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WELTEN DER PHILOSOPHIE A

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WELTEN DER PHILOSOPHIE A

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»Selbstkultivierung« ist ein Grundthema der Philosophie in Indien,China und Japan. Die hier versammelten Beiträge legen dar, in welcherWeise die Gestaltung des Lebensweges in den Traditionen Süd- undOstasiens philosophisch reflektiert worden ist. Aber nicht nur in Asiensind Formen der Selbstkultivierung von zentraler Bedeutung gewesen,sondern auch in Europa. In der Einleitung zu den Metaphysischen An-fangsgründen der Tugendlehre formulierte Immanuel Kant die prinzi-pielle Pflicht des Menschen, sich selbst zu kultivieren, um dem eigenenMenschsein gerecht werden zu können: »Mit dem Zwecke der Mensch-heit in unserer eigenen Person ist also auch der Vernunftwille, mithindie Pflicht verbunden, sich um die Menschheit durch Cultur überhauptverdient zu machen, sich das Vermögen zu Ausführung allerlei mög-lichen Zwecke, so fern dieses in demMenschen selbst anzutreffen ist, zuverschaffen oder es zu fördern, d.i. eine Pflicht zur Cultur […].« Kantskritische Erörterungen aufnehmend, haben sich die Autoren diesesBandes der Frage nach der »Pflicht zur Cultur« neu gestellt und zuzeigen versucht, dass der Einbezug einer Philosophie asiatischer Le-bensformen ein gegenwärtiges Philosophieren über »Selbstkultivie-rung« weiterführen und um wichtige Dimensionen bereichern kann.

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Marcus Schmücker / Fabian Heubel (Hg.)

Dimensionen der Selbstkultivierung

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Weltender

Philosophie7

Wissenschaftlicher Beirat:Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich,Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall,Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, HeinerRoetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, GeorgStenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart,Ichirô Yamaguchi

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Marcus Schmücker /Fabian Heubel (Hg.)

Dimensionen derSelbstkultivierungBeiträge des Forums fürAsiatische Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Die Herausgeber dieses Bandes danken im Namen des Forums fürAsiatische Philosophie der Udo Keller Stiftung Forum Humanum fürdie Übernahme der Druckkosten.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48503-3

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Inhalt

Fabian Heubel, Marcus SchmückerEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Selbstkultivierung und Lebenskunst:Begriffliche Verortungen

Rolf ElberfeldKants Tugendlehre und buddhistische Übung. Auf dem Weg zueiner kulturoffenen und kritischen Kultivierungspraxis . . . . . . 27

Eberhard OrtlandSchwierigkeiten beim Übersetzen der Philosophie der Lebenskunstins Japanische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Fabian HeubelKritische Kultivierung und energetische Subjektivität.Reflexionen zur französischsprachigen Zhuāngzǐ-Forschung . . . . 104

Historische Perspektiven: China und Indien

Dennis SchillingSelbsterziehung als Tätigkeit menschlicher Lebensgestaltung in derchinesischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Sven SellmerDie Geburt der Selbstkultivierung aus dem Geiste des Rituals . . 186

Marcus SchmückerKultivierung von Unsterblichkeit in Indien . . . . . . . . . . . . 203

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Zur Theorie der Selbstkultivierungim modernen Konfuzianismus

Rafael SuterMoral und symbolgeleitete Praxis. Erkenntniskritik und ethischeKultivierung im Frühwerk Móu Zōngsāns . . . . . . . . . . . . 237

Stephan SchmidtMóu Zōngsāns Moralische Vision.Moderner Neukonfuzianismus zwischen Theorie und Praxis . . . 277

Ralph WeberKonfuzianische Selbstkultivierung bei Tu Weiming . . . . . . . . 310

Die Aktualität von Praktiken der Kultivierung

Karl BaierPhilosophien der Übung unter japanischem Einfluss:Karlfried Graf Dürckheim und Otto Friedrich Bollnow . . . . . . 337

Jens Schlieter»Selbstlosigkeit« durch Kultivierung von Mitgefühl.Eine buddhistische Übungspraxis und ihre jüngsteneurowissenschaftliche Erforschung . . . . . . . . . . . . . . . 370

Mathias ObertLeibliche Mimesis und Selbstsorge in den chinesischen Künstendes Pinsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

Volker HeubelDas Motiv des Weges in der Philosophie des Tee-Weges vonHisamatsu Shinichi久松真一. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

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Inhalt

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Einleitung

Das Forum für asiatische Philosophie hat es sich seit seiner Gründungim Jahre 2005 zur Aufgabe gemacht, einmal im Jahr eine Problematikzu thematisieren, die das Philosophieren in Asien und Europa zu ver-binden vermag. Ziel ist, philosophische Probleme auf eine Weise zuerörtern, die verschiedene philosophische Sprachkulturen herausfor-dern und bereichern kann. Geprägt von dem grundlegenden Anspruch,Philosophie und philologische Sprachkompetenz miteinander zu ver-mitteln, steht dabei die Auseinandersetzung mit süd- und ostasiatischenTexten im Mittelpunkt.

Die in diesem Band versammelten Beiträge sind aus zwei Arbeits-treffen des Forums für asiatische Philosophie hervorgegangen, die vom8. bis 10. September 2008 vom Institut für Kultur und Geistesgeschich-te Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wienund vom 31. August bis 3. September 2009 im Stiftungshaus des Fo-rum Humanum in Neversdorf bei Hamburg veranstaltet wurden. BeideTreffen waren dem Thema Selbstkultivierung gewidmet. Die nun vor-liegenden Texte nähern sich diesem Begriff vor allem mit Bezug aufindische, chinesische und japanische Texte. Dabei finden europäischeReferenzen immer wieder auf eine Weise Berücksichtigung, die er-lauben soll, Selbstkultivierung als einen Kristallisationspunkt zu ver-stehen, von dem her es möglich ist, in die Dynamik philosophischerKorrespondenzen zwischen Asien und Europa einzutreten. Die in die-sen Band aufgenommenen Beiträge versuchen allerdings nicht, Selbst-kultivierung auf eine einzige Bedeutung zu fixieren. Vielmehr dientdieser Begriff als Orientierung in einem Begriffsfeld, das Selbstgestal-tung, Selbsterziehung, Selbstbildung, Selbstsorge, Selbsttransforma-tion, Übungspraxis, Askese, Selbsttechnik, Lebenskunst, leiblicheÜbung und Sozialtechnik umfasst. Die Vielfalt der Perspektiven undtextbasierten Interpretationsansätze zeugt für den experimentellenCharakter einer Auseinandersetzung, die geprägt ist von der Suche

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nach neuen Möglichkeiten im Bereich komparativer, interkulturellerund transkultureller Philosophie.

