ist aber nicht die Frage, ob

Schleiermachers Religionsphilosophie eine psychologische Dimension hat; son-

dern ob sie ihrem Wesen nach psychologisch ist.280 Ferner wird man zwar Brun-

ner (und Dilthey) zustimmen, daß Schleiermacher in gewisser Hinsicht nach der

psychischen Funktion des religiösen Gefühls fragt. Aber dies ist auch nicht weiter

verwunderlich, denn unabhängig davon, aus welcher Perspektive auch immer

man die Religion betrachtet, so muß man doch anerkennen, daß die Religion auf

das ganze psychische Leben des Menschen einwirkt und einwirken kann; andern-

falls hätte die Religion keine Bedeutung für die wirkliche Lebensführung des

Menschen. Entscheidend ist also hier nicht die Frage, ob Schleiermacher nach

der psychischen Funktion des religiösen Gefühls fragt, sondern, ob Schleierma-

cher die Religion lediglich als eine psychische Funktion versteht, die außerhalb

des subjektiven Innenlebens keinen ontologischen Grund hat.

278 Ebd. 279 E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 33. 280 Ähnlich kritisiert auch M. Simon die These von Brunner, Schleiermachers Glaubenslehre sei im wesentlichen psychologisch ausgerichtet: „La question qui nous occupe n’est évidemment pas de savoir s’il existe chez Schleiermacher une étude psychologique de la religion. Pas de problème à ce sujet, car la réponse est manifestement affirmative, mais elle concerne le programme de la psychologie, non celui de la philosophie de la religion. La seule question véritable est celle-ci : la philosophie de la religion est-elle, chez Schleiermacher, d’essence psychologique? En définissant la religion, Schleiermacher a-t-il recours à une méthode psychologique?“ (M. Simon, La philoso-phie de la religion dans l’œuvre de Schleiermacher, Paris 1974, S. 64 f.)

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E. Huber schlägt eine interessante Interpretation der Veränderungen, die Schlei-

ermacher in den weiteren Auflagen der Reden unternommen hat, vor. Einerseits

ist er mit Dilthey und Brunner der Meinung, daß Schleiermacher versuche, „die

Schellingschen Spuren in den Reden zu verwischen.“281 Er behauptet ferner auch,

daß „das Selbstbewußtsein“, mit dem das Gefühl ab der dritten Auflage der Re-

den „identifiziert“ werde, als ein rein subjektives Phänomen zu verstehen sei.

Denn dadurch, daß das Gefühl mit dem Selbstbewußtsein gleichgesetzt werde,

„wird das Gefühl des objektiven Inhalts beraubt, und die Religion wird konse-

quenterweise etwas rein Subjektives.“282 Aber in seiner Analyse der Veränderun-

gen, die Schleiermacher in der zweiten Auflage durchführt, weist er dennoch dar-

auf hin, daß für Schleiermacher das Gefühl mehr darstelle, als ein rein subjektives

Moment.

Wie erwähnt, betonen Dilthey und Brunner lediglich die zunehmende Hervorhe-

bung des Subjektiven beim religiösen Erlebnis und die daraus folgende Psycho-

logisierung der Religion als Ergebnis der mehrfachen Änderungen der Reden. Der

wirkliche Vorgang der einzelnen Änderungen der verschiedenen Auflagen ist

aber für Huber nicht mit dieser einfachen Erklärung zu erfassen. Nach ihm kann

man die Änderungen zwischen der ersten und der zweiten Auflage nicht lediglich

als Ausdruck einer Subjektivierung der Religion verstehen: „Der ersten Auflage

lag es nahe, das Gefühl als einen rein subjektiven Vorgang zu fassen im Gegen-

satz zu der Anschauung, die dem fühlenden Subjekt Objekte gegenüberstellt.

Sollte nun der Begriff der Anschauung soweit möglich gemieden werden, so

mußte dem Gefühl die Fähigkeit zugeschrieben werden, sich auf Objekte zu be-

ziehen. Sonst wäre ja der Inhalt der Religion wesentlich verkürzt worden, sonst

hätte nicht mehr das Universum ihr Gegenstand sein können. Demgemäß werden

Formeln gebraucht wie die folgenden: ‚Sein Gottes in uns durch das Gefühl‘; ‚das

Göttliche im Gefühl‘; ‚Gefühl des Universums‘.“283 Mit anderen Worten: Das

Gefühl in der zweiten Auflage vereinigt in sich die subjektive und die objektive

Seite der Religion, während es in der ersten Auflage nur die subjektive Seite ver- 281 E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 59. 282 Ebd., S. 65 f. 283 Ebd., S. 58.

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tritt und somit wesentlich enger gefaßt ist als in der zweiten Auflage der Reden.

„Diese Neuerung ist“ nach Huber „für die weitere Entwicklung von Bedeutung,

und es ist sehr unrichtig, zu behaupten, hinsichtlich der Darstellung ‚der subjekti-

ven Aneignung des religiösen Lebens‘ sei eine Vergleichung der verschiedenen

Auflagen der Reden nicht nötig.“284

Huber analysiert nicht im Detail, auf welche Weise in der zweiten Auflage dem

Gefühl die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich auf Objekte zu beziehen. Man

kann aber vor dem Hintergrund seiner weiteren Darstellung über den Unterschied

zwischen der ersten und der zweiten Auflage vermuten, daß nach Hubers Ansicht

das Nicht-Subjektive285, auf das sich die Religion bezieht, in der ersten und der

zweiten Auflage unterschiedlich aufgefaßt wird. Nach Huber spielt das Univer-

sum in der ersten Auflage eine wichtige Rolle, da dessen Anschauung der Religi-

on eine gewisse Objektivität verleihe. In der zweiten Auflage versuche Schleier-

macher den Begriff der Anschauung zu vermeiden und somit auch den des Uni-

versums: „Gott tritt in den Mittelpunkt der Religion.“286 Während das Universum

als „das Ganze“ alles Seienden an die Vorstellung des gegenständlich Seienden

gebunden sei, sei Gott als „das Eine“ wesentlich frei von der Gegenständlichkeit,

obwohl beide inhaltlich als „der gleiche [Gegenstand]“ der Religion, als „das

Alleine“, zu verstehen seien.287

Aber wie ist die theoretische Beziehung zwischen der zweiten und der dritten

Auflage zu verstehen? Warum wird das Gefühl, dem in der zweiten Auflage zu-

gestanden wird, dass es sich auf etwas Objektives bezieht, nun in der dritten Auf-

lage mit dem Selbstbewußtsein gleichgesetzt, unter dem Huber mit Dilthey und

Brunner etwas rein Subjektives versteht? M. E. ist diese Behauptung, das Selbst-

bewußtsein Schleiermachers sei rein subjektiv zu verstehen, ein vollkommenes

Mißverständnis seiner Position.

284 Ebd. 285 Man sollte m. E. nicht von dem ‘Objekt’ der Religion sprechen, da sich für Schleiermacher die Religion und ihr Gegenstandsbereich nicht angemessen mit der Trennung von ‘Objekt’ und ‘Sub-jekt’ erfassen läßt. 286 Ebd., S. 56. 287 Ebd.

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1.2.2. Die Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein

in der Glaubenslehre

Die dritte Auflage der Reden ist 1821 erschienen, also in dem selben Jahr, in dem

die erste Auflage der Glaubenslehre erschienen ist. Wenn das Gefühl in der drit-

ten Auflage aber als das rein Subjektive zu verstehen ist, da es mit dem Selbstbe-

wußtsein identifiziert wird, so bedeutet dies offenbar auch, daß auch Selbstbe-

wußtsein in der Glaubenslehre, wie E. Brunner explizit behauptet, als etwas rein

Subjektives verstanden werden muß. Dies ist aber sicherlich eine kaum haltbare

Behauptung.

Es fällt erstens auf, daß Huber von der „Gleichung Religion = Gefühl = Selbst-

bewußtsein = Sein Gottes im Menschen“ ausgeht, durch die „Religion und Gott

als zusammengehörig bezeichnet“ sind.288 Diese Gleichung ist m. E. auch für die

Schleiermacher-Interpretation von Brunner und Dilthey charakteristisch. Beide

behaupten, wie schon gezeigt, Schleiermachers Glaubenslehre führe die Religion

auf das rein Subjektive zurück, da Schleiermacher unter der Religion das Gefühl,

das in der Glaubenslehre mit dem Selbstbewußtsein identifiziert werde, verstehe.

Diese Gleichung ist m. E. zwar nicht vollkommen falsch, aber dennoch äußerst

irreführend. Zwar wird die Religion bei Schleiermacher bekanntlich als ein Ge-

fühl definiert, und dieses Gefühl wird in der Glaubenslehre tatsächlich mit dem

Selbstbewußtsein identifiziert. Aber das bedeutet nicht, daß die Religion, das Ge-

fühl und das unmittelbare Selbstbewußtsein das Gleiche wären, so wie der A-

bendstern und der Morgenstern nur zwei verschiedene Namen des gleichen Sterns

sind. Die Religion wird bei Schleiermacher je nach Kontext einmal als das Gefühl

ein andermal als das unmittelbare Selbstbewußtsein verstanden; Schleiermacher

stellt aber ebenfalls die Differenz zwischen der Religion und dem Gefühl bzw.

dem unmittelbaren Selbstbewußtsein dar.

Zwar kann man auf Grund der folgenden Passagen davon ausgehen, daß das Ge-

fühl und das unmittelbare Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre das Gleiche

bedeuten: „Unter Gefühl verstehe ich das unmittelbare Selbstbewußtsein, wie es,

wenn nicht ausschließend, doch vorzüglich einen Zeittheil erfüllt, und wesentlich 288 Ebd., S. 66.

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unter den bald stärker bald schwächer entgegengesetzten Formen des angeneh-

men und unangenehmen vorkommt.“289 Aus dieser Stelle kann man jedoch zu-

gleich klar erkennen, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein, das Gefühl, auch

eine irreligiöse Dimension haben kann; denn ein Selbstbewußtsein, das einen

Zeitteil erfüllt und wesentlich unter den Formen des angenehmen und unange-

nehmen vorkommt, ist eindeutig ein Bewußtsein, das auf die sinnliche Bestimmt-

heit des Seienden bezogen ist. Daher spricht Schleiermacher von der „Richtung

und Bestimmtheit des Gefühls“, die als „Frömmigkeit“ bezeichnet werden

kann.290

Mit Recht betont D. Offermann in ihrer Darstellung von Schleiermachers Einlei-

tung in die Glaubenslehre, „daß in der ganzen Erörterung [Schleiermachers] der

Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins eben insofern interessiert, als er das

Verständnis des Erfüllens eines ‚Zeitteiles‘ impliziert.“291 Wie gezeigt, behauptet

Huber, daß das Gefühl ab der dritten Auflage des objektiven Inhalts beraubt wür-

de, weil es mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein identifiziert werde. Diese

Behauptung erweist sich hier als unhaltbar. „Es geht“ Schleiermacher in der Ein-

führung des unmittelbaren Selbstbewußtseins in seine Religionsphilosophie

„nicht darum, diesen Begriff sozusagen in abstrakter Reinheit, losgelöst von jeg-

licher Möglichkeit inhaltlichen Bestimmtseins zu entfalten, sondern darum, den

Ausdruck ‚Gefühl‘ zu klären, der wohl (auf diesem Gebiet) längst bekannt ist,

aber nicht genau und abgesichert genug gebraucht wird.“292 Das Selbstbewußt-

sein ist also nicht das rein Subjektive, wenn man darunter die Unfähigkeit ver-

steht, sich auf die Objekte zu beziehen. Es ist eher eine konsequente Durchfüh-

rung jenes Versuchs, im Gefühl sowohl die subjektive als auch die objektive Seite

des Erlebnisses zu vereinen, den Huber in seiner Darstellung des Gefühlsbegriffs

in der zweiten Auflage der Reden darstellt. Ferner ist diese Einheit von der Sub-

jektivität und der Objektivität im Gefühl nicht schlechthin als das Wesen des reli-

giösen Erlebnisses zu bezeichnen; diese Einheit ist eher auf die Erfahrungssphäre

289 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 26. 290 Ebd. 291 D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 41. 292 Ebd., S. 41-42.

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bezogen, in der das Bewußtsein durch die Einwirkung des endlich Seienden sinn-

lich bestimmt wird. Nicht das Gefühl als das unmittelbare Selbstbewußtsein rep-

räsentiert ohne weiteres das religiöse Gefühl, sondern nur die fromme Richtung

bzw. die fromme Bestimmtheit des Gefühls kann als Religion bezeichnet werden.

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2. Selbstbewußtsein und Religion

Was ist nun die Religion? Welche Bedingungen muß das Gefühl erfüllen, um als

Religion betrachtet werden zu können?

Es ist m. E. von entscheidender Bedeutung, daß Schleiermacher das Unendliche

nicht in dem Sinn als das Absolute versteht, daß es jenseits der Seinssphäre alles

endlich Seienden liegt. Man kann nicht dadurch zur Religion gelangen, daß man

die Seinssphäre des Endlichen verläßt; sondern nur dadurch, daß man in der

Sphäre des zeitlichen und endlichen Seienden das Unendliche, das Ewige, als den

Existenzgrund alles Endlichen zu erkennen bzw. zu erfahren versucht: Die Be-

trachtung des Frommen ist, wie schon gezeigt, für Schleiermacher auf das allge-

meine Sein alles Endlichen im Unendlichen bezogen. Dieser Gedanke ist an sich

nicht neu und es ist sicherlich falsch, wenn man die originäre Leistung Schleier-

machers bloß in der Formulierung dieses Gedankens finden will. Ferner darf er

nicht einfach auf die Spinozistische Lehre von der Immanenz der Dinge in Gott

zurückgeführt werden.293 Dieser Gedanke ist vielmehr ein Ausdruck dafür, daß

Schleiermachers Philosophie zu einer großen Tradition des theologischen Den-

kens gehört, deren Ursprung bis zum Zeitalter der Kirchenväter reicht. Mit Recht

weist R. Stalder darauf hin, daß man in Schleiermachers Begriff des religiösen

Gefühls einen „zutiefst augustinische[n] Grundgedanke[n]“ wiedererkennen kön-

ne.294 Er hebt in seiner Darstellung des theologischen Denkens Schleiermachers

hervor, „daß die Überzeugung von der Gegenwart Gottes im Innern des Men-

293 Vgl. „Wie in uns selbst ist uns Gottes Sein auch in den Dingen gegeben. In jedem einzelnen Ding ist schließlich der transzendente Grund mitgesetzt. Denn in ihm ist ‚vermöge des Seins und Zusammenseins die Totalität gesetzt‘, und damit auch ihr transzendenter Grund. […] Nur sofern wir das Ding im Zusammenhang mit der Totalität, in der es gesetzt ist, in seinem Verhältnis zu dem System der Begriffe auffassen, ist die Gottheit in ihm ausgedrückt. […] Wir befinden uns mit diesen Bestimmungen ganz auf dem Boden von Spinoza und der aus ihm entsprungenen Iden-titätsphilosophie Schellings.“ (W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1 (GS = Gesammelte Schrif-ten, XIV/1), Göttingen 1966) Auch D. F. Strauß weist darauf hin, daß der ganze erste Teil der Glaubenslehre in die pantheistische Formeln Spinozas zurückübersetzbar sei. (Vgl. D. F. Strauß, Charakteristiken und Kritiken, Leipzig 1839, S. 168.) 294 R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schleiermachers I, Wiesbaden 1969, S. 339.

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schengeistes sich nicht nur am Rande der christlichen Tradition findet, sondern

einen integrierenden Teil ihrer Lehre ausmacht.“295

2.1. Diltheys Interpretation des Begriffs Religionsgefühl bei Schleiermacher

Hierin kann man vielleicht noch einen weiteren Beleg dafür sehen, daß Schleier-

machers Identifikation der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein

nicht eine Reduktion der Religion auf das rein Subjektive bedeutet. Das Selbst-

bewußtsein Schleiermachers ist nicht im Kontext der neuzeitlichen Subjektphilo-

sophie zu verstehen, sondern im Kontext der theologischen Denktradition, in der

das seelische, geistige Leben des Menschen überhaupt als eine Widerspieglung

der ewigen göttlichen Wahrheiten verstanden wird.

G. Scholtz zeigt in einem Vergleich der Dialektik Schleiermachers mit der er-

kenntnistheoretischen Logik Diltheys, daß für Dilthey „Schleiermachers Religi-

onsgefühl nur eine historisch vermittelte Stimmung war“.296 Zwar könne man

„Diltheys Begriff des Innewerdens“ als ein „Gefühl“ verstehen, das „wie bei

Schleiermacher […] auch Selbstgewißheit, ‚Sich-selbst-haben‘ ist“.297 Aber es

gäbe auch einen Unterschied zwischen beiden Begriffen: „Dilthey tilgt im unmit-

telbaren Selbstbewußtsein das metaphysische Implikat, das Religionsgefühl, und

löst das Realitätsproblem durch den Aufweis der inneren Tatsachen, die als Din-

ge-an-sich selbst gegeben sind: Der Schmerz z. B. ist ‚objektive Tatsache‘, ‚Vor-

stellung und Tatsache fallen zusammen‘.“298 Daraus ergibt sich, daß das Problem

der Realität für Dilthey zu einem offenen Problem wird: „Aber während für Jaco-

bi und Schleiermacher dies Gefühl unauflöslich gegeben war und die Realität

Gottes und der Welt so unbedingt garantierte wie die des eigenen Selbst, zeigt

Dilthey es als durch Erfahrung vermittelt. Eben dadurch wird die Subjektivität

ganz auf sich zurückgeworfen; die Existenz der Welt bleibt ihr ein offenes Prob-

lem.“299 Dilthey gerate also in die Probleme des Psychologismus. Wie gezeigt,

295 Ebd., S. 340. 296 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 240. 297 Ebd. 298 Ebd., S. 240 f. 299 Ebd., S. 241.

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bedeutet für ihn Schleiermachers Identifizierung der Religion mit dem unmittel-

baren Selbstbewußtsein eine Zurückführung der Religion auf das psychische bzw.

rein subjektive. Nach Scholtz mache Dilthey aber eben dadurch das Problem der

Realität zu einer Sache der Psychologie, daß er das unmittelbare Selbstbewußt-

sein Schleiermachers von den metaphysischen Inhalten abtrennt: Diltheys „Rück-

gang auf die Widerstandserfahrung gibt nur eine psychologische Erklärung unse-

res Glaubens an die Realität der Außenwelt, aber keinen Beweis für ihre Exis-

tenz.“300

Scholtz’ Kritik an Dilthey bestätigt sich dadurch, daß Dilthey die Erfahrungs-

struktur des religiösen Gefühls mit dem Lebenszusammenhang analogisiert. Die

Unmittelbarkeit des Gefühls, die in der Glaubenslehre mit dem Ausdruck des

unmittelbaren Selbstbewußtseins wiedergegeben wird, bringt nach Dilthey nichts

anderes zum Ausdruck, als daß das ungeteilte Ganze des Daseins im Bewußtsein

vergegenwärtigt ist: „Schwieriger und dem Mißverständnis sehr ausgesetzt ist die

nähere Bestimmung des Selbstbewußtseins als ‚unmittelbar‘. Diese soll nach sei-

ner Erklärung dasjenige Bewußtsein von sich selbst ausschließen‚ welche mehr

einem gegenständlichen Bewußtsein gleicht, und eine Vorstellung von sich selbst

und als solche durch die Betrachtung seiner selbst vermittelt ist‘. Man könnte

diesen Unterschied auch etwa als den des Erlebens und des gegenständlichen

Denkens über das Erlebte bezeichnen. So kann Schleiermacher sich auch die Be-

stimmung des Gefühls bei Steffens als ‚unmittelbare Gegenwart des ganzen unge-

teilten Daseins‘ aneignen.“301 Aus zwei Gründen scheint diese Erklärung m. E.

plausibel zu sein: 1. Schleiermacher betont selbst, daß es kein reines Selbstbe-

wußtsein gibt, das von der Wechselwirkung zwischen den endlich Seienden ge-

trennt bliebe.302 2. Schleiermacher weist selbst (in der zweiten Auflage der Glau-

benslehre) darauf hin, daß sein Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins mit

„Steffens Beschreibung vom Gefühl“, nämlich „die unmittelbare Gegenwart des

300 Ebd. 301 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521. 302 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31 ff.

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ganzen ungeteilten Daseins“, „sehr verwandt“ ist.303 Dilthey versteht aber unter

dem religiösen Gefühl (Gottesbewußtsein) bei Schleiermacher nicht ein ursprüng-

liches Selbstbewußtsein, sondern eher ein nachträgliches Phänomen, das aus der

Naturerfahrung des geschichtlichen Menschen psychologisch abgeleitet wird:

„Also bezeichnet der Ausdruck ‚unmittelbar‘ keineswegs bloße, ursprüngliche,

gleichsam geschichtslose Gegebenheit, er bezeichnet nicht, daß solche Gefühle

niemals Vorstellungen und Entschlüsse zu ihrer Voraussetzung hätten; entsteht

ihm doch nach der Psychologie das Gottesbewußtsein durch die Vermittlung der

geselligen und der Naturgefühle.“304 Schleiermachers Ausdruck unmittelbar be-

zieht sich für Dilthey nicht primär auf unseren Bezug zu dem absoluten Sein

selbst, sondern eher auf eine Lebenseinheit, die bei jedem wirklichen Moment des

Erlebens gegeben ist und die erst nach einer Reflexion als eine geteilte Beziehung

zwischen dem Selbst und dem Objekt vergegenständlicht wird: „Er [der Aus-

druck unmittelbar] bezeichnet nur, daß jeder Zustand der Lebendigkeit nur sofern

dem unmittelbaren Selbstbewußtsein angehöre, als er nicht vergegenständlicht,

nicht zum Objekt der Reflexion gemacht werde.“305

2.1.1. Die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins und das Gottes-

bewußtsein

Diltheys Erklärung bleibt aber der eigentlichen Intention Schleiermachers kei-

neswegs treu. Dilthey hebt die Weltbezogenheit des unmittelbaren Selbstbewußt-

seins hervor und macht das Gottesbewußtsein zu einem sekundären Bewußtsein,

das die Vermittlung der Naturgefühle voraussetzt. Für Schleiermacher selbst ist

jedoch das religiöse Gefühl des Unendlichen kein psychologisch abgeleitetes

Bewußtsein. Schleiermacher versteht das religiöse Gefühl, anders als Dilthey

irrtümlich meint, als ein ursprüngliches Bewußtsein.

303 Die Anmerkung zu §3.2 von F. Schleiermacher, Der christliche Glaube², Berlin 1960, S. 17. Vgl. W. H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin / New York 1988, S. 33. 304 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521. 305 Ebd.

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Dilthey legt das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers einseitig und

eigensinnig aus.306 Das kann man an Hand seiner Kritik an Schleiermacher selbst

deutlich erkennen. In einer anderen Stelle in dem Werk Leben Schleiermachers

spricht Dilthey von der „Irrung in Schleiermachers Auffassung der Religiosität“.

Es sei nach Dilthey ein Irrtum von Schleiermacher, „daß er dieses Gottesgefühl

als etwas Ursprüngliches, jedem Menschen einwohnendes, gesondert von den

Ideen und dem Gewissen in ihm Gegenwärtiges auffaßte.“307 Vor dem Hinter-

grund dieses Zitates läßt sich bereits vermuten, daß Dilthey die Unmittelbarkeit

des Selbstbewußtseins gerade deswegen als einen Ausdruck der ursprünglichen

Lebenseinheit auslegt, weil er die metaphysisch-theologischen Implikationen

dieses Begriffs abwertet.

Dilthey erkennt richtig, daß die Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins für

Schleiermacher nicht im Gegensatz zur Weltbezogenheit des Bewußtseins steht:

Schleiermacher selbst behauptet explizit, „daß wir keinen Augenblik sein können

ohne ein sinnliches Gefühl“.308 Aber daraus folgt nicht, daß das religiöse Selbst-

bewußtsein für Schleiermacher kein ursprüngliches Bewußtsein wäre; denn der

Versuch, „alle frommen Gefühle auf sinnliche zurück zu führen“, ist für Schlei-

ermacher „der ungläubige [Ausweg]“309 angesichts des notwendigen sinnlichen

Moments aller Gefühle. Eine solche Reduktion kann Schleiermacher nicht akzep-

tieren. Dilthey interpretiert das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers

306 Nach G. Meckenstock ist Diltheys Werk Leben Schleiermachers durch die lebensphilosophi-sche Überzeugung Diltheys charakterisierbar: „Ideengehalte und Philosopheme […] werden an-gemessen nur verstanden, wenn sie als Ausdruck des Lebensprozesses verstanden werden. Sie sind Darstellungen des ursprünglichen Erlebens. Und Dilthey hält Schleiermacher für einen be-sonders geeigneten Gegenstand einer lebensphilosophisch orientierten Biographie.“ (G. Me-ckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, Berlin / New York 1988, S. 6) Nach Meckenstock bleibt diese Überzeugung Diltheys auch für die theoretische Auffassung der Philo-sophie Schleiermachers nicht ohne Konsequenzen: „Einerseits zieht er [Dilthey] eine Vielzahl von Quellen heran, andererseits wertet er diese Quellen sehr eklektisch aus. Einerseits bringt er eine Vielzahl von Entwicklungsfaktoren ins Spiel, andererseits setzt er seinen lebensphilosophischen Interpretationsrahmen bei allen Einzeluntersuchungen sehr markant durch.“ (Ebd., S. 8) Offenbar bleibt die Wirkung dieser lebensphilosophisch geprägten Schleiermacher-Interpretation Diltheys nicht von geringer Bedeutung für die gesamte Rezeptionsgeschichte der Philosophie von Schlei-ermacher: „Mit seiner imponierenden materialgesättigten Darstellung“ in Leben Schleiermachers, dessen erster Band 1870 erschienen war, „prägte Dilthey auf Dauer die weitere Forschung.“ (Ebd.) 307 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1, a.a.O., S. 142. 308 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36. 309 Ebd.

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mit den Kategorien seiner Lebensphilosophie. Der fromme Ursprung des Selbst-

bewußtseins, der den eigentlichen Kernpunkt von Schleiermachers Glaubenslehre

bildet, wird bei Dilthey nicht genügend gewürdigt.310

Wenn Dilthey Schleiermacher daher vorwirft, die Lehre der Gottesgegenwart im

Selbstbewußtsein sei verfehlt, so läuft diese Kritik an diesem (vermeintlichen)

‚Irrtum‘ von Schleiermacher bei Dilthey letztlich auf jene falsche Annahme hin-

aus, daß Schleiermacher mit seiner Identifizierung der Religion mit dem Selbst-

bewußtsein die Religion auf ein rein subjektives Moment reduziere. Einerseits

führt Dilthey die Ursache für diesen „Irrtum“ von Schleiermacher auf „den Ein-

fluß der dünnen, halb sentimentalen Lehre Jacobis vom Glauben als Gefühl“ zu-

rück. 311 Zugleich versteht Dilthey Schleiermachers Lehre des unmittelbaren

Selbstbewußtseins als ein Resultat des Einflusses des zeitgenössischen Spino-

zismus, der das pantheistische Denken Spinozas dadurch modernisiere, daß er die

Vorstellung der „Immanenz der Gottheit in der Welt“ ergänze durch den Gedan-

310 M. Redeker, der Diltheys Leben Schleiermachers (in den Gesammelten Schriften) herausgege-ben hat, weist in seiner ‚Einleitung‘ zu dem Werk darauf hin, daß „Diltheys Bedenken gegen Schleiermacher“ hauptsächlich „gegen seine Christologie“ gerichtet sind. (M. Redekers ‚Einlei-tung‘ für Diltheys Leben Schleiermachers, in: W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/1, a.a.O., S. XLIV.) Ihm zufolge ist sich Dilthey zwar mit Schleiermacher-Kritikern wie F. C. Baur und D. F. Strauß darin einig, daß Schleiermacher der Geschichtlichkeit des religiösen Bewußtseins nicht genügend Rechnung trägt: „Dilthey selber steht auf dem Standpunkt der Kritiker Schleiermachers, den Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß einnehmen. Diese sind der Meinung, daß das Ewige und Absolute sich einer geschichtlichen Gestalt nicht vollkommen offenbaren könne.“ (Ebd.) Dilthey erkenne richtig, daß „Schleiermachers Kulturphilosophie“ „eigentlich eine Theologie der Kultur“ darstelle und in ihrer letzten Begründung doch die Frömmigkeit des religi-ösen Daseins voraussetze: „Die Gegner Schleiermachers haben niemals verstanden, daß es Schlei-ermacher um Frömmigkeit und nicht um Philosophie ging. […] Dilthey ist also der Überzeugung, daß Schleiermacher das Theologische an der Theologie gegenüber der Geschichts- und Kulturphi-losophie von Kant, Schelling und Hegel zur Geltung gebracht hat […].“ (Ebd., S. XLIV, XLIV) Mit dieser Meinung von Redeker bin ich insgesamt einverstanden und möchte daher nicht bestrei-ten, daß Dilthey in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher auch die theologische Dimen-sion der Philosophie Schleiermachers Ernst nimmt. Diltheys Kritik an Schleiermachers Religions-philosophie scheint mir jedoch noch tiefere Gründe zu haben, als Redeker annimmt. Denn Dil-theys Bedenken richten sich, wie wir gesehen haben, nicht nur gegen Schleiermachers Christolo-gie; sondern gegen den eigentlichen Kerngedanken des religiösen Selbstbewußtseins. Er wendet sich dagegen, daß das Gottesbewußtsein ein ursprüngliches Selbstbewußtsein ist. Im weiteren Verlauf dieses Teils wird deutlich werden, daß Dilthey den Grund, warum Schleiermacher das Gottesbewußtsein als ein ursprüngliches Bewußtsein versteht, mißversteht. Ich behaupte keines-wegs, daß Dilthey die Frömmigkeit im Sinn Schleiermachers einfach ignoriert. Dilthey bleibt aber m. E. bei seiner Darstellung des religiösen Lebens bzw. der Frömmigkeit des Gefühls nicht der eigentlichen Intention Schleiermachers treu, sondern folgt in gewisser Hinsicht seinem eigenen lebensphilosophischen Ansatz. 311 Ebd.

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ken „der Gottheit dieses Göttlich-Unendlichen in der individuell gearteten Ein-

zelperson“312. Die Unendlichkeit, auf die sich das religiöse Gefühl Schleierma-

chers beziehe, sei zwar keine „extensive Unendlichkeit des Universums“, die „als

Dogma definitiv durch Kants Antinomie aufgelöst “313sei. Sie ist nach Dilthey

charakteristisch für das moderne Zeitalter, in dem die Transzendenz der Gottheit

aufgehoben ist, und nur als ein Versuch zu verstehen, den Verlust der transzen-

denten Gottheit durch den „Begriff der ideellen Unendlichkeit“ zu kompensieren:

„Der Mensch übertrug sein religiöses Gemütsverhältnis, als er die Transzendenz

der Gottheit aufhob, auf das unendliche Universum, gleichviel, wie dieses religiö-

se Bewußtsein der Unendlichkeit der Gottheit, des unendlichen Wertes der Person

sich gebildet hatte.“314 Dilthey versteht also unter der Unendlichkeit der Gottheit,

auf die sich das unmittelbare Selbstbewußtsein Schleiermachers bezieht, eine

immanente Idee, eine ideelle Unendlichkeit im religiösen Gemütsverhältnis. Die-

se „intensive oder ideale Unendlichkeit, nämlich die Gegenwart der Gottheit in

jeder endlichen Erscheinung“ ist für Dilthey nur ein Ausdruck des ästhetischen

und religiösen Lebens, der philosophisch gesehen ebenso wie die extensive Un-

endlichkeit unhaltbar sei: „Aber alle diese Begriffe, welche den modernen Pan-

theismus konstituieren, sind schlechthin unbeweisbar. Weder die extensive oder

die ideelle Unendlichkeit des Universums noch der unendliche Wert der Indivi-

dual-Existenz noch die bildende Ethik lassen sich beweisen. Diese Begriffe ent-

springen aus der Vertiefung des ganzen Gemüts in die uns umgebende Macht,

Schönheit und Unermeßlichkeit der Natur. Sie sind ästhetisch und religiös.“315

Mit anderen Worten: Das religiöse Selbstbewußtsein Schleiermachers ist nach

Dilthey kein Ergebnis einer originär philosophischen Untersuchung, das einer

näheren Überprüfung durch die strenge Logik standhalten könne; es sei eher ein

312 Ebd., S. 13. Die gesamte Strömung des pantheistischen Denkens, die gerade auf diesen Gedan-ken der Gottesgegenwart in der individuellen Einzelperson zurückzuführen ist, faßt Dilthey fol-gendermaßen zusammen: „Spinoza war der große abstrakte Verstand, der für die so entstehenden Verhältnisse die Formeln erfand. Shaftesbury und Hemsterhuis haben pantheistische Systeme auf diesen Grundlagen entwickelt, Lessing, Herder, Goethe, Schiller waren von diesen Systemen bedingt, Schleiermacher wuchs in der Lektüre von Shaftesbury, Spinoza und Hemsterhuis auf.“ (Ebd.) 313 Ebd., S. 14. 314 Ebd. 315 Ebd.

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Ausdruck eines Zeitalters, in dem der Mensch den Verlust der Transzendenz der

Gottheit durch die Religiosität des Menschen, durch die Immanenz der unendli-

chen Gottheit in uns zu kompensieren versuche. Hieraus folgt, daß das religiöse

Gefühl – gerade wie Scholtz aufweist – von Dilthey eigentlich nur als eine histo-

rische Stimmung verstanden wird, als ein Selbstbewußtsein des historischen Da-

seins, das sich in einem bestimmten Zeitalter allmählich entwickelt. Es ist unver-

kennbar, daß Dilthey die Gottesgegenwart im Sinn Schleiermachers für eine inne-

re Gegebenheit (die ideelle Unendlichkeit im Bewußtsein) hält. Schleiermacher

selbst erörtert in seiner Glaubenslehre die Möglichkeit, ob das Gottesbewußtsein

als eine innere Gegebenheit des Selbstbewußtseins zu verstehen ist. Seine Ant-

wort ist allerdings negativ: „Angenommen das höchste Wesen sei uns innerlich

gegeben, so kann dieses Gegebensein nur als ein schlechthin einfaches gedacht

werden, und eben deshalb ist nicht einzusehen, wie dasselbe könnte zu einem

bestimmten die Zeit als eine Reihe von Momenten erfüllenden Selbstbewußtsein

gedeihen. Denn ein solches kann nur stattfinden als ein veränderliches.“316

Wir haben gesehen, daß jener Versuch, alle frommen Gefühle auf die sinnliche

Bestimmtheit des Bewußtseins zurückzuführen, für Schleiermacher eine unange-

messene und ungläubige Explikation des religiösen Selbstbewußtseins ist.

Gleichzeitig macht Schleiermacher aber ebenfalls deutlich, daß er auch mit dem

Versuch nicht einverstanden ist, für die Explikation des religiösen Selbstbewußt-

seins „die sinnlichen Gefühle möglichst zu vernichten“. Ein solcher Versuch ist

für ihn auf eine „schwärmerische“ Religionsauffassung zurückführbar, die eben-

falls nicht annehmbar sei.317 Schleiermachers Diktum ist klar und deutlich. Wie

auch Dilthey zu Recht betont, ist für Schleiermacher die Frömmigkeit des Ge-

fühls untrennbar mit den sinnlichen Gefühlen verbunden: „Soll also Frömmigkeit

als höchste Stufe des Selbstbewußtseins bestehn: so müssen die fromme Erregung

und die sinnlichen Gefühle in jedem Moment, nur in verschiedenem Maaße, eines

werden, d. h. die höhere Stuffe muß die niedere in sich aufnehmen.“318 Damit

316 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 36 f. 317 Ebd., S. 36. 318 Ebd.

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macht aber Schleiermacher zugleich deutlich, daß das religiöse Selbstbewußtsein

für ihn nicht ein immanentes Gottesbewußtsein voraussetzt.

Die Frage, aus welchem Grund die Gottesgegenwart im Selbstbewußtsein für

Schleiermacher nicht die innerliche Gegebenheit Gottes bedeuten kann, wird in

Kapitel 3.4. behandelt werden. Ich möchte hier zuerst weiter erörtern, in welchem

Sinn das religiöse Selbstbewußtsein für Schleiermacher als das ursprüngliche

Bewußtsein zu verstehen ist.

2.1.2. Der Sinn der Ursprünglichkeit des religiösen Selbstbewußtseins bei

Schleiermacher

Schleiermachers Behauptung, daß das fromme Selbstbewußtsein immer mit dem

sinnlichen Selbstbewußtsein zusammen auftritt, impliziert eine Vorstellung, die

auch Diltheys Begriff des Lebenszusammenhangs zugrunde liegt. Dilthey analo-

gisiert Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins mit seinem

Begriff des ungeteilten Lebenszusammenhangs. Wie schon oben gezeigt, be-

zeichnet Schleiermachers Ausdruck ‚unmittelbar‘ nach Dilthey die Tatsache,

„daß jeder Zustand der Lebendigkeit nur sofern dem unmittelbaren Selbstbewußt-

sein angehöre, als er nicht vergegenständlicht, nicht zum Objekt gemacht wer-

de.“319 Was meint Dilthey nun mit dieser Aussage? Dilthey ist der Ansicht, daß

der „Zustand der Lebendigkeit“ nicht „vergegenständlicht“ werden kann, und daß

das unmittelbare Selbstbewußtsein, wie er selbst explizit aufweist, bestimmte

„Vorstellungen und Entschlüsse“320 zu seiner Voraussetzung hat.

Aber m. E. beinhaltet diese Aussage eine unvermeidliche Doppeldeutigkeit,

wenn man mit ihr auch das Wesen des religiösen Gefühls bestimmen will. Das

religiöse Gefühl ist für Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewußtsein. Aber

das unmittelbare Selbstbewußtsein ist, wie gezeigt, nicht an sich schon das religi-

öse Gefühl. Der Grund dafür ist denkbar einfach. Schleiermachers Ausdruck un-

mittelbar schließt, wie Dilthey selbst richtig darlegt, die Vorstellungen und Ent-

schlüsse, sinnliche Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins, das Innewerden der 319 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521. 320 Ebd.

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Mannigfaltigkeit des Seienden nicht aus, sondern vielmehr ein. Das heißt nun

aber: Mit dem Ausdruck des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist zwar das „Eins-

sein mit der Welt im Selbst“ ausgedrückt, welches „das Bewußtsein seiner selbst

als mitlebenden Theiles im Ganzen“ impliziert,321 aber noch nicht die Frömmig-

keit des unmittelbaren Selbstbewußtseins. Diltheys Erklärung des Ausdrucks

‚unmittelbar‘ drückt also zwar aus, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein als ein

Bewußtsein vom Selbst als Sein in der Welt zu bezeichnen ist; hieraus wird aber

noch nicht verstehbar, ob und warum das religiöse Gefühl oder Gottesbewußtsein

als ein unmittelbares Selbstbewußtsein zu bezeichnen ist.322

Die Behauptung, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein als ein Ausdruck des

ursprünglichen Lebenszusammenhangs vor der Reflexion (Präreflexivität des

unmittelbaren Selbstbewußtseins) verstanden wird, bedeutet nicht, daß das Gefühl

gerade als das unmittelbare Selbstbewußtsein zum frommen Gottesbewußtsein

werden kann. Diese Behauptung kann wahrscheinlich als ein Hinweis interpretiert

werden, daß jeder lebendige Zustand ursprünglich als ein Ausdruck der unmittel-

baren Einheit von dem erlebenden Dasein und dem Erlebten zu bezeichnen ist.

Daraus ergibt sich aber nicht, daß das lebendige Dasein kein Gegenstandbewußt-

sein hätte. Im Gegenteil: Ein Gegenstandbewußtsein ist eine notwendige Voraus-

setzung für das Leben des Menschen, da alles Lebendige, das ein Selbstbewußt-

sein hat, die ursprüngliche Teilung von Selbst und Nichtselbst voraussetzt. Man

kann freilich philosophisch versuchen aufzuweisen, daß in diesem Gegenstands-

bewußtsein nicht die reine Objektivität als solche repräsentiert ist; alles Gegen-

ständliche ist fundamental vom Urteilsprozeß aus dem jeweiligen Lebensinteresse

abhängig oder von Anfang an durch den sich geschichtlich entfaltenden Sinnzu-

sammenhang einer Kultur durchdrungen usw. Man wird vielleicht ferner behaup-

ten wollen, daß im wirklichen Erleben nicht die Teilung von Ich und Objekt-Welt

wahrnehmbar sei, weil das Erleben durch die unmittelbare Einheit von dem Erle- 321 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 124. 322 Auch D. Offermann weist auf, daß für Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht mit dem höheren Selbstbewußtsein bzw. mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl identifi-ziert werden darf. Nach ihm ist das unmittelbare Selbstbewußtsein „in der ‚Duplizität‘ seiner Elemente“ zu charakterisieren, da es sowohl als ein Bewußtsein des In-der-Weltseins als auch als ein Bewußtsein der Abhängigkeit vom Gott interpretierbar ist. (D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 52 ff.)

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benden und dem Erlebten geschieht; das angeblich Objektive ist in diesem Sinn

ein Ausdruck des Lebens, in dem die Teilung von subjektiv und objektiv aufge-

hoben ist. Das bedeutet aber nur, daß das Ich (das erlebende Selbst) beim wirkli-

chen Erlebnisvorgang latent bleibt; die Welt wird auch in einer solchen Lebens-

einheit stets als Mannigfaltigkeit des gegenständlich Seienden bewußt und es wä-

re absurd anzunehmen, daß wir im Moment des wirklichen Lebenserlebnisses

kein Gegenstandbewußtsein hätten. D. h.: Der Begriff des Lebens bzw. des Le-

benszusammenhangs garantiert keineswegs, daß das Selbstbewußtsein über die

Grenze des am Gegenstand orientierten Bewußtseins hinausgeht und sich in der

Abhängigkeit von dem unendlichen Sein selbst wiederfindet. Jeder aktuelle Vor-

gang des Lebens bleibt auf die Mannigfaltigkeit des gegenständlich Seienden

bezogen, so daß die Dyadik von mittelbar und unmittelbar nicht einfach als Ver-

hältnis zwischen dem unmittelbaren, ungegenständlichen Selbstbewußtsein und

„seiner Erhebung zur Gegenständlichkeit“ durch die „Reflexion“ bestimmt wer-

den kann.323 Denn es ist gerade das unmittelbare Selbstbewußtsein, das auch vor

der reflexiven Erhebung des erlebenden Selbst zum gesonderten Sein (zum von

der Lebenseinheit abgesonderten Subjekt) an der Mannigfaltigkeit des gegen-

ständlich Seienden orientiert ist.

G. Scholtz zeigt, „daß bei Dilthey Schleiermachers Begriffe Gott und Welt im

Begriff des Lebens verschmelzen.“324 Diese Verschmelzung von Gott und Welt

im Leben ist m. E. eine Folge davon, daß Dilthey das Problem der Selbstausrich-

tung des einzelnen wirklichen Individuums auf das wahre Sein, in dessen Aufklä-

rung das Hauptanliegen der Religionsphilosophie Schleiermachers liegt, nicht

deutlich genug von der theoretischen Reflexion über die Lebensstruktur unter-

scheidet. Dilthey spricht in seinem Werk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in

den Geisteswissenschaften von der „Idee der Objektivation des Lebens“, die uns

„einen Einblick in das Wesen des Geschichtlichen“ verleihen soll.325 Damit zeigt

er zugleich, daß er mit der Einführung des Lebensbegriffs in seine Philosophie

323 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 521. 324 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 250. 325 W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1981, S. 179.

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primär ein theoretisches Ziel verfolgt. Er möchte zeigen, wie das Leben sich

selbst objektiviert. Auf diese Art kann man aber nicht verstehbar machen, wie wir

uns von unserem an der weltlichen Vorhandenheit orientierten natürlichen Be-

wußtsein kritisch distanzieren können.

Es steht allerdings außer Zweifel, daß Dilthey den naturwissenschaftlichen Glau-

ben an die Möglichkeit vollständiger Objektivität als unhaltbar betrachtet. In sei-

ner Einleitung in die Geisteswissenschaften weist Dilthey darauf hin, daß sich die

Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften gegenseitig bedingen. Als

ein Beispiel nennt er „Kopernikus“, der eine „Revolution in unserer Weltan-

sicht“ zustandebrachte. „Die Veränderung, welche die schöpferische Macht des

Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat“,326 ist für Dilthey ein Beweis dafür,

daß auch die angeblich objektive Naturerkenntnis doch nicht vom sich historisch

bildenden Geist gänzlich frei ist. „An diesem Punkte kann eingesehen werden,

wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinan-

der ist“: „Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der

Geisteswissenschaften.“327

Bei Dilthey gibt es sogar eine Theorie der Alltagserfahrung, die mit Heideggers

These der ursprünglichen Sinnerschließung durch die Alltäglichkeit des Lebens

vergleichbar ist. Allerdings betont Dilthey – anders als Heidegger – den histori-

schen Bildungsprozeß des geistigen Lebens. Für Dilthey gibt es nichts, was nicht

„durch geistiges Tun entstanden“ wäre.328 Alles, was uns in unserer alltäglichen

Lebensführung begegnet, „trägt daher den Charakter der Historizität“: „Von der

Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße,

dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Ge-

richtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes.“329 Kurzum: Für

Dilthey ist alles, was uns in der menschlichen Kultur umgibt, der Geschichtlich-

keit unterworfen, in der sich das Leben objektiviert.

326 W. Dilthey, Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (GS Bd. I), Göttingen 1959, S. 18. 327 Ebd. 328 Ebd., S. 179. 329 Ebd.

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Es fragt sich nun aber, ob diese Rückführung des Verstehens auf die Geschicht-

lichkeit des Lebens zugleich die Möglichkeit aufweisen kann, die Ausrichtung

auf das Sein selbst als die fundamentale Lebensweise des Menschen aufzuklären.

Allerdings darf man dabei nicht ignorieren, daß das Leben für Dilthey nie voll-

ständig objektivierbar ist. Das „Prinzip der produktiven Unergründlichkeit“ ist,

wie F. Rodi gegen Gadamers Objektivismus-Kritik an Diltheys Hermeneutik her-

vorhebt, bereits „bei Dilthey selbst im Begriff des Erlebnisausdrucks und des

Verstehens von Erlebnisausdrücken angelegt“.330 Es geht hierbei aber nicht dar-

um, ob das Leben in seiner fundamentalen Offenheit zu betrachten ist, die die

vollständige Objektivierung des Lebens unmöglich macht; sondern darum, ob ein

Moment im Leben anzunehmen ist, in welchem sich die einzelnen wirklichen

Individuen von der Orientierung an der Vorhandenheit des gegenständlich Seien-

den zurückholen und sich auf das Sein selbst, das nicht auf die Vorhandenheit

zurückführbar ist, ausrichten.

2.2. Die Selbstbewußtseinstheorie des jungen Schleiermachers

Es geht also in Schleiermachers Rede über die Religion um die ontologische Dif-

ferenz zwischen dem Sein und dem Seienden einerseits und um die Bedeutung

dieser ontologischen Differenz für die wirkliche Lebensführung des Menschen

andererseits.

Vielleicht wird diese Behauptung für viele Kenner der Hermeneutik befremdend

wirken. Gadamer würde z. B., wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits erläutert

wurde, nicht damit einverstanden sein, daß Schleiermacher, dessen Hermeneutik

für Gadamer nur eine Variante der romantischen Genieästhetik darstellt, die Hei-

deggersche Unterscheidung von dem Sein und dem Seienden vorweggenommen

habe.

Die Entdeckung der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seien-

den kann aber m. E. nicht als eine originäre Leistung Heideggers anerkannt wer-

den. Heideggers Habilitationsschrift zeigt z. B., wie wir im letzten Kapitel gese-

330 F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a. M. 1990, S. 97.

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hen haben, klar und deutlich, daß er in der Scotischen Sprachphilosophie eine

Seinslehre vorfindet, in der die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden

analysiert wird. Man darf daher auch andererseits nicht behaupten, Heidegger

hätte seine Lehre von der ontologischen Differenz von Schleiermacher übernom-

men. Vielmehr muß man m. E. davon ausgehen, daß der Gedanke einer ontologi-

schen Differenz auf einer Tradition beruht, die als ein gemeinsamer Ursprung der

Philosophie von Schleiermacher und Heidegger gelten kann: ich meine die theo-

logische Tradition.

R. R. Williams weist darauf hin, daß Schleiermachers Gottesbegriff Ähnlichkei-

ten mit der Gottesvorstellung von Nicolaus Cusanus hat; Gott sei für beide die

Koinzidenz der Gegensätze.331 Ähnlich wie Schleiermacher betrachtet Cusanus

Gott einerseits als „Deus absconditus“, der nicht mit dem begrifflichen Denken

ergründbar ist, andererseits als „Deus revelata“, also als Gott, der sich offen-

bart.332 Diesem Begriff Gottes liegt die Grundidee zugrunde, die auch in der

Seinslehre von Duns Scotus wiederzufinden ist: Das wahre Sein ist nicht auf die

Vorhandenheit zurückzuführen. Freilich kann man einwenden, daß zahlreiche

Unterschiede zwischen den Seinslehren von Schleiermacher, Heidegger, Cusanus

und Duns Scotus bestehen. Ferner kann man darauf hinweisen, daß das Sein im

Heideggerschen Sinn nicht mit der Idee Gottes gleichgesetzt werden könne; be-

kanntlich wird Gott beim späten Heidegger als ein Seiendes bezeichnet.333 Unge-

achtet dieser Präzisierungen geht man aber m. E. auf jeden Fall nicht fehl in der

Annahme, daß sowohl Schleiermacher als auch Heidegger durch die Tradition

des theologischen Denkens auf die ontologische Differenz zwischen dem Sein

und dem Seienden aufmerksam gemacht worden sind. Von daher ist es keines-

wegs überraschend, daß auch Schleiermachers Religionsphilosophie – wie Hei-

deggers Existenzontologie – von der ontologischen Differenz zwischen dem Sein

und dem Seienden ausgeht.

331 Vgl. R. R. Williams, Schleiermacher The Theologian, a.a.O., S. 14. 332 Ebd., S. 15. 333 Vgl. M. Heidegger, ‚Brief über den Humanismus‘, in: ders., Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, S. 331 ff.

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Wichtig sind hier eher zwei Fragen, die sich auf das Problem der Entwicklung

des Religionsbegriffs bei Schleiermacher beziehen: 1. Ab wann läßt sich in den

Schriften Schleiermachers das Bewußtsein der ontologischen Differenz nachwei-

sen? 2. Ab wann betrachtet Schleiermacher die ontologische Differenz als Er-

möglichungsgrund für das religiöse Selbstbewußtsein, das auf das Sein selbst

ausgerichtet ist? Einerseits kann man mit beiden Fragestellungen deutlich machen,

ob Schleiermachers Begriff der Religion im Verlauf seiner Entwicklung eine

deutliche Veränderung erfährt, wie offenbar Dilthey, Huber und Brunner behaup-

ten. Andererseits wird man auch erkennen können, warum Schleiermachers Reli-

gionsphilosophie – trotz der unübersehbaren Unterschiede zu Heideggers Onto-

logie – als ein wichtiger Wegbereiter für Heideggers Philosophie verstanden

werden kann. Denn nicht in der Entdeckung der ontologischen Differenz zwi-

schen dem Sein und dem Seienden liegt die besondere Leistung von Schleierma-

cher und Heidegger, sondern in dem Versuch, die ontologische Differenz durch

eine strenge Analyse des Selbstbewußtseins zu einem Grundmotiv für die Selbst-

ausrichtung des Daseins auf das Sein selbst zu erheben.

2.2.1. Das Verhältnis zwischen der Religion und dem unmittelbaren Selbstbe-

wußtsein

Es wurde bereits gezeigt, daß Dilthey – wie Brunner – Schleiermachers „Begriff

von der Einheit der Anschauung und des Gefühls“ in den Reden „den Charakter

des Mysteriums an sich“ zuweist. 334 Bekanntlich sind viele Schleiermacher-

Kritiker davon überzeugt, daß dieser Begriff mit dem Schellingschen Begriff der

intellektuellen Anschauung identifizierbar ist. Auch für Dilthey steht es außer

Frage, daß „jener geheimnisvolle Augenblick Schleiermachers“ „als Schellings

intellektuelle Anschauung“ zu verstehen ist.335 Zwar ist Dilthey vorsichtig in Be-

zug auf die Frage, ob Schleiermacher von der Philosophie Schellings wichtige

Ansätze für seinen Religionsbegriff übernommen hat: „Nur eine genaue histori-

sche Untersuchung könnte feststellen, ob in dem einzelnen Schelling oder Schlei- 334 W. Dilthey, Leben Schleiermachers II/2, a.a.O., S. 580. 335 Ebd.

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ermacher der Abhängige ist.“336 Er deutet aber zugleich an, daß sehr wahrschein-

lich Schelling der Urheber dieses Begriffs ist und Schleiermacher der Abhängige:

„Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung stand schon vor 1799 fest“,

337 also auf jeden Fall vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Reden, die die

erste Publikation Schleiermachers sind. Wie viele Schleiermacher-Kritiker weist

auch Dilthey darauf hin, daß für die weiteren Auflagen der Reden eine zuneh-

mende „Vermeidung des Begriffs der Anschauung“338 charakteristisch ist. Schlei-

ermacher will vermeiden, daß sein Religionsbegriff in Analogie mit der spekula-

tiven Philosophie verstanden wird. Dieser Versuch Schleiermachers, sich von der

Schellingschen Philosophie zu distanzieren, führt nun nach Dilthey und vielen

Schleiermacher-Kritikern zu einer zunehmenden Subjektivierung des Religions-

begriffs, die am Ende mit der Identifizierung der Religion mit dem unmittelbaren

Selbstbewußtsein endet.

Aus zwei Gründen scheint mir diese Darstellung Diltheys angreifbar zu sein:

Erstens versteht Dilthey, wie schon gezeigt, das unmittelbare Selbstbewußtsein

Schleiermachers zu sehr im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie, wäh-

rend Schleiermacher in der Tradition des theologischen Denkens seit Augustinus

steht. Daß Schleiermacher die Religion als ein unmittelbares Selbstbewußtsein

darstellt, bedeutet m. E. keineswegs, daß er die Religion auf das rein Subjektive

reduziert. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß Schleiermachers Identifizie-

rung der Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein von einem Augustin-

schen Ansatz geleitet wird, nämlich daß „über das Innerste der Seele“, wie K.

Jaspers prägnant formuliert, „der Weg zu Gott [führt].“339

Zweitens scheint mir die Annahme, Schleiermacher habe erst mit zunehmender

Distanz von der Schellingschen Theorie die Religion mit dem unmittelbaren

Selbstbewußtsein identifiziert, höchst fragwürdig zu sein. Es steht allerdings au-

ßer Zweifel, daß Schleiermacher ab der zweiten Auflage der Reden tatsächlich

mit der Absicht den Gebrauch der Ausdrücke ‚Anschauung‘ und ‚Univer-

336 Ebd., S. 581. 337 Ebd. 338 Ebd. 339 K. Jaspers, Die großen Philosophen, München / Zürich 1988, S. 327.

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sum‘ vermeidet, den Unterschied zwischen seiner Philosophie und der spekulati-

ven Philosophie hervorzuheben. Es ist auch wahr, daß Schleiermacher erst 1821,

als die dritte Auflage der Reden und die erste Auflage der Glaubenslehre erschie-

nen ist, angefangen hat, das Gefühl explizit mit dem unmittelbaren Selbstbewußt-

sein zu identifizieren. Betrachtet man aber diese Behauptung näher, kann man

doch erkennen, daß sie von einer grundsätzlichen Annahme abgeleitet ist, die

keineswegs auf die Philosophie Schleiermachers anwendbar ist: Das Selbst gehö-

re zur Kategorie des Subjektiven; mit dem Gefühl meine Schleiermacher ein sub-

jektives Gefühl, und mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein ein subjektives Be-

wußtsein vom Selbst, mit dem man keine objektive Wahrheit sichern könne. Das

kann man daraus erkennen, daß Dilthey, wie Huber und Brunner, die zunehmende

Subjektivierung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher als Folge der Vermei-

dung des Anschauungsbegriffs versteht; die Identifizierung der Religion mit dem

unmittelbaren Selbstbewußtsein beim späten Schleiermacher sei als Subjektivie-

rung der Religion zu verstehen, die durch das Vermeiden des Anschauungsbeg-

riffs für die Definition der Religion zustande komme.

2.2.2. Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus und das Problem

des Selbstbewußtseins

Das Problem des unmittelbaren Selbstbewußtseins tritt aber bei Schleiermacher

schon in seinen Jugendschriften auf. Besonders in zwei Schriften über den Spino-

zismus (‚Spinozismus‘ und ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘),

die nach den Herausgebern von KGA 1. Abt. 1 (Jugendschriften 1787-1796) ver-

mutlich 1793/94 abgefaßt wurden, kann man deutlich erkennen, daß Schleierma-

cher schon in seiner Jugendzeit den Begriff des religiösen Gefühls aus der Analy-

se des unmittelbaren Selbstbewußtseins abgeleitet hat.

Die Annahme, Schleiermacher habe seinen Religionsbegriff vom Schellingschen

Begriff der intellektuellen Anschauung her gewonnen, scheint mir vor allem we-

gen des Tatbestandes unhaltbar zu sein, daß Schleiermacher schon in dieser frü-

hen Zeit einen Gefühlsbegriff hatte, der auch in seinem späteren Denken seine

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Gültigkeit beibehält: „Das eigentliche wahre und reelle in der Seele ist das Gefühl

des Seyns, der unmittelbare Begrif wie es Spinoza nennt […]“.340 Obwohl Schlei-

ermacher das Gefühl des Seins hier mit dem unmittelbaren Begriff Spinozas iden-

tifiziert, zeigen Schleiermachers Jugendschriften zugleich, daß er sich vom Spi-

nozismus kritisch distanziert. Seine Kritik an Spinozismus ist durch seine gründ-

liche Analyse des Selbstbewußtseins geprägt.

Man wird hier wohl einwenden wollen, daß es sich hierbei um das unmittelbare

Realitätsbewußtsein von F. Jacobi handelt. In der Tat: Schleiermachers These

vom unmittelbaren Seinsgefühl findet sich eigentlich in einer Anmerkung zu Ja-

cobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Men-

delssohn ausgedrückt; 341 und man darf folglich davon ausgehen, daß der Begriff

des unmittelbaren Seinsgefühls beim jungen Schleiermacher von Jacobi beein-

flußt wurde. Aber Schleiermachers Jugendschriften zeigen, daß sich der junge

Schleiermacher in seiner Beschäftigung mit dem Problem des Selbstbewußtseins

sehr kritisch mit Jacobi auseinandersetzt. Ferner berücksichtigt Schleiermacher

bei seiner Analyse des Selbstbewußtseins nicht nur die Position von Jacobi. Er

vergleicht dabei auch die Positionen von verschiedenen Philosophen wie Kant,

Spinoza und Leibniz. Besonders mit der Transzendentalphilosophie von Kant

beschäftigt sich Schleiermacher sehr intensiv, und dadurch gewinnt er die philo-

sophischen Einsichten, die ihn zu einer deutlichen Kritik an Jacobi führen.

M. E. darf man aus zwei Gründen annehmen, daß Schleiermacher schon in dieser

frühen Zeit den ersten Ansatzpunkt dafür gewonnen hat, die Religion als eine

ursprüngliche Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins aufzufassen:

340 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, in: ders., Jugendschriften (KGA 1. Abt. 1), Berlin / New York 1984, S. 535. 341 Das eigenhändige Manuskript, das Schleiermacher selber mit dem Titel ‚Spinozismus‘ verse-hen hat, besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil ist das Manuskript nach der Einleitung des Her-ausgebers des Bandes eine saubere Abschrift der 44 Paragraphen, in denen F. H. Jacobi in seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (2. Aufl., Bres-lau 1789) die Philosophie Spinozas zusammenfassend dargestellt hat; Schleiermacher hat nur einige der von Jacobi beigebrachten Belegstellen aus dem Werk Spinozas weggelassen. Der zwei-te Teil des Manuskripts ist eine Abfolge von zumeist kurzen Auszügen aus der Jacobischen Schrift Über die Lehre des Spinoza, die Schleiermacher jeweils in einer eigenen Anmerkung kri-tisch kommentiert hat. (Vgl. ‚Einleitung des Bandherausgebers‘ von KGA 1. Abt. 1, a.a.O., S. LXXV f.)

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1. Schleiermacher unterscheidet unter dem Einfluß von Jacobi das Sein selbst

von dem substantiell Seienden.342 Einerseits läßt er erkennen, daß sein Begriff des

unmittelbaren Seinsgefühls eine Interpretation der Spinozistischen Substanzlehre

ist: „Spinoza will eigentlich soviel sagen. Das Seyn ist die erste Bedingung aller

Eigenschaften, es hängt also genau mit dem reinen Urstof zusammen, und kommt

diesem vor allen Eigenschaften zu: Der Urstof ist das Seyende, die Ausdehnung

ist die Darstellung dieses Seyenden, an welcher alle fernern Eigenschaften inhä-

rieren müßen, das Bewußtseyn, das Denkende ist das ursprüngliche Gefühl dieses

Seyns.“343 Er spricht aber andererseits zugleich von Spinozas „Verwechselung

der Wörter Seyn und Substanz.“ 344 Das Sein soll nach der Jacobi-Abschrift

Schleiermachers „in einem jeden Begrif“ als „etwas absolutes und ursprüngli-

ches“ vorkommen, „welches das Denken unabhängig von seinem Gegenstand

ausmacht“.345 Dieser Sinn des Seins veranlaßt Schleiermacher, wie er in einer

Anmerkung erklärt, zu einer „Versinnlichung des Verhältnißes des unendlichen

zu den endlichen Dingen“.346

Jene These, das eigentlich Wahre und Reelle in der Seele sei das Gefühl des

Seins, ist als eine Kritik an der Theorie von M. Mendelssohn gedacht, nach der

das Unendliche nur ein subjektiver Begriff sei, während das Sein nur als Sein des

Seienden bzw. als die Gesamtheit alles Seienden zu verstehen sei: „Mendelssohn

konnte nicht begreifen, daß nichts außer den endlichen Dingen subsistire und

doch eigentlich nur das Unendliche subsistiere. Er meint dann hätten ja die endli-

chen Dinge eigentlich das reelle Daseyn, und ihr Zusammen, wie er das Unendli- 342 Jacobi weist im Zuge seiner strengen Unterscheidung von Gott und Substanz darauf hin, daß Spinozas Begriff der Substanz ein widersprüchlicher Begriff sei. Denn Spinoza verstehe unter der Substanz den Inbegriff der materiellen Dinge, während er die Unendlichkeit als Eigenschaft der Substanz geltend machen will; das Unendliche kann aber nicht aus einer Zusammensetzung von den endlich Seienden abgeleitet werden: „Die grösste Schwierigkeit aber, die ich in dem System des Spinoza finde, liegt mir darin, dass er aus dem Zusammennehmen des Eingeschränkten das Uneingeschränkte will entstehen lassen. […]Wie kann durch Vermehrung des Extensiven das Intensive verstärkt werden? Wenn in allen übrigen Systemen der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen schwer zu begreifen ist, so scheint mir nach diesem System der Rückweg vom Endli-chen in das intensive Unendliche schlechterdings unmöglich zu sein.“ (F. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in: Jacobis Spinoza-Büchlein nebst Replik und Duplik (hrsg. von F. Mauthner), München 1912, S. 109f. 343 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 534. 344 Ebd. 345 Ebd., S. 535. 346 Ebd.

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che sehr gegen den Geist des Spinoza nennt[,] könne nur etwas collektives seyn

und also nur in einem Denkenden existiren.“347 Obwohl Schleiermacher Spinozas

Verwechselung von Sein und Substanz kritisiert, distanziert er sich zugleich auch

von dem Versuch, das unendliche Sein lediglich als ein nur im Bewußtsein vor-

kommendes subjektives Moment des Verstehens aufzufassen. Das Gefühl des

Seins – der unmittelbare Begriff – ist nicht aus den einzelnen Begriffen und

Dingvorstellungen ableitbar. Es ist eher ein wesentlicher Grund der Seele selbst,

von dem alles Denken und Handeln (Verstand und Willen) abhängig ist: „Kann

man sagen jener unmittelbare Begrif existire nur in einem andern Denkenden?

Mitnichten, er ist ja der eigentliche wesentliche Grund der Seele, dasjenige, an

dessen modis (Verstand und Willen) alle jene einzelnen Begriffe inhärieren. Aber

freilich muß man nicht davon ausgehen zu sagen der unmittelbare Begrif sei das

Zusammen der einzelnen Begriffe.“348

Rein logisch betrachtet wird man hier wohl behaupten dürfen, daß Schleierma-

chers Begriff des Seinsgefühls auf ein apagogisches Urteil angewiesen ist; wäh-

rend der Obersatz (das Unendliche ist nicht aus dem Zusammensein von endli-

chen Seienden ableitbar) durchaus gültig ist, ist der Untersatz (die einzelnen Be-

griffe inhärieren in dem Gefühl des unendlichen Seins) zwar als glaubwürdig zu

bezeichnen, aber nie logisch zu beweisen. Schleiermachers Anliegen besteht aber

auch nicht darin, das Verhältnis zwischen den einzelnen Begriffen und dem

Seinsgefühl logisch zu beweisen. Er will vielmehr nach dem Ermöglichungs-

grund des Denkens und des Bewußtseins fragen, um das Verhältnis zwischen den

einzelnen Begriffen und dem Seinsgefühl durch die Analyse des wirklichen Be-

wußtseinslebens zu erhellen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der

Gefühlsbegriff beim jungen Schleiermacher als ein Versuch zu verstehen ist, die

Religion als eine ursprüngliche Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins dar-

zustellen.

2. Schleiermacher entwickelt in seinen Jugendschriften über den Spinozismus

durch eine kritische Auseinandersetzung mit Jacobi, Kant und Spinoza einen ei-

347 Ebd. 348 Ebd.

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gentümlichen Begriff des Selbstbewußtseins. Dabei liegt die Pointe darin, daß

das Selbst, das in jedem aktuellen Bewußtseinsmoment mitgesetzt sein muß, nicht

als ein substanzielles Sein zu verstehen ist.

Schleiermacher erhält einen ersten Anlaß für seine Untersuchung des Selbstbe-

wußtseins wahrscheinlich durch Jacobis Begriff der Person bzw. der Personalität:

„Jacobi definiert die Personalität als Einheit des Selbstbewußtseyns und die Per-

son ist ihm ein Wesen welches das Bewußtseyn seiner Identität hat; da nun die

Personalität formaliter das ganze ist was ein Wesen zur Person macht, so muß

das Bewußtseyn der Identität auf der Einheit des Selbstbewußtseins beruhn.“349

Aufgrund der folgenden Passagen kann man aber vermuten, daß eigentlich die

Transzendentalphilosophie Kants von größerer Bedeutung für Schleiermachers

Begriff des Selbstbewußtseins ist: „[…] sie [die Einheit des Selbstbewußtseins]

ist deswegen empirisch gewiß weil ich ein Bewußtseyn immer auf ein voriges

beziehe, und mehrere zusammen als eine verbundene Reihe ansehe, indem die

darin vorkommenden Vorstellungen zwar verschieden und außereinander sind,

die verschiednen Actus des Bewußtseyns aber durch die Identität des Subjekts

worauf die verschiedenen Vorstellungen bezogen werden mit einander verknüpft

sind. So ist also auch gegen den ersten Ausdruck (Bewußtseyn der Identität) kein

Zweifel und es findet kein scheinbares desselben statt insofern darunter bloß die

Identität des Selbstbewußtseyns der transcendenten Einheit, des Ichs verstanden

werden soll. Allein die alte Schule machte nun einen Sprung und sagte: wo diese

transcendentale Einheit identisch ist, da muß auch das Substratum desselben, die

Substanz identisch seyn […].“350

2.2.3. Die Unzulänglichkeit des Substanzbegriffs für die Erklärung der Einheit

des Selbstbewußtseins

Es ist insgesamt deutlich geworden, daß Schleiermacher das Ich als die transzen-

dentale Einheit des Bewußtseins für notwendig hält, aber zugleich unter dem Ich

kein substantielles Sein verstehen will. Es scheint mir, daß Schleiermacher sich 349 Ebd., S. 540. 350 Ebd.

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dabei auf die ursprünglich-synthetische Analyse der Apperzeption bei Kant

(B131-136 bzw. B 399-413 Kritik der reinen Vernunft) bezieht. Schleiermacher

wertet m. E. die Kantische Idee der transzendentalen Einheit des Bewußtseins

stark auf, da sie im Gegensatz zur herkömmlichen Philosophie – wie oben

Schleiermachers Satz Allein die alte Schule machte einen Sprung andeutet – un-

ter dem Begriff des Ich kein substanzielles Sein versteht.

Ähnliche Überlegungen kann man bei der Analyse der Transzendenz des Ego

bei Sartre finden, in der die phänomenologische Annahme des reinen Ich als ei-

nes absoluten Seins (Husserl) kritisch überprüft wird. In bezug auf die genannte

Stelle der Kritik der reinen Vernunft fragt Sartre, ob Kant ein reines Ich für die

apperzeptive Einheit des Bewußtseins voraussetzt: „Man wird Kant zugestehen

müssen, daß ‚das ich denke muß alle unsere Vorstellungen begleiten können‘.

Muß man aber daraus schließen, daß ein Ich tatsächlich alle unsere Bewußt-

seinszustände bewohnt und die oberste Synthese unserer Erfahrung real be-

wirkt?“351 Diese Annahme ist für Sartre unhaltbar. Denn „Kant behauptet gar

nichts über die faktische Existenz des Ich denke“, und behandle mit jener be-

kannten These eigentlich nur „ein Geltungsproblem“.352 Nach Sartre muß die

Kantische Analyse der apperzeptiven Einheit des Bewußtseins eher als ein Be-

weis dafür gelten, daß für Kant Bewußtseinsmomente ohne Ich möglich sind:

„Im Gegenteil scheint es, als habe er vollkommen gesehen, daß es Bewußtseins-

momente ohne ‚Ich‘ gibt, denn er sagt: ‚muß […] begleiten können‘.“353 Sartre

behauptet nun – wahrscheinlich unter dem Eindruck von Heideggers Identifikati-

on der Erfahrungsstruktur des Daseins mit der Jemeinigkeit –, daß Kant mit jener

These eigentlich nur die notwendige Form der Wahrnehmung bzw. des Denkens

bestimmt. Das ganze Anliegen der Kantischen Analyse der apperzeptiven Einheit

des Bewußtseins bestehe lediglich darin, zu zeigen, daß die Wahrnehmung und

das Denken notwendig in der Form von (je)meinigen Überzeugungen bzw. An-

schauungen vorkommen und daß hierin eine Grundbedingung der Erfahrung lie-

ge: „Es geht ja darum, die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung zu bestim-

351 J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, Reinbek 1997, S. 39 f. 352 Ebd., S. 40. 353 Ebd.

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men. Eine dieser Bedingungen ist die, daß ich immer meine Wahrnehmung oder

mein Denken als die meinigen betrachten kann: das ist alles.“354

Schleiermacher vertritt bei seiner Kant-Auslegung eine ähnliche Position wie

Sartre. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, daß Schleiermachers Kritik

an Jacobi nicht ohne weiteres auf die phänomenologische Idee des reinen Ich

anzuwenden ist; Husserl versteht unter dem reinen Ich nicht ein reelles Substrat.

Aber man kann aus seinen Auseinandersetzungen mit Jacobi und Kant erkennen,

daß jeder Versuch, das Ich als einen sicheren Erkenntnisgrund zu betrachten, für

Schleiermacher unhaltbar ist. Es gibt für Schleiermacher kein Ich, wenn man un-

ter diesem Begriff etwas Absolutes verstehen will, was absolut in dem Sinn ist,

daß es gegenüber äußeren Einflüssen unveränderlich bestehen bliebe. Schleier-

macher ist in dieser Hinsicht sogar radikaler als Sartre, der bekanntlich in Das

Sein und das Nichts die absolute Freiheit des Menschen durch die Einführung

des absoluten, d. h. von äußeren Einflüssen freien Bewußtseinslebens zu be-

gründen versucht.355

Schleiermachers Kritik an der Darlegung der Einheit des Selbstbewußtseins bei

Jacobi beginnt mit der Bemerkung, daß Jacobi die „Personalität“ von dem „Prin-

zip der Personalität“ unterscheide. 356 Für die Beantwortung der Frage, was die

Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht, ist diese Unterscheidung nach Schlei-

ermacher von Bedeutung, auch wenn Jacobi diese Bedeutung nur unklar erfaßt

habe: „Jacobi hat hier noch einen Unterschied geahnet, welchen Kant vorbeiläßt;

er hat ihn aber auch nicht recht ausgeführt.“

Vereinfacht gesagt versteht Schleiermacher unter dem Jacobischen Begriff der

Personalität die Eigenschaft, die man dadurch gewinnt, daß man eine Entität als

ein eigenständiges Subjekt betrachtet; diese Entität muß hierbei eine wirkliche

Person sein, weil die Personalität als die Eigenschaft eines handelnden wirkli-

354 Ebd. 355 Besonders mit dem Begriff der existentiellen Psychoanalyse betont Sartre, daß das Bewußt-seinsleben des Daseins als etwas anerkannt werden soll, was von äußeren Einflüssen absolut frei ist. Im Gegensatz zur empirischen Psychologie, die das Denken und Handeln von Menschen auf die Einwirkung des Unbewußten zurückführt, ist das Bewußtsein für die existentielle Psychologie Sartres vom Gesichtspunkt der absoluten Wahlfreiheit aus zu betrachten. Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1994, S. 956 ff. 356 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 539.

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chen Individuums gedacht ist. Das Prinzip der Personalität ist dagegen auch bei

solchen Entitäten aufweisbar, die keine wirklichen Personen sind, da es hierbei

nur um die Bedingungen geht, die eine Entität erfüllen muß, um eine wirkliche

Person zu sein. Das Prinzip der Personalität ist also dadurch zu gewinnen, daß

man eine Entität objektiv betrachtet: „Er [Jacobi] unterscheidet nemlich zwischen

Personalität und Princip der Personalität; letzteres findet Statt ohne erstere also

auch bei Dingen, welche keine Personen sind. Dieser Unterschied beruht nemlich

darauf daß ich ein Ding als Objekt und auch als Subjekt betrachten kann; die

Personalität ist die charakteristische Eigenschaft eines Dinges als Subjekt be-

trachtet, das Princip der Personalität die ein Ding als Person charakterisierende

Eigenschaft wenn es bloß als Objekt betrachtet wird.“357

Schleiermacher zufolge unterscheidet Jacobi nach dem „Grundbegriff“ der „I-

dentität mit Bewußtseyn“ – genauer: Identität des Selbstseins, die entweder be-

wußt ist (z.B. bei den Menschen, die das Selbstbewußtsein haben) oder unbe-

wußt bleibt (z.B. bei den Tieren, die kein Selbstbewußtsein haben) – drei Arten

der Person. a) Die „vollkommene Person“: Ein Ding ist eine vollkommene Per-

son, wenn es „sich dieser Identität bewußt ist, und sie auch wirklich besitzt“. Es

ist „in beider Rücksicht“ – „als Subjekt und als Objekt betrachtet“ – eine Person.

Es gibt aber auch die Dinge, die nicht vollkommene Personen sind. b) Ein Ding

ist eine unvollkommene Person, wenn „es sich dieser Identität bewußt ist aber sie

nicht wirklich hat“. Dieses Ding ist „nur subjectiv eine Person“. Es „hat aber

keine objektive Personalität“ c) Ein Ding ist auch in dem Fall eine unvollkom-

mene Person, in dem „es diese Identität wirklich hat, aber sich ihrer nicht bewußt

ist“. Dieses Ding hat zwar „objektive Personalität aber keine subjektive.“.358

Nun bringt Schleiermacher gegen diese Unterscheidung einen Einwand vor: Ja-

cobi versteht unter der „Identität“ des Selbstseins, die für seine Unterscheidung

der drei Arten der Person als Grundbegriff fungiert, „die reelle Identität der Sub-

stanz“; „das erhellt auch aus den Benennungen: er nennt die Identität der Sub-

357 Ebd. 358 Ebd.

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stanz das Princip der Personalität, als wenn von dieser die Personalität selbst d. h.

die Einheit des Selbstbewußtseyns abhinge […].“359

Schleiermacher ist jedoch nicht einverstanden mit Jacobis Unterscheidung der

drei Arten der Person. Schleiermacher weist darauf hin, daß „die zweite

Art“ nicht „eine wahre Person zu nennen“ ist, sondern nur als „die bloß schein-

bare“ Person zu bezeichnen sei; „die dritte Art (die Thiere)“ ist dagegen, auch

wenn sie keine vollkommene Person ist, als „eine wirkliche Person“ zu bezeich-

nen.360 Warum geht Jacobi von einer Art der Person aus, die nach Schleierma-

cher keineswegs als eine wirkliche Person anerkannt werden kann? Was bedeutet

es, daß sich ein Ding der Identität des Selbstseins bewußt ist, obwohl es sie nicht

hat? Schleiermacher zufolge ist es auf den Einfluß von Kant zurückzuführen, daß

Jacobi einen solchen unsinnigen Begriff der Person annimmt. Der Zweifel von

Kant darüber, ob das Bewußtsein nicht fließend sein kann, bringe Jacobi zu der

absurden Annahme der scheinbaren Person, die eigentlich keine Identität des

Selbstseins besitzt, obwohl sie sich dieser Identität bewußt ist: „Es fragt sich nun

ob die bloß scheinbare Person möglich ist? Jacobi giebt das der Kantischen Be-

hauptung daß ich zweifeln könne ob mein Bewußtseyn nicht fließend sei, mehr

zu, als daß er es selbst behauptet. Dieser Fall einer scheinbaren Person beruht

also bloß auf der Möglichkeit des Zweifels, daß das Bewußtseyn fließend seyn

könne.“361

Nach Schleiermacher besteht der Grund für Jacobis Irrtum darin, daß „er […]

die Grundsätze des kritischen Idealismus nicht annimmt“.362 Jacobi bleibe, trotz

seiner Unterscheidung von Gott und Substanz, weiterhin einem alten Substanz-

modell verhaftet, indem er die Identität der Substanz als das Prinzip der Persona-

lität betrachtet. Ihm gegenüber sei Kant viel konsequenter; Kants Konzept der

Person als Identität des Selbstbewußtseins impliziert keine reelle Identität der

Substanz.

359 Ebd., S. 541. 360 Ebd., S. 539. 361 Ebd., S. 539f. 362 Ebd., S. 541.

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2.3. Die phänomenale Welt

Worin besteht nun der Grundsatz des kritischen Idealismus, den Jacobi nach

Schleiermacher bei seiner Analyse der Person und der Personalität ignoriere?

Schleiermacher gibt keine klare Formulierung dieses Grundsatzes. Aber aus den

folgenden Passagen kann man zumindest erkennen, daß Schleiermacher darunter

eine Kritik an dem metaphysischen Versuch versteht, die Einheit des Selbstbe-

wußtseins aus dem substantiellen Sein abzuleiten: „Das Selbstbewußtseyn“ muß

„das Vermögen“ haben, „eine Empfindung und eine Erinnerung in einem Be-

wußtseyn mit einander zu verbinden. Diese Lehre ist nun der Kantischen ganz

parallel, doch wenn wir ihr den kritischen Idealism einpfropfen, so bekommen

wir die Kantische Lehre; nemlich die Einheit des Selbstbewußtseyns, man mag

sie nun als Grund oder als Folge des Bewußtseyns ansehn, bezieht sich immer

nur auf das Phänomenon, die Identität der Substanz hingegen bezieht sich auf

das Noumenon, und ist eben deswegen ein leerer Begriff.“363

Es steht außer Zweifel, daß Schleiermachers Begriff des Selbstbewußtseins von

der Transzendentalphilosophie Kants stark beeinflußt worden ist. Schleiermacher

erhält zwar von Jacobis Begriff des unmittelbaren Realitätsbewußtseins eine di-

rekte Anregung für die Entwicklung seiner eigenen Konzeption des Selbstbe-

wußtseins. Aber die Kantische Einsicht, daß sich die Einheit des Selbstbewußt-

seins immer nur auf das Phänomenon bezieht, veranlaßt Schleiermacher zu einer

radikalen Korrektur der Jacobischen Theorie des Selbstbewußtseins, der in der

Erklärung von Person und Personalität noch an der Idee der Substanz festhält.

G. Meckenstocks Werk über Schleiermachers Deterministische Ethik und kriti-

sche Theologie liefert eine gelungene Darstellung davon, wie stark der junge

Schleiermacher von der Transzendentalphilosophie Kants beeinflußt wurde. In

seiner kritischen Auseinandersetzung mit E. Herms, der in seiner Untersuchung

über Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei

Schleiermacher (Gütersloh 1974) „Eberhard bzw. die Hallesche Schulphiloso-

phie und Jacobi stark aufwertet“,364 betont Meckenstock besonders den Einfluß

363 Ebd., S. 542. 364 G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 13.

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Kants auf Schleiermacher. Einerseits ist sich Meckenstock mit Herms darin einig,

daß Dilthey Schleiermachers Philosophie zu sehr vor dem Hintergrund der Le-

bensphilosophie interpretiert.365 Meckenstock ist aber nicht damit einverstanden,

daß bei Herms die Bedeutung von Kant für die philosophische Entwicklung

Schleiermachers herabgestuft wird. Denn „Schleiermacher war kein ausschließli-

cher Anhänger der empirischen Psychologie Hallescher Provenienz, der dann im

Zuge der Jacobi-Lektüre zum Theoretiker des unmittelbaren Realitätsbewußt-

seins wurde und mit dieser Theorie noch eine aus Spinoza herzuleitende meta-

physische Theorie der Individualität verband.“366 Meckenstock betont nun, daß

„er [Schleiermacher] viel stärker auf die Seite der Transzendentalphilosophie

[gehörte], die sich von der Kantischen Vernunftkritik herschreibt.“367

Es spricht viel für diese These, daß die Ansätze, die der junge Schleiermacher

durch seine Beschäftigung mit Kant gewonnen hat, für die philosophische Ent-

wicklung Schleiermachers von wichtiger und bleibender Bedeutung gewesen

sind. Meckenstocks Kritik an Herms scheint mir aber, obwohl Meckenstock eine

sehr überzeugende Darstellung der philosophischen Beziehung zwischen Kant

und Schleiermacher liefert, etwas zu radikal zu sein. Auch Herms leugnet ja

nicht, daß Schleiermacher durch seine Beschäftigung mit Kant wichtige Ansatz-

punkte für seine Kritik an Jacobi einerseits und an der Hallischen Philosophie

andererseits erhalten hat.

Herms spricht von „Schleiermachers Korrekturen an Jacobis unkritischem Rea-

lismus“. 368 Den „Grund aller inneren Widersprüche der Jacobischen Theo-

rie“ faßt Herms mit Recht sehr prägnant zusammen: Jacobis „realistisches Inte-

resse [ist] in unkritischer Weise auf die Selbständigkeit der Außenwelt gegen-

über dem erkennenden Subjekt gerichtet“; dieser Realismus stehe deswegen im

Widerspruch mit seiner eigenen „Theorie des unmittelbaren Wirklichkeitsbe-

wußtseins“, weil diese Theorie „tatsächlich das unauflösliche Ineinander von

365 Vgl. Ebd., S. 8 ff.; 13 ff. 366 Ebd., S. 15. 367 Ebd. 368 E. Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schlei-ermacher, a.a.O., S. 139.

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Welt und Selbst“ aufweise.369 Die Kantische Einsicht, daß „eine Erkenntnis des

Wesens der Dinge an sich unmöglich“ sei und folglich „das Erkennen vielmehr

strikt auf Phänomene eingeschränkt“ werden solle, würde von Jacobi jedoch

„verfehlt“.370 Herms weist ferner darauf hin, daß der junge Schleiermacher gera-

de aus dieser Kantischen Einsicht in die Phänomenalität der Erkenntnis eine

wichtige Unterscheidung gewonnen hat, die auch für sein späteres Denken von

maßgebender Bedeutung sei: „Er unterscheidet den Gehalt des unmittelbar er-

schlossenen Realitätsbewußtseins auf der einen Seite, die Wirklichkeit des un-

mittelbaren Erschlossenwerdens dieses Bewußtseins auf der anderen. Während

jener als unmittelbar erschlossenes Bewußtsein des Selbst und der Welt die

Sphäre der Phänomenalität aufmacht, bleibt seine Wirklichkeit selber – das Er-

schlossensein in seiner Unmittelbarkeit – dem Bewußtsein entzogen und geht

nicht in die Phänomenalität der Erkenntnis ein.“371

Diese „Unterscheidung, welche Jacobi unkritisch unterlassen hatte“372, ist m. E.

auch für den Begriff des Selbstbewußtseins beim späten Schleiermacher charak-

teristisch. Vereinfacht gesagt geht es bei dieser Unterscheidung darum, ob wir

beim erkennenden Akt etwas in seiner vollen Wirklichkeit in unser Bewußtsein

aufnehmen können. Jacobi betont zwar zu Recht, daß nur das unmittelbare

Seinsgefühl das eigentliche und einzige Wahre in unserem Bewußtsein ist. Seine

Neigung zum Realismus hindert ihn aber daran, aus diesem Gedanken die richti-

gen Konsequenzen zu ziehen. Seine Theorie ist in unkritischer Weise auf die

selbständige Realität der Außenwelt gerichtet; das phänomenische Wesen des

Weltbewußtseins, das aus jener These des unmittelbaren Seinsgefühls als des ein-

zig Wahren im Bewußtseinsleben notwendig folgt, bleibt bei Jacobi unbeachtet.

Bei Schleiermacher finden wir hingegen eine klare Einsicht in das phänomeni-

sche Wesen des Weltbewußtseins, die auch in den Schriften des späten Schlei-

ermachers wiederzufinden ist.

369 Ebd. 370 Ebd., S. 140. 371 Ebd. 372 Ebd.

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Hiermit legt der junge Schleiermacher einen wichtigen Grundstein für seine

Glaubenslehre, in der der Ursprung des Abhängigkeitsgefühls nicht primär im

Gefühl unseres Seins in der Welt gesucht wird, sondern im Gefühl unseres Seins

in Gott. Das ursprüngliche Seinsgefühl hat bei Schleiermacher nicht die Funktion,

die Welt als selbstverständliche Realität des Seins zu verabsolutieren. Daß ei-

gentlich nur das Seinsgefühl in unserem Bewußtsein als das einzige Wahre anzu-

erkennen ist, bedeutet für Schleiermacher vielmehr, daß die Existenz der Welt,

die in unserem natürlichen Weltbewußtsein unhinterfragt bleibt, nicht der Stren-

ge der philosophischen Kritik standhalten kann. Ähnlich wie Husserl durch die

phänomenologische Reduktion das Sein der Welt kritisch einklammert, weist

auch der junge Schleiermacher auf das phänomenische Wesen der Welt hin. Al-

lerdings darf der Unterschied zwischen den beiden Denkern nicht ignoriert wer-

den. Husserl erhebt das Ich zum absoluten Sein und vollzieht dadurch die Um-

gestaltung der Phänomenologie als einer deskriptiven Psychologie zu einer Phä-

nomenologie als einer Transzendentalphilosophie. Schleiermacher hält dagegen

weiter daran fest, daß sich die Einheit des Selbstbewußtseins weder auf die Sub-

stanz oder die Seele noch auf die noumenische Person oder das moralische Sub-

jekt Kants oder das absolute Ich bezieht. Gott steht von Anfang an im Zentrum

der Philosophie Schleiermachers.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, daß Schleiermacher in

seinen späteren Schriften – besonders in der Dialektik und in der Glaubenslehre

– aufgrund seiner Einsicht in das phänomenische Wesen der Welt einen spezifi-

schen Begriff des substantiellen Seins entwickelt, der mit Gott gleichzusetzen

ist.373 Nur das ganze Sein kann als das substantielle Sein anerkannt werden, da es

373 G. Scholtz weist überzeugend nach, daß Schleiermachers Philosophie, besonders im Hinblick auf ihre dialektische Fundierung, durch seine Rezeption von Platons Ideenlehre maßgeblich beein-flußt wurde. Nach Scholtz entdeckt Schleiermacher in dem Dialog Sophistes eine „Seinslehre“, in der das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Seienden durch „eine bestimmte Struktur, nämlich die Unterscheidung eines absoluten Seins als Coincidentia oppositorum und dem Seienden als Reich der Gegensätze“, aufgefaßt wird. (G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 260.) „Was für Platon ein on, ein Sein ist, das ist Dynamis“, und diese Gleichsetzung des Seins mit dem Dy-namis führt Schleiermacher dazu, den angeblichen „Dualismus zwischen den geistigen Ideen und den sinnlichen Dingen, der für Aristoteles die Grundstruktur des Platonismus bildete, […] in ein Kontinuum auf[zulösen]: Allgemeine Kräfte erscheinen als besondere Kräfte, auch die Sinnenwelt ist eine Erscheinung von Kräften.“ (Ebd., S. 263; 280) Die Welt ist in dieser Hinsicht zwar nicht

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allein den Grund seiner eigenen Existenz in sich schließt. Das Sein des Men-

schen kann dagegen, da es als ein endliches Sein nicht in sich den Grund der ei-

genen Existenz einschließt, nicht als das absolute Sein anerkannt werden.

