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Im Blickpunkt 45 Dr. Michael Lehning, Dr. Perry Bartelt, Eidgenössisches In- stitut für Schnee- und Lawinenfor- schung, Fluelastr. 11, CH-7260 Davos- Dorf Stehen wir dem Naturphänomen Lawine passiv und hilflos gegen- über? Oder lassen sich Lawinen vorhersagen und Lawinenkatastro- phen wie im Februar grundsätzlich vermeiden? Um diese Frage zu be- antworten, muß man die Schnee- decke betrachten. Viele Prozesse der Ablagerung und lokalen Um- wandlung von Schnee lassen sich inzwischen modellieren und hel- fen bei der Einschätzung des Ge- fahrenpotentials. Trotzdem ist die gleichzeitige Erfassung aller lawi- nenbildenden Faktoren und die Vorhersage ihrer Entwicklung der- zeit noch nicht möglich. Dies ge- meinsam mit der ausgeprägten Abhängigkeit von den lokalen Be- dingungen führt dazu, daß Auftre- ten und Größe einer bestimmten Lawine (noch) nicht vorhergesagt werden können. Fortschritte in der Modellierung der Schneedecke und der Windverfrachtung von Schnee sind jedoch wichtige Mei- lensteine auf dem Weg zu einer solchen Vorhersage. D ie Gretchenfrage „Wann ent- steht eine Lawine?“ ist im Prinzip einfach zu beantwor- ten: Eine Lawine entsteht, wenn die innere Stabilität der Schneedecke nicht ausreicht, ihr Eigengewicht zu halten. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail: Schon die Ab- schätzung des Eigengewichts einer räumlich variablen Schneedecke an einem Hang ist schwierig. Damit eine Lawine losreißen kann, muß sowohl die Verbindung zum Unter- grund (Boden oder eine weitere Schneeschicht) als auch zur umge- benden Schneedecke verloren gehen (Abb. 1). Ersteres bezeichnet man als basalen Scherbruch und letzteres als Zugriß 1) . Die Stabilität eines Hanges, die sich aus der maximalen basalen Scherspannung bis zum Bruch und der Zugfestig- keit entlang einer möglichen verti- kalen Bruchlinie ergibt, hängt von vielen Faktoren ab und weist eine sehr hohe räumliche und auch zeit- liche Variabilität auf [1]. Konkret heißt das, daß es mit heutigen Mit- teln nicht möglich ist, die Stabilität eines Hanges genau zu bestimmen. Jedoch verfügen wir zunehmend über Mittel, die es uns erlauben, hilfreiche Analysen und Abschät- zungen vorzunehmen. Wesentliche Informationen stammen aus dem Aufbau der Schneedecke. Traditio- nell wird dieser untersucht, indem man ein Profil gräbt und dann mit Lupe, Federwaage und Thermome- ter die Kornformen, Dichten, Tem- peraturen und Härten der einzelnen Schichten bestimmt. Diese zeitauf- wendige Handmessung kann nicht in hoher zeitlicher Frequenz und flächendeckend im Hochgebirge durchgeführt werden. Deshalb wird die Entwicklung der Schneedecke mit Hilfe von automatischen Mes- sungen der bestimmenden meteo- rologischen Faktoren (Abb. 2) modelliert. Diese Faktoren sind Luft- und Schneeoberflächentempe- ratur, Temperatur am Boden, Luft- feuchte, Intensität der kurzwelligen Strahlung, Wind und Gesamt- schneehöhe. Aus der gemessenen Gesamtschneehöhe läßt sich auch der Neuschneezuwachs bestimmen. Diese Methode ersetzt die Nieder- schlagsmessung, die unter hoch- alpinen Bedingungen nicht mit ausreichender Genauigkeit reali- sierbar ist. Der Neuschneezuwachs wird errechnet aus dem Vergleich zwischen der Änderung der gemes- senen Gesamtschneehöhe mit der modellierten Setzung der Schnee- decke [2]. Das Schneedeckenmodell SNOWPACK [2] des Eidgenössi- schen Instituts für Schnee- und La- winenforschung (SLF) simuliert seit dem vergangenen Winter die lokale Schneedecke für ca. 50 automati- sche Wetter- und Schneestationen, die über das Schweizer Hochgebir- ge in Höhen zwischen 2000 und 3000 m verteilt sind (Abb. 3). Das Modell berücksichtigt die folgenden physikalischen Prozesse (siehe Infokasten): Setzung der Schneedecke Temperaturtransport in der Schneedeckenentwicklung und Lawinen Die Modellierung der Schneedecke hilft bei der Einschätzung des Gefahrenpotentials Michael Lehning und Perry Bartelt Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 6 0031-9279/99/0606-45 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Abb. 1: Eine Schneebrettlawine geht ab, wenn zum einen der Schnee aufgrund einer Schwachschicht in der Schneedecke die Verbin- dung zum Untergrund verliert und zum anderen die Schnee- decke entlang einer vertikalen Bruchlinie (der deutlich sicht- baren Abrißkante) reißt. Abb. 2: Eine der 50 IMIS-Schneestationen (Interkantonales Meß- und Informationssystem), die alle 30 Minuten automatisch die wich- tigsten meteorologischen Parameter an das Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF übermitteln. Die Meßgrößen wer- den zur direkten Einschätzung der Lage und als Randbedingun- gen für die Schneedeckenmodellierung benötigt. 1) Diese Terminologie trifft besonders für Schneebrettlawinen zu.