Warum das Thema Selbstkultivierung? Vier Gründe für dieseWahl seien an dieser Stelle genannt: der Begriff der Selbstkultivierungkorrespondiert (1) mit dem gewachsenen Interesse an Philosophie alsLebensform und Übungspraxis im Kontext zeitgenössischer europäi-scher Philosophie, das der Reduktion von Philosophie auf den wissen-schaftlichen Diskurs entgegentritt; er verweist zudem (2) auf eine Re-zeptionsgeschichte »asiatischer Philosophien« in Europa, in der diesevor allem als Lehren der Weisheit und der Lebensführung wahrgenom-men worden sind, was vielfach entweder zu philosophischer Gering-schätzung geführt hat oder zu esoterischer Verklärung; die moderneVerachtung für Philosophie als Lebensform und Übungspraxis hat(3) auf die moderne Rekonstruktion philosophischer (und religiöser)Traditionen in Indien, China und Japan zurückgewirkt, insofern dieseentweder als theoretisch unterentwickelt angesehen oder – immer imKontrast zur theoretischen Ausrichtung »westlicher« Philosophie – alsgeistig und lebensphilosophisch überlegen verteidigt wurden; die Viel-schichtigkeit der vorgenannten Aspekte lässt Selbstkultivierung (4) alseinen Problemkomplex erscheinen, von dem her die Aktualität asia-tischer Philosophien in Europa sinnvoll und überzeugend ins Spielgebracht werden kann. Diesen vier Gründen entsprechen die vier the-matischen Schwerpunkte, die den Sammelband gliedern: 1. Selbstkulti-vierung und Lebenskunst: Begriffliche Verortungen; 2. Historische Per-spektiven: China und Indien; 3. Zur Reflexion von Selbstkultivierungim zeitgenössischen Konfuzianismus; 4. Die Aktualität von Praktikender Selbstkultivierung.

Für Rolf Elberfeld ist es auffällig, dass viele asiatische Denkansätze ineinen Übungsweg eingebettet sind, der auch leibliche Praktiken wieMeditation oder Bewegungsübungen umfassen kann. Dass die Thema-tik der Selbstkultivierung unentdeckte Möglichkeiten enthält, Europaund Asien aufeinander zu beziehen, zeigt sein Beitrag, indem er Kanti-sche Tugendethik und buddhistische Übungspraxis zusammenführt.Der philosophische Ertrag besteht dabei für Elberfeld darin, theoreti-sche Begründung und praktische Übungsformen in der Ethik so auf-einander zu beziehen, dass beide Perspektiven verstärkt ineinander ver-woben werden können. Die Rede von kulturoffener und kritischerKultivierungspraxis reagiert dabei auf die Tatsache, dass unter den Be-

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dingungen einer pluralistischen Moderne sich im 20. Jahrhundert anvielen Orten in der Welt die Beziehung von subjektiver Kultivierungs-praxis und den verschiedenen Einzelkulturen in entscheidender Hin-sicht verändert hat. Denn sobald in einer modernen Demokratie Men-schen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammenleben,bleibt die subjektive Kultivierungspraxis nicht mehr auf den Werte-kanon einer bestimmten Einzelkultur festgelegt. Da in einer pluralisti-schen Gesellschaft verschiedene kulturelle Ansprüche zusammenleben,legt diese Situation mit besonderem Nachdruck nahe, den Zusammen-hang von subjektiver und sozialer Kultivierungspraxis auf der einenSeite und den Wertansprüchen einzelner Kulturen auf der anderen Sei-te offen zu gestalten und voneinander zu entkoppeln. Elberfeld ist derAnsicht, dass die Philosophie Kants dabei hilfreich sein kann, weil Kantim Rahmen der ethischen Begründung versucht, eine möglichst in-haltsfreie Begründung zu liefern, die, im Rahmen von Kultivierungs-praxis, durch kulturoffene Kultivierungsformen ergänzt werden kann.In diesem Sinne unterscheidet Elberfeld heuristisch sechs Ebenen einerkulturoffenen und kritischen Kultivierungspraxis, die sich zudem alleaufeinander beziehen. Die sechs Ebenen – die weitgehend bereits beiKant differenziert werden – sind: 1. Kultur des Denkens, 2. Kultur desWillens, 3. Kultur der Sprache, 4. Kultur der Gefühle, 5. Kultur des Lei-bes, 6. Kultur der Beziehung. In den einzelnen Charakterisierungen derEbenen weist er darauf hin, an welchen Punkten die interkulturelleAuseinandersetzung mit ostasiatischen Entwürfen ansetzen kann.

Eberhard Ortlands Beitrag nähert sich dem Thema der Selbst-kultivierung durch die Problematisierung des in der jüngeren Vergan-genheit neu erwachten philosophischen Interesses am Thema der Le-benskunst. Er fragt nicht nur, was mit Lebenskunst im europäischenund im japanischen Kontext gemeint sei, sondern auch, wie es dazukommen konnte, dass die Traditionen der Lebenskunstlehre in Europain Vergessenheit geraten sind und ihr für die praktische Philosophie derModerne wie auch für die Lebensorientierung der modernen Menscheninsgesamt nur eine untergeordnete Bedeutung zugemessen wird. Dennbis ins 18. Jahrhundert blieb die Kunst der Lebensführung und derSelbstkultivierung ein wichtiges Thema auch der europäischen Philoso-phie und Moralistik. Das gilt nicht nur für die Populärphilosophie derAufklärung, die sich intensiv Fragen der Lebensführung widmet, son-dern in gewissem Sinn auch noch für Kant, der in seiner Anthropologiein pragmatischer Hinsicht erörtert, was der Mensch »als frei handeln-