Für Schleiermacher ist das Sein das substantielle Sein. Das bedeutet aber nicht,

daß Schleiermacher das Sein von dem Seienden her denkt. Heutzutage neigt man

unter dem Einfluß der Heideggerschen Kritik an der Metaphysik häufig dazu, die

Verwendung des Begriffs des substantiellen Seins einfach als eine Folge der

Verwechselung des Seins mit dem Seienden zu betrachten. Bei Schleiermacher

ist das Verhältnis des Substanzbegriffs zu dem Sein und dem Seienden jedoch

ganz anders begründet. Gerade das phänomenische Wesen der Welt führt Schlei-

ermacher zur Einsicht, daß das Sein selbst, das den Grund seiner eigenen Exis-

tenz in sich schließt und somit als Substanz zu bezeichnen ist, nicht richtig auf-

gefaßt werden kann, wenn man an der Vorhandenheit des Seienden orientiert

bleibt. Das Sein selbst ist weder als die geteilte Unendlichkeit (Welt) noch als die

Substanz im Spinozistischen Sinn zu verstehen. Denn weder die Teilung des

Seins im Weltbewußtsein noch die Substanz im Spinozistischen Sinn ist von dem

Irrtum frei, das Sein selbst von der Vorhandenheit eines Seienden her zu denken.

Daher muß das ganze Sein nach der Glaubenslehre nur als die ungeteilte Einheit

(„die einfache und absolute Unendlichkeit“), d. h. als Gott, verstanden werden,

aber nicht als die Welt, die „die in sich getheilte und endlich gestaltete Unend-

lichkeit“ ist.374 Hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum Schleiermachers Phä-

nomenologie nicht einfach mit der Phänomenologie Husserls gleichgesetzt wer-

das Sein selbst; sie ist aber auch nicht das Nichts, sondern der Inbegriff der verschiedenen Er-scheinungen von Kräften. Dies kann auch mit Hilfe der Platonischen Logik vom Wesen und der Relation gut erklärt werden. „Die Wesensbegriffe bezeichnen das, was dem Seienden selbst (kath’ auto) zukommt; die Relationsbegriffe aber sagen das aus, was dem Seienden in bezug auf anderes (pros ti) zugesprochen wird.“ (Ebd., S. 267) Daß für Schleiermacher das Sein ein substantielles Sein ist, bedeutet nun, daß „das wirkliche Sein (on) nur das Wesen [ist]“, ein Sein also, das nicht in bezug auf das andere Sein gedacht werden kann. (Ebd., S. 268) Diese Identifikation des wirkli-chen Seins mit dem Wesen impliziert allerdings den Charakter des Nichtseins alles Seienden, das im natürlichen Weltbewußtsein in Relation mit dem anderen Seienden gedacht ist. Das bedeutet aber wiederum nicht, daß das Seiende im Weltbewußtsein oder sogar die Welt selbst, die ohne das Bewußtsein der Relation zwischen den Seienden nicht möglich ist, schlechthin als ein Nichts umgedeutet werden soll. Denn „Platon hat bekanntlich im Sophistes das Nichtsein als Verschie-denheit bestimmt. Und er hat betont, daß damit keinesfalls das Gegenteil des Seins, das Nichts, als existierend behauptet wird.“ (Ebd., S. 260) 374 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 32.

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den kann. Wie Heidegger stellt auch Schleiermacher die Frage nach dem Sein

selbst, das nicht auf das Seiende zurückzuführen ist. Schleiermachers Phänome-

nologie ist in diesem Sinn zugleich eine Fundamentalontologie, die von der onto-

logischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden ausgeht.

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3. Das Selbstbewußtsein, die Welt und Gott

Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, zwei Bedeutungen des Selbstbewußtseins

bei Schleiermacher zu erhellen: Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins

in der Welt einerseits und als Gefühl unseres Seins in Gott andererseits. Dieser

Unterschied ist deswegen wichtig, weil Schleiermachers Religionsphilosophie

von der Einsicht geleitet wird, daß das ganze Sein, in dem unser endliches Sein

inhärieren muß, nicht primär als ‚die Welt‘ expliziert werden kann.

3.1. Die Welt als Offenbarung Gottes

Freilich darf man dabei das Verhältnis zwischen der Welt und Gott bei Schleier-

macher nicht als das zwischen dem bloßen Schein und dem wahren Sein verste-

hen. Bekanntlich wird die Welt bei Schleiermacher als Offenbarung Gottes ver-

standen. Auch in der phänomenologischen Tradition seit Husserl wird der Beg-

riff ‚Phänomen‘ nicht selten auf einen Gedanken bezogen, der mit dem Begriff

der Offenbarung Schleiermachers eine starke Ähnlichkeit hat. Heidegger weist z.

B. in Sein und Zeit darauf hin, daß das Phänomen als das Sichzeigen bzw. als das

Offenbarwerden des Seins zu verstehen ist: „Der griechische Ausdruck

φαινόμενον, auf den der Terminus ‚Phänomen‘ zurückgeht, leitet sich von dem

Verbum φαίνεσθαι her, das bedeutet: sich zeigen; φαινόμενον besagt daher: das,

was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare […].“375 Es ist zwar möglich,

daß sich das Phänomen als ein Schein erweist: „Die Möglichkeit besteht sogar,

daß Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist. In diesem Sichzei-

gen ‚sieht‘ das Seiende ‚so aus wie …‘. Solches Sichzeigen nennen wir Schei-

nen.“376 Aber der primäre Sinn des Phänomens besteht darin, daß es „eine aus-

gezeichnete Begegnisart von etwas ist“, die sich in der Satzstruktur des „Sich-

selbst-an-ihm-zeigen[s]“ zum Ausdruck bringt.377

375 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 28. 376 Ebd., S. 28 f. 377 Ebd.,

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Die Welt ist für Schleiermacher ein Phänomen. Aber das bedeutet nicht, daß die

Welt für Schleiermacher etwa das rein Subjektive ist, das von meinem subjekti-

ven Akt hervorbracht wird. Es gehört für Schleiermacher zu einer notwendigen

Struktur des Selbstbewußtseins, daß in ihm unser Sein als Sein in der Welt vor-

kommt. Dieses Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt muß aber

für Schleiermacher notwendig von dem religiösen Selbstbewußtsein begleitet

werden, das darin besteht, sich von diesem natürlichen Weltbewußtsein abzuhe-

ben und auf das Sein selbst auszurichten. Gerade hierin liegt der Grund, warum

Schleiermachers Religionsphilosophie nicht nur als eine Phänomenologie zu be-

zeichnen ist, sondern zugleich als eine Ontologie, wie bereits am Ende des letz-

ten Kapitels angedeutet wurde. Nach Heidegger besteht die „Aufgabe der Onto-

logie“ in der „Explikation des Seins selbst“, die „die Abhebung des Seins vom

Seienden“ voraussetzt.378 Die ontologische Differenz zwischen dem Seienden

und dem Sein bedeutet aber nicht, daß das Seiende bloß zu einer Scheinrealität

gehört. Im Gegenteil: Unser religiöses Selbstbewußtsein schließt für Schleierma-

cher nicht das Weltbewußtsein aus, sondern notwendig ein. Unser Selbstbewußt-

sein läßt sich zwar unterteilen in das Gefühl unseres Seins in der Welt einerseits

und das Gefühl unseres Seins in Gott andererseits. Aber das bedeutet nicht, daß

sich ein Selbstbewußtsein gegenüber dem anderen als ein falsches Bewußtsein

erweist. Im Gegenteil: Beide bilden für Schleiermacher eine Struktureinheit, in

der das eine nicht ohne das andere möglich sein kann. Dies wird noch in diesem

Kapitel näher behandelt werden.

In der Glaubenslehre weist Schleiermacher auf die Fähigkeit des Menschen hin,

die Welt in sein Selbstbewußtsein aufzunehmen: „Allein das Selbstbewußtsein ist

einer verschiedenen Ausdehnung fähig, und eben sogut als bestimmte einzelne

Sphären, wie Hauswesen und Vaterland, kann der Mensch auch die Welt in sein

Selbstbewußtsein aufnehmen.“379 Hierin liegt für Schleiermacher das Kriterium,

mit dem man die wahre Religion von dem Götzendienst unterscheiden könne:

Der „Gözendienst“ ist nach Schleiermacher durch die „Unfähigkeit“ charakteri-

378 Ebd., S. 27. 379 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 49.

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sierbar, „die Welt mit in das Selbstbewußtsein aufzunehmen“. 380 Vereinfacht

gesagt besteht das Wesen des Götzendienstes bzw. des „Fetischismus“ darin, das

Augenmerk lediglich auf „eine Allheit“ der einzelnen Seienden zu richten, in dem

alles sich nur in seinem Charakter des zufällig Seienden offenlegt; „in dem

fromm erregten Selbstbewußtsein“ ist zwar, „sofern jeder Gott auf das ganze Sys-

tem bezogen wird, die Abhängigkeit alles Endlichen aufgenommen, aber nicht

von Einem Höchsten […]. Dem Gözendiener […] ist die Mehrheit der Gözen nur

etwas zufälliges, und es ist dabei gar nichts vollständiges angestrebt […]“.381

Was bedeutet nun, daß der Götzendienst durch die Unfähigkeit entsteht, die

Welt in das Selbstbewußtsein aufzunehmen? M. E. sind zwei wichtige Einsichten

Schleiermachers in dieser These vereinigt. Einerseits bringt Schleiermacher mit

dem Ausdruck, die Welt in das Selbstbewußtsein aufzunehmen, das phänomeni-

sche Grundwesen des Weltbewußtseins zum Ausdruck, das Schleiermacher von

der Transzendentalphilosophie Kants übernommen hat. Für Schleiermacher kann

man weder beim Erkennen noch beim Handeln einen direkten Zugang zur Welt

als eine eigenständige Realität haben, da kein Weltbewußtsein ohne den wahr-

nehmenden und vorstellenden Akt des Bewußtseins möglich ist. „In jedem wirk-

lichen Selbstbewußtsein ist immer ein Theil der Welt mitgesetzt“, und das be-

deutet nun, daß wir uns nicht direkt zur Außenwelt als einer eigenständigen Rea-

lität verhalten, sondern nur zu einer phänomenischen „Welt“, die „wir als Habe

sezen.“382 Daraus darf man aber nicht voreilig ableiten, das Weltbewußtsein ge-

höre für Schleiermacher zur Seinssphäre der bloßen Phänomenalität, die durch

die selbstbestimmende Tätigkeit des apriorischen Bewußtseins zur Welt komme

und von dem wirklichen Sein radikal verschieden sei. Die zweite Einsicht, die

Schleiermacher mit jenem Ausdruck unserer Weltaufnahme ins Selbstbewußtsein

vertritt, besteht gerade darin, daß das phänomenische Wesen des Weltbewußt-

seins selbst weder den Begriff des Dinges an sich noch die reine Selbstbestim-

mung des apriorischen Bewußtseins als eine Ursache für das Entstehen des phä-

nomenischen Weltbewußtseins zuläßt. Gerade in dieser kritischen Distanz von

380 Ebd., S. 50. 381 Ebd., S. 49 f. 382 Ebd., S. 132.

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der Kantischen Transzendentalphilosophie liegt m. E. der wichtigste Grund dafür,

warum Schleiermachers Begriff des Selbstbewußtseins gar nicht als etwas zu

betrachten ist, was, wie Dilthey und viele Schleiermacher-Kritiker meinen, etwas

rein Subjektives wäre.

3.2. Das Leben als Einheit von Spontaneität und Rezeptivität

In der Analyse des Verhältnisses von Spontaneität und Rezeptivität kann man

eine große Kontinuität zwischen dem jungen und dem späten Schleiermacher

feststellen. Schleiermacher vertritt seit seinen Jugendschriften über den Spino-

zismus stets eine These, die als eine Kritik an Kant zu betrachten ist: alles, was

im Bewußtsein als das Seiende in der Welt vorkommt, sei auf die Einheit von der

Spontaneität und Rezeptivität des menschlichen Lebens zurückführbar.

Um des besseren Verständnisses halber möchte ich zuerst die Position des spä-

ten Schleiermachers erörtern, die er bezüglich der Begriffe der Spontaneität und

Rezeptivität in der Glaubenslehre einnimmt. Danach wird Schleiermachers Kant-

Kritik in den beiden Jugendschriften über den Spinozismus, die sich auf die Kan-

tische Problematik des Dinges an sich einerseits und der Selbstbestimmung der

Vernunft andererseits bezieht, mit diesen Überlegungen des späten Schleierma-

chers verglichen.

In der Glaubenslehre behauptet Schleiermacher, daß unsere „Abhängigkeit von

Gott“ nicht von einem Subjekt-Objekt-Schema her zu verstehen sei, bei dem die

Teilung von dem handelnden Selbst und der gegenständlichen Welt angenom-

men wird.383 Wir sollen „nämlich gegen unsre Gewohnheit, Sein und Thun und

eben so Thun und Leiden von einander zu sondern, […] das eine von dem andern

nicht sondern.“384 Der Grund dafür besteht darin, daß sich jedes einzelne Seiende

im Wirkungszusammenhang mit den anderen Seienden befinde: Jedes Seiende,

das als ein besonderes Sein gegenüber anderen Seienden zu betrachten ist, kann

nur dadurch entstehen und fortbestehen, daß es auf die anderen Seienden aktiv

wirkt und daß umgekehrt von den anderen Seienden auf es eingewirkt wird. We- 383 Ebd., S. 170. 384 Ebd.

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der die abstrakte Trennung des Seins von dem Tun noch die der aktiv wirkenden

Tätigkeit von der die Wirkung des anderen Seienden hinnehmenden Rezeptivität

entspricht der wirklichen Seinsweise des Seienden, sondern repräsentiert nur die

Beschränktheit des natürlichen, an der Teilung des einzelnen Seienden orientier-

ten Weltbewußtseins: „Denn wir können doch nur das als ein besonderes Sein für

sich ansehen, in dem irgendwie Leben ist oder Kraft, und damit zugleich ist auch

ein Kreis von Thätigkeit gesetzt, und in sofern fällt die Mitwirkung mit der Er-

haltung zusammen.“385

Schleiermacher zieht aus dieser Kritik an der „Sonderung des Seins vom Thun

oder Leiden“ im natürlichen Bewußtsein eine Konsequenz, die mit dem Begriff

der Welt als Gesamtheit alles mannigfaltig Seienden nicht vollständig erklärt

werden kann: „Alles was uns als ein Theil der Welt bewegt, besteht als solcher

nur durch Gott.“386

3.2.1. Das Selbstbewußtsein als Gefühl unseres Seins in der Welt

Es sieht auf den ersten Blick so aus, als ob diese Aussage eigentlich nur eine

dogmatische Voraussetzung sei, die nicht aus seiner Kritik an der Sonderung des

Seins vom Tun bzw. Leiden im natürlichen Weltbewußtsein abgeleitet werden

kann. Der Grund, warum die Trennung von Sein und Tun nicht der wirklichen

Seinsweise des Seienden entspricht, besteht für Schleiermacher darin, daß „wir

unmittelbar nicht von dem Sein der Dinge bewegt werden, sondern immer nur

von ihren Thätigkeiten und Veränderungen“.387 Heißt es dann nicht, daß sich

unser Sein selbst im Wirkungszusammenhang mit dem anderen Seienden befin-

det? Sollen wir die Welt somit primär als einen Platz verstehen, in dem wir uns

in einem Wechselverhältnis mit dem mannigfaltigen Seienden befinden? In der

Tat. Schleiermachers kritische Aufhebung der Sonderung des Seins vom Tun

und Leiden weist auf das kontingent-notwendige Sichbefinden jedes Einzelnen

in einem Wirkungszusammenhang mit dem anderen Seienden hin: Schleierma-

385 Ebd. 386 Ebd. 387 Ebd., S. 168.

186

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cher spricht „von der ursprünglichen Art zu sein des Dinges selbst“ (Fürsichsein

des Einzelnen) einerseits, und „von der Art wie es mit anderem lebendigen und

wirksamen zusammen trifft, also von den Einwirkungen anderer Dinge und von

seinen eigenen leidentlichen Zuständen“ andererseits.“388 Entscheidend ist aber,

daß unsere Weltaufnahme ins Selbstbewußtsein im Sinn Schleiermachers keines-

wegs mit dem Bewußtsein von der Außenwelt endet. Denn es geht Schleierma-

cher primär um „die Fähigkeit sich im Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt zu

einen, d. h., sich selbst schlechthin als Welt oder die Welt als sich selbst zu füh-

len.“389

Diese These ist m. E. mit der Heideggerschen Konzeption des In-der-Welt-seins

vergleichbar. Im §4 der zweiten Auflage der Glaubenslehre, zu dem Heidegger

in seiner frühen Freiburger Zeit Bemerkungen verfaßt hat, bezeichnet Schleier-

macher „unser Selbstbewußtsein“ „als Bewußtsein unseres Seins in der Welt o-

der unseres Zusammenseins mit der Welt“.390 Unsere Fähigkeit, die Welt in un-

ser Selbstbewußtsein aufzunehmen, führt uns zur Entdeckung der fundamentalen

Existenzstruktur unseres Daseins: Mein Sein ist in die Welt gehörig, hat die

Struktur des In-der-Welt-seins. Dieses Bewußtsein vom Selbst als einem In-der-

Welt-sein ist nicht nur als ein Bewußtsein davon zu bezeichnen, daß ich im

Wechselverhältnis mit dem anderen Seienden stehe, in dem das andere Seiende

mir äußerlich gegeben ist. In diesem Bewußtsein finde ich mich auch selbst als

einen Teil von einem Ganzen, von dem das Sein alles einzelnen Seienden abhän-

gig ist.

3.2.2. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Freiheitsbewußtsein

Es wäre offenkundig absurd zu bestreiten, daß die Welt als die Stätte der Wech-

selwirkung zwischen den endlich Seienden aufgefaßt werden kann. Wir können

uns vielleicht auch als ein solches Sein verstehen, das nicht nur auf die einzelnen

Dinge, sondern auch auf das Ganze außer mir (die Außenwelt) einwirken kann,

388 Ebd. 389 Ebd., S. 50. 390 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube², a.a.O., S. 126.

187

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in dem sich jedes Einzelne befindet. Nach Schleiermacher entsteht gerade da-

durch unser Bewußtsein der Freiheit, daß diese Möglichkeit uns bewußt wird:

„Gäbe es nun noch größeres endliches als Vater und Vaterland: so würde auch

mit diesem, wenn gleich in noch geringerem Grade, eine Wechselwirkung mög-

lich sein. Dies gilt auch von der Welt, als der Gesamtheit alles leiblichen und

geistigen endlichen Seins, und das Selbstbewußtsein des Menschen als durch

diese mitbestimmt, ist eben das Bewußtsein der Freiheit. Denn indem er auf je-

den Theil derselben Gegenwirkung ausüben kann, übt er Einwirkung auf alle.“391

Wenn es aber um die kontingent-notwendige Struktur des Selbstbewußtseins

geht, daß wir uns selbst nur als ein In-der-Welt-sein, nur als einen Teil der gan-

zen Welt setzen können, kann von der Freiheit des Menschen, die im Wechsel-

verhältnis zwischen dem handelnden Selbst und dem gegenständlichen Sein er-

möglicht werden kann, nicht mehr Rede sein: „Indem aber der Einzelne sich sei-

ner nur als eines Teiles der ganzen Welt bewußt wird, ist aller Gegensatz zwi-

schen dem Einzelnen und anderm einzelnen und endlichen ganz aufgehoben.

Woraus schon hervorgeht, daß die frommen Erregungen an und für sich unter

diesem Gegensaz nicht stehn.“392

Man wird hier allerdings einwenden können, daß dieses Bewußtsein vom Selbst

als einem In-der-Welt-sein nicht mit dem Bewußtsein der Freiheit im Wider-

spruch steht. Ist das Bewußtsein des In-der-Welt-seins, da die Welt immer als

das Ganze der Mannigfaltigkeit des Seienden vorkommt, nicht vielmehr als eine

Grundbedingung für das Bewußtsein von der eigenen Freiheit zu verstehen?

Heißt es dann nicht, daß ich mich gerade durch das Bewußtsein von meinem

Selbst als einem In-der-Welt-sein als ein solches Sein verstehe, das sich in einem

Wechselverhältnis befindet? Darauf hätte Schleiermacher zwei Antworten geben

können.

Erstens versteht Schleiermacher selbst das Abhängigkeitsgefühl gar nicht als

einen Gegensatz zum Bewußtsein der Freiheit, sondern als dessen grundsätzliche

Voraussetzung. Schleiermacher weist darauf hin, daß „das fromme Gefühl […]

391 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube., a.a.O., S. 32. 392 Ebd., S. 35.

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immer ein reines Gefühl der Abhängigkeit ist, und nie ein Verhältniß der Wech-

selwirkung bezeichnen kann“. 393 Das Abhängigkeitsgefühl gehört zu der Er-

möglichkeitsbedingung des Freiheitsbewußtseins, da ohne das Bewußtsein davon,

daß ich selbst mitsamt den anderen Einzelnen in ein Ganzes gehöre und von ihm

abhängig bin, kein auf die anderen Seienden gerichteter Akt möglich ist: „Mit

diesem Charakter reiner Abhängigkeit hängt aber auch zusammen, daß dasjenige,

wovon wir uns in den frommen Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine

äußerliche Weise uns gegenüberstehend gegeben werden. Denn was uns so ge-

geben wird, darauf können wir uns der Gegenwirkung – die an sich immer mög-

lich bleibt, indem ein sinnlich wirkendes auch für sinnliche Rückwirkungen

empfänglich sein muß – nur durch freiwillige Entäußerung begeben, und die

Frömmigkeit muß schon vorausgesetzt werden, um diese Entäußerung hervorzu-

bringen.“394 Schon daraus, daß das Freiheitsbewußtsein die Möglichkeit voraus-

setzt, auf das andere Seiende einzuwirken, kann man erkennen, daß sein begriff-

liches Korrelat, das Bewußtsein der Unfreiheit, umgekehrt die Möglichkeit vor-

aussetzt, von dem anderen Seienden Einwirkungen zu erfahren. Da aber das rei-

ne Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher nicht ein Verhältnis der Wechselwir-

kung bezeichnet, kann man es nicht als einen Gegensatz des Freiheitsbewußt-

seins bezeichnen.

Zweitens ist das In-der-Welt-sein für Schleiermacher nur eine unter den zwei

möglichen Definitionen des menschlichen Daseins, die man von der Analyse des

unmittelbaren Selbstbewußtseins ableiten kann; denn jeder Mensch ist für Schlei-

ermacher nicht primär in seiner Abhängigkeit von der Welt zu verstehen, sondern

von dem, was Schleiermacher Gott nennt.

3.2.3. Das Gefühl unseres Seins in der Welt und das Gottesbewußtsein

Allerdings darf man hieraus nicht ableiten, daß das Abhängigkeitsgefühl, wenn es

sich auf das Bewußtsein vom Selbst als einem In-der-Welt-sein bezieht, für

Schleiermacher kein reines Abhängigkeitsgefühl wäre. Das Gefühl der Abhän- 393 Ebd., S. 32. 394 Ebd., S. 33.

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gigkeit von der Welt ist nicht rein, wenn die Welt als eine Außenwelt verstanden

wird, auf die ich einwirken kann und von der ich Wirkungen erfahre. Aber wenn

es sich auf jene Fähigkeit bezieht, sich im Selbstbewußtsein mit der ganzen Welt

zu vereinen, ist das Gefühl der Abhängigkeit von der Welt nicht mit dem Wech-

selverhältnis zwischen mir und dem anderen Seienden verbunden; ich fühle mich

selbst als einen Teil der Welt, und in diesem Gefühl, mit der ganzen Welt eins zu

sein, ist die Teilung von Selbst und Welt (Außenwelt) aufgehoben.

Schleiermacher will nun zeigen, daß das Bewußtsein vom Selbst als einem In-

der-Welt-sein notwendig zu einem frommen Gefühl der Abhängigkeit von Gott

wird. Hiermit meine ich nicht, daß das Gottesbewußtsein für Schleiermacher ein

vom Weltbewußtsein abgeleitetes Phänomen wäre, wie Dilthey behauptet. Wir

haben gesehen, daß die Welt, die im Bewußtsein vom Selbst als einem In-der-

Welt-sein vorkommt, gar nicht als eine Außenwelt gemeint ist, sondern als das

unendliche Ganze, von dem das Sein alles Endlichen abhängig ist. Die richtige

Formulierung des Selbstbewußtseins ist also eigentlich das Bewußtsein vom

Selbst als einem In-dem-unendlichen-Ganzen-sein, und die Welt ist nur ein Beg-

riff, den man diesem unendlichen Ganzen geben kann. Aus den folgenden Passa-

gen kann man deutlich erkennen, daß die Welt für Schleiermacher kein adäquater

Name für das unendliche Ganze ist, von dem das Sein alles Endlichen abhängig

ist: „Wenn daher in dem die frommen Erregungen auszeichnenden Gesetztsein

einer vollkommnen, stetigen, also auf keine Art von einer Wechselwirkung be-

grenzten oder durchschnittenen Abhängigkeit, die Unendlichkeit des mitbestim-

menden nothwendig mitgesetzt ist, so ist dies nicht die in sich getheilte und end-

lich gestaltete Unendlichkeit der Welt, sondern die einfache und absolute Unend-

lichkeit.“395

Die Welt ist nur ein Inbegriff des mannigfaltig Seienden, und ihre Unendlichkeit

hängt also von der Unendlichkeit des einzelnen, geteilten Seienden ab. Der ent-

scheidende Punkt, den Schleiermacher bei seiner Unterscheidung von Welt und

Gott hervorhebt, besteht nun darin, „daß dasjenige, wovon wir uns in den from-

men Erregungen abhängig fühlen, nie kann auf eine äußerliche Weise uns gege-

395 Ebd., S. 32.

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nüberstehend gegeben werden.“396 Die Welt kann uns, wie Schleiermacher mit

dem Beispiel zeigt, äußerlich gegeben sein, da ihre Unendlichkeit nur die in sich

geteilte und endlich gestaltete Unendlichkeit ist. Das In-der-Welt-sein aber, als

das sich die Menschen in ihrem Selbstbewußtsein wieder finden müssen, bezeugt,

daß sich jedes Einzelne stets in dem unendlichen Ganzen befinden muß. Wir

können im Denken und Handeln die Unendlichkeit als die in sich geteilte Unend-

lichkeit der Welt setzen, und die Möglichkeit unseres Freiheitsbewußtseins be-

steht darin, unser Selbst von dieser in sich geteilten Unendlichkeit der Welt als

ein eigenständiges Sein abzusondern. In Wirklichkeit befindet sich unser Sein

aber stets in dem unendlichen Ganzen, und die wahre Unendlichkeit des Ganzen,

von der unser Sein abhängt, ist uns eigentlich nie äußerlich gegeben. Und hierin

liegt der Grund, warum die Unendlichkeit des ganzen Seins die einfache und ab-

solut innerliche Unendlichkeit sein muß.

3.2.4. Das relative und das absolute Abhängigkeitsgefühl

Wir haben schon gesehen, daß Schleiermacher-Forscher wie E. Huber, W. Dil-

they und E. Brunner in Schleiermachers Identifizierung des religiösen Gefühls

mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein eine Reduktion der Religion auf das

rein Subjektive erkennen wollen. Nach ihnen ist die Religion bei Schleiermacher

als etwas letztlich rein Subjektives konzipiert, da sie mit dem Selbstbewußtsein

identifiziert wird. Gott wird folglich als eine innerliche Gegebenheit im subjekti-

ven Bewußtsein verstanden. Besonders Brunner übt von dieser Position aus eine

erbitterte Kritik an der Religionsphilosophie Schleiermachers. Nach Brunner ha-

be Schleiermacher mit seinem Versuch, die Eigenständigkeit der Religion vor

der Bedrohung durch den spekulativen Idealismus zu bewahren, „die Immanenz-

lehre der Spekulation durch die viel schlimmere Immanenzlehre der Gefühlsmys-

tik“ ersetzt. 397

Diese Kritik erweist sich nach dem Gesagten jedoch als unhaltbar. Denn Gott ist

für Schleiermacher, wie wir gesehen haben, nicht eine innerliche Gegebenheit im 396 Ebd., S. 33. 397 E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 375.

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Bewußtsein, sondern das ganze Sein, in dem ich mich mitsamt allem anderen

Seienden befinde. Gott ist für Schleiermacher nicht das rein Subjektive, da das

Selbstbewußtsein, mit dem die Religion identifiziert wird, das Bewußtsein von

meinem Selbst als In-dem-unendlichen-Ganzen-sein bedeutet.

Schleiermacher stellt drei Formen des frommen Gefühls dar, die notwendig in

der Form des Bewußtseins vom Selbst vorkommen. Dabei geht es um die Unter-

scheidung des absoluten Abhängigkeitsgefühls von dem relativen. In der ersten

und der zweiten Form ist das Selbst mehr oder weniger als ein gesondertes Sein

gegenüber dem übrigen Sein gedacht, während es in der dritten Form sich seiner

unmittelbaren Einheit mit dem ganzen Sein bewußt ist.

Die erste Form besteht darin, daß sich das Abhängigkeitsgefühl auf das Selbst,

das als das sinnlich Bestimmte aufgefaßt wird, bezieht: „Da das fromme Gefühl

überhaupt nur zur Erscheinung kommt, d. h. wirkliches zeiterfüllendes Selbstbe-

wußtsein wird, indem es sich mit einem bestimmten Moment des sinnlichen

Selbstbewußtseins einigt: so ist auch jede Beschreibung desselben die eines be-

stimmten innern Gemüthszustandes, und dies ist die ursprüngliche Form.“ 398

Hier handelt es sich um die allgemeine Struktur des Abhängigkeitsgefühls, näm-

lich daß ich mich nur durch die sinnliche Bestimmtheit meines Selbstbewußt-

seins als abhängig von etwas fühlen kann.

Die zweite Form besteht darin, daß dieses Bewußtsein vom Selbst, da das Selbst

immer als das sinnliche, d. h. von dem Seienden außer mir beeinflußte Selbst

vorgestellt wird, notwendig die Funktion hat, unsere Aufmerksamkeit auf das

äußere Seiende zu richten. Da jedes Seiende, das einem anderen Seienden äußer-

lich gegenübersteht, nur als ein Teil des gesamten Seins existieren kann, führt

diese Teilung von meinem Selbst und dem mir Äußeren zum Bewußtsein von

dem ganzen Sein, das, solange das Selbst isoliert betrachtet wird, in der Form

von der Außenwelt vorkommt. Hiermit zeigt sich das Selbstbewußtsein als Be-

wußtsein vom Selbst als einem Mit-sein, in dem das Selbst neben die Außenwelt

gesetzt ist: „Da aber jede Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewußtseins auf ein

bestimmendes außer dem Bewußtsein zurückweist, welches Aeußere wegen des

398 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 119.

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allgemeinen Zusammenhanges nur als ein Theil des Gesamtseins auftritt: so kann

der Zustand selbst auch erkannt werden, wenn dasjenige in dem Gesamtsein oder

der Welt beschrieben wird, worauf jener Zustand beruht; und dies ist die zweite

Form.“399 Es handelt sich hier also um das relative Abhängigkeitsgefühl, in dem

das Selbst und die Welt getrennt aufgefaßt werden.

Die dritte Form des frommen Gefühls besteht darin, daß das Selbst nicht mehr

isoliert betrachtet wird. Ich fühle mich nicht mehr als ein Subjekt, das sich dem

Außensein gegenüberstellt, sondern als ein In-sein, das mitsamt dem anderen

Seienden zum ganzen Sein gehört. In dieser Form ist das fromme Gefühl als das

absolute Abhängigkeitsgefühl zu bezeichnen, und alle anderen Formen des

frommen Gefühls sind nur als Modifikationen dieses absoluten Abhängigkeitsge-

fühls möglich: „Endlich da das absolute Abhängigkeitsgefühl, von dem doch alle

frommen Zustände nur Modifikationen sind, sich nicht auf das Subjekt des

Selbstbewußtseins isoliert bezieht, sondern auch auf sein Zusammensein mit al-

lem übrigen endlichen, und also auch dieses Zusammensein in seinen verschie-

denen Modifikationen von dem höchsten Wesen abhängig ist, so kann ein jeder

frommer Gemüthzustand auch erkannt werden, indem dasjenige in Gott be-

schrieben wird, wodurch jedes bestimmte Zusammensein geordnet ist; und das

ist die dritte Form.“400

3.3. Der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt

Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, daß die dritte Form des frommen

Gefühls, die sich auf das Gottesbewußtsein bezieht, auch in der Form des Be-

wußtseins vom Selbst als einem In-der-Welt-sein möglich ist. Warum sollte man

aber dieses Gefühl, wenn es sich auch auf das Weltbewußtsein beziehen läßt, als

‚frommes‘ Gefühl bezeichnen? Ist es nicht widersprüchlich, daß ein gleiches Ge-

fühl einmal als ein frommes ein andermal als ein unfrommes betrachtet werden

kann? Schleiermacher selbst erkennt an, daß die dritte Form des Abhängigkeits-

gefühls nicht nur in bezug auf Gott, sondern auch in bezug auf die Welt gedacht 399 Ebd. 400 Ebd.

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werden kann. Er nennt die Erklärung, in der das absolute Abhängigkeitsgefühl

„nicht auf die Idee Gott, sondern auf die Idee Welt“ zurückgeführt wird, „die un-

fromme Erklärung dieses Gefühls.“401 Warum kann man aber gewiß sein, daß

diese unfromme Erklärung falsch bzw. unangemessen für das Verständnis des

unmittelbaren Selbstbewußtseins ist? Muß man nicht eher davon ausgehen, daß

wir in unserem Bewußtsein unseres Seins in der Welt das gesamte Sein als einen

Zusammenhang von einzelnen Seienden verstehen? Ist es dann nicht möglich,

daß wir uns gerade im Bewußtsein von unserem Selbst als einem In-dem-

ganzen-Sein-sein nicht schlechthinnig abhängig, sondern eher nur relativ abhän-

gig und folglich auch relativ frei fühlen?

3.3.1. Die ungeteilte Unendlichkeit als Existenzgrund des endlichen Seins

Schleiermacher versucht diese Möglichkeit dadurch auszuschließen, daß er die

Einheit der ungeteilten Unendlichkeit als Existenzbedingung alles endlichen, al-

so im Gegensatz begriffenen Seienden darstellt: „Denn wie das Endliche als im

Gegensaz begriffen nur erkannt werden kann mit und aus dem außer und über

den Gegensaz gestellten; und also allem Erkennen des entgegengesetzten das

Bewußtsein der absoluten Einheit zum Grunde liegt, so daß wir auch demjenigen,

der völlig im Gegensatz stehen bleiben und jene Einheit läugnen wollte, kein

Wissen zuschreiben, mithin das eigenthümlich menschliche der Anschauung ihm

absprechen würden […]“.402

Rein logisch gesehen kann durch diese Überlegung nicht zufriedenstellend ge-

klärt werden, warum sich das Bewußtsein vom Selbst als In-dem-ganzen-Sein-

sein primär auf Gott beziehen muß und nicht vielmehr auf die Welt. Ein Beispiel:

Ich stelle mir einen Raum vor, in dem es nichts gibt außer zwei Gegenständen.

Ich kann die Beziehung zwischen beiden als gegensätzliche definieren, wenn ich

jedem einzelnen Ding eine Selbigkeit zuweise, die durch die dauerhafte Identität

mit sich selbst charakterisierbar ist; jedes Ding kann nur dadurch als ein eigen-

ständiger Gegenstand betrachtet werden, wenn er eine dauerhafte Identität mit 401 Ebd., S. 124. 402 Ebd., S: 125.

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sich selbst hat; denn sonst muß er sich nur in einem Fluß der ständigen Verände-

rungen befinden, für den weder der Begriff des Gegenstandes noch der des Din-

ges angemessen sein kann. Beide sind also, indem sie in ihrer Gegenständlichkeit

betrachtet werden, durch die dauerhafte Identität mit sich selbst charakterisierbar

und verhalten sich daher wie die gegensätzlich Seienden; ein Gegenstand (A)

kann nur dadurch als A gesondert betrachtet werden, wenn er sich von dem ande-

ren (B) in der Form von Nicht-B abhebt. Kann man nun diese gegensätzliche Be-

ziehung als eine solche verstehen, die notwendig von einer Einheit abhängig ist,

in der der Gegensatz zwischen beiden Dingen nicht mehr gelten kann? Nein. Es

gibt nur zwei Gegenstände in einem Raum, in dem sich die beiden aufeinander

beziehen, und der Raum ist nur eine kontingent-notwendige Voraussetzung für

jedes Denken, das an der Relation zwischen den Gegenständen orientiert ist.

Auch Schleiermacher würde auf diese Frage verneinend antworten: die Unend-

lichkeit, von der jedes Endliche schlechthinnig abhängig sein muß, kann für ihn

nicht die in sich geteilte Unendlichkeit der Welt sein.

Daher kann man zwei Fragen stellen, die in bezug auf Schleiermachers Begriff

des Selbstbewußtseins von Bedeutung sind: 1. Ist die Beziehung zwischen mir

und dem anderen Seienden in meinem Selbstbewußtsein als eine solche zu ver-

stehen, in der mein Selbst dadurch gesetzt ist, daß es zu einer besonderen Identi-

tät erhoben wird und daher mein Sein folglich von den anderen einzelnen Seien-

den unterschieden ist? 2. Heißt es dann nicht, daß die Einheit, von der nach

Schleiermacher die voneinander als Gegensätze gesonderten Einzelnen abhängen

sollten, eigentlich nur eine räumliche, in sich geteilte Beziehung zwischen den

Einzelnen sein kann? Mit anderen Worten: Ist es nicht ein Denkfehler, wenn man

annimmt, daß das Abhängigkeitsgefühl auf die einfache, d. h. in sich nicht geteil-

te Unendlichkeit bezogen wird?

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3.3.2. Das phänomenische Wesen des Weltbewußtseins als Ursache für den

Glauben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt

Wie Schleiermacher die erste Frage beantworten würde, kann man aufgrund der

Jacobi-Kritik in Schleiermachers Jugendschriften vermuten: Diejenigen, die an

diese Möglichkeit glauben, begehen jenen Fehler, den Schleiermacher in seiner

Jugendschrift über den ‚Spinozismus‘ an Jacobis Unterscheidung von der Perso-

nalität und dem Prinzip der Personalität bemängelt: das Selbst wird hier wie ein

reales Substrat behandelt, während sich die Einheit des Selbstbewußtseins kei-

neswegs auf das substantielle Sein bezieht. Auch Schleiermachers Glaubenslehre

geht von demselben Grundgedanken aus. Die Einsicht ins phänomenische Wesen

des Selbstbewußtseins, die der junge Schleiermacher durch seine Auseinander-

setzung mit Jacobi, Spinoza und Kant gewonnen hat, bleibt auch für das Denken

des späten Schleiermachers von entscheidender Bedeutung.

Der dritte Abschnitt des ersten Teils der Glaubenslehre beginnt mit der These,

die an Leibniz’ Identifikation der wirklichen Welt mit der besten aller möglichen

Welten erinnert: „Die Allgemeinheit des Abhängigkeitsgefühls enthält den Glau-

ben an eine ursprüngliche Vollkommenheit der Welt.“403 Diese These kann nicht

richtig verstanden werden, wenn man Schleiermachers Einsicht in das phänome-

nale Wesen des Weltbewußtseins nicht berücksichtigt. Der Ausgangpunkt

Schleiermachers ist nicht ein metaphysischer Optimismus, der die Existenz der

Welt auf die freie Schöpfung Gottes zurückführt. Er will vielmehr durch seine

Analyse des unmittelbaren Selbstbewußtseins zeigen, daß dieser Glaube an eine

ursprüngliche Vollkommenheit der Welt zur Grundeigenschaft jedes wirklichen

Bewußtseinslebens gehört, für das die Welt, solange sie in einer konkreten Sach-

relation verstanden wird, nur als eine phänomenale Welt gegeben sein kann.

Nach Schleiermacher verhalten wir uns im Denken und Handeln nicht direkt zur

wirklichen Welt, sondern zu einer phänomenalen Welt. Das kann durch eine

leichte Umformulierung seiner These deutlich werden. Daß im Abhängigkeitsge-

fühl der Glaube an eine ursprüngliche Vollkommenheit der Welt enthalten ist,

bedeutet natürlich, daß unsere Vorstellung der Welt nicht vollkommen ist. Seine 403 Ebd., S. 226.

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These kann daher folgendermaßen umformuliert werden: Wir haben ein Gefühl,

daß die wirkliche Welt eigentlich vollkommen ist, während die phänomenale

Welt, die wir in unserem Bewußtsein als unseren Gegenstand setzen, nur eine

unvollkommne Welt ist. So ist „die Welt, wie sie in irgend einem Augenblick

zeitlich auf uns einwirkt, nicht der reine Ausdruk jener ursprünglichen Voll-

kommenheit.“404 Allerdings bedeutet das umgekehrt, daß „in dem Begriff der

ursprünglichen Vollkommenheit der Welt auch das, was in dem wirklichen Be-

wußtsein vorkommt, nicht enthalten [ist]“.405

Um zu verstehen, was Schleiermacher mit der ursprünglichen Vollkommenheit

der Welt meint, muß man sich vor allem zwei Fragen stellen: a) Was meint

Schleiermacher mit dem Ausdruck vollkommen? b) Was meint Schleiermacher

mit dem Ausdruck ursprünglich?

3.3.3. Die Bedeutung der Vollkommenheit der Welt

Schleiermachers Erklärung des Ausdrucks vollkommen zeigt, daß er unter der

Vollkommenheit einen Seinsmodus versteht, der in der metaphysischen Traditi-

on dem substantiellen Sein zugewiesen wird: „Unter Vollkommenheit wird hier

nichts anders als die Einheit und Vollständigkeit der Zusammenstimmung des

gesetzten in sich, ohne daß dasselbe irgendwie auf etwas anderes bezogen werde,

verstanden.“406

G. Scholtz weist in seiner Darstellung von Schleiermachers Rezeption der Pla-

tonischen Ideenlehre darauf hin, daß „das Sein“ für Schleiermacher „nicht die

wichtigste formale Kategorie“ ist; das Sein ist bei ihm eher „substantielles Sein

und Seinsfülle.“ 407 Schleiermachers Begriff der ursprünglich vollkommenen

Welt zeigt, daß er tatsächlich von einem Begriff des substantiellen Seins ausgeht;

die Vollkommenheit der Welt besteht darin, daß die Welt außerhalb ihrer selbst

keine Ursache für ihr Sein hat.

404 Ebd., S. 227. 405 Ebd. 406 Ebd., S. 226. 407 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 261.

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Hieraus darf man aber nicht ableiten, Schleiermachers Begriff des substantiellen

Seins wäre etwa gegenständlich gemeint. Unter dem Einfluß von Heideggers

Fundamentalontologie neigt man heutzutage nicht selten dazu, beim Begriff der

Substanz allzusehr die Begriffe Vorhandenheit und Gegenständlichkeit zu asso-

ziieren. Die Vorhandenheit und die Gegenständlichkeit sind aber Begriffe, die

nur auf ein bestimmtes Seiendes anwendbar sind, das in Relation mit anderem

Seienden steht. Für Schleiermacher steht aber, wie Scholtz zeigt, fest, daß „jedes

seiende Wesen durch seine Relationen auch in gewissem Sinne ein Nichtseiendes

wird.“408 Schleiermachers Begriff der Vollkommenheit der Welt setzt dagegen

voraus, daß die Welt für ihr Sein keine Ursache außerhalb ihres Seinsbereichs hat;

die Welt steht, wenn sie in ihrer Gesamtheit gedacht wird, nicht in einer Relation

mit dem anderen Sein. D. h.: Die wirkliche Welt ist bei Schleiermacher zwar als

ein substantielles Sein gemeint, aber nicht als ein gegenständlich Seiendes.

Der Gedankengang, dem Schleiermacher folgt, kann folgendermaßen wiederge-

geben werden: Unsere Weltvorstellung ist durch die Anschauung des Raumes

bestimmt, und die Welt ist uns als Gesamtheit der einzelnen Seienden gegeben,

die zueinander in einem räumlichen Verhältnis stehen. Da aber der Raum einen

Gegensatz von Außen und Innen voraussetzt, während die Gesamtheit der Welt

keineswegs ein Außen haben kann, muß man notwendig die wirkliche Welt als

eine solche verstehen, die mit Hilfe der Raumvorstellung des natürlichen Welt-

bewußtseins nicht adäquat dargestellt werden kann. Hierin liegt für Schleierma-

cher die philosophische Notwendigkeit, warum im Weltbewußtsein das Gottes-

bewußtsein mitgesetzt sein muß. Denn gerade Gott ist für Schleiermacher das

Sein, dem „die räumliche Ausdehnung nicht beizulegen“ ist.409 Ähnlich wie Hei-

degger die Ableitung des Seins aus dem (gegenständlich) Seienden als einen fa-

talen Irrtum des metaphysischen Denkens ablehnt, will auch Schleiermacher ei-

nen Denkfehler korrigieren, der durch die „Vermischung des göttlichen Seins mit

dem endlichen“ entsteht.410 Nach Schleiermacher besteht nun „die beste Correc-

tion“ dieses Denkfehlers darin, „das räumliche“ als die Bestimmung des Seins

408 Ebd., S. 268. 409 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 200. 410 Ebd., S. 201.

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Gottes „ganz zu läugnen, und auf die Frage wo? nur zu antworten, Gott sei in

sich selbst, welches bildlich auch durch die Aufhebung aller räumlichen Gegen-

säze […] erreicht wird.“411

Hieraus ergibt sich nun, daß die Welt, solange sie als räumlich verstanden wird,

nie die ganze Welt sein kann. Ich habe schon gezeigt, daß für Schleiermacher die

phänomenale Welt im Selbstbewußtsein mitgesetzt ist. Genauer ausgedrückt ha-

ben wir im Selbstbewußtsein folglich nicht die ganze Welt, sondern nur einen

Teil der Welt als unseren Gegenstand: „In jedem wirklichen Selbstbewußtsein ist

immer ein Theil der Welt mitgesetzt“, der unser Sein in einem „allgemeinen Na-

turzusammenhang“ erscheinen läßt.412 Zwar können wir im Denken die ganze

Welt mit einer räumlichen identifizieren, in der jedes Einzelne in einem Naturzu-

sammenhang mit dem anderen Seienden steht. Aber in der konkreten Weltvor-

stellung ist, indem sie als eine räumliche vorgestellt ist, nicht die ganze Welt ge-

setzt, sondern nur ein Teil der Welt; die räumliche Welt muß notwendig immer

ein Außen haben, während die ganze Welt nicht ein Außen haben kann. Hieraus

ergibt sich nun, daß die phänomenale Welt, zu der wir uns beim Denken und

Handeln verhalten, immer nur einen Teil der Welt repräsentiert. Nur im Gefühl

können wir einen Zugang zu der ganzen Welt haben; die vollkommene Gesamt-

heit der Welt kann nicht in unserem konkreten Weltbewußtsein anschaulich vor-

gestellt werden.

3.3.4. Die Bedeutung der Ursprünglichkeit der vollkommenen Welt

Man wird nun erklären wollen, daß sich Schleiermachers Ausdruck ursprünglich

auf die wirkliche Welt beziehe; die wirkliche Welt sei ursprünglich vollkommen,

während die phänomenale Welt, auf die sich unsere Selbstbewußtsein bezieht, nur

einen Teil der wirklichen Welt repräsentiere. Diese Erklärung ist scheinbar richtig,

da der Ausdruck ursprünglich die Welt betreffen muß, die nicht mit unserer

Weltvorstellung identisch sein kann. Diese Idee der realen Welt, die vollkommen

sein soll, kann aber einer strengen Kritik der Philosophie nicht standhalten; denn 411 Ebd., S. 202. 412 Ebd., S. 132.

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die Welt kann, verstanden als die Gesamtheit der in einer räumlichen Relation

stehenden Einzelnen, nie von dem Gegensatz zwischen dem Außen und dem In-

nen frei sein, während das ganze Sein nicht durch diesen Gegensatz charakteri-

sierbar ist. D. h.: Die Welt kann ihrer Definition nach nie das ganze Sein reprä-

sentieren, das im Gegensatz zur Welt nicht als räumliche Relation zwischen den

einzelnen Gegenständen zu verstehen ist.

Daher vermeidet Schleiermacher eine Formulierung der Art Die Welt sei ur-

sprünglich vollkommen. Statt dessen konzentriert er sich auf die Beantwortung

der Frage, woher der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt

kommt.

Die Definition, die Schleiermacher selbst für den Ausdruck ursprünglich gibt,

wirkt ziemlich befremdend: „Ursprünglich aber heißt diese Vollkommenheit,

sofern sie nicht erklärt werden soll aus dem als Stetigkeit des frommen Wohlge-

fallens ausgebildeten Selbstbewußtsein, in welchem sich jeder Welteindruk mit

dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten Wesens leicht und unmittelbar ei-

nigt, sondern schon aus der beharrlichen Richtung auf das absolute Abhängig-

keitsgefühl an sich, und der dabei nothwendig vorausgesetzten Immergegenwär-

tigkeit Gottes in uns.“413

Dieser Satz besteht aus den zwei Untersätzen: 1. Die Vollkommenheit der Welt

ist dann als ursprünglich zu bezeichnen, wenn sie nicht aus dem Selbstbewußtsein

abgeleitet wird, sofern dies ein stetes Wohlgefallen an der Welt hat. 2. Die Voll-

kommenheit der Welt ist dann als ursprünglich zu bezeichnen, wenn sie aus der

beharrlichen Richtung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl an sich abgeleitet

wird. Mit dem ersten Untersatz sind zwei Erklärungen des Selbstbewußtseins

gegeben: erstens wird das Selbstbewußtsein als Stetigkeit des frommen Wohlge-

fallens bezeichnet; zweitens ist das Selbstbewußtsein als ein Ort zu verstehen, in

dem sich jeder Welteindruck mit dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten

Wesens leicht und unmittelbar einigt. Dem zweiten Untersatz kann man die Vor-

aussetzung für die beharrliche Richtung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl

entnehmen: die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns.

413 Ebd., S. 226.

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3.4. Die Allgegenwart Gottes im menschlichen Bewußtsein als Ursache des

Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt

Für die Erklärung dessen, was Schleiermacher mit dieser komplizierten Definiti-

on von ursprünglich meint, möchte ich zuerst zwei Begriffe erläutern, die leicht

Mißverständnisse verursachen können: das einwohnende Bewußtsein des höchs-

ten Wesens und die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns.

3.4.1. Zwei Mißverständnisse des Schleiermacherschen Begriffs der Gottesge-

genwart in uns

Die erste Gefahr, die beim Verstehen dieser Begriffe auftritt, besteht darin, daß

das Gottesbewußtsein als eine innere Gegebenheit mißverstanden wird, die neben

dem sinnlichen Bewußtsein einen festen Ort im wirklichen Bewußtsein hat. Der

Ausdruck innerlich bedeutet hier aber keineswegs, daß wir in unserem Bewußt-

sein etwas (wie eine Vorstellung Gottes) als eine innere Gegebenheit haben.

Schleiermacher behauptet mit diesem Ausdruck lediglich, daß wir nie in ein äu-

ßerliches Verhältnis mit dem höchsten Wesen treten können. Ein Beispiel: Ich

erinnere mich jetzt an einen Baum, den ich gestern gesehen habe. Das setzt frei-

lich voraus, daß ich eine Vorstellung von diesem Baum in meinem Bewußtsein

als eine innere Gegebenheit habe. Das bedeutet aber keineswegs, daß ich nur in

ein inneres Verhältnis mit der Vorstellung des Baums treten kann; die Vorstel-

lung vom Baum ist zwar in meinem Bewußtsein innerlich gegeben, aber in mei-

ner Erinnerung trete ich doch in ein äußerliches Verhältnis zu der Vorstellung des

Baumes, da ich mir den Baum nur als ein solches Seiendes vorstellen kann, das

mir äußerlich gegenübersteht. Eben daher weist Schleiermacher darauf hin, daß

„das höchste Wesen auf eine äußerliche Weise weder jemals gegeben ist noch

gegeben werden kann, sondern nur innerlich.“414

414 Ebd., S. 36.

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Die zweite Gefahr besteht darin, daß man unter dem Begriff des einwohnenden

Bewußtseins des höchsten Wesens ein rein subjektives Prinzip der Erkenntnis

versteht, das der konkreten Welterfahrung schlechthin vorhergehen muß. E.

Brunner parallelisiert z. B. in Anlehnung an C. Sigwart das religiöse Gefühl

Schleiermachers mit dem „Kantischen Apriori“ bzw. dem „Fichteschen Ich“, ob-

wohl „der Unterschied zwischen dem Gefühl und einem Apriori oder auch jenem

Ich“ auch ihm klar ist.415 Es ist zwar wahr, daß „Schleiermachers Abhängig-

keitsgefühl ausdrücklich als reine Passivität bestimmt ist“, während „das Apriori

eine Synthesis schaffende Potenz“ beinhaltet.416 Aber das Abhängigkeitsgefühl

ist bei Schleiermacher als „ein immer sich selbst Gleichbleibendes und immer

Gegenwärtiges“ gedacht, das dennoch „nie isoliert, sondern immer ‚an ande-

rem‘“ ist.417 Also ist das religiöse Gefühl Schleiermachers für Brunner eben des-

wegen mit dem Kantischen Apriori vergleichbar, weil es die reine Allgemeinheit

des Bewußtseins markiert, die bei jeder Erfahrung in der gleichen Form vorkom-

men muß und als solches schlechthin als ein Apriori zu definieren ist.

Brunners Parallelisierung des religiösen Gefühls mit dem Kantischen Apriori

läßt sich m. E. auf jenes Mißverständnis zurückführen, das darin besteht, daß

Schleiermachers Begriff des im Selbstbewußtsein einwohnenden Gottesbewußt-

seins als eine innere Gegebenheit zu verstehen sei. Zwar ist das Apriori nicht wie

die Vorstellungen von Gegenständen innerlich wahrnehmbar. Es ist aber das rein

Subjektive, das nicht in der Außenwelt zu suchen ist. In keinem Moment des Le-

bens tritt das reine Apriori isoliert von der sinnlichen Erfahrung auf. Es ist aber

insofern nur innerlich gegeben, weil es zur reinen Subjektivität gehört und nir-

gends in der Außenwelt zu suchen ist; es ist insofern als eine angeborene Anlage

zu verstehen, weil es nicht je nach der Person bzw. dem konkreten Erfahrungs-

moment verschieden ist, sondern stets allgemein bleibt.

Tatsächlich kann man in der Glaubenslehre verschiedene Stellen finden, in de-

nen das religiöse Abhängigkeitsgefühl von Schleiermacher wie ein Kantisches 415 E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 68. Vgl. C. Sigwart, ‚Schleiermachers psycho-logische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität‘, in: Jahrbücher für Deutsche Theologie 2 (1857), S. 859 f. 416 E. Brunner, Die Mystik und das Wort, a.a.O., S. 68. 417 Ebd., S. 67.

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Apriori beschrieben wird. Das „ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl er-

scheint“ nach Schleiermacher „an und für sich nicht im wirklichen Bewußtsein,

sondern immer nur mit näheren Bestimmungen, also wie ein allgemeines nur

durch das besondere“.418 Ferner ist es wie das Kantische Apriori „nicht zufällig,

sondern ein wesentliches Lebensmoment, ja nicht einmal persönlich verschieden,

sondern gemeinsam in allem entwikkelten Bewußtsein dasselbige.“419

Wir müssen aber in diesem Zusammenhang berücksichtigen, daß die Welt, die

wir in der Form der konkreten Raum-Relation kennen, für Schleiermacher nur

einen Teil der Welt darstellt. Diese Einsicht führt uns zu einem Paradox unseres

Bewußtseinslebens: wir leben mit dem Bewußtsein von der Welt, in dem diese

Welt zu keinem Zeitpunkt des Lebens als Ganzes in der Form einer konkreten

Sachrelation dem Bewußtsein gegeben ist, stets ist uns nur ein Teil der Welt als

raumzeitliche Welt der Tatsachen bewußt. Nur im Glauben bzw. im Gefühl kann

uns die ganze Welt zugänglich sein, dies ist weder im Denken noch im Handeln

möglich. Unser Bewußtsein bleibt beim Denken und Handeln an der Vorhanden-

heit orientiert, die ohne ein Bewußtsein von Gegenständen in einer konkreten

Raum-Relation nicht möglich ist. Die ganze Welt erscheint also an und für sich

nicht im wirklichen Bewußtsein, da die Welt, zu der wir uns in unserem wirkli-

chen Leben verhalten, nur als eine räumliche möglich ist. Bedeutet dies, daß wir

kein Bewußtsein der ganzen Welt haben? Hierauf würde Schleiermacher erwi-

dern, daß ein Bewußtsein von einem Teil, das nicht vom Bewußtsein vom ganzen

Sein begleitet würde, unmöglich ist. Zwar haben wir nur einen Teil der Welt im

Selbstbewußtsein als unseren Bezugspunkt, aber gerade dieses Mitgesetztsein

eines Teils der Welt im Selbstbewußtsein ist für Schleiermacher ein Beweis dafür,

daß unser Selbstbewußtsein stets von dem Glauben an die ursprüngliche Voll-

kommenheit der Welt begleitet werden muß.

Kommen wir nun zurück auf dieThese, im Selbstbewußtsein einige sich jeder

Welteindruck mit dem einwohnenden Bewußtsein des höchsten Wesens. Das

höchste Wesen wird hier explizit als im Bewußtsein einwohnend bezeichnet. Was

418 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 123. 419 Ebd., S. 124.

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bedeutet dieses Wort einwohnend? Heißt es, daß das höchste Wesen im Bewußt-

sein als etwas gegeben ist, was von den anderen Vorstellungen abgrenzbar ist?

Wir haben eben gesehen, daß jedes Weltbewußtsein, in dem die Welt als eine

Raum-Relation gegeben ist, eigentlich nur einen Teil der Welt repräsentiert und

daher notwendig von einem Glauben an die Vollkommenheit der Welt begleitet

werden muß. Nun ist die Welt aber bei Schleiermacher als „die geteilte Ein-

heit“ definiert, als „die Gesamtheit aller Gegensätze und Differenzen“, die im

konkreten Sinn nur als eine Raum-Relation zwischen den Einzelnen möglich ist.

Da aber eine Raum-Relation immer einen Gegensatz zwischen dem Außen und

dem Innen voraussetzt, kann die Welt kein adäquater Name für das ganze Sein

sein, von dessen Bewußtsein jedes Bewußtsein von dem Teil begleitet werden

muß. Das ganze Sein muß als die ungeteilte absolute Einheit aufgefaßt werden,

die Schleiermacher Gott nennt. Auf diese Weise wohnt das höchste Wesen in

unserem Selbstbewußtsein ein. Das Abhängigkeitsgefühl von diesem höchsten

Wesen ist ein Ermöglichungsgrund für jedes Bewußtsein von Differenzen über-

haupt, der daher in jedem Augenblick des Lebens stets allgemein und gleich blei-

ben muß: „Daß aber das Abhängigkeitsgefühl an sich in Allen dasselbe ist, zuge-

geben die größere oder geringere Unvollkommenheit nach dem Maaß der Ent-

wicklung, dies ist darin gegründet, daß es an sich nicht auf bestimmten Differen-

zen des Selbstbewußtseins beruht, sondern auf der Möglichkeit aller dieser Diffe-

renzen, d. h. auf dem Bewußtsein, welches schlechthin das gemeinsamste ist und

weit hinausgeht über das, wodurch die einzelne Persönlichkeit bestimmt wird.“420

3.4.2. Die Allmacht Gottes als Inbegriff der Einwirkung des Seins auf den Men-

schen

Was bedeutet es nun, daß die Vollkommenheit der Welt nicht aus dem Selbstbe-

wußtsein erklärt werden soll, in dem sich jeder Welteindruck mit dem einwoh-

nenden Bewußtsein des höchsten Wesens unmittelbar einigt? Schleiermacher

behauptet, daß die Vollkommenheit der Welt schon aus der „beharrlichen Rich-

420 Ebd., S. 125.

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tung auf das absolute Abhängigkeitsgefühl an sich“421 erklärt werden soll. Was

bedeutet es, daß unser Bewußtsein eine beharrliche Richtung auf das absolute

Abhängigkeitsgefühl an sich hat? Was bedeutet es, daß diese beharrliche Rich-

tung die Immergegenwärtigkeit Gottes in uns voraussetzt?

Schleiermacher argumentiert hier m. E. wie folgt: Die ursprüngliche Vollkom-

menheit der Welt soll nicht aus dem Selbstbewußtsein erklärt werden, in dem ein

Teil der Welt mit dem Bewußtsein der absolut innerlichen Einheit des höchsten

Wesens notwendig verbunden ist. Denn ein Weltbewußtsein, das die Welt nur als

räumliche Beziehung einzelner Elemente repräsentiert, ist nur ein nachträgliches

Phänomen, dem die Einwirkung des Seins auf uns vorhergehen muß. Die Einwir-

kung des Seins auf uns kann nicht wie eine Wechselwirkung zwischen den ein-

zelnen innerweltlichen Dingen verstanden werden, da die Wechselwirkung eine

Raum-Relation zwischen den Gegenständen voraussetzt, die, wie schon gezeigt,

nur in der phänomenalen Welt gegeben ist. Hieraus folgt, daß die Einwirkung des

Seins auf uns, da sie jedem konkreten Weltbewußtsein vorausgeht, nicht als Ein-

wirkung von einem einzelnen gegenständlichen Seienden wahrgenommen werden

kann; „die ganze Allmacht ist ungetheilt und unverkürzt die thuende und bewir-

kende.“422 Hierin liegt der Grund dafür, daß das absolute Abhängigkeitsgefühl

stets in uns gegeben sein muß: es ist der Ermöglichungsgrund für jedes konkrete

Weltbewußtsein, in dem die Einzelnen als seiend in einem Wechselzusammen-

hang gesetzt werden. Nun kann man die ursprüngliche Einwirkung des Seins

selbst für Schleiermacher am angemessensten mit dem Begriff der Allmacht Got-

tes bezeichnen. Sie ist nicht von der in sich geteilten Welt her zu verstehen, son-

dern von der ungeteilten absoluten Einheit des Seins selbst, die allein den Glau-

ben an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ermöglichen kann. Hierin

liegt der Grund, warum der Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der

Welt direkt aus dem Gefühl des einwirkenden Seins selbst, des allmächtigen Got-

tes, erklärt werden soll: „Es ist aber auch dieser Glaube an die ursprüngliche

421 Ebd., S. 226. Siehe oben 3.3.4. 422 Ebd., S. 206.

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Vollkommenheit der Welt nur die andere Seite zu dem Glauben an die ewig all-

gegenwärtige und lebendige Allmacht.“423

3.4.3. Das religiöse Gefühl und das Kantische Apriori

Betrachten wir noch einmal die Behauptung von Brunner, daß die Gottesgegen-

wart im Bewußtsein bei Schleiermacher mit dem Kantischen Apriori vergleichbar

sei. Es ist einerseits wahr, daß Schleiermacher tatsächlich von der Allgegenwart

Gottes in uns ausgeht, die unabhängig von den verschiedenen Erfahrungen stets

allgemein bleiben muß. Die Allgegenwart Gottes wird aber bei Schleiermacher

als die ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns verstanden,

von der jede konkrete Welt- und Naturerfahrung abhängig sein muß. Mit dem

„Begriff der göttlichen Allmacht“ meint Schleiermacher, „daß der gesamte Na-

turzusammenhang in allen Räumen und Zeiten in der göttlichen als ewig und all-

gegenwärtig aller natürlichen entgegengesetzten Ursächlichkeit gegründet“ ist.424

Warum wir zu dem Glauben kommen müssen, daß die göttliche Kausalität dem

gesamten Naturzusammenhang zugrunde liegen muß, erklärt Schleiermacher da-

mit, daß im Selbstbewußtsein „das Abhängigkeitsgefühl an sich mit jedem sinnli-

chen Bewußtsein sich einigen kann“: „Da nun in jedem sinnlichen Selbstbewußt-

sein ein Naturzusammenhang gesetzt ist und umgekehrt: so muß auch die göttli-

che Causalität überall sein wo die natürliche ist.“425 Schleiermacher folgt hier der

gleichen Argumentation, die er für die Erklärung des absoluten Abhängigkeitsge-

fühls anwendet. Alles, was im Selbstbewußtsein als eine konkrete Sachrelation

zwischen den Einzelnen gesetzt ist, kann nicht die ursprüngliche Bezugsform

zwischen mir und dem Sein selbst repräsentieren. Jede Einwirkung auf uns, die

als Einwirkung von einem einzelnen Seienden aufgefaßt werden kann, kann keine

ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns sein, da alles, was

den Gegensatz von Außen und Innen voraussetzt, nur ein nachträgliches Phäno-

men ist. „Der Naturzusammenhang nämlich, der sich uns überall als zeitlich dar-

423 Ebd., S. 227. 424 Ebd., S. 204. 425 Ebd., S. 193.

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stellt, ist auch eben so ein räumlich bedingter“,426 und hierin liegt der Grund da-

für, warum die ursprüngliche Form der Einwirkung des Seins selbst auf uns nicht

als eine solche verstanden werden kann, der man unsere eigenen Gegenwirkung

entgegensetzen könnte. Da „Zeit und Raum überall die Aeußerlichkeit bezeich-

nen“,427 kann die Idee des Naturzusammenhangs nicht das ganze Sein repräsen-

tieren. Hieraus folgt, daß jeder Versuch, die Beziehung zwischen mir und dem

Sein nach dem Modell des Naturzusammenhanges als eine gegenseitig bedingen-

de darzustellen, nicht der strengen Kritik der Philosophie standhalten kann. Gera-

de wie die wahre Unendlichkeit uns nicht äußerlich gegeben sein kann, muß die

Einwirkung des Seins selbst auf uns ursprünglich durch „die absolute Innerlich-

keit“428 charakterisiert werden, die für Schleiermacher die Seinsweise Gottes be-

deutet.

Aus zwei Gründen ist diese Immergegenwärtigkeit Gottes in uns nicht mit dem

Kantischen Apriori vergleichbar. Erstens ist das Kantische Apriori dadurch cha-

rakterisiert, daß die Trennung von dem erkennenden Subjekt und dem Ding an

sich von Anfang an vorausgesetzt ist. Dagegen geht der Begriff der Immerge-

genwärtigkeit Gottes in uns nicht von der abstrakten Trennung von dem erken-

nenden Subjektsein und dem zu erkennenden Objektsein aus, sondern von der

ursprünglichen Einheit von meinem Selbst und dem Sein, in der ich nicht in ei-

nem äußerlichen Verhältnis mit dem Sein stehe, sondern in einem innerlichen.

Zweitens ist das Kantische Apriori als ein Prinzip der vernünftigen Selbstbe-

stimmung des Menschen gedacht, in dem das Wesen des Menschen als die von

äußeren Einflüssen autonome Freiheit begründet werden soll; dagegen betont

Schleiermacher „die Möglichkeit“ „in der menschlichen Natur“, „das Göttliche

[…] in sich aufzunehmen.“429 Die Kantische Idee der selbstbestimmenden Auto-

nomie des vernünftigen Menschen setzt eine zweifache Spaltung des menschli-

chen Seins voraus: einerseits muß der Mensch in seinem Bewußtsein der Freiheit

sich selbst als ein eigenständiges Sein vom ganzen Sein abheben, andererseits

426 Ebd., S. 194. 427 Ebd. 428 Ebd. 429 Ebd., S. 79.

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muß er ebenso sein vernünftiges Wesen von seinem Naturwesen trennen.430 Zwar

hat der Mensch auch für Schleiermacher die Möglichkeit, sich selbst als ein ei-

genständiges Sein von dem ganzen Sein abzuheben. Wie wir gesehen haben,

gründet sich hierauf das relative Abhängigkeitsgefühl von der Welt, in dem die

Möglichkeit des Menschen, sich selbst als das auf die gesamte Welt einwirkende

Sein zu fühlen, mitgesetzt ist. In unserem absoluten Abhängigkeitsgefühl erfahren

wir uns aber als einen Teil des ganzen Seins, in der ursprünglichen Einheit unse-

res Seins mit dem ganzen Sein, auf der allein jene Idee der Immergegenwärtigkeit

Gottes in uns gegründet ist.

Nach G. Scholtz „schien für die Philosophen nach Kant dessen praktische Philo-

sophie […] einen permanenten doppelten Konflikt zu simulieren: den Konflikt

zwischen den Interessensphären der Individuen und der Gesellschaft, und den

Konflikt zwischen moralischer Vernunft und sinnlicher Natur in den einzelnen

430 Vgl. „Die Kantische Freiheit der Selbstbestimmung verlangte nach Vollendung: ihr Bestreben mußte darauf gerichtet sein, die Grenzen, in denen sie festgesetzt war, zu überwinden und zu einer allumfassenden Bestimmung zu werden. […] Radikale Freiheit schien nur auf Kosten einer Di-remtion mit der Natur möglich zu sein, einer Spaltung innerhalb meiner selbst zwischen Vernunft und Gefühl; und diese Spaltung war radikaler als irgend etwas, das die materialistische, utilitaris-tische Aufklärung sich hatte träumen lassen: Sie bedeutete Trennung von der äußeren Natur, von deren Kausalgesetzen das freie Selbst radikal unabhängig sein mußte, auch wenn rein phänome-nologisch sein Verhalten mit der Natur konform zu sein schien. Das radikal freie Subjekt war durch seinen Gegensatz zur Natur und zur äußeren Autorität auf sich selbst, d. h., wie es schien, auf sein individuelles Selbst zurückgeworfen, und es hatte dadurch eine Entscheidung herbeige-führt, an der kein anderer beteiligt sein konnte.“ (C. Taylor, Hegel, Frankfurt a. M. 1983, S. 54 f.) In seiner Kritik an der kantischen Ethik, die von der „Selbstbestimmung [des Menschen] durch den moralischen Willen der Freiheit“ ausgeht, weist C. Taylor darauf hin, daß Kant die Antinomie von dem Menschen als einem freien Wesen einerseits und als Naturwesen andererseits eigentlich nie wirklich gelöst habe: „Freiheit wird im Gegensatz zur Neigung bestimmt, und es ist offenkun-dig, daß Kant das moralische Leben als einen fortwährenden Kampf ansieht. Denn der Mensch als Naturwesen muß von der Natur abhängig sein und muß demzufolge Wünsche und Neigungen haben, von denen gerade ihrer Naturabhängigkeit wegen nicht erwartet werden kann, daß sie sich mit den Forderungen der Moralität zusammenbringen lassen, die ihren gänzlich anderen Ursprung in der reinen Vernunft haben. Noch gravierender aber ist, daß man das unbehagliche Gefühl hat, daß ein schließlich zustande gebrachter Frieden zwischen Vernunft und Neigung eher ein Verlust als ein Gewinn sein würde; denn was würde aus der Freiheit werden, wenn es diesen Gegensatz zwischen Vernunft und Neigung nicht mehr gäbe? Kant hat dieses Problem nie wirklich gelöst […].“ (Ebd., S. 53) Nach Taylor kann man die Philosophie von Schleiermacher und Schelling als einen Versuch bezeichnen, diese starke Gegenüberstellung von dem Menschen als einem freien Wesen und als Naturwesen bei Kant durch die Verbindung der Kantischen Transzendentalphilo-sophie mit dem Spinozistischen Paradigma der Einheit von Subjekt und Universum zu überwin-den: „Andere, wie Schleiermacher und Schelling, forderten eine Verbindung von Kant und Spino-za, wobei Spinoza, wie oben erwähnt, in Lebenskategorien transponiert und auf diese Weise zu einem Paradigma jener Einheit von Subjekt und All wurde, welche die Ausdruckstheorie forder-te.“ (Ebd.)

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Menschen.“431 Die Möglichkeit, beide Konflikte zu lösen, scheint bei der Kanti-

schen Philosophie nicht gegeben zu sein; „die nachkantische Philosophie entdeckt

nun einen unseligen Zwiespalt zwischen den Normen und der Wirklichkeit; und

diese Trennung erscheint als prinzipielle Schwäche des Kantischen Standpunk-

tes.“432

Schleiermacher zeigt m. E. mit seinem Begriff der Gottesgegenwart in unserem

Sein eine Möglichkeit auf, beide Konflikte zu lösen. „Die Frömmigkeit bildet

sich“ nach Schleiermacher „zur Gemeinschaft durch die erregende Kraft der

Aeußerungen des Selbstbewußtseins“; die „Gemeinschaft der Frömmigkeit ist

überall, wo es anerkannte Gleichheit der frommen Erregungen giebt und eine

Leichtigkeit sie gegenseitig einer in dem andern hervorzubringen.“433 Zwar gibt

es im Selbstbewußtsein einen Konflikt zwischen dem Individuellen und dem All-

gemeinen, weil zwischen dem am Gegensatz orientierten Weltbewußtsein, das je

nach dem Individuum verschieden sein muß, und dem Gottesbewußtsein ein prin-

zipieller Unterschied besteht. Die Allgemeinheit der frommen Glaubenserfahrung

aber ermöglicht es, daß sich die Menschen trotz ihrer individuellen Verschieden-

heit doch als Teil einer frommen Gemeinschaft betrachten können. Indem sie ihre

individuellen Erfahrungen und Gedanken äußern, bringen die einzelnen Subjekte

nicht nur ihre Differenzen zum Ausdruck, sondern auch die Allgemeinheit des

frommen Abhängigkeitsgefühls, das „weder aufhört noch sich vermindert, wenn

wir unser Selbstbewußtsein zu dem der ganzen Welt zu erweitern suchen“; denn

es sind „alle Abstufungen des Seins, durch welche dasselbe in dieser Erweiterung

durch geht, in das Gefühl selbst mit eingeschlossen“, während das Abhängig-

keitsgefühl „überall sich selbst gleich ist.“434

431 G. Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt a. M. 1991, S. 61. 432 Ebd. 433 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 40. 434 Ebd., S. 226.

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3.4.4. Das Natürliche und das Sittliche im Leben

Der auffällige Unterschied, der zwischen Schleiermachers Begriff der Immerge-

genwärtigkeit Gottes in uns und dem Kantischen Apriori besteht, wird besonders

in Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Sittli-

chen erkennbar.

In der Glaubenslehre wird das Natürliche als „das leidentliche Bewegtsein des

Menschen“ definiert; der Mensch zeigt sich hier als abhängig „von den Einwir-

kungen alles dessen, womit er in Wechselwirkung steht“, und sein Selbstbewußt-

sein wird hier als „das ohne Bezug auf den Willen bewegte Selbstbewußt-

sein“ verstanden.435 Das Sittliche ist dagegen „das bewegte Selbstbewußtsein des

Menschen als einer eigenthümlichen, dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung

selbstthätig gegenübertretenden, geistigen Kraft, oder das in Bezug auf die Ge-

samtaufgabe der menschlichen Thätigkeit bewegte Selbstbewußtsein.“436

Das Sittliche steht im Gegensatz zum Natürlichen. Aber dieser Gegensatz darf

nicht nach dem Kantischen Muster als Gegensatz von dem freien Wesen und dem

Naturwesen des Menschen verstanden werden. Schleiermacher hält daran fest,

daß „das ganze Leben ein Ineinandersein und Auseinandersein von Thun und

Leiden ist“. Es gibt kein freies Subjekt, wenn man darunter die reine Selbstbe-

stimmung des Menschen versteht: gerade wie das allgemeine Merkmal des Le-

bens in jener Einheit von Tun und Leiden besteht, „so ist sich auch der Mensch

seiner selbst bewußt bald mehr als leidend bald mehr als thätig“, und die Idee des

von dem Leiden unabhängig seienden freien Wesen des Menschen ist für Schlei-

ermacher nur eine fiktive Abstraktion.437

Worin liegt nun nach Schleiermacher die Möglichkeit des Menschen, sich von

dem passiven Erleiden der Einflüsse der Natur abzuheben und sich zu einer sittli-

chen, dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung selbsttätig gegenübertretenden

geistigen Kraft zu erheben? Dies wird für ihn dadurch möglich, daß sich das

Selbstbewußtsein des Menschen auf die ontologische Differenz zwischen dem

Seienden, das im natürlichen Weltbewußtsein als eine Existenzform des Einzel- 435 Ebd., S. 54. 436 Ebd. 437 Ebd., S. 55.

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nen vorkommt, und dem Sein selbst, das uns nur durch das fromme Abhängig-

keitsgefühl vermittelt werden kann, bezieht: es gibt „die eine Form des Selbstbe-

wußtseins“, die „sich leichter zur frommen Erregung steigert, wogegen die andere

mehr auf der sinnlichen Stuffe zurükbleibt, und dort es sich umgekehrt ver-

hält.“438

Man darf freilich nicht annehmen, daß sich der Mensch in seinem natürlichen

Weltbewußtsein als ein rein passives Objekt verstehen soll. Wie wir bei der Un-

terscheidung des relativen Abhängigkeitsgefühls von dem absoluten gesehen ha-

ben, können wir uns nach Schleiermacher gerade in unserem Weltbewußtsein als

ein solches Wesen betrachten, das der Einwirkung der ganzen Welt entgegentre-

ten kann. Gerade hierin besteht das Wesen des Freiheitsbewußtseins.

Diesem Freiheitsbewußtsein liegt aber die Möglichkeit jedes wirklichen Selbst-

bewußtseins zugrunde, daß „alle leidentlichen Zustände, seien sie nun veranlaßt

durch die äußere Natur oder durch die geselligen Verhältnisse, und angenehm

oder unangenehm, nur das Abhängigkeitsgefühl von Gott auf eine bestimmte

Weise erregen“.439 Hieraus kann man nun erkennen, daß sich die Einheit von Tun

und Leiden für Schleiermacher nicht nur auf die Abhängigkeit von der Welt be-

zieht, sondern auch auf die Abhängigkeit von dem unendlichen Sein, das nicht

mit der Gesamtheit der einzelnen Seienden in Raum und Zeit identifiziert werden

kann. Der Grund dafür, warum die Seinsweise des Menschen notwendig in der

Einheit von Tun und Leiden gesucht werden muß, besteht darin, daß das passive

Moment des Leidens zugleich eine Handlung motiviert: In jedem passiven Mo-

ment des Leidens „[werden] wir uns bewußt, daß etwas und was zu thun sei“, und

daher sind „die leidentlichen Zustände nur [als] Veranlassung zum Bewußtsein

bestimmter Thätigkeit“ zu bezeichnen.440 Heißt dies aber dann nicht, daß unser

aktives Bewußtsein durch die Einwirkungen des einzelnen Seienden verursacht

ist? Ist das tätige Wesen des Menschen bei Schleiermacher somit bloß als eine

Form der Reaktion gegen äußere Einwirkungen gedacht? Schleiermacher folgt

hier auch jenem Gedankengang, mit dem er die doppelte Interpretationsmöglich-

438 Ebd. 439 Ebd., S. 56. 440 Ebd.

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keit des Abhängigkeitsgefühls erläutert: das Selbstbewußtsein ist einerseits als

Bewußtsein unseres Seins in der Welt zu verstehen, in dem die Möglichkeit des

Freiheitsbewußtseins begründet ist, zugleich aber als ein Bewußtsein unseres

Seins als eines Teils des ganzen Seins, in dem wir uns in der Einheit mit dem

ganzen Sein wiederfinden. Natürlich können wir unsere Handlung als einen Aus-

druck davon betrachten, daß wir in einem gegensätzlichen (widerstreitenden)

Verhältnis mit dem anderen Seienden stehen. Neben diesem natürlichen Weltbe-

wußtsein verfügen wir aber auch über das fromme Abhängigkeitsgefühl, in dem

„jeder bestimmte thätige Zustand […] als das Ergebniß der von Gott geordneten

Einwirkungen aller Dinge auf den Menschen gesetzt“ ist.441 Der Mensch befindet

sich also einerseits in der widerstreitenden Vielheit der einzelnen Dinge der Welt,

andererseits aber auch in der Einheit mit dem ganzen Sein, und hierin liegt der

Grund, warum jede fromme Richtung des Abhängigkeitsgefühls je nach der Per-

son verschieden ausfallen muß: „Diese Betrachtungsweise aber, alles Einzelne

anzusehen als bestimmt durch das Ganze, und jedes danach zu schätzen, wie es

durch dieses Bestimmtsein entweder als Einheit gefördert ist, oder in streitende

Vielheit zerfällt, ist die ästhetische Ansicht als Grundform aller frommen Erre-

gungen, in welcher sich also die andere Richtung auf das bestimmteste vollendet.

In beiden ist natürlich jedes fromme Mitgefühl grade so anzusehen wie das per-

sönliche, weil jedes nur eine Erweiterung des Selbstbewußtseins ist, so wie dieses

eine Zusammenziehung.“442

Dem Moment des Überganges vom Leiden zum Tun liegt das fromme Gefühl

der Abhängigkeit von dem ganzen Sein zugrunde, das, wie bereits gezeigt, nicht

schlechthin mit der Gesamtheit des Einzelnen zu identifizieren ist. In diesem

frommen Selbstbewußtsein finden wir uns weder als ein freies Subjekt noch als

ein passives Objekt vor, bei dem die Trennung unseres Seins von dem ganzen

Sein schon vorausgesetzt ist. Gerade das sittliche, d. h. das bewegte Selbstbe-

wußtsein des Menschen als einer dem ganzen Gebiet der Wechselwirkung selbst-

tätig gegenübertretenden geistigen Kraft ist nun für Schleiermacher auf das

441 Ebd. 442 Ebd.

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fromme Selbstbewußtsein zurückzuführen, wobei das Selbst nicht als ein vom äu-

ßeren Sein gesondertes Sein zu verstehen ist, sondern eher als ein Ort, auf dem

sich die Macht und Wirkung des göttlichen Seins auf eine bestimmte Weise ver-

wirklicht. „In jeder erhebenden frommen Erregung ist sich also alsdann der

Mensch seiner selbst als die sittlichen Zwekke Gottes bewußt“;443 und das Sittli-

che läßt sich somit nicht primär auf das Freiheitsbewußtsein des selbstbestim-

menden Subjekts zurückführen, sondern auf das fromme Selbstbewußtsein, in

dem wir uns in einer Einheit mit dem ganzen Sein befinden.

Die Immergegenwart Gottes in uns ist also für Schleiermacher gar nicht im

Rahmen des Gegensatzes von Subjekt und Objekt zu verstehen. Gerade da „in den

frommen Erregungen Gott nur auf eine innerliche Weise als die hervorbringende

Kraft selbst gegeben ist“444, ist das Sittliche für Schleiermacher nicht einfach aus

einem Freiheitsbewußtsein ableitbar, das die Trennung von Subjektsein und Ob-

jektsein voraussetzt. Das Sittliche wird eher dadurch ermöglicht, daß wir uns von

dem an der Vorhandenheit orientierten Seinsverständnis unseres natürlichen

Weltbewußtseins, in dem sich alles in einem Wirkungszusammenhang zwischen

den Einzelnen zeigt, kritisch distanzieren. Im sittlichen Wesen betrachten wir uns

nicht als ein handelndes Subjekt, das stets von dem Gegensatz von Selbst und

Nichtselbst ausgeht. Das Sittliche verweist eher auf unsere Seinsweise, „als gött-

liche Werkzeuge und Herolde“ zu leben.445

443 Ebd. 444 Ebd., S. 33. 445 Ebd. Hervorhebung von S.-Y. Han.

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4. Die philosophische Kontinuität zwischen den Jugendschriften Schleierma-

chers und seiner Glaubenslehre

Es wurde schon im ersten Kapitel (besonders in §1.2.2.) erwähnt, daß viele

Schleiermacher-Forscher – darunter W. Dilthey, E. Brunner und E. Huber –

Schleiermachers Glaubenslehre vor dem Hintergrund einer problematischen The-

se interpretieren: nach ihnen wird die Religion in der Glaubenslehre auf das rein

Subjektive reduziert, da die Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein

identifiziert wird. Brunners Behauptung, Schleiermachers Begriff der Gottesge-

genwart in uns sei mit dem Kantischen Apriori analogisierbar, zeigt am deutlichs-

ten, worauf diese Annahme beruht: Schleiermachers Begriff des Selbstbewußt-

seins wird im Rahmen der neuzeitlichen Subjektphilosophie verstanden, in der

die subjektive Welt zu einem eigenständigen Seinsgebiet erhoben wird.

G. Scholtz vergleicht Schleiermachers Begriff des Gefühls mit Diltheys Begriff

des Innewerdens.446 Dabei zeigt er klar und deutlich, daß das Innewerden für Dil-

they „kein ‚Innewerden Gottes‘“ bedeutet, sondern nur „die Selbsterfahrung der

Subjektivität“. 447 Gerade wie „im 19. Jahrhundert Schleiermacher vorgehal-

ten“ wurde, „im unmittelbaren Selbstbewußtsein, im Gefühl, sei nicht das Abso-

lute, sondern nur die Subjektivität sich selbst gegeben (Michelet, Schaller, Sig-

wart)“, geht auch Dilthey davon aus, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein, „das

Innewerden“, „einen unverkürzten neuen Wirklichkeitsbereich [erschließt].“448

Nach Dilthey, Brunner und Huber versuche Schleiermacher erst in der Glaubens-

lehre, die Religion auf das unmittelbare Selbstbewußtsein zurückzuführen.

Schleiermacher habe nach ihnen die Religion in der ersten Auflage der Reden

zunächst als eine Einheit von Gefühl und Anschauung definiert. Aber der Begriff

der Anschauung werde in den weiteren Auflagen der Reden zunehmend vermie-

den, da Schleiermacher den Unterschied zwischen seinem Begriff der Religion

446 Siehe oben in §2.1. 447 G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 241. 448 Ebd.

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und dem Schellingschen Begriff der unmittelbaren Anschauung deutlich machen

wolle. Die Folge ist nun nach ihnen eine zunehmende Subjektivierung der Religi-

on, da Schleiermacher ursprünglich gerade dem Begriff der Anschauung die

Funktion zugewiesen habe, der Religion objektive Aspekte zu verleihen. In der

Glaubenslehre ende dann dieser Prozeß der Subjektivierung der Religion damit,

daß die Religion mit dem unmittelbaren Selbstbewußtsein identifiziert und da-

durch auf das rein Subjektive reduziert werde.449

Schleiermachers Jugendschriften über den Spinozismus, in denen er durch die

Auseinandersetzung mit Jacobi und Kant seinen eigentümlichen Begriff des

Selbstbewußtseins entwickelt, liefern aber einen klaren Beleg dafür, daß diese

Behauptung von Dilthey, Brunner und Huber unhaltbar ist. Aus zwei Gründen

kann man m. E. davon ausgehen, daß zwischen dem Gedanken der Jugendschrif-

ten Schleiermachers über den Spinozismus und den Thesen der Glaubenslehre

eine große Kontinuität besteht: Erstens zeigen Schleiermachers Jugendschriften,

daß der junge Schleiermacher den Kantischen Versuch, das Selbstbewußtsein auf

die Selbstbestimmung des vernünftigen Subjekts zurückzuführen, ablehnt. Gerade

wie in der Glaubenslehre wird das Selbstbewußtsein in Schleiermachers Jugend-

schriften über den Spinozismus als eine Einheit von Tun und Leiden verstanden,

d. h. als ein Bewußtsein von unserem Sein als einem leidensbestimmten Zustand,

der zugleich ein bestimmtes Handeln veranlassen soll. Zweitens zeigen Schleier-

machers Jugendschriften, daß der junge Schleiermacher von demselben Seinsbeg-

riff ausgeht, der auch in der Glaubenslehre weiter geltend bleibt. Genauso wie in

der Glaubenslehre das Sein selbst in einem unüberwindbaren Unterschied zur

Gesamtheit des einzelnen Seienden in Raum und Zeit vorgestellt wird, spricht

auch der junge Schleiermacher von dem Sein selbst, dem kein raum-zeitlicher

Gegensatz beigesetzt werden könne. Wie in der Glaubenslehre die absolute Ab-

hängigkeit als eine Bezugsform zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Sein

selbst dargelegt ist, so spricht auch der junge Schleiermacher von dem Seinsge-

fühl, das das einzige wahre im Bewußtsein sei und als solches ursprünglicher als

das Weltbewußtsein sein soll.

449 Sieh oben in §1.2.2.

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4.1. Die Auseinandersetzung des jungen Schleiermachers mit Kant

Schleiermachers Verhältnis zu Kant ist ambivalent. Wenn er Jacobi vorwirft, daß

dieser bei seiner Erläuterung der Identität des Selbstbewußtseins die reelle Identi-

tät der Substanz mitverstehe,450 nimmt er gegenüber der Kantischen Transzen-

dentalphilosophie eine zustimmende Position ein. Schleiermacher nimmt „die

Kantische Lehre; nemlich die Einheit des Selbstbewußtseyns“ und erklärt: dieses

Selbstbewußtsein „bezieht sich immer nur auf das Phänomenon“451 zum Aus-

gangspunkt seiner eigenen Analyse des Selbstbewußtseins. Schleiermacher wirft

aber Kant zugleich vor, daß dessen Begriff des „vernünftige[n] Subjekt[s]“ in der

moralischen Handlung, nemlich „durch Vernunft sich selbst zu bestimmen“, 452

im unaufhebbaren Widerspruch mit jener Kantischen Lehre von dem phänomena-

len Wesen des Selbstbewußtseins stehe.