Schneedeckenentwicklung und Lawinen: Die Modellierung der Schneedecke hilft bei der Einschätzung des Gefahrenpotentials

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Im Blickpunkt

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Dr. Michael Lehning,Dr. Perry Bartelt,Eidgenössisches In-stitut für Schnee-und Lawinenfor-schung, Fluelastr. 11,CH-7260 Davos-Dorf

Stehen wir dem NaturphänomenLawine passiv und hilflos gegen-über? Oder lassen sich Lawinenvorhersagen und Lawinenkatastro-phen wie im Februar grundsätzlichvermeiden? Um diese Frage zu be-antworten, muß man die Schnee-decke betrachten. Viele Prozesseder Ablagerung und lokalen Um-wandlung von Schnee lassen sichinzwischen modellieren und hel-fen bei der Einschätzung des Ge-fahrenpotentials. Trotzdem ist diegleichzeitige Erfassung aller lawi-nenbildenden Faktoren und dieVorhersage ihrer Entwicklung der-zeit noch nicht möglich. Dies ge-meinsam mit der ausgeprägtenAbhängigkeit von den lokalen Be-dingungen führt dazu, daß Auftre-ten und Größe einer bestimmtenLawine (noch) nicht vorhergesagtwerden können. Fortschritte inder Modellierung der Schneedeckeund der Windverfrachtung vonSchnee sind jedoch wichtige Mei-lensteine auf dem Weg zu einersolchen Vorhersage.

D ie Gretchenfrage „Wann ent-steht eine Lawine?“ ist imPrinzip einfach zu beantwor-

ten: Eine Lawine entsteht, wenn dieinnere Stabilität der Schneedeckenicht ausreicht, ihr Eigengewicht zuhalten. Doch wie so oft steckt derTeufel im Detail: Schon die Ab-schätzung des Eigengewichts einerräumlich variablen Schneedecke aneinem Hang ist schwierig. Damiteine Lawine losreißen kann, mußsowohl die Verbindung zum Unter-grund (Boden oder eine weitereSchneeschicht) als auch zur umge-benden Schneedecke verlorengehen (Abb. 1). Ersteres bezeichnetman als basalen Scherbruch undletzteres als Zugriß1). Die Stabilitäteines Hanges, die sich aus dermaximalen basalen Scherspannungbis zum Bruch und der Zugfestig-keit entlang einer möglichen verti-kalen Bruchlinie ergibt, hängt vonvielen Faktoren ab und weist einesehr hohe räumliche und auch zeit-liche Variabilität auf [1]. Konkretheißt das, daß es mit heutigen Mit-teln nicht möglich ist, die Stabilität