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Einleitung

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des Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll« – nurdass Kant weniger durch seine anthropologischen Überlegungen zurLebensführung Epoche gemacht hat als durch seine Forderung nacheiner rationalen und universal gültigen Pflichtethik. Vor diesem Hinter-grund fragt Ortland einerseits nach den Mängeln deontologischer (undutilitaristischer) Moralphilosophien, durch die Lebenskunst als Ergän-zung oder gar als Alternative von Moral ins Spiel kommt, diskutiertaber andererseits auch die Fallstricke, in die sich Lebenskunst durch dieAnbindung an ein radikal individualistisch konzipiertes Kreativitätsdis-positiv verfängt. Aus dieser Problemstellung heraus entwickelt sich sei-ne Erörterung eines alternativen Verständnisses von Lebenskunst inJapan, nämlich eines Verständnisses, das von der Semantik der Kunst-Wege oder Weg-Künste geprägt ist. Ortland ist der Auffassung, dassdas Spektrum der jeweils für unterschiedliche Aspekte des Lebens-kunstbegriffs in Frage kommenden japanischen Begriffe und Komposi-tionsmöglichkeiten das Nachdenken über Lebenskunst entscheidend zubereichern vermag. Er nimmt jedoch letztlich nicht an, dass dieseKunst- oder Übungswege schon als exemplarische Verwirklichung oderVorwegnahme dessen, was jetzt unter dem Titel Lebenskunst gesuchtwird, angesehen werden können.

Fabian Heubels Überlegungen zu kritischer Kultivierung undenergetischer Subjektivität setzen bei der Frage an, wie der ökonomis-tische Imperativ der Selbstmaximierung und Selbstoptimierung kriti-siert werden kann, der eine Arbeit des Selbst an sich selbst fordert, inder sich die Fetischisierung von Produktivität im ästhetischen Kult vonKreativität verlängert. Seiner Ansicht nach erschwert heute die interneVerflechtung von Kapitalismus und Kreativität die Entfaltung einer kri-tischen Konzeption von Selbstkultivierung in besonderem Maße: zeit-genössische Ansätze von Philosophie als Lebenskunst und Übungspra-xis stehen der so verführerischen wie selbstzerstörerischen Dynamikdieser Verflechtung entweder ohnmächtig gegenüber (Pierre Hadot)oder bleiben affirmativ in sie verstrickt (Foucault, Sloterdijk). Aus die-ser Problematik erwächst sein Interesse an dem »daoistischen« Klassi-ker Zhuāngzǐ und der französischsprachigen Erforschung dieses Textes,wobei seine Erörterung von der Fragestellung geleitet wird, inwiefernes im Zhuāngzǐ Anhaltspunkte für die Möglichkeit gibt, Kreativität vonder Einseitigkeit des modernen Dispositivs der Kreativität zu lösen undmit einem alternativen Paradigma der Subjektivität zu verknüpfen.Damit stellt sich die Frage, ob und wie der enorme kultur-historische

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Reichtum chinesischer Kultivierungslehren für die Entwicklung einerkritischen Philosophie der Kultivierung erschlossen werden kann, inder energetische Subjektivität und egalitäre Pluralität so miteinanderkorrespondieren, dass mit der Fixierung von Kultivierung auf Ganzheitund Einheit (vonMensch und Natur, Körper und Geist etc.) entschiedengebrochen wird. Wenn aber das Paradigma der Subjektivität, das sich inAuseinandersetzungmit chinesischsprachigen Textenwie demZhuāng-zǐ gewinnen lässt, nur eine Anwendung bekannter philosophischer Po-sitionen auf chinesisches Material wäre, dann ließen sich die Mühen derEinbeziehung chinesischer Quellen philosophisch kaum rechtfertigen.Heubel versucht vor allem in detaillierter Auseinandersetzung mit sino-logischer Forschung zu zeigen, inwiefern der Einbeziehung chinesisch-sprachiger Texte in die Erörterung des Begriffs der Subjektivität einekritische und transformative Bedeutung zukommen kann: Indem näm-lich Subjektivität als Einübung in ein dynamisches Hin-und-Her zwi-schen Subjektivierung und Desubjektivierung rekonstruiert wird, demnicht nur ästhetische, sondern auch ethische, politische und ökonomi-sche Bedeutung zukommt.

Dennis Schilling hält es für problematisch, dass der Begriff derSelbstkultivierung in der gegenwärtigen Forschung zu einem umfas-senden hermeneutischen Konzept der Erschließung chinesischer undostasiatischer Denktraditionen geworden ist. Er bevorzugt statt dessendie Rede von Selbsterziehung und versucht in detaillierter Auseinan-dersetzung mit klassischen chinesischen Texten zu zeigen, dass die an-tiken Vorstellungen zur Selbsterziehung in China nicht auf einem Kon-zept der individuellen Persönlichkeitsentfaltung basieren, sondern eherauf einem Konzept der Ansammlung von Fähigkeiten und Kräften, diedazu qualifizieren, sich für die (politische) Gemeinschaft einzusetzen.Kontrolle und Beherrschung der menschlichen Äußerungen (in Rede,Haltung, Ausdruck) und Befreiung von selbstbezogenen Gedanken sinddemnach für verschiedene Formen der Selbsterziehung grundlegendgewesen. Schillings Erörterung hinterfragt dabei nicht nur moderneInterpretationen insbesondere der konfuzianischen Klassiker, sondernallgemein eine Auseinandersetzung mit dem antiken chinesischen Den-ken, die nicht zuletzt stark von Mustern der chinesischen Rezeptionund Traditionsbildung beeinflusst ist. Denn in China prägen die Inter-pretationen antiken Denkens seit der Sòng-Dynastie (960–1279) auchnoch die heutige Sicht auf das klassische Altertum in hohem Maße,wobei vernachlässigt wird, dass mit diesen Interpretationen schon da-