4.1.1. Kants Kritik an dem Paralogismus der Seelenlehre der rationalen Psycho-

logie

Diese von Schleiermacher als Kantisch bezeichnete Lehre beruht auf Schleierma-

chers eigener Interpretation der Kantischen Theorie des Selbstbewußtseins, die

besonders in B 309-413 (bzw. B131-136) der Kritik der reinen Vernunft entwi-

ckelt wird. Dabei besteht der zentrale Punkt darin, daß die Identität des Selbstbe-

wußtseins nicht aus dem Substanzbegriff abgeleitet werden kann. Es ist ohne

Zweifel richtig, daß das menschliche Bewußtseinsleben die Identität des Selbst-

bewußtseins voraussetzen muß, da sie eine Ermöglichungsbedingung für die ap-

perzeptive Einheit der Vorstellungen und die Personalität ist. Die Identität des

Selbstbewußtseins kann aber nicht auf irgendeine Substanz wie z. B. die ‚See-

le‘ zurückgeführt werden.

450 Vgl. F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 543. 451 Ebd., S. 542. 452 Ebd., S. 543.

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Kant kämpft hier gegen einen „Paralogism“, der „in dem Verfahren der rationa-

len Psychologie“ herrsche: „Was nicht anders als Subject gedacht werden kann,

existirt auch nicht anders als Subject und ist also Substanz. Nun kann ein denken-

des Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subject gedacht wer-

den. Also existirt es auch nur als solches, d. i., als Substanz.“ (B 410-411) Dieser

logische Schluß ist für Kant ein „Trugschluß“: Das Wort Substanz im Obersatz

betreffe ein „Wesen“, „das überhaupt, in jeder Absicht, folglich auch so, wie es in

der Anschauung gegeben werden mag, gedacht werden kann“; dagegen bezeichne

das Wort Substanz im Untersatz ein anderes Wesen, „das als Subject nur relativ

auf das Denken und die Einheit des Bewußtseins, nicht aber zugleich in Bezie-

hung auf die Anschauung, wodurch es als Object zum Denken gegeben wird,

betrachtet [wird].“ (B 411)

Diese Erklärung ist unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, was Kant

hier unter dem Begriff der Substanz versteht: Das, was als Substanz bezeichnet

werden soll, muß für Kant zugleich als ein Objekt gedacht werden können. Kant

unterscheidet die Substanz von dem Noumenon. Nach Kant besteht „die allge-

meine Anmerkung zur systematischen Vorstellung der Grundsätze […] von den

Noumenen“ darin, „daß der Begriff eines Dinges, was für sich selbst als Subject,

nicht aber als bloßes Prädicat existiren kann, noch gar keine objective Realität bei

sich führe, d. i. daß man nicht wissen könne, ob ihm überall ein Gegenstand zu-

kommen könne, indem man die Möglichkeit einer solchen Art zu existiren nicht

einsieht, folglich daß er schlechterdings keine Erkenntniß abgebe.“ (B 412) Im

Gegensatz zu dem Noumenon, das keine objektive Realität bei sich führt, muß

die Substanz als ein Objekt gedacht werden können: „Soll er [der Begriff eines

Dinges] also unter der Benennung einer Substanz ein Object, das gegeben werden

kann, anzeigen; soll er eine Erkenntniß werden: so muß eine beharrliche An-

schauung, als die unentbehrliche Bedingung der objectiven Realität eines Begriffs,

nämlich das, wodurch allein der Gegenstand gegeben wird, zum Grunde gelegt

werden.“ (B 412) Hierin liegt nun der Grund dafür, warum das Wort Substanz im

Obersatz jenes Paralogismus ein Wesen betreffen muß, das überhaupt, in jeder

Hinsicht, folglich auch so, wie es in der Anschauung gegeben werden mag, ge-

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dacht werden kann: Wenn irgendetwas als eine Substanz zu bezeichnen ist, muß

es zugleich als ein Objekt gedacht werden können, d. h. wie ein solches Ding, das

in der Anschauung als ein Gegenstand gegeben ist.

Kants Erklärung dafür, warum sich die Einheit des Selbstbewußtseins nicht auf

die Substanz beziehen kann, macht nun noch deutlicher, daß der Begriff der Sub-

stanz für Kant nicht von dem Begriff der Gegenständlichkeit frei ist: „Nun haben

wir aber in der inneren Anschauung gar nichts Beharrliches, denn das Ich ist nur

das Bewußtsein meines Denkens; also fehlt es uns auch, wenn wir bloß beim

Denken stehen bleiben, an der nothwendigen Bedingung, den Begriff der Sub-

stanz, d. i. eines für sich bestehenden Subjects, auf sich selbst als denkend Wesen

anzuwenden; und die damit verbundene Einfachheit der Substanz fällt mit der

objectiven Realität dieses Begriffs gänzlich weg und wird in eine bloße logische,

qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt, das Subject mag

zusammengesetzt sein oder nicht, verwandelt.“ (B 412-413) Der Grund dafür,

warum jener Paralogismus ein Trugschluß ist, besteht also darin, daß das denken-

de Wesen überhaupt nicht wie ein beharrlicher Gegenstand gedacht werden kann:

Das, was als Substanz bezeichnet werden soll, muß zugleich als ein Objekt ge-

dacht werden können, während das Ich nur das Bewußtsein meines Denkens ist.

Zwar muß das ich denke all meine Vorstellungen begleiten können. (B 131) Dar-

aus darf man aber nicht schlußfolgern, daß das Ich eine Substanz wäre. Denn das

Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens, das gar nicht wie ein beharrlicher

Gegenstand gedacht werden kann.

4.1.2. Schleiermachers Kritik an dem Kantischen Begriff der noumenischen Per-

son

Indem Schleiermacher jene Kantische Lehre, die Einheit des Selbstbewußtseins

beziehe sich immer nur auf das Phänomenon, emphatisch bejaht, folgt er zwei-

felsohne diesem Kantischen Gedankengang: Die Einheit des Selbstbewußtseins

setzt auch für Schleiermacher nicht ein substantielles Selbst voraus, da das Ich,

auf dessen Bewußtsein sich die Einheit des Selbstbewußtseins bezieht, nicht wie

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ein Objekt in der Anschauung hypostasiert werden kann. Schleiermacher akzep-

tiert nun aber nicht den Kantischen Begriff des moralischen, durch Vernunft sich

selbstbestimmenden Subjekts, weil er für Schleiermacher im Widerspruch mit

jener Kantischen Kritik an dem Substanzbegriff steht.

Kant unterscheidet, wie wir eben gesehen haben, das Noumenon von der Sub-

stanz: Die Substanz muß für Kant als ein Objekt gedacht werden können, wäh-

rend das Noumenon ein Begriff ist, der keine objektive Realität bei sich führt.

Das transzendentale Subjekt impliziert zwar bei Kant keine ‚Seelensubstanz‘, wie

Kant ausdrücklich hervorhebt; es kann aber auch keineswegs als ein empirisches

Subjekt verstanden werden, sondern als ein noumenisches, indem es als ein durch

Vernunft sich selbst bestimmendes Subjekt aufgefaßt wird. Kant nimmt nach

Schleiermacher „ein persönliches Subjekt“ an, „welches unabhängig von dem

Mechanismus der Natur sich selbst Zweke vorsezt“; die „Personalität ist in dieser

Rücksicht die Eigenschaft eines Subjekts Zweck an sich zu seyn.“453 Das bedeu-

tet nun für Schleiermacher, daß „Kant [bei seiner Rede von dem transzendenta-

len Subjekt] […] nicht von dem phänomenischen Begriff der Personalität sondern

von dem noumenischen ausgehen [will]“.454 Schleiermacher weist nun darauf hin,

daß, wenn man der Kantischen Lehre über die Einheit des Selbstbewußtseins

konsequent folge, „ein Wesen welches eine Einheit des Selbstbewußtseyns besizt

[…] in seinen Handlungen völlig passiv und vom Naturmechanismus abhängig

sollte seyn können“; „unstreitig beruht das Selbstbewußtseyn, so wie es Kant

selbst deducirt hat nicht auf der Selbstbestimmung“, indem sich die Einheit des

Selbstbewußtseins weder auf die Substanz noch auf das Noumenon, sondern auf

das Phänomenon beziehe. 455 Wenn man aber, wie es Kant in seiner Kritik der

praktischen Vernunft tut, eine noumenische Vernunft des sich selbst bestimmen-

den Subjekts voraussetzt, dann muß man aber zugleich anerkennen, daß der

Mensch trotz des phänomenischen Wesens seines Selbstbewußtseins „sich durch

vernünftige Willensäußerung äußern [muß].“456 Das ist nach Schleiermacher „ein

453 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 543. 454 Ebd., S. 544. 455 Ebd. 456 Ebd.

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wahrer Widerspruch; denn da wir so gar wenig von der Verbindung zwischen

noumenon und phaenomenon wißen, so wäre es lächerlich zu behaupten daß ein

gewisses noumenon nothwendig ein solches phänomenon geben müsse.“457

E. Tugendhat weist in seinem Werk Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung

darauf hin, daß „die mit Kant beginnende transzendental-idealistische Tradition

zwar an der Ablehnung einer immateriellen Substanz fest[hielt]“, aber zugleich

auch den „Begriff des Subjektes der inneren Zustände“ entwickelt; und „da sie

[…] auch weiterhin mit Descartes daran festhielt, daß dieses Subjekt nicht jenes

sein darf, was wir, wenn wir reden, natürlicherweise mit ‚ich‘ bezeichnen, näm-

lich die jeweilige Person, mußte ein besonderes, ‚transzendentales‘ Subjekt ange-

nommen werden, das nun als ‚das Ich‘ bezeichnet wurde.“.458 Es ist zwar, wie J.-

P. Sartre in seiner Analyse des Kantischen „Theorie der formalen Präsenz des

Ich“ aufzeigt, eine übertriebene Forderung, wenn man vom Kantischen Begriff

des transzendentalen Subjekts „ein Ich“, das „tatsächlich alle unsere Bewußt-

seinszustände bewohnt“, ableiten will.459 Aber von den „Dunkelheiten“, die nach

Tugendhat „mit der Rede von ‚transzendental‘ [im Kontext der idealistischen

Identifizierung des transzendentalen Subjekts mit dem Ich] verbunden sind“, kann

auch die Kantische Philosophie nicht gänzlich frei sein.460

Kant formuliert in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft die paradoxe

These, daß die noumenischen Begriffe im Hinblick auf die theoretische Erkennt-

nis zu verneinen sind, während sie im Hinblick auf die praktische Erkenntnis

notwendig anzunehmen sind (V 6). Damit wird deutlich, daß der junge Schleier-

macher die Kantische Theorie von der Identität des Selbstbewußtseins insgesamt

richtig versteht. Es ist einerseits richtig, daß man die Kantische Lehre in jener

Formulierung wiedergeben kann, nämlich die Einheit des Selbstbewußtseins be-

ziehe sich immer nur auf das Phänomenon; denn Kant selbst weist auf die zwar

„befremdliche“, aber doch zugleich „unstreitige Behauptung der spekulativen

Kritik“ hin, nämlich „daß sogar das denkende Subjekt ihm selbst in der inneren 457 Ebd. 458 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 52. 459 J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, a.a.O., S. 39. 460 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 52.

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Erscheinung bloß Erscheinung sei“ (ebd.). Andererseits wird von Schleiermacher

m. E. zu Recht betont, daß diese Kantische Zurückführung der Einheit des

Selbstbewußtseins auf das Phänomenon mit der Kantischen Idee des moralischen,

sich selbst bestimmenden vernünftigen Subjekts schwer zu vereinbaren ist. Denn

ein solcher Begriff des vernünftigen Subjekts als einer sich selbst bestimmenden

Freiheit muß als ein übersinnlicher Begriff gelten, der die „im theoretischen Er-

kenntniß geleugnete und im praktischen behauptete objective Realität der auf

Noumenen angewandten Kategorien“ betrifft (ebd.). Das Leben des Menschen ist

also durch eine „paradoxe Forderung“ geprägt, nämlich „sich als Subject der

Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch in Absicht auf die Natur zum Phäno-

men in seinem eigenen empirischen Bewußtsein zu machen.“ (ebd.)

Hieraus kann man zwei wichtige Voraussetzungen des Kantischen Begriffs des

Subjekts ableiten. Das Subjekt läßt sich einerseits auf den Menschen als ein Na-

turwesen beziehen, das nicht eine Konstanz der Substanz (Seele) haben kann.

Zwar muß das Ich denke all meine Vorstellungen begleiten können; aber dieses

Ich des Ich denke läßt sich, da es nur ein Bewußtsein meines Denkens ist, eigent-

lich nicht als ein unveränderliches noumenisches Prinzip der Selbstidentität des

Bewußtseins verstehen. Für Kant gibt es vielmehr auch „Bewußtseinsmomente

ohne ‚Ich‘“, wie Sartre richtig erkennt: „denn er [Kant] sagt, ‚muß … begleiten

können.‘“461 Andererseits betrachtet aber Kant, obwohl er von dem phänomeni-

schen Wesen des Selbstbewußtseins ausgeht, die noumenischen Begriffe wie die

selbstbestimmende Freiheit des Menschen als ein Faktum der praktischen Ver-

nunft, das, auch wenn es nicht logisch beweisbar ist, bei der Betrachtung des

Menschen hinsichtlich der moralischen Handlung schlechthin vorausgesetzt wer-

den muß: Kant behauptet, daß die „praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und

ohne mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen

Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität ver-

schafft (obgleich als praktischem Begriffe auch nur zum praktischen Gebrauche),

also dasjenige, was dort bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestä-

tigt.“ (V 6)

461 J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, a.a.O., S. 40. Siehe auch oben Abschnitt 2.2.3.

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Kant leitet also seine Idee der noumenischen Subjektivität bei der moralischen

Handlung nicht aus einer strengen Logik der Philosophie ab.462 Das sich selbst

bestimmende freie Wesen des menschlichen Subjekts ist hinsichtlich der theoreti-

schen Erkenntnis abzulehnen; hinsichtlich der praktischen Erkenntnis bleibt Kant

aber dogmatisch, indem er die noumenische Subjektivität „gleichsam als ein Fac-

tum“ voraussetzt, „das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen

Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht.“ (V 91)

Dagegen lehnt Schleiermacher es ab, die noumenische Subjektivität als eine

wirkliche Seinsweise des Menschen anzunehmen. Es ist für ihn zwar unleugbar,

daß „ein jedes moralisches Subjekt, welches nach Gesezen handeln kann“, eine

gewisse Einheit des Selbstbewußtseins voraussetzen muß, da die Einheit des

Selbstbewußtseins die Ermöglichungsbedingung für das Sein als Subjekt ist.463

Man könne aber auch in diesem Fall nicht davon ausgehen, daß die Einheit des

Selbstbewußtseins auf die Konstanz der noumenischen Subjektivität zurückzu-

führen sei. Für Schleiermacher kann auch das moralische Subjekt als eine Person

bezeichnet werden, die „nur im phänomenischen […] Sinn“ des Wortes zu ver-

stehen ist. Schleiermacher weist darauf hin, daß „das Handeln nach der Vorstel-

lung von Gesezen […] die Fähigkeit einer Synthesis unserer Akte des Bewußt-

seyns in Eins und das Vermögen der Begriffe voraus[setzt]“.464 Gerade diese Fä-

higkeit ist nun das, „was die Einheit des Selbstbewußtseyns eint“. Auch das mo-

ralische Subjekt verdankt also die Einheit seines Selbstbewußtseins nicht irgend-

einer noumenischen Subjektivität, sondern nur der Fähigkeit des sich zur äußeren

Sachrelation verhaltenden Menschen, die Akte des Bewußtseins synthetisch zu

vereinen.465

462 Mit Recht weist M. Riedel in seiner Darstellung der Kantischen praktischen Philosophie darauf hin, daß die Kantische „Lehre vom ‚Faktum der Vernunft‘ mit dem Lehrstück von der Applikati-on des Gesetzes auf unser Tun und Lassen nach seinen verschiedenen Bestimmungsgründen gene-tisch und systematisch zusammen[hängt].“ (M. Riedel, Urteilskraft und Vernunft, Frankfurt a. M. 1989, S. 104) Nach Riedel ist „das Urteil des gemeinen Menschenverstandes“ der eigentliche Stützpunkt für die Kantische „Einführung des Sittengesetzes am ursprünglichen Leitfaden des Programms der moralisch urteilenden Vernunft“. (Ebd.) 463 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 544. 464 Ebd. 465 Ebd.

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Da sich die Einheit des Selbstbewußtseins immer nur auf das Phänomenon be-

zieht, ist es für Schleiermacher nicht akzeptabel, die Fähigkeit des moralischen

Subjekts, die Akte des Bewußtseins synthetisch zu einen, auf die noumenische

Subjektivität zurückzuführen: „Keineswegs kann ich nun aber auch weiter schlie-

ßen: jedes moralische Subjekt muß eine Person in noumenischer Bedeutung seyn

[…].“466 Schleiermacher zufolge ist „das Handeln nach Gesezen und eben so das

Zwek an sich seyn und sich Zweke vorsezen […] nichts anders als eine gewiße

Identität der Regeln des Begehrens“; und auch wenn man annimmt, daß diese

Identität der Regeln des Begehrens „auf das transcendentale Selbstbewußtseyn,

auf das Ich“ zurückzuführen sei, könne man doch nicht umhin, bei der Kantischen

Annahme des noumenischen Subjekts hinsichtlich der praktischen Erkenntnis

eine gewisse „Sprachenverwirrung“ zu bemängeln.467 Es gäbe keine Notwendig-

keit, aufgrund der Fähigkeit des Subjekts, die für das moralische Handeln nötige

Erkenntnis der Handlungsregeln (Handeln nach den Gesetzen) zu erkennen, eine

moralische Subjektivität als eine noumenische Konstanz im menschlichen Leben

anzunehmen; „denn die theoretische und praktische Bedeutung coincidiren ja

doch nicht und es kann sehr viele theoretische Personen geben welche keine prak-

tische sind, und es nie werden können.“468

4.2. Die Religion als Ausrichtung des Menschen auf das Sein

Schleiermacher hält auch nach seiner intensiven Beschäftigung mit Kant weiter

an einer Spinozistischen Grundformel fest: Es gibt keine absoluten Individuen.

Auch G. Meckenstock, der sonst in seiner Darstellung der Auseinandersetzung

des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza in den Jahren 1789-1794 den

Kantischen Einfluß auf Schleiermacher stark hervorhebt, behauptet mit Recht,

daß „Schleiermacher den Begriff des Individuums ausschließlich in phänomeno-

logischer Fragestellung [betrachtet].“469 Meckenstock charakterisiert „Schleier-

machers Fragestellung“ als „eine kritisch-phänomenologische“, die sich zu jeder 466 Ebd. 467 Ebd., S. 544 f. 468 Ebd., S. 545. 469 G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 194.

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Art der noumenologischen Bestimmung des menschlichen Subjekts kritisch ver-

hält: Meckenstock weist darauf hin, daß „das principium individuationis“ im Sin-

ne Schleiermachers „seinen Ort nicht beim noumenologischen Substanzbegriff

[hat].“470

Die phänomenologische Frage nach dem Wesen des Selbstbewußtseins, die der

junge Schleiermacher unter dem Einfluß von Kant gestellt hat, wird nun durch die

Spinozistische Lehre von der Inhärenz alles Endlichen in Gott ergänzt. Einerseits

gibt die Kantische Lehre von dem phänomenischen Wesen des Selbstbewußtseins

Schleiermacher einen entscheidenden Anstoß dafür, das Wesen der Religion

durch eine phänomenologische Strukturanalyse des Selbstbewußtseins zu erhellen.

Andererseits wäre aber seine phänomenologische Religionsbegründung nicht

möglich, wenn Schleiermacher den Kantischen Begriff der sich selbst bestim-

menden Freiheit des Menschen unkritisch übernommen hätte. Die Spinozistische

Lehre, nämlich daß die Individuen als endliche Wesen nur durch ihre Abhängig-

keit von dem unendlichen Sein existent sein können, bleibt für Schleiermacher

weiter von maßgebender Bedeutung.

Hierin liegt der Grund, warum Schleiermachers Identifikation der Religion mit

dem unmittelbaren Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre nicht als eine Reduk-

tion der Religion auf das rein Subjektive zu verstehen ist. Es ist einerseits wahr,

daß Schleiermacher erst in seiner Glaubenslehre die Religion explizit mit dem

unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. mit dem absoluten Abhängigkeitsgefühl

identifiziert, wie Dilthey, Huber und Brunner einstimmig behaupten. Man kann

aber sicher nicht fehlgehen in der Annahme, daß Schleiermacher schon in seiner

Jugendzeit durch seine Auseinandersetzung mit Kant, Jacobi und Spinoza die

Grundlage dafür gelegt hat, den Ort der Religion im unmittelbaren Selbstbewußt-

sein zu verankern. Der Mensch ist für Spinoza nicht Substanz, sondern Modus.

Das ist eine philosophische Betrachtung des Existenzgrundes des Menschen. Da

das Sein des Menschen nicht in sich den Grund seiner eigenen Existenz ein-

schließt, kann der Mensch nur dadurch existent sein, in Gott zu bleiben, der den

Grund eigener Existenz in sich schließt und somit als Substanz zu bezeichnen ist.

470 Ebd.

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Schleiermacher verbindet nun diese Spinozistische Betrachtung über den Exis-

tenzgrund des Endlichen und des Unendlichen mit der Kantischen Theorie des

Selbstbewußtseins: In meinem Selbstbewußtsein muß ich mich als ein phänome-

nales Wesen wiederfinden, das als solches nicht in sich seinen eigenen Existenz-

grund schließt. Das Sein des Menschen muß vom unendlichen Seinsganzen ab-

hängig sein, das in sich seinen eigenen Existenzgrund einschließt und insofern

Substanz bzw. Gott zu nennen ist. Diese Entdeckung des eigenen Seins als eines

phänomenalen Wesens im Selbstbewußtsein ist nicht nur als eine philosophische

Betrachtung zu verstehen. Sie ist vielmehr eine Grundmotivation für das am Sein

selbst orientierte Leben, das sich von der praktischen, an der Vorhandenheit ori-

entierten Lebensführung abhebt; das ist die vita religiosa, die durch die Selbst-

ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst vollzogen wird.

Es müssen allerdings noch einige Probleme genauer untersucht werden, wenn

man feststellen will, auf welche Art der junge Schleiermacher in seiner Analyse

des Selbstbewußtseins tatsächlich eine Möglichkeitsbedingung für das religiöse

Leben entdeckt hat. In der Glaubenslehre weist Schleiermacher auf die Möglich-

keit hin, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein bzw. das Abhängigkeitsgefühl

nicht fromm sein kann. Das Abhängigkeitsgefühl kann relativ sein, und im unmit-

telbaren Selbstbewußtsein können wir unser Sein nicht nur als das Sein in Gott

verstehen, sondern auch als das Sein in der Welt. D. h.: Die Entdeckung des phä-

nomenalen Wesens des Selbstbewußtseins garantiert noch nicht die Einsicht in

die grundwesentliche Religiosität des Selbstbewußtseins; denn indem ich mich

als ein phänomenales Wesen betrachte, kann ich mich auch als ein Sein in der

Welt verstehen. Neben dem phänomenalen Charakter seines eigenen Seins muß

man sich noch des phänomenalen Wesens des Weltbewußtseins bewußt sein,

wenn das unmittelbare Selbstbewußtsein mit der Religion identifiziert werden

soll.

Diese Problematik ist m. E. in zweierlei Hinsicht näher zu analysieren. Erstens

muß man fragen, welchen Seinsstatus Schleiermacher der Welt zuweist; hierbei

geht es um die philosophische Position, die Schleiermacher in bezug auf das Phä-

nomen der Welt einnimmt. Zweitens ist es dann außerdem wichtig zu fragen, ob

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diese philosophische Betrachtung über den Seinsstatus der Welt auch für die

Selbstausrichtung des Menschen auf das Sein selbst, das nicht mit der Welt zu

identifizieren ist, von Bedeutung ist. Es geht hier um die Frage, ob die ontologi-

sche Differenz zwischen Welt und Sein nicht nur als eine philosophische Betrach-

tung über Welt und Sein bedeutsam ist, sondern auch als ein wirkliches Bewußt-

seinsmoment, das für die Lebensführung des Menschen von Bedeutung ist. Diese

zweite Frage ist wichtig, da die Religion im Sinn Schleiermachers ein wirkliches

Lebensmoment des Menschen darstellt.

4.2.1. Schleiermachers Ablehnung der Idee der Vielheit der noumenischen Sub-

stanzen

Für die Beantwortung der ersten Frage ist die ‚Kurze Darstellung des Spinozisti-

schen Systems‘ besonders nützlich. In dieser Jugendschrift argumentiert Schlei-

ermacher, daß man keine Vielheit der Noumenen annehmen darf. Das Noumeni-

sche kann nur dem ganzen Sein zugewiesen werden.

Schleiermacher nimmt den Spinozististischen „Satz von der Einheit und Unend-

lichkeit des existierenden“471 als seine eigene Ausgangsposition. Schleiermacher

zieht nun den Kantischen Begriff Ding an sich in Betracht. Er weist darauf hin,

daß dieser Kantische Begriff nicht der strengen Kritik der Philosophie standhalten

kann: „[…] warum kommt Kant nicht dazu [zum Spinozistischen Satz von der

Einheit und Unendlichkeit des existierenden]? Die Dinge sind an sich anders als

sie werden wenn sie durch unser Vorstellungsvermögen und durch unsere Orga-

nisation gegangen sind; das ist es wovon Kant ausgeht: natürlich führt das dahin:

jeder Erscheinung liegt also ein Ding zum Grunde; war es aber Recht hierbei

stehn zu bleiben?“472 Der Grund, warum man in der philosophischen Frage nach

dem Sein nicht bei dem Begriff des Dinges an sich stehen bleiben darf, besteht

darin, daß das Sein, wie er auch in seinen späteren Schriften ausführt, eigentlich

als Seinsfülle der Kraft zu verstehen ist. Das Ding, das als das gesonderte Sein

471 F. Schleiermacher, ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘, in: ‘, in: ders., Jugend-schriften (KGA 1. Abt. 1), a.a.O., S. 573. 472 Ebd.

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vorgestellt wird, ist eigentlich nur eine gewisse Kohäsion der Kräfte, die in einer

kontinuierlichen Seinsfülle der Kräfte stattfindet. Jede Vorstellung des Dinges

bezieht sich daher immer nur auf die Erscheinung, aber keineswegs auf irgendein

substantielles Ding an sich, das in sich den Grund eigener Existenz schließt:

„Was macht die Individualität der Erscheinungen aus? Offenbar nichts anderes

als die Cohäsion, die identische Vereinigung der Kräfte einer gewissen Masse an

einem Punkt. Dieser Grund der Individuation liegt also bloß im vorstellbaren und

kann sich auch bloß auf das vorstellbare beziehn […].“473 Schleiermacher fragt

nun, ob die Kantische Annahme, der Erscheinung liege ein Ding an sich zugrunde,

gerade wie jener Paralogismus der rationalen Psychologie nur ein Trugschluß sei,

in dem die Substanz (die Seele) als notwendige Voraussetzung für die Identität

des Selbstbewußtseins deduziert wird: „Ist es denn gewiß, daß jedem Bewußtseyn

ein eignes noumenon zum Grunde liegt? gehört nicht diese Behauptung ebenfalls

zum Paralogism der Vernunft?“474 Hierauf antwortet nun Schleiermacher, daß

das Ding, da es nach der Formulierung von Schleiermacher das ‚individualisie-

rende Bewußtsein‘ voraussetzt, nur als eine Erscheinung zu bezeichnen ist, die

man von der Rezeption der Einwirkungen vom Sein her als ein Seiendes vor dem

Hintergrund einer gegenständlichen Beziehung gesonderter Seiender abhebt: „das

individualisierende Bewußtseyn beruht auf der Receptivität und bezieht sich nur

auf die Erscheinung“.475 Man darf also keine Vielheit des noumenischen Seins

annehmen, die man unter dem Kantischen Begriff des Dinges an sich in der Regel

mitversteht: „Wenn man also gar keinen Grund hat eine Mehrheit der Noumenen

zu behaupten, und wir nichts von ihnen sagen sollen als was sich notwendig auf

die Erscheinung bezieht, so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders

ausdrücken, als das Noumenon, die Welt als Noumenon.“476

Schleiermacher lehnt es also auf jeden Fall ab, eine Vielheit der Noumenen an-

zunehmen. Heißt es dann nicht, daß die Gesamtheit aller Seienden – die Welt –

als ein substantielles Sein betrachtet werden muß, auch wenn die Vorstellung der

473 Ebd., S. 573 f. 474 Ebd., S. 574. 475 Ebd., S. 574. 476 Ebd.

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Welt – wie erwähnt – je nach Person differiert? Worauf gründet die Existenz des

einzelnen Seienden, wenn die Welt selbst nur als Phänomen zu betrachten ist?

Um des besseren Verständnisses halber möchte ich für die Beantwortung dieser

Frage zuerst von einer Überlegung in der Glaubenslehre ausgehen, in der Schlei-

ermacher die Beziehung zwischen dem Phänomen der Welt und dem Glauben an

die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt erörtert.477 Danach wird überprüft,

ob man auch in Schleiermachers Jugendschriften den gleichen Gedankengang

finden kann.

4.2.2. Die Welt – ein substantielles Sein?

Es scheint auf den ersten Blick plausibel zu sein, die Welt als ein substantielles

Sein zu verstehen. Denn wodurch kann die Existenz der einzelnen Seienden er-

möglicht werden, wenn die Welt selbst, verstanden als Inbegriff aller Seienden,

bloß als Erscheinung zu bezeichnen ist und folglich nicht den Grund ihrer eigenen

Existenz in sich selbst hat? Sollte man nicht gerade deswegen die ganze Welt als

eine noumenische Substanz annehmen, weil den einzelnen Ding-Erscheinungen

nicht das reale Ding an sich als die noumenische Substanz zugrunde liegt? Für die

richtige Beantwortung dieser Frage muß man zwei grundsätzliche Überzeugun-

gen von Schleiermacher berücksichtigen, die in der Glaubenslehre in seiner The-

se des Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt ausgedrückt

werden: 1. Die Welt, die wir in unserem Selbstbewußtsein als Vorstellung haben,

repräsentiert nicht die ganze Welt, sondern nur einen Teil der Welt; da die Welt

als eine räumliche Relation der einzelnen Seienden einen Gegensatz von Innen

und Außen voraussetzen muß, kann eine Vorstellung der Welt, die wir in unse-

rem Selbstbewußtsein erzeugen, nie die ganze Welt repräsentieren, sondern nur

einen Teil der Welt. Nur im Glauben haben wir einen Zugang zu der ganzen Welt

(Glaube an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt). 2. Die Welt kann, da sie

stets als eine raum-zeitliche vorzustellen ist und von einem Denken in Gegensät-

477 Siehe oben in 3.3.

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zen erfaßt wird, eigentlich nie als der adäquate Begriff für das ganze Sein aner-

kannt werden.

Auf die Frage, ob die Welt als ein substantielles Sein zu bezeichnen ist, kann

man nun zwei Antworten geben. 1. Die Welt ist in unserem Glauben an die ur-

sprüngliche Vollkommenheit der Welt als das substantielle Sein gesetzt, da die

Welt in ihrer Vollkommenheit das Ganze alles Seienden in sich schließt und folg-

lich außer sich selbst keinen anderen Existenzgrund haben kann. 2. Wenn man

aufgrund dieses Glaubens an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt die

Welt mit dem substantiellen Sein identifiziert, begeht man einen Fehler: die Welt

selbst ist immer ein Phänomen, und wir können in unserem Bewußtsein nur einen

Teil der Welt erkennen, aber nie die ganze Welt; wir leben zwar mit dem Glauben

an die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt, aber das ganze Sein kann eigent-

lich nicht mit der Welt identifiziert werden. Jeder Vorstellung der Welt als einer

Raum-Relation liegt ein unüberwindbares Paradoxon zugrunde: Jede Vorstellung

des Raumes setzt den Gegensatz von Innen und Außen voraus, während die ganze

Welt keineswegs ein Außen haben kann.

Was ist nun die Ursache dafür? Wir haben oben (Kapitel 3.3.) gesehen, daß unser

natürliches Weltbewußtsein für Schleiermacher auf einem fundamentalen Irrtum

des Denkens beruht; unser Denken ist zu sehr am Sehen orientiert, so daß das

Sein nach dem Vorbild der raum-zeitlichen Relation der einzelnen Gegenständen

vorgestellt wird. Also ist die Identifikation des ganzen Seins mit der Welt nur

eine Folge der optischen Täuschung, wenn man unter der Welt eine Gesamtheit

der sich aufeinander räumlich beziehenden einzelnen Seienden versteht. Dieser

Gedanke ist auch in Schleiermachers Jugendschriften wiederzufinden. Auch der

junge Schleiermacher betont diesen Irrtum des am Sehen orientierten Denkens.

Um den Irrtum des am Sehen orientierten Denkens zu zeigen, benutzt der junge

Schleiermacher eine Methode, die m. E. durchaus als eine phänomenologische

Reduktion bezeichnet werden kann. Er fordert nämlich, unser natürliches Ge-

genstandbewußtsein zu verlassen und uns in das Anfangsmoment der Wahrneh-

mung zu versetzen: „Entäußere dich aller deiner Kenntniße, und stelle dir vor du

fingest jetzt erst an wahrzunehmen. Was würden deine Wahrnehmungen wol

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seyn?“478 In diesem anfänglichen Zustand der Wahrnehmung würden wir nun

nach Schleiermacher nur Zeit und Raum als Unterscheidungsmedien haben, wäh-

rend unser Auge als ein Organ der Wahrnehmung von der räumlichen Relation

der Dinge nicht dazu fähig sein würde, einzelne Objekte voneinander zu unter-

scheiden: „Du hast für die Objekte im Raum keine andere Unterscheidung als die

Zeit, für die Objekte in der Zeit keine andere Unterscheidung als den Raum. […]

Denn das Auge für sich ist gar nicht geschickt Objekte zu unterscheiden, es zeigt

dem ungeübten Seher alles auf einer Fläche und unterscheidet nur Farben, und

wenn wir es jetzt vornemlich dazu brauchen, so geschieht das nur gleichsam

durch eine verkürzte Rechnungsart, auf deren Regeln wir nur nach langer Uebung

haben kommen können, eben so wenig das Gefühl es unterscheidet nur Grade der

Härte und Flüßigkeit.“479 Nach Schleiermacher besteht nun „der einzige Kanon

nach welchem sich [die] Idee von Individuen […] realisiert“, darin, daß man aus

einer „Reihe von Veränderungen“ die Teile des Ganzen als Gegenstände isoliert

betrachtet.480 Das gegenständlich Seiende setzt also das individualisierende Be-

wußtsein voraus, in welchem das Bewußtsein des Kontinuums zwischen den Sei-

enden mitgesetzt ist. Wenn aber die Gegenständlichkeit des Seienden für selbst-

verständlich gehalten wird und das ganze Sein als eine räumliche Relation der

von sich gesonderten Seienden gedacht wird, begeht man hier einen Fehler, auf

den Schleiermacher auch in der Glaubenslehre hinweist. Die Verabsolutierung

der Vorhandenheit beruht nämlich auf dem Irrtum des am Sehen orientierten

Denkens, der vor allem darin besteht, daß die Existenz des leeren Raums als ver-

meintlich in der Erfahrung gegeben angenommen wird und dadurch das reale

Kontinuum des Seins verkannt wird: „Was deinen Begrif von Individuen über

diesen Kanon hinaus zu erhöhen scheint ist bloß die fallacia optica des durch ein

vermeintliches vacuum gestörten continui des Gesichts sowol als des Gefühls.“481

478 F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 552. 479 Ebd., S. 553. 480 Ebd. 481 Ebd., S. 254.

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4.3. Gott und das Universum

Es steht also fest, wie wir bis jetzt gesehen haben, daß das Selbst und die Welt,

die im Selbstbewußtsein mitgesetzt sind, für Schleiermacher zur Sphäre des Phä-

nomens gehören; beide schließen nicht in sich selbst den Grund ihrer eigenen

Existenz. Daraus darf man aber nicht ableiten, daß der noumenische Begriff des

substantiellen Seins für Schleiermacher nur eine metaphysische Fiktion wäre.

Man muß vielmehr davon ausgehen, daß der noumenische Begriff des substan-

tiellen Seins bei Schleiermacher eher als die adäquate Bezeichnung des wirkli-

chen Seins verstanden wird, während alles Seiende, das eine reale Gegenständ-

lichkeit bei sich führt, vom Denken des räumlichen und zeitlichen Gegensatzes

abhängig ist und daher nur als das phänomenische anzuerkennen sei.

4.3.1. Das Universum als ein phänomenologischer Grenzbegriff

Meckenstock betont Kants Einfluß auf Schleiermacher und definiert Schleierma-

chers Philosophie insgesamt als eine Phänomenologie, deren Ausgangspunkt in

der Kantischen Einsicht ins phänomenale Wesen des Selbstbewußtseins liege. Es

ist m. E. in der Tat richtig, daß Schleiermacher unter dem Einfluß Kants eine Art

phänomenologischer Philosophie entwickelt. Dabei darf man aber nicht überse-

hen, daß Schleiermacher seine Entdeckung des phänomenalen Wesens des Selbsts

und der Welt als einen Anlaß versteht, nach dem Sein selbst zu fragen, das nicht

auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist.

Es fragt sich nun, wie das Sein selbst zu definieren ist, das nicht mit dem Begriff

der Vorhandenheit erklärbar ist. Man kann bei Schleiermacher zwei Begriffe fin-

den, die das Sein selbst repräsentieren: Gott und das Universum. Nicht wenige

Schleiermacher-Forscher scheinen mir dem Begriff des Universums den Vorzug

zu geben. Dilthey und Brunner halten z. B., wie wir gesehen haben, Schleierma-

chers Lehre der Gegenwart Gottes im unmittelbaren Selbstbewußtsein für prob-

lematisch und betonen, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein das Gegenstands-

bewußtsein nicht ausschließt, sondern vielmehr notwendig einschließt. Me-

ckenstock hebt hervor, daß im Begriff des Universums das Noumenale und das

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Phänomenale schon vermittelt seien, während man für die Vermittlung Gottes mit

dem Phänomenon eine besondere Theorie nötig habe: „Der Universumsbegriff

hat gegenüber dem Gottesbegriff also den großen Vorzug, daß er den Vermitt-

lungsgedanken zwischen Noumena- und Phänomenasphäre impliziert, während

der Gottesbegriff eine besondere Vermittlungslehre nötig macht.“482 Es ist m. E.

zwar richtig, daß im Begriff des Universums tatsächlich das Noumenale und das

Phänomenale vermittelt sind. Aber diese Einheit des Noumena und des Phäno-

menalen im Universum führt dann aber zu einem weiteren Problem, nämlich was

als das Noumenale im Universum zu betrachten ist und was als das Phänomenale.

Meckenstock betont zu Recht, daß das Universum für Schleiermacher ein phä-

nomenologischer Grenzbegriff ist: „Der Universumsbegriff ist nämlich selbst ein

phänomenologischer Begriff, allerdings ein phänomenologischer Grenzbegriff. Er

impliziert, daß das Ganze schlechterdings nicht abgesehen von seinen Teilen, daß

das Noumenon nicht abgesehen von den Phänomena gedacht werden kann.“483

Der Begriff des Universums aber, verstanden als das Ganze alles Seienden, kann

nicht genau von dem Begriff der Welt unterschieden werden. Die Welt ist nach

der Definition in der Glaubenslehre „die getheilte Einheit, welche zugleich die

Gesamtheit aller Gegensätze und Differenzen ist“, während „Gott die ungetheilte

absolute Einheit“ ist.484 Folgt man nun jener Argumentation des jungen Schlei-

ermachers, in der die Vielheit der Noumenen abgelehnt wird, dann gelangt man

zu dem Ergebnis, daß jedes individuelle Sein für Schleiermacher ein Phänomen

ist, das selbst wiederum das individualisierende Bewußtsein voraussetzt. Wozu

führt nun diese Einsicht ins phänomenale Wesen des individuellen Seins, das sich

von dem anderen Sein abhebt und daher die Seinsweise als Vorhandenheit not-

wendig mit sich führt? Offenbar nicht dazu, daß das ganze Sein einfach mit dem

Zusammen alles Seienden identifizierbar ist. Vielmehr möchte Schleiermacher

betonen, daß das ganze Sein als ein Kontinuum zu verstehen ist, das, wie Schlei-

ermacher mit dem Begriff Gottes zum Ausdruck bringt, die ungeteilte, absolut

einfache Einheit sein muß.

482 G. Meckenstock, Deterministische Ethik und kritische Theologie, a.a.O., S. 217. 483 G. Meckenstock, a.a.O., S. 216. 484 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 124.

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4.3.2. Die Rolle des Gottesbegriffs für die Religionsphilosophie Schleiermachers

Allerdings wird man nicht ohne Plausibilität auch behaupten können, daß dieser

Gedanke des Kontinuums im Begriff des Universums bereits implizit gegeben sei;

während die Welt bei Schleiermacher schlechthin als die getrennte Einheit defi-

niert sei. Allerdings kann man auf jeden Fall daran festhalten, daß der Begriff

Gottes gegenüber dem des Universums nicht nur Nachteile hat, sondern auch

einen wichtigen Vorteil: mit dem Begriff Gottes kann man die unüberwindbare

ontologische Differenz zwischen dem Sein selbst und dem Seienden deutlich ma-

chen, durch deren Bewußtsein wir uns von der an der Gegenständlichkeit orien-

tierten praktischen Lebensführung herausholen und zur ursprünglichen Religiosi-

tät des Lebens zurückkehren. Der entscheidende Punkt der Phänomenologie

Schleiermachers besteht m. E. darin, daß das Bewußtsein von dem phänomeni-

schen Wesen alles Vorhandenen zum Bewußtsein des Seins selbst als der unge-

teilten Einheit führt.

Ferner kann man hieraus den eigentlichen Grund dafür erkennen, warum Schlei-

ermacher in der zweiten und der dritten Auflage der Reden das Wort Universum

durch andere Worte wie Gott, Gottheit usw. ersetzt. Schleiermachers Betonung

des Gottesbegriffs ist m. E. als ein Versuch zu verstehen, den Unterschied zwi-

schen dem ganzen Sein und der Totalität alles endlichen Seienden deutlich zu

machen. Schleiermacher behauptet in der Vorrede zur dritten Ausgabe der Reden,

daß die Fehlinterpretationen seiner Reden hauptsächlich auf der Verkennung der

rhetorischen Formen beruhen: Hätte man seine eigenen Intentionen nicht ver-

nachlässigt, würde man ihn nicht fast in einem Atemzug gleichzeitig des Spino-

zismus und des Herrnhutianismus, des Atheismus und des Mytizismus beschuldi-

gen. 485 Schleiermacher betont, daß sein Denken zwischen der ursprünglichen

Auffassung der Reden und der dritten Auflage keine wesentliche Änderungen

aufweise: „Denn meine Denkungsart über diese Gegenstände ist damals schon

mit Ausnahme dessen was bei jedem die Jahre mehr reifen und abklären in eben

485 Vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 12.

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der Form ausgebildet gewesen wie sie seitdem geblieben ist […].“486 Diese Be-

hauptung bedeutet freilich, daß zwischen den verschiedenen Auflagen der Reden

nur ein stilistischer Unterschied bestehen soll. Die zunehmende Hervorhebung

des Gottesbegriffs und die hieraus folgende Vermeidung des Anschauungsbeg-

riffs bedeuten dann gar nicht eine Subjektivierung des Religionsbegriffs, wie vie-

le Schleiermacher-Forscher meinen; sondern eher eine stilistische Verbesserung,

durch die der zentrale Ansatzpunkt seiner Religionsphilosophie, daß das ganze

Sein letztlich nicht mit der Totalität alles endlichen Seienden gleichgesetzt wer-

den kann, noch deutlicher werden soll. Daß Schleiermacher hierbei Recht hat,

kann man nun daraus erkennen, daß der junge Schleiermacher das Sein selbst

nicht schlechthin als das Ganze alles Seienden versteht, sondern als ein Konti-

nuum, das zugleich die nicht geteilte Einheit ist. Alles Seiende, dessen Vorhan-

denheit das ganze Sein als das Geteilte erscheinen läßt, gehört nur zur Sphäre des

Phänomens, dessen Existenz von der ungeteilten Einheit des Seins selbst abhän-

gig sein muß.

Nach Huber bringt Schleiermacher „die Religion“ zwar auch in der zweiten Auf-

lage der Reden 1806 „unter der Formel ‚Anschauung des Universums‘“ zum

Ausdruck; aber „gelegentlich erscheint sie ihm offenbar ungeeignet.“487 Das Uni-

versum wird in der zweiten Auflage weitgehend durch Worte wie Gott, Gottheit,

das Höchste usw. ersetzt: „Bleibt ‚Universum‘ nicht stehen, so wird nach einer

ungefähren Berechnung gerade in der Hälfte der Fälle dafür ‚Gott‘, ‚Gott-

heit‘ gesagt, in der anderen Hälfte treten wechselnde Begriffe wie ‚das Höchste‘,

‚Geschichte‘, ‚Ewiges‘ ein, während gegen ‚das Unendliche‘ eine Abneigung zu

bestehen scheint.“488 Es kann also festgehalten werden: Nicht das Universum,

sondern Gott steht in der zweiten Auflage der Reden im Mittelpunkt. Betrachtet

man nun die Phänomenologie des jungen Schleiermachers, so kann man erkennen,

daß Gott, verstanden als eine Bezeichnung der ungeteilten Einheit des substantiel-

len Seins, nicht erst nach der zweiten Auflage der Reden, sondern von Anfang

seines Denkens an für Schleiermacher im Zentrum steht. Daher kann von einer

486 Ebd. 487 E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 55. 488 Ebd.

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zunehmenden Subjektivierung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher über-

haupt nicht Rede sein. Schleiermacher vermeidet die Begriffe der Anschauung

und des Universums nur deswegen, weil sie von dem Irrtum des am Sehen bzw.

an der Vorhandenheit orientierten Denkens nicht ganz frei sind.

Die Phänomenologie Schleiermachers ist keine endgültige Form der Philosophie

Schleiermachers, sondern eher ein Übergang zu einer Ontologie. Diese Ontolo-

gie Schleiermachers ist m. E. als eine Fundamentalontologie zu bezeichnen: Sie

fragt nicht nur nach dem Sein des Seienden, sondern auch nach dem Sein selbst,

das von dem Sein des Seienden grundverschieden ist. Allerdings nimmt Schlei-

ermacher für sein ontologisches Denken keineswegs in Anspruch, die traditionel-

le Philosophie grundsätzlich erneuert zu haben. Anders als Heidegger versucht

Schleiermacher nicht, die traditionelle Philosophie insgesamt als eine metaphysi-

sche Philosophie zu bezeichnen, in der das Sein irrtümlicherweise von dem Sei-

enden her betrachtet worden sei. Er möchte vielmehr, daß sich sein ontologisches

Denken an die unverzichtbaren Errungenschaften der philosophischen Tradition

seit Platon anschließt.

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III. Sein und Existenz

Das Ziel des dritten Teiles ist es, das philosophische Verhältnis zwischen der

Phänomenologie und der Ontologie bei Schleiermacher zu erhellen. Dabei soll es

nicht um die Frage gehen, ob die Religionsphilosophie Schleiermachers insge-

samt eher als eine Phänomenologie oder eher als eine Ontologie bezeichnet wer-

den kann. Das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Seienden wird in der Phi-

losophie Schleiermachers durch eine phänomenologische Analyse des Selbstbe-

wußtseins erhellt. Daher geht es hier vielmehr darum zu erklären, aus welchem

philosophischen Grund sich Schleiermachers Religionsphilosophie trotz oder

gerade wegen ihres phänomenologischen Wesens zugleich als eine Ontologie

verstehen läßt.

Das phänomenologische Wesen der Religionsphilosophie Schleiermachers be-

steht, wie wir durch Heideggers Gleichsetzung der Religion im Sinne Schleier-

machers mit der phänomenologischen Epoché erkannt haben, in einem kritischen

Verfahren der Philosophie, das die Betrachtung der Bewußtseinsakte hinsichtlich

ihrer Gegebenheitsweise unter Auslassung aller Seinssetzungen ermöglichen soll:

dieses Verfahren ist die phänomenologische Reduktion. Allerdings kann man

daran zweifeln, ob eine radikale Durchführung der phänomenologischen Reduk-

tion möglich ist; diejenigen Philosophen, welche die Phänomenologie Husserls in

Hinblick auf eine ontologische Dimension weiterentwickeln wollen, gehen meis-

tens davon aus, daß eine vollständige phänomenologische Reduktion eigentlich

nicht möglich ist.489 Auch Heideggers Ontologie kann insgesamt als ein solcher

Versuch verstanden werden, die philosophische Notwendigkeit der Seinsfrage

aufzuzeigen, da eine vollständige Auslassung aller Seinssetzungen unmöglich ist:

Die intentionale Struktur des Bewußtseins – Bewußtsein als Bewußtsein von et-

was – ist für Heidegger ein Indiz dafür, daß eine phänomenologische Analyse des

489 Merleau-Ponty behauptet z. B. in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung, daß die wichtigste Lehre der phänomenologischen Reduktion die Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion sei. (M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 11.)

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Bewußtseins notwendig zu einer Ontologie weiterentwickelt werden muß, da

diese Struktur des Bewußtseins auf das Sein außer mir, auf die notwendig ausste-

hende Seinsweise des Daseins – auf die Existenz – verweist.490 Aber Husserl und

Heidegger sind sich dennoch in einem Punkt einig: Die Welt soll in der phäno-

menologischen Philosophie – im Gegensatz zu unserem natürlichen Weltver-

ständnis – in ihrer fundamentalen Nichtigkeit betrachtet werden. Diese Einsicht in

die Nichtigkeit der Welt ist m. E. gerade das, was sich sowohl für Husserl als

auch für Heidegger notwendig aus der phänomenologischen Reduktion ergeben

soll. 491

Heideggers Bezeichnung der Religion im Sinn Schleiermachers als einer phäno-

menologischen Epoché bedeutet also, daß auch Schleiermacher die Welt im

Grunde genommen als ein Nichts versteht. Hierbei darf man allerdings nicht ei-

nen subjektiven Idealismus wie denjenigen von Berkeley unterstellen, für den die

Außenwelt bloß in subjektive Gegebenheiten aufgelöst wird. Daß die Welt ein

Nichts ist, bedeutet nur, daß die Vorstellung der ‚Welt‘ als einer raum-zeitlichen

490 Daß für Heidegger die Intentionalität des Bewußtseins ein Hinweis auf das ontologische We-sen der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse ist, kann man besonders daraus erkennen, daß Heidegger das transzendente Sein als eine Art der transzendentalen Erkenntnis versteht, die bei jeder Erfahrung der seienden Bestimmtheit zugrunde liegen muß: „Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Er-schlossenheit von Sein) ist veritas transcententalis.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38.) 491 Besonders in seiner öffentlichen Antrittsvorlesung (gehalten am 24. Juli 1929 in der Aula der Universität Freiburg i. Br.) macht Heidegger deutlich, daß er das Seiende im ganzen für nichtig hält: „Die Angst offenbart das Nichts. […] Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts aufdrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes ‚Ist‘-Sagen.“ (M. Heidegger, ‚Was ist Metaphysik?‘, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S.) Allerdings darf man hierbei die Nichtigkeit des Seienden nicht als einen begrifflichen Gegensatz des Seins verstehen: Verstünde Heidegger das Nichts als einen begrifflichen Gegensatz zum Sein, so hätte das Seiende für Heidegger nicht die Funktion, dem Dasein eine ontologische Frage nach dem Sein selbst zu ermöglichen. Weil die Seinsfrage nicht ohne die Anerkennung des Seinscharakters des Seienden möglich ist, bedeutet die Nichtigkeit des Seienden nicht, daß das Seiende einfach als ein Phantombild zu verstehen wäre, das keinen ontologischen Anspruch auf wirkliches Sein hat. Vielmehr muß man diese Nichtigkeit als ein Zeichen dafür verstehen, daß dem Dasein in der Angst bewußt wird, daß das Seiende im ganzen nicht für das Sein selbst stehen kann, auch wenn das Dasein den Sinn des Seins nicht ohne ein Bewußtsein des Seienden haben kann: „In der Angst wird das Seiende im Ganzen hinfällig. In welchem Sinne geschieht das? Das Seiende wird doch durch die Angst nicht vernichtet, um so das Nichts übrigzulassen. Wie soll es das auch, wo sich doch die Angst gerade in der völligen Ohnmacht gegenüber dem Seienden im Ganzen befindet. Vielmehr bekundet sich das Nichts eigens mit und an dem Seienden als einem entgleitenden im Ganzen.“ (Ebd., S. 113.)

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Relation alles Seienden für die adäquate Bezeichnung des ganzen wirklichen

Seins unzulänglich ist.

Um die philosophische Beziehung zwischen der Phänomenologie und der Onto-

logie bei Schleiermacher richtig darzustellen, muß vor allem untersucht werden,

ob (und wenn ja, auf welche Weise) Schleiermacher die Nichtigkeit der Welt er-

weist. Erst danach kann Schleiermachers Ontologie, mit der er m. E. die ontologi-

sche Seinsfrage Heideggers vorweggenommen hat, richtig dargelegt werden.

Allerdings wurde schon mehrmals darauf hingewiesen, daß die Welt für Schlei-

ermacher zum phänomenalen Sein gehört. In diesem Teil werde ich nun aber,

besonders im ersten Kapitel, versuchen, die philosophischen Argumente, die

Schleiermacher für den Beweis der Phänomenalität der Welt anführt, noch zu

konkretisieren. Wichtig ist Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur

in der Dialektik, die m. E. als ein deutlicher Beweis dafür gelten kann, daß

Schleiermacher tatsächlich über eine philosophische Methodologie verfügt, die in

der Tat am besten als eine phänomenologische Reduktion bezeichnet werden

kann. Gerade wie Husserl geht auch Schleiermacher davon aus, daß alles, was wir

als ein Objekt in der Welt wahrnehmen, nur als ein Produkt der urteilenden und

sinnverleihenden Bewußtseinsakte möglich ist. Jegliche Wahrnehmung des welt-

lich Seienden gibt uns in diesem Sinn weder für Husserl noch für Schleiermacher

ein bloßes Spiegelbild des realen Dinges an sich: Gerade das, was bei einer aktu-

ellen Wahrnehmung als ein so und so seiendes Ansichding gesetzt wird, ist für

beide Denker auf die Leistung des Bewußtseinsaktes zurückzuführen. Hierin liegt

m. E. der Grund dafür, warum Schleiermachers Philosophie mit der Husserlschen

Phänomenologie vergleichbar ist. Die Welt läßt sich ja für Schleiermacher letzt-

lich als ein Auffassungssinn verstehen, der freilich – mit den Worten Husserls –

nur als ein Bewußtseinskorrelat möglich ist.492 Dies wird im ersten Kapitel in

Detail analysiert und überprüft.

Eine systematische Darstellung von Schleiermachers Dialektik in ihrem ganzen

Umfang kann hier allerdings nicht geleistet werden. Schleiermachers Dialektik ist

492 Vgl. „Die Welt ist […] dasjenige, was durch das Denken schon bestimmt ist.“ (F. Schleierma-cher, Dialektik, a.a.O., S. 153.

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ein originelles und sehr reichhaltiges Werk, und es finden sich daher vielerorts

Gedanken, die weder durch das phänomenologische Denken Husserls noch durch

das ontologische Denken Heideggers adäquat erklärt werden können. Es ist aller-

dings für unsere Aufgabe nicht zweckmäßig, all diese Gedanken Schleiermachers,

die in der Philosophie Husserls und Heideggers eigentlich keinen vergleichbaren

Gegenpol haben, im Detail zu analysieren. Die Arbeit wird sich daher ausschließ-

lich darauf konzentrieren, die phänomenologisch-ontologische Dimension der

Philosophie Schleiermachers, die m. E. auch in der Dialektik eine deutliche Spur

hinterläßt, hervorzuheben und die Eigentümlichkeit dieser Phänomenologie unter

Berücksichtigung seiner Religionsphilosophie zu erhellen.

Hierbei muß zuerst deutlich gemacht werden, daß Glaubenslehre und Dialektik

sich gegenseitig ergänzen.493 Damit meine ich, daß Schleiermachers Glaubens-

lehre nur in bezug auf seine Dialektik richtig und vollständig verstanden werden

kann. Mit Recht weist R. Stalder darauf hin, daß man bei der Betrachtung der

Religionsphilosophie Schleiermachers seine Dialektik berücksichtigen muß, da

493 Besonders in §28 der zweiten Auflage der Glaubenslehre macht Schleiermacher deutlich, daß Dialektik und Glaubenslehre einander ergänzen müssen. Zunächst ist die Dialektik hier nach dem traditionellen Verständnis des Wortes als eine Kunst der Mitteilung definiert: „Der Ausdruck dialektisch ist auch hier ganz in dem altertümlichen Sinne genommen; der dialektische Charakter der Sprache besteht nur darin, daß sie kunstgerecht gebildet sei, um in jedem Verkehr zur Mitei-lung und Berichtigung der betreffenden Erkenntnis gebraucht zu werden.“ (F. Schleiermacher, Der christliche Glaube², a.a.O., S. 155.) Einerseits ist die Dialektik für die Glaubenslehre not-wendig, weil die „Ausdrücke, in welchen die Glaubenslehre sich bewegt, […] ein besonderes Sprachgebiet innerhalb des didaktisch-religiösen [bilden]“; die Sprachlichkeit der Glaubenslehre erfordert also die Kunst der richtigen Mitteilung, die Dialektik. (Ebd.) Wenn man aber das Wesen der Frömmigkeit erhellen will, ist die Unterscheidung zwischen Welt und Gott im frommen Ab-hängigkeitsgefühl andererseits notwendig, da man ohne diese Unterscheidung das höhere Selbst-bewußtsein nicht vom niederen, durch Sinnlichkeit bestimmten Selbstbewußtsein unterscheiden kann: „Untauglich aber für die dogmatische Sprache gebraucht zu werden sind zunächst solche Ansichten, welche die Begriffe von Gott und Welt auf keine Weise auseinanderhalten, einen Ge-gensatz zwischen gut und böse nicht zulassen, und also auch in dem Menschen nicht bestimmt Geistiges und Sinnliches unterscheiden. Denn dies sind die ursprünglichen Voraussetzungen des frommen Selbstbewußtseins, weil ohne diese auch das zum Weltbewußtsein erweiterte Selbstbe-wußtsein nicht könnte dem Gottesbewußtsein entgegengesetzt werden, und ebensowenig von einem Unterschied zwischen freiem und gehemmtem höherem Selbstbewußtsein, mithin auch nicht von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung die Rede sein könnte.“ (Ebd., S. 155 f.) Vgl. „In §16.1 of the Glaubenslehre ‚dialectical‘ is understood as equivalent to the logical, and in §28, the diaectical character of its language is, with its systematic arrangement, one of the two conditions which confirm dogmatic theology as a ,science‘. […] In my view, the discussion of this in Glaubenslehre is clearer: one speaks Kunstgerecht (according to the rules, i.e., dialectically) in order to express and communicate knowledge.“ (T. Curran, Doctrine and Speculation in Schlei-ermacher’s Glaubenslehre, Berlin / New York 1994, S. 160.)

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der eigentliche Gegenstand der Dialektik mit dem religiösen Begriff des Absolu-

ten – das höchste Wissen als der eigentliche Gegenstand der Dialektik – eng ver-

bunden ist: „Berührt nun die ‚Dialektik‘ auf Grund ihrer ganzen Anlage die Sphä-

re des Absoluten, und damit auch die des Religiösen […], so können wir sie [bei

der Untersuchung der Theologie Schleiermachers] unmöglich einfach überge-

hen.“494

Schleiermachers Glaubenslehre ist nicht nur eine Lehre über das Wesen der Re-

ligion, sondern auch eine phänomenologische Analyse des Selbstbewußtseins,

mit der Schleiermacher das denkende, handelnde und fühlende Bewußtseinsleben

in seinem ganzen Umfang verstehbar zu machen versucht: Die Glaubenslehre hat

eine kritische Funktion, die darin besteht, die Grenze des einseitigen Denkens

deutlich zu machen. Jeder, der bei der Betrachtung des menschlichen Bewußt-

seinslebens dem Denken oder der Praxis eine absolute Priorität zuweisen will,

verkennt für Schleiermacher den im wirklichen Bewußtseinsleben immer eine

Einheit bildenden Zusammenhang von Denken, Praxis und Gefühl. Das heißt nun

auch umgekehrt, daß man das Gefühl, sei es ein sinnliches oder ein religiöses, nie

isoliert vom Denken und Handeln betrachten darf. Die Glaubenslehre ist daher

nicht als ein Werk zu verstehen, in dem einseitig dem religiösen Gefühl ein abso-

luter Vorrang gegenüber dem Denken und der Praxis zugewiesen wird. Das Glei-

che gilt auch für die Dialektik: Die Dialektik besteht nicht in einer gesonderten

Betrachtung des Erkenntnis- und Denkvorgangs im Bewußtseinsleben, sondern in

einem Versuch, das Denken in seiner unzertrennlichen Beziehung mit der Praxis

und dem Gefühl zu betrachten.

In einer insgesamt sehr überzeugenden Darlegung von Schleiermachers Einlei-

tung in die Glaubenslehre weist auch D. Offermann darauf hin, daß die Theologie

und die Dialektik bei Schleiermacher nicht als ganz voneinander getrennte Dis-

ziplinen verstanden werden dürfen: „Man kann jedenfalls nicht von ‚der‘ Dialek-

494 R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schleiermachers I, a.a.O., S. 301 f. Vgl.: „Aber auch bei Schleiermacher selbst fanden sich Ansätze, das Verhältnis von Religion und Philosophie als zwei komplementäre Beziehungen zum Absoluten zu fassen, wenn Schleiermacher auch mit dem Beg-riff einer doppelten Offenbarung zurückhielt.“ (G. Scholtz, ‚Braniß über Religion und Philosophie, in: in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christen-tums, Berlin / New York 1991, S. 22.

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tik schlechtweg reden (ebensowenig von ‚der‘ Ethik) und diese dann der Theolo-

gie […] unterlegen. Jeweils von Fragestellung zu Fragestellung neu wird man die

Beziehung zwischen den beiden Reihen des Schleiermacherschen Denkens zu

erwägen und zu bewerten haben.“ 495 Besonders die Dialektik-Vorlesung von

1822 ist nach Offermann von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis der

Glaubenslehre: „Für unseren Einstieg gibt es von vornherein keinen Zweifel: Wir

müssen in erster Linie die Dialektik-Vorlesung von 1822 befragen; sie liegt der

ersten Auflage der Glaubenslehre zeitlich am nächsten, und sie bringt (deswegen?)

den ausführlichsten Teil einer Erörterung des Begriffs ‚allgemeines Abhängig-

keitsgefühl‘.“496 Insofern kann man festhalten, daß Dialektik und Glaubenslehre

bei Schleiermacher in einem engen Zusammenhang stehen.

Welche Folge hat es nun, daß Schleiermacher die Religion mit der Dialektik ver-

bindet? Unter anderem möchte ich hier zwei wichtige Errungenschaften, die

Schleiermacher durch die Verbindung der Religion mit der Dialektik gewinnt,

besonders hervorheben: 1. Der erkennende Akt des Bewußtseins (Denken) wird

in seiner konkreten Beziehung zu dem Abhängigkeitsgefühl erklärt. 2. Die Mög-

lichkeit, wie wir trotz unseres an der Gegenständlichkeit orientierten Bewußtseins

im praktischen Leben doch notwendig das religiöse Abhängigkeitsgefühl empfin-

den können, wird durch eine Analyse der konkreten Beziehung zwischen meinem

Sein und dem anderen, als individuell erscheinenden Sein erklärt. Hierin liegt der

wesentliche Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger: Während die-

ser die radikale Differenz zwischen dem alltäglichen Seinsverständnis (das Sein

als das Seiende) und dem Seinsbewußtsein (Angst als Ruf des Seins) hervorhebt,

ohne dabei die konkrete Beziehung zwischen den beiden zeigen zu können, liefert

jener eine konkrete Erklärung dafür, warum unser Bewußtsein des Seienden not-

wendig von dem Bewußtsein des Seins selbst, das nicht auf die Vorhandenheit

zurückzuführen ist, begleitet werden muß.

Dieser Unterschied zwischen Heidegger und Schleiermacher wird besonders

deutlich, wenn man betrachtet, wie beide Denker das Verhältnis zwischen dem

495 D. Offermann, Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, a.a.O., S. 68. 496 Ebd.

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praktischen, am Zweck orientierten Alltagsleben und dem Erkenntnisakt verste-

hen. Heidegger geht bei all seinen Überlegungen davon aus, daß das Denken ei-

nen praktischen Ursprung hat. Der rein erkennende Akt des Bewußtseins ist für

Heidegger lediglich nur ein abkünftiger Modus des Denkens, der durch die radi-

kale Abstinenz des praktischen Willens zustande kommt. Das Erkennen soll ins-

gesamt, da es die Vorhandenheit des Seienden zur Voraussetzung hat, nicht im-

stande sein, dem Dasein den Sinn des Seins selbst, das nicht auf die Vorhanden-

heit zurückzuführen ist, verständlich zu machen. Dagegen weist Schleiermacher

dem reinen Denken die Funktion zu, dem Dasein die Unmöglichkeit bewußt zu

machen, die Seinsweise des Seienden in seiner von seinem Sein gesonderten

Vorhandenheit adäquat darzulegen. Im zweiten Kapitel werden wir sehen, daß

Schleiermacher den Ursprung des gegenständlichen Seinsverständnisses – wie

Heidegger – in unserem praktischen Alltagsleben sucht.497 Aber anders als Hei-

degger weist Schleiermacher zugleich auf den prinzipiellen Unterschied zwischen

dem reinen Denken und dem praktischen Denken hin: Während wir uns beim

praktischen Leben an der Gegenständlichkeit, deren Erkenntnis dem praktischen

Zweck dienlich sein soll, orientieren, betrachten wir beim reinen Denken das Sei-

ende als das Ansichseiende, das heißt als ein Sein, das nicht auf die praktische

Zweckdienlichkeit – die Nützlichkeit des Wissens bzw. das Gebrauchswissen –

zurückzuführen ist.498 Allerdings darf man unter dem Ansichseienden nicht ein-

fach das Objektding verstehen: Denn in der Frage nach dem Ansich des Seienden

finden wir das Seiende nicht bloß als ein von unserem Sein gesondertes gegen-

ständliches Ding vor (das nach Schleiermacher in unserer praktischen, am Zweck

orientierten Beziehung mit dem Seienden seinen Ursprung hat), sondern als ein

besonderes Sein, mit dem wir in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszu-

sammenhang stehen: Das Ansich läßt sich in diesem Sinn nicht auf eine gegen-

497 Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104 ff. Auch W. Pleger weist darauf hin, daß das Wissen für Schleiermacher nicht isoliert von der alltäglichen Lebenspraxis zu betrachten ist. Nach Pleger hat Schleiermacher hier Husserls Thematisierung der Lebenswelt vorweggenommen: „Schleiermachers Rückbesinnung der Wissenschaft auf das Wissen der alltäglichen Praxis eröff-net einen Zusammenhang, der später [in Husserls Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaf-ten und die transzendentale Phänomenologie] als ‚Lebensweltproblematik‘ diskutiert wurde.“ (W. Pleger, Schleiermachers Philosophie, a.a.O., S. 148 f.) 498 Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 105 f.

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ständliche Seinsweise zurückführen, sondern im Gegenteil auf die Seinsweise des

Seienden, die nicht als vorhanden bzw. gegenständlich bezeichnet werden kann.

Hierbei liegt Schleiermachers Überzeugung zugrunde, daß unser Sein mit dem

anderen Sein faktisch in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang

steht, der sich nur durch eine theoretische und praxeologische Objektivierung in

eine Relation zwischen dem Subjekt und dem Objektding verwandelt. Aber die

Möglichkeit, unser Bewußtsein von der einseitigen Orientierung am dinglich Sei-

enden zu befreien und zum ursprünglichen Seinsbewußtsein zurückzuholen, be-

steht für Schleiermacher nicht in einer radikalen Trennung zwischen dem erken-

nenden Denken und dem Seinsbewußtsein wie bei Heidegger. Gerade das rein

erkennende, nicht um des praktischen Zweckes willen zustande kommende Den-

ken bietet für Schleiermacher die Möglichkeit, jegliches Seiende, dem wir bei

unserer wirklichen Lebensführung begegnen, als ein solches Sein anzuerkennen,

das an sich seiend auch auf mein Sein einwirkt. Mit anderen Worten: In diesem

Bewußtsein, daß ich in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem ande-

ren Sein stehe, frage ich nach dem Ansich des Seienden, das nur deswegen als

solches bezeichnet werden kann, weil es nicht auf die in meiner praktischen

Zweckorientierung ihren Ursprung habende Gegenständlichkeit bzw. Vorhan-

denheit zurückzuführen ist. Gerade durch das reine Denken entlarvt sich also

jegliche Vorstellung der Vorhandenheit, die die räumliche Trennung zwischen

den einzelnen Seienden voraussetzt, als wesentlich inadäquat. Dies soll im zwei-

ten Kapitel ausführlich analysiert und dargelegt werden.

Im dritten Kapitel wird versucht, diesen wichtigen Aspekt des kontinuierlichen

Wirkungszusammenhanges zwischen den Seienden unter besonderer Berücksich-

tigung des Seinsbegriffs bei Schleiermacher und Heidegger noch deutlicher zu

erklären. Dabei wird die Hauptthese sein, daß das, was bei Schleiermacher und

Heidegger als das sich vom Seienden unterscheidende Sein selbst dargelegt wird,

nur als das transzendente Ansichsein (Gottes) sinnvoll verstanden werden kann.

Mit dem transzendenten Ansichsein Gottes meine ich freilich nicht irgendein sub-

stantielles Sein, wenn man unter diesem Begriff – wie es nach Heidegger zu einer

herrschenden Meinung geworden ist – die Ableitung des Seins aus dem Seienden

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versteht. Zwar versteht Schleiermacher das Sein als das substantielle Sein, aber

hierbei darf man unter dem Ausdruck substantiell nicht eine Vorhandenheit ver-

stehen; denn die Vorhandenheit kann nur einem solchen Sein zugewiesen werden,

das nur in Relation mit dem anderen Sein existieren kann, während das substan-

tielle Sein ein solches Sein bedeutet, das ohne Relation mit dem anderen Sein

existiert.

Daß Heideggers Gleichsetzung der Substanz mit dem Seienden in vielerlei Hin-

sicht problematisch ist, wurde schon im zweiten Teil ausführlich erläutert. Hier

möchte ich nun besonders hervorheben, daß ich mit dem transzendenten Ansich-

sein Gottes nicht ein Seiendes meine. Es wurde bereits erwähnt, daß der Aus-

druck Ansich bei Schleiermacher nicht die Vorhandenheit bzw. die gegenständli-

che Seinsweise des Seienden voraussetzt. Im Gegenteil: In der Frage nach dem

Ansich des Seienden orientiert sich unser Bewußtsein an der ontologischen, das

Sein selbst betreffenden Dimension, da diese an sich seiende Seinsweise des Ein-

zelnen nicht auf die Gegenständlichkeit, die nach Schleiermacher in unserem

praktischen Leben ihren Ursprung hat, zurückzuführen ist. An sich seiend zeigt

sich das Seiende in einem kontinuierlichen Wirkungszusammenhang mit dem

anderen Seienden, hört auf in unserem Bewußtsein als das ontische, vom anderen

Sein durch den Raum getrennte Sein zu erscheinen. Insofern wird deutlich, daß

man unter dem Ansichsein Gottes nicht eine träge Substanz verstehen darf, so-

lange der Ausdruck Ansich im Sinne Schleiermachers benutzt wird.

Im zweiten Teil der Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß Schleiermacher in der

zweiten und der dritten Auflage der Reden über die Religion das Wort Universum

häufig durch das Wort Gott ersetzt hat. Ich bin der Meinung, daß Schleiermacher

dadurch einen wichtigen Aspekt seiner Philosophie besonders hervorheben wollte:

Das ganze Sein darf nicht als eine raum-zeitliche Relation zwischen den indivi-

duellen Seienden verstanden werden. Bei der Verwendung des Wortes Universum

bleibt es noch unklar, ob das ganze Sein als eine Relation alles individuellen Sei-

enden (das All) zu verstehen ist oder eher als eine Einheit, die nicht vom Stand-

punkt der Differenz zwischen den Seienden adäquat verstanden werden kann.

Daß das ganze Sein als eine Einheit zu verstehen ist, zeigt Schleiermacher durch

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seine Analyse des reinen Denkens, mit dessen Hilfe wir nach dem Ansich des

Seienden fragen: Wenn das Seiende sich gerade in seiner an sich seienden Seins-

weise als ein solches Sein zeigt, das mit dem anderen Sein in einem konkreten

Wirkungszusammenhang steht, dann muß man anerkennen, daß eine absolut kon-

tinuierliche Einheit des ganzen Seins allem endlichen, sich voneinander unter-

scheidenden Seienden zugrunde liegen muß. Daß das Sein das transzendente An-

sichsein Gottes ist, bedeutet in diesem Sinn, daß das Sein als eine Kraftfülle, eine

Dynamis, zu verstehen ist, die für das an der Vorhandenheit orientierte Denken

prinzipiell unergründlich bleibt. Auch dies habe ich schon im zweiten Teil der

Arbeit in Anlehnung an G. Scholtz’ Analyse der Platon-Rezeption von Schleier-

macher deutlich gemacht.

Besonders interessant für unseren Zusammenhang ist nun die Frage, ob Schlei-

ermacher und Heidegger einen gemeinsamen Standpunkt bei der Darlegung des

Seinsbegriffs haben. Viele Heidegger-Experten werden dazu neigen, diese Frage

eher negativ zu beantworten. Denn Gott ist für Heidegger bekanntlich nur ein

Seiendes, und Heidegger wird jeden Versuch, das Sein selbst mit Gott zu identifi-

zieren, als ein metaphysisches Unternehmen bezeichnen und ablehnen. Bei ge-

nauerer Analyse scheint das Problem aber nicht so einfach zu lösen zu sein: Be-

reits die Annahme, Gott sei ein Seiendes, paßt nicht zu dem Gottesbegriff Schlei-

ermachers. Ferner muß man, wenn man den Seinsbegriff bei Schleiermacher und

Heidegger vergleichen will, zuerst fragen, welche positiven Merkmale Heidegger

dem Sein selbst zuweist. Hier habe ich nicht die Absicht, die geläufige Meinung

zu wiederholen, daß Heidegger nur die Differenz zwischen dem Sein und dem

Seienden hervorhebe, ohne dabei einen positiven Seinsbegriff erarbeitet zu haben.

Im dritten Kapitel werden wir sehen, daß Heidegger nach der sogenannten Kehre

seines Denkens zwei positive Fassung des Seinsbegriffs angeboten hat: 1. Das

Sein ist „das Einfache“499. 2. Das Sein ist eine (Seins-)fülle.500 Die spannende

499 M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 362. 500 Gemeint ist hier der Sinnwechsel des Wortes Licht bzw. Lichtung bei Heidegger, das zuerst im Sinn der Erleuchtung (als Bezeichnung der abendländischen Lichtmetaphysik) benutzt wird, nach der Kehre aber im Sinn des Waldlichtens. Allerdings meine ich mit dem Ausdruck Seinsfülle nicht, daß Heidegger das Sein – wie Leibniz – als eine Kraftfülle verstünde. Zu fragen ist eher, was Heidegger mit seiner Metaphorik des Lichtens im Sinn der Waldlichtung, des Raumschaffens aus

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Frage ist nun, ob diese Seinsbegriffe etwa zu einem anderen Seinsbegriff als dem

transzendenten Ansichsein Gottes führen können. Diese Frage ist m. E. bereits

dadurch vorentschieden, daß Heidegger das Dasein als Existenz definiert und in

dieser Existenz den Ursprung des Seinsverständnisses vom Standpunkt des Sei-

enden findet: Wenn das Seiende durch die ausstehende Seinsweise des Daseins

als ein von meinem Sein gesondertes Sein zur Erscheinung kommt, ist die Frage

nach dem Sein selbst, das nicht auf dieses Seiende zurückgeführt werden soll,

eigentlich nur durch einen Begriff des Seins zu beantworten, der diese Trennung

zwischen dem Dasein und dem Seienden (Vorhandenheit) wieder zu einer Einheit

bringen kann. Gerade dieses Sein, verstanden als eine absolute Einheit, ist Gott

im Schleiermacherschen Sinn.

Allerdings scheint mir in Heideggers Fassung der Seinsfrage eine unüberwindli-

che Ambiguität zu liegen: Heidegger spricht vom Sein selbst, ohne dabei aber

eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie das Dasein, dessen Da das Seinsverständnis

und folglich die existenziale Trennung zwischen meinem Sein und dem anderen

Seienden ermöglicht, konkret zu der Einsicht gelangen kann, daß dieses Seinsver-

ständnis kein adäquates Seinsverständnis ist. Zwar weist Heidegger mit seiner

Analyse des Angstphänomens darauf hin, daß wir ein Bewußtsein des Seins

selbst haben, das uns dann zum Bewußtsein der Nichtigkeit der Welt führen soll.

Aber die konkrete Möglichkeit dafür, daß sich die Welt dem Dasein letztlich als

ein Nichts zeigt, wird bei Heidegger nicht erörtert. Der Grund für diesen Mangel

besteht m. E. darin, daß Heidegger – anders als Schleiermacher – das Dasein

lediglich von dem Standpunkt der formal-ontologischen Strukturanalyse aus be-

trachtet, ohne dabei den konkreten Wirkungszusammenhang zwischen dem Da-

sein und dem Seienden zu berücksichtigen.

Im vierten Kapitel soll daher gezeigt werden, daß Schleiermacher durch seinen

Versuch, das Selbstbewußtsein in bezug auf den konkreten Wirkungszusammen-

der undurchdringlichen Dichte konkret meint, die allerdings noch eine weitere Metaphorik des Seins als einer Fülle voraussetzt. Oder man muß vielmehr fragen, aus welchem Grund Heidegger, auch wenn er die Wahrheit des Seins durch die Metaphorik der Waldlichtung zu erklären versucht, das Sein nicht explizit als eine Kraftfülle – Sein als Dynamis – versteht. Vgl. M. Heidegger, Bei-träge zur Philosophie, a.a.O., S. 30 f.; 71 ff.; O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 158 ff.

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hang zwischen den Seienden zu betrachten, eine wichtige Entdeckung der moder-

nen Phänomenologie vorweggenommen hat, die Rede ist von Merleau-Pontys

Einsicht in die fundamentale Leiblichkeit des Daseins, mit der er seine Phänome-

nologie der Wahrnehmung sowohl von der Phänomenologie Husserls als auch

von der Ontologie Heideggers kritisch distanziert. 501 Mit seinem Begriff der

Leiblichkeit weist Merleau-Ponty darauf hin, daß das Da des Daseins, durch das

die Räumlichkeit und Zeitlichkeit und somit durch das Seinsverständnis von dem

Standpunkt des Seienden überhaupt erschlossen wird, nicht als eine leere Struk-

turform der Existenz verstanden werden soll, sondern zugleich als ein Verweis

auf einen konkreten und wirklichen Leib des Daseins, mit dem das Dasein in ein

konkretes Lebensverhältnis mit dem weltlich Seienden tritt.502 Schleiermacher

hat diese leibliche Dimension des Daseins nicht nur vorweggenommen. Darüber

hinaus hat er auch eine ganz besondere Funktion des intentionalen Bewußtseins

entdeckt, in dem er das Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre als ein Bewußt-

sein definiert, in dem die „Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als

mitwirkende Ursache“ stattfindet.503 Die Intentionalität des Bewußtseins führt

Husserl zu einer transzendental-idealistischen Umformung der Phänomenologie,

da etwas, worauf das Bewußtsein bezogen ist (Bewußtsein als Bewußtsein von

etwas) stets nur als ein bereits durch den Akt des Bewußtseins Aufgefaßtes mög-

lich ist: Man darf kein Ding an sich annehmen, da dieser Begriff des Dinges – das

angeblich unbestimmte Etwas – bereits einen auffassenden Bewußtseinsakt vor-

aussetzt, indem es zumindest als ein von dem anderen Sein gesondertes Sein her-

vorgehoben wird. Dabei übersieht Husserl aber, daß jedes in meinem Bewußtsein

aktuell gegenwärtige Phänomen, auf das mein intentionales Bewußtsein bezogen

ist, eine Vergangenheit hat: Ohne vorhergehende Zusammenwirkungen zwischen

501 Auch W. Pleger weist in einer kurzen Anmerkung zur Psychologie Schleiermachers darauf hin, daß für Schleiermacher das Denken mit dem konkreten Leib untrennbar verbunden ist: „In dem Maße, in dem das Denken an die organische Funktion des ‚Leibes‘ gebunden ist, bekommt auch das Problem des Leibesbewußtseins in Schleiermachers ‚Psychologie‘ eine besondere Bedeu-tung.“ (W. Pleger, Schleiermachers Philosophie, a.a.O., S. 142) Und direkt nach dieser Zitatstelle erwähnt Pleger die Phänomenologie der Wahrnehmung Merleau-Pontys als einen zentralen Text über die ‚Leiblichkeit‘. 502 Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 165 ff. 503 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31 f.

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meinem Sein und dem anderen Sein ist die Vergegenwärtigung eines bestimmten

Phänomens, durch die das Bewußtsein zum intentionalen Bewußtsein von etwas

wird, nicht möglich.

Nach Schleiermacher ist das Bewußtsein davon, daß unser Sosein auf ein etwas

als mitwirkende Ursache zurückzuführen ist, ein konstitutives Element jedes

wirklichen Selbstbewußtseins. Damit betont Schleiermacher zwei grundsätzliche

Thesen für eine Ontologie, in der es um das Sein selbst gehen soll: 1. Die phäno-

menologische Analyse des intentionalen Bewußtseins muß notwendig zur Ontolo-

gie führen, da gerade unser intentionales Bewußtsein selbst als ein Hinweis auf

eine mitwirkende Ursache außer mir fungiert. 2. Gerade im intentionalen Be-

wußtsein erkennen wir uns als ein Sein, das nie von einem anderen Sein isoliert

erscheint, sondern sich stets in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem

anderen Sein befindet. Somit ist nun auch der konkrete Grund dafür genannt, wa-

rum wir über unser natürliches Weltbewußtsein zum Seinsbewußtsein hinausge-

hen müssen: Im kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zeigt sich das ganze

Sein als ein absolut kontinuierliches Kraftfeld, das sich von der raum-zeitlichen

Relation zwischen den voneinander getrennten Seienden (Welt) grundsätzlich

unterscheidet. Und hierin liegt m. E. die wesentliche Überlegenheit der Schleier-

macherschen Philosophie gegenüber der Heideggerschen: Einen konkreten Grund

dafür, warum das Dasein über das natürliche Weltbewußtsein hinausgehen soll,

kann man bei Heidegger nirgends finden, während Schleiermacher durch seine

Entdeckung des dynamischen Wesens des intentionalen Bewußtseins eine ein-

leuchtende Erklärung dafür gibt, warum das ganze Sein nicht als eine Relation

der Differenzen (Welt), sondern als eine absolute Einheit (Gott) bezeichnet wer-

den muß.

Daß Heidegger nach der Kehre seiner Philosophie das Sein als das Einfache be-

zeichnet, ist eine notwendige Folge davon, daß die ausstehende Seinsweise des

Daseins (Ek-sistieren) für die Seinserschlossenheit verantwortlich gemacht wurde:

Wenn das Dasein in dieser Seinserschlossenheit das Sein als das Seiende versteht,

und wenn somit die Seinserschlossenheit durch das Da des Daseins zugleich die

Verdeckung des ursprünglichen Seinssinns (Verborgenheit) bedeutet, kann die

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Frage nach dem Sein selbst nur dadurch beantwortet werden, daß man einen

Seinsbegriff herausarbeitet, der die existenziale Trennung des Seins durch das Da

des Daseins wieder in eine Einheit bringt. Diese Möglichkeit bleibt für Heidegger

von Anfang an verschlossen, auch wenn er das Sein als das Einfache bezeichnet:

Heidegger gibt nirgendwo einen konkreten Grund dafür an, warum und in wel-

chem Sinn das Sein als das Einfache bezeichnet werden soll. Daß das Sein das

Einfache sei, ist für Heidegger ein begrifflicher Gegensatz der existenzialen Ur-

differenz, ein nur aus der Gegenüberstellung des Seins und der existenzialen Ur-

differenz abgeleiteter Begriff, der weder im faktischen Bewußtseinsleben des

Daseins noch in einer Entdeckung der konkreten Seinsweise alles Seienden sei-

nen Ursprung hat. Schleiermacher darf also nicht nur als ein Vorgänger für die

Phänomenologie Husserls oder für die Ontologie Heideggers bezeichnet werden.

Er entwickelt vielmehr eine phänomenologische Ontologie, die in vielerlei Hin-

sicht konsequenter und grundlegender ist als die moderne Phänomenologie bzw.

phänomenologische Ontologie. Die Eigentümlichkeit der Schleiermacherschen

Philosophie muß also besonders hergehoben werden; nicht nur um die Differenz

zwischen Schleiermacher, Husserl und Heidegger deutlich zu machen, sondern

darüber hinaus um den vielversprechenden Ansatz Schleiermachers für die weite-

re Entwicklung der heutigen Philosophie fruchtbar zu machen.

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1. Schleiermachers Begriff der Religion und die phänomenologische Reduk-

tion

Schleiermachers Religionsphilosophie unterscheidet sich, auch wenn sie im

Grund genommen als phänomenologisch bezeichnet werden kann, in vielerlei

Hinsicht von der Husserlschen Phänomenologie. Wenn man daher die Beziehung

zwischen der Phänomenologie einerseits und Schleiermachers Philosophie ande-

rerseits erläutern möchte, ist es notwendig, daß man die Gemeinsamkeiten beider

Positionen in bezug auf inhaltliche Aussagen und methodische Fragen untersucht.

Da Heidegger in seiner Konzeption sowohl von Husserl als auch von Schleierma-

cher beeinflußt ist, ist es interessant zu sehen, inwiefern die Methode von Schlei-

ermacher der phänomenologischen Reduktion ähnelt, und in welchen inhaltlichen

Aussagen er etwa mit Husserl übereinstimmt bzw. wo deutliche Unterschiede zu

finden sind.

In diesem Kapitel soll daher zunächst untersucht werden, wie Schleiermacher zu

der Frage der Realität der Welt in der Wahrnehmung steht (1.1.), bzw. inwiefern

die Welt für ihn aufgrund ihres phänomenischen Wesens ein ‚Nichts‘ darstellt

(1.2.). Auch das Verhältnis zwischen dem Denken und seinem Gegenstand bei

Schleiermacher soll analysiert werden (1.3.), so daß abschließend die Frage nach

dem Verhältnis zwischen der Leiblichkeit und der Vernunftbestimmtheit unserer

Welterfahrung erörtert werden kann (1.4.).

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Schleiermacher und Husserl be-

steht freilich in der Rolle des ‚Ichs‘. Während Schleiermacher das Wesen des Ichs

als das phänomenale Ich versteht, das nur durch die Inhärenz im unendlichen Sein

existent sein kann, schlägt Husserls Phänomenologie nach dem Erscheinen der

Ideen I (1913) in einen transzendentalen Idealismus um. Husserl geht nun von der

Existenz des reinen Ichs aus, während die Welt als ein Bewußtseinskorrelat be-

zeichnet wird.

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Im §47 der Ideen I, der den Titel Die natürliche Welt als Bewußtseinskorrelat

trägt, weist Husserl auf die Möglichkeit der radikalen Ausschaltung aller Seins-

setzungen in der natürlichen Einstellung hin: „[…] in der gedanklichen Destruk-

tion der dinglichen Objektivität – als Korrelats des Erfahrungsbewußtseins –

hemmen uns keine Schranken.“504 Dagegen ist das reine Ich für Husserl nicht

ausschaltbar. Im §57 (Die Frage der Ausschaltung des reinen Ich) kommt Hus-

serl zu dem Ergebnis, daß „das reine Ich ein prinzipiell Notwendiges“ ist.505 Die

phänomenologische Idee des reinen Ichs ist mit einem Paradoxon verbunden. Es

kann einerseits „in keinem Sinn als reelles Stück oder Moment der Erlebnisse

gelten“. Es muß aber zugleich „als ein bei allem wirklichen und möglichen

Wechsel der Erlebnisse absolut Identisches“ verstanden werden.506 Das reine Ich

ist zwar kein Sein, das wie ein dinghaftes Seiendes empirisch als vorhanden kon-

statierbar wäre; aber man muß nach der konsequenten Durchführung der phäno-

menologischen Reduktion zu dem Ergebnis kommen, daß letztlich das reine Ich

allein als ein solches Sein verstanden werden soll, das nicht durch die phänome-

nologische Reduktion ausgeschaltet werden kann. Husserl faßt seine idealistische

Position „in Kantischer Sprache: ‚Das ‚Ich denke‘ muß alle meine Vorstellungen

begleiten können‘“ zusammen.507

1.1. Das Problem der realen Welt

Trotz dieses wichtigen Unterschieds in Bezug auf die Rolle des Ichs, darf Hus-

serls Position nicht schlechthin als ein Gegenpol zu Schleiermachers Position

verstanden werden. Erstens ist Schleiermachers Philosophie keineswegs als ein

Realismus zu bezeichnen, wenn man darunter den üblichen Sinn dieses Begriffes

versteht. Wie wir im letzten Teil gesehen haben, ist die Welt für Schleiermacher

kein adäquater Name für das ganze Sein: Die Welt ist von dem räumlichen Ge-

gensatz von Innen und Außen abhängig, während das ganze Sein nicht einen sol-

504 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 100. 505 Ebd., S. 123. 506 Ebd. 507 Ebd.