eines Hanges genau zu bestimmen.Jedoch verfügen wir zunehmendüber Mittel, die es uns erlauben,hilfreiche Analysen und Abschät-zungen vorzunehmen. WesentlicheInformationen stammen aus demAufbau der Schneedecke. Traditio-nell wird dieser untersucht, indemman ein Profil gräbt und dann mitLupe, Federwaage und Thermome-ter die Kornformen, Dichten, Tem-peraturen und Härten der einzelnenSchichten bestimmt. Diese zeitauf-wendige Handmessung kann nichtin hoher zeitlicher Frequenz undflächendeckend im Hochgebirgedurchgeführt werden. Deshalb wirddie Entwicklung der Schneedeckemit Hilfe von automatischen Mes-sungen der bestimmenden meteo-rologischen Faktoren (Abb. 2)modelliert. Diese Faktoren sindLuft- und Schneeoberflächentempe-ratur, Temperatur am Boden, Luft-feuchte, Intensität der kurzwelligenStrahlung, Wind und Gesamt-schneehöhe. Aus der gemessenen

Gesamtschneehöhe läßt sich auchder Neuschneezuwachs bestimmen.Diese Methode ersetzt die Nieder-schlagsmessung, die unter hoch-alpinen Bedingungen nicht mitausreichender Genauigkeit reali-sierbar ist. Der Neuschneezuwachswird errechnet aus dem Vergleichzwischen der Änderung der gemes-senen Gesamtschneehöhe mit dermodellierten Setzung der Schnee-decke [2].

Das SchneedeckenmodellSNOWPACK [2] des Eidgenössi-schen Instituts für Schnee- und La-winenforschung (SLF) simuliert seitdem vergangenen Winter die lokaleSchneedecke für ca. 50 automati-sche Wetter- und Schneestationen,die über das Schweizer Hochgebir-ge in Höhen zwischen 2000 und3000 m verteilt sind (Abb. 3). DasModell berücksichtigt die folgendenphysikalischen Prozesse (sieheInfokasten):� Setzung der Schneedecke� Temperaturtransport in der

Schneedeckenentwicklung und LawinenDie Modellierung der Schneedecke hilft bei der Einschätzung des Gefahrenpotentials

Michael Lehning und Perry Bartelt

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 60031-9279/99/0606-45$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Abb. 1: Eine Schneebrettlawine geht ab, wenn zum einen der Schneeaufgrund einer Schwachschicht in der Schneedecke die Verbin-dung zum Untergrund verliert und zum anderen die Schnee-decke entlang einer vertikalen Bruchlinie (der deutlich sicht-baren Abrißkante) reißt.

Abb. 2: Eine der 50 IMIS-Schneestationen (Interkantonales Meß- undInformationssystem), die alle 30 Minuten automatisch die wich-tigsten meteorologischen Parameter an das Institut für Schnee-und Lawinenforschung SLF übermitteln. Die Meßgrößen wer-den zur direkten Einschätzung der Lage und als Randbedingun-gen für die Schneedeckenmodellierung benötigt.

1) Diese Terminologietrifft besonders fürSchneebrettlawinen zu.

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 646

Im Blickpunkt

Schneedecke� Schneeumwandlung (Metamor-

phose)� Phasenübergänge (Schmelzen,

Wiedergefrieren) und Wasser-transport

� Energie- und Massenaustauschmit der Atmosphäre (Strahlung,sensible und latente Wärme, Nie-derschlag, Schneeverfrachtung).Für die Lawinenbildung ist der

Schichtaufbau der Schneedeckeentscheidend, weil der basaleScherbruch fast ausschließlich anSchichtgrenzen stattfindet [1]. Sol-che Schichtgrenzen sind im allge-meinen Übergänge zwischenSchneeablagerungen unterschiedli-chen Alters, sie können aber auchdurch Prozesse wie Tiefenreifbil-dung und Schmelzen-Wiedergefrie-ren innerhalb einer Schicht entste-hen. Deshalb ist es besonders wich-tig, die Umwandlung des Schnees,die sog. Metamorphose, zu be-schreiben.