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mals eine Herauslösung antiker Texte aus dem rituellen Schrifttum unddamit aus ihrem religiösen Kontext einherging, um sie statt dessen ausder Perspektive eines Paradigmas moralischer Erziehung zu lesen. Zu-dem ist zu berücksichtigen, dass es, mit der Rezeption der buddhisti-schen Heilslehre in China, zu einer tiefgreifenden Transformation vonKonzeptionen der menschlichen Natur und der geistigen Übungkommt, die wiederum die ideelle Grundlage für die Sicht der Sòng-Zeitauf die Antike bilden. Schilling hält es von daher für sinnvoll, Selbst-erziehung in der chinesischen Antike mit kritischem Abstand sowohl zuspäteren Ansichten der Tradition wie auch zu modernen Begriffen vonBildung und Erziehung zu betrachten. Sein Beitrag zur antiken Selbst-erziehung und ihren politischen und religiösen Kontexten zeigt, dassdie dem Begriff Selbstkultivierung bzw. dem lateinischen von culturaanimi zugrundeliegende Metaphorik der Pflege und Kultur keineswegsdie antiken chinesischen Vorstellungen der Selbsterziehung vollständigerfassen kann.

Für Indien selbst ist die Frage, inwieweit und welche Phänomenesich als Selbstkultivierung deuten lassen, bisher wenig gestellt worden.Die beiden indologischen Beiträge erschließen das Thema, indem sierituelle und religiöse Bezüge von Selbstkultivierung in den Vorder-grund stellen. Für seine Diskussion von Selbstkultivierung im alten In-dien greift Sven Sellmer den Ritualismus der Brāhmaṇazeit auf. DreiAspekte rücken dabei ins Zentrum seiner Erörterung: Die Bedeutsam-keit des Wissens um die verborgenen Strukturen der Welt, die damitverbundenen Identifizierungen und die Interiorisierung des Opfers. FürSellmer zielt Selbstkultivierung auf die Erkenntnis des wahren Ātman,allerdings lässt sich der Weg zu einer solchen Erkenntnis nur als einallmählicher Prozess der Einsicht in Falsches und Wahres verdeut-lichen. Am Beispiel eines Dialoges erläutert Sellmer wie zwischen Ste-tigkeit und Unstetigkeit unterschieden wird. Das wahre Selbst, auf dasSelbstkultivierung hinarbeitet, zeigt sich hier vor allem als ein Ort derStetigkeit und nicht mehr des Wandels. Die Körperlichkeit als Paradig-ma des Wandels gerät damit aus dem Blick. Der Weg zum wahrenSelbst, die Ātman-Suche, ist bereits im Ritual vorgeprägt. Von daherbetont Sellmer, dass altindische Konzeptionen von Selbstkultivierungdavon ausgehen, dass der Mensch sich infolge des Durchlaufens rituel-ler Prozesse zu verändern und zu vervollkommnen vermag; dass dieInteriorisierung des Opfers den Opfernden unabhängig (autonom) vondessen materiellen Bestandteilen macht: vollkommene Selbstgenüg-

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samkeit ist eines der zentralen Attribute des Ātman und des sich mitdiesem identifizierenden Menschen; dass die in den Brāhmaṇas auf-blühende Denkfigur der schöpferischen Identifizierung zu einem zen-tralen Instrument der Selbstgestaltung wird; dass die Suche nach demeinenWeltprinzip, das allem anderen zugrunde liegt, auf der Ebene desMikrokosmos in logischer Weise zur Konzeption eines zentralen Be-standteils im Menschen führt, dessen abstraktester Name ātman lautet;die religiösen Operationen des Verehrens und des meditativen Betrach-tens dienen schließlich auch zur Herstellung des Kontakts mit demātman, der durchaus numinose Züge aufweist.

Marcus Schmücker richtet seine Aufmerksamkeit auf die indi-sche Tradition der Erlösungslehren, an denen sich belegen lässt, dasses in ihnen um eine Transformation des Subjektes geht. Er fragt sichsodann, von welchem Zustand aus und als was sich das Subjekt denntransformiert, wenn es im Erlösungszustand so vollkommen sein muss,dass es alle Sterblichkeit überwunden hat, keinen Wiedertod mehrstirbt und von jeder Vergeltungskausalität befreit wird? Schmücker ver-sucht dieser Frage nachzugehen, indem er sich einer Vorstellung desAsketen zuwendet, der weltlichen und gesellschaftlichen Bindungenentsagt und in die Transzendenz ausbricht. Die Lebensform des Aske-ten, in der die Erfahrung von Unsterblichkeit mit der Einsicht in dieVergänglichkeit des eigenen Körpers und in die Erfahrung der Unver-gänglichkeit des eigenen Selbst (ātman) verbunden ist, scheint vomGegensatz zwischen Unvergänglich-Geistigem und Vergänglich-Kör-perlichem geprägt zu sein, der eine dualistische Deutung nahelegt.Schmücker fragt sich jedoch, ob die Erlösungstraditionen Indiens not-wendiger Weise einen Dualismus implizieren. Er meint, dass dem Ver-ständnis von Unsterblichkeit in Indien nicht nur der Gegensatz vonSubjekt (ewige Seele) und Objekt (materieller Körper) zugrunde zu le-gen ist, sondern sieht in der radikalen Einsicht in die Vergänglichkeitdes Körpers auch eine leibliche Dimension, die seine Erörterung theo-retisch zu erschließen versucht. Die der Annahme der Unsterblichkeitzugrundeliegende Relation von Seele und Körper erfordert seiner Auf-fassung nach einen erweiterten Körperbegriff, das heißt einen »Kör-per«, der vom physischen Körper unterschieden ist und der Dualitätvon Körper und Seele vorausliegt oder beides ohne Widerspruch ver-eint. Das Streben nach endgültiger Erlösung, die den Körper als ver-gänglich, unrein etc. hinter sich lässt, beschreibt er als eine besondereForm der Leiblichkeit. Kultivierung von Unsterblichkeit als das Er-

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reichen eines Zustandes, in dem der Mensch sich in einem von Sterbenund Wiedertod befreiten Zustand erlebt, lässt sich von daher als Kulti-vierung des Leibes und nicht des vergänglichen Körpers verstehen.