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chen Gegensatz haben kann. Gott, das ganze Sein, muß absolut innerlich sein,

und man darf daher dem ganzen Sein keine räumliche Ausdehnung beilegen.

Schleiermachers Philosophie ist also kein Realismus, wenn dieser Begriff von der

Frage, ob die Welt als real anerkannt werden soll, abhängig ist. 508 Zweitens

nimmt Husserls Idealismus selbst nicht an, daß die wirkliche Welt von dem Ich

getragen würde. Husserl behauptet zwar, daß wir phänomenologisch, auch wenn

es sich hierbei nur um eine gedankliche Destruktion handelt, die Seinssetzung

aller dinglichen Objektivität außer Geltung setzen können. Wenn es sich aber um

die Ausschaltung der dinglichen Objektivität handelt, kann man ohne Zweifel

davon ausgehen, daß auch Schleiermacher eine ähnliche Position wie Husserl

vertritt. Unser Weltbewußtsein wird für Schleiermacher von einem unaufhebba-

ren Widerspruch begleitet: Das ganze Sein kann keinen Gegensatz von Innen und

Außen haben, während die Welt notwendig als raum-zeitliche Relation zwischen

den einzelnen Dingen vorkommt. Die Realität der dinglich-seienden Entitäten ist

also auch für Schleiermacher nicht selbstverständlich. Wie wir im letzten Teil

gesehen haben, zeigt sich bereits in seiner Jugendschrift über den ‚Spinozis-

mus‘ der Gedanke, der für eine phänomenologische Philosophie von wesentlicher

Bedeutung ist: Die Welt ist nicht frei von der Möglichkeit, ein Nichts zu sein, d. h. 508 Allerdings darf man hierbei die Position Schleiermachers auch nicht mit dem Kantischen Phä-nomenalismus identifizieren. Bereits für die Philosophen der Romantik und des Idealismus be-steht die Grenze des Kantischen Phänomenalismus darin, daß bei Kant die Vernunft letztlich auf der Suche nach einer absolut gültigen Wahrheit über das wirkliche Sein zum Scheitern verurteilt ist. Ebenso versucht auch Schleiermacher durch seine kritische Auseinandersetzung mit Kant zu zeigen, zu welchem alternativen ontologischen Seins- und Gottesverständnis der Ausgang von dem Gedanken der Phänomenalität der Welt führen kann. Daß Gott nicht durch ein theoretisches Denken ergründbar ist, hat in diesem Sinn doch einen rationalen Kern in sich: Es steht nach der philosophischen Beweisführung der Phänomenalität der Welt fest, daß sich das ganze Sein nicht als eine raum-zeitliche Relation, die den Ausgangspunkt unseres theoretischen Wissens bildet, definieren läßt. Erst nach der Anerkennung dieses philosophischen Tatbestandes kann man ein wahrhaft rationales, vom Vorurteil des natürlichen Weltbewußtseins befreites Denken beginnen. Wir werden im Verlauf dieses Teiles sehen können, daß Schleiermacher seinem Begriff des rei-nen Denkens diese Möglichkeit zuweist. Vgl. „Kant sah in dem Selbstwiderspruch ein Scheitern der Vernunft am Verstande; in der notwendigen Beziehung auf das Unbedingte werde die Ver-nunft auf die für diesen Zweck untauglichen Mittel des Verstandes zurückgeworfen. Die Konse-quenz, die Kant daraus zog, war die Restriktion des Vernunftgebrauchs im transzendentalphiloso-phischen Sinne. Für Schlegel, Schelling und Schleiermacher dagegen hat es die Dialektik mit der Hervorbringung objektiv gültigen Wissens zu tun; in ihr werde die Wahrheit erreicht (Schlegel), das Urwissen (das Unbedingte) ausgedrückt (Schelling) bzw. sei der Unterschied konstitutiver und regulativer Prinzipien aufgehoben (Schleiermacher).“ A. Arndt, ‚Zur Vorgeschichte des Schleiermacherschen Begriffs von Dialektik‘, in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin / New York 1991, S. 331 f.

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letztlich nichtig zu sein. Das eigentlich Wahre und Reelle in der Seele ist das Ge-

fühl des Seins, behauptet der junge Schleiermacher unter dem Einfluß der Jacobi-

schen Spinoza-Auslegung. Eigentlich existiert nichts außer diesem Gefühl des

Seins und alle einzelnen Begriffe sind nur als seine Offenbarungen möglich.509

Allerdings impliziert der Begriff der Offenbarung, daß das Weltbewußtsein einen

Seinsgrund hat. Der junge Schleiermacher macht aber zugleich deutlich, daß die

Existenz einzelner Dinge keineswegs selbstverständlich ist. In seiner kritischen

Auseinandersetzung mit Kant (und Spinoza) behauptet Schleiermacher, daß „die

Individualität der Erscheinungen“ „nichts anderes als die Cohäsion, die identische

Vereinigung der Kräfte einer gewissen Masse an einem Punkt“ bedeutet.510 Al-

lerdings kann diese Formulierung als sehr ungenau kritisiert werden, besonders

weil Schleiermacher keine weitere Erklärung dafür gibt, was er mit dem Aus-

druck Kohäsion genau meint. Aber mit einer jugendlichen Offenheit bringt

Schleiermacher sein Mißtrauen gegen den Ausgangpunkt des Kantischen Phäno-

menalismus zum Ausdruck. Das Ding an sich ist anders als das Phänomen; eben

„das ist es wovon Kant ausgeht.“511 Schleiermacher zufolge erkennt man hieraus,

daß für Kant das Ding an sich die verborgene Realität des Phänomens bedeutet.

Gerade diese Grundvoraussetzung des Kantischen Dinges an sich scheint aber

Schleiermacher fragwürdig: „ […] jeder Erscheinung liegt also ein Ding zum

Grunde; war es aber Recht hierbei stehn bleiben?“512

Husserls Einsicht in die transzendentale Möglichkeit, daß die Welt ein Nichts

sein kann, steht also nicht im Widerspruch mit der Grundposition Schleierma-

chers. Daß Schleiermachers Begriff der Offenbarung den einzelnen Dingerschei-

nungen einen ontologischen Seinsgrund verschafft, kann auch nicht geradehin als

ein Grund dafür verstanden werden, Schleiermachers Philosophie der Husserl-

schen Phänomenologie gegenüberzustellen. Husserls Rede von der phänomeno-

logischen Ausschaltung der dinglichen Welt kann keineswegs als eine ontologi-

509 Vgl., F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 535. 510 F. Schleiermacher, ‚Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems‘, S. 573 f. 511 Ebd. 512 Ebd.

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sche Entscheidung der Frage, ob die reale Welt wirklich existiert, verstanden

werden.

Für Husserl bedeutet die phänomenologische Reduktion nicht die Negation der

wirklich existierenden Welt. Husserl will vielmehr zeigen, daß die Rede von der

realen Welt selbst problematisch ist. Der entscheidende Punkt ist dabei, daß wir

die Welt nur in ihrer subjektiven Gegebenheit erfahren können und nicht in einer

vom Subjekt unabhängigen Realität. Die angebliche Objektivität ist eigentlich der

vom Bewußtsein erfaßte Sinn, unter dem man selbstverständlich nicht irgendeine

bloße Illusion oder sachferne Phantasierei verstehen darf. Das Rote, als das wir

eine Rose wahrnehmen, ist in der Tat keine Illusion. Es ist aber auch keine Reali-

tät, sondern eine subjektive Gegebenheit, ohne die unsere Erfahrung nicht mög-

lich ist.

1.1.1. Die Wahrnehmung und das Urteil

Die subjektive Gegebenheit im Husserlschen Sinn ist notwendig mit dem urtei-

lenden Akt des Bewußtseins verbunden. Husserl betont, daß er „unter dem Titel

Gegebenheit […] die Erfaßtheit, und bei der Wesensgegebenheit die originäre

Erfaßtheit“ mitmeint.513 Die Rede von der realen Welt ist für Husserl schon des-

wegen widersinnig, weil wir erst dann von der Realität sprechen können, wenn

etwas als das real Seiende aufgefaßt ist. Was wir als etwas Reales erfaßt haben,

ist schon das Wahrgenommene, das im Vermeinen Vermeinte, im Urteilen Geur-

teilte; es ist immer ein Phänomen, ein Zusammenhang der subjektiven Gegeben-

heiten, der ohne den sinngebenden Akt des Bewußtseins nicht möglich ist.514 Daß

Husserl damit weder einen subjektiven Idealismus der Berkleyschen Prägung

noch ein Kantisches Ding an sich mit meint, ist hinreichend bekannt. Das Ding an

sich ist ein Begriff, der erst nach der philosophischen Reflexion über das phäno-

menale Wesen unseres Weltbewußtseins entsteht. Es entspricht weder der Seins-

setzung des natürlichen Weltbewußtseins, die keineswegs mit der philosophi-

513 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 143. 514 Vgl. ebd., S. 120 f.

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schen Frage nach der verborgenen Realität hinter der Erscheinungswelt verbun-

den ist; noch dem echt philosophischen Problembewußtsein, da sein Ausgangs-

punkt die unbefragte Existenz der dinglichen Welt ist. In Wahrheit ist das Ding

an sich selbst ein Begriff, der vom sinngebenden Akt des Bewußtseins abhängig

ist; nur dadurch, daß die Welt als Sachrelation zwischen den einzelnen Dingen

erfaßt wird, können wir von einem Ding an sich sprechen. Eben deshalb sagt

Husserl im §55 der Ideen I, in dem der Unterschied zwischen seiner Phänomeno-

logie und dem subjektiven Idealismus beschrieben wird, daß ein Begriff wie die

„absolute Realität“ ihm wie „ein rundes Viereck“ vorkommt.515

Husserls These, daß in der Formulierung der subjektiven Gegebenheit der Welt

die vom Erfahrungssubjekt geleistete Erfaßtheit mitgemeint ist, wird auch von

Schleiermacher vertreten. In seiner wichtigen Arbeit über Schleiermachers Mu-

sikphilosophie stellt G. Scholtz nicht nur Schleiermachers Theorie der Ästhetik

dar, sondern er analysiert darüber hinaus auch die Wahrnehmungstheorie von

Schleiermacher, die für das phänomenologische Wesen seiner Philosophie von

entscheidender Bedeutung ist. Dabei besteht der entscheidende Punkt, wenn ich

richtig sehe, im Begriff des Bewußtseinsaktes. Nach Scholtz ist das Wahrgenom-

mene für Schleiermacher bereits ein Ergebnis des Bewußtseinsaktes und hierin

liegt der Grund dafür, daß man in der Wahrnehmungstheorie Schleiermachers

eine phänomenologische Stellungnahme in der Frage nach dem Wesen der Welt-

erscheinung erblicken kann: „In seiner phänomenologischen Analyse der Ton-

wahrnehmung kommt R. Ingarden zu dem Ergebnis, daß bereits der wahrge-

nommene individuelle Ton nur durch einen Bewußtseinsakt in voller Klarheit

‚vermeint und als identisch derselbe erfaßt‘ wird, während die akustischen Emp-

findungsdaten nur eine immer wieder verschwindende Mannigfaltigkeit seien.

Die Phänomenologie, die von der Wahrnehmung ausgeht, bestätigt so Schleier-

macher, der bei der produktiven Phantasie ansetzt: der Ton als bestimmter ist

bereits Ergebnis eines Bewußtseinsaktes.“516

515 Ebd., S. 120. 516 G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, S. 109 f. Vgl. R. Ingarden, Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, Tübingen 1962, S. 21.

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Für Schleiermacher sind die produktive Einbildungskraft und die Wahrnehmung

untrennbar miteinander verbunden. Einerseits muß man, solange das Wesen der

ästhetischen Kunsterfahrung richtig verstanden werden soll, daran festhalten, daß

die Wahrnehmung eine notwendige Voraussetzung für die Kunsterfahrung ist:

„Kein inneres Sehen und Hören – weder reproduktives noch produktives – kann

ohne organische Tätigkeit, ohne Affektionen und sinnliche Wahrnehmungen ge-

dacht werden. Denn aus der Wahrnehmung ergibt sich ‚der einzige unmittelbare

Stoff aller Combination‘.“517 Aber andererseits darf man nicht annehmen, daß die

Wahrnehmung ohne Akte des Bewußtseins stattfände, bevor das Bewußtsein

gleichsam aus den völlig unveränderten irgendwo im Bewußtsein angehäuften

Sinnesdaten bestimmte Bilder und Melodien hervorbringen würde. Denn „ande-

rerseits gehört zum Wahrnehmen bestimmter Bilder schon immer innere Tätigkeit,

Kombination hinzu, schon deshalb, da der Wahrnehmungsvorgang nicht ohne

Gedächtnis denkbar ist“.518

Dieser Gedanke betrifft nicht nur den Fall der ästhetischen Wahrnehmung. Man

muß vielmehr, wie Scholtz überzeugend darlegt, davon ausgehen, daß der erfas-

sende Bewußtseinsakt für Schleiermacher von wesentlicher Bedeutung für alle

Momente der Wahrnehmung ist.

1.1.2. Schleiermachers Analyse der Wahrnehmungsstruktur

In seiner Dialektik weist Schleiermacher auf den „Irrtum“ hin, „daß man sich

denkt, Begriff und Bild wären noch anderweitig verschieden. Das Bild stelle nur

den bestimmten Gegenstand dar, wie die organischen Eindrücke darin vereinzelt

sind, der Begriff dagegen allein das Allgemeine. Das ist unrichtig.“519 Sowohl

Begriff als auch Gegenstandbild sind eine Verbindung von dem Allgemeinen und

dem Besonderen: „Der Begriff kann in der mannigfaltigsten Abstufung des All-

517 G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, a.a.O., S. 99. 518 Ebd. 519 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 173.

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gemeinen und des Besonderen gesetzt sein“; gleichzeitig ist es aber auch wahr,

daß „[d]as Bild derselben Abstufung fähig [ist].“520

Schleiermacher behauptet, „daß auch das allerallgemeinste Denken eine sinnli-

che Beimischung hat.“521 Wenn nun das Gegenstandsbild auch als eine Verbin-

dung von dem Allgemeinen und dem Besonderen verstanden werden soll, muß

man ohne Zweifel davon ausgehen, daß auch das allersinnlichste Gegenstandsbild

eine begriffliche Beimischung hat. Wie ist dies möglich?

1.1.3. Schleiermachers Analyse der Einheit von Bild und Begriff in der Wahr-

nehmung

Der Grund dafür, warum auch das Bild der Abstufung des Allgemeinen und des

Besonderen fähig ist, besteht darin, daß unsere Wahrnehmung immer eine Einheit

des Selbstbewußtseins und des gegenständlichen Bewußtseins ist. Nach Schlei-

ermacher „gibt es keine Wahrnehmung, worin nicht unser Selbstbewußtsein und

das Bewußtsein des gegenständlichen Seins eins wären.“522 Damit meint Schlei-

ermacher, daß das Wahrgenommene nur als eine Einheit des Idealen und des Rea-

len möglich ist: „Das Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein des Denkens, das Ide-

ale, das objektive Bewußtsein das Reale.“523

Nun darf man nicht annehmen, es gebe für Schleiermacher das ideale Sein einer-

seits und das reale Sein andererseits. Mit dem Gegensatz von Selbstbewußtsein

und objektivem Bewußtsein, dem Idealen und dem Realen, der bei jeder Wahr-

nehmung bemerkbar sein soll, versucht Schleiermacher die notwendige Form des

Wissens aufzuzeigen: „Innerhalb desselben müssen alle Denkoperationen begrif-

fen sein und die Totalität aller Beziehungen unserer selbst als Seiender auf das

Denken und als Denkender auf das Sein.“524 Weder im Wahrnehmen noch im

Denken können wir über die Grenze dieses im Wissen eine Einheit bildenden

Gegensatzes von dem Idealen und dem Realen hinausgehen. Das Wahrnehmen

520 Ebd. 521 Ebd. 522 Ebd., S. 178. 523 Ebd. 524 Ebd.

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bedeutet also nicht nur ein passives Hinnehmen äußerer Einwirkung; es ist zu-

gleich ein Tun, ein urteilender Bewußtseinsakt, durch den allein wir die Möglich-

keit haben, etwas als etwas Sinnhaftes überhaupt zu erfassen.

Das zeigt sich am deutlichsten in Schleiermachers Unterscheidung von Empfin-

dung und Wahrnehmung: „Beide [Empfindung und Wahrnehmung] beziehen sich

auf die organische Affektion. Aber die Empfindung ist mehr nach innen gekehrt,

eine Aussage über das Affizierte (über das Affiziertsein); die Wahrnehmung mehr

nach außen gewendet, eine Aussage über das Affizierende.“525 Schleiermacher

versteht auch hier die Wahrnehmung nicht nur als eine Quelle des Urteils, son-

dern zugleich – wie Scholtz aufweist – als ein Urteil selbst, d. h. als ein Bewußt-

seinsakt, durch den etwas als das Wahrgenommene, als das Aufgefaßte, zum Be-

wußtsein kommt: „Beim Wahrnehmen ist immer schon die intellektuelle Seite

beteiligt, insofern das Wahrgenommene uns zum Bewußtsein kommt.“526

Bereits in dieser Theorie der Wahrnehmung kann man deutlich erkennen, daß

Schleiermachers Philosophie in vielerlei Hinsicht die phänomenologische Analy-

se der intentionalen Grundstruktur des Bewußtseins, die F. Brentano entdeckte

und sein Schüler E. Husserl in Richtung auf die transzendentalphilosophische

Dimension weiter entwickelte, vorweggenommen hat. Das Bewußtsein ist in sei-

nem wachen Zustand immer auf etwas bezogen, kommt immer in der Form des

Bewußtseins von etwas vor. Die Empfindung kann zwar nicht als ein Urteil be-

zeichnet, und kann daher auch nicht als ein urteilendes Bewußtsein von etwas

aufgefaßt werden. Bereits in dem Moment aber, in dem wir uns einer Empfin-

dung, die notwendig in der Form von meinen Schmerzen, meinen Lustgefühlen

vorkommt, bewußt werden, haben wir uns selbst vergegenständlicht; das Bewußt-

sein ist hier ein Bewußtsein von sich selbst als dem Empfindenden: „Das Urteil

aber geht nicht von der Empfindung aus. Ein Urteil, das unseren eigenen Zustand

beschreibt, ist bereits ein Akt der Wahrnehmung, in dem wir uns selbst als Emp-

findende gegenständlich werden.“527 Ferner kann man auch davon ausgehen, daß

etwa die reine Empfindung, die von dem urteilenden Bewußtseinsakt unabhängig

525 Ebd., S. 250. 526 Ebd., S. 158. 527 Ebd.

258

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wäre und daher nicht in der Form des Bewußtseins von etwas vorkommen würde,

für Schleiermacher kein wirkliches Lebensmoment ist. Daher bezeichnet Schlei-

ermacher das „Empfinden“ als einen Grenzbegriff, d. h. als einen „Begriff“, der

„die Grenze des Denkens nach der Seite der Empfindung“ zeigt.528

1.2. Die Welt und das Nichts

Es ist nun schwer zu erklären, warum die Positionen von Schleiermacher und

Husserl als philosophisch entgegengesetzt betrachtet werden sollen, obwohl beide

fast in jeder Hinsicht denselben Ausgangspunkt haben. Das Bewußtsein ist so-

wohl für Husserl als auch für Schleiermacher stets das Bewußtsein von etwas.

Husserl gelangt nun aber nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion

zu einem transzendentalen Idealismus, auch wenn er darunter keine ontologische

Entscheidung über die Frage nach der Existenz der realen Welt versteht. Dagegen

nimmt Schleiermacher, obwohl die Realität der dinglichen Welt auch für ihn

nicht selbstverständlich ist, keine idealistische Position ein. Worin besteht nun

der Unterschied zwischen den beiden Denkern?

Muß man vielleicht in der These Schleiermachers, daß die Wahrnehmung immer

als eine Einheit des Idealen und des Realen möglich ist, eine realistische Position

erblicken, die in einem Gegensatz zum Husserlschen Idealismus steht? Ich nehme

wahr, daß der Stein, den ich jetzt berühre, hart ist. In diesem Wahrnehmungsakt

bilden zweifelsohne das Selbstbewußtsein (das Ideale) und das objektive Bewußt-

sein (das Reale) eine Einheit: Die Erfahrung der Härte des Steins ist nur dann

möglich, wenn ich etwas als mir hart Vorkommendes erfasse, was gerade als sol-

ches außer mir real existieren soll. Ich nehme wahr, daß ein blauer Vogel vorbei

fliegt, dessen Schnelligkeit oder dessen Höhe ohne ein Bewußtsein von mir als

dem sich auf der Erde Befindlichen nicht möglich ist. Die Härte, die Schnelligkeit

und die räumliche Befindlichkeit sind die Ideale, da sie ohne Bezug auf das

wahrnehmende Selbst nicht vorkommen können; sie sind aber notwendig auf das

528 Ebd., S. 188.

259

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objektive Bewußtsein bezogen, da sie ohne Seinssetzung von etwas nicht möglich

sind. Heißt das, daß die Wahrnehmung die Realität der dinglichen Welt garantiert?

Erinnern wir uns nur daran, daß bereits in Schleiermachers Jugendschrift ‚Kurze

Darstellung des Spinozistischen Systems‘ seine skeptischen Äußerungen über den

Kantischen Begriff des Dinges an sich enthalten sind; die Voraussetzung, daß

jeder Erscheinung ein Ding an sich zugrunde liegen soll, ist für Schleiermacher

gar nicht selbstverständlich. Auch mit der – dogmatischen – Gleichsetzung der

Erscheinungswelt mit der realen Welt der Dinge an sich kann man nicht der ei-

gentlichen Intention Schleiermachers treu werden. Die Welt wäre dann für

Schleiermacher als real zu bezeichnen, nicht nur in bezug auf ihre Existenz, son-

dern auch in bezug auf den Geltungsanspruch des natürlichen Weltbewußtseins,

so daß die Welt an sich gerade so, wie sie uns erscheint, real existieren würde. In

diesem Fall müßte man seine Philosophie einen naiven Objektivismus nennen.

Das ist allerdings nicht der Fall. Für Schleiermacher gilt, daß das ganze Sein mit

Hilfe des natürlichen Weltbewußtseins, das notwendig mit dem räumlichen Ge-

gensatz von Innen und Außen verbunden ist, nie richtig aufgefaßt werden kann.

Die Dingwahrnehmung, in der notwendig das Sein eines realen Gegenstandes

mitgesetzt sein soll, garantiert also für Schleiermacher keineswegs die Realität

der dinglichen Welt.

Man muß auf jeden Fall daran festhalten, daß der Unterschied zwischen Husserl

und Schleiermacher nicht in der philosophischen Entscheidung über die Realität

der dinglichen Welt liegen kann; es ist für beide gar nicht selbstverständlich, die

dingliche Welt als real zu setzen. Man kann m. E. sogar davon ausgehen, daß

Schleiermacher mit dem, was Husserl als notwendige Folge der phänomenologi-

schen Reduktion aufweist, einverstanden sein würde: die transzendente Welt kann

phänomenologisch als Nichts gesetzt werden.

Im §49 der Ideen I, in dem das reine oder transzendentale Bewußtsein als das

phänomenologische Residuum nach der phänomenologischen Reduktion be-

zeichnet wird, weist Husserl darauf hin, daß die Dingwelt für das Sein des Be-

wußtseins nicht notwendig ist. Husserl behauptet, „daß das Sein des Bewußtseins,

jedes Erlebnisstromes überhaupt, durch eine Vernichtung der Dingwelt zwar

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notwendig modifiziert, aber in seiner eigenen Existenz nicht berührt würde.“529

Die Radikalität dieser Aussage darf wiederum nicht als ein Grund dafür betrach-

tet werden, Husserls Phänomenologie als einen subjektiven Idealismus zu kenn-

zeichnen. Auch hier wiederholt Husserl seine eigene Position, daß die Frage nach

der realen Welt erst nach der philosophischen Reflexion über das phänomenische

Wesen des Weltbewußtseins entsteht. Sie ist von einem falschen Problembewußt-

sein motiviert: die Frage, ob es die transzendente Dingwelt außerhalb meines

Bewußtseins geben sollte, beruht auf der Ignoranz des phänomenologischen Tat-

bestandes, daß die Vorstellung der Welt als Sachrelation zwischen den dinglich

Seienden selbst ohne den sinngebenden Akt des Bewußtseins einfach unmöglich

ist: „Denn Vernichtung der Welt besagt korrelativ nichts anderes, als daß in je-

dem Erlebnisstrom (dem voll, also beiderseitig endlos genommenen Gesamtstrom

der Erlebnisse eines Ich) gewisse geordnete Erfahrungszusammenhänge und

demgemäß auch nach ihnen sich orientierende Zusammenhänge theoretisierender

Vernunft ausgeschlossen wären. Darin liegt aber nicht, daß andere Erlebnisse und

Erlebniszusammenhänge ausgeschlossen wären.“530 Deutlich erkennbar ist hier,

daß die Vernichtung der Welt phänomenologisch nur in bezug auf die theoretisie-

rende Vernunft von Bedeutung ist. Die absolute Realität der dinglichen Welt ist

für Husserl ein rundes Viereck, da die Vorstellung der Welt selbst nur als ein

Korrelat des sinngebenden Bewußtseins möglich ist. Das reale Sein, das sich in

der Erscheinung zeigen soll, ist eben deshalb für Husserl eine unsinnige Annah-

me, weil es überhaupt nicht zu den Momenten des wirklichen Bewußtseinslebens

gehört: „Also kein reales Sein, kein solches, das sich bewußtseinsmäßig durch

Erscheinungen darstellt und ausweist, ist für das Sein des Bewußtseins selbst (im

weitesten Sinne des Erlebnisstromes) notwendig.“531

Hieraus entsteht nun ein phänomenologisches Paradoxon, daß nicht das trans-

zendente Sein, sondern das immanente Sein als das absolute Sein anerkannt wer-

den muß: „Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein,

529 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 104. 530 Ebd. 531 Ebd.

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daß es prinzipiell nulla ‚re‘ indiget ad existendum.“532 Was meint Husserl damit?

Damit meint Husserl nichts anderes als die philosophische Unzulänglichkeit des

naiven Glaubens, den Schleiermacher bereits in seiner Jugendschrift an Kant be-

mängelte: Der Erscheinung liege ein wirkliches Ding an sich zugrunde. Im §90

der Ideen I, in dem die Unterscheidung von immanenten und wirklichen Objekten

in der scholastischen Lehre der Intentionalität kritisiert wird, versucht Husserl

eine psychologistische Abbildtheorie zu widerlegen. Dabei liegt der Ausgang-

punkt darin, daß „die scholastische Unterscheidung zwischen ‚mentalem‘, ‚inten-

tionalem‘ oder ‚immanentem‘ Objekt einerseits und ‚wirklichem‘ Objekt anderer-

seits“533 auf jener unsinnigen Vorstellung beruht, daß der Erscheinung ein reales

Ding an sich zugrunde liege. Eine solche Unterscheidung zwischen immanentem

und wirklichem Objekt fordert, daß wir „der Wahrnehmung und konsequenter-

weise dann jedem intentionalen Erlebnis eine Abbildfunktion zumuten“ sollen.534

Husserl behauptet nun, daß sie „unausweichlich […] einen unendlichen Regreß

mit sich führt.“535 Sollten wir wirklich intentional auf das wirkliche Objekt ge-

richtet sein, das sich von seinem Phänomen unterscheidet? Heißt es dann nicht,

daß wir durch den Akt des intentionalen Bewußtseins ein Abbild von diesem

wirklichen Objekt als einen immanenten Bewußtseinsinhalt herausstellen? Was

soll nun passieren, wenn wir intentional auf dieses Abbild, einen immanenten

Bewußtseinsgehalt, gerichtet sind? Stellen wir dann noch einmal ein Abbild von

diesem Abbild heraus, das sich wiederum als einen immanenten Bewußtseinsin-

halt, auf das unser Bewußtsein intentional gerichtet sein kann, zeigt? Nein, eine

solche Vorstellung ist widersinnig. Es gilt vielmehr, daß wir eine solche Verdop-

pelung des intentionalen Objektes vermeiden sollen: „Das ‚wirkliche‘ Objekt ist

[…] ‚einzuklammern‘.“536

Jene These, daß das immanente Sein das absolute Sein ist, bedeutet in dieser

Hinsicht, daß wir eigentlich keinen Grund haben, ein wirkliches Objektsein anzu-

532 Ebd. 533 Ebd., S. 206. 534 Ebd., S. 208. 535 Ebd. 536 Ebd.

262

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nehmen, dessen Abbild das immanente Objektsein ist.537 In der natürlichen Ein-

stellung nehmen wir die Existenz einer wirklichen, transzendenten Dingwelt als

selbstverständlich an. In Wahrheit ist die Welt nur als ein Korrelat des sinnge-

benden Bewußtseins möglich: „Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt,

der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zu-

rechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den

bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat.“538 Daß die

Welt ein intentionales Sein ist, bedeutet für Husserl freilich nicht, daß es eine

wirkliche Welt hinter unserer Erscheinungswelt gäbe. Husserl meint überhaupt

nicht, daß sich unser Bewußtsein zuerst auf die reale Welt intentional bezieht und

dann durch verschiedene Bewußtseinsakte diese reale Welt als eine phänomenale

Welt rekonstruiert. Die Welt selbst ist lediglich „ein Sein, das das Bewußtsein in

seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von motivierten Er-

scheinungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar – darüber hinaus aber

ein Nichts ist.“539 Mit anderen Worten: Die Unterscheidung von der wirklichen

Welt und der phänomenalen Welt muß aufgehoben werden. Die Seinssetzung und

die Auffassung einer objektiven Welt geschehen in dem selben Moment; schon das

Bewußtsein von etwas Unbestimmten ist mit einem Auffassungssinn verbunden,

da es zumindest als ein vom anderen Sein gesondertes Sein aufgefaßt ist. Es ist

nicht so, daß man zuerst das Sein von etwas setzt und dann die konkreten Eigen-

schaften als die Merkmale von diesem etwas auffaßt. Vielmehr muß man sagen,

daß weder Seinssetzung von einem Gegenstand ohne Auffassungssinne noch

Auffassungssinn von einem Gegenstand ohne Seinssetzung möglich ist. Die Vor-

stellung, daß wir zuerst dem Sein der wirklichen Welt begegnen und durch die

537 Mit Recht weist T. Celms darauf hin, daß für Husserl auch das Phänomen des transzendenten Seins auf den sinngebenden Akt des Bewußtseins zurückzuführen ist: „Alle nichtichliche Trans-zendenz ist nach Husserl nichts weiter als ein identisch sich durchhaltender intentionaler Pol, d. h. etwas, das prinzipiell nur durch die Sinngebung da ist. Deshalb gelten letzten Endes nur die geis-tigen Zusammenhänge, auf die alle anderen Zusammenhänge zurückweisen. Die Transzendenz gehört zum Bewußtsein wesensnotwendig, aber nicht als dessen Bedingung, sondern als dessen notwendige Folge, die mit dem Wesen des Bewußtseins zugleich gegeben ist.“ (T. Celms, Der phänomenologische Idealismus Husserls und andere Schriften 1928 - 1943, Frankfurt a. M. 1993, S. 145.) 538 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 106. 539 Ebd.

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Akte des intentionalen Bewußtseins eine phänomenale Welt als deren Abbild

erzeugen, ist also falsch. Das Bewußtsein setzt das Sein der Welt gerade im Mo-

ment der Erfahrungen, in dem die Welt als Zusammenhang der subjektiven Ge-

gebenheiten aufgefaßt wird: „Gegeben ist ein Transzendentes durch gewisse Er-

fahrungszusammenhänge.“540 Die Rede von der objektiven Welt ist also eigent-

lich sinnlos. Das Objekt ist lediglich ein Begriff, der zwar in jedem Wahrneh-

mungs- bzw. Erfahrungsmoment als das objektiv Seiende gesetzt wird. In Wirk-

lichkeit kann aber kein angeblich objektives Sein von einem sinngebenden Akt

des Bewußtseins unabhängig sein; denn die Rede von einem gewissen Objektsein

hat nur in gewissen Erfahrungszusammenhängen Sinn, in denen eine rote Rose,

ein zerbrochener Krug, ein blauer Vogel, ein laufender Hund usw. als die Seien-

den, die gerade wegen der Auffassungsinne wie rot, zerbrochen, blau, laufend

usw. als etwas Reales gesetzt wird, vorkommen.

1.3. Schleiermachers Frage nach der Beziehung des Denkens zum Gegenstand

Schleiermachers Philosophie steht mit dieser phänomenologischen Negation der

objektiven Welt über weite Strecke im Einklang. In der Dialektik fragt Schleier-

macher nach dem Sinn der „Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegens-

tand“.541 Er analysiert „die Beziehung des Denkens zum Gegenstande“ und weist

zuerst darauf hin, daß wir beim Denken etwas, was zum Gegenstand des Denkens

gemacht wird, als das vom Denken Verschiedene setzen: „Den Gegenstand des

Denkens setzen wir als vom Denken verschieden.“542 Diese scheinbar selbstver-

ständliche Seinssetzung des Gegenstands zeigt sich nach einer philosophischen

Überlegung als nicht mehr so selbstverständlich.

540 Ebd., S. 104. 541 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 135. 542 Ebd.

264

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1.3.1. Die Seinssetzung beim Empfinden

Schleiermacher vergleicht das Denken mit dem Empfinden: „Wenn man denkt, so

denkt man etwas. Und dies verhält sich anders, als wenn man sagt: wenn man

empfindet, so empfindet man etwas.“543 Worin liegt nun der Unterschied zwi-

schen dem Empfinden und dem Denken? Darin, daß wir den Gegenstand des

Empfindens nicht als das vom Empfinden Verschiedene setzen.

Ich empfinde ein Glas, aus dem Ich Wasser trinke, als kalt. Das Glas ist dann kalt,

und ich habe beim reinen Empfinden keinen Grund dafür, das Glas im Unter-

schied zu meiner Empfindung als etwas Warmes zu setzen. Zwar kann ich viel-

leicht durch einige Überlegungen zu dem Ergebnis kommen, daß das Glas eigent-

lich nur lauwarm war; es wirkte auf mich nur deswegen kalt, weil meine Hände

aus irgendeinem Grund ziemlich warm waren. Dies weist aber nur darauf hin, daß

die Kälte nicht als eine objektive Eigenschaft eines äußeren Gegenstands zu ver-

stehen ist, sondern als etwas, was nur als Zusammenwirken zwischen dem Seien-

den und mir als dem Empfindenden möglich ist. In jedem aktuellen Moment des

Empfindens setze ich den Gegenstand gerade so wie ich ihn empfinde. Aber die

Kälte, die ich empfinde, ist nicht schlechthin außer mir, auch wenn ich beim

Empfinden der Kälte an das reale Sein eines kalten, auf mich so wirkenden Ge-

genstandes glaube. Ich denke z. B. beim aktuellen Empfinden nicht über die

Möglichkeit nach, daß das, was mir jetzt kalt erscheint, eigentlich ein lauwarmes

Ding sein kann. Das Empfundene ist nicht das Objekt, sondern die Kälte. Und

von der empfundenen Kälte kann man nicht sagen, daß sie auf etwas von der

empfundenen Kälte Verschiedenes verweist.

1.3.2. Die Seinssetzung beim Denken

Beim Denken ist es ganz anders. Wenn man z. B. beim Empfinden über die Mög-

lichkeit nachdenkt, daß der als kalt empfundene Gegenstand eigentlich nicht kalt

sein kann, ist es schon nicht mehr eine Sache des Empfindens; sondern des Den-

kens, wie es schon in diesem Konditionalsatz deutlich zum Ausdruck kommt. Wir

543 Ebd.

265

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sind nicht selten in der Lage, den Gegenstand des Denkens, das Gedachte, als das

von unserem Denken Verschiedene zu setzen. Es ist ja sogar die notwendige Be-

dingung des Denkens, daß das Gedachte als etwas von unserem Denken Ver-

schiedenes gesetzt wird. Denn wenn wir völlig davon überzeugt sind, daß das, auf

das sich unser Bewußtsein bezieht, gerade so ist, wie es mir erscheint, brauchen

wir nicht mehr zu denken. Nur deswegen, weil der gedachte Gegenstand von

meinem Denken über ihn verschieden ist bzw. verschieden sein kann, sind wir

zum Denken veranlaßt. Schleiermacher fragt nun: „Wie kommen wir dazu, das

Denken von der Empfindung so zu unterscheiden, daß wir das Gedachte außer

uns setzen, das Empfundene aber nicht?“544 Nach Schleiermacher gelangt man

hierbei gewöhnlich zu der Annahme eines real Seienden, das zum Gegenstand des

Denkens, zum Gedachten, gemacht wird: „Wir drücken dies gewöhnlich so aus:

das Denken bezieht sich auf ein Sein, und das Seiende ist überall der Gegenstand

des Denkens, und so wird uns erst darin das Gedachte ein Seiendes.“545

Auf den ersten Blick scheint diese gewöhnliche Denkweise selbstverständlich zu

sein. Sollte es das Seiende nicht geben, auf das sich unser denkendes Bewußtsein

bezieht, dann könnten wir nicht von einer Differenz zwischen dem Denken und

dem Gedachten sprechen. Schleiermacher selbst gibt eine Erklärung, die diese

gewöhnliche Denkweise zu bestätigen scheint. In der Betrachtung über den Beg-

riff der Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegenstand kommt Schleierma-

cher vor allem „auf den alten Streit, wie wir dazu kommen, das Denken auf etwas

außer uns zu beziehen.“546 Als Antwort dient Schleiermacher die Pluralität der

Subjekte, die bei einer umstrittenen Vorstellung vorausgesetzt werden muß:

„Man hat gestritten, inwiefern man berechtigt sei, aus unseren Gedanken heraus-

zugehen. Durch unsere Voraussetzung ist diese Frage schon entschieden. Insofern

kann man her-ausgehen, als die streitige Vorstellung eine Mehrheit von Subjekten

setzt. Und durch diese schon ist gesetzt, daß das Denken einen Gegenstand haben

muß, der von ihm unabhängig ist, nämlich das Denken des anderen.“547

544 Ebd. 545 Ebd. 546 Ebd. 547 Ebd., S. 136.

266

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Wenn es um eine Mehrheit von Subjekten geht, die bei dem Fall der streitigen

Vorstellung vorausgesetzt werden soll, kann man m. E. mit Schleiermacher

durchaus einverstanden sein. Zwar kann man sich auch vorstellen, daß eine frag-

würdige Vorstellung unabhängig von einem anderen Menschen hervortritt: ich

betrachte ein blaues Objekt als einen Vogel, aber ich bin aus irgendeinem Grund

selbst nicht sicher über mein Urteil. In diesem Fall muß man aber davon ausge-

hen, daß mein Selbst bei dem Fall der umstrittenen Vorstellung kein einheitlich

denkendes Subjekt bildet.

Schleiermachers Erklärung ist aber dennoch erklärungsbedürftig. Bei dem Fall

einer umstrittenen Vorstellung ist es klar, daß mein Denken einen Gegenstand

haben muß, der von meinem Denken unabhängig ist. Warum bezeichnet aber

Schleiermacher diesen Gegenstand nicht als das vom Denken unabhängig Seien-

de, sondern als das Denken des anderen? Man muß bei dem Fall der verschieden-

artigen Vorstellungen den Gegenstand des Denkens als das objektive Sein setzen.

Hierin liegt das wesentliche Merkmal der Denkweise, die Schleiermacher ge-

wöhnlich nennt. Worin liegt nun die philosophische Position Schleiermachers?

Aus welchem Grund nennt Schleiermacher den Gegenstand des Denkens, der von

meinem Denken unabhängig ist, nicht das real Seiende, sondern das Denken des

Anderen? Wohl nur aus dem Grund, daß die Rede von einem objektiv Seienden,

das unabhängig von meinem Denken existieren würde, philosophisch nicht be-

gründbar ist. Schleiermacher ist sich hier mit Husserl völlig einig; die absolute

Realität des objektiven Seins, das vom Denken verschieden sein soll, ist auch für

Schleiermacher so absurd wie ein rundes Viereck.

1.3.3. Die Welt als Auffassungssinn

Um des besseren Verständnisses halber hebe ich hier zuerst eine wichtige These

hervor, die Schleiermacher durch eine komplizierte Argumentation zu erklären

versucht: „Die Welt ist nicht der Ort für die unbestimmte Mannigfaltigkeit der

Impressionen, sondern dasjenige, was durch das Denken schon bestimmt ist.“548

548 Ebd., S. 153.

267

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Mit anderen Worten ist die Welt nichts anderes als der Auffassungssinn, der Beg-

riff, der nicht unabhängig von dem denkenden, begreifenden oder auffassenden

Bewußtsein sein kann: „Beides, Begriff und Welt, in ihrer Totalität für sich, ge-

hören also zusammen, sind dasselbe, nur auf verschiedene Weise angesehen, das

eine reduziert auf den intellektuellen, das andere auf den sensuellen Pol unseres

Denkens. Die Begriffe sind dasselbe als ein Innerliches, was die Welt als ein Äu-

ßerliches ist.“549

Die Frage, die er am Anfang seiner Analyse des Unterschiedes zwischen dem

Empfinden und dem Denken stellt, wird damit beantwortet. Wir setzen das Ge-

dachte als etwas vom Denken Verschiedenes. Hieraus bildet sich nun die gewöhn-

liche Denkweise, daß es nämlich einen vom Denken unabhängigen Gegenstand

gibt. Diese gewöhnliche Denkweise bringt zwar eine notwendige Form des Den-

kens zum Ausdruck: Da das Denken eine aktuell oder potentiell kritisierbare Vor-

stellung voraussetzt, muß man beim Denken das Sein des von meinem Denken

unabhängigen Gegenstandes setzen. Aber in Wirklichkeit bleibt das, worauf sich

unser denkendes Bewußtsein bezieht, immer ein Begriff, ein Auffassungsinn, der

freilich nicht als das vom Denken unabhängige Sein bezeichnet werden kann:

Begriff und Welt gehören in ihrer Totalität für sich zusammen.

Wie ist dies möglich? Man kann den entscheidenden Punkt zur Lösung dieses

Problems durch die Beantwortung der Frage gewinnen: Warum setzt Schleierma-

cher als die Bedingung für unser Herausgehen aus unseren eigenen Gedanken die

Mehrheit der Subjekte voraus? Wenn es tatsächlich der Fall wäre, daß man sich

intentional auf das vom Denken unabhängige Objektsein beziehen könnte, müßte

man davon ausgehen, daß man sich auch ohne eine Mehrheit von Subjekten der

Verschiedenheit zwischen dem Denken und dem Gedachten bewußt werden

könnte. Aber wie wenig plausibel dieser Gedanke ist, kann man schon daraus

erkennen, daß das angeblich unbestimmte Etwas, worauf unser Bewußtsein vor

jeder Auffassung zuallererst bezogen sein muß, schon als etwas vom anderen

Sein Gesondertes aufgefaßt wird. D. h.: Es ist faktisch unmöglich, daß man einem

549 Ebd.

268

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vom Denken verschiedenen Gegenstand findet, der einen Teil der Beziehung zwi-

schen dem Denken und dem Gedachten ausmachen würde.

1.3.4. Das Verhältnis zwischen dem Denken und dem Gedachten

Wie ist es aber möglich, daß das Gedachte als das von dem Denken Verschiedene

gesetzt wird, obwohl Welt und Begriff letztlich zusammengehören? In diesem

Zusammenhang stellt Schleiermacher selber zwei wichtige Fragen: „Wodurch

kommen wir auf den Gegenstand des Denkens? Was ist dasjenige im Denken

selbst, wodurch es vom Gegenstande getrennt bleibt und beides in der Duplizität

gedacht wird?“550 Wir haben also zwei Aufgaben vor uns, die von wichtiger Be-

deutung sind, wenn man den Grund für die Unterscheidung zwischen dem Den-

ken und dem Gedachten erklären will: „1. wodurch dieses Zweierlei in Beziehung

aufeinander kommt, und 2. wodurch es doch immer zweierlei bleibt.“551 An der-

selben Stelle gibt Schleiermacher sogleich seine Antwort: Der Grund, warum das

Denken nur in der Duplizität von Denken und Gedachtem möglich ist, ist „so

auszudrücken, daß jedes Denken ein gemeinschaftliches Erzeugnis der menschli-

chen Vernunft und der menschlichen Organisation sei.“552

Das Denken über das gegenständliche Sein setzt das Vermögen, eine Vorstel-

lung zu haben, voraus. Ja, der gedachte Gegenstand, der beim Denken als das

vom Denken Verschiedene gesetzt wird, ist nur als eine Vorstellung möglich, da

wir ohne die Erzeugung einer Vorstellung uns überhaupt nicht eines gegenständ-

lichen Seins bewußt sein können. Wie gelangen wir nun zu der Differenz zwi-

schen dem Denken und dem Gegenstand des Denkens? Hierauf gibt Schleierma-

cher zunächst eine Antwort, die sich scheinbar kaum von der gewöhnlichen Art

zu Denken unterscheidet: „Wir kommen [zu den Vorstellungen] durch die Ein-

wirkungen, welche die Gegenstände auf unsere Organe machen.“553 Hieraus darf

man aber nicht ableiten, Schleiermachers Philosophie ginge von einem naiven

Realismus aus. Dieser Satz ist m. E. aus einem didaktischen Grund so formuliert. 550 Ebd., S. 138. 551 Ebd. 552 Ebd., S. 138 f. 553 Ebd., S. 139.

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Für Schleiermacher ist die Realität des gegenständlichen Seins gar nicht selbst-

verständlich, wie ich bereits mehrfach betont habe. Um sich an die gewöhnlichen

Vorstellungen des Lesers anzupassen, benutzt er nicht selten die Sprache des all-

täglichen Denkens, das von seinem eigenen Denken verschieden ist. Dann folgen

aber Argumentationen, die die Grenze der alltäglichen Annahmen deutlich ma-

chen. So bestätigt Schleiermacher gleich nach jener Erwähnung der auf uns ein-

wirkenden Gegenständen, daß das, worauf das Denken bezogen ist, notwendig

etwas durch die Vernunft Bestimmtes sein muß: „Wenn wir aber das Denken in

seiner Vollständigkeit betrachten, so finden wir, daß darin noch etwas ganz ande-

res ist als der bloße Eindruck auf den Organismus; und dieses andere nennen wir

Vernunft im weitesten Sinne.“554

Der Satz, daß wir durch die Einwirkung der Gegenstände auf uns unsere Vorstel-

lungen der Gegenstände erlangen, ist m. E. nicht als ein Zeichen für eine Inkon-

sistenz im Denken von Schleiermacher zu bewerten; sondern eher als ein Beweis

für seine Genialität.

Erstens kann man hierin eine bewundernswerte mäeutische Fähigkeit Schleier-

machers erkennen. Bei der Erklärung seiner eigenen philosophischen Annahmen

beginnt er damit, seine eigenen Gedanken in der Sprache des gewöhnlichen Den-

kens zu formulieren. Das geschieht aber nicht deswegen, weil er mit der gewöhn-

lichen Denkweise einverstanden wäre, sondern, weil er dadurch den Leser besser

überzeugen kann. Genauso wie man sich bei einer lebendigen Gesprächsführung

für die Überzeugung des Andersdenkenden an die Sprache des Gesprächspartners

anpaßt, um dadurch einen gemeinsamen Ausgangspunkt für das Gespräch zu ha-

ben, so stellt auch Schleiermacher seine Thesen zuerst in der Formulierung vor,

die an die Sprache des üblichen Denkens angepaßt ist. Dann folgen aber Argu-

mente, die die Leser zwingen, ihre eigene Position zu überprüfen. Indem sie der

dialogischen Reihe der fragenden und antwortenden Sätze folgen, erkennen die

Leser somit allmählich selbst die Grenzen der gewöhnlichen Art zu denken, die

sie vertreten.

554 Ebd., S. 139 f.

270

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Zweitens eröffnet Schleiermacher mit dem Ausdruck ‚Einwirkung‘ eine Dimensi-

on des am konkreten Leben orientierten Denkens, die dem an der begrifflichen

Abstraktion orientierten Denken versperrt bleibt. Mit diesem Ausdruck macht

Schleiermacher klar, daß das transzendente Sein prinzipiell nicht aus dem Be-

wußtsein ausgeschlossen werden kann.

Welche Bedeutung dieser Ansatzpunkt, unser Dasein in einem konkreten Wir-

kungsverhältnis mit dem anderen Seienden zu betrachten, für eine phänomenolo-

gische Betrachtung des Bewußtseinslebens hat, kann man auch deutlich daran

erkennen, daß nicht wenige Philosophen Husserl vorwerfen, seine phänomenolo-

gische Analyse des Bewußtseins lediglich vom Standpunkt des theoretischen

Denkens aus durchgeführt und dadurch die wirkliche Existenzweise des Bewußt-

seins verkannt zu haben. Merleau-Ponty kann z. B. als ein Phänomenologe be-

trachtet werden, der – wie Schleiermacher – die konkrete Leiblichkeit des Da-

seins zu einem konstitutiven Element des Bewußtseinslebens erhebt. Er wirft

Husserl vor, daß Husserls „intentionale Analyse stillschweigend einen Ort der

absoluten Kontemplation voraus[setzt]“.555 Damit weist er auf eine entscheidende

Voraussetzung hin, die Husserl letztlich zu einem phänomenologischen Idealis-

mus ge- bzw. verführt habe. Vom Standpunkt der absoluten Kontemplation aus

wird das Ich als das Sehende betrachtet, und das Objekt als das Gesehene. In der

Orientierung am Sehen scheint das Ich schlechthin aktiv zu sein, während das

Objekt schlechthin passiv zu sein scheint.

In den §§55-57 der Ideen I kann man folgende Argumentation Husserls finden:

Wenn die Eigenschaften des Objekts (wie Farbe, Gestalt, raum-zeitliche Position

usw.) eigentlich nur durch den sinngebenden Akt des Bewußtseins zur Erschei-

nung kommen, und wenn das Objekt als solches nur als Bewußtseinskorrelat

möglich ist, dann kann man davon ausgehen, daß es ein reines Ich geben muß,

dessen Korrelat die Welt ist. Das reine Ich ist ein prinzipiell notwendiges Element,

während von der gesamten Objektwelt nie gezeigt werden kann, ob sie nicht in

555 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, S. 307.

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Wirklichkeit nur eine Illusion (ein ‚Nichts‘) ist.556 Was in dieser Argumentation

aber nicht ausreichend zur Geltung kommt, ist meine Vergangenheit, ohne die

mein gegenwärtiges Aktbewußtsein nicht möglich ist.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Schleiermachers Philosophie mit der –

methodologischen – Weltvernichtung durch die phänomenologische Reduktion

nicht im Widerspruch steht: Die Welt ist nach Schleiermacher durch die Ver-

nunfttätigkeit bestimmt und die Frage nach der realen Welt an sich ist sowohl für

Husserl als auch für Schleiermacher von einem unphilosophischen Problembe-

wußtsein motiviert.557 Damit ist aber nicht gemeint, daß Schleiermacher auch mit

der Ausschließung des transzendenten Seins einverstanden wäre. Für Schleierma-

cher ist das Ich immer ein Begriff, der notwendig als ein Korrelat des transzen-

denten Seins verstanden werden muß, gerade wie die Welt nur als ein Korrelat

des Bewußtseins möglich ist. Schleiermacher geht nicht von der Annahme eines

reinen Ichs aus, das in seiner Relation mit Welt stets identisch bleiben würde. Für

ihn hat das Wort ‚Ich‘ vielmehr die Funktion, die auf ein besonderes Seiendes

verweist, das sich stets in einer Relation mit dem transzendenten Sein wiederfin-

det und nur als ein solches relatives Sein ein selbstseiendes Dasein sein kann.

Gerade in diesem Sinn ist Schleiermachers Philosophie mehr als eine Phänome-

nologie; sie ist zugleich eine Ontologie. Nicht zufällig also wendet sich Heideg-

ger nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher endgültig von der Phänomeno-

logie Husserls ab: Daß der phänomenologische Idealismus ein rundes Viereck ist,

ist ihm nach seiner Beschäftigung mit Schleiermacher deutlich geworden.

556 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 120 ff. 557 Diese phänomenologische Einsicht Schleiermachers, daß die Frage nach der Realität der Welt das phänomenale Wesen der Welt ignoriert, ist m. E. auch für Diltheys Begriff der inneren Erfah-rung bzw. des Innewerdens von grundlegender Bedeutung. Für Dilthey gilt, wie für Schleierma-cher und Husserl, daß die äußere Wirklichkeit nur als ein relatives Sein zu bezeichnen ist: „Eine Wahrheit des äußeren Gegenstandes als Übereinstimmung des Bildes mit einer Realität besteht nicht, denn diese Realität ist in keinem Bewußtsein gegeben und entzieht sich also der Verglei-chung. Wie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wollen. Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für mich da, weil ich desselben innewerde: Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, des-sen ich innewerde.“ (W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 211. Vgl. H.-U. Lessing, Wilhelm Diltheys ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘, Darmstadt 2001, S. 210 ff.)

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1.4. Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens und die Vernunft

In seiner Husserl-Kritik weist Merleau-Ponty auf „die Proustsche Leiblichkeit als

Hüterin des Vergangenen, das Eintauchen in ein transzendentes Sein“ hin, „das

nicht auf ‚Perspektiven‘ des ‚Bewußtseins‘ reduzierbar ist.“558 Die Leiblichkeit

im Sinn Merleau-Pontys entspricht m. E. der organischen Tätigkeit des Menschen

im Sinn Schleiermachers: Ohne die leibliche oder organische Fähigkeit, die Ein-

wirkung des transzendenten Seins auf uns aufzunehmen, könnten wir überhaupt

nicht wahrnehmen. Die intentionale Struktur des Bewußtseins, nämlich daß das

Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist, wird bei Husserl irrtümlicherweise

vom Standpunkt der absoluten Kontemplation des gegenwärtigen Objektseins aus

betrachtet. Für Schleiermacher ist dagegen das Objektsein nicht nur ein jetzt mir

gegenwärtig Seiendes; es verweist zugleich auf das transzendente Sein, das sich

gerade durch das gegenwärtige Vorkommen als ein Sein erweist, das meine Ver-

gangenheit mit bewirkt hat. Und wenn meine Vergangenheit von irgendwelchem

Sein mit bewirkt wurde, kann man das transzendente Sein nie aus dem Bewußt-

sein ausschließen: Die Husserlsche Idee des reinen Ich, das prinzipiell nicht als

ein Korrelat von etwas gedacht werden könnte, erweist sich somit als haltlos.

Es muß allerdings noch weiter erörtert werden, was der Gegenstand im Sinne

Schleiermachers ist. Beim Denken ist das Gedachte als das vom Denken Ver-

schiedene gesetzt: Der Gegenstand muß als das vom Denken unabhängige Sein

gesetzt werden. Schleiermacher gibt nun als diesen Gegenstand nicht das real

Seiende an, sondern das Denken des Anderen. Heißt es dann nicht, daß der Ge-

genstand letztlich als ein Denken bezeichnet werden muß? Man kann hier m. E.

eine ähnliche Überlegung wie bei Husserl finden. Husserl beschreibt, wie die

Welt im natürlichen Weltbewußtsein als ein wirkliches Sein gesetzt wird: Das

Bewußtsein setzt das Sein der Welt, das von meinem Bewußtsein unabhängig

sein soll; phänomenologisch gesehen ist die Welt aber nur als Korrelat des Be-

wußtseins möglich, da die Frage nach der realen Existenz der Welt selbst nur in

einem Erfahrungszusammenhang möglich ist, in dem der Sinn der Welt über-

haupt erschlossen wird. Es ist nicht so, daß wir zuerst der von uns unabhängigen 558 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a.a.O., S. 308.

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Welt begegnen und erst später durch besondere Akte in der Auffassung eine Er-

scheinungswelt erzeugen; sondern die Welt ist gerade das, was unser Bewußtsein

durch seine sinngebenden Akte als etwas so Seiendes setzt. Gerade so ist es auch

bei Schleiermacher: Mit unserer organischen Tätigkeit nehmen wir die mannig-

faltigen Sinneseindrücke auf, die durch die intellektuelle Tätigkeit der Vernunft

in eine konkrete Sachrelation zwischen den einzelnen Entitäten umgewandelt

werden. D. h.: Die Vernunft ist diejenige Instanz, die der chaotischen Mannigfal-

tigkeit der Sinneseindrücke eine Ordnung verschafft. Die Möglichkeit selbst, daß

wir die Welt der Dinge als seiend erfahren können, besteht gerade in dieser Ein-

heit von der menschlichen Organisation und der menschlichen Vernunft. Es ist

also auch für Schleiermacher nicht so, daß man zuerst einer wirklichen Welt be-

gegnen und dann irgendwie eine Erscheinungswelt herstellen würde. Denn die

Welt ist ihrem Wesen nach ein Begriff, der die Bestimmtheit durch die intellektu-

elle Tätigkeit der Vernunft notwendig voraussetzt.

Dies bestätigt sich durch das Ergebnis, zu dem Schleiermachers Dialektik nach

einer langen Auseinandersetzung mit dem Problem der Duplizität des Denkens

und des Gedachten gelangt. Schleiermacher weist darauf hin, daß das Einzelne,

ohne das kein Gegenstandbewußtsein und folglich auch kein Weltbewußtsein

möglich ist, ein Begriff ist, der ohne die intellektuelle Tätigkeit der Vernunft

nicht möglich ist. Auch hier fängt Schleiermacher zuerst mit der Sprache des üb-

lichen Denkens an. „In der organischen Affektion ist“, so behauptet Schleierma-

cher, „unmittelbar kein Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem, son-

dern nur das Einzelne gegeben.“559 Hieraus darf man aber keineswegs ableiten,

daß Schleiermacher das Einzelne, sei es ein konkreter Gegenstand oder ein Sin-

neseindruck, als das Gegebene vor jeder intellektuellen Tätigkeit der Vernunft

annähme. Es ist nach Schleiermacher „die intellektuelle Tätigkeit nach der orga-

nischen Seite hin“, die „das Einzelne [entstehen]“ läßt.560 Ferner ist das Einzelne

selbst notwendig auf den urteilenden bzw. auffassenden Akt des Bewußtseins

bezogen, da es ohne den allgemeinen Gegensatz der Begriffe wie unveränderlich

559 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 357. 560 Ebd.

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und veränderlich nicht möglich ist: „Das Einzelne ist jedoch selbst wieder ein

Allgemeines, insofern es ein Veränderliches ist. Die verschiedenen Zustände ei-

nes Dinges sind im Vergleich mit der Einheit ein Besonderes, während diese Ein-

heit ein Allgemeines ist. Wendet sich nun die Vernunft auf die organische Affek-

tion, so wird das Einzelne auch ein Allgemeines, weil es nur in bezug auf seine

Veränderlichkeit aufgefaßt, d. h. in Beziehung auf Begriffs- und Urteilsbildung

gesetzt wird.“561 So scheint Schleiermachers Argumentation zuerst schlicht und

beinahe selbstverständlich zu sein. Aber die Folgen, die Schleiermacher aus einer

so einfachen Argumentation ableitet, sind erstaunlich und höchst anspruchsvoll.

Schleiermacher macht hier geltend, daß das Setzen des Seins des Einzelnen und

die Auffassung des Wesens des Einzelnen durch den Akt des Bewußtseins gleich-

zeitig geschehen, wie ich es im Vergleich von Husserl und Schleiermacher als

gemeinsame Position von beiden Denkern dargelegt habe: „ […] das wirkliche

Setzen eines Einzelnen als Bestimmten und die Hineinbildung einer allgemeinen

Gestaltung in den Sinn, die einem bestimmten Ort im System der Begriffe ent-

spricht, ist ein und derselbe Moment; und nur insofern ist etwas gesetzt, auf wel-

ches die reine Erkenntnis kann gebaut werden.“562

Wie kommt es nun dazu, daß wir das Denken und das Gedachte als verschieden

setzen? Schleiermachers Ausgangpunkt besteht darin, daß die Differenz zwischen

dem Denken und dem Gedachten selbst eine Folge der intellektuellen Tätigkeit ist.

Schleiermacher weist darauf hin, daß kein Denken „mit dem bloßen Sein ohne

Beziehung auf die organische Tätigkeit“ anfängt: „Dann ist es kein Gedanke

mehr, sondern die Indifferenz des Setzens und Nichtsetzens; nichts mehr als

Grenze des Denkens, also eigentlich Nichts.“563 Das Denken fängt aber nicht mit

den bloß organischen Impressionen an: Das Denken setzt bestimmte Begriffe

voraus, und jeder Begriff enthält „stets die Erinnerung an die Dinge, woraus er

abstrahiert ist.“564 Schleiermacher fragt nun: „Was ist nun in einem bestimmten

561 Ebd. 562 Ebd. 563 Ebd., S. 150. 564 Ebd.

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Begriffe mehr als im bloßen Sein?“565 Hierauf gibt Schleiermacher eine klare

Antwort, die letztlich keinen Zweifel daran übrig bleiben läßt, daß die Differenz

zwischen dem Denken und dem Gedachten selbst nur durch die intellektuelle

Tätigkeit der Vernunft ermöglicht werden kann: „Es ist das Gleichsetzen und

Entgegensetzen im Begriffe, und diese Operation ist im bloßen Sein verschwun-

den. Das Gleich- und Entgegensetzen ist das Resultat der intellektuellen Tätig-

keit.“566

565 Ebd. 566 Ebd., S. 150 f.

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2. Das Ich und das Problem des transzendenten Seins

Während, wie gezeigt, zwischen der Phänomenologie Husserls und der

‚Dialektik‘ von Schleiermacher einerseits eine Reihe von Ähnlichkeiten bestehen,

so liegt andererseits ein wichtiger Unterschied in der Rolle der Leiblichkeit bzw.

des reinen Ichs. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem transzendenten Sein

soll daher in diesem Kapitel untersucht werden. Es wird sich zeigen, daß Schlei-

ermacher die idealistische Wende von Husserl nicht akzeptieren würde und daß

seine Ontologie daher eine gewisse Nähe zu der ontologischen Transformation

der Phänomenologie durch Schüler und Kritiker von Husserl (wie z.B. Heidegger

oder Merlau-Ponty) hat – wie dies ja bereits im vorangehenden Kapitel ansatz-

weise deutlich wurde.

Vor dem Hintergrund dieser Kritik an Husserls Idealismus wird auch deutlich,

warum es nach Schleiermacher nötig ist, sich auf das Sein selbst (Gott) auszurich-

ten, und wie er dieses Hinausgehen über das weltliche Bewußtsein begründet.

Dies ist deswegen von Interesse, da Schleiermacher – anders als Heidegger –

schlüssig erklären kann, warum eine solche Ausrichtung für das Dasein notwen-

dig ist.

Daher soll in diesem Kapitel zunächst die transzendental-idealistische Position

von Husserl skizziert (2.1.) und anschließend die Kritik an Husserl untersucht

werden (2.2.). Ein Vergleich der Kritik von Sartre an Husserl mit der Konzeption

von Schleiermacher kann dabei erneut zeigen, inwiefern Schleiermachers Positi-

on einen überzeugenderen Ausgangspunkt für eine phänomenologische Philoso-

phie darstellt und inwiefern er viele spätere Kritikpunkte an Husserl vorweg-

nimmt. Insgesamt wird deutlich, inwieweit sich Schleiermachers Bestimmung des

Verhältnisses von Denken und Praxis von Husserls Idee des reinen Ichs unter-

scheidet, so daß diese Konzeption von Schleiermacher dann mit Heideggers Da-

seinsanalyse verglichen werden kann (2.3.).

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2.1. Die transzendental-idealistische Position Husserls

Die Leiblichkeit des Bewußtseinslebens, die sowohl bei Merleau-Ponty als auch

bei Schleiermacher eine zentrale Rolle für die Erklärung der Trennung zwischen

dem Bewußtseinsakt und dem transzendenten Sein spielt, führt nun zu der Un-

möglichkeit, ein reines Ich anzunehmen. Dieses reine Ich kann aber, wie man aus

Merleau-Pontys kritischen Äußerungen über Husserl erkennen kann, als eine Ba-

sis für den phänomenologischen Transzendentalidealismus bei Husserl betrachtet

werden.

Ein Husserl-Kenner würde hier verschiedene Einwände geltend machen wollen:

1. Husserl meine mit der Vernichtung der Welt keineswegs eine ontologische

Negation der realen Existenz der Welt; die phänomenologische Einklammerung

der Welt sei für die Gewinnung des sicheren Erkenntnisgrundes methodologisch

in die Phänomenologie eingeführt worden. Mit Recht weist A. Aguirre darauf hin,

daß die phänomenologische Reduktion nicht zu einem Idealismus führt, wenn

man unter diesem Begriff das Ich als Träger der wirklichen Welt meint: „Vorerst

halten wir uns in der skeptischen Natürlichkeit auf: Daß die Welt Korrelat der sie

erfahrenden Subjektivität, der Generalthesis ist, besagt hier nicht, daß sie sich ins

Bewußtsein auflöst. Auf dieser Stufe der Reflexion ist mit dieser Aussage, wie

noch einmal betont sei, nur eine vortranszendentale Feststellung getroffen; es

liegt noch kein Idealismus vor.“567 2. Husserl selbst betrachte das Bewußtsein in

seiner Duplizität von der Spontaneität und der Rezeptivität; seine Rede vom rei-

nen Ich bedeute keineswegs, daß die Lebensführung des wirklichen Menschen

ohne die Fähigkeit, fremde Einwirkungen aufzunehmen, möglich sei.

Der erste Einwand, daß es bei Husserl nicht um eine ontologische Entscheidung

über die Existenz der realen Welt geht, spielt hier so gut wie keine Rolle. Denn es

geht hier um die Argumente, mit denen Husserl die Annahme des reinen Ich als

phänomenologische Notwendigkeit zu beweisen versucht.568 Auch A. Aguirre ist

567 A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, Den Haag 1970, S. 108 f. 568 Auch Heideggers Kritik an Husserl geht m. E. davon aus, daß Husserls idealistische Wende eine Folge davon ist, daß das Wesen des Ich als eines In-der-Welt-seins nicht adäquat erfaßt wird. Vgl. „Zentral an Husserls transzendentaler Phänomenologie ist die phänomenologische Reduktion, die das Phänomen als das Bewußtseinsinhalt als unmittelbar gegeben nimmt und von jeglicher Korrespondenz des Bewußtseinsaktes mit nicht bewußtseinsmäßig Seiendem in der sogenannten

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nicht der Ansicht, daß die Phänomenologie Husserls kein Idealismus wäre. Wie

schon der Satz es liege noch kein Idealismus vor andeutet, will er lediglich den

Idealismus im Husserlschen Sinn von dem üblichen Verständnis dieses Wortes

unterscheiden. In der sogenannten skeptischen Natürlichkeit sind wir nicht so

weit gegangen, die Position des transzendental-phänomenologischen Idealismus

einzunehmen. Wir sind mit der skeptischen Überlegung über das Wesen der real

vorkommenden Welt zu dem Ergebnis gekommen, daß die Welt nur als ein Be-

wußtseinskorrelat existent sein kann. Daß man dadurch aber nicht automatisch zu

einem transzendentalen Idealismus gelangen muß, zeigt Husserl selbst: In seinen

Logischen Untersuchungen lehnt Husserl die Idee des reinen Ich ab, obwohl die

Logischen Untersuchungen Husserl zufolge „genauso ‚transzendental‘ [ … ]

waren wie die Ideen“.569 In ihnen ist aber noch keine positive Stellungnahme zum

transzendentalen Idealismus sichtbar. Husserl ist aber schon hier von der Sinnlo-

sigkeit eines Denkens überzeugt, das nach der realen Existenz der Welt fragt.

Diese Einsicht der Logischen Untersuchungen bleibt auch in den Ideen I aktuell;

Husserl möchte mit seiner idealistischen Stellungnahme nicht behaupten, die rea-

le Welt werde vom Ich getragen; eine solche Denkweise ist der Phänomenologie

Husserls vollständig fremd. Aguirre will nun aber zugleich deutlich machen, daß

Husserls Phänomenologie über die Grenze einer skeptischen Natürlichkeit hi-

nausgeht und dadurch zu einem transzendental-phänomenologischen Idealismus

gelangt. Darauf kommen wir später zurück.

Der zweite Einwand ist einerseits richtig. R. Williams, der in seinem Werk

Schleiermacher The Theologian Schleiermachers Religionsphilosophie als eine

Phänomenologie im Husserlschen Sinn darstellt, behauptet, daß Schleiermachers

‚Außenwelt‘ radikal absieht. […] Nicht das Absehen von Welt wie bei Husserl, sondern gerade das Hinsehen charakterisiert Heideggers hermeneutische Phänomenologie, denn das In-der-Welt-sein, das Heidegger entdeckt, ist früher als die Scheidung von Ich und Welt.“ (A. Becke, Der Weg der Phänomenologie, Hamburg 1999, S. 94 f.) 569 Zitiert nach Karl Schumanns ‚Einleitung des Herausgebers‘ der Ideen Husserls. (E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. XV.) In einer Anmerkung der Ideen I macht Husserl deutlich, daß er seine negative Stellungnahme zur Idee des reinen Ich in den Logischen Untersuchungen zurücknimmt: „In den ‚Log. Unters.‘ vertrat ich in der Frage des reinen Ich eine Skepsis, die ich im Fortschritte meiner Studien nicht festhal-ten konnte. Die Kritik, die ich gegen Natorps gedankenvolle ‚Einleitung in die Psychologie‘ rich-tete, ist also in einem Hauptpunkte nicht triftig.“ (Ebd., S. 124.)

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Philosophie nicht den methodologischen Idealismus („a methodological idealism“)

Husserls teilt.570 Aber er weist auch darauf hin, daß sowohl Schleiermacher als

auch Husserl das Bewußtsein in der Dupplizität der Spontaneität und der Rezep-

tivität betrachten: „Husserl’s discussion in Ideen II resembles that of Schleierma-

cher. Receptivity and spontaneity are determinate modes of the correlation be-

tween consciousness and world.“571

Auch A. Aguirre will durch seine entschiedene Kritik an den Husserl-

Interpretationen von Merleau-Ponty, Sartre und A. Gurwitsch geltend machen,

daß Husserls Phänomenologie nicht von dem Vorrang der Gegenwart bzw. der

Fiktion der absoluten Kontemplation ausgehe. Aguirre hebt gleich in der Einlei-

tung seines Werkes Genetische Phänomenologie und Reduktion den genetischen

Aspekt der Husserlschen Phänomenologie stark hervor. Für Husserl geht der Per-

zeption die Apperzeption voraus, so daß die Erfahrung auch für Husserl eine ge-

schichtliche Tiefendimension hat: „Das wirklich Erfahrene – das ‚Perzipierte‘ –

wird als etwas apperzipiert, das heißt: es wird als etwas erfahren, das dem Erfah-

renden schon in irgendeinerweise bekannt ist, und dieses Etwas wird jeweils ei-

nem bestimmten typisch vorbekannten und vertrauten Erfahrungsrahmen einge-

ordnet, der seinerseits ein habitueller Erwerb aus der Geschichte des Erfahrenden

ist. Apperzepzion ist die Überführung des Gegebenen in seine Geschichte, die in

Gestalt des geschichtlich erworbenen Horizonts das gegenwärtige Leben der

transzendentalen Subjektivität bestimmt; die Apperzeption und das heißt die In-

tentionalität ist die in der jeweiligen Erfahrung sichtbar werdende genetisch-

geschichtliche Verfassung der transzendentalen Subjektivität.“ 572 Mit anderen

Worten setzt jede Erfahrung für Husserl eine vorhergehende Vertrautheit mit der

Welt voraus, die habituell erworben ist.

Aber auch in dieser Hinsicht bleibt Husserl durchaus idealistisch. Auch nach der

Auffassung Aguirres steht fest, daß die genetische Phänomenologie, die mit dem

Begriff der Apperzeption eine geschichtliche Dimension des Bewußtseinslebens

eröffnet, letztlich zu einem Idealismus führen soll. Husserl will weiter geltend

570 R. Williams, Schleiermacher The Theologian, a.a.O., S. 7. 571 Ebd., S. 33. 572 A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, a.a.O., S. XXI.

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machen, daß das reine Ich als ein absoluter Anfangspunkt dieser genetischen Er-

fahrungsstruktur phänomenologisch notwendig gesetzt werden müsse: „Wenn die

Vertiefung der Besinnung bis zu dieser genetischen Verfassung vorgedrungen ist,

enthüllt sich die gesamte Wirklichkeit als genetische Differenzierung eines undif-

ferenzierten, absoluten Anfanges. Im Unterschied zur Ungeschichtlichkeit der

urfungierenden Subjektivität erweist sich jegliches Seiende und die Wirklichkeit

im Ganzen als apperzeptives Gebilde, als von Grund auf geschichtliches Resultat.

Die vollkommen durchgeführte Auslegung der transzendentalen Subjektivität, in

der sich alles – die Natur, die Welt, die Anderen, Gott – genetisch konstituiert, ist

der transzendentalphänomenologische Idealismus.“573

Dieser transzendentale Subjektivismus Husserls, der auch an der Genesis der Er-

fahrung festhalten will, ist aber m. E. keineswegs von der Kritik frei, die Mer-

leau-Ponty gegen Husserl richtet. Denn auch in dieser sogenannten genetischen

Phänomenologie bleibt Husserl weiter an der Möglichkeit des reinen erkennenden

Subjekts orientiert. Die Annahme der urfungierenden ungeschichtlichen Subjek-

tivität soll weiter gelten, da alles, was als das Seiende außerhalb dieser Subjekti-

vität gesetzt wird, nur das apperzeptive Gebilde ist: Nur das reine Ich zeigt sich in

dieser genetischen Struktur der Erfahrung als das Sein, das ungeschichtlich und

urfungierend ist. Die transzendentale Subjektivität ist von der äußeren Einwir-

kung unberührbar. Die wirkungsgeschichtliche Dimension des Bewußtseins, daß

jedem auffassenden Aktbewußtsein die Wirkung des transzendenten Seins auf

dieses Bewußtsein vorausgehen soll, bleibt hier vollständig unberücksichtigt.

2.2. Die Unzulänglichkeit der Idee des reinen Ich

2.2.1. Das Problem des fremden Bewußtseins: Sartres Kritik an Husserl

Auch J.-P. Sartre ist sich dieses Problems der Husserlschen Phänomenologie be-

wußt. Zwar möchte er mit seiner bekannten Unterscheidung zwischen der empiri-

schen und der existentiellen Psychoanalyse geltend machen, daß das Bewußtsein 573 Ebd., S. XXI f.

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in Hinsicht auf die existentielle Psychoanalyse als das vom anderen Sein unbe-

rührbare absolute Sein verstanden werden soll.574 Die hieraus folgende Verabso-

lutierung der Freiheit, die in seiner provokanten These, wir seien zur Freiheit

verdammt, kulminiert, wird aber im letzten Kapitel von Merleau-Pontys Haupt-

werk Phänomenologie der Wahrnehmung entschieden kritisiert. Hier betont Mer-

leau-Ponty die Rolle der sub-personalen Elemente im Leben. Er formuliert eine

These, die als ein zentraler Ansatzpunkt seiner Kritik an Sartres Verabsolutierung

der Freiheit in Das Sein und das Nichts zu verstehen ist: „Freiheit gibt es nicht

ohne ein Feld.“575 Die Freiheit ist möglich nur auf dem Feld des konkreten Erleb-

niszusammenhanges, und Sartres Ausführungen über das Bewußtsein als das ab-

solute Sein oder über die absolute Freiheit seien unhaltbar. Eine solche Verabso-

lutierung des Bewußtseins ist m. E. auch mit seiner eigenen Kritik an dem trans-

zendentalen Idealismus Husserls nur schwer vereinbar. Denn Sartre selbst weist

in seiner Husserl-Kritik darauf hin, daß das transzendente Sein prinzipiell nicht

aus dem Bewußtsein auszuklammern ist.576

Aber auf jeden Fall ist sich Sartre klar darüber, daß Husserls Phänomenologie,

die durch die Operation der phänomenologischen Reduktion das reine Ich allein

zum phänomenologisch als notwendig zu kennzeichnenden Sein erhebt, dem fak-

tischen Verhältnis zwischen meinem Sein und dem Sein des Anderen nicht ge-

recht werden kann.

In seiner existenzontologischen Analyse des Schamgefühls bzw. des fremden

Blicks weist Sartre darauf hin, daß das Phänomen des fremden Blicks überhaupt

nicht im Rahmen des erkennenden Subjekts und des zu erkennenden Objekts er-

klärbar ist: „Dieser Bezug, den ich ‚Vom-Anderen-gesehen-werden‘ nenne, ist

also keineswegs eine der durch das Wort Mensch bezeichneten Beziehungen un-

ter anderen, sondern stellt ein unreduzierbares Faktum dar, das man weder vom

Wesen des Objekt-Andern noch von meinem Subjekt-sein ableiten kann.“577 Da-

mit zeigt Sartre zugleich die Grenze derjenigen Form der Phänomenologie, die

574 Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 956 ff. 575 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 469. 576 Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 33 ff. 577 Ebd., S. 464.

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sich an der Möglichkeit einer reinen, erkennenden Subjektivität orientiert: „Im

Phänomen des Blicks ist der Andere grundsätzlich das, was nicht Objekt sein

kann. Zugleich sehen wir, daß er kein Glied des Bezugs von mir zu mir selbst

sein kann, der mich für mich selbst als das Nicht-Enthüllte auftauchen läßt. Der

Andere kann auch nicht durch meine Aufmerksamkeit anvisiert werden: wenn ich

im Auftauchen des Blicks des Andern dem Blick oder dem Andern Aufmerksam-

keit schenkte, dann konnte das nur wie bei Objekten sein, denn die Aufmerksam-

keit ist intentionale Richtung auf Objekte. Aber daraus darf man nicht schließen,

daß der Andere eine abstrakte Bedingung, eine begriffliche Struktur des ek-

statischen Bezugs ist: es gibt hier nämlich kein wirklich gedachtes Objekt, von

dem er eine allgemeine formale Struktur sein könnte.“578 Kurz gesagt ist der Sinn

des Anderen nicht im Rahmen der intentionalen Beziehung zwischen dem erken-

nenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt erklärbar. Wir können zwar das

Sein eines bestimmten ‚Körperdings‘ lokalisieren und somit in eine intentionale

Beziehung zu diesem Objekt treten. Aber der Grund, warum dieses ‚Körper-

ding‘ nicht bloß als ein Objekt, sondern als ein lebendiger Körper des anderen

Menschen verstanden werden soll, ist dadurch überhaupt nicht geklärt.

Sartres Analyse des fremden Blicks ist insofern interessant, als sie auf ein Phä-

nomen aufmerksam macht, das nicht durch die Operation der phänomenologi-

schen Reduktion auszuklammern ist. Der fremde Blick ist ein Faktum des Lebens,

das nicht von meinem Sein ableitbar ist: „Die Anwesenheit des Blick-Andern bei

mir ist also weder eine Erkenntnis noch eine Projektion meines Seins, noch eine

Vereinigungsform oder Kategorie. Sie ist, und ich kann sie nicht von mir ablei-

ten.“579 Hieraus folgt, daß die Husserlsche Idee der phänomenologischen Epoché,

in der das Bewußtsein in seiner absoluten Reinheit erfaßt werden soll, angesichts

des fremden Blicks problematisch wird: „Gleichzeitig kann ich sie [die Anwesen-

heit des Blick-Andern] auch nicht der phänomenologischen Epoché unterziehen.

[…] Ich schäme mich über mich vor Anderen, sagten wir. Die phänomenologi-

sche Reduktion muß das Objekt der Scham aus dem Spiel bringen, um die Scham

578 Ebd., S. 483 f. 579 Ebd., S. 489 f.

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selbst in ihrer absoluten Subjektivität besser hervortreten zu lassen. Aber der An-

dere ist nicht das Objekt der Scham: meine Handlung oder meine Situation in der

Welt sind ihre Objekte. Sie allein können allenfalls ‚reduziert‘ werden. Der Ande-

re ist nicht einmal eine objektive Bedingung meiner Scham. Und trotzdem ist er

es wie ihr Sein-selbst. Die Scham ist Enthüllung des Andern, aber nicht so, wie

ein Bewußtsein ein Objekt enthüllt, sondern so, wie ein Moment des Bewußtseins

lateral ein anderes Moment als seine Motivation impliziert.“580

Bei der Scham haben wir also nicht den Anderen in der Form eines Objekts ge-

geben. Das Objekt unseres Schamgefühls ist eine Handlung oder eine Situation,

die wir in der Form der Jemeinigkeit – meine Handlung bzw. Situation im jewei-

ligen Moment des Lebens – erleben. Die Scham setzt neben einem Objekt, das

meine Handlung bzw. eine bestimmte Situation ist, notwendig die aktuelle oder

potentielle Anwesenheit des Anderen voraus, vor dem ich mich über mich schä-

men muß. Das Schamgefühl ist deshalb eine Entdeckung des Anderen, da es ohne

Anwesenheit des Anderen nicht möglich ist; das Sein des Anderen ist ein not-

wendiges Strukturelement des Schamgefühls. Die Entdeckung des Anderen ist

aber nicht eine Entdeckung des Anderen als eines Objektes, sondern es ist viel-

mehr eine Entdeckung einer Lebensfaktizität, die darin besteht, daß meine Hand-

lung, meine Situation oder sogar mein Sein selbst stets zum Objekt des fremden

Bewußtseins wird und werden kann. Diese Faktizität des Lebens, daß meine

Handlungen zum Objekt eines fremden Bewußtseins werden können, darf in der

phänomenologischen Reduktion nicht ausgeklammert werden. Die Scham betrifft

nicht die Seinssetzung der objektiven Dingwelt, sondern das Bewußtsein meiner

eigenen Seinssituation.

Sartres Argumentation ist m. E. richtig. Durch seine existenzontologische Analy-

se des Schamgefühls hat Sartre der phänomenologischen Philosophie eine neue

Möglichkeit eröffnet: Es gibt Phänomene, die nicht auf die Relation von Subjekt

und Objekt bezogen oder gar reduziert werden können. Durch die phänomenolo-

gische Reduktion gelangt man in Wirklichkeit nicht zu einer scharfen Trennung

des reinen Ich als eines ungeschichtlichen, alles fundierenden absoluten Seins

580 Ebd., S. 490.

284

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von dem anderen Sein als einem bloßen Objektsein, sondern zu einer Faktizität

des Lebens, die beinhaltet, daß mein Subjektsein unvermeidlich mit der Möglich-

keit meines Objektseins für den Anderen verbunden ist – genauso wie das Ob-

jektsein des Anderen zugleich mit der Möglichkeit des Subjektsein des Anderen

verbunden ist.

2.2.2. Schleiermachers Begriff der Liebe als Ermöglichungsbedingung des Be-

wußtseins vom Mitmenschen

Die Frage ist nun, was die konkrete Bedingung dafür ist. Sartre legt zwar die fak-

tische Möglichkeit meines Objektseins, die angesichts des fremden Blicks offen-

bar wird, richtig dar; dadurch gelingt es ihm, die Grenze der an der reinen, erken-

nenden Subjektivität orientierten Phänomenologie Husserls aufzuzeigen. Aber die

konkrete Bedingung dafür, wie ich durch den Blick des Anderen mir der Mög-

lichkeit meines Objektseins bewußt werden kann, bleibt bei Sartre unerörtert. Es

ist zwar richtig, daß ich bei dem Schamgefühl den Anderen als Subjekt und mei-

ne Handlung, meine Situation oder mein Sein als Objekt des fremden Bewußt-

seins betrachten muß. Die Frage ist nun aber, wie ich mich als Objekt und den

Anderen als Subjekt setzen kann. Wie ist es möglich, daß ich den Anderen von

dem üblichen Dingobjekt unterscheide und ihn als ein solches Sein wahrnehme,

das sich als ein von seinem eigenen Bewußtsein her denkendes Subjekt auf mich

bezieht?

Aufmerksame Leser werden bereits erkannt haben, daß diese Möglichkeit nicht

allein aus der Tätigkeit meines eigenen Bewußtseins abgeleitet werden kann: Es

ist die Wirkung des Anderen auf mich, die bei mir ein Bewußtsein eines fremden

Bewußtseins schafft. Diese Aussage mag beinahe trivial erscheinen. Aber weder

Husserl noch Sartre ziehen m. E. hieraus die richtigen Konsequenzen.

Schleiermachers Einsicht, daß der urteilende Akt meines Bewußtseins die Ein-

wirkung des transzendenten Seins auf mich notwendig voraussetzen muß, ist hier

von entscheidender Bedeutung: Gerade dieser allzu selbstverständlich klingenden

Wahrheit des faktischen Lebens tragen weder Husserl noch Sartre gebührend

285

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Rechnung. Nur Schleiermacher gibt eine einleuchtende Erklärung dafür, wie ich

zu dem Bewußtsein kommen kann, daß der Andere als ein von den dinghaften

Objekten grundverschiedenes Sein anzuerkennen ist.

Schleiermacher entwickelt sein Denken nicht nur mit Hilfe der abstrakten Spra-

che der Philosophie. Er versteht, daß man, um richtig denken zu können, sich

zuerst an die Sprache des üblichen Denkens anpassen muß, da im Denken inner-

halb der normalen Sprache der Ausgangspunkt jedes wirklichen Denkens liegt.

So nennt Schleiermacher die Möglichkeit, den Anderen als ein von den dinghaf-

ten Objekten grundverschiedenes Sein anzuerkennen, die Liebe. Wie unphiloso-

phisch für uns heutige Philosophen dieses Wort klingt! Aber was Schleiermacher

mit diesem Wort meint, ist ein durchaus philosophisches Konzept und zeigt zu-

gleich sein unglaubliches Einsichtsvermögen.

Der Sinn dieses Wortes wird bei Schleiermacher zuerst gerade im Sinn seiner

umgangssprachlichen Anwendung interpretiert. Allerdings bleibt Schleiermacher

nicht auf der Ebene der Philosophie der normalen Sprache stehen. Er versucht

zugleich diesem Wort einen idealen Sinn zu geben, der aber nicht nur eine theore-

tische und begriffliche Abstraktion ist, sondern ein konstitutives Element des

wirklichen Bewußtseins ist. Der ideale Sinn der Liebe muß für Schleiermacher

auf der wirklichen Lebenssituation des Menschen beruhen, so daß die Möglich-

keit, den Anderen als ein von den dinghaften Objekten grundverschiedenes Sein

anzuerkennen, nicht bloß als ein zufälliger Seinsmodus verkannt wird. Es ist

durchaus möglich, daß wir die anderen Mitmenschen bloß als Objekt unserer

Zweckhandlungen betrachten. Aber die Möglichkeit, unsere Mitmenschen als

eigenständige Subjekte zu betrachten, bleibt in jeder wirklichen Lebenssituation

notwendig implizit gegeben.

Schleiermacher gibt eine Erklärung dafür, warum jene Möglichkeit, den anderen

Menschen als ein eigenständig denkendes Sein anzuerkennen, in der Liebe ge-

sucht werden soll: „ […] es ist unmöglich, daß man etwas liebe ohne das Bestre-

ben, es kennenzulernen, unabhängig von dem Gebrauch, den man davon machen

kann.“581 In dieser Erklärung sind der normalsprachliche Sinn und der ideal-

581 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 105.

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sprachliche Sinn des Wortes Liebe vereinigt: Dem normalsprachlichen Sinn des

Wortes, daß man in der Liebe den Gegenstand der Liebe nicht als Mittel für einen

praktischen Zweck betrachtet, entspricht der idealsprachliche Sinn des Wortes,

daß die Liebe notwendig mit dem Streben nach der reinen Erkenntnis verbunden

ist: „Solange man die Menschen kennenlernen will um des Gebrauches willen,

den man von ihnen zu machen gedenkt, liebt man sie nicht. Sowie sich die Liebe

äußert, strebt man den Gegenstand derselben kennenzulernen, wie er an sich

ist.“582 Die Liebe ist notwendig mit dem Bestreben verbunden, den Gegenstand

der Liebe kennenzulernen. Somit zeigt Schleiermacher die Möglichkeit einer rei-

nen Erkenntnis auf, die sich von dem Streben nach der dinghaften Objektivität

grundsätzlich unterscheidet. Ferner ist die Möglichkeit, den anderen Menschen

als ein eigenständig denkendes Sein anzuerkennen, nicht wie bei Sartre (und Hei-

degger) der erkennenden Tätigkeit des Menschen diametral gegenübergestellt;

sondern sie wird von Schleiermacher eher als ein wahrer Ursprung des menschli-

chen Strebens nach der reinen, vom praktischen Zweck unabhängigen Erkenntnis

dargestellt.

2.3. Praxis und Denken bei Schleiermacher und Heidegger

Schleiermacher geht hier von einer phänomenologischen Analyse des Lebens aus,

die in vielerlei Hinsicht mit der Heideggerschen Duplizität des uneigentlichen

und des eigentlichen Selbst vergleichbar ist. Allerdings gibt es auch Differenzen,

durch die sich die beiden Philosophen stark voneinander unterscheiden. Aber

Schleiermacher möchte den Ursprung des an der Gegenständlichkeit orientierten

Denkens in der faktischen, praktischen Lebensführung des Menschen finden, und

hierin zeigt seine Philosophie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Heidegger-

schen Philosophie.