Eine erste Unterscheidungbetrifft den frisch abgelagertenSchnee: Wurde er durch den Windverfrachtet und mechanisch umge-wandelt oder sind seine dendriti-schen Neuschneekristalle (Abb. 4a)weitgehend erhalten geblieben?Nach einem Neuschneefall findetdann eine abbauende Umwandlungzu körnigem Altschnee statt (Abb.4c). Diese geht – nach einer kurz-fristigen Schwächung der Schnee-decke durch den Verlust der dendri-tischen Verzahnungen – mit einerZunahme der Stabilität einher. Dienachfolgende aufbauende Metamor-phose ist eine Umkristallisation, diestark vom Temperaturgradientenabhängt. Bei dünnen Schneedecken

im Herbst und bei klaren Nächtenkönnen nahe an der OberflächeTemperaturgradienten von bis zu100 K/m auftreten. Dies führt überkantige Formen hin zum gefürchte-ten Tiefenreif, auch Schwimm-schnee genannt (Abb. 4).Schwimmschnee hat eine sehr ge-ringe Scherstabilität und gehörtneben dem (strukturell ähnlichen)eingeschneiten Oberflächenreif zuden häufigsten Schwachschichten,an denen ein Schneebrett bricht [3].

Sowohl die abbauende als auchdie aufbauende Metamorphose derKristalle werden durch den mikro-skopischen Wasserdampfdruck inunmittelbarer Nähe des Kristallsbestimmt. Dabei spielt die Ober-flächenenergie der Schneekristalleeine wichtige Rolle. Sie bewirktnämlich, daß bei der abbauendenMetamorphose die Wasserdampf-moleküle verstärkt an konkavenOberflächen abgelagert werden, diesich am Berührungspunkt zweierKörner ergeben. So kommt es zumAufbau von Verbindungsbrücken[3] und einer Zunahme der Stabi-lität. In einem späteren Entwick-lungsstadium bewirkt hingegen einhoher Temperaturgradient als trei-bende Kraft, daß bereits Einzelkri-stalle, die innerhalb einer Schnee-schicht nahe beieinander liegen,unterschiedliche Temperaturen auf-weisen. Dadurch ergeben sich imGleichgewicht lokal unterschiedli-che Wasserdampfdrücke, und Korn-wachstum findet statt auf Kostender kleineren Körner, die ver-schwinden [3]. Durch die Entwick-lung über kantige Formen hin zuhohlen Becherkristallen (Tiefenreif)gehen Kontaktflächen zwischen denKörnern verloren – die Stabilitätnimmt ab. Während einer Wärme-periode oder bei steigenden Tempe-

Abb. 3: In den letzten Jah-ren wurde dasNetz der automati-schen Stationen imSchweizer Alpen-raum stark ausge-baut. Neben denIMIS-Stationenwerden schon seitlängerer Zeit ver-gleichbare ENET-Stationen zusam-men mit MeteoSchweiz betrieben.

Abb. 4: Die verschiedenen Formen von Schneekristallen: Dendriten, Neuschnee (a), filzigeFormen (b), körniger Altschnee (c), kantiger Schnee (d), Tiefenreif mit Bechern (e),dreidimensionaler Becherkristall (f). Der Abstand der Gitterlinien beträgt 2 mm.

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 6

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2) Während des Winterswird das Schnee-deckenmodell für alleIMIS-Stationen instündlicher Auflösunggerechnet. Die Ergeb-nisse stehen in „real time“ dem Lawinen-warndienst und aus-wärtigen lokalen Ex-perten zur Verfügung.

raturen im Frühjahr erzeugenSchmelzumwandlungen grobkörni-gen Sulz- und Firnschnee. Die mitder Erwärmung verbundene Durch-feuchtung der Schneedecke führt zueinem massiven Festigkeitsverlust,da das Wasser wie ein Schmiermit-tel wirkt. Schon vor der vollständi-gen Durchfeuchtung bis auf denBoden kann eine Destabilisierungan einer Schichtgrenze stattfinden,wenn eine Schicht mit kleinen Kör-nern aufgrund des Kapillareffektseinen Stauhorizont bildet. Deshalbist es auch wichtig zu wissen, ob dieSchneedecke im Verlauf eines schö-nen Tages isotherm wird und freiesWasser aufweist. Das Wiedergefrie-ren während der Nacht erzeugtdann aber eine sehr stabile Schnee-decke.