Die folgenden drei Beiträge sind Versuchen der Modernisierungkonfuzianischer Philosophie im 20. Jahrhundert gewidmet, die vonden komplexen Prozessen der Rezeption und Transformation west-licher Philosophie in China geprägt sind. Rafael Suter widmet sichdem Frühwerk von Móu Zōngsān, der als einer der bedeutendsten Ver-treter des zeitgenössischen Neokonfuzianismus gilt. Sein reifes Werkhat er selbst als Moralmetaphysik bezeichnet. Dabei orientiert sich seinMoralbegriff an einer Vorstellung der Kultivierungsübung, wie sie intraditionellen konfuzianischen Schriften zum Ausdruck gebracht wird.Diese schließt sowohl die Einübung der moralischen Achtsamkeit alsauch des rechten Tuns ein, vereint also eine geistige mit einer prakti-schen Dimension. Ansetzen soll dieses Einüben einer moralischen Le-bensführung an einem für den Menschen als wesentlich ausgewiesenenmoralischen Sinn, der sich in spontanen Akten der Hilfeleistung mani-festiert. In Móus philosophischer Entwicklung wird oft ein Bruch gese-hen, der eine späte, als praktisch bezeichnete Phase von einer früherentheoretischen trennt. Suter zeigt demgegenüber auf, dass Texte zur Er-kenntnislehre, die Móu in jungen Jahren verfasst, durchaus in einerKontinuität zu seinem Spätwerk stehen. Dies wird offenbar, wenn diedarin dargelegte Erkenntniskritik als eine Übung des Denkens verstan-den wird, die auf die systematische Befreiung des Handelns von seinerBestimmung durch die kognitiven Strukturen der Selbstverkennungangelegt ist. Suter zeichnet nach, wie Móus Symbolbegriff in der Kritikdes erkennenden Bewusstseins von 1956/57 ein Verständnis von Er-kenntniskritik als Übungsweg greifbar werden lässt. Seine Ausführun-gen zu dieser Schrift zielen darauf ab, ein wesentliches Bindeglied derVerschränkung von theoretischer Reflexion und moralischer Praxis inseinen Grundzügen zu erfassen. Wohl gelten Móu die Texte der chine-sischen Überlieferungen eher als Ausdruck praxisorientierter Weis-heitslehren denn systematischen Philosophierens. Er erkennt in ihnenallerdings ein theoretisches Potential, das er für die Schaffung einerneuen Philosophie nutzbar machen will. Dabei ist es für ihn wichtig,die spezifische Differenz auszumachen, welche das chinesische Denkenvon der westlichen Philosophie abhebt. Dies genuin Chinesische solldann die vomWesten übernommene Philosophie befruchten und damiteinen Beitrag zu einer wirklich universalen Philosophie leisten.

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Stefan Schmidt konzentriert sich ebenfalls auf die PhilosophieMóu Zōngsāns und sieht ihre Relevanz darin, dass sie an einer Reihevon philosophisch bedeutsamen Schnittstellen steht – etwa zwischenOst und West, Tradition und Moderne, Theorie und Praxis – und sichan keiner dieser Schnittstellen einer Seite eindeutig zuordnen lässt.Trotz des emphatischen Bekenntnisses zu einer bestimmten Überliefe-rung sieht Schmidt im zeitgenössischen Konfuzianismus ein Zwi-schending, das sich selbst zu begreifen sucht, indem es analysiert, zwi-schen was es steht. In dieser Zwischenstellung ist er allerdings nichtnur typisch für das sich modernisierende China, sondern darüber hi-naus auch für eine historische und kulturelle Konstellation, die imZeitalter der globalen Moderne längst nicht mehr nur China betrifft.Schmidts Beitrag situiert Móus Moralphilosophie im Kontext von anHegels Geschichtsphilosophie orientierten Reflexionen, in denen dievom westlichen Imperialismus aufgezwungene Moderne denkbar wirdals notwendiger Durchgang des chinesischen Geistes auf dem Weg zueiner höheren Form der Selbstbewusstheit. Der Untergang des vor-modernen Konfuzianismus (seiner Institutionen und seiner Praxis) be-deutet somit nicht sein Ende, sondern birgt in sich das Potential füreinen Schritt nach vorne. Der chinesische Geist muss einen Prozessder Selbstverneinung durchlaufen, um in der Zukunft wieder zu sichselbst zu gelangen. In diesem Sinne muss das chinesische DenkenTheorie werden, um Praxis bleiben zu können. Das heißt, der Kon-fuzianismus sichert in der gegenwärtigen Theoriewerdung seines Den-kens die Bedingung der Möglichkeit künftiger Praxis. In dieser dialek-tischen Figur sieht Schmidt die innere Logik von Móu ZōngsānsProjekt. In diesem bildet Autonomie den Maßstab, an dem sich dieModernitätsfähigkeit des Konfuzianismus zu erweisen hat. Folglich bil-den Konfuzianismus und Demokratie auch keinen Gegensatz, vielmehrmacht Móu den Vorschlag, Demokratie als die konstitutionelle Selbst-verwirklichung des Konfuzianismus in der Moderne zu verstehen.

Ralph Webers Beitrag ist Tu Weiming (Pinyin-Umschrift: DùWéimíng) gewidmet, einem Schüler von Móu Zōngsān, der entschei-dend dazu beigetragen hat, Selbstkultivierung (self-cultivation) als zen-trales Motiv zeitgenössischer Interpretation des Konfuzianismus zuetablieren. Im Unterschied zu Móus explizit philosophisch ausgerichte-ter Rekonstruktion konfuzianischer Moralphilosophie spielt bei Tu diereligiöse Dimension von Selbstkultivierung eine große Rolle. Tus Kon-zept der Selbstkultivierung sieht Weber geprägt von der Ambivalenz