582 Ebd. Hervorhebung von S.-Y. Han.

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2.3.1. Praxis und Denken bei Heidegger

Für Heidegger besteht die Lebensfaktizität in der Duplizität des eigentlichen und

des uneigentlichen Selbst. Das uneigentliche Selbst, das Man, ist wesentlich an

praktischen Zwecken orientiert und das Wissen zeigt sich hier als ein Ge-

brauchswissen. Die angebliche Objektivität des Gegenstandes ist nach Heidegger

unumgänglich mit dem Um-willen unseres Lebens verbunden, so daß jedes Wis-

sen, das auf die Gegenständlichkeit des Seienden gerichtet ist, letztlich nur als ein

Gebrauchswissen möglich ist.

Wenn Heidegger in seiner Angstanalyse das Wovor der Angst von der innerwelt-

lichen Zuhandenheit deutlich trennt, macht er damit zugleich deutlich, daß er die

Zuhandenheit des Wissens als den ursprünglichen Grund unseres Strebens nach

der Objektivität betrachtet. Das Wovor der Angst ist nichts Zuhandenes: „Wovor

die Angst sich ängstet, ist nichts von dem innerweltlichen Zuhandenen.“583 Der

Grund, warum das Wovor der Angst nicht in dem innerweltlich Zuhandenen zu

suchen ist, besteht darin, daß das Dasein mit seinem Verfallen an das Man zu-

gleich die Umdeutung der Welt als einer besorgten Welt leistet, in der das Seien-

de in seinem Zuhandenheitscharakter ausgelegt ist: „Das Verfallen des Daseins an

das Man und die besorgte ‚Welt‘“ nennt Heidegger in einem Atemzug.584 Das

Gebrauchswissen ist also das Urwissen, da das Wissen für Heidegger im praxeo-

logischen Umwillen des Daseins seinen Ursprung hat. Das Wissen, das für eine

Wissenschaft als das objektive Wissen gelten kann, ist in diesem Sinn nur ein

abkünftiger Modus des Wissens. Denn ein solches Wissen setzt ein theoretisches

Erforschen voraus, das nach Heidegger lediglich durch die Enthaltung von der

praktischen Handlung ermöglicht wird: „Es liegt nahe, den Umschlag vom ‚prak-

tisch‘ umsichtigen Hantieren, Gebrauchen und dergleichen zum ‚theoreti-

schen‘ Erforschen in folgender Weise zu charakterisieren: das pure Hinsehen auf

das Seiende entsteht dadurch, daß sich das Besorgen jeglicher Hantierung ent-

hält.“585 Das Interesse für eine reine Erkenntnis, die nicht um des praktischen

Zweckes willen gesucht wird und daher von Schleiermacher als Ziel des lieben- 583 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 187. 584 Ebd., S. 185. 585 Ebd., S. 357.

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den Umgehens des Daseins mit dem anderen Sein verstanden wird, wird also nur

dadurch möglich, daß die nach Zweckverwirklichung strebende Seinsweise des

Daseins (das Um-Etwas-willen), die sich gegenüber der theoretischen als die pri-

märe Seinsweise zeigt, der Praxis beraubt wird: „Gerade wenn man als primäre

und vorherrschende Seinsart des faktischen Daseins das ‚praktische Besor-

gen‘ ansetzt, wird die ‚Theorie‘ ihre ontologische Möglichkeit dem Fehlen der

Praxis, das heißt einer Privation verdanken.“586

Das Gebrauchswissen muß für Heidegger ontologisch dem objektiven Wissen

vorausgehen. Das macht Heidegger im §69 von Sein und Zeit deutlich, der mit

Die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem der Transzendenz der

Welt betitelt ist. Hier liegt der entscheidende Punkt von Heidegger darin, daß die

Objektivität die Transzendenz voraussetzt: „Damit die Thematisierung der Vor-

handenen, der wissenschaftliche Entwurf der Natur, möglich wird, muß das Da-

sein das thematisierte Seiende transzendieren. Die Transzendenz besteht nicht in

der Objektivierung, sondern diese setzt jene voraus.“587 Damit meint Heidegger

nichts anderes als die Urbegründung des Wissens durch den besorgenden Um-

gang des Daseins mit der Welt, d. h. die umwillende Verhaltensweise des Daseins,

durch die die Welt als eine Relation der Zuhandenheiten für das praktische Leben

gedeutet wird: „Wenn aber die Thematisierung des innerweltlich Vorhandenen

ein Umschlag des umsichtig entdeckenden Besorgens ist, dann muß schon dem

‚praktischen‘ Sein beim Zuhandenen eine Transzendenz des Daseins zugrunde

liegen.“588 Mit anderen Worten: Die Transzendenz des Seins, die jedem objekti-

ven Wissen zugrundeliegt, ist bereits in dem an der Zuhandenheit orientierten

Seinsverständnis des alltäglichen Daseins erschlossen.

Bei diesen Überlegungen fällt Heideggers Denken jedoch einer irrtümlichen

Deutung der Worte ‚Ursprünglichkeit‘ und ‚Eigentlichkeit‘ zum Opfer. Das Man

ist ein uneigentliches Selbst, so daß sich das Gebrauchswissen, das durch den

besorgenden Umgang des Daseins mit der Welt ermöglicht wird, nicht auf den

ursprünglichen Sinn des Seins bezieht. Gegenüber dem objektiven Wissen zeigt

586 Ebd. 587 Ebd., S. 363. 588 Ebd., S. 363 f.

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sich das Gebrauchswissen aber als ursprünglicher. Das kann man schon daraus

deutlich erkennen, daß Heidegger die Transzendenz, die dem objektiven Wissen

zugrundeliegen muß, als in der Zuhandenheit bereits erschlossen betrachtet. Das

Gebrauchswissen, das in meinem praktischen Leben durch die umwillenden Ver-

haltungen meines Daseins erschlossen ist, geht jeglichem Bewußtsein der Objek-

tivität voraus. Nach Heidegger „gründet“ sogar „die Möglichkeit des Über-

raschtwerdens durch etwas darin, daß das gewärtigende Gegenwärtigen eines

Zuhandenen ungewärtig ist eines anderen, das in einem möglichen Bewandniszu-

sammenhang mit jenem steht.“589 Mit anderen Worten kann man nur deswegen

überrascht werden, weil die Welt je schon als das Bewandnisganze des Zuhande-

nen ausgelegt ist. Alles, was sich nicht im Rahmen des Zuhandenheitsganzen des

Seienden auslegen läßt, verursacht nach Heidegger nur Resignation: „Was der

besorgende Umgang als Herstellen, Beschaffen, aber auch als Abwenden, Fern-

halten, Sichschützen vor … nicht bewältigt, das enthüllt sich in seiner Unüber-

windlichkeit. Das Besorgen findet sich damit ab. Das Sichabfinden mit … ist aber

ein eigener Modus des umsichtigen Begegnenlassens. Auf dem Gebiete dieses

Entdeckens kann das Besorgen das Ungelegene, Störende, Hindernde, Gefähr-

dende, überhaupt irgendwie Widerständige vorfinden.“590 Die Frage ist nun, ob

wirklich das Gebrauchswissen ursprünglicher ist als das Wissen, das nicht mit

dem praktischen Interesse verbunden ist.

Die Annahme, daß das Wissen ursprünglich das Gebrauchswissen sei, ist schon

deswegen wenig überzeugend, weil wir in unserer Lebenswelt stets Gegenständen

begegnen, deren Möglichkeit des Gebrauchtwerdens zunächst unbewußt bleiben.

Peter findet z.B. im Garten eine lange Stange, die neben einem Baum liegt. Schon

in dieser Wahrnehmung der Stange wird ein objektives Merkmal des Gegenstan-

des bewußt: Die Stange ist lang. Peter weiß aber zunächst nicht, wozu die Länge

der Stange nützlich ist. Ja, er denkt einfach nicht daran, ob die Länge der Stange

für sein Leben irgendwie nützlich sein könnte. Er will jetzt Gitarre spielen, singen

oder einen Roman von seinem Lieblingsautor lesen. Die Länge der Stange ist

589 Ebd., S. 355. 590 Ebd., S. 355 f.

290

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freilich mit der Möglichkeit des Gebrauchtwerdens verbunden. Nach einer Weile

kriegt Peter einen leichten Hunger, und nun hat er die Idee, mit der Stange

Früchte aus dem hohen Baum zu pflücken. Aber sein Wissen darüber, daß die

Stange im Garten lang ist, hat Peter offenbar unabhängig von seinem praktischen

Interesse erworben.

Kann man vielleicht davon ausgehen, daß die Länge der Stange nur deswegen

uninteressant bleiben kann, weil sie mit dem gewohnten Weltverständnis, das

durch den besorgenden Umgang des Daseins mit der Welt bereits vor der Begeg-

nung des Daseins mit diesem oder jenem gegenständlichen Sein ermöglicht wur-

de, nicht im Widerspruch steht? Nehmen wir dann ein anderes Beispiel. Peter

findet im Garten ein sich bewegendes Objekt, das ihm unbekannt und bedrohlich

vorkommt. Wie kann es passieren, daß ein unbekanntes Objekt Peter in Angst

und Schrecken versetzt? Was Peter hier als unbekannt bezeichnet, ist eigentlich

nicht unbekannt. Denn ohne eine Vorstellung, in der die positiven Merkmale ei-

nes Objektes vermittelt sind, kann Peter keine Angst vor diesem Objekt haben.

Das Objekt bewegt sich flink, macht seltsame Geräusche, die nur schwer zu er-

tragen ist. Ohne dieses konkrete Wissen ist es nicht möglich, daß Peter vor einem

angeblich gänzlich unbekannten Objekt Angst bekommt. Er wäre ja nicht einmal

imstande, das Objekt unbekannt zu nennen. Natürlich kann das Wissen, das durch

die Wahrnehmung des Objekts zustande kommt, Peter Nutzen bringen: Das Ob-

jekt ist wirklich ein gefährliches Lebewesen, und Peter flieht, weil er die Gefähr-

lichkeit dieses Objekts ahnt, so schnell wie möglich in ein Zimmer und schlägt

die Tür zu. Aber das Wissen, daß sich das Objekt bewegt, ist hier nicht schon als

ein Gebrauchswissen zu verstehen; es bietet nur eine Möglichkeit, gebraucht zu

werden. Denn das tatsächliche Gebrauchtwerden dieses Wissens setzt notwendig

voraus, daß ihm noch weitere Urteilsakte gefolgt sind. Das Wissen, daß sich ein

Objekt bewegt, repräsentiert nur einen Moment der Wahrnehmung. Ein Ge-

brauchswissen setzt dagegen ein Bewußtsein von der konkreten Sachrelation vor-

aus, von der her ein an einem bestimmten Zweck orientierter Wille entsteht, wäh-

rend wir bereits bei einem simplen Wahrnehmungsakt ein Wissen erhalten, das

ein positives Merkmal des Gegenstandes zum Ausdruck bringt. Es gibt keine

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Wahrnehmung, die, soweit sie auf das wirklich Seiende bezogen ist, kein Wissen

hervorbringt; die Wahrnehmung ist bereits ein Urteilsakt, wie Schleiermacher und

Husserl klar erkannt haben. Allerdings kann die Wahrnehmung uns täuschen. In

diesem Fall verursacht die Wahrnehmung ein falsches Wissen, das erst nach einer

späteren Überprüfung falsifiziert werden kann. Das Wissen, das eine Wahrneh-

mung hervorbringt, ist zwar notwendig mit der Möglichkeit verbunden, benutzt

zu werden. Es ist jedoch nicht an sich ein Gebrauchswissen, sondern eine Ermög-

lichungsbedingung dafür, daß wir in einer konkreten Lebenssituation einen be-

sorgenden Umgang mit dem Seienden haben können.

2.3.2. Praxis und Denken bei Schleiermacher

Die Frage, ob alles Wissen auf den Modus des Um-etwas-willen zurückgeführt

werden kann oder soll, ist also bereits negativ entschieden. Wir wollen nun aber

noch weiter fragen, ob vielleicht das Denken notwendig mit dem Um-etwas-

willen des besorgenden Daseins verbunden ist. Kann man Heideggers’ These

über den praktischen Ursprung des gegenständlichen Bewußtseins akzeptieren,

wenn es hierbei nicht um konkretes Wissen, sondern um das Denken als Ganzes

geht? Ist es wahr, daß unser Denken an ein Seiendes eine praktische Motivation

hat? Schleiermachers Philosophie verhält sich zu diesem Problem ambivalent.

Einerseits geht er davon aus, daß das reine Denken, das um des Denkens selbst

willen vollzogen wird, möglich ist; andererseits steht Schleiermacher aber darin

Heidegger nahe, daß er den praktischen Ursprung des gegenständlichen Denkens

anerkennt: „ […] das Denken kommt unter zweierlei Umständen bei uns vor.

Einmal, daß es der Zweck unserer Geistestätigkeit ist, und dann, daß es das Mittel

zu etwas anderem ist. Alles Denken im Gebiet der Erfahrung ist durchaus prak-

tisch, d. h. es bezieht sich auf unser Handeln in bezug auf die Gegenstände, und

hier ist die Richtigkeit des Vorstellens vollkommen gleichgültig, solange es auf

die Richtigkeit des Handelns keinen Einfluß hat.“591

591 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104.

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Es steht also fest, daß das gegenständliche Denken auf dem Gebiet der Erfahrung

einen praktischen Ursprung hat. Das bedeutet aber für Schleiermacher keines-

wegs, daß der rein erkennende Akt nur als ein derivates Phänomen von dem ur-

sprünglich praktischen Denken, der „Umsicht“, möglich ist, die „sich in den Be-

wandtnisbezügen des zuhandenen Zeugzusammenhanges [bewegt.]“592 Vielmehr

geht Schleiermacher davon aus, daß unser Streben nach der reinen, vom prakti-

schen Lebensinteresse unabhängigen Erkenntnis mit unserem Streben nach der

Utilität des Wissens gleichursprünglich ist: „Sind nun die Menschen, welche auf

dem Gebiete stehen, wo das Denken zum Behufe des Handelns benutzt wird, des

eigentlichen Bestrebens auf dem Gebiet des Wissens unfähig? Offenbar nicht; der

Unterschied wird nur der sein, daß hier das eine überwiegt, dort das andere; hier

das eine zurückgedrängt wird, dort das andere. Ein Mensch, dem eine dieser bei-

den Tätigkeiten fehlte, wäre eine geistige Mißgeburt.“593

Der Grund dafür, warum unser Streben nach der Objektivität mit unserem Stre-

ben nach der Utilität des Wissens gleichursprünglich sein muß, besteht für

Schleiermacher in der Gemeinschaftlichkeit des Denkens, die von der Heidegger-

schen Alltäglichkeit bzw. Öffentlichkeit grundverschieden ist. Schleiermacher

erkennt einerseits an, daß unser Umgang mit den Gegenständen einen praktischen

Ursprung hat, gerade wie Heidegger im umsichtigen Besorgen des Daseins den

Ursprung des gegenständlichen Wissens sieht: „Jeder Mensch ist von seiner Exis-

tenz an auf den Verkehr mit den Gegenständen, d. h. auf das praktische Gebiet

gewiesen.“594

Nun weist Schleiermacher darauf hin, daß das Denken, das um des praktischen

Zweckes willen vollzogen wird, zum „Gebiet des unvollkommenen Den-

kens“ gehört, „da wir das Denken nicht um seiner selbst willen vornehmen.“595

Daß unser Streben nach dem objektiven Wissen mit unserem Streben nach dem

Gebrauchswissen gleichursprünglich ist, bedeutet also, daß wir nicht nur zum

unvollständigen Denken (dem geschäftlichen Denken), sondern auch zum voll-

592 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 359. 593 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104. 594 Ebd. 595 Ebd.

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ständigen Denken (dem reinen Denken), das um des Denkens selbst willen voll-

zogen wird, fähig sind. Wie ist dies möglich? Nach Heidegger garantiert uns die

Möglichkeit des Überraschtwerdens keineswegs, daß wir nach der reinen, vom

praktischen Lebensinteresse unabhängigen Erkenntnis streben; wir finden uns

lediglich damit ab, daß wir nicht alles im Rahmen unseres Gebrauchswissens

erklären können. Das theoretische Interesse entsteht erst dadurch, daß die um-

willende Lebensweise des Daseins der Praxis beraubt wird: Das Streben nach der

reinen Erkenntnis ist somit nur als ein Nachher des Gebrauchswissens möglich.

Dagegen will Schleiermacher geltend machen, daß gerade das gemeinschaftliche

Wesen des Denkens eine solche einseitige Fixierung des Denkens auf das prakti-

sche unmöglich macht. Wir haben schon gesehen, daß die Möglichkeit, das Ge-

dachte als das vom Denken Verschiedene zu setzen, für Schleiermacher nicht in

der Beziehung meines Denkens zu dem realen Ding besteht, sondern in der mei-

nes Denkens zu dem des Anderen. Dieses dialogische Wesen des Denkens ist für

Schleiermacher der Grund dafür, daß wir, obwohl unser Umgang mit den Ge-

genständen einen praktischen Ursprung hat, notwendig das Streben nach der von

meinem Lebensinteresse unabhängigen Objektivität als ein gleichursprüngliches

Prinzip des Lebens neben dem Streben nach dem praktischen Wissen annehmen

müssen: „Es gibt Menschen, die sich aus dem Gebiet der gemeinsamen Tätigkeit

zurückziehen und überwiegend das Denken nur um seiner selbst willen treiben.

Bringt es nun ein solcher Mensch dahin, sich ganz allein damit zu beschäftigen?

Das ist unmöglich; er kann sein Leben nicht aus dem Gebiet der gemeinsamen

Tätigkeit ausscheiden; eine gänzliche Trennung beider Gebiete ist nicht denk-

bar.“596

Diese Einsicht, daß unser Streben nach dem vollkommenen Denken gleichur-

sprünglich mit unserem Streben nach dem praktischen Wissen sein muß, ist kei-

neswegs trivial. Wir haben schon im ersten Teil dieser Arbeit gesehen, daß die

Unheimlichkeit des Lebens für Heidegger die Funktion hat, das Dasein von sei-

nem Verfallen an das Man und die besorgte Welt zur ursprünglichen Geschicht-

lichkeit des Lebens zurückholt. Solange aber Heidegger das alltägliche Sein des

596 Ebd., S. 105.

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Da und das Verfallen des Daseins zur einzig ursprünglichen Quelle des Wissens

macht, unterminiert er zugleich die ontologische Möglichkeit der seinsgeschicht-

lichen Fundierung des Daseins selbst. Das Wissen hat nach Heidegger im prakti-

schen Leben seinen Ursprung. Und gerade die um-etwas-willen verrichteten Be-

sorgungen des Daseins sind der Grund dafür, daß die Faktizität der Lebensbewe-

gung im Verfallen bzw. in der Ruinanz (nach dem Ausdruck des frühen Heideg-

gers) liegen soll. Was passiert nun aber, wenn wir dem Ruf unseres Gewissens

letztlich folgen? Wie können wir ein seinsgeschichtliches Leben führen, nachdem

wir uns zum eigenen Sein entschlossen haben? Die ontologische Differenz zwi-

schen dem Sein und dem Seienden liefert hier keine Antwort. Denn dieser Unter-

schied bleibt bei jedem Bewußtsein vom Seienden gleich, da das Sein selbst nicht

nach dem Maß dieses oder jenes Seienden unterschiedlich verstanden werden

kann. Für ein seinsgeschichtliches Leben müssen wir den Sinn des konkret Seien-

den neu bestimmen, da allein im Bereich des Seienden eine geschichtliche Di-

mension des Seins möglich ist. Aber wie können wir den Sinn des konkret Seien-

den neu bestimmen, wenn das Wissen letztlich nur das Gebrauchswissen sein soll?

Wie können wir das konkret Seiende über die Grenze des am praktischen Zweck

orientierten Alltagslebens hinausführen, wenn wir kein Streben nach der reinen

Erkenntnis haben, in der das Seiende nicht bloß als Mittel zum praktischen

Zweck bestimmt wird?

Es wurde bereits erwähnt, daß Schleiermacher von einer phänomenologischen

Analyse des Lebens ausgeht, die mit der Heideggerschen Duplizität des eigentli-

chen und des uneigentlichen Selbst vergleichbar ist. Schleiermacher versteht die

Lebensbewegung des Daseins gerade wie Heidegger in der Duplizität des eigent-

lichen und des uneigentlichen Selbst: Während der Mensch im praktischen Leben

am Zweck orientiert ist, ist er in seiner liebenden Beziehung mit dem Seienden an

der reinen Erkenntnis orientiert, in der das Seiende so gezeigt werden soll, wie es

an sich ist. Gerade wie Heidegger in der Unheimlichkeit des Lebens den eigentli-

chen Grund für die Abkehr des Daseins von seinem faktisch verfallenen Alltags-

leben findet, so betrachtet auch Schleiermacher die Liebe als eine Ursache für die

Unruhe des Lebens, die letztlich zu einer Kritik an der gewöhnlichen, am prakti-

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schen Zweck orientierten Denkweise des alltäglichen Bewußtseins führen soll:

„Sowie er auf einen Gegenstand der Liebe stößt, gerät er in Unruhe über die

Richtigkeit seiner Vorstellungen und will höher und reiner überzeugt sein. So

erregt die Liebe zuerst den Skeptizismus, d. h. das Streben, uns nicht mit dem

traditionellen Resultate zu begnügen, sondern uns überzeugen zu wollen über alle

Vorstellungen von der Liebe aus.“597 Für Heidegger zeichnet sich die Alltäglich-

keit, die die Daseinsorientierung am praktischen Leben charakterisiert, durch das

Fehlen der Unruhe aus: „Das Dasein kann an der Alltäglichkeit dumpf ‚leiden‘, in

ihrer Dumpfheit versinken, ihr in der Weise ausweichen, daß es für die Zerstreut-

heit in die Geschäfte neue Zerstreuung sucht.“598 Auch für Schleiermacher ist das

praktische Leben durch seine Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrhaftigkeit der

gegebenen Vorstellungen charakterisierbar: „Es kommt [auf dem praktischen

Gebiet] nun darauf an, die Reihe von Vorstellungen zu fixieren. Dabei kann es

sein, daß seine Vorstellungen von den Dingen falsch sind. Aber wenn sie nur in

gleichem Verhältnis stehen, und er weiß, daß er damit dies oder jenes bewirken

kann, so ist ihm diese Unwahrheit ganz gleich. Er läßt die Vorstellung so, wie er

sie bekommen hat, bis er auf Zweifel stößt.“599 Das Alltagsdasein läßt sich nach

Heidegger durch das Gerede bestimmen, so daß die öffentliche Meinung kritiklos

übernommen wird. In genau diesem Sinn führt Schleiermacher das praktische

Leben auf die Herrschaft der Tradition zurück, während er der Liebe die Mög-

lichkeit zuweist, die Tradition ins Wanken zu bringen: „Es gibt ein Gebiet der

Praxis mit dem Charakter der ruhigen Herrschaft des Traditionellen, und ein Ge-

biet der Liebe mit dem Charakter der Unruhe, wo wir nach immer richtigeren

Verstellungen bis zu einer gewissen absoluten Höhe des Überzeugungsgefühls

streben.“600

Es gibt nun aber einen Unterschied zwischen Schleiermacher und Heidegger, der

von folgenreicher Bedeutung ist: Schleiermacher betrachtet das Sein des Men-

schen in seinem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein, während

597 Schleiermacher, Dialektik, a.a.O, S. 105. 598 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 371. 599 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 104. 600 Ebd., S. 106.

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Heideggers Begriff des In-der-Welt-seins nicht über die Grenze der abstrakten

Trennung des eigentlichen Selbst und des uneigentlichen Selbst hinausgeht. Diese

Differenz kann in zweierlei Hinsicht betrachtet werden. Erstens geht Heideggers

Begriff der Zuhandenheit von einer absoluten Priorität der zweckmäßigen Ver-

richtungen des Daseins aus, während die konkrete Wirkung des transzendenten

Seins auf das menschliche Sein für Schleiermacher gar nicht auf die zweckmäßi-

gen Handlungen des Daseins im praktischen Leben reduzierbar ist. Hierin liegt m.

E. die wesentliche Leistung von Schleiermachers Offenbarungsbegriff. Meine

Wahrnehmung eines Seienden bringt ein Wissen hervor, in dem das Wesen dieses

Seienden offenbar wird. Dieses Wissen bietet zwar die Möglichkeit, für den prak-

tischen Zweck gebraucht zu werden. Es ist an sich aber für Schleiermacher kein

Gebrauchswissen. Zweitens birgt Heideggers Dualismus der Eigentlichkeit und

der Uneigentlichkeit die Gefahr einer vollständigen Nivellierung des Anderen,

der zu einem bloß durchschnittlichen Menschen degradiert wird, während gerade

das Mitsein des Daseins mit dem Anderen für Schleiermacher die Möglichkeit

beinhaltet, sich vom praktischen Lebensinteresse frei zu machen und sich somit

auf die liebende Beziehung mit dem Anderen auszurichten. Gerade darin, daß das

Denken einen gemeinschaftlichen Ursprung hat, gründet für Schleiermacher die

fundamentale Seinsmöglichkeit des Daseins, sich zu einem der reinen Erkenntnis

dienenden, von jeglichem privaten Lebensinteresse unabhängigen Leben zu ent-

schließen. Die Liebe im Sinne Schleiermachers betrifft in diesem Sinn nicht nur

das emotionale Leben des Menschen; sie repräsentiert zugleich die Möglichkeit

der Entschlossenheit zu einem der reinen Erkenntnis dienenden Leben, eine Liebe

zur echten Weisheit, die nichts anderes ist als Philosophie.

297

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3. Der ontologische Ursprung der Frage nach dem Sein selbst

Nachdem dargestellt wurde, inwiefern sich Schleiermachers philosophischer An-

satz von Husserls idealistischer Phänomenologie unterscheidet, stellt sich die

Frage, wie das Sein selbst (Gott) von Schleiermacher konzipiert wird. In diesem

Kapitel soll die Bestimmung des ontologischen Ursprungs der Frage nach dem

Sein bei Schleiermacher und bei Heidegger behandelt werden. Dabei spielt die

Frage nach dem ‚An sich‘ eine zentrale Rolle. Sie ist für Schleiermacher nicht

bloß eine theoretische Frage, sondern ein Ausdruck des wirklichen Bewußtseins-

lebens. Denn unser Bewußtsein hat nach Schleiermacher das reine Denken als ein

konstitutives Strukturelement, fragt daher notwendig nach der wirklichen Seins-

weise eines Seienden, die durch die gegenständliche Auffassung im praktischen

Leben eher verdeckt bleibt (3.1.). Für den Kontext dieser Arbeit ist hierbei be-

sonders die Kritik des jungen Heideggers an Schleiermachers Begriff des ‚religiö-

sen Abhängigkeitsgefühls‘ von Bedeutung. Betrachtet man Heideggers Kritik am

Abhängigkeitsgefühl im Hinblick auf Schleiermachers Untersuchung des Prob-

lems des Ansichseins, wird man deutlich erkennen können, daß Heideggers Kritik

am Abhängigkeitsgefühl auf einem unzureichenden Begriff des Daseins beruht;

das Dasein wird für Heidegger beinahe in allen Überlegungen als ein formal-

ontologischer Strukturbegriff konzipiert, ohne daß dabei auf den konkreten Wir-

kungszusammenhang zwischen dem Dasein und dem anderen Sein hinreichend

Rücksicht genommen wird (3.2.). Zudem soll dafür argumentiert werden, daß

Heideggers Kehre in der Seinsfrage keinen radikalen Standpunktwechsel darstellt.

Zwar versucht Heidegger erst nach der Kehre, das Sein positiv zu bestimmen,

diese Versuche stehen aber, wie gezeigt werden soll, nicht unbedingt in einem

Widerspruch zu der Fundamentalontologie von Sein und Zeit (3.3.).

Im Zentrum dieses dritten Kapitels soll insgesamt zum einen die Frage stehen, ob

Schleiermacher und Heidegger ein vergleichbares Seinsverständnis haben und ob

Schleiermachers Gottesbegriff eine angemessene Antwort auf die ontologische

298

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Frage nach dem Sein selbst darstellen kann. Durch einen Vergleich des Seinsbeg-

riffs Heideggers nach der Kehre mit Schleiermachers Gottesbegriff wird deutlich,

daß Heidegger, auch wenn seine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins

für eine überzeugende Beantwortung der Frage nach dem Sein selbst unzurei-

chend ist, nach der Kehre einen positiven Seinsbegriff erarbeitet hat, der mit dem

Gottesbegriff Schleiermachers in einem wichtigen Punkt übereinstimmt.

3.1. Die Frage nach dem Sein an sich

Schleiermachers Begriff der Liebe ist m. E. ein Beweis dafür, daß Schleiermacher,

auch wenn er die Verabsolutierung des Denkens bei zeitgenössischen Philoso-

phen stark kritisiert, keineswegs ein Befürworter eines Irrationalismus ist. Der

gemeinschaftliche Ursprung des Denkens, in dem die Anerkennung des Anderen

als eines Selbstdenkenden notwendig impliziert ist, ermöglicht uns, den Gegens-

tand des Denkens als das Ansichseiende anzuerkennen. Dies bedeutet für Schlei-

ermacher, daß der Gegenstand unseres Denkens nie auf das Gebrauchswissen

reduziert werden kann. Dabei betrachtet Schleiermacher die Beziehung zwischen

meinem Sein und dem anderen Seienden in einem konkreten Wirkungsverhältnis.

Es ist nicht so, daß wir zuerst einem passiven Gegenstand begegnen und danach

durch eine rein subjektive Urteilsbildung diesem Gegenstand irgendeinen Sinn

verschaffen. Vielmehr ist jedes Seiende ein auf mich wirkendes Sein. Jedes Sei-

ende ist, solange es sich in einem konkreten Wirkungsverhältnis befindet, zu-

gleich eine Provokation zum Denken, eine Ursache dafür, daß ich über die Gren-

ze meiner selbstgenügsamen Daseinsführung im praktischen Leben zum rein er-

kennenden Leben hinausgehe.

Die Liebe ist m. E. als das zu verstehen, was Schleiermacher als die konkrete

Bedingung für unser frommes Abhängigkeitsgefühl darstellt, in dem ich mich als

ein Sein in der Welt oder in dem ganzen Sein betrachte. Gerade in dieser rein

erkennenden Beziehung der Liebe, in der ich nach der von meinem praktischen

Interesse unabhängigen Erkenntnis strebe, hört das Seiende auf, bloß ein Mittel

zu einem praktischen Zweck zu sein. Jedes Seiende ist nun nicht mehr ein Ge-

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genstand, sondern ein an sich Seiendes, das genauso wie ich ein Teil des ganzen

Seins ist. Mit dem anderen Seienden stehe ich in einer höheren Einheit, die von

der Sinneinheit des praktischen Lebens grundverschieden ist.

Dadurch, daß Schleiermacher unser Streben nach reiner Erkenntnis zu einem

fundamentalen Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins erhebt, stellt er

damit zugleich die konkrete Bedingung dafür dar, warum das fromme Abhängig-

keitsgefühl als unser unmittelbares Selbstbewußtsein verstanden werden muß. Im

praktischen Leben betrachte ich mich als ein Handlungssubjekt, das dem Gegens-

tand, der ein Mittel zu meinem praktischen Zweck ist, eigenständig gegenüber-

steht. Ich bleibe vom Gegenstand getrennt, und ich kann auf dieser Ebene des

praktischen Bewußtseins kein frommes Abhängigkeitsgefühl haben. Erst dann,

wenn ich nach dem auf das Gebrauchswissen nicht reduzierbaren Ansichsein die-

ses Gegenstandes frage, kann ich mich als ein solches Sein verstehen, das mit

dem anderen Seienden gemeinsam zu einem ganzen Sein gehört. Darum vertritt

das Bewußtsein Gottes für Schleiermacher immer ein Moment, in dem ich mich

als gebunden an anderes Sein wiederfinde: „Das Bewußtsein Gottes haben wir

immer mit dem Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit alles Seins in unserem

Selbstbewußtsein, d. h. nicht anders als in dem Moment, wo unser Sein mit dem

Sein außer uns verknüpft ist. Nur in Beziehung auf den Komplexus des Denkens,

als der Totalität des Seins entsprechend, haben wir den transzendenten Grund

gesucht und könnten ihn auch nicht anders als in diesem Zusammenhang su-

chen.“601

Gerade hierin ist die Philosophie Schleiermachers der Existenzontologie Heideg-

gers m. E. in einem wesentlichen Punkt überlegen. J. Brechtken weist in seiner

Analyse der geschichtlichen Transzendenz Heideggers auf die „Unzulänglichkeit

der Sorgestruktur“ für die Frage nach dem Sein selbst hin.602 Das Sein sei bei

Heidegger in einer der transzendentalphilosophischen Reflexion vergleichbaren

Methode vom Dasein her als Ganzheit und Fundament eben dieses Daseins ge-

dacht. Über die Qualität dieses ‚Seins‘ sei hier somit bereits vorentschieden. Es

601 Ebd., S. 301. 602 J. Brechtken, Geschichtliche Transzendenz bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1972, S. 103.

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sei das Sein des sorgend-besorgten Daseins, des Daseins unter der Herrschaft des

Willens.603

Zwar greifen diese Behauptungen von Brechtkens zu kurz, um den Begriff der

Sorge bei Heidegger richtig zu verstehen. Denn die Sorge bedeutet für Heidegger

nicht nur ein Prinzip des praktischen Lebens, sondern sie ist auch eine fundamen-

tale Seinsweise des Daseins, die auch das Leben des zum eigenen Sein entschlos-

senen Daseins begleiten muß: Die Herrschaft des Willens, wenn man darunter

eine Zweckorientierung im praktischen Leben versteht, kann nicht die Sorge-

struktur des Daseins im ganzen Umfang vertreten. Aber wenn es um die Unzu-

länglichkeit der Sorgestruktur für die Frage nach dem Sein selbst geht, muß man

allerdings mit Brechtken anerkennen, daß die Sorge keine konkrete Bedingung

dafür sein kann, daß das Dasein über die Grenze des praktischen Lebens hinaus-

geht. Wie wir gesehen haben, erzeugt das Phänomen des Überraschtwerdens, das

die Grenze des Sinnzusammenhanges des Alltagslebens offenbar macht, nach

Heidegger lediglich Resignation. Wie kann sich dann das Dasein, das sich durch

die Selbstgenügsamkeit des durchschnittlichen Daseins charakterisieren läßt, zum

eigentlichen Sein entschließen? Die Sorge ist, auch wenn sie die Lebensführung

mit der Entschlossenheit zum eigenen Sein (Gewissen) betrifft, nur ein Modus

des Lebens. Wie sich das Dasein trotz seiner selbstgenügsamen Lebensführung

im praktischen Leben zum eigenen Sein entschließt, kann mit dem Begriff der

Sorge nicht überzeugend erklärt werden.

3.1.1. Das In-der-Welt-sein des Daseins und das transzendente Sein

F. Brecht macht in seinem Vergleich von Heidegger und Jaspers eine interessante

Bemerkung: „Heidegger könnte ungefähr als der Fichte der Existenzontologie,

Jaspers als ihr Schelling charakterisiert werden.“604 Was Brecht damit konkret

meint, ist, daß Jaspers das Problem der Transzendenz zum Thema seiner Exis-

tenzphilosophie mache, während es bei Heidegger unberücksichtigt bleibe: „Hei-

degger scheint von Gott, von allem transzendenten Ansichsein abzusehen. Das 603 Ebd. 604 F. Brecht, Heidegger und Jaspers, Wuppertal 1948, S. 7.

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Rätsel des Daseins soll aus ihm selbst gelöst werden; die Betrachtung bleibt da-

seinsimmanent.“605 Gegenüber der Philosophie von Jaspers, die sich mit den drei

Themenbereichen „Weltorientierung, Existenzerhellung, Metaphysik“ auseinan-

dersetzt, „ist die Philosophie Heideggers einheitliche ontologische Deduktion.“606

Heideggers Frage nach dem Sinn des Seins löst sich demnach in die Frage nach

der Seinsweise des Daseins auf. Während „Heideggers Philosophie auf allen ih-

ren Stufen von der einen Frage nach dem Sinn von Sein bewegt ist“, ist „das

Sein“ für Jaspers „von vornherein in drei verschiedenen Grundweisen“ darzustel-

len, nämlich „als Weltsein, als Selbstsein und transzendentes Ansichsein.“ 607

Nach Brecht ist die „Existenz“ sowohl für Jaspers als auch für Heidegger „ein

Sich-zu-sich-selbst-Verhalten.“608 Nun wird die ‚Existenz‘ aber Brecht zufolge

bei Jaspers zugleich als ein Verhalten des Daseins zur Transzendenz verstanden,

während sie bei Heidegger als ein reines Verhältnis des Daseins zu sich selbst

aufgefaßt wird: „Existenz bei Jaspers ist, was sich zu sich selbst und darin zur

Transzendenz verhält; für Heidegger kann sich Existenz als Seinkönnen und

Möglichkeit wie auch als Seinmüssen und Geworfenheit nur im Verhältnis zu

sich selbst bewegen.“609

Diese Behauptung von Brecht ist allerdings eine zu einseitige Darstellung von

Heidegger. Es ist zwar richtig, daß Heidegger seine Frage nach dem Sein nicht

mit einer Frage nach dem transzendenten Ansichsein (Gott) verbinden möchte.

Das Sein ist dennoch auch für Heidegger primär als das transzendente Sein zu

verstehen, und das Sein des Daseins ist nicht ein Inbegriff des Seins, sondern nur

ein besonderes Beispiel dafür, daß das Sein nur im Sinn des transzendenten Seins

gedacht werden kann: „Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gat-

tung eines Seienden, und doch betrifft es jedes Seiende. Seine ‚Universalität‘ ist

höher zu suchen. Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mög-

liche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens

schlechthin. Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausgezeichnete, 605 Ebd., S. 15. 606 Ebd., S. 14. 607 Ebd. 608 Ebd., S. 16. 609 Ebd., S. 16 f.

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sofern in ihr die Möglichkeit und die Notwendigkeit der radikalsten Individuation

liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Er-

kenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas

transcendentalis.“610

Der Grund dafür, warum sich Heidegger in Sein und Zeit trotz seiner Anerken-

nung des transzendenten Seins auf die Analyse der Daseinsstruktur konzentriert,

besteht darin, daß er das Da des Daseins als Ermöglichungsbedingung der Trans-

zendenz betrachtet.611 Die Welt, in der ich mich als ein bei dem anderen Seienden

ausstehendes Sein (Ekstase) wiederfinde, ist nicht ohne das Da des Daseins mög-

lich: „Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der

Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Extasen ‚da‘. Wenn kein Dasein

existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.“612 Das Da des Daseins, das sich als ein in der

Zeit befindliches Sein wiederfinden muß, ist also die Bedingung dafür, daß das

Sein, das das transcendens schlechtin ist, zum Bewußtsein kommt. Nun ist das

transzendente Sein, das keine Gattung eines Seienden ist, nicht bloß ein Sein, das

außer mir ist. Das Wesensmerkmal des Daseins liegt in der Geworfenheit, das

Dasein muß sich ohne vorhergehende Möglichkeit der freien Wahl als ein sich in

der Welt Befindliches wiederfinden: „Mit der faktischen Existenz des Daseins

begegnet auch schon innerweltliches Seiendes. Daß dergleichen Seiendes mit

dem eigenen Da der Existenz entdeckt ist, steht nicht im Belieben des Daseins.

Nur was es jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie entdeckt und erschließt,

ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer in den Grenzen seiner Geworfen-

heit.“613 Als ein Sein, das notwendig die Struktur des In-der-Welt-seins hat, kann

das transzendente Sein nicht bloß das Sein außer sich haben. Das Dasein selbst

gehört zum Sein, ist ein Sich-im-Ganzen-befindliches-sein.

610 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 38. 611 Vgl. „Die Seinsfrage [Heideggers] fragt nicht nach der individuellen Auslegung des in der Geschichte immer anders erscheinenden Lebens, sondern nach einer Universalstruktur, die das Leben als Leben bestimmen und zugleich die Möglichkeit des philosophischen Erkennens selbst, d. h. den transzendentalen Horizont der Seinsfrage zeigen muß.“ (D. Sargentis, Das differente Selbst der Philosophie, a.a.O., S. 76 f.) 612 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 365. 613 Ebd., S. 366.

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Heideggers Analyse der ausstehenden Seinsweise des Daseins (Ek-sistenz) kul-

miniert in dieser dynamischen Beziehung zwischen der Geworfenheit des Daseins

und der Transzendenz des Seins. Ohne die Welt, die sich erst durch das Da des

Daseins als da-seiend zeigt, kommt das transzendente Sein nicht zum Bewußtsein.

Aber die Transzendenz des Seins bedeutet nicht schlechthin ein außer mir Seien-

des, sondern meint das Sein, das auch mein Sein umfaßt. Ich bin geworfen in eine

Welt, und nur in dieser Geworfenheit, die mein Sein als das In-sein bedeutet, ha-

be ich das Bewußtsein des transzendenten Seins.

Das Sein des Daseins tritt nicht in eine ‚äußerliche Beziehung‘ mit dem Sein,

wenn man diesen Gedankengang Heideggers mit einem Begriff von Schleierma-

cher darstellt. Das Sein des Daseins kann nur in eine rein innerliche Beziehung

mit dem Sein treten, und gerade hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum Hei-

degger trotz seiner Definition des Daseins als eines In-der-Welt-seins weiter nach

dem Sinn des Seins fragen muß. Die Welt vertritt freilich die Sachrelation zwi-

schen den einzelnen Seienden, mit denen ich in eine äußerliche Beziehung trete.

Da aber jedes einzelne Seiende nur als ein In-sein möglich ist, kann die Welt, in

der alles Seiende miteinander in eine äußerliche Beziehung tritt, nicht das Sein

selbst vollständig zum Ausdruck bringen. Wir müssen zuerst nach dem Moment

fragen, in dem mein Dasein und die Welt eine Einheit bilden: „Die Bedeutsam-

keitsbezüge, welche die Struktur der Welt bestimmen, sind […] kein Netzwerk

der Formen, das von einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt wird.

Das faktische Dasein kommt vielmehr, ekstatisch sich und seine Welt in der Ein-

heit des Da verstehend, aus diesen Horizonten zurück auf das in ihnen begegnen-

de Seiende.“614 Diese Einheit von Welt und Dasein bedeutet für Heidegger, daß

man für die ontologische Strukturanalyse des In-der-Welt-seins als einer Grund-

verfassung des Daseins nach dem Sinn des Seins fragen muß. Die Welt setzt das

Da des Daseins notwendig voraus. Das In-der-Welt-sein kann daher nicht ein

ursprünglicher Sinn des Seins sein, da das Sein alles innerweltlich Seiende um-

fassen soll. Der ontologische Sinn des Seins muß geklärt werden, wenn man das

In-der-Welt-sein des Daseins und die Weltstruktur richtig verstehen will: „Durch

614 Ebd.

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die Rückführung des In-der-Welt-seins auf die ekstatischhorizontale Einheit der

Zeitlichkeit ist die existenzial-ontologische Möglichkeit dieser Grundverfassung

des Daseins verständlich gemacht. Zugleich wird deutlich, daß die konkrete Aus-

arbeitung der Weltstruktur überhaupt und ihrer möglichen Abwandlungen nur in

Angriff genommen werden kann, wenn die Ontologie des möglichen innerweltli-

chen Seienden hinreichend sicher an einer geklärten Idee des Seins überhaupt

orientiert ist.“615

In diesem Gedankengang Heideggers kann man m. E. eine Nachwirkung von

Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frühen Freiburger

Zeit finden. Daß das transzendente Sein nicht mit der Dyadik von Subjekt und

Objekt angemessen ausgelegt werden kann, ist der Ausgangpunkt des Gefühls-

begriffs bei Schleiermacher. Ich erfahre mich in meinem Abhängigkeitsgefühl als

einen Teil des Ganzen. Das Abhängigkeitsgefühl ist das Selbstbewußtsein unse-

res Seins in der Welt (oder in dem ganzen Sein). Wir haben gesehen, daß das

transzendente Sein für Heidegger nur durch das Da des Daseins zum Bewußtsein

kommt, d. h. immer in der Verbindung mit dem Weltbewußtsein steht, in dem ich

mich als ein ausstehendes Sein-bei verstehe. Analog argumentiert auch Schleier-

macher: „Wir haben kein anderes Interesse am transzendenten Grunde als immer

in Beziehung auf die Idee der Welt; und auch in unserem unmittelbaren Selbst-

bewußtsein ist er uns nie anders als in Verknüpfung mit demselben gegeben. In

der Trennung von der Welt wäre er etwas, was wir weder kennten noch wollten.

Jeder Versuch, den transzendenten Grund in solcher Verbindungslosigkeit mit der

Idee der Welt darzustellen, zerstört immer sich selbst.“616

3.1.2. Das Problem des Ansichseins

Heidegger-Kenner würden hier einwenden wollen, daß in diesem Vergleich vom

Abhängigkeitsgefühl und der Extase der Unterschied der jeweiligen Seinsbegriffe

bei Schleiermacher und Heidegger nicht genügend berücksichtigt werde. Das

fromme Abhängigkeitsgefühl setze eine Beziehung zwischen einem Seienden und

615 Ebd. 616 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 301.

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dem ganzen Sein voraus, wobei das ganze Sein nun nichts anderes als das An-

sichsein (Gottes) bedeuten könne. Dagegen meine Heidegger mit dem Sein selbst

nicht das Ansichsein Gottes. Daß die Struktur des Daseins das In-der-Welt-sein

sei, bedeute daher nicht, daß Heidegger ebenso wie Schleiermacher das alles end-

liche Seiende umfassende ganze Sein voraussetze, in dem sich auch das Sein des

Daseins befinde.

Dieser Einwand ist einerseits berechtigt, da der Abhängigkeitsbegriff tatsächlich

eine Beziehung zwischen dem Teil und dem Ganzen voraussetzt. Allerdings ü-

bersieht dieser Einwand, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher als ein

fundamentales Moment des wirklichen Bewußtseinslebens konzipiert wird und

nicht bloß als eine Folge der philosophischen Reflexion verstanden wird.

Heidegger fragt nach dem Sein selbst, das im Unterschied zur traditionellen

Seinsauffassung nicht als das Ansichsein bezeichnet werden soll. Das Ansichsein

ist der Definition nach das Sein, das unabhängig von meinem Bewußtsein ist. Das

Sein im Heideggerschen Sinn ist dagegen nie unabhängig vom Seinsverständnis

des Daseins möglich: „Seiendes ist unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Er-

fassen, wodurch es erschlossen, entdeckt und bestimmt wird. Sein aber ‚ist‘ nur

im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis ge-

hört.“617 Diese Erklärung Heideggers scheint mir aber in zweierlei Hinsicht prob-

lematisch zu sein: 1. Gerät man hier nicht in einen naiven Objektivismus, wenn

man daran glaubt, daß das Seiende unabhängig von Erfahrung, Kenntnis und Er-

fassen ist? 2. Ist die These, daß das Sein ohne das Seinsverständnis des Daseins

nicht möglich ist, nicht ein Ergebnis der philosophischen Reflexion, das nicht der

wirklichen Lebensführung des Daseins entspricht? Es wurde bereits mehrfach

betont, daß für Schleiermacher das Gottesbewußtsein nicht isoliert von unserem

Weltbewußtsein vorkommen kann. Hieraus kann man nun schlußfolgern, daß

auch für Schleiermacher das Bewußtsein Gottes nicht ohne ein Verständnis des

Seienden möglich ist. Das bedeutet aber nicht, daß das Seiende auch ohne das

verstehende, auffassende, urteilende Bewußtsein möglich ist. Im Gegenteil: Das

Seiende setzt das Denken in raum-zeitlichen Gegensätzen voraus, das sich ange-

617 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 183.

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sichts der Idee des ganzen Seins, das keinen solchen Gegensatz haben kann, als

widersprüchlich erweist. In unserem Gefühl unseres Seins im ganzen Sein können

wir also nicht davon ausgehen, daß das Seiende schlechthin ist.

Allerdings fragen wir in unserem Denken notwendig nach dem Ansichsein des

Seienden, wie wir anhand der Analyse von Schleiermachers Begriff der Liebe

gesehen haben. Aber das bedeutet nicht, daß Schleiermacher selbst dem einzelnen

Seienden den Status des real Seienden verleiht. Alles einzelne Seiende gehört für

Schleiermacher zum Phänomenon, das freilich nicht mit dem Nichts als einem

begrifflichen Korrelat des realen Seins verwechselt werden darf. D. h.: In der

natürlichen Lebensführung gehen wir stets davon aus, daß das Seiende unabhän-

gig von unserem Bewußtsein existiert. Schleiermacher kommt nun nach einer

phänomenologischen Analyse des Selbstbewußtseins zu dem Ergebnis, daß unse-

re Vorstellung der voneinander getrennt seienden Dinge problematisch ist. Ferner

gibt sich Schleiermacher nicht damit zufrieden, die Relativität des dinglichen

Seins philosophisch aufzuweisen. Er versucht auch nachzuweisen, daß wir stets

mit einem Seinsverständnis leben, in dem das Sein nicht auf die Totalität alles

einzelnen Seienden reduzierbar ist. Gerade hierin liegt die primäre Bedeutung der

Religion für Schleiermacher.

Daß das Sein eigentlich das dynamische Sein ist, in dem die einzelnen Seienden

in einem konkreten Wirkungsverhältnis stehen, ist für Schleiermacher der Grund

dafür, warum die Rede von der Realität der dinglichen Objekte nicht einer stren-

gen Untersuchung durch die Philosophie standhalten kann.618 Das ganze Sein ist

eigentlich Seinsfülle, alle einzelnen Seienden stehen in einer absoluten Kontinui-

tät der Kraft und Wirkung; nur deswegen, weil unser Denken vorwiegend am

Sehen orientiert ist, betrachten wir das Seinsverhältnis zwischen den Seienden

irrtümlicherweise als eine raum-zeitliche Relation zwischen den voneinander

getrennten Seienden, die in Wirklichkeit in einem wechselseitigen Wirkungsver-

hältnis miteinander verbunden sind.619 Es ist zwar freilich absurd, wenn man nun

Heideggers Ontologie als einen naiven Objektivismus auffassen möchte. Heideg-

618 Vgl. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 262 f. 619 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 201 f.

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ger gibt aber, anders als Schleiermacher, keine konkrete Erklärung dafür, wie wir

uns von unserem natürlichen Glauben an die Realität der Dinge kritisch distanzie-

ren können. Heideggers Ontologie behandelt nicht explizit das Problem des gan-

zen Seins.

Heideggers Ontologie hat aber doch diese Dimension des ganzen Seins durchaus

zum Thema, auch wenn sie nicht deutlich zum Ausdruck kommt.620 Heideggers

These, daß das Sein ohne das Seinsverständnis des Daseins nicht möglich sei, ist

nur eine philosophische Reflexion, die auch mit seiner eigenen Analyse der eksta-

tischen Seinsstruktur des Daseins nur schwer zu vereinbaren ist. Denn das Dasein

ist nach Heidegger zugleich ein In-sein, und dieses In-sein des Daseins darf nicht

auf das In-der-Welt-sein reduziert werden, auch nicht im Rahmen der Heidegger-

schen Analyse der ekstatischen Seinsstruktur des Daseins. Es wurde bereits ge-

zeigt, daß für Heidegger das faktische Dasein ekstatisch sich und seine Welt in

der Einheit des Da versteht. Hieraus darf man zwei Thesen ableiten: 1. Das Da-

sein steht mit der Welt in einer ekstatischen Beziehung, in der das Dasein sein

eigenes Seins und die Welt als etwas Getrenntes vorfindet. Auch Schleiermacher

weist in der Glaubenslehre auf die Möglichkeit hin, daß sich die Menschen als

ein von der übrigen Welt abgesondertes Sein betrachten.621 2. Das Dasein fühlt

sich aber doch in der Einheit mit der Welt, als ein In-sein, für das die Trennung

von den anderen Seienden aufgehoben ist. Dieses In-sein bedeutet für Heidegger

mehr als das In-der-Welt-sein.

In seiner Unterscheidung von dem In-der-Welt-sein und dem In-sein weist Hei-

degger darauf hin, daß das In-der-Welt-sein für die Definition des Daseins nicht

ausreichend ist: „Das In-der-Welt-sein ist zwar eine a priori notwendige Verfas-

sung des Daseins, aber längst nicht ausreichend, um dessen Sein voll zu bestim-

men.“622 Der Grund hierfür besteht vor allem darin, daß das In-der-Welt-sein die

Vorhandenheit voraussetzt, während das In-sein nicht auf die Beziehung zwi-

schen dem Dasein und dem Vorhandenen zurückzuführen ist: „Das In-sein meint 620 Auch F. Brecht weist darauf hin, daß die Dimension des „transzendenten Ansichseins“ bei Heidegger „nicht ausdrücklich [thematisiert wird].“ (F. Brecht, Heidegger und Jaspers, a.a.O., S. 15.) 621 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 32 f. 622 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 53.

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so wenig ein räumliches ‚Ineinander‘ Vorhandener, als ‚in‘ ursprünglich gar nicht

eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet […].“623 Heidegger be-

trachtet nun das In-sein als eine ontologische Basis für das In-der-Welt-sein: „Das

‚Sein bei‘ der Welt, in dem näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der

Welt, ist ein im In-sein fundiertes Existenzial.“624

Das In-sein weist, auch wenn Heidegger es primär als eine notwendige Seins-

struktur des Daseins verstehen will, auf die Dimension des transzendenten An-

sichseins hin, zu dem das Dasein nie in ein äußerliches Verhältnis treten kann.

Dies kann besonders daraus erkannt werden, daß das In-sein nach Heidegger auch

beim intentionalen Gerichtetsein des Bewußtseins auf das ontisch Seiende not-

wendig vorauszusetzen ist: „Im Sichrichten auf … und Erfassen geht das Dasein

nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist,

sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ‚draußen‘ bei einem

begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Si-

chaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der

inneren Sphäre, sondern auch in diesem ‚Draußen-sein‘ beim Gegenstand ist das

Dasein im rechtverstandenen Sinne ‚drinnen‘, d. h. es selbst ist es als In-der-

Welt-sein, das erkennt.“625 Hier kann man nun, auch wenn es bei Heidegger nicht

ausdrücklich formuliert wird, nicht umhin, einen Begriff des Ansichseins anzu-

nehmen, zu dem mein Sein und alles andere Seiende gehören sollen. Denn wenn

ich mich trotz meines intentionalen Gerichtetseins auf das äußerliche Seiende

doch als ein In-sein verstehen muß, drückt das In-sein nicht nur eine Seinsstruktur

des Daseins aus, sondern auch die Zugehörigkeit des Daseins und des anderen

Seienden zu einem Ganzen.626 Für die Definition dieses Ganzen gibt es m. E. nur

623 Ebd., S. 54. 624 Ebd. 625 Ebd., S. 62. 626 Im Begriff des In-seins, das sich von dem In-der-Welt-sein unterscheidet, liegt zugleich die Grenze des intentionalen Bewußtseins, das als Bewußtsein von etwas auf etwas Seiendes bezogen sein muß. D. Lange weist mit Recht darauf hin, daß Schleiermachers Begriff des schlechthinni-gen Abhängigkeitsgefühls nicht als Bewußtsein von etwas (intentionales Bewußtsein) verstanden werden darf: „Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit wird nun [in der zweiten Auflage der Glaubenslehre] in außerordentlich sorgfältig differenzierter Form mit dem Gottesbegriff in Ver-bindung gebracht. Schleiermacher setzt es [das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl] in der 2. Auflage der Glaubenslehre – im Unterschied zur ersten – nicht einfach gleich mit dem Gefühl der

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zwei Möglichkeiten: Das Ganze muß entweder als die Welt ausgelegt werden, in

der alles einzelne Seiende zueinander in ein äußerliches Verhältnis tritt; oder als

das Sein, dem eine äußerliche Trennung zwischen den Seienden nicht beizumes-

sen ist. Mit anderen Worten muß man entweder dem einzelnen Seienden den Sta-

tus des realen Seins geben, oder nach einem Begriff des Seins fragen, der alles

einzelne Seiende in sich schließt, ohne dabei bloß die Totalität alles endlichen

Seienden zu meinen. Dieses Sein darf allerdings nicht bloß als ein Ausdruck der

Seinsstruktur des Daseins verstanden werden, da sowohl das Dasein als auch das

Seiende nur als das faktisch Seiende in der Seinsstruktur des ‚Seins bei …‘, des

‚Seins in …‘ erscheinen können. Kann man nun dieses Sein, das die Zusammen-

gehörigkeit alles Seienden zum gemeinsamen Ganzen zum Ausdruck bringt, an-

ders bezeichnen als das transzendente Ansichsein?

In seiner ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘ formuliert Heidegger eine zent-

rale Frage seiner Philosophie: „Was bedeutet ‚Existenz‘ in S. u. Z.?“627 Heideg-

gers Antwort lautet: Die Existenz bedeutet „eine Weise des Seins, und zwar das

Sein desjenigen Seienden, das offensteht für die Offenheit des Seins, in der es

steht, indem es sie aussteht.“628 Mit anderen Worten zeigt sich das Sein in seiner

Offenheit durch das Da des ‚eksistierenden‘ Daseins. Heidegger betont, daß das

Ausstehen des Daseins nicht das Hinausgehen des Bewußtseins aus der geistigen

Innenwelt zu einer Außenwelt bedeutet: „Das ekstatische Wesen der Existenz

Abhängigkeit von Gott, sondern drückt sich vorsichtig aus: ‚daß wir uns unsrer selbst […] als in Beziehung mit Gott bewußt sind‘. Diese Differenzierung soll ein gewissermaßen weltliches Ver-ständnis Gottes als eines Seienden, von dem man abhängig ist, verhindern – eine solche Abhän-gigkeit könnte allemal nur eine relative Abhängigkeit sein – und Gott als das von aller welthaften Herkunft kategorial verschiedene und dennoch als dieses Ganz-andere-unserer-Selbst benennbare ‚Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins‘ begreifen lehren.“ (D. Lange, ‚Das fromme Selbstbewußtsein‘, in: G. Meckenstock (Hrsg.), Schleiermacher und die wissenschaftli-che Kultur des Christentums, a.a.O., S. 191 f. Allerdings darf der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Glaubenslehre in der Definition des frommen Abhängigkeitsgefühls nicht überbetont werden. Als Schleiermacher bereits in seinen Reden über die Religion auf die Grenze der Metaphysik und der Ethik bei der Thematisierung des Absoluten hinwies, lag der zentrale Ansatzpunkt darin, daß Gott nicht wie etwas in einer Relation mit dem anderen Sein Seiendes gedacht werden kann. Daß Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre das fromme Abhängigkeitsgefühl anders formuliert, weist m. E. keineswegs auf die inhaltliche Veränderung dieses Begriffs hin, sondern lediglich darauf, daß Schleiermacher eine stilistische Verbesserung vorgenommen hat, um das Wesen des frommen Abhängigkeitsgefühls noch deutli-cher zum Ausdruck zu bringen.

627 M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ,Was ist Metaphysik?‘‘, in: ders., Wegmarken, a.a.O., S. 374. 628 Ebd.

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wird […] dann noch unzureichend verstanden, wenn man es nur als ‚Hinausste-

hen‘ vorstellt und das ‚Hinaus‘ als das ‚Weg von‘ dem Innern einer Immanenz

des Bewußtseins und des Geistes auffaßt; denn so verstanden, wäre die Existenz

immer noch von der ‚Subjektivität‘ und der ‚Substanz‘ her vorgestellt, während

doch das ‚Aus‘ als das Auseinander der Offenheit des Seins selbst zu denken

bleibt.“629 Heidegger formuliert nun eine paradoxe These für die Definition des

Ekstasis: „Die Stasis des Ekstatischen beruht, so seltsam es klingen mag, auf dem

Innestehen im ‚Aus‘ und ‚Da‘ der Unverborgenheit, als welche das Sein selbst

west.“630

Diese These kann m. E. existenzontologisch akzeptiert werden, da das In-der-

Welt-sein schon das Ausstehen des Daseins voraussetzt; das Dasein ist in bezug

auf die Welt das Innestehende und das Ausstehende zugleich. Wenn es aber um

die Rede der Unverborgenheit und der Anwesenheit des Seins geht, bleibt Hei-

deggers Denken hier lediglich auf der Ebene der theoretischen Reflexion. Die

Einheit von Innestehen und Ausstehen in der Daseinsstruktur ist schon in der De-

finition des Daseins als eines In-der-Welt-seins notwendig impliziert. Wie das

Dasein über diese Einheit hinaus zu dem Bewußtsein des wesenden Seins selbst

gehen kann, bleibt hier aber unerörtert. Wie erwähnt, ist das Weltbewußtsein für

Schleiermacher mit der Möglichkeit verbunden, daß ein einzelnes Dasein sich der

ganzen äußerlichen Welt gegenüberstellt. Jeder hat also mit seinem Weltbewußt-

sein zugleich die Möglichkeit, sich als ein ausstehendes Dasein wahrzuhaben. Im

schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl aber, in dem wir uns als abhängig vom

ganzen Sein fühlen, ist diese Möglichkeit nicht mehr sichtbar. Nicht die Einheit

von Innestehen und Ausstehen charakterisiert hier das Dasein, sondern die reine

Inhärenz im ganzen Sein. Gerade hierin liegt der Grund dafür, warum es für

Schleiermacher unmöglich ist, daß wir mit dem ganzen Sein in eine äußerliche

Beziehung treten.

629 Ebd. 630 Ebd.

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Dieser Sinn des ganzen Seins (als des transzendenten Ansichseins Gottes),631

das Schleiermacher für seinen Begriff des religiösen Abhängigkeitsgefühls vor-

aussetzt, ist m. E. auch für Heideggers Existenzontologie notwendig. Ja, Heideg-

ger geht stillschweigend von diesem Begriff des ganzen Seins aus, auch wenn er

an keiner Stelle seinen eigenen Begriff des Seins explizit mit dem Begriff des

ganzen Seins (Sein als Seinsfülle, Dynamis) verbindet.632 So läßt sich die Exis-

tenz nach Heidegger zugleich durch das Wort Inständigkeit charakterisieren, das

das Innestehen des Daseins in der Offenheit des Seins bezeichnen soll: „Das, was

im Namen ‚Existenz‘ zu denken ist, wenn das Wort innerhalb des Denkens ge-

braucht wird, das auf die Wahrheit des Seins zu und aus ihr her denkt, könnte das

Wort ‚Inständigkeit‘ am schönsten nennen. Nur müssen wir dann zumal das In-

nestehen in der Offenheit des Seins, das Austragen des Innestehens (Sorge) und

das Ausdauern im Äußersten (Sein zum Tode) zusammen und als das volle We-

sen der Existenz denken.“633

631 F. Flückiger bezeichnet das ganze Sein im Sinn Schleiermachers, betrachtet in seiner absoluten Einheit, als die All-Einheit, in der die Trennung zwischen dem erfahrenden Dasein und dem er-fahrenen Gegenstandsein nicht mehr möglich ist: „Das All-Eine kann ja an sich gar nicht Ge-gestand sein, denn wenn es ein Bewußtsein außerhalb dem All-Einen gäbe, welchem dieses als Gegenstand gegenübersteht, dann wäre dieses Bewußtsein ein Sein für sich, und das All-Eine wäre gar nicht mehr die absolute Totalität.“ (F. Flückiger, Philosophie und Theologie bei Schlei-ermacher, Zollikon / Zürich 1947, S. 32. 632 Daß Heidegger auch die Frage nach Gott gestellt hat, der nicht als ein Seiendes verstanden werden darf, zeigt B.-C. Han in seiner überzeugenden Darlegung des Heideggerschen Gottesbeg-riffes: „Heidegger räumt Gott eine Autorität ein: ‚Die Unaufhaltsamkeit dieses Geschickes müßte dann dem Menschen einen Aufenthalt verweigern, der sich Ansprüchen entgegenhält, die den Sterblichen ein Bilden und Wirken im Dienste des Gottes abverlangen.‘ Die Autorität, die den Menschen zum Dienst verpflichtet, ist jedoch nicht die des Schöpfers. Wenn jener ‚Garten‘ das Haus wäre, in dem der Mensch ‚wohnt‘, so hat Gott nicht das Haus gebaut, denn Gott als Schöp-fer oder als Hausbauer entspringt der ‚Auslegung der Seiendheit als hergestellter und herstellender Anwesenheit‘, die Heidegger radikal in Frage stellt.“ (B.-C. Han, Martin Heidegger, München 1999, S. 120.) In diesem Zusammenhang ist auch ein Text von E. Wolz-Gottwald (Transformati-on der Phänomenologie ) interessant, in dem, wie der Untertitel dieses Textes (Zur Mystik bei Husserl und Heidegger) zeigt, die mystischen Elemente der Husserlschen Phänomenologie einer-seits und die der Heideggerschen Ontologie andererseits dargestellt werden. Nach Wolz-Gottwald stimmen die philosophische Mystik und das Denken Heideggers darin überein, „daß es sowohl der Mystik wie auch Heidegger um die Erfahrung der Paradoxie der Einheit von Immanenz und Transzendenz, von Zeitlichkeit und Ewigkeit geht.“ (E. Wolz-Gottwald, Transformation der Phi-losophie, Wien 1999, S. 375.) 633 M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ,Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 374.

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3.2. Die Schleiermacher-Kritik des frühen Heideggers und deren Bedeutung für

den Seinsbegriff Heideggers

Der Grund dafür, warum das ganze Sein im Sinne Schleiermachers bei Heidegger

nie explizit zum Ausdruck kommt, besteht m. E. darin, daß Heidegger das Dasein

nicht in einem konkreten Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein betrachtet:

Heideggers Ausgangspunkt besteht in der formal-ontologischen Analyse der

Seinsstruktur des Daseins.

Man kann bei Heideggers Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frü-

hen Freiburger Zeit deutlich erkennen, daß Heidegger Schleiermachers Religi-

onsphilosophie vom Standpunkt der Husserlschen Strukturanalyse des Bewußt-

seins aus betrachtet. Hier behauptet Heidegger, daß Schleiermachers Begriff der

schlechthinnigen Abhängigkeit zu sehr Ausdruck einer seinstheoretisch objekti-

vierenden Richtung sei – besonders in Bezug auf die Realität der Natur.634 Hei-

degger meint damit, daß das Selbstbewußtsein bei Schleiermacher – wie ein Na-

turobjekt – auf die wechselseitige Bestimmung zwischen den Seienden bezogen

wird: „‚Die wechselnde Bestimmtheit unseres Selbst‘ besagt: unser lebendiges

Bewußtsein ist ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situationen.

Auch so ist alles noch zu sehr naturtheoretisch charakterisiert.“635 Heidegger be-

hauptet nun, daß gegenüber dieser naturtheoretischen Bestimmung des Selbstbe-

wußtseins die phänomenologische Strukturanalyse des Aktbewußtseins bei Hus-

serl ein großer Fortschritt sei: „Die Zusammenhänge sind vielmehr solche, daß

sie sich aus der Grundstruktur des Bewußtseins aufbauen. Hierfür ist der von

Husserl stark bezogene Begriff der Fundierung ein außerordentlicher Schritt vor-

wärts in die wahren Zusammenhänge. Situationen können sich ablösen rein auf

Grund der Bewußtseinsgehalte und deren immanenter Zusammenhänge, oder

motiviert durch bestimmte Stufung und Lebendigkeiten der spezifischen Aktcha-

raktere.“636

Allerdings ist Heideggers Schleiermacher-Kritik einseitig: Auch für Schleierma-

cher ist der fundierende Akt des Bewußtseins für das richtige Verständnis unseres 634 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 331. 635 Ebd. 636 Ebd.

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wirklichen Bewußtseinslebens notwendig vorauszusetzen, wie wir bei der Be-

trachtung seiner These der letztlichen Identität von Begriff und Welt, von Denken

und Sein in unserem Selbstbewußtsein gesehen haben.637 Man darf also m. E.

nicht davon ausgehen, daß das Wesen des Bewußtseins bei Schleiermacher, wie

Heidegger andeutet, naturtheoretisch bestimmt wäre. Ein Bewußtseinsakt ist für

Schleiermacher aber erst dann möglich, wenn sich unser Sein in einem konkreten

Wirkungsverhältnis mit dem anderen Sein befindet. Die Farben wie rot, blau,

gelb usw. sind zwar einerseits subjektive Gegebenheiten, die ohne Bewußtsein-

sakte nicht möglich sind. Es hängt aber andererseits schließlich auch nicht von

unserem Belieben ab, ob wir eine Rose als rot empfinden. Man kann davon aus-

gehen, daß wir mit unserer Einbildungskraft gewisse Objekt-Vorstellungen aus

einer chaotischen Mannigfaltigkeit der Empfindungen erzeugen. Niemand kann

aber bei der Wahrnehmung einen Ball in einen Würfel, ein glühendes Eisen in

einen kalten Stein verwandeln. Die Wahrnehmung hat daher für Schleiermacher

ein doppeltes Bezugssystem: Sie kommt immer als eine Einheit des transzenden-

ten Seins und des Denkens in unserem Selbstbewußtsein zustande, die sich durch

die Beziehung zwischen einem rein aktiven Subjekt und einen rein passiven Ob-

jekt nicht angemessen charakterisieren läßt. Ohne unsere Fähigkeit, die Einwir-

kung des transzendenten Seins auf uns zu verarbeiten, ist keine Wahrnehmung

möglich.

Man muß vielmehr fragen: Gerät man mit einer Strukturanalyse des Aktbewußt-

seins, die nicht das konkrete Wirkungsverhältnis zwischen den Seienden berück-

sichtigt, nicht in einen subjektiven Idealismus? Heideggers Ontologie ist zwar

freilich kein subjektiver Idealismus. In der Überwindung des subjektiven Idea-

lismus ist Heidegger, indem er die Seinsfrage als eine Frage nach der Transzen-

denz stellt, einen Schritt weiter gegangen als Husserl; dieser berücksichtigt nach

der Auffassung seiner kritischen Nachfolger wie Sartre und Merleau-Ponty das

transzendente Wesen des Seins nicht hinreichend. Zieht nun Heidegger aus dem

transzendenten Wesen des Seins die angemessenen Konsequenz? Nein, im Ge-

genteil: Heideggers Ontologie zeigt sich in gewisser Hinsicht als solipsistisch, da

637 Vgl. F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 153; ebd., S. 270 f.

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die Beziehung zwischen dem Sein und dem Dasein einerseits und zwischen dem

Dasein und dem anderen Seienden andererseits nur vom Standpunkt der formal-

ontologischen Analyse der Daseinsstruktur aus betrachtet wird. Hierin liegt der

Grund dafür, warum sich das Heideggersche Dasein zwischen zwei Extreme wie

das eigentliche Selbst und das uneigentliche, die Selbstgenügsamkeit des durch-

schnittlichen Alltagsdaseins und die Unruhe des zum eigenen Sein entschlossenen

Daseins hin und her bewegt. Mein Mitdasein spielt hier nur die Rolle eines Agen-

ten, der mein Bewußtsein als ein Spiegelbild des Zeichensystems der am prakti-

schen Zweck orientierten Alltagswelt konstituiert (Gerede); das Entschließen zum

eigenen Sein bleibt eine Sache des einzelnen Daseins. Hierin liegt der Grund da-

für, daß Heidegger, worauf E. Tugendhat hinweist, bei der Beantwortung der

Seinsfrage letztlich unschlüssig und dunkel bleibt. Tugendhat behauptet mit

Recht, daß Heideggers Seinsfrage von einer schlechten Ambiguität belastet ist;

Heidegger fragt einerseits nach dem Sein selbst, das einen ontologischen Grund

bilden soll, während er andererseits nur verschiedene Sinndeutungen dieses Wor-

tes gibt, ohne dabei eine klare Definition des Seins selbst zu geben: „Die Frage

nach dem Sinn des Seins soll [bei Heidegger] keineswegs nur als Frage nach dem

Sinn dieses Wortes verstanden werden, sondern als Frage nach dem Sinn des

Seins selbst. Was das aber heißen soll, nach dem Sinn des Seins zu fragen und

was dann überhaupt ‚Sein‘ heißen soll, wenn die Frage nicht als Frage nach dem

Sinn des Wortes ‚Sein‘ verstanden wird, bleibt dunkel.“638 Es gibt nach Tugend-

hat die „für Heidegger so typischen Verschiebungen, bei denen einem durch eine

harmlose erste Formulierung suggeriert wird, man verstehe etwas, was dann in

der zweiten Formulierung nicht mehr so gemeint wird, ohne daß uns gesagt wird,

wovon denn nun die Rede ist.“ 639

Es ist allerdings m. E. übertriebene Spitzfindigkeit von Tugendhat, wenn er die

Existenz im Sinn Heideggers (Zu-sein) von der Existenz im traditionellen Sinn

(Vorhandenheit) unterscheidet und behauptet: „Heidegger hätte sich viel klarer

verständlich gemacht, wenn er einen allgemeinen Gattungsbegriff Existenz zuge-

638 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 167. 639 E. Tugendhat, ‚Heideggers Seinsfrage‘, in: ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S. 109.

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standen hätte und dann unterschieden hätte zwischen Existenz im Sinn von

Vorhandenheit und Existenz im Sinn von Zu-Sein.“640 Der Grund dafür, warum

Heidegger „das nicht tat“, besteht Tugendhat zufolge darin, daß „das Zugeständ-

nis einer Gattungseinheit Heideggers Tendenz zur totalen Entgegensetzung seiner

Konzeption zu der traditionellen widersprochen hätte.“641 Es ist allerdings richtig,

daß Heidegger zu einer vollständigen Entgegensetzung seiner Philosophie zur

herkömmlichen Philosophie neigt, wie man aus seinem bekannten Anspruch, die

abendländische Philosophie gründlich erneuert zu haben, gut erkennen kann.

Wenn es aber um die Entgegensetzung des Heideggerschen und des traditionellen

Existenzbegriffs geht, ist Tugendhats Kritik an Heidegger m. E. problematisch.

Denn das Sein selbst ist auch nach Heidegger nicht ohne das Bewußtsein vom

Seienden möglich, da das Sein erst durch das Da des Daseins sich öffnet. Nun ist

das Sein dieses Seienden für Heidegger nicht einfach durch die Vorhandenheit zu

charakterisieren, da dieses Seiende ein Seinsverständnis hat, in dem es sein Sein

zugleich als eine Einheit von Ausstehen und Innestehen versteht. Tugendhat zeigt

kein Verständnis für das eigentliche Anliegen der Existentontologie Heideggers,

er kehrt daher Heideggers Argumentation um und behauptet, auch Heideggers

Begriff der Existenz setze die Idee der Vorhandenheit voraus: „Wäre ein Mensch

nicht etwas Vorhandenes, Konstatierbares, so würde er überhaupt nicht existie-

ren.“642 Diese Argumentation ist gegenstandlos. Denn die ek-sistierende Seins-

weise des Daseins setzt auch für Heidegger ohne Zweifel das Bewußtsein des

Seienden voraus.

Tugendhat weist aber mit Recht auf die grundsätzliche Unklarheit der Seinsfrage

bei Heidegger hin. Heidegger fragt nicht nur nach dem Sinn des Wortes sein,

sondern auch nach dem Sinn des Seins selbst. Und gerade in dieser entscheiden-

den Frage nach dem Sinn des Seins selbst bleibt Heideggers Ontologie unschlüs-

sig.

Heideggers Kritik am Abhängigkeitsgefühl darf nicht ohne weiteres als ein Zei-

chen dafür verstanden werden, daß Heidegger die Seinsfrage noch gründlicher

640 Ebd., S. 173. 641 Ebd. 642 Ebd., S. 185.

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behandelt habe als Schleiermacher. Im Gegenteil: Gerade deswegen, weil bei

Heidegger der Begriff der Wirkung fehlt, scheitert seine Ontologie daran, einen

positiven Begriff des Seins selbst herauszuarbeiten; gerade deswegen, weil Hei-

degger fast keinen positiven Begriff des Seins selbst hat, scheitert seine Ontologie

daran, den konkreten Grund für die Entschlossenheit des Daseins zum eigenen

Sein darzustellen. Ferner darf man nicht davon ausgehen, daß Schleiermacher

keine (formal-ontologische) Analyse der Seinsstruktur des Daseins leiste. Denn

das Abhängigkeitsgefühl ist ein Bewußtsein unseres Seins in der Welt bzw. in

dem ganzen Sein, das nicht ohne das Bewußtsein unserer ontologischen Daseins-

struktur möglich ist. Diese grundwesentliche Struktur des Daseins wird nun bei

Schleiermacher mit der Analyse des Wirkungsverhältnisses zwischen den Seien-

den ergänzt. Diese Dimension, die bei Heidegger einfach fehlt, ist von entschei-

dender Bedeutung. Denn gerade im konkreten Wirkungsverhältnis zeigt sich je-

des Seiende nicht als ein isoliertes Seiendes. Gerade hieraus wird es möglich, die

Identifikation des ganzen Seins mit der raum-zeitlichen Relation der voneinander

getrennten Dinge (Welt) kritisch zu überwinden. Allerdings: Das Sein ist in die-

sem Sinn das transzendente Ansichsein. Aber wenn man nach dem Sinn des Seins

selbst fragen will, darf man auf diese Dimension des transzendenten Ansichseins

nicht verzichten.

3.3. Heideggers Definition des Seins nach der Kehre und deren Ursprung

Schleiermachers Seinsbegriff bleibt aber bei Heidegger nicht ohne Wirkung, auch

wenn er nicht ausdrücklich thematisiert wird. Dafür gibt es zwei Beispiele bei den

verschiedenen Definitionen des Seins, die Heidegger nach der Kehre zugrunde

legt:

Erstens charakterisiert Heidegger das Sein als das Einfache.

Zweitens beschreibt Heidegger das Sein wie eine Fülle. Dies wird durch die

Verschiebung der Bedeutung des Wortes ‚Lichtung‘ deutlich: Die Lichtung, die in

Sein und Zeit im Sinn des Erleuchtens gebraucht wird, hat nach der Kehre nun

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den Sinn des Raumschaffens, was man anhand des Beispiels der Waldlichtung

veranschaulichen kann.643

Ferner darf man nicht annehmen, daß Heideggers Seinsbegriff nach der Kehre

im Widerspruch mit der Existenzontologie in Sein und Zeit stünde. Eine solche

Behauptung entspricht nicht der wirklichen Entwicklung des Heideggerschen

Denkens. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß Heideggers Seinsbegriff nach

der Kehre auch der existenzontologischen Rede über das Sein selbst in Sein und

Zeit zugrunde liegt.

3.3.1. Das Sein als das Einfache

In seiner Antwort auf einen Brief des Pariser Philosophen J. Beaufret, in dem die

Frage nach dem Sinn des Wortes Humanismus im Zentrum steht, lehnt Heidegger

für die Definition des Seinsdenkens zwei Konzeptionen ab: zum einen den Hu-

manismus (im Sinne Sartres) und zum anderen die Verwendung des Begriffs

‚Gott‘ für das Sein selbst.

643 In dieser Definition des Seins als einer (Seins)fülle liegt für Schleiermacher, wie schon er-wähnt, der Grund dafür, warum die Definition des ganzen Seins als einer Welt (also als einer raum-zeitlichen Relation zwischen den von einander gesonderten Seienden), philosophisch unzu-länglich ist. Das Sein als Seinsfülle ist also eine notwendige Bedingung dafür, daß das Sein als das Einfache bzw. als das Eine verstanden wird. Im Verlauf dieses Kapitels wird deutlich werden, daß auch Heidegger nach seiner Kehre das Sein gelegentlich wie eine Seinsfülle beschreibt. Aber weil seine Sprache hierbei metaphorisch bleibt und Heidegger daher keine logische Verbindung zwischen den beiden Definitionen des Seins (Sein als das Einfache und das Sein als die Seinsfülle) herstellen kann, ist es für Heidegger schwierig an seiner ontologischen Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Seienden festzuhalten. In seiner kritischen Analyse des Seinsbegriffs bei Hei-degger macht H. Givsan deutlich, daß der späte Heidegger eigentlich gar nicht über ein begriffli-ches Instrumentarium verfügt, mit dem er das Sein vom Seienden scharf unterscheiden könnte. Besonders im 15. Kapitel seiner Abhandlung zeigt er überzeugend, daß es Heidegger mit seiner Definition des Seins als des Einen keineswegs gelungen ist, einen prinzipiellen Unterschied zwi-schen seiner Philosophie und der traditionellen Metaphysik deutlich zu machen. Allerdings er-kennt Givsan nicht die logische Notwendigkeit, daß die Definition des Seins als des Einen die Definition des Seins als einer Seinsfülle zur Folge hat. Daher beginnt er seine Kritik an Heidegger mit dem Vorurteil, daß Heideggers Rede von der ontologischen Differenz eigentlich keinen Sinn hätte: „Freilich wird Heidegger jetzt [nach der Definition des Seins als des Anwesenden] sagen: eben, denn ‚Sein‘ ist ‚Seiendes‘, und zwar nur ‚Sein‘ ist ‚Seiendes‘. Dann ist, wie gesagt, die Rede von der ‚ontologischen Differenz‘ ein Schwindel. Oder das ‚ist‘ kann ‚nur vom Sein‘ gesagt werden, und zwar in dem Sinne, daß es nicht vom ‚Seienden‘ gesagt werden kann, dann miß-braucht Heidegger das Wort ‚Seiendes‘.“ (H. Givsan, Heidegger – das Denken der Inhumanität, Würzburg 1998, S. 394 f.)

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Heidegger unterscheidet seinen Begriff der Existenz von dem der existentia im

herkömmlichen Sinn. Der existenzontologische Sinn der Existenz bedeutet nach

Heidegger das Hinausstehen des Daseins in die Wahrheit des Seins selbst, wäh-

rend die existentia im herkömmlichen Sinn primär als Wirklichkeit verstanden

wird, die als ein begrifflicher Gegensatz der Möglichkeit der Ideen ebenfalls an

die metaphysische Ableitung des Seins aus dem Seienden gebunden sei: „Die Ek-

sistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit

der existentia. Ek-sistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des

Seins. Existentia (existence) meint dagegen actualitas, Wirklichkeit im Unter-

schied zur bloßen Möglichkeit als Idee. Ek-sistenz nennt die Bestimmung dessen,

was der Mensch im Geschick der Wahrheit ist. Existentia bleibt der Name für die

Verwirklichung dessen, was etwas, in seiner Idee erscheinend, ist.“644 Heidegger

lehnt nun den Sartreschen Humanismus ab, da Sartre den Begriff der Existenz

noch zu sehr im Rahmen des begrifflichen Gegensatzes zwischen Wesen und

Existenz verstehe: „Sartre spricht dagegen den Grundsatz des Existentialismus so

aus: die Existenz geht der Essenz voran. Er nimmt dabei existentia und essentia

im Sinne der Metaphysik, die seit Plato sagt: die essentia geht der existentia vor-

aus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung eines metaphysischen Sat-

zes bleibt ein metaphysischer Satz.“645

Heidegger lehnt nun auch die Idee Gottes für seine Existenzontologie ab, da

Gott keine adäquate Bezeichnung für den ursprünglichen Sinn des Seins ist: „Erst

aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus

dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte

des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort

‚Gott‘ nennen soll.“646 Heidegger zufolge darf „das Denken, das in die Wahrheit

des Seins als das Denkende vorweist“, nicht mit dem theistischen Denken ver-

wechselt werden: „Theistisch kann es so wenig sein wie atheistisch.“647 Heideg-

ger will nun einen dritten Weg des Denkens vorschlagen, der weder theististisch

644 M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 326. 645 Ebd., S. 328. 646 Ebd., S. 351. 647 Ebd., S. 352.

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noch humanistisch im Sinne Sartres ist: „Die Wahrheit des Seins denken, heißt

zugleich: die humanitas des homo humanus denken. Es gilt die humanitas zu

diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne den Humanismus im metaphysischen

Sinne.“ 648 Diese Aussage darf nicht mit einer anti-humanistischen Erklärung

verwechselt werden, durch die der Wert der Humanität verloren gehe. Im Gegen-

teil: Das Seinsdenken bedeutet für Heidegger die Möglichkeit, daß sich das Da-

sein aus der am praktischen Zweck orientierten Lebensweise im Alltag, deren

Verabsolutierung uns im extremen Fall zu einem blinden Pragmatismus oder Bio-

logismus führen kann, kritisch distanzieren kann. Das Seinsdenken läßt sich nach

Heidegger nicht durch den Aufstieg zu höheren Ideen charakterisieren, sondern

eher durch den Abstieg zum Leben des alltäglichen Durchschnittsmenschen, mit

dem die Armut der praktischen Lebensführung anerkannt werden soll: „Das Den-

ken überwindet die Metaphysik nicht, indem es sie, noch höher hinaufsteigend,

übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt in die Nähe

des Nächsten. Der Abstieg ist, zumal dort, wo der Mensch sich in die Subjektivi-

tät verstiegen hat, schwieriger und gefährlicher als der Aufstieg. Der Abstieg

führt in die Armut der Ek-sistenz des homo humanus. In der Ek-sistenz wird der

Bezirk des homo animalis der Metaphysik verlassen. Die Herrschaft dieses Be-

zirkes ist der mittelbare und weitzurückreichende Grund für die Verblendung und

Willkür dessen, was man als Biologismus bezeichnet, aber auch dessen, was man

unter dem Titel Pragmatismus kennt.“649

Wenn Heidegger die Idee Gottes für seine Existenzontologie ablehnt, dann meint

er zugleich, daß die Idee Gottes eine ‚aufsteigende Tendenz‘ des geistigen Lebens

voraussetzt. Gott vertritt nicht die Wahrheit des Seins selbst, sondern eine höhere

Idee, die außerdem eine dreistufige Steigerung der geistigen Tätigkeit voraussetzt:

Man muß zuvor, wie schon erwähnt, vor dem Hintergrund der Wahrheit des Seins

das Wesen des Heiligen denken, und dann vor dem Hintergrund des Heiligen das

Wesen der Gottheit. Was Gott ist, kann dann nur aus dem Wesen der Gottheit her

verstanden werden.

648 Ebd. 649 Ebd.

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Heidegger strebt nach der Wahrheit des Seins selbst, die nicht erst nach einem

geistigen Aufstieg des Daseins möglich ist, sondern sich auch in der niedrigsten

Stufe des bloß am praktischen Zweck orientierten Daseins zeigt. Das bedeutet nun

m. E., daß die Wahrheit des Seins für Heidegger zum fundamentalen Struktur-

element jedes wirklichen Bewußtseinslebens gehört: Die Idee Gottes kann nur

von denjenigen erkannt werden, die sich für ein höheres Leben des philosophi-

schen Geistes entschieden haben; aber die Wahrheit des Seins charakterisiert das

Sein des Daseins selbst, das Dasein ist seinem Wesen nach ein solches Seiendes,

das mit der Wahrheit des Seins lebt. Nun besteht die Wahrheit des Seins für Hei-

degger darin, daß das Sein das Einfache ist: „Das Befremdliche an diesem Den-

ken des Seins ist das Einfache.“650 Diese Wahrheit des Seins, daß das Sein das

Einfache ist, ist nach Heidegger eben deswegen für uns befremdend, weil wir den

Wert unseres Denkens oder Handelns gewöhnlich je nach der besonderen theo-

retischen oder praktischen Anstrengung bemessen, die für das Ergebnis nötig war:

„Gerade dieses [das Einfache des Seins] hält uns von ihm ab. Denn wir suchen

das Denken, das unter dem Namen ‚Philosophie‘ sein weltgeschichtliches Anse-

hen hat, in der Gestalt des Ungewöhnlichen, das nur Eingeweihten zugänglich ist.

Wir stellen uns das Denken zugleich nach der Art des wissenschaftlichen Erken-

nens und seiner Forschungsunternehmen vor. Wir messen das Tun an den ein-

drucksvollen und erfolgreichen Leistungen der Praxis. Aber das Tun des Denkens

ist weder theoretisch noch praktisch, noch ist es die Verkoppelung beider Verhal-

tungsweisen.“651 Mit anderen Worten beginnt das Denken des Seins gerade in

dem Moment, wo der thetische Akt des Bewußtseins aufhört: Das Sein ist das

Einfache, während der thetische Akt des Bewußtseins Differenzierung des einzel-

nen Seienden bedeutet. Wir haben im ersten Teil gesehen, daß Heidegger gerade

ein solches Moment des Bewußtseins, in dem der thetische Akt des Bewußtseins

aufhört, in seiner Auslegung der zweiten Rede über Religion von Schleiermacher

eine phänomenologische Epoché nennt.652 Nicht von ungefähr stellt also Heideg-

ger das Denken des Seins dem wissenschaftlichen Denken einerseits und der Pra-

650 Ebd., S. 362. 651 Ebd. 652 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 319 ff.

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xis andererseits gegenüber. Gerade wie das wahrhaftige religiöse Gottesbewußt-

sein für Schleiermacher nicht zum Gegenstand des theoretischen Denkens und

des praktischen Handelns gemacht werden kann, so möchte auch Heidegger mit

seiner Gleichsetzung des Seins mit dem Einfachen deutlich machen, daß wir zu

einem angemessenen Verständnis des Seins weder durch das Errichten von kom-

plexen Theorien noch durch die besonderen Leistungen des praktischen Handelns

gelangen können. Erst dadurch, daß wir die befremdliche Einfachheit des Seins

akzeptieren, können wir mit dem Seinsdenken beginnen.653 Erst hierdurch kön-

nen wir ein Leben führen, das Heidegger durch die Entschlossenheit zum eigenen

Sein charakterisiert.