Diese komplexen Zusammen-hänge könnten auf mikroskopischerSkala durch eine Wachstumskinetikder Kristalle und Transportglei-chungen (Temperatur, Wasser-dampf, Wasser) beschrieben wer-den. Für die während des Wintersim Stundentakt durchgeführtenRechnungen ist jedoch eine verein-

fachende Parametrisierung erfor-derlich2). Deshalb wird in SNOW-PACK die Metamorphose durchsemi-empirische Entwicklungsglei-chungen der Parameter Korngröße,Größe der Verbindungsbrücken,Dendrizität („Neuschneeartigkeit“)und Sphärizität (Grad der Rund-heit) beschrieben [2]. Die Entwick-lungsgleichungen wurden ausLaborexperimenten abgeleitet, diedie Schneeumwandlung für unter-schiedliche Anfangsbedingungenund unter verschiedenen Tempera-turgradienten untersuchten. SolcheExperimente erlauben es dannauch, diese Parameter in Beziehungzu setzen zu den kontinuumsme-chanischen Größen Temperaturleit-fähigkeit und Viskosität, die zurmakroskopischen Berechnung vonTemperaturtransport und Setzungnötig sind (s. Infokasten). So hängtzum Beispiel die Viskosität u. a.von der Korngröße und der Größeder Verbindungsbrücken ab. DieseBeziehungen sind nötig, um einrealistisches Setzungsverhalten inder Schneedecke zu simulieren.Eine Schicht mit Tiefenreif hat eine

erheblich größere Viskosität als ei-ne solche mit körnigem Altschneegleicher Dichte und Temperatur.Würde die Viskosität von Schneenur von der Dichte abhängen, sowürden Schneeschichten geringerDichte solange komprimiert, bis ein(unrealistisch) glattes Dichteprofilentstanden wäre.

Die Methode der finiten Elemen-te ist gut geeignet, die zeitabhängi-gen Prozesse an der Schneeober-fläche zu beschreiben. Zur Simula-tion der lokalen Schneeprofilekommt eine eindimensionale Ver-sion des Schneedeckenmodells zumEinsatz. Eine zweidimensionaleVersion wird benötigt, um z. B.Auflasten auf Lawinen-Stützverbau-ungen zu berechnen. Durch dasHinzufügen oder Wegnehmen vonElementen werden Schneefall, Ab-lagerung oder Winderosion berück-sichtigt. Der wichtigste Energieaus-tausch findet über die Kurzwellen-strahlung statt, wobei die Menge anabsorbierter Strahlung mit Hilfe derGrößen Oberflächenalbedo (Rück-strahlungsvermögen einer diffusreflektierenden Oberfläche) und

Schnee ist ein poröser Stoff, deraus den drei Komponenten Eis,Wasser und Luft (Dampf) besteht.Die Volumenanteile der Kompo-nenten bezeichnen wir mit O i, O wund O a und benutzen sie, um diephysikalischen Eigenschaften vonSchnee mathematisch zu beschrei-ben. Zum Beispiel ergibt sich dieSchneedichte rs zu:

rs = ri O i + rw O w + ra O a.

Hier bezeichnen ri, rw und ra dieDichten von Eis, Wasser undfeuchter Luft. Es gilt immer:

O i + O w + O a = 1.

Schnee ist trocken, falls O w = 0.Eislamellen können in der Schnee-decke auch vorkommen. Dann giltO i = 1 und O w = O a = 0.

Die physikalischen Gesetze vonMassen-, Energie- und Impulser-haltung für die drei Komponentenführen in einem eindimensionalenKoordinatensystem zu einem Satzvon neun Differentialgleichungen.Die Anzahl der Gleichungen läßtsich reduzieren, indem man diefolgenden Annahmen trifft: �Alle drei Komponente haben diegleiche Temperatur Ts. �Die Phasen Wasser und Luft tra-gen einen verschwindend kleinenTeil des Eigengewichts. Deshalbgenügt eine Impulserhaltungsglei-chung nur für die Eismatrix.