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zwischen einer individuell zu vollziehenden spirituellen Übung, derethisch-religiöser Charakter zukommt, und einem Verständnis vonSelbstkultivierung, das die gelebte Konkretheit gemeinschaftlicher Be-ziehungen betont. Die Aufgabe von Selbstkultivierung besteht für TuWeiming nicht darin, die konkrete Welt des Hier und Jetzt zu überwin-den. Seine Betonung von Selbstkultivierung als gemeinschaftlichemEngagement und von der Familie als primärem Kontext der Selbstkulti-vierung geht allerdings einher mit der Forderung nach der Ausbildungeines »gemeinschaftlichen kritischen Selbstbewusstseins«. Denn inso-fern die Kultivierung einer Person innerhalb eines konkreten Kontexts,d.h. in bestehenden Gemeinschaften mit eingespielten Regeln, Ritualenund Umgangsformen stattfindet und stattfinden soll, stellt sich die Fra-ge, wie man sich zu verhalten hat, wenn das eigene gemeinschaftlicheEngagement in Widerspruch zur bereits ritualisierten und normiertenGemeinschaft gerät. Insofern Tus Antwort auf dieses Problem von derBetonung je partikularer Kontexte geprägt ist, fragt sich Weber, ob diedaraus resultierende normative Vagheit sich nicht nachteilig auf dieMöglichkeiten einer selbstkultivierenden Person auswirkt. Währenddas Beispiel indischer Asketen, die jeder weltlichen und gesellschaft-lichen Bindung entsagen, um sich auf die Suche nach ihrem unsterb-lichen Selbst zu begeben, eine radikale Möglichkeit von Selbstkulti-vierung markiert, so zeugt Tus Verständnis des Verhältnisses vonSelbstkultivierung und Gemeinschaft von einer ganz anders ausgerich-teten, radikal innerweltlichen Ausrichtung von Kultivierung, in der dieMöglichkeit eines autonomen Selbst im Geflecht gemeinschaftlicherBeziehungen unterzugehen droht. Die starke Hervorhebung vonSelbstkultivierung in Tus Konfuzianismus geht zudemmit einer schwa-chen Betonung der institutionellen Ausgestaltung von Gemeinschafteinher. Er hat somit erhebliche Schwierigkeiten, mit konfuzianischenMitteln neue Denkwege in Bezug auf Konzepte wie Rechtsstaatlichkeitund Demokratie zu eröffnen und den Konfuzianismus gegen politischeInstrumentalisierung zu schützen.

Während konfuzianische Philosophen im 20. Jahrhundert mit demProblem gerungen haben, wie überlieferte Konzeptionen von Selbst-kultivierung in Auseinandersetzung mit dem im modernen Westenvorherrschenden theoretisch und diskursiv ausgerichteten Verständnisvon Philosophie gerettet werden können – eine Problemstellung, vorderen Hintergrund Tu Weimings starke Sympathien für Pierre HadotsInsistenz auf Philosophie als Lebensform nicht überrascht –, befasst

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sich der Beitrag von Karl Baier mit den Versuchen von Karlfried GrafDürckheim und Otto Friedrich Bollnow im deutschsprachigen Raumeine Philosophie der Übung zu etablieren. Dabei konzentriert er sichauf die Rezeption des japanischen Zen-Buddhismus. Dessen Übungs-kultur wollen Dürckheim und Bollnow zwar nicht direkt übernehmen,allerdings sind sie davon überzeugt, dass seine Grundprinzipien all-gemeinmenschliche Bedeutung haben und in unterschiedliche Kulturenimplantiert werden können. Aufgrund der größeren Bedeutung, dieKultivierungsübungen – im Vergleich zur westlichen Welt – in asiati-schen Kulturen zugestanden worden ist, sehen sie die Notwendigkeit, indieser Hinsicht von Asien zu lernen. Auf die enormen Schwierigkeiten,die mit diesem Lernprozess verbunden sind – und damit auch auf dieSchwierigkeiten, eine kulturoffene und kritische Konzeption vonSelbstkultivierung zu entwickeln – weist Baier vor allem in seiner Erör-terung Dürckheims nachdrücklich hin. Eine philosophische Interpreta-tion seinerWerke sieht er mit der Aufgabe konfrontiert, zu analysieren,inwiefern sein Denken dem Nationalsozialismus entgegenkam. Jenentotalitären Zug seiner Philosophie, der ihn dafür disponiert hat, ein to-talitäres Regime zu unterstützen, macht er an Dürckheims Begriff vonGanzheit fest. Den Spuren eines mystisch gefärbten totalitären Ganz-heitsdenkens spürt er auch noch dort nach, wo sie die martialische Glo-rifizierung von Ichlosigkeit und Aufopferung für die Gemeinschaft ab-legen, um in der Einheitserfahrung die Vollendung alles Übens zusuchen. Der totalitäre Zug jeder Art von Ganzheitsphilosophie zeigtsich auch im Streben nach der Erfahrung des Einsseins mit der Welt,insofern dabei das Ganze zur eigentlichen Wirklichkeit hypostasiertwird. Damit stellt sich die Frage, wie es einer kritischen und für Plura-lität offenen Konzeption von Selbstkultivierung gelingen kann, denFallstricken des Ganzheitsdenkens zu entgehen. Obwohl Bollnow Aus-sagen Dürckheims zu den beim Üben auftretenden Einheitserfahrun-gen zustimmend zitiert, sieht Baier bei ihm eine Tendenz zur Distan-zierung vom einem fragwürdigen Ganzheitsbegriff und damit zurLoslösung der Übungsphilosophie von totalitären Tendenzen. Entspre-chend fragt sich Baier abschließend, wie Übung als Weg zum richtigenLeben und Befreiungspraxis einerseits von Übung als Medium der Un-terwerfung unter eine repressive Disziplinarmacht andererseits unter-schieden werden kann.