Hieraus kann man nun deutlich erkennen: Was Heidegger Gott nennt, ist nicht

identisch mit dem, was Schleiermacher Gott nennt. Man muß dennoch davon

ausgehen, daß Heideggers Denken auch in seinem ‚Brief über den Humanismus‘,

in dem die erste eigene Stellungnahme Heideggers über die Bedeutung der Kehre

seiner Philosophie enthalten ist, weiter unter dem Einfluß Schleiermachers bleibt.

3.3.2. Heideggers eigene Stellungsnahme zu seiner ‚Kehre‘

Heidegger behauptet, daß seine Kehre überhaupt keinen Standpunktwechsel be-

deute: „Diese Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von ‚Sein und

Zeit‘, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Di-

mension, aus der ‚Sein und Zeit‘ erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunder-

fahrung der Seinsvergessenheit.“654 Die Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein

653 Damit ist allerdings gemeint, daß Begriffe wie ‚Gott‘ und das ‚Sein selbst‘ nicht so zu verste-hen wären, als ob jeder je nach seiner persönlichen Erfahrung etwas anderes damit meint. Nun besteht die Gemeinsamkeit zwischen Schleiermacher und Heidegger darin, daß diese absolute Identität des Seins bzw. Gottes als ein konstitutives Element des wirklichen Bewußtseinslebens verstanden und folglich das Dasein als ein solches Sein definiert wird, das sich auf das Sein selbst (bzw. auf Gott), das unabhängig von seiner individuellen Erfahrung absolut allgemein und iden-tisch bleiben soll, ausrichtet. Vgl. „The God-consciousness is presupposed as an ontologically given element in all men because it cannat be explained by any of the multifarious particularized instances of Dasein (actual-self-conciousness). It must rather be reckoned as the universally sin-gular determination of the person’s essential being (Wesen) as such, that is only ‘re-presented‘ into the actual process of self-conciousness as the feeling of absolute dependence.” (R. Vance, Sin and Self-conciousness in the Thought of Friedrich Schleiermacher, Lewiston, New York: The Edwin Mellen Press 1994, S. 52.) 654 M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 328.

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wird bekanntlich in Heideggers Vortrag ‚Vom Wesen der Wahrheit‘, der 1930

entstand, aber erst 1943 gedruckt wurde, zum ersten Mal vollzogen. Nach der

eigenen Aussage von Heidegger steht das Denken nach der Kehre in einer durch-

gehenden Kontinuität mit dem Denken vor der Kehre.

Dies bedeutet nun m. E., daß die Spannung zwischen Alltagsbewußtsein und

Seinsbewußtsein (Sorge und Angst) in Sein und Zeit für Heideggers Existenzon-

tologie auch nach der Kehre weiterhin Gültigkeit hat.655 Auf jeden Fall kann man

anhand der Behauptung von Heidegger, das Befremdliche an dem Seinsdenken

sei das Einfache, erkennen, daß sich Heideggers Denken weiterhin auf den Ge-

gensatz zwischen dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen Selbst bezieht,

der in Sein und Zeit ein zentrales Thema war. Allerdings wirken Heideggers Ana-

lysen des Seins aus der Zeit nach dem ,Brief über den ‚Humanismus‘‘ primär auf

diejenigen befremdlich, die die gewöhnlichen Maßstäbe für Denken und Handeln

anlegen und das ‚Einfache‘ daher gering schätzen. Diese Bewertungen sind aber

für Heidegger ein Zeichen für das Leben des uneigentlichen Selbst. Heidegger

behauptet daher, daß die Philosophie, die sich als eine theoretische Wissenschaft

versteht, bloß eine Kompensation für den Verlust des ursprünglichen Seinsden-

kens darstellt: „Wenn das Denken zu Ende geht, indem es aus seinem Element

weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als τέχνη, als Instrument der

Ausbildung und darum als Schulbildung und später als Kulturbetrieb eine Gel-

655 Auch H. Declève macht in einer zusammenfassenden Darstellung des Aufsatzes ‚Vom Wesen des Grundes‘, der bekanntlich die Kehre im Heideggerschen Denken markiert, deutlich, daß das Bewußtsein des Daseins von der Nichtigkeit des eigenen Seins die Voraussetzung der Kehre ist: „La méditation sur l’essence du fondement en vient ainsi à nommer la différence ontologique. Le ‚ne pas‘ entre l’être et l’étant est cet abîme sans fond du Dasein, cette liberté vouée au monde dans laquelle l’étant trouve la liberté de se manifester comme différent de l’ être. Mais en même temps – l’expression devant se prendre ici en toute rigueur – la non-essence du Dasein annonce le rien de l’être: au terme de Vom Wesen des Grundes, nous sommes parvenus au point où est en train de s’opérer le revirement de la pensée, die Kehre.“ (H. Declève, Heidegger et Kant, La Haye 1970, S. 306.) An einer anderen Stelle macht Declève ebenfalls deutlich, daß dieses Be-wußtsein des Daseins von der Nichtigkeit des eigenen Seins auch nach der Kehre weiterhin – genauso wie in Sein und Zeit – als Angst zu bezeichnen ist: „D’une part en effet c’est dans l’angoisse que nous est donnée authentiquement la temporalité dévoilée et cachée par l’imagination transcendentale, c-à-d la différence ontologique; et d’autre part se tenir dans l’angoisse, c’est se tenir dans le rien de l’être. L’angoisse rend ainsi manifeste que la différence ontologique et le rien sont le même. Et l’on pourait estimer que Kant et le problème de la meta-physique s’était efforcé de penser ce même que Vom Wesen des Grundes et Was ist Metaphysik? tentaient de rendre plus proche sans y parvenir, ce même qui attend depuis que les gens de sens (die Besinnlichen) y pénètrent et le pensent.“ (Ebd., S. 300.)

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tung verschafft. Die Philosophie wird allgemach zu einer Technik des Erklärens

aus obersten Ursachen. Man denkt nicht mehr, sondern man beschäftigt sich mit

der ‚Philosophie.“656 Nach Heidegger weichen wir mit einer solchen Philosophie

gar nicht von dem am praktischen Zweck orientierten Alltagsleben ab, sondern

leiden weiter unter der „Diktatur der Öffentlichkeit“.657 Mit der Philosophie als

einer theoretischen Beschäftigung leben wir weiter das Leben eines uneigentli-

chen Selbst, des Man.

Es kann folglich festgehalten werden, daß das seinsgeschichtliche Denken nach

der Kehre nicht in einem Widerspruch mit Heideggers Angstanalyse in Sein und

Zeit steht. Ja, die Geschichtlichkeit bzw. das Historische ist bei Heidegger stets

mit einer Form des Seinsbewußtseins verbunden, in der die Unterscheidung und

Absonderung vieler einzelner Entitäten durch den thetischen Akt des Bewußt-

seins aufhört. Wir haben gesehen, daß das Dasein für Heidegger auch nach der

Kehre in der Ek-sistenz liegt. Diese Ek-sistenz ist zugleich das Innestehen im Da

und Aus des Daseins. Mit anderen Worten leben wir mit der Offenheit des Seins,

die als Differenz zwischen den Seienden durch das Da und Aus des Daseins er-

möglicht wird. In dieser Offenheit des Seins betrachten wir uns zugleich als das

Innestehen im ganzen Sein, für das jede Unterscheidung und Absonderung an

Bedeutung verliert.

Heidegger hat in seiner frühen Freiburger Zeit den spezifischen Sinn des Histo-

rischen erarbeitet. In der Einleitung und dem ersten Teil dieser Arbeit wurde wie-

derholt darauf hingewiesen, daß dieser Sinn des historischen Lebens in Heideg-

gers Hermeneutik mit der Daseinsanalyse in Sein und Zeit in einem engen Zu-

sammenhang steht: In der existenzontologischen Daseinsanalyse in Sein und Zeit

wird der Sinn der Geschichtlichkeit von der existenzialen Grundstruktur des sich

zum Nichts verhaltenden Daseins abhängig gemacht.

Nicht alle Heidegger-Forscher werden mit dieser Deutung einverstanden sein.

Der vierte Band des Dilthey-Jahrbuchs beispielsweise widmet sich der Frage

nach dem Verhältnis des frühen Heideggers zu Dilthey. Für die Analyse dieses

656 M. Heidegger, ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 317. 657 Ebd.

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Verhältnisses ist es von entscheidender Bedeutung, die Entstehung der Gedanken,

die Sein und Zeit zugrunde liegen, bei Heidegger zu untersuchen, wobei man vor

allem Begriffe wie Faktizität und Geschichtlichkeit näher untersuchen muß. In

diesem Band finden sich Aufsätze, die nachdrücklich auf die Diskontinuität zwi-

schen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der Existenzontologie von Sein

und Zeit hinweisen.658

Gadamer betrachtet Sein und Zeit als einen Rückgang von der praxeologisch o-

rientierten Hermeneutik des geschichtlichen Lebens zu einer transzendentalphilo-

sophischen Phänomenologie, die von Husserl beeinflußt ist. Nach Gadamer muß

man Sein und Zeit „als eine sehr schnell zusammenmontierte Publikation ansehen,

in der Heidegger gegen seine tiefsten Intention sich noch einmal der transzenden-

talen Selbstauffassung Husserls angepaßt hat.“659 In Marburg „wollte die Fakultät

ihn [Heidegger] unbedingt auf das durch Hartmanns Weggang nach Köln freige-

wordene Ordinariat befördern, und das Berliner Ministerium wollte ihn durchaus

nicht berufen, weil er seit 1917, seit seiner Habilitationsschrift, nichts Neues vor-

gelegt habe.“660 Unter diesem Umstand war es für Heidegger wichtig, mit Hus-

serl „nicht in Konflikt zu geraten.“661 Gadamer zufolge kommt also das eigentli-

che Anliegen Heideggers nicht in Sein und Zeit zum Ausdruck: „Vielmehr war

anderes in Heidegger noch nicht gereift, als er Sein und Zeit komponierte.“662 Für

Gadamer ist Sein und Zeit für den eigentlichen Denkweg Heideggers unerheblich,

ja irreführend. Gadamer spricht von Heideggers „Rückgang auf den Anfang“, der

dem späten Heidegger „als sein eigener wirklicher Weg erschien, den er an der

Physik und Metaphysik des Aristoteles wiedererkannte.“663 Gadamer weist nun

darauf hin, daß „schon in den frühesten Versuchen [Heideggers] die Untrennbar-

keit von Entbergung und Verbergung sein Thema war“, die bekanntlich ein zent-

rales Thema für Heideggers Denken nach der Kehre ist.664 Die „Untrennbarkeit

658 Vgl. dazu C. F. Gethmann, ‚Philosophie als Vollzug und als Begriff‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986/87), 28 ff. 659 H.-G. Gadamer, ‚Erinnerungen an Heideggers Anfänge‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 16. 660 Ebd., S. 16 f. 661 Ebd., S. 16. 662 Ebd. 663 Ebd., S. 20. 664 Ebd., S. 21.

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von ‚Neigung‘ und ‚Ruinanz‘ von der gegenruinanten Bewegtheit des philosophi-

schen Interpretationsvollzuges“ trat hier als ein „Vollzugssinn“ des Lebens auf,

den der frühe Heidegger „gegen die metaphysisch-idealistische Tradition“ richte-

te.665

Diese negative Einschätzung von Sein und Zeit durch Gadamer scheint kein

Einzelfall zu sein. „Die im Jahre 1929 anfangende Kehre“ Heideggers wird von T.

Kisiel als „eine Rückkehr zu dem Nullpunkt im KNS [Kriegsnotsemester]

1919“ bezeichnet, die nun allerdings bedeuten soll, daß „die Schematisierung der

ekstatischen Entwürfe auf temporale Horizonte hin“ in Sein und Zeit für den ei-

gentlichen Denkweg Heideggers weniger wichtig sei, wie auch Gadamer behaup-

tet.666

Es wird allerdings auch die Gegenposition vertreten: „Sein und Zeit ist“ nach C.

F. Gethmann „keineswegs eine bloß publikationspolitisch zu verstehende ‚Impro-

visation‘ (H.-G. Gadamer), sondern ein systematischer Neuentwurf, in den Hei-

degger die in seinen Vorlesungen erarbeiteten phänomenologischen Analysen

unter Modifikation einfügt.“667 Damit behauptet Gethmann, daß Heideggers Den-

ken zwischen seinen frühen Freiburger Vorlesungen und Sein und Zeit keine we-

sentliche Diskontinuität zeigt.

Daß Sein und Zeit nur ein ‚Fehlversuch‘ ist, steht im offenen Widerspruch zu

Heideggers eigenen Aussagen über die Kehre seines Denkens. Die Existenzonto-

logie von Sein und Zeit bietet an vielen Stellen genügend Anlaß für Kritik. So ist

es Heidegger nicht gelungen, eine konkrete, positive Bestimmung des Seins

selbst herauszuarbeiten. Ferner wird das Dasein in Sein und Zeit zwar als eine

Einheit von dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen definiert. Aber wie

das Dasein über die Grenze des selbstgenügsamen Alltagsbewußtseins hinausge-

hen kann, wird nicht ausreichend erläutert. Entscheidend ist aber letztlich Hei-

deggers eigene Absicht, wenn man die Kehre als einen Standpunktwechsel Hei-

deggers bezeichnen will. Es wurde bereits gezeigt, daß die Kehre für Heidegger

665 Ebd. 666 T. Kisiel, ‚Das Entstehen des Begriffsfeldes ‚Faktizität‘ im Frühwerk‘, in: Dilthey-Jahrbuch

Bd. 4, S. 119. 667 C. F. Gethmann, ‚Philosophie als Vollzug und als Begriff‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 51 f.

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selbst keinen Standpunktwechsel darstellt. Oder muß man davon ausgehen, daß

Heideggers Kehre, auch wenn Heidegger dies bestreitet, dennoch einen Stand-

punktwechsel darstellt? Will Heidegger vielleicht nicht wahrhaben, daß Sein und

Zeit ein fehlerhafter Versuch ist?

Die Beantwortung dieser Frage hängt allerdings davon ab, wie man die Bezie-

hung zwischen dem Denken in Heideggers früheren Vorlesungen und in Sein und

Zeit interpretiert. Nach Gadamer und Kisiel ist die Entdeckung des Vollzugscha-

rakters der Lebensbewegtheit, die Heidegger schon vor dem Erscheinen von Sein

und Zeit leistete, von wegweisender Bedeutung für die weitere Entwicklung der

Philosophie Heideggers. Dagegen sei Sein und Zeit für den eigentlichen Denkweg

Heideggers nicht aussagekräftig, da Heidegger hier die Analyse der vollzugsmä-

ßigen Bewegtheit des faktischen Lebens nicht konsequent durchführe, sondern

sich der transzendentalen Selbstanalyse Husserls stark anpasse. Diese Einschät-

zung von Gadamer und Kisiel ist aber m. E. problematisch. Die Aussage, daß das

Leben in seiner vollzugsmäßigen Bewegtheit betrachtet werden soll, ist irrelevant,

solange die ontologische Bedingung für den Lebensvollzug des Daseins nicht

erörtert wird.

M. E. betonen Gadamer und Kisiel die Bedeutung des Vollzugsbegriffs für Hei-

deggers Ontologie viel zu stark. Der Vollzug des Lebens führt für Heidegger,

solange er nicht mit dem Seinsdenken verbunden ist, zur ruinanten Bewegung des

uneigentlichen Selbst (Man). Gadamer selbst behauptet mit Recht, daß die Ein-

heit von Ruinanz und Gegenruinanz im Denken des frühen Heideggers „die Vor-

gestalt von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit“ ist.668 Wenn also der Vollzugs-

sinn durch die Einheit von Ruinanz und Gegenruinanz charakterisiert werden soll,

muß man doch davon ausgehen, daß sich das Dasein in einem Spannungsverhält-

nis zwischen dem (am praktischen Zwecken orientierten) Alltagsbewußtsein und

dem Seinsbewußtsein befindet. Das Historische beim frühen Heidegger kann also

nicht schlechthin durch die vollzugsmäßige Lebensbewegtheit charakterisiert

werden, sondern durch eine spezifische Bewußtseinsstruktur: durch die untrenn-

bare Einheit des Alltagsbewußtseins und des Seinsbewußtseins.

668 H.-G. Gadamer, ‚Erinnerungen an Heideggers Anfänge‘, in: Dilthey-Jahrbuch 4, S. 21.

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Ferner steht auch die Behauptung, daß man in Sein und Zeit eine Anpassung von

Heidegger an Husserls Analyse der transzendentalen Selbstauffassung erkennen

könne, mit Heideggers eigenem Urteil über dieses Werk im Widerspruch. Gada-

mer selbst berichtet über eine eigene Stellungnahme von Heidegger über die Be-

ziehung zwischen seinem Werk Sein und Zeit und der Phänomenologie Husserls,

in der dieser nachdrücklich betont, daß Sein und Zeit unabhängig von der Hus-

serlschen Phänomenologie verfaßt wurde: „Ich hielt ein Seminar über Husserls

Zeitabhandlung, in dem eine ganze Menge Leute saßen, deren Namen heute be-

kannt sind, so Herr Fulda, Herr Wiehl, Herr Cramer u.a.. Heidegger kam aus ir-

gendwelchem Anlaß in dieses Seminar zu Besuch und fragte, ‚Meine Herren, was

hat Sein und Zeit mit Husserls Zeitabhandlung zu tun?‘ Alle klugen Antworten,

die er erhielt, wurden von ihm zurückgewiesen. ‚Ich will es Ihnen sagen: gar

nichts!“669 Es wird ersichtlich, daß für Heidegger selbst – anders als für Gadamer

und Kiesel – Sein und Zeit mit der Husserlschen Phänomenologie so gut wie

nichts zu tun hat. Muß man nun davon ausgehen, daß die Zeitanalyse in Sein und

Zeit nur eine Ausnahme in einem Werk ist, das ansonsten von einer starken An-

passung Heideggers an Husserls Phänomenologie geprägt sei? Dies kann aber m.

E. nicht der Fall sein. Bekanntlich ist „der ursprüngliche ontologische Grund der

Existenzialität des Daseins“ in Sein und Zeit als „die Zeitlichkeit“ bezeichnet.670

Die Zeit ist also der zentrale Begriff in Sein und Zeit, dies soll aber nach Heideg-

ger mit der Phänomenologie Husserls keine Verwandtschaft haben.

Sein und Zeit ist, wie Gethmann mit Recht behauptet, ein systematischer Neu-

entwurf einer Philosophie, deren Ansätze man schon in Heideggers Hermeneutik

in seiner frühen Freiburger Zeit finden kann. Nicht in der Darstellung der voll-

zugsmäßigen Lebensbewegtheit des Daseins liegt das eigentliche Anliegen des

frühen Heideggers, sondern in der philosophischen Erörterung der ontologischen

Bedingung für den Lebensvollzug, der vom Bewußtsein des Seins selbst gleitet

wird. Das Leben des Daseins ist historisch, und der Ausdruck historisch bezeich-

net für Heidegger nicht nur die Lebensbewegtheit, sondern die Existenzstruktur

669 Ebd., S. 25. 670 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 234.

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des Daseins, die dem Dasein das Hinausgehen aus der selbstgenügsamen Bewe-

gung des Alltagslebens, der Ruinanz, möglich macht. Diesen Begriff des Histori-

schen hat Heidegger, wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit mehrmals betont

wurde, durch seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher gewonnen. In seiner

Bemerkung zur zweiten Rede Schleiermachers betont Heidegger, daß die Religi-

on nur in Bezug auf die Geschichtlichkeit des Lebens richtig betrachtet werden

kann: „Geschichte im eigentlichsten Sinne ist der höchste Gegenstand der Religi-

on, mir ihr hebt sie an und endigt mit ihr.“671

Dies ist m. E. ein wichtiger Punkt für das richtige Verständnis der Kehre. Das

Historische besteht darin, daß das Dasein über die Grenze seines Alltagslebens

hinausgeht. Die ontologische Bedingung dafür ist das Seinsbewußtsein des Da-

seins, das Bewußtsein von der grundwesentlichen Nichtigkeit seines Seins

(Angst). Die ontologische Bedingung für das historische Leben ist also das

Seinsbewußtsein, durch das die Verabsolutierung der weltlichen Vorhandenheit

im Alltagsleben vermieden wird. Daß das Sein das Einfache ist, für das jeder the-

tische Akt des Bewußtseins sinnlos ist, ist für den Begriff des historischen Lebens

von maßgebender Bedeutung. Ich fühle mich als ein Sein in einem ganzen Sein -

dieses Gefühl ist etwas, das nicht mit dem Denken aus der Differenz, die durch

den thetischen Akt des Bewußtseins ermöglicht wird, verstanden werden kann.

Hierin liegt nun die zeitliche Dimension des Da-seins im existenzialen Sinn. Die

Ruinanz des Alltagslebens, die der frühe Heidegger als den „Grundsinn der Be-

wegtheit des faktischen Lebens“672 bezeichnet, ist nicht das Historische. In der

Frage nach dem Sinn des historischen Lebens begnügt sich Heidegger nicht damit,

das Leben als eine Lebensbewegung zu definieren. „Die Ruinanz“, die der

Grundsinn der Bewegtheit des faktischen Lebens ist, „nimmt die Zeit weg, d. h.

aus der Faktizität sucht sie das Historische zu tilgen.“673 Das Bewußtseins des

Seins selbst, das das Dasein zum Bewußtsein der Nichtigkeit seines Seins (Angst)

führt, gehört also zu der Grundstruktur des historischen Lebens.

671 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 322. 672 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, a.a.O. S. 131. 673 Ebd., S. 140.

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Diese zeitliche Dimension des Da-seins steht allerdings mit dem Begriff des

Seins, den Heidegger in dem ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘ als das Einfache

bezeichnet, nicht in einem Widerspruch. Es ist einerseits klar, daß das einfache

Sein selbst keine zeitliche Dimension haben kann, da die Zeit Differenz voraus-

setzt: Das Historische ist nicht ohne das Weltbewußtsein möglich. Aber anderer-

seits hat das Weltbewußtsein für Heidegger einen praktischen Ursprung. Die Le-

bensbewegtheit des Daseins ist durch die Ruinanz zu kennzeichnen, solange das

Dasein über die Grenze der Weltlichkeit des Seins, die im Alltagsleben als ein

Seinssinn erschlossen ist, nicht hinausgeht. Das Historische im existenzialen Sinn

setzt also eine dynamische Beziehung zwischen dem Weltbewußtsein und dem

Seinsbewußtsein voraus. Ohne das Bewußtsein des Seins, das als das Einfache zu

kennzeichnen ist, bleibt die Lebensbewegtheit des Daseins unhistorisch.

Das Historische bzw. die Zeitlichkeit im existenzialen Sinn ist das Thema des

Heideggerschen Denkens vor der Kehre. Um den Sinn des historischen Lebens zu

erfassen, muß man die Seinsstruktur des Daseins analysieren. Denn das Histori-

sche bezeichnet nun die fundamentale Seinsweise des Daseins, das im Span-

nungsverhältnis zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein steht.

Nach der Kehre konzentriert sich das Denken Heideggers auf die Seinsfrage, die

nicht mehr vom Dasein aus betrachtet werden soll. Mit Recht weist O. Pöggeler

darauf hin, daß der Sinn des Seins selbst, den Heidegger als die zentrale Frage

seiner Philosophie in Sein und Zeit stellt, erst nach der Kehre konkret analysiert

wird: „So vollzieht sich die Kehre: nicht mehr das Dasein als In-der-Welt-sein,

sondern das Sein in seinem Sinn und seiner Wahrheit und damit das Sein als Er-

möglichung von ‚Welt‘ steht im Zentrum der Denkbemühungen. Nicht mehr wird

vom Seienden her auf das Sein hin gedacht, sondern vom Sein her auf das Seien-

de.“674 Dieser Hinweis entspricht exakt den eigenen Aussagen Heideggers über

die Kehre. Auf der vorletzten Seite von Sein und Zeit weist Heidegger selbst dar-

auf hin, daß die Frage nach dem Sinn des Seins selbst noch offen bleibt: „Der

Streit bezüglich der Interpretation des Seins kann nicht geschlichtet werden, weil

er noch nicht einmal entfacht ist. Und am Ende läßt er sich nicht ‚vom Zaun bre-

674 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 117.

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chen‘, sondern das Entfachen des Streites bedarf schon einer Zurüstung. Hierzu

allein ist die vorliegende Untersuchung unterwegs.“675

3.3.3. Das Sein und die Seinsfülle

Bei der Erörterung der Frage, was das Sein selbst ist, steht Heidegger unter dem

Einfluß von Schleiermacher. Zwar definiert Heidegger das Sein selbst nirgends

als das transzendente Ansichsein. Heideggers Denken geht aber, auch wenn es

nicht ausdrücklich so formuliert wird, von einem Seinsbegiff aus, der dem Seins-

begriff von Schleiermacher entspricht: Sein als Seinsfülle.

O. Pöggeler weist darauf hin, daß Heideggers Wort Lichtung vor und nach der

Kehre jeweils eine andere Bedeutungen hat. Die „Lichtung“ wird ursprünglich als

das verstanden, „was in der Wahrheit als Unverborgenheit zu denken ist“.676 Hei-

degger hat vor der Kehre, also in Sein und Zeit das Wort Lichtung im Sinn der

Erleuchtung benutzt: „Bei dem deutschen Wort ‚Lichtung‘ fällt uns nun gleich

ein, die Frage nach der Wahrheit als der Unverborgenheit könne von der abend-

ländischen Lichtmetaphysik und Lichtmetaphorik her angegangen werden. Sogar

Heidegger selbst hat ja in ‚Sein und Zeit‘ das Dasein als Lichtung in diesem Sinn,

nämlich als das Gelichtete und Erleuchtete, verstanden. Heidegger hat damals nur

gemahnt, das Licht nicht allzu kurzschlüssig auf eine ‚ontisch vorhandene Kraft

und Quelle‘, einen Gott als Erleuchteter, zurückzuführen.“677 Die Lichtung be-

deutet nun für Heideggers Denken nach der Kehre nicht Erleuchtung in dem Sinn,

auf die die Metapher des Lichts verweist. Die Lichtung soll nun vielmehr im Sinn

der Waldlichtung verstanden werden, d. h. das Schaffen eines offenen Raums

durch den Wald, das es möglich macht, daß nun das Licht hereinfällt: „Die späte-

re Rede von der Lichtung darf jedoch nicht mehr vom Licht her verstanden wer-

den, sondern etwa von jener Waldlichtung her, die aus dem verschlossenen und

sich verschließenden dichten Wald sich als eine offene und freie Raum heraus-

ringt. […] Den Wald lichten heißt, ihn so offen machen, daß dann auch Licht 675 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 437. Vgl. Ders., ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, a.a.O., S. 344. 676 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 160. 677 Ebd., S. 160. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 350.

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hereinfallen kann.“678 Das Seinsdenken ist nun zur Topologie des Seins gewor-

den, in der nicht mehr das Licht im Sinn der Erleuchtung im Zentrum steht, son-

dern die Ortschaft für die Seinswahrheit: „Diese Lichtung nennt Heidegger auch

Ort oder Ortschaft (für die Wahrheit des Seins). Sein Denken soll (als Topologie

des Seins) die Wahrheit des Seins als jenen letzten ‚Ort‘ eigens zur Sprache brin-

gen, an dem alle Wege des Denkens enden.“679

O. Pöggeler hat Recht, wenn er die Sinnverschiebung bei der Verwendung des

Wortes Lichtung bei Heidegger beschreibt als Übergang von der Lichtung im

Sinn der Erleuchtung auf die Lichtung im Sinn des Raumlichtens beim späten

Heidegger. Dennoch ist es hier nötig, um ein mögliches Mißverständnis zu ver-

meiden, darauf hinzuweisen, daß die Veränderung des Sinnes des Worts Lichtung

vor und nach der Kehre nicht überbetont werden darf. Zwar ist die Lichtung im

Sinn der Waldlichtung ursprünglicher als die Lichtung im Sinn der Erleuchtung,

da das Licht erst dann hereinfallen kann, wenn der Wald gelichtet ist. Aber die

Lichtung bedeutet sowohl im Sinn der Erleuchtung als auch im Sinn des Raum-

lichtens die Möglichkeit der Offenheit für das Sein.

Pöggler weist darauf hin, daß Heidegger in der Einleitung zu: ‚Was ist Metaphy-

sik‘ das Dasein als die Ortschaft der Wahrheit des Seins bezeichnet: „Vielmehr ist

mit ‚Dasein‘ solches genannt, was erst einmal als Stelle, nämlich als die Ortschaft

der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll.“680

Am Anfang des Textes stellt Heidegger sogar fest, daß die Metaphysik auf das

Licht des Seins zurückzuführen ist: „Sie [Metaphysik] denkt das Seiende als das

Seiende. Überall, wo gefragt wird, was das Seiende sei, steht Seiendes als solches

in der Sicht. Das metaphysische Vorstellen verdankt diese Sicht dem Licht des

Seins. Das Licht, d. h. dasjenige, was solches Denken als Licht erfährt, kommt

selbst nicht mehr in die Sicht dieses Denkens; denn es stellt das Seiende stets und

nur in der Hinsicht auf das Seiende vor.“681 Wenn aber die Wahrheit des Seins

für Heideggers Denken nach der Kehre im Dasein ihren Ort hat, muß man doch

678 O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 160. 679 Ebd. Vgl. M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 373. 680 M. Heidegger, ‚Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘‘, a.a.O., S. 373. 681 Ebd., S. 265.

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davon ausgehen, daß die Wahrheit des Seins, die nun mehr in bezug auf die To-

pologie des Seins gedacht werden soll, immer noch das Da des Daseins als ihre

ontologische Bedingung hat. In einem beleuchteten Raum befindet sich alles in

einer raum-zeitlichen Relation. Dieser Möglichkeit, alles in einer raum-zeitlichen

Relation zu erfahren, muß die Lichtung des Seins (Waldlichtung) vorausgehen, da

erst durch sie das Licht hereinfallen kann. Aber auch die Lichtung im Sinn der

Waldlichtung läßt sich auf die existenzontologische Grundeinsicht Heideggers in

Sein und Zeit zurückführen, daß die Offenheit des Seins nicht ohne das Da des

Daseins möglich ist. Die Lichtung im Sinn der Waldlichtung setzt die Existenz

des Daseins voraus, und Heideggers Denken bleibt somit auch nach der Kehre der

formalontologischen Strukturanalyse des Seins des Daseins treu. Es ist also kein

Wunder, daß Heidegger direkt nach jener Stelle, in der von der Ortschaft der

Wahrheit des Seins Rede ist, eine ausführliche Erläuterung eines zentralen Satzes

in Sein und Zeit gibt: „Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz.“682

Wir haben gesehen, daß Heideggers Kehre nach Gadamer und Kisiel eine radika-

le Abwendung von der Existenzontologie (Sein und Zeit) hin zu einem reinen

Seinsdenken (nach der Kehre) darstelle. Dagegen betont Pöggeler zu Recht, daß

die Kehre keinen Standpunktwechsel darstellt: Es gebe keinen Heidegger I und

Heidegger II.683

Was bedeutet nun die Kehre? Wie ist die Beziehung zwischen der Existenzonto-

logie in Sein und Zeit und dem Seinsdenken nach der Kehre zu bestimmen? Wie

bezieht sich das Denken des frühen Heideggers auf die Existenzontologie in Sein

und Zeit einerseits und auf das Seinsdenken nach der Kehre andererseits? Der

entscheidende Punkt besteht m. E. darin, daß der frühe Heidegger durch seine

Beschäftigung mit Schleiermacher den existenzontologischen Sinn des Histori-

schen erkannt hat: Das Historische im Denken des frühen Heideggers, das als

Urbegriff der existenzialen Zeitlichkeit gedacht werden soll, setzt das Bewußtsein

des Seins selbst voraus, das nicht auf die Differenz des Seienden verweist. Hei-

degger konzentriert sich in Sein und Zeit auf die Analyse der existenzialen Zeit-

682 Ebd., S. 373. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 373. 683 Vgl. O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, a.a.O., S. 24 ff.

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lichkeit. Diese Zeitanalyse in Sein und Zeit steht nicht im Widerspruch mit Hei-

deggers Seinsdenken nach der Kehre, da die Zeitlichkeit des Daseins das Bewußt-

sein des Seins selbst voraussetzt. Mit Recht spricht Pöggeler vom „Vollzug der

Kehre [Heideggers], auf die ‚Sein und Zeit‘ nicht nur hinauslief, sondern aus der

dieses Werk schon gedacht war“.684 Der Grund dafür wurde bereits genannt: Die

Zeitlichkeit des Daseins setzt das Seinsbewußtsein voraus – dies hat Heidegger

durch seine Beschäftigung mit Schleiermachers Begriff des religiösen Gefühls

gelernt. Das bedeutet nun allerdings, daß Heideggers Denken nicht nur vor der

Kehre, sondern auch nach der Kehre wesentlich unter dem Einfluß Schleierma-

chers bleibt.

Der wichtigste Unterschied zu Sein und Zeit, den man aus jener Bedeutungsver-

schiebung des Wortes ‚Lichtung‘ erkennen kann, besteht m. E. darin, daß erst

durch die Lichtung im Sinn der Waldlichtung eine positive Bestimmung des Seins

zutage tritt, auch wenn diese bei Heidegger nirgendwo explizit thematisiert wird:

Das Sein als die Seinsfülle. Die Lichtung im Sinn der Erleuchtung impliziert da-

gegen nicht notwendig eine solche positive Seinsbestimmung: Denn durch das

Licht wird ein dunkler Raum beleuchtet, aber das Sein, das sich als reine Seins-

fülle bezeichnen läßt, kann überhaupt nicht beleuchtet werden, da es nicht auf

Räumlichkeit verweist. Heideggers Denken orientiert sich nicht mehr an der Ana-

lyse der Zeitstruktur des eksistierenden Daseins, nachdem er das Dasein als Ort-

schaft der Wahrheit des Seins festgelegt hat. Hieraus darf man aber nicht schluß-

folgern, der späte Heidegger wolle nun die räumliche Dimension des Seins des

Daseins stärker berücksichtigen. Denn das Sein, das erst durch die Lichtung (im

Sinn der Waldlichtung) offenbar wird, verweist überhaupt nicht auf eine räumli-

che Dimension. Die Räumlichkeit ist eher das, was die Lichtung im Sinn der Er-

leuchtung notwendig voraussetzt.

684 Ebd., S. 113.

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3.3.4. Das Phänomen des Ansichseins

Das Wort Lichtung bezieht sich in Sein und Zeit primär auf die Zeitlichkeit des

Da-seins: „Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des ‚Au-

ßer-sich‘ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die

Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als sein

‚Da‘ existiert. Das Seiende, das den Titel Da-sein trägt, ist ‚gelichtet‘.“685 Die

Lichtung hat hier zwar den Sinn der Erleuchtung, aber die Gelichtetheit des Da-

seins ist nur in bezug auf die Welt möglich, auf die Räumlichkeit des einzelnen

Seienden, die die Existenzstruktur des Daseins als eines In-der-Welt-seins vor-

aussetzt: „Was dieses Seiende wesenhaft lichtet, das heißt es für es selbst sowohl

‚offen‘ als auch ‚hell‘ macht, wurde vor aller ‚zeitlichen‘ Interpretation als Sorge

bestimmt. In ihr gründet die volle Erschlossenheit des Da. Diese Gelichtetheit

ermöglicht erst alle Erleuchtung und Erhellung, jedes Vernehmen, ‚Sehen‘ und

Haben von etwas.“686 Zwar betont Heidegger, daß die Lichtung nicht auf das

Wirkungsverhältnis zwischen den vorhandenen Dingen zurückgeführt werden

soll: „Das Licht dieser Gelichtetheit verstehen wir nur, wenn wir nicht nach einer

eingepflanzten, vorhandenen Kraft suchen, sondern die ganze Seinsauffassung

des Daseins, die Sorge, nach dem einheitlichen Grunde ihrer existenzialen Mög-

lichkeit befragen. Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich. Sie ist

das primäre Regulativ der möglichen Einheit aller wesenhaften existenzialen

Strukturen des Daseins.“687 Aber um die Lichtung im Sinne der Erleuchtung, die

primär auf die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins zurückgeführt werden soll,

angemessen zu verstehen, muß man auch die Offenheit des Seins im Sinne der

Waldlichtung berücksichtigen, die das Gesehenwerden der einzelnen Seienden in

ihrer räumlichen Relation umfaßt: auch die Zeitlichkeit – der primäre Sinn der

Existenz in Sein und Zeit – setzt die räumliche Offenheit des Seins voraus. Die

Zeitlichkeit der Existenz (vor der Kehre) kann nur im Hinblick auf die Ortschaft

des Seins (nach der Kehre) richtig verstanden werden kann. Anders als Gadamer

meint, bedeutet Heideggers Kehre also keinen Standpunktwechsel, sondern eher 685 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 350. 686 Ebd., S. 350 f. 687 Ebd., S. 351.

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eine Ergänzung der einseitig an der Zeitlichkeit orientierten Existenzanalyse in

Sein und Zeit durch die Hervorhebung der topologischen Dimension des Seins-

denkens. Darum ist die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, die die Lichtung im

Sinn der Erleuchtung des Daseins ermöglicht, für Heidegger nur in bezug auf das

In-der-Welt-sein des Daseins möglich: „Erst aus der Verwurzelung des Da-seins

in der Zeitlichkeit wird die existenziale Möglichkeit des Phänomens einsichtig,

das wir zu Beginn der Daseinsanalytik als Grundverfassung kenntlich machten:

des In-der-Welt-seins.“688

Heideggers Betonung, daß die Lichtung nicht auf das Wirkungsverhältnis zwi-

schen den Seienden, sondern primär auf die ekstatische Zeitlichkeit zurückgeführt

werden soll, hat also eine phänomenologische Grundeinsicht ins phänomenische

Wesen alles dinglich Seienden zur Voraussetzung: Heidegger will nicht die reale

Existenz der Dinge als Ausgangspunkt seiner Daseinsanalyse nehmen. Vielmehr

will er zeigen, daß die Offenheit des Seins, die raum-zeitliche Relation zwischen

den weltlich Seienden, erst durch das Da des Daseins möglich ist. Die Lichtung

im Sinn der Erleuchtung ist also nicht nur auf die zeitliche Dimension des Da-

seins zurückzuführen. Ohne Verbindung mit der Räumlichkeit des Seienden ist

sie sinnlos; sie muß auch, wie schon oben gezeigt wurde, jedes Vernehmen, Se-

hen und Haben von Etwas ermöglichen. Nicht von ungefähr trägt der Paragraph

69 von Sein und Zeit, in dem die Lichtung im Sinn der Erleuchtung erläutert wird,

den Titel die Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins und das Problem des Transzen-

denz der Welt. Die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, auf die sich die Lichtung

im Sinn der Erleuchtung zurückführen läßt, ist ohne das Bewußtsein der trans-

zendenten Welt nicht möglich. Die Lichtung kommt also notwendig in der Form

des Vernehmens des transzendenten Seienden vor: Die Gelichtetheit ermöglicht

dem Dasein, das Sein des Seienden als das Sein in der transzendenten Welt zu

betrachten.

Hieraus kann man nun ableiten: Durch die Lichtung im Sinn der Erleuchtung

kommt das Dasein zu der Idee einer transzendenten Welt. Die Welt ist die Trans-

zendenz, die außer mir existiert. Ohne diese Annahme ist die Definition des Da-

688 Ebd.

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seins als eines ek-sistierenden (ausstehenden) Daseins nicht möglich: Ohne das

Bewußtsein davon, daß die Welt eine transzendente Welt ist, läßt sich das Dasein

nicht als Existenz definieren.

Man darf allerdings nicht davon ausgehen, daß die Welt für Heidegger bloß eine

Vorhandenheit wäre. Denn für Heidegger ist die Welt keine Ansichwelt, die auch

ohne das Dasein ist: „Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zei-

tigt sich in der Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Ekstasen ‚da‘. Wenn

kein Dasein existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.“689

Aber die Welt ist, solange sie die Welt des Seienden ist, doch auf die Vorhan-

denheit verwiesen: Das faktische Dasein erfährt die Welt als Welt des vorhande-

nen Seienden. Die Aussagen wie: Die Welt sei weder vorhanden noch zuhanden,

oder: Ohne das Dasein sei keine Welt da, beziehen sich auf die philosophische

Reflexion Heideggers, daß die Welt nicht bloß die Welt außer mir bedeuten kann.

Wie Schleiermacher mit seiner Analyse des (relativen) Abhängigkeitsgefühls

deutlich macht, ist jedes Weltbewußtsein zugleich ein Bewußtsein meines Seins

in der Welt. Wenn Heidegger behauptet, daß die Welt weder vorhanden noch

zuhanden sei, möchte er somit zugleich darauf hinweisen, daß der existenzonto-

logische Begriff der Welt nicht bloß als die Gesamtheit des vorhandenen bzw.

zuhandenen Seienden definiert werden kann: Denn eine solche Definition der

Welt setzt die reale Existenz des einzelnen Seienden voraus, und man gerät somit

in die Position eines naiven Realismus. Die Welt ist nur als eine phänomenale

Welt möglich, die erst durch das Da des Daseins fundiert wird, und alles, was

vorhanden bzw. zuhanden ist, ist ein nachträgliches Phänomen, das nur durch das

Erschließen der Welt durch das Da des Daseins entdeckt werden kann. Hier tritt

nun aber das Rätsel des Seins auf. Die Welt, die das Da des Daseins voraussetzt,

wird notwendig als je schon seiend entdeckt: „Die Erschlossenheit des Da er-

schließt gleichursprünglich das je ganze In-der-Welt-sein, das heißt die Welt, das

In-sein und das Selbst, das als ‚ich bin‘ dieses Seiende ist. Mit der Erschlossen-

heit von Welt ist je schon innerweltliches Seiendes entdeckt. Die Entdecktheit des

Zuhandenen und Vorhandenen gründet in der Erschlossenheit der Welt; denn die

689 Ebd., S. 365.

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Freigabe der jeweiligen Bewandtnisganzheit des Zuhandenen verlangt ein Vor-

verstehen der Bedeutsamkeit.“690

Fassen wir nun den Gedankengang Heideggers zusammen. Die Welt ist nach

Heidegger keine Ansichwelt, die ohne das Da des Daseins möglich wäre. Wir

entdecken in der Welt das Seiende, das vorhanden ist. Wir entdecken im prakti-

schen Umgang mit der Welt das Seiende, das zuhanden ist. Die Welt kann dem

faktischen Dasein nur als eine Relation zwischen einzelnen Seienden erscheinen,

die vorhanden bzw. zuhanden sind. Wir dürfen aber die Welt nicht als eine An-

sichwelt verstehen, die vom Dasein unabhängig ist: Durch diesen Glauben an die

an sich seiende Welt würden wir in einen naiven Realismus geraten.

Dieser Gedankengang ist m. E. im wesentlichen richtig. Das bedeutet aber kei-

neswegs, daß das Dasein im faktischen Leben das Seiende nicht als das an sich

Seiende versteht. Im Gegenteil: Auch Heidegger geht davon aus, daß das Dasein

das Seiende als das an sich Seiende entdeckt. Darum wird die Welt nicht erfunden

oder konstruiert, sondern erschlossen. Darum wird das Seiende als je schon in-

nerweltlich seiend entdeckt.

Typisch für Heidegger ist die einseitige Richtung seiner Argumentation. Heideg-

ger argumentiert, daß das Seiende, das im faktischen Leben als vorhanden er-

scheint, nicht ohne die Erschließung der Welt möglich ist: Er gibt aber keine Er-

klärung dafür, warum das Seiende dem faktischen Dasein als je schon innerwelt-

lich seiend erscheint. Ist der existenzontologische Tatbestand (Faktizität), daß das

Seiende dem Dasein als je schon innerweltlich seiend erscheint, nicht ein Hinweis

dafür, daß das Sein letztlich nur als das Ansichsein möglich ist, das von meinem

Dasein unabhängig ist? Heidegger argumentiert, daß die Welt nur durch das Da

des Daseins erschlossen werden kann und folglich nicht die Ansichwelt ist: Der

konkrete Grund dafür, warum die Welt dennoch dem faktischen Dasein als eine

von seinem Bewußtsein unabhängig (je schon) seiende Ansichwelt erscheint,

bleibt bei Heidegger ungeklärt. Mit der Aussage, daß die Welterschlossenheit

durch das Da des Daseins für die Entdeckung des Vorhandenen und Zuhandenen

notwendig ist, stellt man eine Bedingung für das Phänomen des An-sich dar: Das

690 Ebd., S. 297.

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Phänomen des An-sich kann nicht ohne das Für-sich des Daseins entdeckt werden,

das allerdings für Heidegger nicht auf das reine Ich verweist, sondern auf die sor-

gende Seinsweise des Daseins, dessen Sein die Existenz ist. Darüber hinaus muß

man aber dennoch akzeptieren, daß das Phänomen des An-sich auf etwas ver-

weist, was ursprünglicher ist als die Welterschlossenheit. Man wird akzeptieren

können, daß das An-sich zum Seinsverständnis des Daseins gehört, das ohne das

existenziale Da des Daseins nicht zustande kommt. Wenn aber im Seinsverständ-

nis des Daseins die Auslegung des Seins als eines je schon Seienden notwendig

impliziert ist, muß man doch nach dem Sinn des Seins fragen, das ursprünglicher

als mein Sein ist und daher am besten als das Ansichsein bezeichnet werden kann.

Das Sein, das an sich ist, ist nicht nur ein philosophischer Begriff. Es ist vielmehr

ein Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins, ohne das die Frage nach dem

Sinn des Seins nicht möglich ist. Das An-sich ist nicht einfach ein Phänomen, das

nur als ein korrelativer Begriff des Für-sich des Daseins möglich ist; es ist viel-

mehr ein Grenzbegriff, der bei jedem Sinn des Seins impliziert sein muß.

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4. Das Sein und die Leiblichkeit des Daseins

Es ist nun also deutlich geworden, daß Schleiermachers Begriff des Ansichseins

im radikalen Unterschied zu den Begriffen wie Vorhandenheit, Gegenständlich-

keit usw. steht. Interessant ist nun die Frage, warum Heidegger nicht zu dieser

Konzeption des Ansichseins gelangen konnte. In dieser Hinsicht ist die Unter-

scheidung von dem Seinsphänomen und dem Sein des Phänomens wichtig. In

diesem Kapitel wird deutlich, daß Heideggers Philosophie bei der Unterschei-

dung der beiden Begriffe nicht konsequent genug ist. Heidegger erkennt zwar an,

daß das Phänomen der Welt nicht einfach mit einem Bewußtseinsinhalt identifi-

ziert werden kann, da wir die Welt als je schon seiend entdeckt haben. Hierbei

geht aber Heidegger davon aus, daß das Ansich des Seienden die Entdeckung der

Welt voraussetzt und daher der Sinnerschließung des Seins durch das Da des Da-

seins (Vorhandenheit) nachgelagert ist. Das bedeutet nun m. E. nichts anderes als

die Gleichsetzung des Seinsphänomens (das Phänomen der an sich seienden Welt,

die eine gewisse Vorhandenheit voraussetzt) mit dem Sein des Phänomens (4.1.).

Hieraus folgt die einseitige Orientierung an der Zeitlichkeit bei Heideggers Ana-

lyse des Daseins. Heidegger fragt nicht nach dem Ansichsein des Phänomens, da

für ihn das Ansich ein von der Vorhandenheit abhängiger Begriff ist. Statt dessen

sucht er nach einem anderen Begriff, der angeblich von der Vorhandenheit unab-

hängig sein soll. Dies ist die Zeitlichkeit, die nach der bekannten These Heideg-

gers das Sein des Daseins ist. Es soll nun überprüft werden, ob diese Hervorhe-

bung der Zeitlichkeit bei der ontologischen Seinsfrage wirklich sinnvoll ist (4.2.

und 4.3.).

Im Gegensatz zu Heidegger weist Schleiermacher der Zeit keine privilegierte

Stellung für seine Ontologie zu: Die Zeit ist – genauso wie der Raum – von einem

Gegensatz (innen und außen bzw. vorher und nachher) geprägt. Die Zeit erweist

sich daher als unangemessen für das Verständnis des Seins selbst. Dies bedeutet

aber nicht, daß Schleiermacher seine Frage nach dem Sein durch eine reine abs-

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trakte philosophische Theorie zu beantworten versucht. Er will vielmehr, gerade

wie Heidegger, zeigen, warum das wirkliche Dasein trotz des an der Vorhanden-

heit gebunden Weltbewußtseins nach dem Sein selbst fragt. Dafür führt Schlei-

ermacher nicht nur eine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins aus,

sondern darüber hinaus erarbeitet er auch eine Konzeption der Leiblichkeit des

Daseins, die das konkrete Verhältnis des Menschen zu dem anderen Seienden

betrachtet. Somit kann eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit belegt werden:

Schleiermacher hat den Begriff des leiblichen Daseins der modernen Phänomeno-

logie (Merleau-Ponty) vorweggenommen.

4.1. Das Seinsphänomen und das Sein des Phänomens

Auch Heidegger akzeptiert, daß eine Vorstellung einer Welt ‚an-sich‘ notwendig

für das Verständnis des Seienden ist. Seine Argumentation ist aber auch in bezug

auf das An-sich wiederum von einer gewissen Einseitigkeit gekennzeichnet. Er

behauptet auch hier, daß die Vorstellung eines An-sich-Seienden erst durch die

Welterschlossenheit möglich ist: „In der primären und ausschließlichen Orientie-

rung am Vorhandenen ist das ‚An-sich‘ ontologisch gar nicht aufzuklären. Eine

Auslegung jedoch muß verlangt werden, soll die Rede von ‚An-sich‘ eine ontolo-

gisch belangvolle sein. Man beruft sich meist ontisch emphatisch auf dieses An-

sich des Seins und mit phänomenalem Recht. Aber diese ontische Berufung er-

füllt nicht schon den Anspruch der mit solcher Berufung vermeintlich gegebenen

ontologischen Aussage. Die bisherige Analyse macht schon deutlich, daß das An-

sich-sein des innerweltlichen Seienden nur auf dem Grunde des Weltphänomens

ontologisch faßbar wird.“691 Mit anderen Worten ist das Seiende nicht das reale

Ansichsein, auch wenn das Seiende ontisch und phänomenal als das an sich Sei-

ende erscheint. Denn das Seiende ist schließlich das, was erst durch die Welter-

schlossenheit entdeckt wird. Das ist m. E. richtig, und man darf sich hier nicht

unphilosophisch verhalten und behaupten, daß die Entdeckung des Seienden das

Ansichsein des einzelnen Seienden voraussetze. Aber wie kann die Welt als eine

691 Ebd., S. 76.

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je schon seiende, von uns unabhängige Welt entdeckt werden? Wie kann das Sei-

ende – ontisch und phänomenal – als das an sich Seiende entdeckt werden, auch

wenn die Zurückführung des An-sich auf das Vorhandene ontologisch nicht rich-

tig ist?

Aus diesem Problem gibt es m. E. keinen Ausweg, solange man die Existenz

eines transzendenten Ansichseins nicht akzeptiert. Heideggers Behauptung, daß

das An-sich nicht durch die Orientierung am Vorhandenen erklärt werden könne,

weil das Vorhandene die Erschlossenheit der Welt durch das Da des Daseins

voraussetze, ist zirkulär und fehlerhaft. Sie ist zirkulär, weil das An-sich des Vor-

handenen von Anfang an schon als das nachträgliche Phänomen festgelegt wurde,

das nicht ohne die Welterschlossenheit durch das Da des Daseins möglich ist. Sie

ist fehlerhaft, weil der ontologische Grund für das Phänomen des an sich Seien-

den, das transzendente Ansichsein im ursprünglichen Sinn, nicht unterschieden

wird von dem Phänomen des Ansichseins, das sich auf das Vorhandene bezieht

und daher ohne die Welterschlossenheit durch das Da des Daseins nicht möglich

ist. Eine Erschlossenheit der Welt, die ohne die Entdeckung des vorhandenen

Seienden geschehen soll, ist eine widersprüchliche Vorstellung. Es ist nicht so,

daß die Welt je schon erschlossen ist und erst hiernach das Seiende als vorhanden,

zuhanden oder an sich seiend entdeckt wird. Denn eine Ekstase des Seienden, die

nicht die Entdeckung des an sich Seienden voraussetzt, ist unmöglich; das Aus-

stehen des Daseins ohne das Sein, das unabhängig von mir - an sich - ist, hat kei-

nen Sinn. Eben daher weist auch Heidegger darauf hin, daß das Seiende als je

schon seiend entdeckt wird. Daß die Welt, so wie wir sie erfahren, die Welt-an-

sich ist, ist ein naiver Gedanke, der das phänomenale Wesen der Erscheinungs-

welt ignoriert. Insofern hat Heidegger sicherlich Recht, wenn er die Identifizie-

rung des Seienden mit dem Ansich-Sein zurückweist. Aber die Aussage, daß das

Sein selbst das Ansichsein ist, hat mit diesem naiven Realismus, der die reale

Welt als das ‚Ansich‘ betrachtet, überhaupt nichts zu tun.

Vielleicht wird man mit Heidegger gegen diese These – das Sein ist das ‚An-

sich‘ – einwenden wollen, auch diese Aussage sei immer noch an der Vorhan-

denheit orientiert. Hätte Heidegger aber seine Suche nach dem Sinn des Seins

342

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selbst, das nicht auf das Seiende zurückzuführen ist, nicht mit einem Versuch an-

fangen sollen, zu zeigen, welche Probleme durch die Orientierung am Seienden

bei der Seinsfrage entstehen können? Bei Schleiermacher kann man eine klare

Stellungnahme zu dieser Frage finden: Das ganze Sein kann nicht mit der Totali-

tät alles Seienden gleichgesetzt werden, da die Totalität alles Seienden von der

Raumvorstellung abhängt; der Raum ist notwendig mit dem Gegensatz von innen

und außen verbunden, während dem ganzen Sein kein solcher Gegensatz

beizumessen ist. Dagegen finden wir bei Heidegger keine klare Stellungnahme zu

dieser Frage. Heidegger behauptet zwar, daß das Sein nicht auf das Seiende zu-

rückzuführen ist und daß die Entdeckung des Seienden die Welterschlossenheit

voraussetzt, die nur durch das Da des Daseins möglich ist. Er hat aber den ei-

gentlichen Grund dafür, warum das Sein selbst nicht auf das Seiende zurückzu-

führen ist, nicht genannt.

4.2. Die Mehrdeutigkeit der Zeitlichkeit bei Heidegger

In seinem Werk Neue Wege mit Heidegger fragt Pöggeler, „ob der Versuch [Hei-

deggers], Philosophie durch temporale Interpretation neu zu begründen, nicht im

ganzen auf unhaltbare Voraussetzungen gebaut ist.“692 Gemeint ist, daß Heideg-

ger seinem Wort Zeit bzw. Zeitlichkeit keine präzise Definition gibt. Das Sein hat,

solange es wie bei Heidegger Anwesenheit bedeutet, zugleich eine zeitliche Di-

mension: „Sein – das war Heideggers Ausgangspunkt – ist als Anwesenheit ge-

dacht worden, Anwesenheit aber meint Gegenwart, Gegenwart ist nur eine der

Dimensionen der Zeit. Lassen wir einmal die wörtliche Übersetzung von Ousia

als Anwesenheit gelten, dann müssen wir auch zugestehen, daß die Worte ‚An-

wesenheit‘ und ‚Gegenwart‘ vertauscht werden können.“693 Der Ausdruck: „In

Anwesenheit zahlreicher Gäste“ kann durch den Ausdruck: „In Gegenwart zahl-

reicher Gäste“ ersetzt werden; die Gegenwart bedeutet hier aber nicht nur die

Zeitlichkeit, sondern auch „die Zugehörigkeit anderer zu einer Handlung; diese

692 O. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg / München 1992, S. 134. 693 Ebd.

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Gegenwart wird eben durch den Raum wie durch die Zeit ermöglicht.“694 Pögge-

ler stellt in bezug auf Sein und Zeit daher die kritische Frage: „Muß also die Ent-

deckung, daß das Sein als Anwesenheit und damit als Gegenwart gedacht worden

sei, zur Frage nach Sein und Zeit führen? Sicherlich nicht.“695 Heideggers Frage

nach Sein und Zeit ist also Pöggeler zufolge von einem ungenauen Gebrauch des

Wortes Zeit bzw. Zeitlichkeit abgeleitet: „Nun kann man darauf hinweisen, daß

Heidegger der Zeitlichkeit, von der er spricht, gerade diese ungewöhnliche weite

Bedeutung gibt. Dazu glaubt er sich berechtigt, weil die philosophische Tradition

immer schon in dieser Weise gesprochen habe, wenn sie z. B. das Sein als Apriori,

also im Licht von Zeit charakterisierte.“696

Pöggeler behauptet also, daß Heidegger aus der Bestimmung des Seins als An-

wesenheit, die die Zugehörigkeit des Seienden zu einer Seinssituation ausdrückt,

irrtümlicherweise eine ontologische Frage nach dem Verhältnis von Sein und Zeit

abgeleitet habe. Der Teil, in dem Pöggeler diese Kritik ausführt, trägt den Titel:

Unstimmigkeiten in Heideggers Analyse [der Zeit].

Welches Problem entsteht nun durch diese Unstimmigkeiten in Heideggers Zeit-

analyse? Auch hierauf gibt Pöggeler eine klare Antwort: Daß das Seiende stets als

etwas konkret Bestimmtes erscheint, wird durch Heideggers Orientierung an einer

formal-ontologischen Seinsstruktur des Daseins verdeckt. Die Gegenwart ist ein

Ausdruck, der immer nur in bezug auf das Seiende möglich ist, welches dann

nicht nur formal-ontologisch bloß als seiend bestimmt ist, sondern auch konkret

und gehaltvoll als so oder so seiend bestimmt werden muß: „Zu dem, was man z.

B. Europa als Gegenwart zuspricht, gehört auch Christus, sofern Europa christlich,

antichristlich oder unchristlich ist, gehört die Französische Revolution, die eben-

falls unser Schon-sein bestimmt. Diese Gegenwart ist als individuierte endlich

und stets im Vergehen des Überkommens sich wandelnd. So ist Europa jetzt das

Europa von 1987; nicht aber ist 1987 oder diese Sekunde jetzt die Gegenwart

694 Ebd. 695 Ebd. 696 Ebd.

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Europas im genannten Sinn. Die Gegenwart Europas ist etwas gehaltlich be-

stimmtes, ein artikuliertes dynamisches Was.“697

Heidegger versucht die Frage nach dem Sinn des Seins durch eine ontologische

Beschreibung der Seinsstruktur des Daseins zu lösen. Zwar weist auch Heidegger

darauf hin, daß das Seiende immer das Seiende in einer bestimmten Seinssituati-

on ist. Weil aber für ihn alles, was auf die konkrete Bestimmung dieses oder jenes

Seienden bezogen ist, zum Bereich der Uneigentlichkeit, des Geredes, des Ver-

fallsphänomens gehört, versucht er eine Möglichkeit zufinden, das Dasein unab-

hängig von dem inhaltlichen Bestimmung des Daseins als Entwurf zum eigentli-

chen Sein zu bestimmen. Gerade hierin liegt m. E. der Grund dafür, warum die

Dimension des transzendenten Ansichseins bei Heidegger, worauf auch F. Brecht

hinweist, nicht hinreichend berücksichtigt wird.698 Heidegger abstrahiert von der

Anwesenheit des Seins, die sich sowohl auf die Zeitlichkeit eines Seienden als

auch auf die Zugehörigkeit dieses Seienden zu einer konkreten Seinssituation

beziehen läßt, und er entwickelt so einen sehr abstrakten Sinn der Zeitlichkeit, der

nicht mehr in Beziehung mit dem Seienden verstanden werden soll.

4.3. Heideggers Aporie der Eigentlichkeit des existenzialen Daseins

Dabei gerät Heidegger wiederum in die unlösbare Aporie der Eigentlichkeit des

existenzialen Daseins. Einerseits will Heidegger den existenzontologischen Sinn

der Zeitlichkeit zeigen, der nicht in bezug auf das ontisch Seiende zu verstehen ist;

andererseits ist diese Zeitlichkeit selbst doch nur von einer konkreten Seinssitua-

tion her ableitbar, die Heidegger als Rede bezeichnet.

4.3.1. Die Rede als Existenzial

Die Rede ist für Heidegger nicht ein Phänomen, das erst durch das Erlernen einer

bestimmten Sprache nachträglich ermöglicht wird. Die Rede gehört für Heidegger

zur Grundstruktur des existenzialen Seins des Daseins, bedeutet daher „die Arti-

697 Ebd., S. 130. 698 Vgl. F. Brecht, Heidegger und Jaspers, a.a.O., S. 15.

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kulation der Verständlichkeit des Da“: Sie ist Heidegger zufolge ein „ursprüngli-

ches Existenzial der Erschlossenheit“, die „mit Befindlichkeit und Verstehen exi-

stenzial gleichursprünglich [ist]“.699 Was ist nun diese Rede als ein ursprüngli-

ches Existenzial der Erschlossenheit? Sie ist für Heidegger eine formal-

ontologische Struktur des Verstehens, die nicht auf die Vorgänge in einer be-

stimmten Seinssituation des ontisch Seienden zurückzuführen ist. Sie ist eine on-

tologische Grundbedingung dafür, daß die alltägliche Rede, die sich auf die Vor-

gänge in der Seinssituation des ontisch Seienden bezieht, möglich wird: „Die

volle, durch Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen konstituierte Erschlossenheit

des Da erhält durch die Rede die Artikulation.“700

Diese Artikulation durch die Rede ist für Heidegger nicht auf die Aussage zu-

rückzuführen, die als Mitteilung über etwas auf das empirisch konstatierbare,

ontisch Seiende bezogen ist. Das kann man aus Heideggers Kritik an der Sprach-

wissenschaft am deutlichsten erkennen. Die Griechen hätten nach Heidegger kein

Wort für Sprache und verständen das Phänomen des Sprechens zunächst nur als

Rede. Weil jedoch für die philosophische Besinnung der λόγος vorwiegend als

Aussage in den Blick käme, vollzöge sich die Ausarbeitung der Grundstrukturen

der Formen und Bestandstücke der Rede am Leitfaden dieses Logos.701 Nun folgt

eine für Heidegger typische Argumentation. Die Rede ist nach ihm nicht ohne die

ursprüngliche Erschlossenheit der Welt und der Entdeckung der Vorhandenheit

möglich: Die Rede ist Artikulation, die freilich die Welterschlossenheit durch das

Da des Daseins voraussetzt. Heidegger lehnt aber ab, der Vorhandenheit eine

konstitutive Rolle für die Rede im existenzialen Sinn zuzuweisen. Heidegger

weist zunächst darauf hin, daß die Sprachwissenschaft an der Logik der Aussage

orientiert ist, die sich auf die Vorhandenheit aufbaut: „Die Grammatik suchte ihr

Fundament in der ‚Logik‘ dieses Logos. Diese aber gründet in der Ontologie des

Vorhandenen. Der in die nachkommende Sprachwissenschaft übergegangene und

grundsätzlich heute noch maßgebende Grundbestand der ‚Bedeutungskatego-

699 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 161. 700 Ebd., S. 349. 701 Ebd., S. 165.

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rien‘ ist an der Rede als Aussage orientiert.“702 Heidegger betont hingegen, es

bestehe „die Notwendigkeit einer Umlegung der Sprachwissenschaft auf ontolo-

gisch ursprünglichere Fundamente.“703

Was sind die Fundamente der Rede, die ontologisch ursprünglicher als die Logik

der Aussage sein sollen? Sie sind, wie wir gleich sehen werden, die Zeitekstasen

des Daseins. Heidegger versucht in der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins die

Fundamente der Rede zu begründen, die angeblich ursprünglicher sein sollen als

die auf das Vorhandene bezogene Aussagenlogik. Dieser Versuch ist m. E. aller-

dings ein höchst fragwürdiges Unternehmen. Denn eine Zeitlichkeit, die ur-

sprünglicher wäre als das Seiende, ist an sich schon ein Widerspruch. Nach Hei-

degger gibt es drei „Ekstasen der Zeitlichkeit“, nämlich „Zukunft, Gewesenheit,

Gegenwart“.704 Alle diese Zeitextasen sind m. E. nicht ohne einen Bezug auf das

Bewußtsein des Seienden möglich: gewesen ist nur das Seiende in einer konkre-

ten Seinssituation, die das Vorhandene voraussetzt, Gegenwart und Zukunft sind

nur als Zeitmodus eines Seienden möglich, das die Zeitlichkeit des ontisch Seien-

den schon erfahren hat. Mit anderen Worten: Man wird zwar akzeptieren können,

daß die Zeitextasen nicht als ontische Eigenschaften des Vorhandenen zu charak-

terisieren sind; aber die Rede von Zeitextasen, die ursprünglicher als das Vor-

handene sein sollen, ist sinnlos..

Die Artikulation durch die Rede muß m. E. zumindest zwei verschiedene Di-

mensionen haben: 1. Die Rede setzt die Zugehörigkeit mehrerer Teilnehmer zu

einer gemeinsamen Redesituation voraus, muß daher eine räumliche Dimension

haben, da die Rede nicht ohne die Anwesenheit eines Redenden und eines Ange-

sprochenen möglich ist. 2. Jede Rede impliziert notwendig ein Verständnis der

Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, sie muß daher eine zeitliche Di-

mension haben. In gewisser Hinsicht ist sich auch Heidegger dieser zwei Dimen-

sionen der Rede bewußt. Er glaubt aber zugleich daran, daß eine ursprüngliche

Zeitlichkeit des existenzialen Daseins angenommen werden kann, die ursprüng-

702 Ebd. 703 Ebd. 704 Ebd., S. 329.

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lich in dem Sinn ist, daß sie nicht die Zeitlichkeit des Vorhandenen ist, sondern

deren ontologische Bedingung.

Heidegger betrachtet die Rede primär in bezug auf die zeitliche Dimension, in

der dann das Gegenwärtige die zentrale Rolle spielt. Zwar „zeitigt sich die Rede“,

solange sie eine Artikulation ist, „nicht primär in einer bestimmten Ekstase.“705

Da aber die Rede zunächst in der Form des Ansprechens ermöglicht wird, das

freilich die Gegenwart des Ansprechenden voraussetzt, spielt das Gegenwärtige

unter den drei Zeitextasen eine besondere Rolle für die Rede: „Weil jedoch die

Rede […] zunächst in der Weise des besorgend-beredenden Ansprechens der

‚Umwelt‘ spricht, hat allerdings das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive

Funktion.“706

Man kann hier wiederum deutlich erkennen, daß der Heideggersche Begriff der

Zeitlichkeit ungenau und mehrdeutig ist, was auch Pöggeler bemängelt. Das, was

Heidegger mit dem Wort Gegenwärtigen als eine Zeitextase zum Ausdruck bringt,

bedeutet in Wirklichkeit die Anwesenheit, die die Zugehörigkeit des Daseins und

des in der Form der Umwelt begegnenden Seienden zu einer gemeinsamen Seins-

bzw. Handlungssituation voraussetzt.

Allerdings darf man trotz dieser Ungenauigkeit des Heideggerschen Zeitbegriffs

nicht annehmen, daß Heidegger die Anwesenheit des Anderen bei der Rede ein-

fach ignoriere. „Die Rede ist“ Heidegger zufolge „die bedeutungsmäßige Gliede-

rung der befindlichen Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“. Sie muß also ein

innerweltliches Geschehen sein, das nicht ohne das Bewußtsein des anwesenden

Seienden möglich ist. Die Frage ist nun aber, warum Heidegger trotz seiner An-

erkennung dessen, daß die Rede ein innerweltliches Geschehen ist, die Rede als

die existenziale Zeitlichkeit bestimmen will: „Die Rede ist an ihr selbst zeitlich,

sofern alles Reden über…, von… und zu… in der ekstatischen Einheit der Zeit-

lichkeit gründet.“707

Der Grund dafür besteht m. E. in Heideggers Überzeugung, daß der Sinn der

Existenz ursprünglicher sei als das Vorhandene. Die Existenz setzt freilich eine

705 Ebd., S. 349. 706 Ebd. 707 Ebd.

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Differenz voraus, da die Existenz das Ausstehen bedeutet. Heidegger sucht eine

ursprüngliche Differenz, die nicht auf die ontische Differenz des Vorhandenen

zurückzuführen ist. Wenn Heidegger sagt: „Der ursprüngliche ontologische

Grund der Existenzialität des Daseins aber ist die Zeitlichkeit“,708 möchte er da-

mit zugleich deutlich machen, daß der Zeitlichkeit im existenzialen Sinn eine

besondere Rolle zukommt: Die Analyse der existenzialen Zeitlichkeit des Daseins

soll die eigentliche Existenzweise des Daseins zum Ausdruck bringen, die zwar

Differenz voraussetzt, dennoch nicht auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist.

Diese existenziale Differenz in der ursprünglichen Daseinsstruktur ist für Hei-

degger die Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit muß gegenüber der Räumlichkeit Vor-

rang haben, weil sie die sorgende Existenzstruktur des Daseins zum Ausdruck

bringt: „Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als Sorge wird

erst aus ihr [Zeitlichkeit] existenzial verständlich.“709

4.3.2. Der konkrete Leib als Bedingung der Zeitlichkeit: Eine Kritik an Heideg-

gers Zeitanalyse

Heideggers Präferenz für die Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit, die im

Verlaufe seiner Daseinsanalyse deutlich wird, ist m. E. problematisch: Auf die-

selbe Weise und mit gleichem Recht könnte man auch die Räumlichkeit nicht

bloß ontisch, sondern auch ontologisch auslegen. Man wird einerseits mit Hei-

degger damit einverstanden sein, daß die Zeitlichkeit nicht bloß als ein ontischer

Begriff zu verstehen ist. Zwar kann das ontisch Seiende selber als zeitlich be-

zeichnet werden, weil es notwendig als eine Einheit der Gewesenenheit, der Zu-

kunft und des Gegenwärtigen auszulegen ist: Aber ohne die Welterschlossenheit

durch das Da des existenzialen Daseins wäre die Auslegung des Seienden als

eines zeitlich existierenden nicht möglich. Wie verhält es sich nun mit der Räum-

lichkeit? Zwar kann man die Räumlichkeit als einen Ausdruck der Relation zwi-

schen den ontisch Seienden verstehen. Dennoch muß man aber zugleich zugeben,

daß auch die Räumlichkeit nicht bloß als ein ontisches Konzept zu verstehen ist. 708 Ebd., S. 234. 709 Ebd.

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Ohne die existenziale Seinsweise des Daseins, das sein Da als eingegliedert in

den Gegensatz von Oben und Unten oder Links und Rechts verstehen kann, ist

die Rede von der Räumlichkeit nicht verständlich, ja im Prinzip unmöglich. Wie

die Zeitlichkeit der Ausdruck der sorgenden Seinsweise des Daseins ist, ist die

Räumlichkeit ebenfalls der Ausdruck der sorgenden Seinsweise des Daseins; oh-

ne die Sorge des Daseins um die Orientierung ist das Phänomen des Raums nicht

möglich.

Einen ähnlichen Gedanken kann man auch bei Merleau-Ponty finden. In seinem

Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung weist er darauf hin, daß das Wort

Sein nur in Verbindung mit der Orientierung des für sich seienden Daseins einen

bestimmten Sinn haben kann: „Sein hat nur Sinn durch seine Orientierung.“710

Die Orientierung ist für Merleau-Ponty die Faktizität unseres Seins, die Faktizität

unseres In-der-Welt-seins, die notwendig eine räumliche Dimension haben muß.

Nach Merleau-Ponty gibt es keinen Raum, der wie ein Gegenstand beobachtet

werden könnte. Der Raum ist vielmehr das, durch das wir die Faktizität unserer

Existenz erfahren: „der Raum ruht auf unserer Faktizität. Er ist weder ein Ge-

genstand, noch ein Verbindungsakt des Subjekts, er ist weder beobachtbar, da in

aller Beobachtung schon vorausgesetzt, noch in seinem Entspringen aus einer

konstituierenden Leistung sichtbar, da ihm je schon konstituiert zu sein, wesent-

lich ist; und so vermag er auf magische Weise einer jeden Umgebung ihre räum-

liche Bestimmtheit zu verleihen, ohne je selbst zu erscheinen.“711

Merleau-Pontys These, daß der Raum auf unserer Faktizität ruht, kann man als

eine Erläuterung eines zentralen Begriffs seiner Philosophie verstehen, der auf die

Gleichursprünglichkeit der Vorhandenheit und der existenzialen Seinsstruktur des

Daseins verweist: die Leiblichkeit. Zwar spricht auch Merleau-Ponty – unter dem

Einfluß Heideggers – von der Zeitigung. Aber in seiner Analyse der Zeitigung

betont Merleau-Ponty doch die Leiblichkeit des für sich seienden Daseins, die bei

Heidegger nicht genügend berücksichtigt wird. Heidegger hebt bei seiner Anaylse

des existenzialen Sinns der Gegenwart, wie erwähnt, einseitig die zeitliche Di-

710 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 294. 711 Ebd., S. 297.

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mension hervor, obwohl die Gegenwart die Räumlichkeit (Anwesenheit des Sei-

enden / die Zugehörigkeit mehrerer Seiender zu einer gemeinsamen Seinssituati-

on) und die Zeitlichkeit (Gegenwart als eine Zeitextase) zugleich umfaßt. Einer-

seits behauptet auch Merleau-Ponty, daß „Zukunft, Vergangenheit und Gegen-

wart verbunden sind in der Bewegung der Zeitigung.“712 Aber für Merleau-Ponty

ist dies kein Grund dafür, von einer ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins zu

sprechen, die ohne weiteres den Sinn des Seins des Daseins ausmachen soll. Die

Zeitlichkeit verweist vielmehr auf die Leiblichkeit des Daseins: „Es gehört mir so

wesentlich zu, einen Leib zu haben, wie es wesentlich zur Zukunft gehört, Zu-

kunft einer bestimmten Gegenwart zu sein.“713 Ferner ist dieser Leib nicht die

leere Struktur, die Heidegger mit dem Da des existenzialen Daseins zum Aus-

druck bringt. Sie ist ein konkreter und wirklicher Leib, ohne den die Definition

des Daseins als eines In-der-Welt-seins keinen Sinn ergibt: „Nicht nur ist es mir

wesentlich, überhaupt einen Leb zu haben, sondern sogar, diesen bestimmten

Leib zu haben. Nicht nur der Begriff des Leibes ist es, der im Durchgange durch

den der Gegenwart notwendig mit dem des Für-sich-seins verbunden ist, sondern

die wirkliche Existenz meines Leibes ist es, die derjenigen meines ‚Bewußt-

seins‘ unentbehrlich ist. Daß alles Für-sich-sein nur Krönung eines leiblichen

Daseins ist, kann ich letzten Endes nur wissen aus der Erfahrung eines besonde-

ren Leibes und eines besonderen Für-sich-seins, aus dem Befinden meiner Ge-

genwart bei der Welt.“714 Allerdings ist diese Gegenwart meines Daseins bei der

Welt nicht zeitlich gemeint, sondern eher räumlich: Mein Sein ist anwesend bei

der Welt, als ein konkreter und wirklicher Leib, der die Vorhandenheit des welt-

lich Seienden voraussetzt. D. h.: Die Räumlichkeit hat genau sowie die Zeitlich-

keit zugleich eine ontische und eine existenziale Dimension. Die Anerkennung

der existenzialen Räumlichkeit, die nicht auf die ontische Dimension zurückzu-

führen ist, führt nun nicht automatisch zu dem Ergebnis, daß die existenziale

Räumlichkeit als die Vorhandenheit ursprünglicher wäre. Im Gegenteil: Die exi-

712 Ebd., S. 490. 713 Ebd. 714 Ebd.

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stenziale Räumlichkeit ist nicht ohne das Bewußtsein der Welt möglich, in der

das Seiende als je schon seiend, als an sich seiend und vorhanden, erschlossen ist.

Merleau-Pontys Analyse der Zeitigung durch das Fürsichsein des Daseins führt

also einerseits zur Gleichursprünglichkeit von der Vorhandenheit (das anwesende

Sein in der Welt) und der Zeitlichkeit einerseits; andererseits zu der phänomeno-

logischen Notwendigkeit, das Da des Daseins, durch das die Räumlichkeit und

Zeitlichkeit erschlossen wird, nicht als eine leere Strukturform der Existenz zu

verstehen, sondern zugleich als einen Verweis auf einen konkreten und wirkli-

chen Leib aufzufassen. Einen ähnlichen Standpunkt kann man bei Tugendhats

Kritik an Heidegger finden. In seiner achten Vorlesung über Selbstbewußtsein

und Selbstbestimmung, mit der er seine drei Vorlesungen Heidegger über Sichzu-

sichverhalten beginnt, weist Tugendhat darauf hin, „daß [Heideggers] Auffassung

vom Sein des Menschen als zu vollziehendem der Auffassung widerspreche, die-

ses Seiende sei eine Substanz mit Eigenschaften, ein Subjekt von Prädikaten.“715

Damit meint Tugendhat, daß Heidegger die Definition des Daseins unter Aus-

schließung des Vorhandenseins durchführen will: „Scheinbar meinte er [Heideg-

ger], ein Seiendes könne nur entweder das eine oder das andere sein, es könne nur

entweder als Vorhandenes oder als Seiendes im Seinsmodus der Existenz als Zu-

sein aufgefaßt werden.“716 Tugendhat behauptet nun, daß eine solche scharfe Un-

terscheidung des existenzialen Daseins und des Vorhandenseins unplausibel ist:

„Wenn wir die Chance wahrhaben wollen, uns Heideggers neue Einsichten pro-

duktiv anzueignen, müssen wir sie von diesen sachwidrigen Existenzialitäten

befreien. Wäre ein Mensch nicht etwas Vorhandenes, so würde er überhaupt nicht

existieren.“717

715 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 185. 716 Ebd. 717 Ebd.

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4.4. Schleiermachers Vorwegnahme des phänomenologischen Begriffs der Leib-

lichkeit und Heideggers formal-ontologische Analyse der Existenzstruktur des

Daseins

Merleau-Pontys Hinweis, daß die Zeitigung einen konkreten und wirklichen Leib

voraussetzt, ist sehr aufschlußreich, wenn man die Bedeutung von Schleierma-

chers Religionsphilosophie für Heideggers Existenzontologie verstehen will. Wir

haben im ersten Kapitel gesehen, daß Heideggers Verhältnis zu Schleiermacher

ambivalent ist. Zunächst äußert sich Heidegger durchaus positiv über die zweite

Rede über die Religion: In der Religion im Sinne Schleiermachers erkennt er eine

grundsätzliche Möglichkeit des historischen Lebens im existenzialen Sinn, die

von zentraler Bedeutung für das Dasein sei. Aber unmittelbar nach dieser positi-

ven Würdigung ergänzt er eine kritische Bemerkungen über die Glaubenslehre

Schleiermachers: Schleiermachers Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit

impliziere eine zu starke Objektivierung der Realität der Natur und verkenne das

wahre Wesen des Seins. Schleiermachers These von der wechselnden Bestimmt-

heit unseres Selbst besage, daß unser Bewußtsein durch eine stetige Abfolge und

Durchdringung von einzelnen Situationen bestimmt sei. Ingesamt sei Schleier-

machers Konzeption des Selbstbewußtseins an der Natur bzw. dem endlichen

Seienden orientiert und erfasse daher dessen wahre Struktur nicht. Aus dieser

Kritik, daß Schleiermacher das Selbstbewußtsein (Abhängigkeitsgefühl) natur-

theoretisch verstehe, leitet Heidegger ab, daß eine formale Strukturanalyse des

Bewußtseins notwendig sei. Die Zusammenhänge des historischen Lebens wür-

den sich auf der Grundstruktur des Bewußtseins aufbauen. Hierfür sei der von

Husserl besonders in den Vordergrund gestellte Begriff der Fundierung ein wich-

tiger Schritt in die Richtung einer zuverlässigen Erkenntnis der wahren Zusam-

menhänge des Bewußtseins.718

Wenn man aber den Standpunkt von Merleau-Ponty berücksichtigt (der Leib als

Grundbedingung für die Existenz) und der Heidegger-Kritik von O. Pöggeler und

E. Tugendhat Recht gibt, muß man allerdings vielmehr davon ausgehen, daß ge-

rade in Heideggers Distanzierung von Schleiermacher in diesem Punk ein ent- 718 Ebd.

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scheidender Mangel seiner Konzeption liegt, die ja davon ausgeht, daß der Sinn

der Existenz ohne Bezug auf die leibliche Vorhandenheit meines Da-seins zu ver-

stehen wäre. Heideggers Beantwortung der Frage nach der ursprünglichen Exis-

tenzstruktur des Daseins, die er durch die Hervorhebung der existenzialen Zeit-

lichkeit unter Ausschließung der Vorhandenheit zu beantworten versucht, erweist

sich somit als unbefriedigend. Das Dasein muß in bezug auf den konkreten und

wirklichen Leib betrachtet werden, wenn die wahre Struktur seiner Existenz ge-

klärt werden soll. Das Dasein steht notwendig in einem konkreten Wirkungszu-

sammenhang mit anderen Seienden, der freilich auf die fundamentale Leiblichkeit

des existenzialen Daseins verweist; das Dasein kann nicht ohne eigenen Leib die

Wirkung des anderen Seienden erfahren.

4.4.1. Die Leiblichkeit des Daseins als die Grundbedingung für die ontologische

Frage nach dem Sein selbst

Sowohl der frühe als auch der späte Heidegger betrachten das Dasein nicht als ein

Sein, das in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit anderem Seienden

steht. ‚Dasein‘ ist für ihn vielmehr ein Strukturbegriff, der ausschließlich unter

dem Gesichtspunkt des fundierenden Aktbewußtseins zu betrachten ist. Gerade

hierin liegt nun m. E. der Grund dafür, daß Heidegger stets vom Sein des Daseins

oder vom Sein selbst spricht, aber nirgendwo einen Begriff des Seins entwickelt,

mit dem man die Existenzweise des konkreten und wirklichen Daseins verstehen

kann. Für Schleiermacher eröffnet hingegen die rezeptive Fähigkeit des Men-

schen, die Einwirkung der Dinge oder anderer Menschen am eigenen Leibe zu

erfahren, zugleich die Möglichkeit, daß mein Sein und das andere Sein, die

scheinbar in einer raum-zeitlichen Relation getrennt bleiben (die gegenständliche

Vorhandenheit), in Wirklichkeit in einem absolut kontinuierlichen Kraftfeld (Sein

als Dynamis) stehen, dem nicht die Räumlichkeit beizumessen ist. Die fundamen-

tale Leiblichkeit meines Daseins fungiert also als eine notwendige Bedingung für

die Rede vom Sein selbst, das nicht auf die Vorhandenheit des Seienden zurückzu-

führen ist: Die Vorhandenheit setzt das Denken mit raum-zeitlichen Gegensätzen

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voraus, während die Rezeptivität meines Leibes auf die absolute Kontinuität alles

Seienden verweist. Dagegen fehlt Heideggers Denken diese leibliche Dimension

des Daseins: Heideggers Dasein hat eigentlich keine Möglichkeit, die raum-

zeitliche Trennung zwischen seinem Sein und dem anderen Sein zu relativieren.

Heideggers Kritik an Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls besteht

darin, daß das Abhängigkeitsgefühl für Schleiermacher auf die leibliche Be-

stimmtheit des Daseins bezogen ist. In der Tat ist die intentionale Struktur unse-

res Bewußtseins für Schleiermacher nicht nur als eine Struktur des Bewußtseins

(Bewußtsein = Bewußtsein von etwas) gedacht, sondern als ein Selbstbewußtsein,

in dem „die Zurükschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursa-

che“ stattfindet.719 Hierin liegt der eigentliche Grund dafür, daß Schleiermacher,

wie Heidegger mit dem Ausdruck, dies sei noch zu sehr naturtheoretisch formu-

liert, andeutet, es strikt ablehnt, das religiöse Selbstbewußtsein isoliert von dem

Naturbewußtsein zu betrachten.720 Einerseits will Schleiermacher geltend machen,

daß das Naturbewußtsein ohne Gottesbewußtsein nicht möglich ist: „Ein gänzli-

ches Losgerissensein des Gefühls von dem allgemeinen Naturzusammenhang von

dem Bewußtsein Gottes kann der Gläubige nur als einen das Wesen der mensch-

lichen Natur in dem Einzelnen partiell zerstörenden organischen Geistesfehler

ansehn.“721 Andererseits weist er darauf hin, daß ein religiöses Selbstbewußtsein,

das isoliert vom Bewußtsein des einzelnen Seienden vorkommen würde, nicht

719 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31. 720 Mit Recht betont H. Schnur in seiner Darlegung des Schleiermacherschen Systems des Wis-sens, daß Schleiermacher, etwa im Unterschied zu Schelling, das absolute Wissen nicht vom rea-len Wissen abtrennt. Er weist auch darauf hin, daß hierbei Schleiermachers Festhalten am Indivi-duellen eine entscheidende Rolle spielt: „Die gegenüber der Schellingschen Konzeption tiefgrei-fende Folge dieses Festhaltens am Individuellen ist, daß Schleiermacher das absolute Wissen nicht vom realen Wissen (den wissenschaftlichen Disziplinen) ablöst – ‚es gibt keine Anschauung der Ideen als im realen Wissen – und das absolute Wissen als ihr ‚zeitenthobener‘ Gravitations-punkt der Identität verharren, sondern erst das entfaltete, vollendete Wissenschaftssystem mit ihm zusammenfallen läßt. Deshalb ist das Wissen stets ein sich bildendes, ein werdendes.“ (H. Schnur, Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert, Stuttgart / Weimar 1994, S. 163.) Die Leiblichkeit des Daseins ist nun m. E. ein wesentliches Merkmal dieses Indivi-duellen im Verständnis von Schleiermacher, da dieser in der Leiblichkeit des menschlichen Be-wußtseinslebens die Möglichkeit erkennt, die Einheit des realen Wissens mit dem absoluten Wis-sen herzustellen: Ohne die fundamentale Seinsweise des Menschen, als ein leibliches Dasein mit dem anderen Sein in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zu stehen, ist es nicht möglich, daß uns die absolute Einheit Gottes als transzendenter Grund für unser am endli-chen Seienden orientiertes Denken bewußt werden kann. 721 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O.,131.

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möglich ist: „ […] nur sofern wir schon ein zeitlich bestimmtes werden, d. h. im

sinnlichen Selbstbewußtsein begriffen sind, kann jenes Mitgegebene [das Mitge-

gebensein des höchsten Wesens] mit unserm Ich ein bestimmtes Selbstbewußt-

sein erzeugen, welches dann, wie oben, die mit einem sinnlichen Gefühl eins ge-

wordene fromme Erregung ist.“722

Heidegger fordert für die Definition des eigentlichen Seins des Daseins ‚Ur-

sprünglichkeit‘ und d. h. ein Absehen von der Dimension der Vorhandenheit.

Dieser Gedanke ist Schleiermacher fremd. Genauer gesagt: Das Bewußtsein des

Seins selbst entsteht für Schleiermacher nicht dadurch, daß man von der Vorhan-

denheit absieht; sondern gerade das Seiende, das für mein Denken und Handeln

als etwas Vorhandenes erscheint, verweist zugleich auf die Zugehörigkeit alles

Seienden zu einem Seinsganzen. Die Zeit ist für Schleiermacher nicht jene Zeit-

lichkeit im Heideggerschen Sinn, die als das Sein des Daseins zu verstehen ist;

ein solcher Begriff der Zeit verweist auf die leere Seinsstruktur des Daseins, die

ohne die konkrete Bestimmung eines wirklichen Seienden lediglich eine sinnlose

Abstraktion ist. Daher ist die Zeit für Schleiermacher stets „die Zeit als eine Reihe

von Momenten erfüllenden Selbstbewußtsein“.723 Diese Zeit setzt die konkrete

Leiblichkeit des Daseins voraus: „Denn ein solches kann nur stattfinden als ein

veränderliches.“724

Heidegger will dagegen dem Sein des Daseins einen Sinn der Existenz verschaf-

fen, der angeblich ursprünglicher sein soll als die leibliche Vorhandenheit des

Daseins. Die Folge ist nun aber m. E. eine endlose Verwirrung zwischen ver-

schiedenen Seinsbegriffen, in der Heidegger an keiner Stelle zu einer expliziten

Definition davon, was er unter dem Ausdruck Sein selbst versteht, gelangt.725

Vor allem Heiderggers Verwendung des Wortes ursprünglich ist dabei irrefüh-

rend. Schon die Existenz, das Ausstehen, setzt die Trennung des Daseins von dem

übrigen Sein voraus. Alles, was zur Existenzstruktur des Daseins gehört (wie die

Zeitextasen Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart), kann daher nicht als ur- 722 Ebd., S. 37. 723 Ebd. Vgl. zu Schleiermachers Begriff der Zeit: S.-H. Choi, Vermitteltes und unvermitteltes Selbstbewußtsein, Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1991, S. 149 ff. 724 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 37. 725 Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 167 ff.

