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Schweiz am Wochenende 26. Mai 2018 Eines Nachts um drei Uhr wartet der Philosophiestudent Heinz Helle in einer Werbeagentur in Hamburg auf eine Rückmeldung aus der Gra- fik. Da öffnet er Google und tippt: «Schreiben studieren». Zur glei- chen Zeit merkt die Fotofachfrau Julia Weber auf einer Reportage mit einem Fotografen in Simbabwe, dass sie die Menschen noch lieber als in Bildern in Worten erfasst. We- ber und Helle bewerben sich am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und studieren ab Herbst 2009 «Literarisches Schreiben». Sie wird Dauergast in der Studen- ten-WG, in der er wohnt. Die an- gehenden Literaten lesen sich näch- telang bei Kaffee, Wein und Zigaret- ten Texte vor, diskutieren über Sprache und den Sinn des Schrei- bens. Julia Weber und Heinz Helle sind nicht die Einzigen, die sich an diesem Institut verlieben. Sie kom- men nicht sofort zusammen, beide sind vergeben. Doch das ändert sich. Im Winter 2011, zurück aus einer Schreib- woche zu zweit bei Wind und Regen auf Helgoland, antworten sie einer Bekannten, die sie am Bahnhof Biel treffen: Ja, sie seien ein Paar. Nach dem Studium ziehen sie in der ehe- maligen WG zusammen, bekommen Tochter Nelly und heiraten. Heute wohnen sie in Zürich. Der präzise Klang «Schreiben ist eine Welt, die man teilt», sagt sie. «Biel war in jeder Hinsicht eine aufwühlende Zeit», sagt er. «Unsere Liebesbeziehung war für mich auch ein Grund, das literarische Schreiben ernst zu neh- men.» Der 39-jährige Autor und die 35-jährige Autorin teilen eine Be- geisterung für lyrisch-präzise Sprachkonstruktionen. Und die Ge- wohnheit, ihre Geschichten von Hand in Notizbüchern zu beginnen. Der Münchner Heinz Helle veröf- fentlichte 2014 bei Suhrkamp «Der beruhigende Klang von explodie- rendem Kerosin», 2015 folgte «Ei- gentlich müssten wir tanzen» – bei- des eher dystopische Romane mit männlichen Protagonisten. Julia Weber gab ihr Debüt letztes Jahr beim Limmat Verlag. «Immer ist al- les schön» nimmt abwechselnd die Perspektive einer alleinerziehen- den, alkoholabhängigen Mutter und deren tapferen, eigenwilligen Tochter ein. Postkarten, Skizzen, Fotografien, Malereien, Pflanzen, Lichterketten und Teppiche schmücken die Ge- nossenschaftswohnung mit Balkon und Altbau-Charme. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und ein Arbeitszim- mer. Weber und Helle arbeiten in der Nähe des Fensters an einem lan- gen Tisch, sie an der einen Längssei- te, er an der anderen. An der Wand hängen Blätter mit selbst gezeichne- ten Wochenplänen: «Lesungen sind auch Arbeit (nicht vergessen)», «Di & Do zusammen essen» oder «Le- sen, Schreiben, Nelly». Fliessende Übergänge Die fünfjährige Nelly ist heute nicht im Kindergarten, weil Feiertag ist, und beobachtet das Fotoshooting im Wohnzimmer. «Das grösste Wohnzimmer der Welt», findet sie, und ihr Vater ergänzt: «Unserer Welt.» Hier verlaufen die Grenzen zwischen Berufs- und Familienleben fliessend. «Eine klare Trennung gin- ge nicht, weil Schreiben überall stattfindet», sagt Weber. Ihr nächstes Buch handelt von ei- ner modernen Hexe. «Unser tägli- ches Leben ist für mich immer auch Material», sagt Helle. Im Sep- tember erscheint sein neuer Ro- man «Die Überwindung der Schwerkraft» über die Frage, ob man Kinder in die Welt setzen soll oder nicht. Für ungestörtes Arbei- ten haben beide je ein Atelier in der Stadt. Nicht immer alles einfach Am Ende von «Immer ist alles schön» dankt Weber unter ande- rem ihrem Mann für «das Reden», «das Wachhalten» und «das Menschbleiben nicht Maschinewer- den». Meistens ist er ihr erster Le- ser und umgekehrt. Immer noch le- sen sie sich auch gerne ihre Texte vor. Sie unterstützen und verbes- sern sich gegenseitig – im Unter- schied zu anderen, vor allem älte- ren Paaren der Literatur, bei denen oft die Frau im Schatten des Man- nes blieb. Zum Beispiel ist überlie- fert, dass Véra Nabokov, die ihren Mann Vladimir beriet, lektorierte und übersetzte, das erste Kapitel von «Lolita» vor der Gartenmüllver- brennungsanlage rettete. Als Konkurrenten sehen sich Heinz Helle und Julia Weber nicht, «wobei es Zeiten gab, in denen es nicht so einfach war», wie sie sagt. «Stimmt, als du noch keinen Verlag hattest.» – «Du schon das zweite Buch und ich immer noch am ers- ten, da wurde ich ungeduldig.» In- zwischen haben sich beide einen Namen gemacht, Preise gewonnen, Stipendien erhalten. Sie haben vor, weiterhin nicht gleichzeitig Bücher zu veröffentlichen, weil es sonst Terminkollisionen gäbe. Denn vor Arbeit überquellende Wochenpläne möchte das Paar nicht zeichnen müssen. Schreiben, lieben, leben unter einem Dach Das Autorenpaar Heinz Helle und Julia