Aus einer ganz anderen Perspektive beschäftigt sich Jens Schlie-ter mit der Rezeption und Transformation asiatischer Übungskulturen

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imWesten. Sein Augenmerk gilt dem Diskurs, der zwischen westlichenNeurowissenschaftler/innen und Kognitionspsychologen auf der einen,und tibetischen Buddhisten auf der anderen Seite geführt wird. Er istder wissenschaftlichen Erforschung bestimmter Meditations- und Kon-zentrationstechniken gewidmet, die der meditativen Erzeugung von»Mitgefühl« bzw. »Empathie« dienen. An diesem Beispiel vertieftSchlieter seine Erörterung der westlichen Rezeption asiatischer Übungs-wege. Dabei wird deutlich, wie sich durch die Globalisierung religiöserTraditionen und der zunehmenden »geisteswissenschaftlichen« Deu-tungshoheit der westlichen Neurowissenschaften Begegnungsräumebilden, in deren Schnittmenge sich neue, hybride Wissenskulturen ent-wickeln. Im buddhistischen Kontext kann die Erzeugung vonMitgefühlals Selbsttechnik beschrieben werden, die zum Ziel hat, die eigene Per-son grundlegend zu transformieren. Dies geschieht, indem über dasMitgefühl eine nicht subjektgebundene und letztlich illusionäre(grund-lose) Leiderfahrung eingeübt wird. Die herausragende Bedeu-tung dieser Übungspraxis ist darin begründet, dass über die Erzeugungdes Mitgefühls der soteriologische Gedanke wachgerufen wird, alsBodhisattva zum Wohle aller Lebewesen das Erwachen zu erreichen.Die Integration in wissenschaftliche Forschung kann allerdings nur ge-lingen, wenn die Übungspraxis in eine eudaimonistische Sozialtechnikumgedeutet wird, die mit einer weitgehenden Entkleidung ihres soterio-logischen Hintergrundes einhergeht. Denn aus neurowissenschaftlicherPerspektive ist vor allem von Interesse, dass Meditierende bestimmteaußeralltägliche Bewusstseinszustände intentional und willentlich her-vorbringen können. Warum ist also gerade die Mitgefühlsmeditationneurowissenschaftlich eingehend untersucht worden? Ist dies als wis-senschaftliche Anerkennung des Nachweises der Wirksamkeit vonÜbungswegen zu erachten? Oder ist es vielmehr ein Zeichen dafür, dasssich Übungswege heutzutage im naturwissenschaftlichen Diskurs aus-weisen müssen, um glaubhaft zu sein? Schlieters Auffassung nachsticht beim Versuch, den Gewinn zusammenzufassen, den die sozialeNeurowissenschaft aus der Erforschung der Meditation zieht, vor allemein Faktum ins Auge: Buddhistische Meditationspraktiken werden zu-nehmend nicht mehr im Rahmen von Übungen auf dem Heilsweg – alssoteriologische Praktiken – wahrgenommen, sondern als Praktiken zurErzeugung individuellen Wohlbefindens oder gar als disziplinatorischeSozialtechnik im Sinne Foucaults.

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Von den chinesischen Künsten des Pinsels her erschließt MathiasObert das Verhältnis zwischen Selbstkultivierung und Ästhetik. Ergeht davon aus, dass das Verständnis der Ausübung von Malerei undSchreibkunst im vormodernen China nicht auf das Feld der »Kunst«beschränkt bleiben kann, weil diese Künste in ihrem Kern den An-spruch oder wenigstens die Möglichkeit mit sich führen, Wege derSelbstsorge bereitzustellen, die als Verbindungspunkte zwischen Äs-thetik und Ethik dienen. Er versucht zu zeigen, inwiefern künstlerischesSchaffen im Verein mit ästhetischer Erfahrung ein Feld zu eröffnenvermag, in dem sich der Mensch auf sein eigenes Dasein nicht in ersterLinie theoretisch bezieht, also durch einen Entwurf, der nachträglichgedeutet oder vorausschauend idealisiert wird. Auf dem Feld der Kunst-übung kann der Person vielmehr in ihrer leibhaftigen Existenz eineganz unmittelbar wirksame Verwandlung widerfahren. Aus dieser Per-spektive zeigt sich die Möglichkeit, die praktische Bildung des Seins-zur-Welt auf ästhetischem Wege als Kern und Zweck künstlerisch-äs-thetischer Vollzüge insgesamt herausstellen. Damit tritt die Möglich-keit zutage, über eine bestimmte, im Leiblichen wurzelnde und dasLeibliche umbildende Vollzugsweise der Schreibkunst sich nicht nureiner Kunstübung hinzugeben, sondern das eigene Ethos, das Sein-zur-Welt umzubilden im Sinne einer bewegungshaften Rücknahme inden Kern dieses Weltbezuges selbst. Genau an dieser Stelle, in der hal-tungsmäßigen Einübung oder Einleibung einer in sich zurückgenom-menen Pinselbewegung, die es schreiben lässt, wird der Umschlags-punkt zwischen Kunstübung und ethischer Selbstsorge, zwischenÄsthetik und Praxis sichtbar. Hier tritt in der Kunstübung des Schrei-bens eine Grundhaltung der Ethik zutage, nämlich eine eigentümlich insich verdichtete Verhaltenheit, eine der Welt und dem Anderen gegen-über durchaus bezughaft offene Zurückhaltung. Das Weltverhältnisverändert sich mit der Umbildung des leiblichen Seins. Dem Vollzugermangelt damit jede Äußerlichkeit, er ist als Einleibung ein Wand-lungsgeschehen. Vor diesem Hintergrund interpretiert Obert chinesi-sche Malerei und Schreibkunst als leibliche Übung.

Der Aufsatz von Volker Heubel geht der Frage nach, inwieweitdie von dem modernen japanischen Philosophen Hisamatsu Shinichientworfene Philosophie des Tee-Weges zu einer Konzeption von Phi-losophie beitragen kann, die in der Lage ist, die Dimension der Übungwieder als konstitutiven Bestandteil von Philosophie zu reintegrieren.Während Hisamatsus Philosophie des Tee-Weges – ausgehend von sei-