Wir verwenden zur numerischenLösung der Gleichungen die Me-

thode der finiten Elemente. DieLösung der Impulsgleichung in ei-nem Lagrangeschen Koordinaten-system erfüllt automatisch denMassenerhalt innerhalb derSchneedecke. An der Schneeober-fläche kann Masse durch die Pro-zesse Schneefall (Regen), Wind-transport oder Reifbildung hinzu-gefügt werden. Massenverlust istmöglich durch Winderosion undSublimation an der Schnee-oberfläche oder Schmelzwasserab-fluß am Boden. Es verbleiben vierDifferentialgleichungen für dieUnbekannten Temperatur Ts, Was-sergehalt O w, Spannung s, undDampfdruck pa, in Abhängigkeitder Zeit t und der Schneehöhesenkrecht zum Boden z:

Temperatur (Energieerhaltung)

rscs(∂Ts/∂t) – ks(∂2Ts/∂z2)= Qpc + Qsw + Qmm,

mit der spezifischen Wärmekapa-zität cs und der Wärmeleitzahl ks.Die rechte Seite der Gleichung be-steht aus drei Quellen- und Sen-kentermen: Qpc bezeichnet denEnergieaustausch aufgrund vonPhasenänderung (Schmelzen undWiedergefrieren), Qsw den Ener-giegewinn durch die kurzwelligeStrahlung und Qmm faßt alle Ener-gieflüsse zusammen, die sich auf-grund der mikroskaligen Schnee-metamorphose ergeben. Dabeihandelt es sich um Phasenände-

rungen zwischen den Dampf- undEisphasen unter Berücksichtigungder Änderung der Oberflächenen-ergie der Eiskristalle.

Als Randbedingung an derGrenzfläche zwischen Schnee undLuft haben wir den Energieaus-tausch mit der Atmosphäre, dersich aus fühlbarer Wärme qsh, la-tenter Wärme qlh, und langwelligerStrahlung qlw zusammensetzt:

ks(∂Ts/∂z) = qsh + qlh + qlw.

Wasserdampfdiffusion (Massen-erhaltung der Dampfphase):

∂(ra O a)/∂t + Da(∂2pa/∂z2)= –LQmm.

Der Diffusionskoeffizient Da be-stimmt die Bewegung von Wasser-dampf in der Schneedecke, die fürden Energietransport und die Me-tamorphose von Bedeutung ist. List die Sublimationswärme. Dierechte Seite der Gleichung be-schreibt den Massenaustauschzwischen den KomponentenDampf und Eis.

Setzung (Impulserhaltung der Eisphase):

∂s/∂z + r g coso = 0.

Hier ist s die Spannung in derEismatrix senkrecht zum Hangund o die Hangneigung. Schnee istein viskoses Material, das sich un-ter seinem Eigengewicht ständig

verformt oder kriecht. Als Materi-algleichung verwenden wir dasMaxwell-Gesetz:

e·c = s/h,

das die Verformungsrate e·c mit derAuflast verknüpft. Die Viskosität hhängt nichtlinear ab von Schnee-dichte, Temperatur und vor allemder Mikrostruktur (siehe Text).Dendritischer Neuschnee hat einegeringe Viskosität, und deshalbwerden nach großen Neuschnee-fällen hohe Setzungsraten beob-achtet.

Wassertransport (Massen-erhaltung der Wasserphase)

∂ O w/∂t – ∂Jw/∂z = Mpc+ Mr.

Bei hohen Temperaturen, wennSchmelzen auftritt, muß der Flußvon Wasser durch die Schnee-decke, Jw, behandelt werden. DieQuellen- oder Senkenterme Mpcund Mr stehen für Massenände-rungen aufgrund von Phasenwech-sel und Regen.

Die numerische Lösung mit Hil-fe der Methode der finiten Ele-mente erlaubt es, die Schichtstruk-tur der Schneedecke realistisch zumodellieren. Dies ist nötig, um dieschichtweise Ablagerung vonNeuschnee, die mögliche Bildungvon Oberflächenreif und die Bil-dung von Schwachschichten in-nerhalb der Schneedecke nach-vollziehen zu können.