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sprünglich bezeichnet werden, wenn man damit die Dimension der Vorhanden-

heit für die Bestimmung des ursprünglichen Sinnes der Existenz ausschließen

möchte. Man kann von der Ursprünglichkeit des Seins des Daseins erst dann

sprechen, wenn man einen Begriff des Seins entwickelt, für den die existenziale

Differenz zwischen dem Dasein und dem anderen Sein an Geltung verliert. Man

kann z. B. mit Schleiermacher von dem ganzen Sein sprechen, zu dem alles Sei-

ende gehört. Dieses Sein ist ursprünglicher als die Vorhandenheit, da die Faktizi-

tät des Daseins, daß es nur als ein Sein im ganzen Sein existieren kann, einen

Begriff des Seins voraussetzt, der meinem Sein, dem Da des eksistierenden Da-

seins, vorausgeht. Dieses Sein ist das Ansichsein, das sich weder durch räumliche

noch durch zeitliche Kategorien definieren läßt. Dieses Ansichsein ist das, was

Schleiermacher mit der Idee Gottes zum Ausdruck bringt. Die Idee Gottes, für die

die Trennung von meinem Sein und dem anderen Sein oder die Differenz zwi-

schen den vorhandenen Seienden ihre Gültigkeit verliert, ist ursprünglicher als

die Idee der Existenz, da die Existenz die Zugehörigkeit meines Seins zu dem

Seinsganzen voraussetzt, das nur als je schon an sich seiend verstanden werden

kann. Sie kommt nie als ein wirkliches Seinsmoment zum Bewußtsein, wenn man

damit wirklich dasjenige meint, das auf die empirisch als seiend konstatierbare

Vorhandenheit des einzelnen Seienden bezogen ist. Sie muß aber jedes Bewußt-

sein vom Seienden begleiten. Denn das Sein, soweit es auf die empirische

Vorhandenheit des endlichen Seienden zurückzuführen ist, muß zum Seinsganzen

gehören, um überhaupt existieren zu können: Das Vorhandene, das nicht ein über

es selbst hinausgehendes einheitliches Sein voraussetzt, ist eine unmögliche Vor-

stellung. Die Idee Gottes ist also, wie Schleiermacher erklärt, ein terminus a quo

unseres Bewußtseins, der auf die Ursprünglichkeit des an sich seienden ganzen

Seins vor jeder existenzialen Differenzierung verweist: „Der transzendente Grund

muß das Wirkliche, wie dieses in Raum und Zeit gesetzt ist, auf eine zeitlose

Weise begleiten; oder: Die Idee der Gottheit begleitet immer unser Denken als

terminus a quo. Der transzendente Grund bleibt immer außerhalb des Denkens

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und wirklichen Seins, aber ist immer die transzendente Begleitung und der Grund

beider.“726

Alles, was das Dasein nach seiner existierenden Seinsweise als eine Artikulation

der Differenzen versteht, ist nicht ursprünglicher als das Vorhandene, sondern

streng genommen gleichursprünglich mit der Entdeckung des Vorhandenen.

Auch die drei Zeitextasen, die Gewesenheit, die Zukunft und die Gegenwart, sind

nicht ursprünglicher als das Vorhandene, sondern gleichursprünglich mit der Ent-

deckung des Vorhandenen. Allerdings ist die existenziale Zeitlichkeit keine ab-

meßbare ontische Zeit. Aber auch die Entdeckung des Seienden im Raum führt

das Dasein nicht primär zu der ontischen Zeitlichkeit. Der Raum fungiert für das

faktische Dasein als eine konkrete Umwelt, in der alles nur in bezug auf die eks-

tatische Einheit der Gewesenheit, der Zukunft und der Gegenwart verstanden

werden kann. Die abmeßbare Zeitlichkeit ist in diesem Sinn ein abkünftiger

Zeitmodus, der nicht direkt auf die ekstatische Einheit des Daseins und des außer

sich Seienden im Raum zurückzuführen ist, sondern auf die theoretische Abstrak-

tion, die die Zeitlichkeit in der Umwelt in die lineare Reihe der abmeßbaren Mo-

mente verwandelt. Sowohl der Raum als auch die Zeit haben also für das Dasein

zugleich eine existenziale und eine ontische Dimension. Es gibt für eine Exis-

tenzontologie keinen Grund, der Zeitlichkeit des Daseins – gegenüber seiner

Räumlichkeit – den Vorrang zu geben.

Nun mag man einwenden, daß mit diesem Vorrang nur gemeint sein soll, daß

das Dasein bereits vor der Entdeckung des vorhandenen Seins diese ontologische

Existenzstruktur besitzt. Ist die Existenzstruktur des Daseins folglich eine Vorbe-

dingung der Entdeckung des Seienden? Ein solcher Einwand entspricht jedoch m.

E. nicht der wirklichen Seinssituation des Daseins und steht darüber hinaus auch

mit Heideggers Ontologie im Widerspruch. Die Existenz ist die Bezeichnung der

Seinsweise des Daseins, die erst nach der Selbstbestimmung des Daseins als ei-

nes In-der-Welt-seins zustande kommen kann. Die Welterschlossenheit ist die

Voraussetzung für diese Selbstbestimmung des Daseins. Was das Dasein vor der

726 F. Schleiermacher, Dialektik, a.a.O., S. 307. Vgl. R. Stalder, Grundlinien der Theologie Schlei-ermachers I, a.a.O., S. 301 f.

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Welterschlossenheit gewesen ist, ist eine sinnlose Frage. Denn gleich wie die

Welterschlossenheit nicht ohne das Da des Daseins möglich ist, ist auch das Da-

sein nicht ohne die Welterschlossenheit möglich. Die Beziehung zwischen der

Welterschlossenheit und der da-seienden Seinsweise des Daseins darf also nicht

als eine Beziehung zwischen etwas Ursprünglichem und etwas Nachträglichem

verstanden werden.

4.4.2. Heideggers Definition des Daseins als eines Seins zum Ende

Die Leiblichkeit des Daseins hat für Schleiermacher letztlich die Funktion, das

Denken in raum-zeitlichen Gegensätzen zu relativieren. Die Entdeckung des end-

lichen Seienden erzeugt nicht nur das Bewußtsein der Trennung zwischen mei-

nem Sein und dem anderen Sein, sondern ist zugleich auch eine ontologische

Grundbedingung dafür, daß ich mich als seiend in einem kontinuierlichen Wir-

kungszusammenhang betrachte: Das Dasein entdeckt das Seiende nicht nur als

das außerhalb seiner selbst liegende Seiende, sondern als das Sein, das mit sei-

nem Sein in einem kontinuierlichen Wirkungsfeld steht. Das Bewußtsein des ein-

zelnen Seienden bildet also eine dynamische Einheit: In ihm sind das Bewußtsein

vom Selbst als einem vom anderen Sein gesondert Seienden (Existenz als Aus-

stehen) und das Bewußtsein vom Selbst als einem zum dynamischen Seinsganzen

gehörig Seienden (In-sein) vereinigt. Das Seiende ist also nicht nur ein abkünfti-

ger Modus des Seins, sondern spielt die Rolle eines Kundgebers, der mich zum

Bewußtsein des Seins selbst führt. Ohne einen Bezug meines Bewußtseins auf

das Seiende findet also kein Denken des Seins selbst statt.

Daß Heidegger das Sein des Daseins nicht in einem konkreten Wirkungsverhält-

nis mit dem übrigen Sein betrachtet, hat zur Folge, daß die ontologische Grund-

bedingung für die existenziale Möglichkeit des Daseins, vom Bewußtsein seines

In-der-Welt-seins zum Denken des Seins selbst zu gelangen, verdeckt bleibt.727 In

727 M. E. kann man Heideggers Analyse über die Bedeutung des Kunstwerkes als ein Beispiel dafür anführen, daß auch Heidegger stillschweigend davon ausgeht, daß sich das Dasein in einem konkreten Wirkungszusammenhang mit anderen Seienden befindet. Allerdings verfügt er – an-ders als Schleiermacher – nicht über eine angemessene Begrifflichkeit (wie die Leiblichkeit des Daseins; oder den absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang zwischen den Seienden), um

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meinem Bewußtsein der Welt zeigt sich jedes Seiende als ein von dem anderen

getrenntes, einzelnes Seiendes (Ausstehendes). Heidegger gibt nun aber keinen

Grund an, warum das Dasein nicht bei dieser Betrachtung des Seins (als eine

Summe von einzelnen, gesonderten Seienden) stehen beleiben kann und warum

es diese Seinsweise für eine uneigentliche Seinsweise halten soll. Das führt wei-

terhin dazu, daß das eigentliche Sein des Daseins für Heidegger nur in einer

Seinssituation möglich ist, die streng genommen zugleich keine wirkliche Seins-

situation mehr sein kann: im Tod. Weil die einseitige Ausrichtung des Daseins am

endlichen Seienden für Heidegger lediglich zu einem Verfall führt, muß sich das

Dasein, um die eigenste Möglichkeit seines Seins erreichen zu können, als der

existenziale Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode verstehen. „Der Tod ist

eigenste Möglichkeit des Daseins“, und der Grund dafür besteht für Heidegger

darin, daß der Tod eine Seinssituation ausdrückt, die schlechthin unbezüglich ist:

„Die eigenste Möglichkeit ist [eine] unbezügliche“, sagt Heidegger in seiner Ana-

lyse der existenzialen Möglichkeit des Daseinsentwurfs zum Tode. 728

Warum jedoch der Tod für Heidegger als die eigenste Seinsmöglichkeit zu ver-

stehen ist, bleibt in vielerlei Hinsicht unklar. Ist der Tod nicht das Ende der Exis-

tenz? Ist es dann aber nicht angemessener, den Tod nicht als die eigenste Seins-

möglichkeit des Daseins zu betrachten, sondern vielmehr als die fundamentalste

Bedrohung für das Seinkönnen des Daseins? In der Tat ist der Tod Heidegger

zufolge nicht ohne die vorhergehende Existenz des Daseins möglich: „Existenz,

Faktizität, Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind demnach kon-

stitutiv für den existenzialen Begriff des Todes. Das Sterben gründet hinsichtlich

deutlich zu machen, wie das Dasein zu dem Bewußtsein gelangen kann, sich nicht nur als etwas von den anderen Seienden Isoliertes zu betrachten (im Weltbewußtsein), sondern die Einheit mit den anderen Seienden zu erkennen (im Bewußtsein des Seins selbst). D. Thomä weist in dem Kapitel 4.1.2. seines Werkes Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, in dem es um eine Kritik der Textgeschichte Heideggers geht, darauf hin, daß die Handlung des Heideggerschen Daseins im Moment der Kunsterfahrung eine Bewegung „vom Hantieren zum ‚sich selbst vernichten-den‘ Handeln“ vollzieht. (D. Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a. M. 1990, S. 690.) Der Grund hierfür besteht darin, daß ein Kunstwerk ein passives Moment des Da-seins zum Ausdruck bringt, das allerdings nicht einfach auf die Intention des handelnden Daseins zurückführbar sei: „Beim Geschaffenen wird […] des ‚Schöpfers‘ eigene Absicht unkenntlich. […] So wird ein erster wichtiger Effekt deutlich, der mit Heideggers Wendung zur Kunst zu erzielen ist: nämlich die Wendung zu einem sich vernichtenden Handeln.“ (Ebd., S. 692 f.) 728 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 263.

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seiner ontologischen Möglichkeit in der Sorge.“729 Mit anderen Worten: die sor-

gende Seinsweise des Daseins, die in der alltäglichen Seinssituation die Orientie-

rung des Daseins am praktischen Leben veranlaßt, ist die ontologische Bedingung

für das Sein zum Tode. Der Tod ist also nicht nur die eigenste Seinsmöglichkeit

des Daseins, sondern zugleich die Möglichkeit der ausstehenden Seinsweise des

Daseins.

Was Heidegger damit zum Ausdruck bringen möchte, kann m. E. folgenderma-

ßen wiedergegeben werden: Die Existenz des Daseins setzt voraus, daß dieses

sich mit den innerweltlichen Gegebenheiten auseinandersetzt, da die Existenz auf

die ausstehende Seinsweise des Daseins gründet. Solange aber das Dasein sein

Sein in bezug auf das Seiende denkt oder solange das Dasein sich für den Zweck

der Erhaltung seiner Existenz zum Seienden verhält, führt es ein uneigentliches

Leben. Das Dasein muß sich als ein Sein zum Ende begreifen, damit für das Da-

sein die Möglichkeit besteht, sich von der Tendenz des Verfallens im Alltagsle-

ben zu befreien und sich auf das eigene Sein hin zu bewegen. Darum ist der Tod,

der Heidegger zufolge unbezüglich sein soll, die eigenste Seinsmöglichkeit des

Daseins.

Es fragt sich nun, warum das Dasein in seiner Existenz, die an der Vorhandenheit

und an der Zuhandenheit ausgerichtet ist, nur ein uneigentliches Leben führen

kann? Warum gilt das Sichverstehen des Daseins als eines ausstehenden Seins,

das die Entdeckung des Seienden voraussetzt, als das uneigentliche Seinkönnen

des Daseins? Was bedeutet es, daß das eigenste Sein unbezüglich sein soll? Kann

man etwas Unbezügliches überhaupt als Sein bezeichnen? Heideggers These, daß

der Tod die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins ist, ist m. E. ein Ausdruck für

die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Denkens. Für die da-seiende Seinsweise

des Daseins kann es für Heidegger eigentlich keinen anderen Ausweg aus der

ruinanten Bewegtheit des Alltagslebens geben, da die Existenz den Seinsbezug

des Daseins auf das Seiende notwendig voraussetzt.

Auch hier bemerkt man den Vorrang der zeitlichen Dimension in Heideggers

Daseinsanaylse. Daß die eigenste Seinsmöglichkeit unbezüglich ist, bedeutet

729 Ebd., S. 252.

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allerdings, daß die existenziale Differenz, die zwischen meinem Dasein und dem

anderen Seienden besteht, für die Charakterisierung des Seins selbst ungeeignet

ist: Die Existenz ist die ausstehende Seinsweise des Daseins und setzt daher stets

relationale Beziehungen zwischen dem Dasein und anderem Seienden voraus.730

Wenn es so ist, muß man für die Möglichkeit des eigensten Seins vor allem nach

einem Seinsbegriff fragen, in dem diese Differenz aufgehoben bzw. relativiert ist.

Hierbei kann es nur darum gehen, einen Seinsbegriff herauszubilden, für den die

existenziale Trennung von meinem Sein und dem anderen Sein, die allerdings

einen raum-zeitlichen Gegensatz voraussetzt, an Geltung verliert. Das transzen-

dente Ansichsein Gottes, auf das ich mich in meinem religiösen Selbstbewußtsein

ausrichte, kann z. B. als ein solcher Seinsbegriff gelten, da diesem Sein ein raum-

zeitlicher Gegensatz nicht beizumessen ist: Da ich mich in meinem frommen Ab-

hängigkeitsgefühl nur als einen Teil des ganzen Seins verstehe, setzt mein Got-

tesbewußtsein keine Trennung von mir und Gott voraus, wenn man unter dieser

Trennung irgendeinen Gegensatz zwischen den einzelnen Seienden versteht. Hei-

deggers These, daß der Tod die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins sei, liefert

m. E. keine bedeutsamen Hinweise für einen adäquaten Seinsbegriff. Mit dem

Tod hört das Dasein auf zu existieren. Somit wird auch die Trennung zwischen

meinem Dasein und dem anderen Sein sinnlos, da das Dasein, durch dessen Exis-

tenz die Trennung zwischen dem Dasein und dem anderen Sein entsteht, nicht

mehr existiert. Aber diese Sinnlosigkeit bedeutet keine wirkliche Möglichkeit des

Daseins, sich aus der uneigentlichen Lebensbewegtheit im Alltagsleben (Verfal-

len) herauszuholen. Mit dem Tod geht der Lebenslauf eines Daseins, der freilich

die Zeitlichkeit des Daseins voraussetzt, zu Ende und damit auch die ruinante

Lebensbewegtheit des am Seienden orientierten uneigentlichen Daseins – das ist

alles, was man aus Heideggers These vom Tod als der eigensten Seinsmöglich-

keit des Daseins ableiten kann. Heidegger versucht das Problem der Seinsganz-

heit, das durch die existenziale Trennung des Daseins und des anderen Seins

730 Das ist m. E. auch der Grund dafür, warum für Heidegger die Entschlossenheit zum eigenen Sein gehaltlos bleiben soll. Vgl. „Die Entschlossenheit wird von Heidegger zu Recht als gehaltlos im Sinne materialer Werte oder Zwecke des Handelns konzipiert.“ (C. Gethmann, Dasein: Erken-nen und Handeln, Berlin / New York 1993, S. 315.)

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durch das Da des Daseins entsteht, durch den Hinweis auf das mögliche Ende des

zeitlichen Lebensverlaufs des faktischen Daseins zu lösen. Das ist allerdings kei-

ne wirkliche Lösung des Problems.

Der Grund für diese unbefriedigende Charakterisierung des ‚eigensten

Seins‘ besteht m. E. darin, daß Heidegger, wie schon erwähnt, das Dasein primär

als einen formalen Strukturbegriff versteht. Da Heidegger bei seiner Analyse des

Daseins von der konkreten Leiblichkeit des Menschen abstrahiert, bleibt die Fak-

tizität des leiblichen Daseins, daß es sich gemeinsam mit allem anderen einzelnen

Seienden in einem absolut kontinuierlichen Kraftfeld (Sein als Dynamis) befindet,

verdeckt: Die formal-ontologische Trennung zwischen dem Dasein und dem an-

deren Seienden verabsolutiert sich.

Heideggers Ontologie ist daher nicht von jenem Fehler frei, den Schleiermacher

auf die optische Täuschung beim Denken zurückführt.731 Für das am Sehen orien-

tierte Denken ist das Dasein von einem anderen Seienden durch den Raum ge-

trennt. Aber indem ich das andere Seiende wahrnehme, muß ich mich als ein sol-

ches Dasein betrachten, das sich in einem kontinuierlichen Wirkungsverhältnis

mit dem anderen Seienden befindet. Da Heidegger diese Dimension der Leiblich-

keit des Daseins für die Definition des existenzialen Daseins außer acht läßt, ist es

für Heidegger eigentlich nicht möglich, die räumliche Trennung zwischen dem

Dasein und dem anderen Seienden zu relativieren: das Seiende bleibt stets das

vom anderen Sein gesonderte Seiende, es verweist nicht auf die absolute Konti-

nuität alles Seienden in einem konkreten Wirkungsverhältnis.

4.4.3. Die Ausweglosigkeit des Heideggerschen Daseins, aus der ruinanten Le-

bensbewegtheit zu entfliehen

Das Fehlen der Leiblichkeit des Heideggerschen Daseins führt nun m. E. dazu,

daß es für das Dasein letztlich keinen Ausweg aus der ruinanten Lebensbewegt-

heit des Daseins (Verfallen) gibt. Das Dasein ist, wenn man Heideggers Ontolo-

gie konsequent zu Ende denkt, zum Verfallen verurteilt. Seine Lebensbewegtheit 731 Vgl. F. Schleiermacher, ‚Spinozismus‘, a.a.O., S. 554; ders., Der christliche Glaube, a.a.O., S. 198 ff.

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ist nur als Ruinanz möglich, da die Existenz notwendig eine Beziehung des Da-

seins zu dem Seienden voraussetzt, die nur durch den Tod aufgehoben werden

kann. O. Pöggeler weist besonders überzeugend auf diese Ausweglosigkeit des

Heideggerschen Daseins hin.

Es wurde bereits gezeigt, daß Heidegger das Wesen der Rede als eine existenzia-

le Zeitlichkeit versteht. Die Rede setzt dennoch die Anwesenheit des Anredenden

und des Angeredeten voraus, hat also auch eine räumliche Dimension. Das wird

auch dadurch deutlich, daß die zeitliche Artikulation der Rede als Einheit von

Gewesenheit und Zukunft auf das innerzeitige732 Geschehen in der Welt anwend-

bar ist, das allerdings den Bezug der Rede zu einem konkreten Seienden voraus-

setzt: „Da das Dasein von der Endlichkeit der Individuation absehen und Ge-

schichtlichkeit zugunsten der Innerzeitigkeit vergessen kann, ist die Artikulation

[der Rede] als Einheit von Gewesenheit und Zukunft modifikabel.“733

Genau betrachtet darf man diese Beziehung der Rede auf ein innerzeitiges Ge-

schehen nicht bloß als eine Möglichkeit der Rede verstehen; man muß vielmehr

davon ausgehen, daß eine Rede ohne einen Bezug zum innerzeitigen Geschehen

nicht möglich ist. Denn die Rede ist immer eine Artikulation der Differenzen, die

die Entdeckung des Seienden voraussetzt. Die Rede ist also auf das Seiende be-

zogen (bezüglich), auch wenn Heidegger die Rede im existenzialen Sinn von der

Rede als Aussage unterscheiden will: Die Rede ist immer eine Rede zwischen

verschiedenen Gesprächspartnern, die ein gemeinsames Weltverständnis haben.

Daraus aber, daß die Rede notwendig mit dem innerzeitlichen Geschehen ver-

bunden ist, ergibt sich nun, daß die Rede für Heidegger eigentlich nur als ein Ge-

rede möglich ist. Die Artikulation der Rede, die Heidegger als die Artikulation

der drei Zeitekstasen versteht, verbindet sich mit dem innerzeitlichen Geschehen.

Hieraus resultiert nun, daß die Gegenwart unter den drei Zeitekstasen eine zentra-

732 Die Innerzeitigkeit ist für Heidegger eine Bezeichnung der Zeitlichkeit des innerweltlich Sei-enden, aus der der vulgäre Begriff der Zeit als einer abzurechnenden entspringt. Vgl. „Das Rech-nen mit der Zeit ist konstitutiv für das In-der-Welt-sein. Das besorgende Entdecken der Umsicht läßt, mit seiner Zeit rechnend, das entdeckte Zuhandene und Vorhandene in die Zeit begegnen. Das innerweltliche Seiende wird so als ‚in der Zeit seiend‘ zugänglich. Wir nennen die Zeitbe-stimmtheit des innerweltlichen Seienden die Innerzeitigkeit.“ (M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 333.) 733 O. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, a.a.O., S. 129.

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le Rolle spielt, da die Rede die Gegenwart von einem Gesprächspartner voraus-

setzt. Diese Gegenwart bei einer Redesituation hat natürlich nicht nur eine zeitli-

che Dimension, sondern sie hat auch den Sinn der Anwesenheit, da die Rede im-

mer als ein Gespräch zwischen verschiedenen Gesprächspartnern über etwas ge-

schieht. Die Gegenwart bei einer Redesituation hat also neben der Zeitlichkeit

mindestens zwei Bezugspunkte, die nicht bloß als zeitlich zu bezeichnen sind:

Die Anwesenheit von einem Gesprächspartner und das Seiende, das entweder der

Gegenstand der Rede ist oder, falls die Rede nicht direkt auf das bestimmte Sei-

ende bezogen ist, als ein notwendiger Hintergrund für die Rede fungiert. Ich rede

z. B. mit einem Freund über ein historisches Ereignis wie die Französische Revo-

lution, das nicht zu dem (gegenwärtig) ‚Seienden‘ gezählt werden kann; aber oh-

ne das bestimmte Verständnis des Seienden, das empirisch als vorhanden (oder

als dereinst geschehen) konstatierbar ist, ist diese Rede nicht möglich. Die Rede,

die sich in der wirklichen Lebenssituation notwendig mit einem innerzeitlichen

Geschehen verbindet, ist bei Heidegger nur als ein Gerede möglich, da sie nur

bezüglich des Seienden geschieht: „Wenn Heidegger diese modifikable Artikula-

tion mit den drei Zeitextasen parallelisiert, dann geschieht etwas Merkwürdiges:

nicht die Rede […] wird auf die dritte Ekstase der Gegenwart bezogen, sondern

das Verfallen, das doch eine Modifikation der Grundstruktur im ganzen ist. […]

Bei der Rede wird überhaupt nur die uneigentliche Zeitigung berücksichtigt, so

daß der Grundstruktur des Daseins das alltägliche Gerede, nicht aber das Ge-

spräch zugesprochen wird. (Nur im Schweigen soll die Stimme des Gewissens

reden.)“734

Der Grund hierfür ist Heideggers Aporie der Eigentlichkeit bzw. der Ursprüng-

lichkeit. Einerseits macht Heidegger selbst geltend, daß die Existenz als die aus-

stehende Seinsweise des Daseins die Entdeckung des Seienden voraussetzt; den-

noch gehört alles, was den Seinsbezug zum Seienden hat, zur Sphäre der Unei-

gentlichkeit. Es wurde bereits erwähnt, daß die Rede immer eine notwendige Be-

ziehung zu einem innerzeitlichen Geschehen hat. Die Rede ist eine Artikulation,

unter der Heidegger primär die Artikulation der Zeitekstasen verstehen will; aber

734 Ebd., S. 129 f.

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die Artikulation der Zeitextasen, die nicht auf das innerzeitliche Geschehen in der

Welt bezogen ist, ist nur eine philosophische Abstraktion, die keineswegs der

wirklichen Redesituation entspricht. Für Heideggers Denken, das den Seinsbezug

des Daseins zum Seienden als die Ursache für die uneigentliche Lebensführung

des Daseins betrachtet, ist es daher schwer, die faktische Differenz zwischen der

Rede und dem Gerede ausfindig zu machen: „Die Artikulation als Rede kann mit

dem Verfallen zusammenrinnen, weil alles Sein-bei-Seienden oder Gegenwärti-

gen als ein Verfallen erscheint und gar nicht gefragt wird, wie das Mitsein mit

Anderen oder das Tragen eines Ringes auf Eigentlichkeit verweist. Auf der ande-

ren Seite erscheint das Umwillen der Zukunft oder das Wovor der Gewesenheit

dem Gegenwärtigen und dem Behalten als ein Gegenwärtiges.“735

4.4.4. Die Leiblichkeit des Daseins, die Liebe und das Sein

Das ist ein Beispiel für die Ausweglosigkeit eines Denkens, das nach dem Sein

selbst fragt, ohne dabei der leiblichen Bestimmung des Daseins gebührend Rech-

nung zu tragen. Der Weg zum Sein selbst kann nicht dadurch erreicht werden,

den wirklichen Seinsbezug des Daseins zum Seienden bloß als ein Verfallsphä-

nomen zu definieren. Er kann nur durch eine Lebenseinstellung erreicht werden,

die Schleiermacher ‚Liebe‘ nennt. Das Sein selbst zeigt sich nicht durch ein phi-

losophisches Gedankenexperiment, dessen Ausgangspunkt in der formal-

ontologischen Strukturanalyse des Daseins liegt. Wir müssen vielmehr, um das

Sein selbst zu denken, lernen, alles weltlich Seiende zu lieben. Diese Liebe be-

deutet nicht nur eine affektive Zuneigung zu einem bestimmten Seienden, son-

dern auch ein Lebensmoment, in dem wir über die Grenze unseres am praktischen

Zweck orientierten Seinsverständnisses hinausgehen. Das Seiende ist in dieser

Liebe nicht mehr der Gegenstand meiner praktischen Handlung, dessen Ausle-

gung von meinem praktischen Willen abhängt. In der Liebe frage ich, wie dieses

Seiende an sich ist.

735 Ebd., S. 129.

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Diejenigen, die in dieser Frage nach dem Ansich eines Seienden einen bloß theo-

retischen Erkenntnisakt erblicken wollen, haben nicht das volle Potential der Phi-

losophie Schleiermachers verstanden. Der theoretische Erkenntnisakt befestigt die

Gegenständlichkeit des Seienden, die durch meinen praktischen Umwillen als

einen Seinssinn dieses Seienden ausgelegt ist. Was für meine praktische Hand-

lung als das Zuhandene erscheint, kommt für ein theoretisches Bewußtsein als

das Vorhandene vor. Aber sowohl das Zuhandene als auch das Vorhandene wird

durch eine Distanz bestimmt: Das Seiende wird nicht nur vom Standpunkt der

Praxis aus, sondern auch vom Stanspunkt der Theorie aus als das von meinem

Sein isolierte Seiende betrachtet, als das mir gegenüber gegenständlich Seiende.

Unser Denken ist hierbei immer noch an der Gegenständlichkeit orientiert. Das

Denken, das durch die Liebe veranlaßt wird, erhält jedoch eine ganz andere Rich-

tung. Wir fragen, wie das Seiende an sich ist. Dieses Seiende ist aber nicht ein

Gegenstand, sondern ein konkretes Sein, das auf mein Leben wirkt. Mein Sein ist

durch dieses Seiende bestimmt, und in diesem Bewußtsein, in dem ich mein eige-

nes Selbst als ein durch das andere Seiende beeinflußtes und bestimmtes Sein

betrachte, verliert der gegenständliche Sinn des Seienden an Geltung. Die Tren-

nung meines Daseins von dem anderen Sein, die in meinem praktischen Leben

unbefragt hingenommen wird, wird nun problematisch. Die Liebe ist in diesem

Sinn Liebe zur Weisheit, die mich von meiner blinden Verabsolutierung der Ge-

genständlichkeit des Seienden befreit. Sie ist die Philosophie im eigentlichsten

Sinn, die meine alltägliche Bindung an das dinghaft Seiende überwindet. Durch

diese Liebe gerate ich in eine Unruhe, die durch den Zweifel an der Sinnhaftigkeit

des praktischen Lebens verursacht wird. In dieser Unruhe verlasse ich nicht das

Seiende. Das ist ja für mich als ein endliches Dasein gar nicht möglich, da jedes

endliche Sein nur in bezug auf das andere Sein existieren kann. Ich bestimme

vielmehr den Sinn des Seienden neu. Das Seiende ist nicht mehr ein Gegenstand,

der von mir isoliert ist. Solange ich mir bewußt bin, daß dieses Andere mein Be-

wußtsein mitbestimmt, erkenne ich vielmehr an, daß ich und dieses Seiende ge-

meinsam in einem konkreten Wirkungsverhältnis stehen.

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Jedes Seiende ist in meiner liebenden Beziehung zu ihm weder als das bloß Vor-

handene noch als das bloß Zuhandene gegeben, sondern es ist ein eigenständiges

Sein, und ich fühle mich als ein konkretes Sein, das durch den Bezug zu diesem

Seienden konkret bestimmt ist. Die Leiblichkeit des Daseins, die Schleiermacher

mit seiner Entdeckung der Intentionalität des Bewußtseins zum Ausdruck bringt,

ist eine ontologische Voraussetzung dafür, daß ich das, was in meinem am prakti-

schen Zweck orientierten Alltagsleben bloß als zuhanden bzw. vorhanden vor-

kommt, als ein eigenständiges Ansichsein anerkenne. Die Leiblichkeit des Da-

seins, durch die ich die Wirkungen der Dinge der Außenwelt auf mich spüre, ist

in diesem Sinn die Grundmöglichkeit des Daseins, sich aus der ruinanten Le-

bensbewegtheit des alltäglichen Daseins herauszuholen. Die Leiblichkeit des Da-

seins macht es notwendig, daß sich das Dasein mit dem anderen Sein durch die

Liebe verbindet. Das Dasein fragt nach dem Ansich des Seienden, das über die

Grenze meines praktischen Umwillens weit hinausgeht. In der Liebe zu einem

konkreten Seienden aktualisiert das Dasein ein Denken, das nicht um des prakti-

schen Zweckes willen, sondern um des Denkens selbst willen vollzogen wird: das

reine Denken. Mit der Aktualisierung des reinen Denkens, das nach dem Ansich

des Seienden fragt, zeigt sich alles Seiende als etwas, was mit mir in einem abso-

lut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang steht. Ich bin nicht nur ein ausste-

hendes Sein, sondern ein innestehendes, und diese Inständigkeit meines Daseins

charakterisiert sich dadurch, daß alles endlich Seiende nur durch die Zusammen-

gehörigkeit zum ganzen Sein existieren kann, das nicht bloß als die Totalität alles

Seienden zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Die Leiblichkeit des Daseins, die

Liebe und das Sein selbst sind fundamentale Strukturmomente für die Existenz

des Daseins; eine Ontologie, die am Leitfaden einer formal-ontologischen Struk-

turanalyse des Daseins durchgeführt wird, ist von Anfang an zum Scheitern ver-

urteilt, solange der konkrete Leib des Daseins nicht berücksichtigt wird. Denn

ansonsten fehlt letztlich die existenziale Grundlage dafür, daß die Trennung zwi-

schen den einzelnen Seienden aufgehoben bzw. relativiert wird.

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IV. Die Existenz und das Abhängigkeitsgefühl

Im Mittelpunkt des vierten Teils dieser Arbeit soll die These stehen, daß das Ab-

hängigkeitsgefühl im Sinne Schleiermachers ein Ausdruck des existenzialen

Seinsverhältnisses des Daseins ist. Diese These läßt sich nicht nur mit philoso-

phischen Argumenten verteidigen, sondern auch zwei philologische Indizien

sprechen für sie: Schleiermachers eigene Ausführungen über seinen Begriff des

Abhängigkeitsgefühls und die Schleiermacher-Interpretation von zwei wichtigen

Husserl-Schülern, Martin Heidegger und Adolf Reinach, stützen diese These.

Schleiermacher selbst versteht das Abhängigkeitsgefühl als einen Ausdruck des

existenzialen Seinsverhältnisses des Menschen, und auch Reinach und Heidegger

gelangen nach ihrer Auseinandersetzung mit der Religionsphilosophie Schleier-

machers zu demselben Ergebnis. Dies soll in den folgenden Kapiteln näher erläu-

tert werden.

Allerdings darf man nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß Schleiermachers

Religionsphilosophie ausschließlich als Existenzontologie – und nicht als eine

Form der Phänomenologie – zu interpretieren sei, auch wenn ihr zentraler Begriff

des Abhängigkeitsgefühls das existenziale Seinsverhältnis des Daseins zum Aus-

druck bringt. Das philosophische Verhältnis zwischen der Phänomenologie und

der Existenzontologie darf keineswegs als eine Entweder-Oder-Frage verstanden

werden. G. Marcel z. B., der unabhängig von Husserl eine eigenständige Phäno-

menologie entwickelt hat, kommt bei seinen Analysen bekanntlich zu dem Er-

gebnis, daß die leibliche Existenz des Daseins für jedes wirkliche Bewußtseinsle-

ben vorausgesetzt werden muß. Unter dem Einfluß von Marcel betont auch Mer-

leau-Ponty die leibliche Existenz des Daseins, die für ihn aber keineswegs als ein

Zeichen der Unzulänglichkeit der Phänomenologie als Philosophie verstanden

werden dürfe.736 Vielmehr soll man die Existenzontologie als einen Versuch ver-

stehen, die Phänomenologie über die Grenze der klassischen Bewußtseinstheorie

736 Vgl. B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 150 ff.

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hinauszuführen. Für viele Phänomenologen, die an Husserl anknüpfen, hängt

Husserls eigener Entwurf der Phänomenologie immer noch zu stark von der klas-

sischen Bewußtseinstheorie ab. Auch die existenzontologische Dimension

Schleiermachers kann m. E. als ein Indiz dafür gewertet werden, daß die phäno-

menologische Analyse des Bewußtseins bei Schleiermacher von Anfang an von

einer Kritik an der klassischen Bewußtseinstheorie geleitet ist.

Daß Heidegger selbst Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Existenz-

analyse des Daseins verstanden hat, kann m. E. als ein wichtiger Beleg dafür be-

wertet werden, daß Heideggers Philosophie im ganzen unter dem Einfluß der

Anregungen bleibt, die er in seiner frühen Freiburger Zeit durch seine Beschäfti-

gung mit Schleiermacher erhalten hat. Durch die bisherige Untersuchung wissen

wir nun, daß Schleiermacher eine fundamentalontologische Frage nach dem Sein,

die durch unser natürliches Seinsverständnis – für welches das Sein das Seiende

ist – nicht adäquat beantwortet werden kann, von einer phänomenologischen

Analyse des Selbstbewußtseins abgeleitet hat. Was Schleiermacher durch diese

Verbindung von Phänomenologie und Ontologie erhält, ist die Notwendigkeit,

daß die Existenzstruktur des Daseins für eine angemessene Analyse der Struktur

des Selbsbewußtseins berücksichtigt werden muß. Dies werden wir durch die

kurze Analyse der Auseinandersetzung Schleiermachers mit dem Theologen

Bretschneider deutlich erkennen können. Auch Heidegger gelangt zu dem Ergeb-

nis, daß Schleiermachers Religionsphilosophie als eine existenzontologische

Analyse des Daseins bezeichnet werden kann. Dies wird im Folgenden ausführ-

lich begründet werden..

Wenn sich dies aber so verhält, dann kann man auch festhalten, daß Heideggers

Beschäftigung mit Schleiermacher nicht bloß als eine Vorstufe für eine spätere

existenzontologische Analyse des Daseins verstanden werden darf. Somit haben

wir nun einen Beleg für eine der Hauptthesen der Arbeit, auf die ich gleich in der

Einleitung und dann im weiteren Verlauf dieser Arbeit wiederholt hingewiesen

habe: Unter der sogenannten hermeneutischen Wende Heideggers, die O. Pögge-

ler und H. Ott zu Recht auf Heideggers Beschäftigung mit Schleiermacher zu-

rückführen wollen, darf man nicht bloß eine Übergangsphase des Heideggerschen

370

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Denkens verstehen, die dann durch die Existenzontologie in Sein und Zeit oder

durch die sogenannte Kehre des Heideggerschen Denkens überwunden worden

wäre; man muß vielmehr davon ausgehen, daß Heidegger gerade durch seine Be-

schäftigung mit Schleiermachers Religionsphilosophie einen entscheidenden An-

satzpunkt für seine Philosophie erhalten hat, der für seine Philosophie im ganzen

von bleibender Bedeutung ist.

Um richtig verstehen zu können, wie sich Heideggers Philosophie zur Religions-

philosophie Schleiermachers verhält, muß man sich vor allem von zwei Fehlin-

terpretationen kritisch distanzieren, die unter dem Einfluß der praxeologischen

Heidegger-Interpretation Gadamers zur Zeit weit verbreitet sind: 1. Sein und Zeit

sei für den eigentlichen Denkweg Heideggers, der bereits in seiner frühen Frei-

burger Zeit beginnt, nicht wirklich zentral. 2. Heideggers Kehre bedeute einen

Standpunktwechsel Heideggers. Daß beide Behauptungen auf einer sehr eigen-

willigen Heidegger-Interpretation beruhen, wurde schon im zweiten und dritten

Teil nachzuweisen gemacht. Der Grund für diese Fehlinterpretation besteht m. E.

darin, daß man das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Hermeneutik und On-

tologie bei Heidegger nicht richtig auffaßt. Die Behauptung von Gadamer (und

Kisiel), Heideggers Kehre sei eine Rückkehr zu einem frühen Freiburger Stand-

punkt, in dem das Dasein primär in seiner Lebensbewegtheit bzw. im Vollzugs-

charakter der Lebensführung des Daseins betrachtet werde, wird bereits proble-

matisch, wenn berücksichtigt wird, daß schon in den frühen Freiburger Vorlesun-

gen von Heidegger zahlreiche Stellen gefunden werden können, in denen sich

eine phänomenologische Analyse des Angstphänomens zeigt. Dies wurde bereits

im ersten Teil dieser Arbeit gründlich untersucht. Im dritten Teil haben wir, in

Anlehnung an Heideggers eigener Stellungnahme über die Bedeutung seiner Keh-

re in dem ‚Brief über den ‚Humanismus‘‘, sogar gesehen, daß Heidegger selbst

seine Kehre nicht als einen Standpunktwechsel versteht. Was Heidegger in Sein

und Zeit über die Beziehung zwischen Phänomenologie und Ontologie äußert,

bleibt also für seine Philosophie weiterhin von grundlegender Bedeutung: „Onto-

logie ist nur als eine Phänomenologie möglich.“737 Zwar versucht Heidegger

737 M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S. 35.

371

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nach seiner Kehre, ohne den Umweg der phänomenologischen Bewußtseinsana-

lyse bzw. der existenzontologischen Strukturanalyse des Daseins direkt vom Sein

selbst zu sprechen. Aber diese Kehre setzt eine phänomenologische Bewußtsein-

sanalyse einerseits und die existenzontologische Analyse der Daseinsstruktur als

zwei unentbehrliche Vorbedingungen voraus, da gerade diese beiden Analysen

den notwendigen Grund dafür verschaffen, warum wir den Sinn des Seins nicht

einfach von dem Standpunkt des Seienden aus betrachten dürfen. Es ist also kein

Wunder, daß Heidegger Phänomenologie, Ontologie und Hermeneutik des Da-

seins als drei konstitutive Elemente der echten Philosophie versteht: „Ontologie

und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur

Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst

nach Gegenstand und Behandlungsart. Philosophie ist universale phänomenologi-

sche Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der

Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort freigemacht

hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“738 Man kann allerdings

eine phänomenologische Dimension der Philosophie besonders hervorheben und

sich auf ein Bewußtseinsphänomen wie z. B. die Angst konzentrieren. Oder man

kann sich der existenzialen Daseinsanalyse widmen und hieraus das Da des Da-

seins als die ursprüngliche Ermöglichungsbedingung für die Seinsoffenheit er-

weisen. Oder man kann sogar direkt das Sein selbst behandeln, nachdem eine

fundamentalontologische Frage nach dem Sein selbst, das sich vom Seienden

gründlich unterscheidet, durch die phänomenologische Betrachtung des Bewußt-

seinslebens und die Analyse der Existenzstruktur des Daseins als gerechtfertigt

erwiesen wurde. Es ist aber ein Irrtum, wenn man meint, Heidegger hätte Herme-

neutik und Phänomenologie bloß als Übergansformen zu einer Ontologie betrach-

tet: Das ontologische Denken über das Sein selbst hat kein Fundament, wenn die

Frage nach dem Sein phänomenologisch und hermeneutisch nicht als philoso-

phisch notwendig erwiesen wird.

Es wurde bereits erwähnt, daß Heidegger selbst in seiner frühen Freiburger Zeit

Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Existenzontologie verstanden hat.

738 Ebd., S. 38.

372

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Dieser Tatbestand ist für die vorliegende Arbeit von entscheidender Bedeutung:

Schleiermachers Religionsphilosophie ist für Heidegger von Anfang an eine echte

Philosophie, in der Phänomenologie, Ontologie und Hermeneutik des Daseins

vereinigt sind. Diese These soll wir im Verlauf des vierten Teils dieser Arbeit

belegt werden.

373

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1. Schleiermacher-Rezeption im Umfeld der Phänomenologie Husserls

Heidegger ist nicht der einzige Philosoph, der sich im Umfeld der Phänomenolo-

gie Husserls mit der Religionsphilosophie Schleiermachers beschäftigt hat. Wie

bereits erwähnt, setzt sich auch Reinach intensiv mit der Religionsphilosophie

Schleiermachers auseinander. Heidegger und Reinach haben jeweils eigene philo-

sophische Grundpositionen, die sich in vielen Punkten voneinander unterscheiden.

Beide sind sich aber darin einig, daß man nicht zu einer idealistischen Philoso-

phie übergehen könne, wenn man die phänomenologische Analyse des Bewußt-

seins konsequent durchgeführt hat. Schleiermachers Religionsphilosophie ist für

sie ein explizites Beispiel dafür, daß die Phänomenologie nur als eine phänome-

nologische Ontologie möglich ist.

1.1. Die Ontologie als notwendige Konsequenz der phänomenologischen Analyse

des Selbst

Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß sich die Idee einer phäno-

menologischen Philosophie nicht auf die Phänomenologie Husserls beschränken

läßt. Und zwar nicht nur deswegen, weil andere Denker unabhängig von Husserl

eigenständig eine phänomenologische Position entwickelt haben, wie z.B. der

bereits erwähnte Marcel. Man kann daher die Phänomenologie nicht einfach mit

den Logischen Untersuchungen von Husserl gleichsetzen. Es liegt vielmehr in der

Natur einer jeden philosophischen Position, daß weitere mögliche Entwicklungen

einer bestimmten Idee nicht notwendig mit der ursprünglichen Intention ihres

Urhebers übereinstimmen müssen. In der methodologischen Radikalität des Ver-

fahrens, das Husserl die phänomenologische Reduktion nennt, liegt die Stärke der

Husserlschen Phänomenologie; die phänomenologische Reduktion ist in vielerlei

Hinsicht grundlegender als die Methodologie, die in der herkömmlichen Philoso-

phie angewendet wurde, wenn es darum geht, einen sicheren Erkenntnisgrund zu

finden. Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, daß jede phänomenologische Phi-

374

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losophie wie bei Husserl zu einem transzendentalen Idealismus übergehen muß.

Es gibt bekanntlich zahlreiche wichtige Philosophen, die zwar von der Husserl-

schen Phänomenologie ausgehen, aber seinen Übergang zu einem transzendenta-

len Idealismus nicht mit vollziehen. K. Schumann, M. Merleau-Ponty, J.-P. Sartre,

E. Levinas, P. Ricoeur und A. Gurwitsch sind vielleicht die bekanntesten Namen

unter den Phänomenologen, die Husserls Idee des reinen Ich entschieden ableh-

nen.

Auch bei Husserl selbst ist der Übergang zu einem transzendentalen Idealismus

nicht von Anfang an angelegt. Bekanntlich lehnt Husserl in den Logischen Unter-

suchungen die Idee des reinen Ichs ab. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit

dem Neukantianer P. Natorp behauptet Husserl, daß sich im ursprünglichen Be-

wußtseinsfeld nichts finden läßt, was auf das Sein des reinen Ichs hinweist. In der

fünften Logischen Untersuchung führt Husserl die „Annahme eines reinen Ich als

Beziehungszentrums“ des Erlebnisses auf die „natürliche Reflexion“ zurück:

„Natürlich ist es objektiv betrachtet (also auch von dem Standpunkte der natürli-

chen Reflexion aus) richtig, daß sich das Ich in jedem Akte auf einen Gegenstand

intentional bezieht. Dies ist ja eine pure Selbstverständlichkeit, wofern uns das

Ich als nichts weiter gilt, denn als die ‚Bewußtseinseinheit‘ als das jeweilige

‚Bündel‘ der Erlebnisse, oder aber in empirisch realer Fassung und natürlicher,

als die kontinuierliche, dingliche Einheit, welche sich in der Bewußtseinseinheit

konstituiert: als das Ich, das in ihnen seine ‚psychischen Zustände‘ hat, das die

betreffende Intention, die betreffende Wahrnehmung, das Urteil usw. voll-

zieht.“739

Es ist also zwar nicht zu leugnen, daß jedes Erlebnis nur als ein Erlebnis eines

Ichs möglich ist. Aber das Ich des Erlebnisses ist dennoch nicht das reine Ich,

sondern eher eine konkrete Bewußtseinseinheit, das jeweilige Bündel der konkre-

ten Erlebnisse. Mit anderen Worten ist das Ich, wie Husserl mit seiner Kritik an

der Natorpschen Idee des reinen Ich deutlich macht, nur als ein konkretes perso-

nales Bewußtsein möglich, das nur als eine Komplexion von Erlebnissen möglich

ist: „Die bewußte intentionale Beziehung des Ich auf seine Gegenstände kann ich

739 E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, a.a.O., S. 376 f.

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nicht anders verstehen, als daß zum phänomenologischen Gesamtbestand der

Bewußtseinseinheit eben auch solche intentionale Erlebnisse gehören, in denen

der Ichleib, das Ich als die geistige Person und so das ganze empirische Ichsub-

jekt (Ich, der Mensch) das intentionale Objekt ist, und daß solche intentionalen

Erlebnisse zugleich einen wesentlichen phänomenologischen Kern des phänome-

nalen Ich ausmachen.“740 Allerdings nimmt Husserl in den Ideen I seine Kritik an

der Natorpschen Idee des reinen Ichs zurück: „In den ‚Log. Unters.‘ vertrat ich in

der Frage des reinen Ich eine Skepsis, die ich im Forschritte meiner Studien nicht

festhalten konnte. Die Kritik, die ich gegen Natorps gedankenvolle ‚Einleitung in

die Psychologie‘ richtete, ist also in einem Hauptpunkte nicht triftig.“741 Hus-

serls Schwanken in der Frage des reinen Ichs zeigt aber klar und deutlich, daß

Husserl selbst seine Phänomenologie in seiner Anfangsphase nicht als einen

transzendentalen Idealismus verstand.

1.1.1. E. Steins Husserl-Kritik

Nicht von ungefähr bezeichnet E. Stein, die Husserls Assistentin in Göttingen war,

Husserls Übergang zum transzendentalen Idealismus „als eine Rückkehr zum

Kantianismus“.742 Husserls Begründung der Phänomenologie in seinen Logischen

Untersuchungen sei durch die „Wende zum Objekt“ charakterisiert, wobei die

Phänomenolgie sich im Unterschied zum „Empirismus, der sich auf bloße sinnli-

che Erfahrung stützen will“, als eine „Wesenswissenschaft“ auszeichne.743 Hus-

serls Phänomenologie wurde zunächst „als eine Rückkehr zu den ältesten Traditi-

onen: Platon – Aristoteles – Scholastik“ verstanden.744 Die Phänomenologie der

Logischen Untersuchungen wurde als „eine Rückwendung von der kritizistischen

Denkweise der modernen Philosophie zu den großen Traditionen der philosophia

perennis“ empfunden.745 Husserls Übergang zum transzendentalen Idealismus,

740 Ebd., S. 361. Vgl.: ebd., 375 ff. 741 E. Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 124. 742 E. Stein, Welt und Person (E. Steins Werke Bd. VI), Louvain / Freiburg 1962, S. 9. 743 Ebd. 744 Ebd. 745 Ebd., S. 33.

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der durch die Einführung der Idee des reinen Ich in die Phänomenologie vollzo-

gen wurde, ist nach dieser Deutung E. Steins eine Abkehr von der philosophia

perennis. Die „Idee einer formalen Ontologie“,746 als die man Husserls Phäno-

menologie aufgefaßt habe, werde nun durch die kritizistische Betrachtung der

Bewußtseinsakte hinsichtlich ihrer Gegebenheitsweise unter Auslassung aller

Seinssetzungen (Epoché) ersetzt.

Für E. Stein geht es dabei überhaupt nicht um die Frage, ob Husserls Untersu-

chung der Konstitution der Welt durch Bewußtseinsakte im Wesentlichen richtig

ist oder nicht. Zwar könne man Husserls Idee der Weltkonstitution anerkennen,

aber durch die Erklärung, wie die Welt dem Subjekt gegeben ist, läßt sich das

ontologische Problem der Existenz der Welt gar nicht lösen: „Die Aufdeckung

der Bewußtseinssphäre und der Konstitutionsproblematik ist sicher ein großes

Verdienst Husserls, das heute noch zu wenig gewürdigt wird. Was in seinem ei-

genen Freundes- und Schülerkreis Anstoß erregte, war eine – unseres Erachtens

nicht notwendige – Folgerung, die er aus der Tatsache der Konstitution zog: wenn

bestimmte geregelte Bewußtseinsverläufe notwendig dazu führen, daß dem Sub-

jekt eine gegenständliche Welt zur Gegebenheit kommt, dann bedeutet gegen-

ständliches Sein, z. B. die Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, gar

nichts anderes als Gegebensein für ein so oder so geartetes Bewußtsein“.747

M.E. möchte Stein mit diesen Sätzen nicht die These verteidigen, daß es eine

Welt an sich gäbe, die sich von der Gegebenheit der Objekte im Subjekt grund-

sätzlich unterscheide. Dies ist nach E. Stein die These der kritizistischen Position

der modernen Philosophie. Diese, von Kant ausgehende, kritische Philosophie

stelle zwar einen entscheidenden Fortschritt in der Erkenntnistheorie dar, indem

sie das Verhältnis zwischen dem erfahrenden Menschen und dem zu erfahrenden

Sein durch eine Analyse der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens zu

erhellen versucht. Die kantische Philosophie sei aber in der entscheidenden Frage

nach dem Sein selbst nicht konsequent genug, indem sie das Sein des Dinges an

sich bzw. der Welt-an-sich nicht in Frage stellt.

746 Ebd. 747 Ebd., S. 10 f.

377

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Stein vertritt dagegen eine ‚realistische‘ Position, allerdings nicht im herkömmli-

chen Sinne des Wortes. Die ontologische Ausrichtung des Göttinger und Mün-

chener Phänomenologen-Kreises wird gewöhnlich als ‚realistische Phänomeno-

logie‘ bezeichnet. Ob diese Bezeichnung angemessen ist, ist eine Frage, die erst

nach einer gründlichen Analyse der Schriften aus diesem Kreis beantwortet wer-

den kann. Auf jeden Fall darf man aber die Position von Stein nicht einfach als

Realismus im gewöhnlichen Sinn dieses Wortes verstehen. Denn der Gottesbeg-

riff spielt im Kontext ihrer Philosophie eine entscheidende Rolle.

Es steht außer Zweifel, daß Steins Husserl-Kritik hauptsächlich gegen dessen

Idealismus gerichtet ist. In einem Brief von Stein (an R. Ingarden, Freiburg, 20. 2.

1917) findet sich die Passage, nach der sie Husserl gegenüber ihre Skepsis geäu-

ßert habe: „Meine Bedenken gegen den Idealismus habe ich dem Meister [Hus-

serl] neulich feierlich unterbreitet.“748 Daß es hierbei um den phänomenologi-

schen Idealismus Husserls geht, wird aus dem weiteren Verlauf des Briefes deut-

lich, in dem Stein ihre lange Debatte mit Husserl über die Richtigkeit der idealis-

tischen Weltsicht schildert: „Ich wurde in einer Ecke des lieben alten Ledersofas

untergebracht, und dann hat man zwei Stunden heftig debattiert – natürlich ohne

sich gegenseitig zu überzeugen. Der Meister meinte, er sei gar nicht abgeneigt,

seinen Standpunkt zu ändern, wenn man es ihm als notwendig erwiese. Das ist

mir aber bisher nicht gelungen. Jedenfalls ist ihm fühlbar geworden, daß er diesen

Punkt noch einmal gründlich durchdenken muß, wenn er es auch vorläufig ver-

schoben hat.“749

Der Grund, warum Stein trotz ihrer starken Sympathie mit der Husserlschen

Phänomenologie den phänomenologischen Idealismus ablehnt, besteht darin, daß

ihrer Ansicht nach dasjenige, worauf sich unser Weltbewußtsein bezieht, nicht

schlechthin als nur ein immanentes Phänomen betrachtet werden kann. Einen

ähnlichen Gedanken kann man auch bei Heidegger finden: Das Dasein entdeckt

das Seiende als je schon seiend, und daher ist das Seiende nicht schlechthin ein

bewußtseinsimmanentes Phänomen. Das Seiende, das nur als ein bestimmtes

748 E. Stein, Selbstbildnis in Briefen I, Freiburg / Basel / Wien 1976, 8. Brief. 749 Ebd.

378

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Phänomen, als ein Bündel der subjektiven Gegebenheiten zum Bewußtsein

kommt, ist nach Heidegger und Stein mehr als ein bewußtseinsimmanentes Phä-

nomen: es verweist zugleich auf das Sein, das ursprünglicher ist als die phänome-

nische Welt, die nur als Korrelat meines Bewußtseins möglich ist.

Steins Husserl-Kritik geht nicht, wie schon erwähnt, von der Annahme der rea-

len Welt an sich aus. Stein fragt nach dem Sein selbst, das nicht auf das Weltphä-

nomen zurückzuführen ist.750 Das Sein selbst ist nicht mit der Welt zu verwech-

seln, die nur als ein Korrelat des Bewußtseins existieren kann; das Sein selbst,

nach dem man nach der phänomenologischen Entdeckung des phänomenischen

Wesens der Welt fragen muß, muß ein absoluter Seinsgrund für das Ichbewußt-

sein einerseits und das Weltbewußtsein andererseits sein.

Dieser Gedankengang Steins zeigt sich besonders deutlich in ihrer ambivalenten

Stellungnahme zur Philosophie Heideggers: „Bei Heidegger erscheint es mir heu-

te verfrüht, sein Weltbild zeichnen zu wollen. Die Zentralstellung des Daseins,

die Betonung der Sorge als zu ihm wesenhaft gehörig, des Todes und des Nichts,

sowie manche extreme Formulierungen weisen auf ein gott-loses, ja geradezu

nihilistisches Weltbild hin. Aber es gibt auch Äußerungen, die es als möglich

erscheinen lassen, daß einmal der Umschlag ins Gegenteil erfolgt und das in sich

nichtige Dasein seinen Halt in einem absoluten Seinsgrund findet.“751

Dieser Seinsgrund ist für Stein Gott, den sie in einer Darstellung der spanischen

Mystikerin, der hl. Teresia von Avila als einen genuinen Sinn des transzendenten

Seins beschreibt, dessen Anerkennung eine Folge der phänomenologischen

Selbstanalyse sein müsse: „Durch die Selbsterkenntnis nähern wir uns Gott.“752

Nach Stein ist Sein und Zeit von einer antichristlichen Tendenz geprägt, die gegen

den Seinsbegriff des theologischen Denkens gerichtet sei: „Es bricht hier ein anti-

750 Daß Stein – wie Heidegger – die Frage nach dem Sein selbst beschäftigt, macht R. Fetz in seiner Darstellung der Steinschen Theorie der persönlichen Identität deutlich: „Die Rede von dem im Menschen anzutreffenden ‚Gegensatz von Ichleben und Sein‘ sollte [nach Stein] uns aufhor-chen lassen, weil die Aufhebung dieses Gegensatzes die ‚Identität von Ichleben und Sein‘ ist.“ (R. Fetz, ‚Ich, Seele, Selbst. Edith Steins Theorie personaler Identität‘, in: R. Luzius / M. Rath / P. Schulz, Studien zur Philosophie von Edith Stein (Phänomenologische Forschungen 26/27), Frei-burg / München 1993, S. 307.) 751 E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 14. 752 Ebd., S. 41.

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christlicher Affekt durch, der im allgemeinen beherrscht ist, vielleicht ein Kampf

gegen das eigene, keineswegs erstorbene christliche Sein. Er zeigt sich auch in

der Art, wie die Philosophie des Mittelalters behandelt wird: in kleinen Seiten-

bemerkungen, die es als überflüssig erscheinen lassen, sich ernstlich mit ihr aus-

einanderzusetzen; als Irrweg, auf dem das rechte Fragen nach dem Sinn des Seins

verloren ging.“753 Diese antichristliche Tendenz Heideggers ist aber nach Stein

nur eine Folge eines falschen Verständnisses des Seinsbegriffs der Tradition der

christlichen Theologie. Stein zufolge besteht Heideggers entscheidender Fehler

darin, daß er den Sinn des Seins in der scholastischen Philosophie irrtümlicher-

weise mit dem Vorhandensein gleichsetzt: „Hätte es sich nicht gelohnt nachzufor-

schen, ob nicht in dem Bemühen um die analogia entis die echte Frage nach dem

Sinn des Seins lebe? Bei gründlicher Erwägung wäre auch klar geworden, daß die

Tradition Sein keineswegs im Sinn von Vorhandensein (d. i. dinglichem Beharren)

meinte.“754

Die Aussage: Es gibt eine Welt-an-sich, ist insofern realistisch, als in ihr die E-

xistenz einer realen Welt behauptet wird, deren Korrelat unser Weltbewußtsein ist.

Die kritizistische Behauptung: ‚Wir können das Ding an sich nicht erkennen‘, ist

hier nur von sekundärer Bedeutung. Auch sie beruht noch auf einer realistischen

Position, da sie die Realität der Welt an sich annimmt: Indem sie die Existenz der

an sich seienden Dinge annimmt, versteht sie das transzendente Sein als eine

Sachrelation zwischen den Dingen, die nicht anders als die Welt genannt werden

kann; es gibt also für sie das Sein, das Welt ist. Dieser Glaube ist ein Hineinproji-

zieren unseres Weltbewußtseins in das transzendente Sein; schon durch die An-

nahme, daß es eine Welt-an-sich gibt, vollziehen wir ein Urteil, das das transzen-

dente Sein im Rahmen unseres natürlichen Weltbewußtseins interpretiert.

Stein geht es um die Differenz zwischen Gott und der endlichen Welt. Stein hebt

das gleichsam monadologische Wesen der Husserlschen Phänomenologie hervor:

„Alles, was außer diesen Monaden ist, ist durch ihre Akte konstituiert und auf sie

753 Ebd., S. 115 f. 754 Ebd., S. 115.

380

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relativ.“755 Und hierin liegt nach Stein die Vernachlässigung Gottes in der Hus-

serlschen Phänomenologie begründet: Wenn das reine Ich monadologisch als „ein

absolutes Sein“ gesetzt ist, durch dessen Akte alles konstituiert wird, so müsse

man auch annehmen, „daß vermöge der Absolutsetzung der Monaden für Gott –

im Sinn unserer Gottesidee, die ihm allein absolutes Sein zuschreibt, ja ihn als

das absolute Sein selbst setzt – kein Raum ist.“756 Damit versucht Stein zu zeigen,

daß Husserl die ontologische Differenz zwischen dem Seienden (d.h. der Welt als

Relation alles einzelnen Seienden) und dem Sein ignoriere. Husserl weise mit

Recht auf das phänomenische Wesen der Welt hin: In unserer phänomenologi-

schen Stellungnahme zur Welt zeigt sich die Welt als ein Phänomen, das durch

die Bewußtseinsakte konstituiert wird und daher nur als Bewußtseinskorrelat vor-

kommt. Aber trotz seines Bemühens, seine Position von dem subjektiven Idea-

lismus Berkeleyscher Prägung zu unterscheiden,757 könne man doch nicht dar-

über hinwegsehen, daß Husserl dem transzendenten Sein keine Rechnung trage.

Husserls Phänomenologie ist in dieser Hinsicht zirkulär: Gegenüber jedem Phä-

nomen ist der sinngebende Akt des Bewußtseins primär, da ein Phänomen ohne

Bewußtseinsakt nicht möglich ist. Bedeutet dies dann, daß das Ich als ein solches

Sein zu verstehen ist, das dem Weltphänomen, der Welt als Phänomen, voraus-

geht? Es ist in der Tat richtig, daß das Phänomen seinem Begriff nach etwas ist,

was durch einen vorausgehenden Bewußtseinsakt erst konstituiert wird. Heißt es

aber dann auch, daß der Bewußtseinsakt dem weltlich Seienden schlechthin vo-

rausgeht? Wie kann man dann aber erklären, daß die Welt, wie Heidegger be-

hauptet, als je schon seiend entdeckt wird? Bedeutet das nicht, daß wir die Welt

als etwas verstehen, was unabhängig von unserem Dasein existiert? Ich nehme z.

B. wahr, daß die Brillanten an einem Ring funkeln. Die Brillanten und der Ring

sind Phänomene, die mir ohne einen sinnstiftenden Akt meines Bewußtseins nicht

bewußt werden können. Diese Phänomene weisen aber zugleich auf etwas hin,

was ursprünglicher ist als mein sinnstiftender Bewußtseinsakt. Ohne das Sichzei-

755 Ebd., S. 13. 756 Ebd. 757 Vgl. E. Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, a.a.O., S. 120.

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gen von etwas Ansichseiendem, was auf mich wirkt, können die Brillanten nicht

in mein Bewußtsein gelangen. D. h.: Jedes Seiende kommt zwar nur als ein Phä-

nomen zum Bewußtsein, dem ein Bewußtseinsakt vorausgeht; aber jedes Phäno-

men hat zugleich die Funktion, auf etwas zu verweisen, was unabhängig von dem

sinngebenden Akt des Bewußtseins ist.

Gott ist für Stein eine notwendige Folge einer Entdeckung des phänomenischen

Wesens der Welt. Es ist ein durchaus anzuerkennender Verdienst Husserls, ent-

deckt zu haben, daß die Welt nur als ein Bewußtseinskorrelat, als ein durch Be-

wußtseinsakte konstituiertes Phänomen möglich ist. Diese Entdeckung darf aber

nicht zu einem Idealismus führen, für den das reine Ich als das absolute Sein zu

verstehen ist. Man muß vielmehr die Existenz eines transzendenten Seins aner-

kennen, das nicht mit der Welt gleichzusetzen ist.

Stein versucht durch ihre Anknüpfung an die Tradition der christlichen Theolo-

gie eine Verbindung zwischen der Phänomenologie und der Tradition wiederher-

zustellen, die bei Husserl fehle. Ihre Kritik an Husserl zeigt aber zugleich, daß der

Grund dafür, warum sich die Phänomenologie nicht auf Husserls idealistische

Position beschränken läßt, innerhalb der Husserlschen Phänomenologie selbst

gefunden werden kann. Wenn man nämlich Husserls Position immanent kritisiert,

so gelangt man zu der Überzeugung, daß seine Wendung zum Idealismus alles

andere als zwingend ist.

1.1.2. Phänomenologie und Ontologie

Das Wort Phänomenologie ist ein mehrdeutiger Begriff. Historisch betrachtet

wurde das Wort Phänomenologie schon vor Husserl in der Philosophie verwendet,

wie bspw. Hegels Werk Die Phänomenologie des Geistes zeigt. Nach E. Ströker

taucht der Begriff Phänomenologie zum ersten Mal 1764 bei J. H. Lambert auf:

Lambert „verstand unter ‚Ph.‘ eine ‚Theorie des Scheins‘, in der die Ursachen

und Quellen sowie verschiedene Arten von Schein zu untersuchen waren und vor

allem die Rolle geklärt werden sollte, die der Schein bei der Bildung richtiger und

382

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unrichtiger Urteile spielt.“758 Auch wenn es um die Grundeinsicht der Phänome-

nologie geht – nämlich um die These, daß das natürliche Weltbewußtsein nicht

das unbezweifelbare Fundament der philosophischen Erkenntnis sein kann –

kann Husserl nicht als der erste Philosoph bezeichnet werden, der diese Frage

nach der Evidenz zu einem philosophischen Thema gemacht hat. Descartes hätte

z. B. seinen methodologischen Zweifel nicht entwickeln können, wenn er die

Existenz der Welt als einen unbezweifelbaren Ausgangpunkt des Denkens ange-

nommen hätte. Man kann sogar davon ausgehen, daß der Ansatz der Phänomeno-

logie schon von Anfang an in der europäischen Philosophie angelegt ist. Auch

Platon kann somit als ein Vorbereiter der Phänomenologie gelten, denn ohne die

Einsicht in das phänomenische Wesen alles weltlich Seienden wäre Platons I-

deenlehre nicht möglich.

Wichtig ist in unserem Zusammenhang aber vor allem die Tatsache, daß gerade

die von Husserl begründete phänomenologische Bewegung von Anfang an ver-

schiedene Richtungen eingeschlagen hat, die nicht selten über die Grenze der

Husserlschen Phänomenologie hinausgehen. Die ontologische Richtung der Phä-

nomenologie seit Heidegger, die sicherlich eine der wichtigsten Richtungen der

phänomenologischen Bewegung ist, ist ein deutliches Beispiel dafür. Die Philo-

sophen, die wie Sartre unter dem Einfluß Heideggers die Phänomenologie zu-

gleich als eine Ontologie verstehen, lehnen eine transzendentalphilosophisch-

idealistisch geprägte Phänomenologie ab. Daß Sartre seine Philosophie als einen

Versuch einer phänomenologischen Ontologie versteht, wie der Untertitel seines

Hauptwerks Das Sein und das Nichts lautet, ist sehr bezeichnend. Für viele Phä-

nomenologen ist das Resultat einer konsequenten Durchführung der phänomeno-

logischen Philosophie eine Ontologie, deren Ausgangpunkt der unaufhebbare

Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden ist.

Wenn man das philosophische Verhältnis zwischen der Phänomenologie und der

Ontologie bei Schleiermacher untersucht, kann man m. E. auch den Grund dafür

erkennen, warum die von Husserl begründete Phänomenologie notwendig zu ei-

ner Ontologie weiterentwickelt werden muß. Heideggers hermeneutische Wende,

758 H. J. Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, S. 1013. (Bd. 2 von 2 Bd.)

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die er durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher vollzogen hat, zeigt klar und

deutlich, daß Schleiermachers Philosophie für die Entwicklung der Phänomeno-

logie in Richtung auf eine ontologische Position nicht von geringer Bedeutung ist.

Ja, man kann sogar davon ausgehen, daß Schleiermachers Philosophie gerade in

der anfänglichen Zeit der phänomenologischen Ontologie eine entscheidende

Rolle gespielt hat. Denn die hermeneutische Wende Heideggers ist zugleich der

Ursprung einer phänomenologisch geprägten Ontologie, d. h. einer Ontologie, in

der die Frage nach dem Sein selbst durch die Analyse der Existenzstruktur des

Daseins erhellt wird.

1.2. Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher und die Hermeneutik Heideg-

gers

Aber nicht nur Heidegger kann als ein Beispiel dafür genannt werden, daß die

phänomenologische Ontologie gerade am Anfang ihrer Entwicklung von Schlei-

ermacher beeinflußt wurde. Auch bei Adolf Reinach, der bekanntlich die führen-

de Figur des Göttinger Phänomenologenkreises war,759 kann man einen deutli-

chen Einfluß der Philosophie Schleiermachers finden. In seinen ‚Aufzeichnun-

gen‘ (1916/17) findet sich ein Satz, der als ein offenkundiges Bekenntnis zur Re-

ligionsphilosophie Schleiermachers verstanden werden kann: „Ich erlebe meine

absolute Abhängigkeit von Gott.“760 Daß sich Reinach hierbei auf die Glaubens-

lehre von Schleiermacher bezieht, kann man auch dadurch erkennen, daß Schlei-

ermachers Name an vielen Stellen erwähnt wird, an denen die verschiedenen Be-

griffe der Glaubenslehre (wie die Idee Gottes, das Abhängigkeitsgefühl, der

759 R. Leuven betont in ihrer Biographie von E. Stein, daß Reinach für die phänomenologische Bewegung in ihrer frühen Phase eine wichtige Rolle gespielt hat: „Husserl leistete bahnbrechende Arbeit. Die bindende Kraft jedoch zwischen ihm und seinen Studenten in Göttingen war Adolf Reinach, ein aufrichtiger Denker, leider allzu früh verstorben. Nach seiner Berufung nach Frei-burg sagte Husserl zu Edith Stein, daß sie in Freiburg das sein sollte, was Reinach in Göttingen war.“ (R. Leuven, Heil im Unheil, Freiburg / Basel / Wien 1983, S. 21. 760 A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘ in: ders., Sämtliche Werke (hrsg. von K. Schumann / B. Smith) Bd. I, München 1989, S. 611.

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Glaube an eine ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen und der Welt usw.)

behandelt werden.761

„Adolf Reinach zählte“, wie die Herausgeber seiner Sämtlichen Werke bemerken,

„zu den Phänomenologen der ersten Stunde.“762 Er war ursprünglich ein Schüler

des Münchener Philosophen und Psychologen Theodor Lipps. Nach 1902 orien-

tierte sich Reinach – wie viele andere Schüler von Lipps – unter dem Einfluß von

J. Daubert neu und näherte sich allmählich der Position von Husserls Logische

Untersuchungen an. In Göttingen wurde Reinach der erste Habilitand von Husserl

und lehrte dort ab 1909 als der einzige Phänomenologe neben Husserl. Reinach

wurde zum eigentlichen Lehrer des Göttinger Phänomenologenkreises: Seine

Lehrveranstaltungen zeichneten sich durch gedankliche Klarheit und didaktische

Meisterschaft aus.763 Er wurde 1883 geboren. 1917, also schon in seinem 34. Le-

bensjahr, war er im Krieg gefallen, und daher blieb sein Wirken als Privatdozent

auf ganze vier Jahre beschränkt.764

Seine Bemerkungen zur Religionsphilosophie Schleiermachers sind in den nach-

gelassenen ‚Aufzeichnungen‘ enthalten, in denen er seine philosophischen Über-

legungen über das religiöse Bewußtsein skizzenhaft erörtert. Seine ‚Aufzeich-

nungen‘ sind wahrscheinlich eine vorbereitende Arbeit für ein religionsphänome-

nologisches Werk, das er wegen seines frühen Todes nicht verwirklichen konn-

te.765 In einem Brief an F. Kaufmann (vom 12.01.1917) berichtet E. Stein, daß

sich A. Reinach der Religionsphilosophie widmet: „Er [Reinach] behauptet, im

Felde die Entdeckung gemacht zu haben, daß er weder philosophisch begabt noch

761 Vgl. Ebd.; S. 592 ff. 762 K. Schuhmann / B. Smith, ‚Vorwort der Herausgeber‘, in: ebd., S. XIV. 763 Vgl. Ebd. Zum philosophischen Verhältnis zwischen Husserls Phänomenologie und der soge-nannten realistischen Phänomenologie in München und Göttingen sind K. Schuhmanns Bücher Husserl über Pfänder (Den Haag 1973. Die Dialektik der Phänomenologie I) und Reine Phäno-menologie und phänomenologische Philosophie (Den Haag 1973. Die Dialektik der Phänomeno-logie II) besonders empfehlenswert. Die beiden Werke sind reich an Materialien, bieten eine de-taillierte Darstellung des Gedankens der wichtigen Philosophen, die zu der Münchener- und Göt-tinger Phänomenologengruppen gehören. 764 Vgl. Ebd. 765 Vgl. „Schon während Husserls Lehrzeit in Göttingen hatte der junge Adolf Reinach einen Kreis von Phänomenologen zusammengebracht, der im Zusammenhang mit den Münchener Phä-nomenologen im Umkreis von Theodor Lipps stand. Reinachs Denken nahm im Krieg eine religi-öse Wendung; Reinach ließ sich taufen und hinterließ nach seinem frühen Soldatentod ‚Religi-onsphilosophische Notizen‘.“ (O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 250.)

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jemals erst dafür interessiert gewesen ist. Das liegt daran, daß er jetzt ganz von

religiösen Fragen in Anspruch genommen ist, und seine Arbeit wird sicherlich

nach dem Kriege in erster Linie diesem Gebiet gelten.“766

1.2.1. Reinachs Einfluß auf E. Stein

Aber Reinachs Beschäftigung mit Schleiermacher blieb nicht ohne Wirkung.767 O.

Pöggeler berichtet, daß E. Stein, die bei Husserl 1916 summa cum laude in Frei-

burg promovierte und dessen Assistentin in Jahren 1917 bis 1919 wurde, von den

religionsphilosophischen „Notizen“ Reinachs „Abschrift machen [ließ]“; Stein

„versandte sie 1918 an befreundete Phänomenologen wie F. Kaufmann.“768 Unter

dem Einfluß ihrer Auseinandersetzung mit Reinachs gelangte sie dazu, das Prob-

lem des Glaubens auch als das Grundthema ihrer eigenen Philosophie zu betrach-

ten. „Die Husserl-Schülerin war“ nach Pöggeler „tief beeinflußt durch die Fas-

sung, mit der Frau Reinach den Tod ihres Mannes aufnahm; die Zuwendung zum

christlichen Glauben war dabei unverkennbar und brachte schließlich die Konver-

sion zur katholischen Kirche.“769

H. Ott berichtet, daß der Freiburger katholische Theologe E. Krebs einen langen

„Tagebucheintrag“ hinterließ, der „eine interessante, tiefgründige, fast propheti-

sche Gegenüberstellung Martin Heidegger – Edith Stein“ enthält.770 Als am 11.

April 1930 Stein den Freiburger Theologen besuchte, notierte sich Krebs, daß

Stein sehr gläubig geworden sei: „Dr. Edith Stein, Husserls bedeutendste Schüle-

rin und Mitarbeiterin am Phänomenologischen Jahrbuch […] dringt immer tiefer

in die Schatzkammer unseres Glaubens ein und arbeitet zur Zeit an einer deut- 766 E. Stein, Selbstbildnis in Briefen, a.a.O., 4. Brief. 767 Nach B. Imhof ist der eigentliche Betreuer für die philosophische Arbeit von E. Stein nicht Husserl gewesen, sondern A. Reinach: „Es war denn auch Reinach – nicht Husserl -, der ihre philosophische Arbeit im eigentlichen Sinne betreute, indem er sie zum Ausharren aufmunterte, auf ihre Probleme einging, zuhörte, ihre Entwürfe las und sich Zeit für ausführliche Unterredun-gen nahm.“ (B. Imhof, Edith Steins philosophische Entwicklung, Basel / Boston 1987, S. 56.) Vgl. K. Schumann, ‚Edith Stein und Adolf Reinach‘, in: R. Luzius / M. Rath / P. Schulz, Studien zur Philosophie von Edith Stein, a.a.O., S. 59 f. 768 Ebd. Vgl. dazu E. Steins Brief an F. Kaufmann (Freiburg, 20.05.1918): „Vom Reinachs religi-onsphilosophischen Notizen lasse ich eben noch einige Abschriften machen und werde Ihnen möglichst bald eine schicken.“ (E. Stein, Selbstbildnis in Briefen, a.a.O., 22. Brief.) 769 O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, a.a.O., S. 250. 770 H. Ott, Martin Heidegger, a.a.O., S. 110.

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schen Ausgabe der Quastiones de veritate des heiligen Thomas.“771 Krebs stellte

nun das Schicksal, das E. Stein nach ihrer Konversion zur Katholik widerfuhr,

dem philosophischen Lebenslauf Heideggers gegenüber, den Heidegger nach

seiner Aufgabe des katholischen Glaubens hinter sich hatte: „Welche entgegenge-

setzte Schicksale! E. Stein gewann früh hohes Ansehen im philosophischen Reich.

Aber sie wurde klein und demütig und – katholisch und tauchte unter in stiller

Arbeit im Dominikanerinnenkloster in Speyer. – Heidegger begann als katholi-

scher Philosoph, aber er wurde ungläubig und fiel von der Kirche ab und wurde

berühmt und der umworbene Mittelpunkt der heutigen zukünftigen Philoso-

phen.“772 Diese Gegenüberstellung der Schicksale von M. Heidegger und E. Stein

wird noch viel dramatischer, wenn man die Tragödie in Betracht zieht, die Stein

in ihrem unglücklichen Zeitalter als eine jüdische Frau erleben mußte: Sie wurde

bekanntlich 1942 im Konzentrationslager in Auschwitz getötet, während Heideg-

ger in Deutschland unter der NS-Regierung zum Rektor der Freiburger Universi-

tät ernannt wurde.

Man darf aber nicht annehmen, daß Heidegger und Stein philosophisch gerade-

wegs entgegengesetzte Richtungen eingeschlagen hätten. Einerseits ist klar, daß

die Philosophie für Heidegger keine Sache des religiösen Glaubens ist. Nach

Heidegger darf „das Denken, das in die Wahrheit des Seins als das zu Denkende

vorweist“, keineswegs mit einem theistischen Denken verwechselt werden:

„Theistisch kann es so wenig sein wie atheistisch.“773 Aber der Ursprung seines

Seinsdenkens liegt wohl andererseits, wie Heidegger selbst zugesteht, in der theo-

logischen Tradition,774 auch wenn Heidegger nach seiner Abkehr von dem katho-

lischen Glauben gegen 1916 seine Philosophie nicht mehr als eine theologische

verstehen will.

Stein formuliert in ihrem wichtigen Werk Kreuzeswissenschaft eine These, die

freilich theologischer Natur ist, die aber dennoch auch dem Seinsdenken im Sinn

Heideggers nicht fremd ist: Der Glaube sei „für die Seele völlig dunkle

771 Zitiert nach H. Ott. Ebd., S. 111. 772 Zitiert nach H. Ott. Ebd. 773 M. Heidegger, ‚Brief über den Humanismus‘, a.a.O., S. 352. 774 Vgl. M. Heidegger, ‚Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54)‘, a.a.O., S. 91 f.

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Nacht.“775 In dieser Nacht des Glaubens verliere das Denken, das im hellen Licht

des Ver-standes die gegenständlich-bestimmten Entitäten betrachtet, seine Gül-

tigkeit. In einer ausführlichen Abhandlung über die ontologische Struktur der

Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik spricht Stein von der absolu-

ten Geborgenheit des Menschen in Gott: „Der Absolutheit und Unwandelbarkeit

des göttlichen Seins entspricht die absolute Geborgenheit dessen, der feststeht im

Glauben.“776 Diese Stelle läßt m. E. vermuten, daß Schleiermachers Begriff des

frommen Abhängigkeitsgefühls durch Reinach an Stein vermittelt wurde. In sei-

nen religionsphilosophischen ‚Aufzeichnungen‘ bemerkt Reinach, daß „Abhän-

gigkeits-, Geborgenheits-, Dankbarkeits- etc. –erlebnis miteinander verknüpft

sind.“777 Das Abhängigkeitsgefühl ist also zugleich das Geborgenheitsgefühl, ein

Gefühl, in Gott geborgen zu sein. Stein erklärt selbst, wie Schleiermacher und

Reinach, daß der Glaubensakt nicht mit dem Wahrnehmungsakt zu verwechseln

ist, der das Erfassen von einem gegenständlichen Sein voraussetzt: „Es wird im

Akt des Glaubens der Gegenstand des Glaubens nicht als so und so seiend er-

kannt bzw. nicht erkannt, daß er so und so ist. Es ist nur aus dem Glauben eine

solche Erkenntnis zu entnehmen. Das ist auch sonst das Verhältnis von Kenntnis-

nahme und Erkenntnis, z. B. zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis der äußeren

Welt. Aber auch eine Kenntnisnahme wie die Wahrnehmung ist das Erfassen im

Glauben nicht. Der Gegenstand des Glaubens wird nicht gesehen. Daher rührt

vielleicht die Verwechslung der fides mit der blinden δόξα.“778

1.2.2. Reinachs Einfluß auf Heidegger

Auch Heidegger beschäftigte sich in seiner frühen Freiburger Zeit mit den ‚Auf-

zeichnungen‘ Reinachs, in denen die Überlegungen über die Religionsphilosophie

Schleiermachers hinterlassen sind. Heideggers Interpretation der ‚Aufzeichnun-

gen‘ Reinachs über das religiöse Bewußtsein kann noch als ein weiterer Beleg

775 E. Stein, Kreuzeswissenschaft (Werke Bd. 1), Freiburg 1950, S. 50. 776 E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 191. 777 A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 599. 778 E. Stein, Welt und Person, a.a.O., S. 189.

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dafür gelten, daß Heideggers Wende zu einer Hermeneutik des faktisch histori-

schen Lebens durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher angeregt wurde.

In seinen Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung

1918/19 finden sich Bemerkungen von Heidegger zu den genannten Aufzeich-

nungen Reinachs. Er beginnt mit der Erwähnung einer These Reinachs, die die

Verhaltensweise des religiösen Bewußtseins zu Gott betrifft: „‚Die Stellungnah-

me zu Gott ist richtungsgebend für unser erlebnismäßiges Verhalten zu

ihm.‘ Was bedeutet ‚Stellung zu Gott‘? Sinnvoll und konstituiert nur zu formulie-

ren als ein Bewußtseinsverhalten, nicht etwa ontisch, als Sein neben bzw. ‚un-

ter‘ einem (absoluten) Sein.“779

Was bedeutet es nun, daß unsere Stellung zu Gott nicht ontisch aufgefaßt werden

soll? Gemeint ist wohl, was Reinach unter dem Einfluß Schleiermachers mit dem

Begriff des Abhängigkeits- bzw. Geborgenheitsgefühls thematisiert: Unsere Be-

ziehung zu Gott ist nicht wie das intentionale Gerichtetsein unseres Bewußtseins

auf einen Gegenstand zu verstehen, da wir uns in unserem religiösen Bewußtsein

nicht als ein Sein neben bzw. unter einem absoluten Sein wiederfinden, sondern

als ein Sein in Gott, d. h. ein endliches Sein, das nur durch die Inhärenz in dem

unendlichen Sein (Geborgensein) existieren kann. Das absolute Sein läßt sich also

nicht durch die ontische Selbstauffassung des Daseins als eines Seins neben oder

unter einem anderen Sein verstehen, und unsere Stellungnahme zu Gott unter-

scheidet sich gerade hierin von dem auf das ontisch Seiende gerichteten Alltags-

bewußtsein.

Für Heidegger stellt Reinachs Begriffsanalyse des Absoluten eine Kritik an der

Metaphysik dar: „Kritik der ‚metaphysischen Grundbegriffe‘. Das Absolute –

bestimmbar nur in der jeweiligen Erlebnissphäre – erhält innerhalb der jeweiligen

Sphäre seine volle Konkretion nur in der Weise, daß es sich in einer Historizität

bekundet; und dementsprechend hat die Analyse – nur in dieser sich bewegend –

unausgesetzt das ‚Historische‘ als Bestimmungs- und immer anders gerichtetes

und sich auswirkendes Färbungselement sowie Ursinn und Struktur gebendes

779 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 324. Vgl. A. Reinach, A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 607.

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Element des lebendigen Bewußtseins überhaupt zu erweisen.“780 Heidegger er-

kennt also in Reinachs Analyse des Absoluten eine Möglichkeit, den Sinn des

Absoluten durch eine Strukturanalyse des lebendigen Bewußtseins zu erhellen.

Ebenso wie Heidegger den Ursprung des faktisch historischen Lebens in dem

Bewußtsein der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden

(Angst, Gewissen usw.) findet, ist auch bei Reinach das Absolute bzw. Gott als

ein fundamentales Strukturelement des historischen Lebens angesetzt, das dem

menschlichen Leben die Möglichkeit verleiht, über die Grenze des an dem Seien-

den orientierten natürlichen Weltbewußtseins hinauszugehen, ohne dabei das Sein

metaphysisch als einen jenseitigen Seinsgrund der Welt zu deuten: „Die in der

Sinnstruktur des Bewußtseins als ‚historisch‘ überhaupt vorfindliche lebendige

Sinneinheit lebendigen Seins bestimmt auch irgendwie – wenn auch dort wieder

ganz originär (strukturmäßig) anhebend – die spezifische Welthaftigkeit der be-

treffenden als religiösen Erlebnissphäre.“781

Allerdings ist Heideggers Verhältnis zu Reinach durch eine Ambivalenz geprägt.

Heidegger sieht bei Reinachs Erläuterung des Absoluten die Gefahr gegeben, daß

Reinach immer noch der metaphysischen Begriffslogik verhaftet sein könnte.

Heidegger hält das Absolute selbst für einen metaphysischen Begriff: „Begriffs-

material, aus der rationalistischen Metaphysik entnommen, losgelöst von deren

konstruktiver Methode, wie z. B. ‚Absolutes‘, ‚Höchstmaß‘, ‚Maß überhaupt‘, ist

einer genuinen Erlebnissphäre nicht nur unangemessen, insofern es nicht metho-

disch respektive unmethodisch apriotisch, von obenher an diese herangebracht

werden darf, insofern es weiterhin unversehens in eine konstruktive Dialektik

hineinführt, oder diese doch immer – auch bei Rückgang auf das Erlebnis solchen

(herangebrachten) Begriffsgehaltes – leitend sein läßt“.782 Der Grund, warum die

metaphysischen Begriffe wie Absolutes und Höchstmaß nach Heidegger für eine

Religionsphänomenologie unangemessen sind, besteht also darin, daß sie nicht

der wirklichen Lebensbewegung des Daseins entsprechen: „es [das metaphysi-

sche Begriffsmaterial] hat vor allem einen so neutralen, erlebnissphärenhaft nicht

780 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 325. 781 Ebd. 782 Ebd., S. 326 f.

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charakterisierten, abgeblaßten Gehalt, daß es bei ernsthafter Untersuchung sich

als überhaupt nicht ursprüngliches, d. h. keiner Erlebnissphäre originär entwach-

senes Sinnelementkonglomerat erweist.“783

1.2.3. Reinachs Unterscheidung von expliziten und erlebnisimmanenten Erkennt-

nissen und deren Bedeutung für die hermeneutische Wende Heideggers

Heidegger betont aber bei Reinach die Rolle der Strukturanalyse des Erlebnisses.

Heidegger betrachtet sie als eine wichtige Leistung von Reinach: „Wertvoll ist

Reinachs Unterscheidung von ‚explizite[n] und erlebnisimmanente[n] Erkennt-

nisse[n]‘.“784

Heideggers Reinach-Zitat bezieht sich auf §2 von dem mit drei Paragraphen ver-

sehenen ‚Bruchstück einer religionsphilosophischen Ausführung‘ Reinachs, der

mit Struktur des Erlebnisses betitelt ist. Hier hebt Reinach die Besonderheit des

religiösen Erlebnisses dadurch hervor, daß er den Bezugssinn des religiösen Er-

lebnisses (das Worauf des religiösen Erlebnisses in Heideggers Worten) von dem

des üblichen Erlebnisses unterscheidet.

Es gibt nach Reinach explizite Erkenntnisse, die man den verschiedenen Erleb-

nissen entnehmen kann. Allerdings kann das Erlebnis selbst nicht mit der Er-

kenntnis verwechselt werden, wie die Erlebnisse des Lustgefühls, Trauergefühls

oder des Kunstgenießens selbst nicht Erkenntnisse sind. Aber man kann den Er-

lebnissen, solange sie auf die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes

oder eines empirisch als seiend zu bestätigenden Objektes, einer Person oder ei-

nes Kunstwerks etc. bezogen sind, explizite Erkenntnisse entnehmen: „So ist das

Genießen eines Kunstwerkes keine Erkenntnis, bildet aber die Grundlage für und

entläßt aus sich heraus die Erkenntnis, daß ein Bild schön ist. Allerdings, hier

könnte man sich fragen: Hat die Erkenntnis ‚es ist schön‘ nicht ihre eigene An-

schauungsgrundlage? Anders ist wohl die Wahrnehmung im Verhältnis zu einer

Wirklichkeitserkenntnis zu beurteilen, insofern diese zu ihrer Bestätigung immer

wieder auf die Wahrnehmung zurückgreifen muß. Immerhin liegt auch in der 783 Ebd. 784 Ebd.