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ner Selbstinterpretation – bisher vor allem im Kontext des Spannungs-feldes von Religion und Philosophie des Erwachens betrachtet wurde,geht Heubel der Frage nach, inwieweit sich darin weitere Möglichkeitenphilosophischer Thematisierung erschließen lassen, die es erlauben,Gesprächsmöglichkeiten zu gegenwärtigen Ansätzen einer Philosophieder Übung und der Lebenskunst zu eröffnen. Heubel vertritt die These,dass hierfür dem Weg-Motiv zentrale Bedeutung zukommt. Die an-thropologisch-ästhetische Rekonstruktion des Weg-Motivs in der Tee-philosophie Hisamatsus zeigt die mit ihm in Verbindung stehendenWegmomente als zentrale Aspekte und Interpretationsmöglichkeitendes Tee-Weges auf: Substanz-Anwendung, Struktur-Angelegenheit so-wie ihre wechselseitige Übung; die Nicht-Zweiheit von Wissen undHandeln, Absicht und Nicht-Absicht; den zentralen Begriff des konomiund des schöpferischen Selbst; die Wegedynamik von Hin- und Rück-weg; die Bereichsgliederung in Angelegenheiten, Mensch, Dinge, Zeitund Raum sowie das Moment der Geschichtlichkeit. Heubel ist derAuffassung, dass eine solche Perspektive Fixierungen auf Begriffe wieReligion, Philosophie des Erwachens und die bei Hisamatsu damit ver-bundenen Gefahren metaphysischer Substanzialisierungen vermeidenkann, um in ein Geflecht von analysierbaren Begrifflichkeiten undschöpferischen Übungsprozessen zu führen, dem religiöse, ästhetische,ethische und reflexive Aspekte als spannungsreiche Momente inhärentsind. Heubels Suche nach einer kulturoffenen und kritischen Konzep-tion von Selbstkultivierung besteht folglich darin, Hisamatsus Philo-sophie des Tee-Wegs kritisch gegen diesen zu wenden, um vor allemjenen, durch begriffliche Schematisierungen hervorgerufenen, Ver-engungen zu entgehen, durch die Hisamatsu das philosophische Poten-tial seiner konkreten Ausführungen zum Tee-Weg letztlich unnötigeinschränkt, so dass die darin enthaltenen gegenwärtigen Möglich-keiten nicht zur Entfaltung kommen können.

Der vorliegende Sammelband erschließt Selbstkultivierung in ver-schiedenen Dimensionen: philosophisch, ethisch, ästhetisch, politisch,ökonomisch, spirituell, religiös, sozialtechnisch. Die philosophische Di-mension steht dabei insofern im Vordergrund, als über geistes- undkulturgeschichtliche Verortungen hinaus die Frage nach Theorie undPraxis einer kulturoffenen und kritischen Konzeption von Selbstkulti-vierung in der Gegenwart immer wieder besondere Beachtung findet.Auch dort, wo die Aufmerksamkeit sich auf die spirituelle und religiöse

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Dimension von Selbstkultivierung richtet, wird unmissverständlichklar, dass indische, tibetische, chinesische und japanische Übungsprak-tiken sowie die dazugehörigen Lehrgebäude nicht einfach die Lücke fül-len können, die durch den Zerfall der Autorität religiöser Lebenssyste-me einerseits und die Verbannung von Philosophie als Lebensform undKultivierungsübung aus der akademischen Philosophie andererseitsentstanden ist. In diesem Sinne wird der Begriff der Selbstkultivierungzunächst einmal als Angebot an die akademische Philosophie ins Spielgebracht, die Reflexion auf das Thema von Philosophie als Lebensformund Übungspraxis interkulturell zu erweitern.

Die philosophische Bescheidenheit dieses Anspruches an die Aus-einandersetzung mit verschiedenen asiatischen Kultivierungslehren istzweifellos auch der Tatsache geschuldet, dass deren westliche Rezep-tionsgeschichte allzu häufig mit antimodernen, eskapistischen, spiritua-listischen, autoritaristischen und esoterisch-sektiererischen Tendenzeneinhergegangen ist, die ihre genuin philosophische Erörterung bis heu-te nahezu unmöglich gemacht hat. Von daher betonen verschiedeneBeiträge des Sammelbands die kritische Analyse dieser Rezeptions-und Transformationsgeschichte und sehen sie als unverzichtbaren undweiter zu entwickelnden Aspekt einer interkulturellen Philosophie derSelbstkultivierung.

Für dasVerständnis derRezeptions- undTransformationsgeschich-te asiatischer Philosophien im Westen erweist sich die Auseinanderset-zung mit der modernen und zeitgenössischen Rezeption und Transfor-mation westlicher Philosophie in Asien, mit der die Etablierung vonakademischer Philosophie nach westlichem Vorbild einhergegangen ist,als besonders hilfreich. Denn dabei wird schnell deutlich, dass Diskurseüber die Andersheit oder gar Überlegenheit süd- und ostasiatischerKulturen einem komparatistischen Schema von Ost und West erwach-sen sind, das in Süd- und Ostasien seit dem 19. Jahrhundert – im Zugevon mehr oder weniger aufgezwungenen Prozessen der Modernisie-rung – zunehmend Verbreitung gefunden hat. Dem tieferen Verständ-nis der Komplexität von wechselseitigen Rezeptions- und Transforma-tionsprozessen zwischen Ost und West kommt dabei selber kritischeBedeutung zu, weil es die Aufmerksamkeit für jene transkulturelle Dy-namik der immer auch irritierenden und schockierenden Konfrontatio-nen und Vermischungen verschiedener kulturhistorischer Quellenschärft, durch die kulturelle (und damit auch philosophische) Kreativi-tät zum Durchbruch gelangt.

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Bisher hält es die akademische Philosophie in Europa kaum fürnötig, die Auseinandersetzung mit asiatischen Philosophien und dasErlernen der dazugehörigen philosophischen Sprachen systematisch zufördern. Die daraus resultierende Unkenntnis und Geringschätzungsteht in peinlichem Gegensatz zur interkulturellen Kompetenz, die sichPhilosophen in Asien durch ihre Arbeit mit Texten sowohl in europäi-schen als auch nicht-europäischen Sprachen über viele Jahrzehnte erar-beitet haben. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen und von ihnen zulernen, ohne auf kritische Fragen zu verzichten und ohne reduktionis-tischen Antworten anheimzufallen, wird als ein vielversprechenderAusweg aus dieser historisch entstandenen Asymmetrie erkennbar.Um einen solchen interkulturellen Diskurs sinnvoll führen zu können,ist es allerdings notwendig, philosophische Problemstellungen durchverschiedene sprachliche Kontexte hindurch so aufeinander zu bezie-hen, dass (selbst-)kritische Lernprozesse überhaupt auch nur in Gangkommen können. Der vorliegende Sammelband ist ein Versuch, dafürVoraussetzungen zu schaffen: und zwar durch die Entfaltung des Be-griffs der Selbstkultivierung in seinen verschiedenen Dimensionen.

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