Grundzüge der Schneedeckenmodellierung

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 648

Im Blickpunkt

Extinktionskoeffizient beschriebenwird. Ähnlich wichtig ist die lang-wellige Abstrahlung während klarerNächte. So läßt sich ein vollständi-ger Satz an Randbedingungen be-stimmen, der die Simulation derSchneedeckenentwicklung über ei-nen Winter ermöglicht. Abbildung 5zeigt den simulierten Schnee-deckenaufbau für einen hochalpi-nen Standort in der Nähe von Klo-sters in Graubünden. Ebenso lassensich die Profile von verschiedenenParametern wie Dichte und Tempe-ratur berechnen (Abb. 6).

Die starken Schneefälle vom Fe-bruar kamen in drei Schüben undfielen auf eine instabile Altschnee-decke mit Tiefenreif (blau ∧, inAbb. 5). Der oberflächennahe Tie-fenreif hatte sich während ausge-dehnter Schönwetterperioden imDezember und Januar gebildet. DerNeuschnee selbst hat sich nur lang-sam zu körnigem Altschnee umge-wandelt. Diese und weitere Infor-mationen aus der Modellierung, wiedie Entwicklung von Dichte undTemperatur, die abgelagerte Massean Neuschnee während unter-schiedlicher Zeitintervalle, die Set-zungsaktivität des Schnees und dieBildung von Oberflächenreif, ste-hen den Lawinenwarnern zur Ver-fügung und ergänzen die Informa-tionen aus Handbeobachtungen.Durch Modelle der künstlichen In-telligenz (Expertensysteme, neuro-nale Netze) und mit statistischenAnsätzen wird zusätzlich ansatz-weise versucht, aus der Summe derInformationen automatisch eineGefahreneinschätzung zu erhalten.Die entscheidende und endgültigeInterpretation und Kombination al-

ler Informationen sowie die resul-tierende Gefahrenbeurteilung blei-ben jedoch zur Zeit und in nähererZukunft noch dem Lawinenexper-ten vorbehalten.

Wir arbeiten intensiv daran, dieStabilität der Schneedecke durcheine verbesserte Modellierung di-rekt abzuschätzen. Für eine Stabi-litätsabschätzung müssen die me-chanischen Eigenschaften Scher-und Zugfestigkeit modelliert wer-den. Eine solche Erfassung dermittleren Stabilität kann nur eineWahrscheinlichkeit (oder Häufig-keit) für das Auftreten von Lawinenin einem Gebiet liefern. Eine deter-ministische Lawinenprognose (Ein-treten, Zeit und Größe des Ereig-nisses) für den Einzelhang wirdweiterhin unrealistisch bleiben. Einvielversprechender Fortschrittzeichnet sich in naher Zukunftdurch die Kombination vonSchneedeckenmodellierung mit ei-nem Modell der Schneeverfrach-tung ab. Damit läßt sich der quanti-tative Effekt der Verfrachtungdurch den Wind, die die Lawinen-bildung entscheidend beeinflußt,abschätzen.

Literatur[1] W. Munter, 3×3 Lawinen - Ent-

scheiden in kritischen Situationen,Agentur Pohl und Schellhammer,1997.

[2] M. Lehning, P. Bartelt, R. L. Bro-wn, T. Russi, U. Stöckli, M. Zim-merli, Cold Regions Science andTechnology (im Druck), 1999.

[3] D. McClung, P. Schaerer, Theavalanche handbook, The Moun-taineers, 1993.

Abb. 5:Berechnete Schneehöhe und Schnee-deckenaufbau (Kornformen) für die Station Klosters im vergangenen Winter.Die Symbole bedeuten Neuschnee (+, grün), Filz (/, dunkelgrün), körnige

Formen (��, rosa), kantige Formen (��, hellblau), Becherkristalle (∧∧, dunkel-blau), Schmelzformen (��, rot), Ober-flächenreif (∨∨, violett), Eislinsen (—, cyan).

Abb. 6: Modellierte Profile von Dichte und Tem-peratur am 9. Februar 1999 für die Sta-tion Klosters. Die eingeschneite Schichtmit Becherkristallen in einer Höhe vonca. 1,2 m (Abb. 5) hat auch eine geringereDichte und ist eine Schwachschicht.