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Wahrnehmung noch ein Für-wirklich-Nehmen, wenn auch nicht eigentlich Er-

kenntnis.“785 Es geht also bei den expliziten Erkenntnissen darum, daß, wenn wir

eine Erkenntnis erwerben, zuvor ein Erlebnis vorausgegangen ist, das sich auf die

Wahrnehmung bestimmter Objekte oder auf ein Für-wirklich-Nehmen von etwas

bezieht.

Diesen Erkenntnissen, die Reinach explizite Erkenntnisse nennt, stellt er nun das

Wirklichkeitsverstehen des religiösen Bewußtseins gegenüber. Die Erkenntnis,

daß unser Sein in Gott geborgen bleibt, bezieht sich weder auf die Wahrnehmung

bestimmter Objekte noch auf ein Für-wirklich-Nehmen von etwas, was ontisch in

unserem Bewußtsein als das Seiende gesetzt ist. Diese Erkenntnis muß vielmehr

als eine solche Form der Erkenntnis anerkannt werden, die nicht von sinnlichen

Wahrnehmungs-Erlebnissen innerweltlicher Dinge abgeleitet wird, sondern im

religiösen Erlebnis der Geborgenheit selbst schon unmittelbar impliziert sein muß,

ohne daß dabei irgendein Objekt festgestellt wird, auf das diese Erkenntnis expli-

zit bezogen werden kann: „Ganz anders liegt in dem sich Geborgenfühlen in Gott

die Wirklichkeitsnehmung. Logisch gesprochen wäre sie Voraussetzung dafür.

Aber den logischen Schluß wird kein Mensch ziehen. Sie liegt vielmehr im Er-

lebnissinne selbst immanent enthalten.“786

Reinach unterscheidet nun zwei Arten der religiösen Erlebnisse. Erlebnisse wie

Dankbarkeit und Liebe oder das religiöse Bekenntnis zu der Existenz Gottes sind

nach Reinach letztlich stets von der unmittelbaren Erkenntnis abgeleitet, daß un-

ser Sein in Gott geborgen ist: „Zweierlei müssen wir hierbei trennen: Einerseits

die Erkenntnis des Geborgenseins und dann die Erkenntnis des Daseins Gottes, d.

h. eine unmittelbar und eine mittelbar immanente Erkenntnis. Den Erlebnissen

der Dankbarkeit und Liebe wohnt nur eine mittelbare Erkenntnis inne; sie sind im

gewissen Sinne als Stellungnahmen derivate Erlebnisse.“787

Reinach formuliert direkt nach der Erörterung der expliziten und erlebnisimma-

nenten Gotteserkenntnis einen entscheidenden Gedanken, den er durch seine Be-

schäftigung mit Schleiermacher erworben hat: „Ich erlebe meine absolute Abhän-

785 A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 610. 786 Ebd. 787 Ebd.

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gigkeit von Gott. Insofern ich selbst an dieser erlebten Beziehung beteiligt bin,

steht der Sachverhalt nicht vor mir, sondern ich selbst erlebe mich in dieser Be-

ziehung, die dann mir natürlich nicht gegenständlich sein kann. In dieser Weise

ist mir auch, wenn ich einen Gegenstand wahrnehme, das entsprechende Verhält-

nis zwischen Wahrnehmung und Gegenstand nicht gegenständlich. Dann kommt

allerdings sofort ein Unterschied: Bei der Wahrnehmung erwächst mir durch Re-

flexion auf sie die Erkenntnis ‚ich nehme wahr‘. Im Abhängigkeitserlebnis finde

ich mich abhängig, ohne daß eine Reflexion nötig wäre, die ja auch nur zur Er-

kenntnis führen könnte, daß ich mich abhängig fühle.“788

Heidegger erkennt in dieser Formulierung Reinachs den existenzontologischen

Grund für seine hermeneutische Idee des faktisch historischen Lebens, die Hei-

degger durch seine Beschäftigung mit Schleiermacher erworben hat. Heidegger

zitiert jene Stelle, in der Reinach das Abhängigkeitsgefühl streng von dem Ge-

genstandsbewußtsein unterscheidet, und macht keinen Hehl aus seiner emphati-

schen Zustimmung zu dieser Schleiermacher-Interpretation Reinachs: „Diese

kurzen Andeutungen sind sehr bedeutsam, wenn auch hier allererst die Analyse

anzusetzen hat.“789 Allerdings ist Heidegger der Ansicht, daß Reinach auch hier

immer noch im Bann der an der Evidenz (Gültigkeit der Erkenntnis) orientierten

Phänomenologie Husserls bleibe, während Heidegger das Problem der Geltung

als unbedeutsam für sein Seinsdenken betrachtet. Heidegger erkennt aber zu-

gleich an, daß Reinach zumindest einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Her-

meneutik des faktisch historischen Lebens entdeckt hat: „Reinach sieht auch

gleich das Problem der Gültigkeit. Es wird notwendig sein zu zeigen, daß es von

rein erkenntnismäßigen Skeptizismen her gar nicht zu stören ist, sofern eben nur

erst das spezifisch Originäre der betreffenden Erlebnisse und vor allem die Ur-

sinnstruktur des historischen Bewußtseins geklärt ist.“790 Der Grund dafür, wa-

rum sich Heidegger gegenüber der Reinachschen Interpretation des Abhängig-

keitsgefühls ambivalent verhält, besteht darin, daß Reinach, wie bereits oben er-

788 Ebd., S. 611. 789 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, a.a.O., S. 327. 790 Ebd. Hervorhebung von mir, S.-Y. H.

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wähnt, eine existenzontologische Entdeckung der Daseinsstruktur als eines In-

seins mit der Anerkennung des Seins Gottes verbindet.

Warum ist Heidegger nun der Auffassung, daß in Reinachs Auslegung des Ab-

hängigkeitsgefühls die Ursinnstruktur des historischen Bewußtseins geklärt sei?

Der Grund hierfür besteht darin, daß Reinach eine Dimension des nicht auf die

theoretische Reflexion zurückführbaren Bewußtseinslebens (wie das Gefühl des

In-seins bzw. der Geborgenheit) berücksichtigt, auch wenn ihn immer noch die

erkenntnistheoretische Problematik der Geltung der ‚mittelbaren Erkenntnis-

se‘ (wie die Anerkennung des Daseins Gottes, die aus dem Gefühl der Geborgen-

heit in Gott abgeleitet wird) beschäftigt. Für Heidegger ist wichtig, daß Reinach

in seiner Auslegung des Abhängigkeitsgefühls sich nicht primär auf den phäno-

menischen Gehalt des Bewußtseins bezieht, sondern eher auf die Existenzstruktur

des Bewußtseins selbst, das kontingent-notwendig in der Form des In-seins vor-

kommen muß. Ich muß mich notwendig als ein In-sein (sei es ein In-der-Welt-

sein, sei es In-dem-ganzen-Sein-sein) verstehen. Dieses Bewußtsein von sich als

einem In-sein bezieht sich nicht auf irgend etwas, was im Bewußtsein als das

Vorhandene gesetzt werden kann. Dieses Bewußtsein muß vielmehr als ein sol-

ches anerkannt werden, was in jedem Bewußtsein, das auf der Gegenstandswahr-

nehmung beruht, immanent enthalten sein muß.

1.2.4. Gott und Erlebnis bei Reinach und Schleiermacher

Reinachs These, die Stellung zu Gott sei richtungsgebend für unser Verhältnis zu

ihm, ist nun dahingehend auszulegen, daß unser Bewußtsein im religiösem Erleb-

nis eine besondere Struktur des intentionalen Bewußtseins hat: Wir richten uns

auf das Sein aus, das kein phänomenischer Gehalt des Bewußtseins sein kann. Es

steht vor uns kein Sachverhalt, von dem wir ein bestimmtes Bewußtsein haben

und auf den unser Bewußtsein gerichtet ist. Vielmehr erleben wir uns in dieser

Beziehung selbst als ein In-dem-ganzen-Sein-sein, und dieses Gefühl der Gebor-

genheit ist daher ein Ausdruck des Existenzverhältnisses unseres Seins; das Er-

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lebnis unseres Seins in dem ganzen Sein ist unmittelbar und notwendig in jeder

Erfahrung mit enthalten, in der unser Sein sich zu dem Seienden verhält.

Dieser Gedanke entspricht m. E. exakt dem Begriff des Abhängigkeitsgefühls bei

Schleiermacher. Das „ursprüngliche Abhängigkeitsgefühl erscheint“ nach Schlei-

ermacher „an und für sich nicht im wirklichen Bewußtsein, sondern immer nur

mit näheren Bestimmungen, also wie ein allgemeines nur durch das besonde-

re“.791 In diesem Gefühl der Abhängigkeit drückt sich weder ein phänomenischer

Gehalt des Bewußtseins noch ein konkreter Sachverhalt aus, da die Existenzstruk-

tur unseres Seins nicht auf eine bestimmte, zeitlich begrenzte, sinnliche Erfahrung

dieses oder jenes Sachverhalts zurückgeführt werden kann. Gerade wie die for-

male Struktur des Existentialverhältnisses unseres Seins in jeder verschiedenen

Seinssituation des Daseins gleich bleibt, muß das ursprüngliche Abhängigkeitsge-

fühl bei jedem Menschen in jeder Seinssituation identisch bleiben: als das ur-

sprüngliche Abhängigkeitsgefühl „wird hier nur das in allen einzelnen Erschei-

nungen der Frömmigkeit identische in Betracht gezogen, welches sich daher zu

allen Aufwallungen des frommen Lebens verhält, wie sich das Ichsezen eines

jeden verhält zu allen Aufwallungen seines persönlichen Daseins überhaupt.“792

Reinachs Analyse des religiösen Bewußtseins zeigt, daß Reinach nach der Mög-

lichkeit einer neuen, phänomenologisch begründeten Religionsphilosophie sucht.

Dabei bietet Schleiermachers Religionsphilosophie nicht nur die nötige Orientie-

rung: Daß Reinach die wichtigsten Ansatzpunkte seiner Religionsphänomenolo-

gie von Schleiermacher übernimmt, ist unverkennbar.

Reinach bleibt z. B. auch in der Frage, was das Absolute ist, durchaus dem

Seinsbegriff Schleiermachers treu: „Das Absolute aber, wie wir es fassen, ist die

grenzenlose Fülle, der schrankenlose Reichtum, das alles in sich Fassende, Un-

vermehrbare. Es ist schrankenlose Überlegenheit allem Irdischen, d. h. allem ins

Unendliche Steigbaren gegenüber.“793 Für Reinach liefert gerade dieser Seinsbeg-

riff einen philosophischen Grund dafür, daß man eine ontologische Differenz

zwischen dem Sein und dem Seienden, zwischen Gott und der Welt, annehmen

791 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 123. 792 Ebd., S. 123 f. 793 A. Reinach, ‚Aufzeichnungen‘, a.a.O., S. 608.

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muß. Wie Schleiermacher gerade deswegen die Welt (die geteilte Unendlichkeit)

für eine nicht adäquate Bezeichnung für das unendliche Sein hält, weil unser

Weltbewußtsein notwendig von dem Denken in Gegensätzen bestimmt wird,

unterscheidet sich das absolute Sein auch für Reinach dadurch von der Welt, daß

es dem in gegensätzlichen Bestimmungen denkenden Menschen unverständlich

bleibt: „Das Irdische ist die Welt des Mehr und Weniger, des Nichts und Einige

und viele, des Werdens und Veränderns und Vergehens. Das Überirdische ist die

Welt des schlechthinnigen All. Die Welt, in der das ‚mehr oder weniger‘ walten

[kann, S.-Y.H.], trägt den Stempel des Unzureichenden und Unvollendeten. Das

irdisch Unendliche läßt uns mit Evidenz die Unabgeschlossenheit, das nicht in

sich Ruhen, das immer Weiterführen erleben. Dagegen aber hebt sich das überir-

dische Unendliche oder besser das Absolute ab, welches die Krönung des endlich

Vermehrbaren ist, ohne doch von diesem erreicht oder auch nur genährt werden

zu können.“794

Zwar ist dieses Begriffspaar irdisch und überirdisch nicht ganz im Sinne Schlei-

ermachers, der, wie wir im zweiten Teil gesehen haben, die Vorstellung, Gott und

Welt würden zu getrennten Seinsbereichen gehören, ablehnt. Aber Reinach folgt

dennoch in wesentlichen Punkten konsequent dem Gedankengang Schleierma-

chers, indem er das Absolute nicht als einen solchen Begriff versteht, der erst

durch eine philosophische Abstraktion erfaßt werden könne. Das absolute Sein

eröffnet sich gerade durch unsere Welterfahrung. Der Zugang zu ihm kann gerade

nicht durch Abstraktion gewonnen werden. Es kann nur als das verstanden wer-

den, was jedem Erlebnis des weltlich Seienden unmittelbar immanent sein muß:

„Wir Menschen, die wir in Zeit und Raum und der irdischen Welt stehen, erfas-

sen das Überirdische. Das ist das kostbarste Geschenk, mit dem uns Gott begna-

det hat. Und nicht nur erfassen wir das Überirdische, sondern in den Akten, in

denen es uns zur Gegebenheit kommt, spiegelt sich in gewisser Weise die absolu-

te Fülle, die wir dem Überirdischen zugesprochen haben. Indem wir Gott erleben,

fühlen wir uns abhängig von ihm, fühlen wir Dankbarkeit ihm gegenüber, lieben

wir ihn, und alle diese Abhängigkeit, Dankbarkeit und Liebe sind nicht relativ

794 Ebd.

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und steigerbar wie die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, sondern ab-

soluter Natur. So erhält auch das irdische Erleben überirdischen Gehalt – und es

muß auch so sein.“795

Reinach faßt also den Sinn der Religion genau so auf wie Schleiermacher es in

seinem Versuch, die Eigentümlichkeit des religiösen Erlebnisses gegenüber der

sich als absolute Wissenschaft verstehenden zeitgenössischen Philosophie zu be-

wahren, tut: Die Religion ist ein Ausdruck des auf das Sein selbst ausgerichteten

Bewußtseins, dessen Ursprung in der wirklichen Lebensstruktur unseres Seins in

der Welt liegt. Mit anderen Worten ist das Sein selbst, das Schleiermacher Gott

nennt, der transzendente Grund des Bewußtseins. Die Ausrichtung unseres Be-

wußtseins auf das Sein selbst beruht auf der Urstruktur unserer Existenz selbst:

das Gottesbewußtsein, das Bewußtsein von dem unendlichen Sein, muß in jeder

Erfahrung des endlich Seienden unmittelbar immanent enthalten sein.

Reinach erkennt in der Anfangszeit der Husserlschen Phänomenologie, daß eine

phänomenologische Philosophie notwendig zu einer Ontologie weiterentwickelt

werden muß, deren Ausgangpunkt die ontologische Differenz zwischen der Welt

und dem Sein ist.

Unter dem Einfluß Schleiermachers orientiert sich Reinach an der Strukturanaly-

se des religiösen Erlebnisses. Für Reinach ist die Besonderheit der Schleierma-

cherschen Religionsphilosophie nicht primär darin zu finden, daß auch sie von

dem Grundansatz der Phänomenologie – nämlich dem phänomenischen Wesen

alles weltlich Seienden – ausgeht. Dieser Grundansatz gehört, wie gesehen, eher

zu einer langen Tradition der europäischen Philosophie, die mit dem Zweifel an

dem, was im natürlichen Weltbewußtsein als selbstverständliche Wahrheit ange-

nommen wird, begonnen hat. Indem Reinach in seiner Schleiermacher-Auslegung

auf die richtungsgebende Funktion unserer Stellungnahme zu Gott hinweist, faßt

er das Wesentliche in der Religionsphilosophie Schleiermachers richtig auf:

Schleiermacher nimmt den Grundansatz seiner besonderen Form der Phänomeno-

logie nicht als eine Sache der philosophischen Betrachtung, die im scharfen Ge-

gensatz zu dem wirklichen Bewußtseinsleben des Alltagsmenschen steht; Schlei-

795 Ebd.

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ermacher will vielmehr zeigen, daß jeder wirkliche Mensch die Möglichkeit hat,

sich das phänomenische Wesen der Welt bewußt zu machen. Die Religion ist eine

Sache der Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst, ein Strukturmoment

jedes wirklichen Bewußtseins, durch das sich der Mensch von dem Irrtum des

natürlichen Weltbewußtseins zurückholt; sie ist ein Ausdruck des ursprünglichen

Seinsbezugs des Lebens.

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2. Das Abhängigkeitsgefühl als unmittelbares Existentialverhältnis

Es wurde im letzten Kapitel darauf hingewiesen, daß Schleiermachers Religions-

philosophie für die Entwicklung der phänomenologischen Ontologie von großer

Bedeutung ist: Heidegger und Reinach, die zu den Phänomenologen der An-

fangszeit dieser Richtung gehören, haben unter dem direkten Einfluß der Religi-

onsphilosophie Schleiermachers nach der Möglichkeit einer Ontologie gesucht,

die von der faktischen Ausrichtung des Menschen auf das Sein selbst ausgeht.

Die ontologische Differenz zwischen der Welt und dem Sein ist für die Philoso-

phen der phänomenologischen Ontologie nicht bloß eine Sache der philosophi-

schen Betrachtung, sondern ein fundamentales Strukturmoment des wirklichen

Bewußtseinslebens.

Einige Leser werden nun vielleicht einwenden wollen, daß die ontologische Dif-

ferenz zwischen dem Sein und dem Seienden eine viel zu allgemeine Bestim-

mung ist. Zwar gäbe es in der Behauptung dieser Differenz eine Gemeinsamkeit

zwischen Schleiermachers Religionsphilosophie und der ontologischen Strömung

der modernen Phänomenologie; dies allein könne aber kein hinreichender Grund

dafür sein, Schleiermacher als einen wichtigen Wegbereiter der ontologischen

Phänomenologie anzuerkennen. M.E. ist diese Kritik grundsätzlich berechtigt.

Auch R. Williams, der Schleiermachers Religionsphilosophie als eine Phänome-

nologie versteht, weist darauf hin, daß sich Schleiermachers Begriff des Seins an

die platonische Tradition in der Theologie anschließt. Besonders im zweiten Ka-

pitel seines Werkes (The Platonic Background of Schleiermacher’s Thought) be-

hauptet Williams, daß Schleiermachers Philosophie insgesamt in der Denktraditi-

on der neuplatonischen Theologie seit Augustinus steht.796 Er hebt zwei wichtige

Punkte hervor, an denen man das Platonische Wesen der Philosophie Schleierma-

chers deutlich erkennen kann: 1. Schleiermachers Gedanke, daß Gott nicht mit 796 Vgl. „[…] Schleiermacher’s existential proof for God is closely related to Anselm’s proof and his theological program of faith in search of understanding. This ‚locates‘ Schleiermacher within the broad tradition of Augustian Christian Neoplatonism.“ (R. Williams, Schleiermacher The Theologian, a.a.O., S. 57.)

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dem Denken in Gegensätzen erkannt werden kann, findet sich auch bei einem

wichtigen Philosophen des 15. Jahrhunderts, der ebenfalls einen Platonischen

Hintergrund hat: Nikolaus von Kues versteht Gott als das höchste Sein, das nichts

anderes sei als die Coincidentia Oppositorum. 797 2. Die Platonische Betrachtung

des endlichen Seins als einer Synthese der Gegensätze (the „account of finite

being as a mixture of opposites“798) ist für Schleiermachers Denken von ent-

scheidender Bedeutung; für Schleiermacher ist das Sein des Menschen eine Syn-

these von Sein und Nichtsein („Schleiermacher thinks human existence is a mix-

ture of being and nonbeing“799). Dabei darf das Nichtsein allerdings nicht mit

einem formallogischen Gegensatz des Seins (Nichts) verwechselt werden; das

Nichtsein bedeutet sowohl für Platon als auch für Schleiermacher die „Verschie-

denheit“, wie G. Scholtz mit Recht anhand der Definition in Platons Sophistes

zeigt.800

Die ontologische Differenz zwischen dem Sein und der Welt ist also schon in der

Platonischen Tradition durchaus geläufig gewesen. Die eigentliche Leistung Hei-

deggers besteht also nicht in seiner vermeintlichen Entdeckung der ontologischen

Differenz; sondern vielmehr in seiner Strukturanalyse der ek-sistierenden Seins-

weise des Daseins, die er als seine Ausgangposition für die Erörterung der Frage

nach dem Sinn des Seins nimmt. Der Sinn des Seins muß für Heidegger neu be-

stimmt werden, und die Neubestimmung des Seinssinns kann erst dadurch ermög-

licht werden, daß man die Frage nach dem Sein selbst von der Seinsstruktur eines

besonderen Seienden aus betrachtet, das sich zu dem eigenen Sein verhält. Schon

die ontologische Frage nach dem Sein selbst setzt eine eksistierende Seinsweise

des Daseins voraus, da sie nicht ohne Entdeckung des Seienden, die durch das Da

des Daseins ermöglicht wird, möglich ist.

Es geht hier also vor allem um die Frage, ob Schleiermachers Begriff der Religi-

on, des frommen Abhängigkeitsgefühls, als ein Ausdruck der Existenzstruktur des

Daseins zu verstehen ist. Es ist wahr, daß Schleiermacher die Religion als Sache

797 Ebd., S: 59. 798 Ebd., S. 61. 799 Ebd., S. 62. 800 Vgl. G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, a.a.O., S. 260 f.

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der Ausrichtung des konkreten Menschen auf das Sein selbst betrachtet; darin,

daß die ontologische Differenz zwischen dem Sein und der Welt im wirklichen

Bewußtseinsleben fundiert ist, besteht der Ansatzpunkt der Religionsphilosophie

Schleiermachers. Ist es nun ein vorschnelles Urteil, wenn man behaupten will, die

Religionsphilosophie Schleiermachers habe Heideggers hermeneutische Analyse

der Existenzstruktur des Daseins vorweggenommen?

Man kann m. E. davon ausgehen, daß das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers

die Existenzstruktur des Daseins zum Ausdruck bringt. Im zweiten Teil dieser

Arbeit haben wir gesehen, daß Schleiermacher im §3 der zweiten Auflage der

Glaubenslehre das relative Abhängigkeitsgefühl als Gefühl unseres Seins in der

Welt definiert. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß in

Heideggers Ausarbeitungen und Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung

1918/19 Bemerkungen zur zweiten Rede und zum §3 der zweiten Auflage der

Glaubenslehre enthalten sind. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß gerade im

§3 der Glaubenslehre, die Heidegger in der Zeit seiner hermeneutischen Neuori-

entierung gelesen und kommentiert hat, der Ausdruck Gefühl unseres Seins in der

Welt enthalten ist. Ist dies nicht ein Ausdruck der Existenzstruktur, die Heidegger

in Sein und Zeit mit der Definition des Daseins als eines In-der-Welt-seins formu-

liert?

Schleiermacher selbst sieht somit das Besondere seiner Glaubenslehre darin, das

Phänomen der Religion durch die Analyse der Existenzstruktur unseres Seins zu

erklären.

2.1. Das unmittelbare Selbstbewußtsein als der Ermöglichungsgrund für die Ent-

deckung der existenzialen Seinsstruktur des Daseins

1829 schreibt Schleiermacher zwei Briefe an seinen Freund und Schüler Lücke.

Sie beziehen sich im doppelten Sinn auf die Glaubenslehre. Sie sind einerseits als

„Vorbereitung der beabsichtigten zweiten Auflage […] gedacht“801 und anderer-

801 E. Huber, Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, a.a.O., S. 252.

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seits als ein Versuch, die Mißverständnisse aufzuklären, denen die erste Ausgabe

seiner Glaubenslehre begegnet ist.

Im ersten Brief erklärt Schleiermacher, daß sein Begriff des frommen Gefühls

„ein unmittelbares Existentialverhältniß“802 zum Ausdruck bringt. Somit steht

also fest, daß Schleiermacher mit dem Begriff des Abhängigkeitsgefühls die un-

mittelbare Existenzstruktur unseres Seins zum Ausdruck bringen möchte, die,

gerade wie die Heideggersche Formulierung der Existenzstruktur des Daseins, in

der Definition unseres Seins als eines Seins in der Welt, eines In-der-Welt-seins,

gesucht werden soll. Allerdings darf man dabei nicht übersehen, daß der genaue

Ausdruck des unmittelbaren Existentialverhältnisses für Schleiermacher sich am

Besten als ‚In-dem-ganzen-Sein-sein‘ formulieren läßt, das dann in der unfrom-

men Erklärung dieses Begriffs als das In-der-Welt-sein, in der frommen Erklä-

rung dieses Begriffs als das In-Gott-sein betrachtet wird.

Allerdings stellt sicht nun die Frage, ob dasjenige Sein, das sich als ein In-der-

Welt-sein bzw. In-Gott-sein versteht, nicht als ein Ich bzw. ein Subjekt ausgelegt

werden muß? Es ist selbstverständlich richtig, daß ein Selbstverständnis des Da-

seins als eines In-der-Welt-seins ohne ein ‚Ich-Bewußtsein‘ nicht möglich ist.

Muß man hieraus nun ableiten, daß es ein reines Ich gibt, das dem Bewußtseins-

zusammenhang eine Identität verleiht, ohne die ein Selbstbewußtsein nicht mög-

lich ist?

Auf diese Frage kann man existenzontologisch eine Antwort geben, der m. E.

auch Schleiermacher zustimmen würde: Das Ich, das dem Selbstbewußtsein Iden-

tität verleiht, hat eine deiktische Funktion, die auf das selbstseiende Dasein ver-

weist. Aus dieser deiktischen Funktion des Wortes Ich kann man aber nicht einen

ontologischen Schluß ziehen und behaupten, es gebe ein reines Ich, das stets i-

dentisch bleibe. Durch eine konsequente Durchführung der phänomenologischen

Reduktion kann man zwar die Nichtigkeit der Welt erweisen. Aber das Sein, auf

das unser Weltbewußtsein verweist, kann man nicht einklammern. Dieses Sein ist

ein transzendentes Sein, das nie aus der Immanenz abgeleitet werden kann. Das

802 F. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, in: ders., Theolo-gisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften (KGA 1. Abt. 10), Berlin / New York 1990, S. 318.

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Ich erweist sich somit als ein Sein, das nur in Relation mit dem anderen Sein exis-

tieren kann. Das, worauf das Ichbewußtsein verweist, ist also kein reines Ich;

sondern ein Da-sein, das gerade als das selbstseiende Wesen notwendig in einer

Beziehung mit dem anderen Sein steht. Gerade hierin liegt die ursprüngliche Exis-

tenzstruktur des faktischen Lebens.

Eine neue Orientierung an Schleiermachers Religionsphilosophie hat das Poten-

tial, die Phänomenologie Husserls einerseits um eine ontologische Dimension zu

erweitern, ohne daß man andererseits die idealistische Wende des späten Husserls

zum reinen Ich akzeptieren muß.

Schleiermacher weist explizit darauf hin, daß das Selbst-Bewußtsein nur in Rela-

tion mit dem anderen Sein möglich ist und daher kann in keinem Moment des

Lebens ein reines Selbstbewußtsein hervortreten: „Es giebt kein als zeiterfüllend

hervortretendes reines Selbstbewußtsein, worin einer sich nur seines reinen Ich an

sich bewußt würde, sondern immer in Beziehung auf etwas, mag das nun eines

sein oder vieles, und bestimmt zusammengefaßt oder unbestimmt; denn wir ha-

ben nicht in besonderen Momenten ein Selbstbewußtsein von uns als den sich

immer gleichbleibenden, und in besonderen wieder ein anderes von uns als den

von einem Augenblick zum andern veränderlichen; sondern beides sind nur Be-

standtheile jedes bestimmten Selbstbewußtseins, indem jedes ist ein unmittelbares

Bewußtsein des Menschen von sich als verändertem.“803

Nach Schleiermacher besteht also das Selbstbewußtsein aus zwei Bestandteilen:

Unser Selbstbewußtsein ist einerseits ein Bewußtsein von uns als den sich immer

Gleichbleibenden; andererseits ein Bewußtsein von uns als den sich stets Verän-

dernden. Der zweite Bestandteil drückt nun das Bewußtsein von einem persönli-

chen Selbst aus, das sich im steten Werdeprozeß befindet und somit immer auf

die vorhergehenden Lebens- bzw. Welterfahrungen zurückzuführen ist: „Des

letzteren Bestandtheiles aber sind wir uns nicht als eines von uns selbst hervorge-

brachten und vorgebildeten bewußt; sondern mit dem bestimmten Selbstbewußt-

sein ist unmittelbar verbunden die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein et-

was als mitwirkende Ursache, d. h. das Bewußtsein, es sei etwas von uns unter-

803 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O., S. 31.

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schiedenes, ohne welches unser Selbstbewußtsein jetzt nicht so sein würde“.804

Schleiermacher weist nun aber zugleich darauf hin, daß das Selbstbewußtsein

nicht schlechthin mit dem Bewußtsein des persönlichen Selbst verwechselt wer-

den darf. Gerade wie die Philosophen der Existenzontologie mit dem Begriff des

Daseins die selbstseiende, aber nicht auf das reine Ich zurückführbare Existenz-

weise des faktischen Lebens thematisieren, will Schleiermacher auch geltend

machen, daß sich das Selbstbewußtsein, das einerseits ein Bewußtsein von dem

persönlichen Selbst sein kann, zugleich auf das Für-sich-sein des Einzelnen be-

zieht: „jedoch wird […] das Selbstbewußtsein nicht Bewußtsein eines Gegens-

tandes, sondern es bleibt Selbstbewußtsein, und man kann nur sagen, daß in dem

Selbstbewußtsein der erste Bestandtheil ausdrükke das für sich sein des Einzelnen,

der andere aber das Zusammensein desselben mit anderen.“805

Warum kann nun das Für-sich-sein des Einzelnen nicht als ein Beweis gelten,

daß es das reine Ich gibt? Hierfür ist der Grund schon in jenem Satz zu suchen,

daß ein Selbstbewußtsein notwendig auf etwas bezogen sein muß, mag das nun

eines sein oder vieles, etwas Bestimmtes, Zusammengefaßtes oder etwas Unbe-

stimmtes. Ähnlich wie die Philosophen der Existenzontologie die intentionale

Grundstruktur des Bewußtseins (das Bewußtsein sei notwendig ein Bewußtsein

von etwas) als einen ontologischen Beweis dafür betrachten, daß unser Bewußt-

sein notwendig auf das transzendente Sein bezogen sein muß, geht auch Schlei-

ermacher davon aus, daß unser Selbstbewußtsein notwendig auf etwas bezogen

sein muß, was nicht aus der Immanenz abgeleitet werden kann. Das Für-sich-sein

des Einzelnen darf daher nicht mit dem Sein als einem reinen Ich verwechselt

werden. Man kann nur wissen, daß unser Selbstbewußtsein auf etwas verweist,

was sich in einer konkreten Seinssituation als etwas für-sich-Seiendes zeigt.

Die These, daß es kein als zeiterfüllend hervortretendes reines Selbstbewußtsein

gibt, ist auch nach Schleiermacher relevant für seine Analyse des Abhängigkeits-

gefühls: „Die Zustimmung zu diesem Saz kann unbedingt gefordert werden, und

804 Ebd. 805 Ebd.

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keiner wird sie versagen, der überhaupt fähig ist in diese Untersuchungen hinein

zu gehen.“806

2.2. Die Intentionalität des Bewußtseins und das Frömmigkeitsgefühl

Es ist nun ein interessantes Phänomen, daß die Religionsphilosophie Schleierma-

chers demselben Mißverständnis unterworfen wurde, das Heideggers Philosophie

etwa hundert Jahre später ebenfalls begegnen wird. Es geht hierbei um einen

Einwand gegen die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden.

Gerade wie heute viele Heidegger-Kritiker versuchen zu zeigen, daß die Frage

nach dem Sein selbst, das von dem Seienden grundverschieden sein soll, sinnlos

ist, so versuchte man dies auch schon in der Zeit Schleiermachers gegen Schlei-

ermacher geltend zu machen.

2.2.1. Bretschneiders Kritik an Schleiermachers Begriff des frommen Abhängig-

keitsgefühls

Schleiermachers Erklärung, daß das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck des un-

mittelbaren Existentialverhältnisses sei, ist vor allem gegen den Einwand von

Bretschneider gerichtet. Bretschneider wendet sich gegen Schleiermachers Beg-

riff des religiösen Gefühls und will geltend machen, daß sich „das Gefühl nur auf

das Gedachte beziehen [kann].“807 R. Otto übt, wie im ersten Teil der Arbeit ge-

zeigt wurde, in seinem Hauptwerk Das Heilige eine ähnliche Kritik. Er wirft dem

Begriff des Abhängigkeitsgefühls von Schleiermacher eine gewisse Analogisie-

rung mit dem natürlichen Abhängigkeitsgefühl von gewöhnlichen Objekten vor;

das Moment des religiösen Erlebnisses sei bei Schleiermacher kein irrationales

Moment, sondern gehöre durchaus auf die rationale Seite der Gottesidee.808 Die

Kritik von Bretschneider ist aber noch weitreichender. Denn während R. Otto

sich damit zufrieden gibt, das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl zu

806 Ebd. 807 Ebd., S. 316. 808 R. Otto, Das Heilige, a.a.O., S. 23.

405

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ersetzen, will Bretschneider zeigen, daß das Gefühl selbst von dem durch den

Urteilsakt aufgefaßten Sinn bzw. der vorhergehenden Vorstellung eines Gegens-

tandes abhängig ist. Allerdings kann Schleiermacher diese These nicht akzeptie-

ren; denn das religiöse Gefühl wäre dann entweder ein Wissen von Gott oder ein

abgeleitetes Phänomen von diesem Wissen. Schleiermachers Hinweis, das Gefühl

sei als ein unmittelbares Existentialverhältnis zu verstehen, ist in diesem Sinn ein

Versuch, die Besonderheit seines Gefühlsbegriffs vom üblichen Verständnis die-

ses Wortes abzugrenzen.

Bretschneiders These, das Gefühl könne sich nur auf das Gedachte beziehen,

besteht darin, daß das Gefühl ein Urteil über etwas ist, auf das mein Bewußtsein

gerichtet ist. Das Gefühl unseres Seins als eines von Gott Abhängigen muß dann

durch einen vorhergehenden Urteilsakt von der Idee Gottes irgendwie bestimmt

sein, wenn das Abhängigkeitsgefühl meines Seins von Gott überhaupt möglich

sein soll; das Abhängigkeitsgefühl ist also eine „Bestimmung unseres Seyns“, 809

und sie ist auf die vorhergehende Auffassung von dem, was Gott ist, zurückführ-

bar. Schleiermacher selbst gibt an, „daß Hr. Dr. Bretschneider meint, auf demje-

nigen Gebiet, wohin die Frömmigkeit gehört, hänge eben diese Bestimmtheit des

Seyns selbst, und also auch das Wissen um dieselbe erst ab von der Auffassung

der Ideen, weil das Gefühl sich nur auf das Gedachte beziehen könne.“810 Schlei-

ermacher versteht nun diese Meinung von Bretschneider als eine Behauptung,

daß das Abhängigkeitsgefühl die vorhergehende Auffassung der Idee Gottes vor-

aussetzen muß: „Ich kann dieses nur so verstehen, man müsse erst die Idee Gottes

gefaßt haben, ehe man zu dem Wissen von jener Bestimmtheit des Seyns gelan-

gen könne.“811 Schleiermacher betont dann ausdrücklich, daß sein Begriff des

Abhängigkeitsgefühls nicht auf diese Weise verstanden werden kann: „Freilich

muß ich dieß gänzlich verneinen; ich brauchte aber zunächst nur zu sagen, ich

rechnete ein früheres Auffassen der Idee Gottes nicht mit zur Frömmigkeit, weil

809 F. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, a.a.O., S. 316. 810 Ebd. 811 Ebd.

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es weder ein Wissen um die Art der Bestimmtheit meines Seyns ist, noch sich aus

diesem erst entwickelt“812

Die Position von Bretschneider, solange er die notwendige Form des Gefühls als

Gefühl von dem Gedachten darlegt, besteht darin, daß das Gefühl immer auf et-

was Vorhandenes gerichtet sein muß. Allerdings kann das Gedachte auch etwas

Abstraktes sein, was im Unterschied zu realen Gegenständen nicht in einer wirk-

lichen Lebenswelt vorhanden ist. Dieses Abstrakte muß aber zumindest in mei-

nem Bewußtsein als ein konkreter Gehalt des Bewußtseins vorhanden sein, so

daß die Ausrichtung meines Bewußtseins auf diesen abstrakten Inhalt möglich

wird. Da aber das religiöse Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers nichts voraus-

setzt, was sich als vorhanden zeigt, ist dieser Begriff für Bretschneider letztlich

sinnlos.

Die Kritik von Bretschneider ist von weitreichender Bedeutung. Wir haben gese-

hen, daß die Religion für Schleiermacher die Selbstausrichtung des Menschen auf

das Sein selbst bedeutet. Damit meine ich nichts anderes als die These, daß

Schleiermachers Begriff der Religion, das fromme Abhängigkeitsgefühl, eine Art

der Gesinnung bedeutet; jeder hat wegen der fundamentalen Existenzstruktur

unseres Seins die Möglichkeit, eine vita religiosa – ein religiös gesinntes Leben

– zu führen. Damit tritt nun aber ein Problem auf: Wie ist eine solche Ausrich-

tung des Bewußtseins möglich, wenn wir kein Urteil von dem Sein bzw. Gott

hätten?

2.2.2. Die Religion als Gesinnung

Schleiermacher will selbst geltend machen, daß das religiöse Gefühl der Abhän-

gigkeit eine Sache der Gesinnung ist. Schleiermacher erwähnt, um den Unter-

schied zwischen seinem Begriff des Gefühls und dem Bretschneiders aufzuzeigen,

H. G. Tzschirners Briefe, in denen ebenfalls eine grundsätzliche Kritik an seinem

Religionsbegriff enthalten ist. Tzschirner behauptet, daß die Frömmigkeit des

religiösen Menschen nicht ein Gefühl sein kann, sondern vielmehr eine Gesin-

812 Ebd.

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nung sein müsse: „Wenn er [Tzschirner] sagt, das Ursprünglichste in der Fröm-

migkeit sey eben so wenig Gefühl, als Wissen oder Thun, sondern die Gesinnung:

so scheint er jene drei einander zu coordinieren, die letzte aber als ein Innerliches

und Höheres bezeichnen wollen.“ 813 Schleiermacher akzeptiert nun, daß die

Frömmigkeit eine Gesinnung darstellt. Er weist aber zugleich darauf hin, daß sich

sein Gefühlsbegriff von dem unterscheidet, was Tzschirner darunter versteht.

Schleiermacher behauptet, daß sein Gefühlsbegriff eher das bedeutet, was

Tzschirner mit dem Gesinnungsbegriff meint: „Ich aber stelle, was ich Gefühl

nenne, nicht ganz so wie er, sondern eher so, wie er die Gesinnung stellt, und

bediene mich nur des letzteren Ausdrucks nicht, weil er dem Sprachgebrauch

nach eine Färbung überwiegend nach dem Praktischen hin an sich trägt.“ 814

Schleiermacher stellt hier zwei Thesen zusammen: Die Religion ist Gesinnung;

und die religiöse Gesinnung darf nicht ausschließlich von dem Gesichtspunkt des

praktischen Lebens aus betrachtet werden.

Das Problem, das Schleiermachers Begriff des frommen Gefühls mit sich bringt,

wird nun dadurch viel komplizierter: Denn wie kann eine Gesinnung möglich

sein, wenn unsere Lebensbewegung nicht auf eine Idee, einen Zweck, ein Lebens-

ideal usw. gerichtet ist? Wie kann ein religiöses Gefühl, das zugleich zu einer

Gesinnung werden soll, anders sein als das Gefühl von einer Idee, einem Lebens-

ideal? Schleiermacher versucht, zwei Behauptungen, die zueinander im Gegen-

satz zu stehen scheinen, in Einklang zu bringen. Einerseits ist die Religion als

eine eigentümliche Art des Fühlens zu verstehen, die bestimmte Denkweisen und

Handlungsweisen, die dem religiösen Frömmigkeitsgefühl entsprechen, hervor-

bringen: „Wenn ich mir aber denke die Neigung eines frommen Menschen, alle

seine Affectionen mit dem Gottesbewußtsein zu verbinden und darin gleichsam

aufzulösen: so constituiert diese eigenthümliche Gefühlsweise, aus der sich über-

einstimmende Denkweisen und Handlungsweisen entwickeln, offenbar seine Ge-

sinnung.“815 Die Denkweisen und Handlungsweisen, die im praktischen Leben

notwendig mit einer vorhergehenden Auffassung von etwas verbunden sind, set-

813 Ebd., S. 317 f. 814 Ebd., S. 317. 815 Ebd.

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zen aber in der religiösen Gesinnung keine Vorstellung voraus, auf die sich das

Bewußtsein von dem Denkenden und Handelnden bezieht. Denn das religiöse

Gefühl soll, wie Schleiermacher gegen Bretschneider geltend machen will, nicht

als ein Gefühl von einem Gegenstand des Denkens verstanden werden: „Wenn

ich aber dann wieder sehe, wie auch dieser treffliche Mann [Tzschirner] zu glau-

ben scheint, das Gefühl gehe immer erst von der Vorstellung aus, und wie er

deutlich ausspricht, der letzte Grund des Glaubens bleibe immer die Einsicht in

den nothwendigen Zusammenhang der ergriffenen Ideen: so muß ich mich wieder

darauf zurückziehen, daß, was ich unter dem frommen Gefühl verstehe, gar nicht

von der Vorstellung ausgeht, sondern die ursprüngliche Aussage ist über ein un-

mittelbares Existentialverhältniß, und ich finde mich wieder in derselben Opposi-

tion, wie gegen Hrn. Dr. Bretschneider.“816

Was bedeutet nun, daß das Abhängigkeitsgefühl ein Ausdruck des unmittelbaren

Existentialverhältnisses ist? Wie kann man hieraus eine Bestimmung eines Ge-

fühls ableiten, das im Unterschied zu dem normalen Sinn dieses Wortes nicht als

ein Gefühl von etwas Gedachtem zu verstehen ist? Leider gibt Schleiermacher in

seinen ‚Sendschreiben an Lücke‘ keine detaillierte Erklärung für dieses Problem.

Im Grunde genommen haben wir aber schon im zweiten Teil der Arbeit gesehen,

warum das Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers nicht als das Gefühl von etwas

zu verstehen ist: Wir haben zwar das Gefühl unseres Seins in der Welt bzw. in

dem ganzen Sein, aber weder die ganze Welt noch das ganze Sein kann in mei-

nem Bewußtsein als ein konkreter Bewußtseinsinhalt vorhanden sein.

Es wurde bereits gezeigt, daß Reinach aufgrund seiner Auseinandersetzung mit

Schleiermachers Begriffen (wie Abhängigkeitsgefühl, Glaube an die ursprüngli-

che Vollkommenheit der Welt usw.) zu seiner Unterscheidung zwischen einer

expliziten Erkenntnis und einer erlebnisimmanenten Erkenntnis gelangt. Wie eine

solche Unterscheidung möglich ist, kann m. E. mit dem Beispiel des Glaubens an

die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt am deutlichsten erklärt werden. Der

Ausgangpunkt von diesem Begriff besteht darin, daß wir eigentlich nur Vorstel-

lungen von der konkreten Sachrelation in unserem Bewußtsein haben können,

816 Ebd.

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aber niemals die Vorstellung von der ganzen Welt selbst. An einem Tag befinden

wir uns beispielsweise in einem Stadtzentrum, in dem wir unzählige Gebäude und

Menschen betrachten können. An einem anderen Tag befinden wir uns auf dem

Gipfel eines hohen Berges, von dem aus sehr weiter Blick über das Tal möglich

ist. Während der Nacht betrachten wir unzählige Sterne und bewundern die Größe

des ganzen Universums. Aber in keinem Moment unseres Lebens können wir die

ganze Welt als einen konkreten Bewußtseinsinhalt haben; es gibt eigentlich nur

verschiedene Momente, in denen wir jedesmal nur einen partiellen Blick auf die

Welt haben können. Daraus ergibt sich nun: Wir haben keine Vorstellung der

Welt, sondern nur Vorstellungen von dieser oder jener Sachrelation, die keines-

wegs die ganze Welt vertreten können. Das, was wir Welt nennen, hängt also von

dem Glauben ab: Wir haben zwar keine Vorstellung der ganzen Welt, sondern

nur Vorstellungen von den konkreten Sachrelationen, die nur partiell die Welt

vertreten können; wir leben aber notwendig mit dem Glauben daran, daß wir uns

in einer Welt befinden, die vollkommen ist und somit nicht auf ein weiteres Sein

außer sich verweist.

Dieser Glaube kann nicht zu einer Erkenntnis werden, die auf die Wahrnehmung

bzw. Auffassung von etwas zurückzuführen ist. Zwar vollziehen wir, soweit un-

ser Bewußtsein wach bleibt, stets Urteilsakte. Wir denken, daß ein Kugelschrei-

ber blau ist; daß eine Frau hübsch ist; daß ein Mensch aufgeregt ist; daß das Wet-

ter heute sehr warm ist usw. Alle diese Urteile beziehen sich auf die konkreten

Wahrnehmungen; sie erzeugen explizite Erkenntnisse, in denen das Verhältnis

zwischen dem Denkenden und dem Gedachten veranschaulicht werden kann.

Aber unser Glaube daran, daß jedes Seiende nur als ein Teil des ganzen Seins

existieren kann, läßt sich nicht auf die Wahrnehmung von etwas zurückführen. Er

muß daher erlebnisimmanent sein; die Erkenntnis, die explizit auf die Wahrneh-

mung von etwas Seiendes bezogen ist, hängt von der erlebnisimmanenten Er-

kenntnis der vollkommenen Welt ab.

Somit ist nun die Ermöglichungsbedingung dafür aufgeklärt, daß das Frömmig-

keitsgefühl zu einer Gesinnung werden kann. Schleiermacher spricht, wie wir

eben gesehen haben, von der Neigung eines frommen Menschen, alle seine Affek-

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tionen mit dem Gottesbewußtsein zu verbinden und darin gleichsam aufzulösen.

Diese Neigung des frommen Menschen bedeutet für Schleiermacher eine Ge-

fühlsweise des frommen Menschen, aus der sich übereinstimmende Denkweisen

und Handlungsweisen entwickeln. Scheinbar steht diese Behauptung im Wider-

spruch mit Schleiermachers eigener Definition des Abhängigkeitsgefühls: Wie

können sich Denkweisen und Handlungsweisen aus einer Gefühlsweise entwi-

ckeln, welche nicht auf einen expliziten Urteilsakt über etwas Bestimmtes zu-

rückzuführen ist? Wenn wir aber, wie wir an Hand des Reinachschen Begriff der

erlebnisimmanenten Erkenntnis gesehen haben, über eine Erkenntnis verfügen

können, die nicht auf die Wahrnehmung des Seienden zurückzuführen ist, müssen

wir auch die Möglichkeit haben können, unser Bewußtsein auf das Sein selbst,

das nicht das Seiende ist, auszurichten. Wir ziehen uns von dem Wirkungsver-

hältnis zwischen den Seienden, die sich gegeneinander äußerlich verhalten, zu-

rück und finden uns als einen Teil des ganzen Seins wieder. Wir denken und han-

deln nicht mehr so, als ob wir mit dem anderen Seienden nur in einem äußeren

Seinsverhältnis stünden. Wir fangen an, ein frommes Leben zu führen, d. h. ein

Leben eines Menschens, der sich als ein in einem unendlichen Seinsganzen Sei-

endes fühlt.

411

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V. Resümee

Im Zentrum dieser Arbeit stand die Frage, in welcher Form die Philosophie Hei-

deggers durch seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher in seiner frühen

Freiburger Zeit beeinflußt worden ist. In der Einleitung wurde darauf hingewie-

sen, daß zwei wichtige Heidegger-Forscher (O. Pöggeler und H. Ott) der Ausei-

nandersetzung Heideggers mit der Religionsphilosophie von Schleiermacher eine

sehr wichtige Bedeutung für die philosophische Entwicklung Heideggers zuwei-

sen: Beide behaupten, daß Heidegger durch seine Beschäftigung mit Schleierma-

cher einen entscheidenden Ansatz für die hermeneutische Wende seines Denkens

erhalten habe.

Beide Autoren bieten dennoch keine detaillierten Analysen an, mit deren Hilfe

man feststellen könnte, welche Impulse Heidegger genau von der Religionsphilo-

sophie Schleiermachers erhalten hat und welche Bedeutung diese Impulse für die

philosophische Entwicklung Heideggers haben. Beide scheinen eine zweistufige

Entwicklung der Heideggerschen Hermeneutik anzunehmen: Zuerst habe Schlei-

ermachers Religionsphilosophie es Heidegger ermöglicht, sich von der Husserl-

schen, an der Vorhandenheit orientierten Phänomenologie kritisch zu distanzieren

und hierdurch zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens überzugehen; danach

habe Heidegger durch seine Beschäftigung mit dem Urchristenum gelernt, das

faktische Leben des Daseins als historisch bestimmt zu verstehen.

Es kann m. E. kein Zweifel daran bestehen, daß Heidegger durch seine Beschäf-

tigung mit Schleiermacher eine Wende von der von einem erkenntnistheoreti-

schen Interesse geleiteten Phänomenologie Husserls zu einer Hermeneutik des

faktischen Lebens vollzogen hat. Wie wir gleich in der Einleitung und im ersten

Teil der Arbeit gesehen haben, versteht Heidegger das Wesen der Religion im

Sinne Schleiermachers als die religiöse Betrachtung, in der sich das Dasein von

allen Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kritisch distanziert. Heideg-

ger bezeichnet diese religiöse Betrachtung im Sinne Schleiermachers als eine

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phänomenologische Epoché. Dies ist nun insofern für Heideggers Denken von

besonderer Bedeutung, als daß Heidegger die religiöse Betrachtung als eine Di-

mension des faktischen Bewußtseinslebens betrachtet, in der sich das Dasein auf

etwas ausrichtet, was sich nicht durch die Unterscheidung zwischen dem Selbst

und dem anderen Seienden im natürlichen Weltbewußtsein definieren läßt. An-

ders als bei Husserl, der sich bekanntlich in Ideen I angesichts der phänomenolo-

gischen Möglichkeit der kritischen Einklammerung aller Seinsetzungen im natür-

lichen Weltbewußtsein zu einem transzendentalen Idealismus bekennt, findet man

bei Schleiermacher die Formulierung einer Frage nach dem (absoluten) Sein, die

nicht von dem Standpunkt des vorhandenen Seienden im natürlichen Weltbe-

wußtsein beantwortet werden kann. Vereinfacht gesagt, beinhaltet die religiöse

Betrachtung für Heidegger die Möglichkeit für das Dasein, sich von dem Seins-

verständnis aus dem Standpunkt des Seienden im praktischen bzw. theoretischen

Leben kritisch zu distanzieren und sich auf das Sein selbst, das sich nicht auf das

Seiende reduzieren läßt, auszurichten. Die phänomenologische Möglichkeit der

kritischen Einklammerung aller Seinsetzungen im natürlichen Weltbewußtsein

führt also nicht unbedingt zu einem transzendentalen Idealismus des reinen Ich.

Sie eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer Ontologie, in der die Frage nach dem

Sein im Zentrum steht, das nicht auf die Vorhandenheit zurückgeführt werden

kann.

Die These allerdings, daß Heidegger erst durch seine Auseinandersetzung mit

dem Urchristentum begonnen habe, das faktische Leben zugleich als das histori-

sche Leben zu verstehen, ist jedoch m. E. problematisch. Im ersten Teil dieser

Arbeit wurde gezeigt, daß die Geschichtlichkeit des Lebens für Heidegger bereits

vor seiner Beschäftigung mit Schleiermacher ein wichtiges Thema darstellt: Am

Schluß seiner Habilitationsschrift kündigt Heidegger an, daß sich seine Philoso-

phie zukünftig an die metaphysische, bei Hegel kulminierende Theologie an-

schließen werde, in der der lebendige, historische Geist von zentraler Bedeutung

ist. Schon vor diesem Hintergrund kann man Zweifel an der Behauptung haben,

daß Heidegger erst nach seiner Beschäftigung mit dem Urchristentum den Begriff

des Historischen als einen zentralen Begriff seiner Philosophie akzeptiert habe.

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Ausgehend von diesem Zweifel wurde in dieser Arbeit die folgende These aufge-

stellt: Heidegger hat gerade durch seine Beschäftigung mit der Religionsphiloso-

phie Schleiermachers ein neues Verständnis des Historischen gewonnen.

Um verstehen zu können, in welchem Sinn die Religion und die Geschichtlich-

keit des Lebens sich verbinden, muß zuerst geklärt werden, wie Heidegger den

Begriff des historischen Lebens versteht. Das historische Leben setzt für Heideg-

ger, wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, das Spannungsverhältnis

zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein voraus.

Mann kann somit m. E. deutlich erkennen, daß die Hermeneutik des faktischen

historischen Lebens die Existenzontologie von Sein und Zeit in wesentlichen

Punkten vorweggenommen hat. Die Hermeneutik des faktischen Lebens steht m.

E., wie ich im dritten Teil in Anlehnung an C. F. Gethmann ausgeführt habe, mit

Heideggers Existenzontologie in Sein und Zeit durchaus in einer kontinuierlichen

Beziehung. Allerdings steht diese Behauptung im Widerspruch mit der Position,

die einige Heidegger-Forscher wie H.-G. Gadamer und T. Kisiel vertreten: Nach

ihnen sei Sein und Zeit ein Werk, dem im eigentlichen Denkweg Heideggers kei-

ne entscheidende Bedeutung zukomme. Gemeint ist hierbei, daß die transzenden-

tal-philosophische Bewußtseinsanalyse in Sein und Zeit, die Heidegger durch die

Gegenüberstellung des Alltagsbewußtseins und des Seinsbewußtseins (Angst)

veranschaulicht, für das eigentliche Anliegen Heideggers letztlich entbehrlich sei.

Daher stellen Gadamer und Kisiel die überraschende Behauptung auf, die soge-

nannte Kehre bedeute in Wirklichkeit einen Rückgang zu dem ursprünglichen

Ansatzpunkt Heideggers, den dieser bereits in seiner frühen Freiburger Zeit ent-

wickelt habe. Damit wird zweierlei behauptet: erstens sei die Kehre ein Stand-

punktwechsel, mit dem Heidegger über die Grenze der immer noch zu sehr trans-

zendentalphilosophisch gebliebenen Existenzanalyse in Sein und Zeit hinausge-

hen wolle; zweitens stehe die Hermeneutik des faktischen Lebens mit der Exis-

tenzontologie in Sein und Zeit in einem diskontinuierlichen Verhältnis. Wir haben

im ersten und dritten Teil der Arbeit gesehen, daß beide Behauptungen unhaltbar

sind. Heidegger selbst macht in seinem ‚Brief über den Humanismus‘ hinreichend

deutlich, daß die Kehre keineswegs einen Standpunktwechsel bedeutet. Man darf

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aus der Kehre nicht ableiten, es gebe einen Heidegger I und einen Heidegger II,

wie Pöggeler in seiner Kritik an Gadamer prägnant formuliert.

Auch das Verhältnis zwischen der Hermeneutik des faktischen Lebens und der

Existenzontologie in Sein und Zeit sollte man daher als eine durchaus kontinuier-

liche Fortführung betrachten, wie Gethmann explizit behauptet. Gadamer und

Kisiel heben m. E. bei ihrer Auslegung der Geschichtlichkeit des faktischen Le-

bens zu sehr die kinetische Dimension hervor. Wir haben im ersten Teil der vor-

liegenden Arbeit gesehen, daß Heidegger bereits in seiner frühen Freiburger Zeit

die verfallende Tendenz der Lebensbewegtheit des Daseins analysiert und sie als

Ruinanz bezeichnet hat. Die Ruinanz ist nach dem Ausdruck Heideggers eine

Zeittilgung, die also gegen-historisch ist. In der Frage nach dem Sinn der Ge-

schichtlichkeit des faktischen Lebens kann es also Heidegger nicht bloß darum

gehen, das faktische Dasein in seiner Lebensbewegtheit zu zeigen. Vielmehr muß

es hier darum gehen zu zeigen, aufgrund welcher ontologischen Bedingung es

möglich wird, daß sich das Dasein von der faktisch ruinanten Lebensbewegtheit

im Alltagsleben zu der ursprünglichen Geschichtlichkeit des Lebens zurückholt.

Was Heidegger in Sein und Zeit mit seiner Angstanalyse darlegt, ist auch für den

Begriff der Geschichtlichkeit, der bei Heideggers Umgestaltung der Phänomeno-

logie zu einer Hermeneutik des faktischen Lebens eine zentrale Rolle gespielt hat,

von entscheidender Bedeutung. Das Historische meint nicht einfach die kineti-

sche Lebensbewegtheit des Daseins. Es setzt notwendig das Spannungsverhältnis

zwischen dem Alltagsbewußtsein und dem Seinsbewußtsein voraus: Erst dadurch,

daß das Dasein sich von der ruinanten Lebensbewegtheit im Alltagsleben zum

ursprünglichen Seinsbewußtsein zurückholt, kann das Leben historisch werden.

Wie wir im ersten Teil der Arbeit gesehen haben, hat Heidegger den ursprüngli-

chen Ansatzpunkt seiner Analyse der Angst durch seine Auseinandersetzung mit

dem Religionsbegriff Schleiermachers gewonnen. Damit ist m. E. bereits gezeigt,

daß Heidegger die zentrale Idee seiner Hermeneutik – nämlich die Orientierung

an der Geschichtlichkeit des faktischen Lebens – von Schleiermacher übernom-

men hat: Die existenzontologische Bewertung des Religionsbegriffs Schleierma-

chers ist für die Heideggerschen Konzeption des faktisch historischen Lebens von

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entscheidender Bedeutung. Dabei deutet Heidegger die kritische Distanz des reli-

giösen Bewußtseins von allen Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein

(die religiöse Zurückgezogenheit), die er bei Schleiermacher vorfindet, als einen

Ursprung des Spannungsverhältnisses zwischen dem praktischen, an der Vorhan-

denheit orientierten Alltagsbewußtsein und dem Bewußtsein der Nichtigkeit des

alltäglichen Selbsts. Das Historische bedeutet in diesem Sinn nicht einfach eine

Lebensbewegtheit des Daseins, sondern vielmehr die Möglichkeit des Daseins,

sich von der ruinanten Lebensbewegtheit in der Alltagssituation kritisch zu dis-

tanzieren und sich auf das Sein selbst auszurichten.

Im vierten Teil der Arbeit haben wir gesehen, daß der wichtige Husserl-Schüler

A. Reinach sich mit der Religionsphilosophie Schleiermachers auseinanderge-

setzt hat. Heidegger wiederum hat gleich zu Beginn seiner Freiburger Zeit die

Auseinandersetzung von Reinach mit Schleiermacher kennengelernt. Wie im

vierten Teil der Arbeit gezeigt wurde, bemerkt Heidegger zu Reinachs Interpreta-

tion des Abhängigkeitsgefühls, daß sich im Abhängigkeitsgefühl die Ursinnstruk-

tur des Historischen zeige. Dies kann m. E. als ein wichtiger Beleg für die Haupt-

these dieser Arbeit gelten: Gerade seine Beschäftigung mit Schleiermacher hat

Heidegger dazu veranlaßt, den Sinn der Geschichtlichkeit des Lebens neu zu

bestimmen. Die phänomenologische Epoché, als die Heidegger die religiöse Be-

trachtung im Sinn Schleiermachers versteht, ist für das faktisch historische Leben

des Daseins von entscheidender Bedeutung: Ohne die kritische Einklammerung

aller Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kann das Dasein nicht über

die Grenze des an dem vorhandenen Seienden orientierten Alltagsbewußtseins

hinausgehen.

Die Beziehung zwischen Reinach und Stein ist m. E. ein wichtiger Hinweis dar-

auf, daß Schleiermachers Religionsphilosophie für die ontologische Wendung der

Phänomenologie nicht von geringer Bedeutung gewesen ist. Beide waren wichti-

ge Phänomenologen, die Husserls Phänomenologie gerade in ihrer anfänglichen

Zeit auf die ontologische Dimension hin weiter entwickeln wollten. Hierbei wur-

de Steins Hinwendung zur Religionsphänomenologie von Reinach veranlaßt, be-

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sonders von Reinachs Beschäftigung mit der Religionsphilosophie Schleierma-

chers.

Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß nicht nur Heidegger, sondern auch andere

Husserl-Schüler unter dem Einfluß Schleiermachers die Phänomenologie in Hin-

blick auf eine ontologische Dimension weiterentwickeln wollten. Liegt dies nicht

eben gerade daran, daß Schleiermachers Religionsphilosophie ihrem Wesen nach

als eine phänomenologische Ontologie bezeichnet werden kann?

Oder muß man vielmehr davon ausgehen, daß Schleiermachers Philosophie im

strengen Sinn des Wortes nicht phänomenologisch ist, auch wenn Heidegger und

Reinach bei ihm einige wichtige Ansatzpunkte für ihre ontologische Weiterent-

wicklung der Phänomenologie Husserls gefunden haben? Zwar bezeichnet Hei-

degger Schleiermachers Begriff der Religion als eine phänomenologische Epoché.

Man kann darüber hinaus auch anhand Reinachs’ Unterscheidung von expliziten

und erlebnisimmanenten Erkenntnissen ableiten, daß auch Reinach das fromme

Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers als eine phänomenologische Epoché ver-

steht: Das fromme Abhängigkeitsgefühl läßt sich nicht auf das an der Vorhan-

denheit orientierte Bewußtsein (explizite Erkenntnis) zurückführen, sondern es

zeigt sich vielmehr als ein Bewußtsein des ganzen Seins, das das Bewußtsein bei

jedem aktuellen Erlebnis notwendig begleiten muß (erlebnisimmanente Erkennt-

nis). In diesem religiösen Bewußtsein zeigt sich das Sein als das einheitliche Sein,

das nicht als eine Beziehung zwischen voneinander gesonderten Seienden ver-

standen werden kann.

Es wäre aber voreilig, wenn man alleine aus diesen Indizien ableiten wollte, das

Schleiermachers Religionsphilosophie letztlich eine Art der ‚Phänomenologie‘ sei.

Daß Gott nicht mit der Gesamtheit alles Seienden identifiziert werden darf, ist

nämlich in der theologischen Tradition überhaupt keine neue Idee. Wichtig ist

vielmehr die Frage, ob Schleiermachers Philosophie tatsächlich über ein metho-

dologisches Verfahren verfügt, mit dem man das phänomenale Wesen alles welt-

lich Seienden zutage bringen kann: Kann man in Schleiermachers Philosophie ein

methodologisches Verfahren finden, das mit der phänomenologischen Reduktion

Husserls vergleichbar ist?

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Diese Frage wurde im dritten Teil beantwortet. Wie wir gesehen haben, versteht

Schleiermacher die Wahrnehmung als einen Urteilsakt und aus diesem Grund

kommt Schleiermacher zu dem Ergebnis, daß die Welt, da sie nur vermittelt

durch diesen Urteilsakt ins Bewußtsein treten kann, nicht als die Welt an sich

anzuerkennen ist, sondern eher als phänomenale Welt aufgefaßt werden muß,

deren Erkenntnis ohne einen vorhergehenden Urteilsakt des Bewußtseins nicht

möglich ist. Schleiermachers These der letztlichen Identität der Welt und des Be-

griffs ist m. E. ein klares Indiz dafür, daß Schleiermacher die Husserlsche Idee

der phänomenologischen Reduktion vorweggenommen hat. Auch für Husserl

besteht der Ausgangspunkt bei seiner Einführung der phänomenologischen Re-

duktion in die Philosophie darin, daß alles, was durch die Seinssetzungen im na-

türlichen Weltbewußtsein als ein So-Seiendes erscheint, keineswegs als ein an

sich Seiendes anzuerkennen ist; es setzt notwendig einen Urteilsakt der Wahr-

nehmung voraus.

Aber anders als Husserl, der aus dieser Grundeinsicht der Phänomenologie zu

einem transzendentalen Idealismus übergeht, entwickelt Schleiermacher eine

phänomenologische Ontologie, in der es um das nicht auf die Vorhandenheit zu-

rückführbare Sein selbst geht. Diese Frage nach dem Sein selbst bedeutet aller-

dings eine Frage nach dem ursprünglichen Sein; alles weltlich Seiende im natür-

lichen Weltbewußtsein setzt den Akt des urteilenden Bewußtseins voraus. Das

bedeutet nun, daß die Welt nur als ein Bewußtseinskorrelat möglich ist. In der

phänomenologischen Ontologie geht es daher um das Sein selbst, das, anders als

das weltlich Seiende, nicht bloß als ein Bewußtseinskorrelat verstanden werden

darf.

Hierbei geht Schleiermacher von einem wichtigen Ansatzpunkt aus, der auch für

Heideggers Philosophie von grundlegender Bedeutung ist: Der Ursprung des Ge-

genstandbewußtseins liegt im praktischen Alltagsleben. Diese praxeologische

Fundierung der Gegenständlichkeit bedeutet aber für Schleiermacher nicht, daß

das Gebrauchswissen als ein ursprünglicher Modus des Wissens anerkannt wer-

den soll. Anders als Heidegger, der seine ontologische Frage nach dem Sein

selbst strikt von der wissenschaftlichen Weltbetrachtung unterscheidet, verbindet

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Schleiermacher dadurch die ontologische Frage nach dem Sein selbst mit der wis-

senschaftlichen Weltbetrachtung, daß er nicht nur das am praktischen Handlungs-

zweck orientierte Denken, sondern auch das reine Denken als ein konstitutives

Strukturelement jedes wirklichen Bewußtseins anerkennt.

Dieser Unterschied ist m. E. für eine fundamentalontologische Fundierung der

Seinsfrage von zentraler Bedeutung: Dadurch, daß Schleiermacher das reine

Denken und die praktische Orientierung an der Gegenständlichkeit als zwei

gleichursprüngliche Strukturelemente des Bewußtseins darstellt, gibt er zugleich

eine sehr überzeugende Antwort auf zwei wichtige ontologische Fragen: 1. Aus

welcher konkreten Situation des Daseins ergibt sich die philosophische Notwen-

digkeit, eine Frage nach dem nicht auf die Vorhandenheit zurückführbaren Sein

selbst zu stellen? 2. Ist die ontologische Frage nach dem Sein selbst eine philoso-

phisch sinnvolle Frage?

Im reinen Denken streben wir nicht ein Gebrauchswissen an, das die Gegen-

ständlichkeit des empirisch als vorhanden konstatierbaren Seins voraussetzt.

Vielmehr fragen wir hier nach dem Ansich eines Seienden, d. h. nach dem Wis-

sen davon, wie ein Seiendes an sich ist. Diese Frage nach dem Ansich bedeutet

für Schleiermacher nicht, daß die Vorhandenheit als eine unvermeidbare Seins-

weise alles Seienden anzuerkennen wäre. Gerade in dieser Frage nach dem An-

sich zeigt sich alles Seiende als ein etwas, was sich mit dem anderen Sein in ei-

nem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang befindet, für den Begriffe

wie Vorhandenheit, Gegenständlichkeit etc. unangemessen sind. Denn ein Seien-

des, das sich für das praktische Bewußtsein als ein Gegenstand zeigt, ist für das

reine Bewußtsein, das – um des Denkens selbst willen – nach dem Ansich dieses

Seienden fragt, ein eigenständiges Sein, das auf mein Sein einwirkt. Diese Eigen-

ständigkeit eines Seienden unterscheidet sich von seiner bloßen Vorhandenheit.

Denn sie ist ein Moment des Offenbarwerdens meiner ontologischen Seinssituati-

on, die darin besteht, daß ich mich stets in einem absolut kontinuierlichen Wir-

kungszusammenhang mit dem anderen Sein befinde. Die radikale Trennung zwi-

schen meinem Sein und dem Sein des bloß gegenständlichen Seienden, die in

meinem praktischen Leben ihren Ursprung hat, verliert hier an Geltung.

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Hieraus folgt nun noch eine wichtige These dieser Arbeit: Schleiermacher hat die

phänomenologische Analyse der Leiblichkeit (im Sinn Merleau-Pontys) vorweg-

genommen. Schleiermacher betrachtet die Möglichkeit des Daseins, fremde Ein-

wirkungen sinnlich wahrzunehmen, als einen notwendigen Grund dafür, daß wir

uns als abhängig von anderem Sein fühlen. Gerade hierin liegt der Grund dafür,

daß wir trotz unseres Weltbewußtseins eine Frage nach dem Sein selbst stellen

müssen. Im dritten Teil dieser Arbeit haben wir gesehen, daß das Sein für Hei-

degger nach der Kehre als das Einfache zu bezeichnen ist. Unklar bleibt nun aber

bei ihm, warum dies so ist. Seine These, das Sein sei das Einfache, wird m. E.

lediglich als ein begrifflicher Gegensatz zu der Beschreibung des Seienden entwi-

ckelt, welches notwendig auf die Differenzstruktur der verschiedenen Vorhan-

denheiten bezogen ist. Heidegger gibt nirgendwo einen überzeugenden Grund

dafür an, warum das faktische Dasein über die Grenze seines natürlichen Welt-

bewußtseins hinausgehen und eine Frage nach dem einfachen Sein stellen kann.

Im dritten Teil der Arbeit haben wir gesehen, daß Schleiermacher in seinem

‚Sendschreiben an Lücke‘ seinen Begriff des Abhängigkeitsgefühls ganz explizit

als einen Ausdruck des Existenzialverhältnisses unseres Seins bezeichnet. Diese

Aussage steht durchaus in Einklang mit einer These der Glaubenslehre. Im zwei-

ten Teil wurde darauf hingewiesen, daß im § 4 der zweiten Auflage der Glau-

benslehre, zu dem Heidegger in seiner frühen Freiburger Zeit Bemerkungen ver-

faßt hat, Schleiermachers Konzept des unmittelbaren Selbstbewußtseins bzw. des

Abhängigkeitsgefühls als Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zu-

sammenseins mit der Welt definiert ist. Dieser Tatbestand ist m. E. ein Indiz dafür,

daß Heidegger sehr wahrscheinlich gerade durch seine Auseinandersetzung mit

Schleiermacher einen entscheidenden Ansatzpunkt seiner Philosophie erhalten

hat: Die Hermeneutik des faktischen Lebens, die vor allem Heideggers Philoso-

phie in seiner frühen Freiburger Zeit geprägt hat, ist zugleich als eine Existenzon-

tologie zu bezeichnen, deren zentraler Ansatzpunkt, nämlich das Dasein sei ein

In-der-Welt-sein, von der Religionsphilosophie Schleiermachers stammt.

Im ersten Teil der Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß Heidegger trotz seiner

emphatischen Anerkennung des phänomenologischen Wesens von Schleierma-

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chers Religionsbegriffs zugleich Schleiermacher eine naturtheoretische Betrach-

tung des Religionsphänomens vorwirft: Der Versuch von Schleiermacher, unser

lebendiges Bewußtsein als ein stetiges Sichfolgen und Sichdurchdringen von Situ-

ationen zu deuten, ist für Heidegger zu sehr naturtheoretisch formuliert, da hier

die Abhängigkeit des Daseins von den äußeren Umständen zu sehr hervorgeho-

ben werde. Auch R. Otto erkennt in Schleiermachers Begriff des Abhängigkeits-

gefühls eine objektivierende Tendenz bei der Betrachtung der Religion und er-

setzt daher das Abhängigkeitsgefühl durch das Kreaturgefühl. Genau wie Otto

betrachtet Heidegger das Abhängigkeitsgefühl als einen Begriff, in dem das Ver-

hältnis zwischen dem Dasein und dem Sein in Analogie mit der Relation zwi-

schen den Naturobjekten dargelegt werde. Dies steht nun für Heidegger im Wi-

derspruch mit der eigentlichen Intention Schleiermachers: Heidegger bezeichnet

die religiöse Betrachtung im Sinn Schleiermachers als eine Epoché, in der alle

Seinssetzungen im natürlichen Weltbewußtsein kritisch eingeklammert sind; das

Abhängigkeitsgefühl sei dagegen ein Begriff, der durch die Analogisierung des

religiösen Bewußtseins mit dem natürlichen, an der Relation der Vorhandenhei-

ten orientierten Bewußtseins zustande komme.

In Wirklichkeit ist aber dieser vermeintliche Irrtum in der Religionsphilosophie

von Schleiermacher nur eine Folge davon, daß das Dasein bei Schleiermacher in

seinem konkreten Wirkungszusammenhang mit dem anderen Sein betrachtet wird.

In jeder Lebenssituation steht das Dasein in einem konkreten Wirkungszusam-

menhang mit dem anderen Sein. Dies bedeutet nun zugleich, daß der Sinn der

existenzontologischen Faktizität des Daseins als eines In-der-Welt-seins nicht

durch eine formal-ontologische Strukturanalyse des Daseins vollständig erhellt

werden kann. Wie wir im dritten Teil gesehen haben, weist auch Merleau-Ponty

in seinem Hauptwerk Phänomenologie der Wahrnehmung darauf hin, daß das

Dasein nur als eine leibliche Existenz möglich ist. Diese leibliche Dimension der

Existenz ist für Schleiermacher von unentbehrlicher Bedeutung bei seiner Religi-

onsbegründung: Denn gerade darin, daß wir die fremden Einwirkungen auf uns

leiblich rezipieren, besteht die konkrete Möglichkeit des Daseins, das ganze Sein

als eine Einheit aufzufassen.

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Die Religion im Sinne Schleiermachers hat so gesehen eine kritische Funktion.

In unserem natürlichen Weltbewußtsein läßt sich das ganze Sein als eine Relation

voneinander isolierter Entitäten verstehen. Dies bedeutet für Schleiermacher (wie

auch für Heidegger) eine unkritische Verabsolutierung des gegenständlichen

Sinns des Seins, der eigentlich in unserem praktischen Handlungsinteresse des

Alltags seinen Ursprung hat. Aber Schleiermacher weist zugleich darauf hin, daß

das faktische Dasein das Sein nicht nur gegenständlich versteht. Wir stehen mit

dem Seienden in einem konkreten Wirkungszusammenhang, wir verstehen uns

daher nicht nur als ein von dem anderen Sein gesondertes Seiendes, sondern zu-

gleich als ein Sein, das sich in einem absolut kontinuierlichen Wirkungszusam-

menhang mit dem anderen Sein befindet.

Heideggers These, das Sein sei das Einfache, setzt allerdings voraus, daß das

Sein selbst nicht als bloße Summe oder Einheit der verschiedenen, unterschiedli-

chen Entitäten aufgefaßt werden darf. Das bedeutet nun zugleich, daß wir unser

Sein nicht nur als eine Existenz (Ausstehen bzw. Sein-bei) verstehen können, die

eine Trennung zwischen meinem Dasein und dem anderen Sein voraussetzt. Dar-

über hinaus müssen wir uns zugleich als ein solches Sein verstehen, das sich in

der absoluten Einheit des ganzen Seins befindet. Dies ist der Grund dafür, warum

Heidegger nach der Kehre – besonders in dem ‚Brief über den Humanismus‘ –

hervorhebt, daß das In-sein bzw. die Inständigkeit des Daseins nicht einfach als

das In-der-Welt-sein des Daseins zu bezeichnen ist.

Es ist nun aber auffällig, daß bei Heidegger an keiner Stelle eine konkrete Erklä-

rung dafür gegeben wird, warum wir das Sein selbst als das Einfache verstehen

sollen. In unserem natürlichen Weltbewußtsein zeigt sich das Sein als der Zu-

sammenhang alles Seienden, als eine Relation der Differenzen. Wie ist es mög-

lich, daß das Dasein trotz dieser Form des natürlichen Weltbewußtseins letztlich

das Sein selbst als das Einfache versteht? Welche konkrete Bedeutung hat Hei-

deggers Aussage, das Sein sei das Einfache? Man kann bei Heidegger, soweit ich

sehe, keine klaren Antworten auf diese Fragen finden. Woran liegt das?

Es wurde bereits erwähnt, daß Heidegger unter dem Einfluß Ottos die Konzepti-

on des ‚Anhängigkeitsgefühls‘ kritisiert: Der Ausdruck Abhängigkeit könne nur

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auf ein Verhältnis zwischen dem Dasein und einem natürlichen Objekt angewen-

det werden, da er in der Beziehung zwischen dem Dasein und dem vorhandenen

Seienden seinen Ursprung habe.

Diese Schleiermacher-Kritik Heideggers beruht aber m. E. darauf, daß Heidegger

die Bedeutung der Leiblichkeit des Daseins für die Fundamentalontologie igno-

riert hat. Gerade die Fähigkeit des Daseins, fremde Einwirkungen wahrzunehmen,

ist für Schleiermacher ein konkreter Grund dafür, warum das Dasein ein Bewußt-

sein des Seins haben kann, das nicht auf die Vorhandenheit zurückzuführen ist:

Gerade die konkrete Erfahrung der Leiblichkeit macht es möglich, daß sich das

Dasein als ein Sein verstehen kann, das in einem absolut kontinuierlichen Wir-

kungszusammenhang mit allen Seienden steht. Und diese absolute Kontinuität

alles Seienden ist für Schleiermacher ein greifbarer Grund dafür, warum das gan-

ze Sein nicht primär als ‚die Welt‘ bezeichnet werden kann, sondern eher als Gott:

Das ganze Sein ist eine absolut innerliche Einheit, die in dem Sinn absolut inner-

lich ist, daß sie keinen räumlichen Gegensatz von innen und außen voraussetzt.

Man kann also in Schleiermachers Begriff des Abhängigkeitsgefühls eine plau-

sible Antwort auf eine Frage finden, die bei Heidegger letztlich unbeantwortet

bleibt: In welchem Sinn ist die Inständigkeit des Daseins (Dasein als ein In-sein)

nicht mit dem In-der-Welt-sein gleichzusetzen? In unserem relativen Abhängig-

keitsgefühl erfahren wir uns nach Schleiermacher als ein Sein in der Welt. Im

absoluten, frommen Abhängigkeitsgefühl erfahren wir uns aber nicht mehr als ein

In-der-Welt-sein, da hier das ganze Sein als eine absolut innerliche Einheit ver-

standen werden soll. Gerade in diesem Sinn ist das Sein des Daseins nicht nur die

Existenz, sondern, wie Heidegger nach der Kehre hervorhebt, das In-sein, für das

die Begriffe der Existenz wie Ausstehen, Sein-bei nicht adäquat sind: Im from-

men Abhängigkeitsgefühl verstehen wir uns als Teil einer absoluten Einheit des

ganzen Seins, deren Bewußtsein, wie schon gezeigt, die Leiblichkeit unseres Da-

seins voraussetzt. Das Dasein versteht sich hier nicht mehr als ein Sein, das mit

dem anderen Sein in einer äußerlichen Beziehung steht; es erkennt an, daß es zu

einem einheitlichen Seinsganzen gehört und daß es nur als ein In-sein in diesem

absolut kontinuierlichen Seinsganzen existieren kann.

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Gilt nun auch für diesen Begriff des absolut einheitlichen Seins, daß er das Re-

sultat einer abzulehnenden metaphysischen Übertragung innerweltlicher Katego-

rien auf das Sein selbst darstellt? Muß man davon ausgehen, daß Heidegger der

Gleichsetzung des Seins selbst mit dem ganzen Sein, in dem alles Seiende in ei-

nem absolut kontinuierlichen Wirkungszusammenhang steht, nicht zustimmen

würde? In diesem Fall würde sich die fundamentalontologische Frage nach dem

Sein selbst als eine sinnlose Frage erweisen. Aber Heideggers Aussage, das Sein

sei das Einfache, weist m. E. ganz explizit darauf hin, daß er mit dem Ausdruck

‚das Sein selbst‘ eine Frage nach dem Sein stellt, in dem die existenziale Tren-

nung zwischen meinem Sein und dem anderen Sein, ohne die die Definition des

Daseins als eines In-der-Welt-seins nicht möglich ist, ihre Gültigkeit verliert. Das

Sein selbst muß daher das einheitliche Seinsganze bedeuten. Ohne das Bewußt-

sein des Daseins von seiner ontologischen Situation, die darin besteht, daß es

trotz seines natürlichen Weltverständnisses eigentlich nur als ein Sein in einem

absolut kontinuierlichen Seinsganzen existieren kann, ist die fundamentalontolo-

gische Frage nach dem Sein selbst sinnlos.

Es gibt bekanntlich viele Heidegger-Kritiker, die Heideggers Frage nach dem

Sein selbst als eine sinnlose Frage bezeichnen würden. Nachdem wir uns aber mit

Heideggers Schleiermacher-Rezeption und deren Bedeutung für seine philosophi-

sche Entwicklung auseinandergesetzt haben, können wir nun im Gegenteil her-

vorheben, daß Heideggers Frage nach dem Sein selbst von entscheidender Bedeu-

tung für die philosophische Reflexion über das Verhältnis zwischen dem Sein,

der Welt und dem Dasein ist: Diese fundamentalontologische Frage beruht auf

der Möglichkeit des faktischen Daseins, sich von seinem natürlichen Weltbe-

wußtsein kritisch zu distanzieren. Aber wahrscheinlich gibt es in der Philosophie

keinen garantierten, linearen Fortschritt. Schleiermacher hat bereits hundert Jahre

vor Heidegger eigenständig eine phänomenologische Ontologie entwickelt, in der

die ontologische Frage nach dem Sein selbst viel klarer und tiefgehender als bei

Heidegger analysiert und beantwortet wird. Sicherlich wirkt die philosophische

Sprache Schleiermachers auf viele heutige Leser nicht selten befremdend und

altertümlich. Das liegt aber vielleicht daran, daß Schleiermacher einerseits ver-

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sucht, sein Denken von den Vorurteilen der traditionellen Philosophie möglichst

frei zu halten, er andererseits aber zugleich darum bemüht ist, seine Philosophie

mit der unverzichtbaren Erbschaft der abendländischen Philosophie seit Platon zu

verbinden. Schleiermacher versteht sich nicht als ein radikaler Erneuerer der Phi-

losophie, sondern er betrachtet sich als einen Wegweiser, der seinen Zeitgenossen

eine sinnvolle Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft ermögli-

chen möchte.

Diese geistige Haltung Schleiermachers spiegelt sich auch in seiner Frage nach

dem ontologischen Verhältnis zwischen dem Dasein, der Welt und dem Sein

wieder. Mit seiner Begründung der Religionsphilosophie, die m. E. eindeutig als

eine Existenzontologie zu bezeichnen ist, zeigt er ganz überzeugend, daß der Sinn

des Seins nicht auf die Vorhandenheit reduzierbar ist. Genau wie Heidegger er-

kennt Schleiermacher an, daß die Vorhandenheit als ein Seinssinn in der prakti-

schen Lebensführung des Daseins ihren Ursprung hat und daher keineswegs als

ein adäquater und ursprünglicher Sinn des Seins zu bezeichnen ist. Schleierma-

cher weist aber nicht nur auf die radikale Differenz zwischen dem Seienden und

dem Sein hin, sondern er stellt zugleich das Verhältnis zwischen dem Seienden

und dem Sein im konkreten Lebenszusammenhang dar. Jedes Seiende ist, wie wir

gesehen haben, für Schleiermacher nicht einfach etwas Vorhandenes, das wir

bloß als ein Objektding wahrnehmen. Es ist zugleich ein Ansichseiendes, dessen

Sinn ursprünglicher ist als das Vorhandene. Sicherlich kann man einen ähnlichen

Gedanken auch bei Heidegger finden: Nach Heidegger wird das Seiende von uns

nicht erfunden, sondern als je schon seiendes entdeckt. Aber Heidegger hebt bei

seiner ontologischen Fragestellung nach dem Sein einseitig nur die Differenz

zwischen dem Seienden und dem Sein selbst hervor, ohne dabei das konkrete

Verhältnis zwischen den beiden Seinsbegriffen zu untersuchen. Dagegen gelingt

es Schleiermacher überzeugend zu zeigen, warum wir aufgrund dieser Entde-

ckung des Seienden als eines je schon seienden notwendig eine Frage nach dem

Sein selbst stellen müssen: Wir erfahren das Seiende nicht als ein Objektding, das

den praktischen Zwecken meines Lebens dienen soll, sondern zugleich als ein

eigenständiges Sein, das auf mein Leben wirkt. In dieser Erfahrung des Seienden

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als eines Ansichseienden besteht zugleich die Möglichkeit des Daseins, den Sinn

der Zeit, die in meinem Alltagsleben einer praktischen Zweckplanung (Zeitplan)

unterworfen ist, neu zu verstehen. Wir erfahren die Zeit nun als allzeitliche Le-

benserfahrung, in der ich gerade in diesem Augenblick meines Lebens die Ver-

gangenheit und die Zukunft als innig verbunden erfahre. Denn meine Erfahrung

des Seienden ist für Schleiermacher nicht bloß das Gewärtigen bzw. Gegenwärti-

gen eines Vorhandenen, das als ein Objektding vorhanden ist. Sie bedeutet zu-

gleich, daß ich mein Selbst als ein solches Sein erkenne, das eine Vergangenheit

hat, die auf das konkrete Wirkungsverhältnis zwischen meinem Sein und dem

anderen Sein verweist.

Wie wir im dritten Teil der Arbeit gesehen haben, entdeckt Schleiermacher durch

eine phänomenologische Analyse des Selbstbewußtseins eine besondere Form

des intentionalen Bewußtseins. Schleiermacher gibt sich nun im Unterschied zu

Husserl und Heidegger nicht damit zufrieden, die Intentionalität als eine formale

Struktur jedes aktuellen Bewußtseins zu definieren. Die Intentionalität des Be-

wußtseins ist für Schleiermacher zugleich ein ontologischer Grund dafür, warum

das faktische Dasein über die Grenze des natürlichen Weltbewußtseins, in dem

die Trennung meines Seins von dem anderen Sein vorherrschend ist, hinausgehen

muß. Zwar kann man sicherlich auch davon ausgehen, daß auch Heidegger die

Intentionalität des Bewußtseins als einen zentralen Ansatzpunkt der phänomeno-

logischen Ontologie betrachtet. Aber die konkrete Möglichkeit dafür, wie das

Dasein trotz seiner existenzialen Struktur (Ausstehen, Sein-bei) zu dem Bewußt-

sein des Seins als eines Einfachen bzw. einer absoluten Einheit gelangen kann,

wird bei Heidegger an keiner Stelle ausreichend deutlich.

Schleiermacher definiert das Selbstbewußtsein in der Glaubenslehre als ein sol-

ches Bewußtsein, in dem die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als

mitwirkende Ursache stattfindet. Hiermit gibt Schleiermacher einen konkreten

Grund dafür an, warum eine Phänomenologie zu einer Ontologie werden muß:

Denn die Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas als mitwirkende Ursa-

che bedeutet zugleich, daß das, was ich jetzt als das vor mir liegende, von mir

getrennte Seiende wahrnehmen, in Wirklichkeit bei der Konstitution meiner Ver-

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gangenheit mitgewirkt hat. Diese Zurückschiebung unseres Soseins auf ein etwas

als mitwirkende Ursache bedeutet für Schleiermacher nicht irgendeine Reduktion

unseres jetzigen Zustandes auf äußere, in der Vergangenheit liegende Determi-

nanten. Sie weist uns zugleich auf die neue Zukunft hin. Denn durch sie können

wir anerkennen, daß ein Seiendes mehr als das Vorhandene ist. Hier fangen wir

an, über die Grenze unseres jetzigen, an der Vorhandenheit bzw. Gegenständlich-

keit orientierten praktischen Alltagslebens hinauszugehen und zu einem ursprüng-

lichen Seinsverhältnis zwischen uns und dem anderen Sein zu gelangen. Wir

nehmen nun alles Seiende wahr als etwas, das zu uns in eine rein innerliche Be-

ziehung tritt, das somit für uns nicht mehr ein äußeres Ding darstellt. Ist dies

nicht der wirkliche ontologische Sinn der Zeit? Liegt hierin nicht der Sinn der

Seinsgeschichtlichkeit, den Heidegger mit seiner Philosophie stets zu zeigen ver-

sucht hat? Auf diese Fragen wurde im vierten Teil eine Antwort gegeben: Aus

Heideggers Bemerkungen zu Reinachs Interpretation des Abhängigkeitsgefühls

wird deutlich, daß Heidegger das religiöse Abhängigkeitsgefühl im Sinne Schlei-

ermachers als einen Ausdruck der Ursinnstruktur des historischen Lebens be-

trachtet. Allerdings bleibt sein Unternehmen, die ursprüngliche Seinsgeschicht-

lichkeit des Lebens ontologisch darzustellen, unvollständig: Denn er betrachtet

das Leben des Daseins vom Standpunkt der formalen Strukturanalyse aus. Er

ignoriert daher, daß sich das Dasein in einem konkreten Wirkungszusammenhang

mit dem anderen Seienden befindet.

M. E. kann man auf jeden Fall zweierlei festhalten: Erstens hat Heidegger den

entscheidenden Ansatzpunkt für seine Hermeneutik des faktisch historischen Da-

seins von Schleiermacher übernommen; zweitens ist dieser Ansatzpunkt, den

Heidegger bei seiner hermeneutischen Neugestaltung der Phänomenologie von

Schleiermacher übernommen hat, für die weitere Entwicklung der Heidegger-

schen Philosophie von wichtiger und bleibender Bedeutung. Und wir können

vielleicht durch eine direkte Auseinandersetzung mit Schleiermacher besser er-

kennen, was Heidegger eigentlich mit seiner Strukturanalyse des faktisch histori-

schen Daseins zum Ausdruck bringen wollte.

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