Weber schafft es, Arbeit, Beziehung und Familie zu vereinen Nächtelang feilten sie an Texten, philosophierten übers Schreiben und verliebten sich. KEYSTONE VON CÉLINE GRAF «Schreiben ist eine Welt, die man teilt.» JULIA WEBER Dieser Text wurde durch die Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung für Medienförderung ermöglicht. «Unsere Beziehung war für mich auch ein Grund, das lite- rarische Schreiben ernst zu nehmen.» HEINZ HELLE Karl’s kühne Gassenschau. Diese drei Wor- te stehen für Theater im Grossformat mit spektakulären Effekten und waghalsigen Stunts. Nach zwei erfolgreichen Saisons in Winterthur feierte das Stück «Sektor 1» nun seine Premiere in Olten. Paul Weilen- mann, Regisseur der Produktion, begrüsst die «Schweiz am Wochenende» wohlge- launt auf dem Südwest-Areal in Olten und führt uns auf einen exklusiven Rundgang hinter die Kulissen. «Wir haben alles wie- der von null aufgebaut. Als wir hierher- kamen, gab es keine Wege, keinen Strom, kein Abwasser — nichts», erklärt Weilen- mann mit einer Geste über das Gelände. «Man könnte meinen, wir machen ja nur ein Theaterstück, aber am Schluss isch es ebe scho huere vill», sagt der Regisseur fast ein wenig verwundert ob der Grösse der eigenen Produktion. Auch wenn die Windmaschinen, Flam- menwerfer und weiteren technischen Spielereien vor sich hindösen, herrscht keineswegs Stillstand auf dem Areal. Aus Zelten und Containern laufen Leute ein und aus, Techniker/-innen sind emsig am Hämmern und am Bohren, und ein kleiner Bagger dreht auf dem Kiesweg seine Run- den. Als ein Techniker mit dem Fahrrad vorbeifährt und zum Gruss freundlich mit der Glocke klingelt, wähnt man sich end- gültig in einer Kleinstadt, deren Alltag sich einzig um das Theaterstück dreht. «Sektor 1» spielt in einer nicht allzu fer- nen Zukunft, in der die Menschheit wegen grosser Abfallberge unterzugehen droht. Die Lösung für das Problem: Der Müll wird eingesammelt und mittels Raketen in den Orbit hinaufgejagt. Damit es auch sauber bleibt, werden Umweltsünden hart be- straft. Wer hingegen brav Öko-Punkte sam- melt, darf auf einen Urlaub in die Wohl- fühloase «Sektor 1». Das friedliche Ferien- resort mit grüner Wiese und Enten im Teich entpuppt sich aber schnell als Trug- bild, denn in «Sektor 1» herrscht ebenfalls ein Regime. Als es zu allem Unheil auch noch Abfallsäcke vom Himmel regnet, bahnt sich ein Aufstand an. Abstieg ins Herz Die Tour durch das Areal beginnt mit ei- nem Blick in die Holz- und Töffliwerkstatt. Nebenan ist ein monströses Gefährt par- kiert, das ohne weiteres in die apokalypti- sche Filmreihe «Mad Max» passen würde. Über die Bühne und den Kunstrasen der Wohlfühloase «Sektor 1» geht es weiter un- ter die Erde. Eine steile Stahltreppe führt in das Herz der unteren Bühne hinab – die «Wundertüte», wie sie die Gassenschau- Crew nennt. Wer die vorherigen Produkti- onen der Karl’s kennt, der weiss, dass im Untergrund ihrer Bühnenbilder so manch eine Überraschung schlummert. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, schliesslich Karl’s kühne Gassenschau gastiert mit «Sektor 1» bis im Herbst in Olten. Ein Blick hin- ter die Kulissen mit Regisseur Paul Weilenmann. VONDARIO POLLICE Dröhnende Maschinen und fliegende Abfallsäcke Karls kühne Gassenschau geizt nicht mit Effekten Die Wundert der Erde kultur W 5 Seine Bühne erstreckt sich hinaus aus der Oper, die Hintertreppe hinunter, bis auf die Strasse mit den Kaugummiflecken. Kurz: Wo immer Mauro Peter hingeht, fin- det er ein passendes Podium. «Es gehört schon etwas Narzissmus dazu», feixt der international wohl gefragteste Schweizer Jung- tenor zur Begrüssung. Mit «dazu» meint er den Beruf des Sängers, der sich in seinem Fall zur steilen Karriere entwickelte: Von der Mu- sikhochschule weg 2013 ans Zür- cher Opernhaus engagiert, seit der Schubertiade Hohenems 2012 ein gefragter Liedsänger, ist der Luzerner mit der glasklaren Dikti- on und strahlenden Stimme auf beiden Bühnen unterwegs. Und am kommenden Montag ge- meinsam mit Kult-Begleiter Helmut Deutsch für einen Liederabend in Zürich. Das Programm? Lieder von Liszt und Schubert. Natürlich, Schubert!, könnte man anmerken. Denn Mozart, Schumann und Schubert heissen die Hausheiligen von Mauro Peter. Statt sich über weniger bekannte Lieder zum klas- sischen Kernrepertoire vorzutas- ten, hat er – zack! – mit Mitte zwan- zig die Blockbuster der Klassik ein- geheimst. Ran an den Speck «Das ist Teil meiner Ambitionen», gibt der 31-Jährige entwaffnend ehrlich zu. «Ein bisserl unschwei- zerisch ist es schon, aber ich war immer selbstbewusst und nicht so der Understatement-Typ. Ich weiss, woran ich noch zu arbei- ten habe – aber ich wusste immer schon, was ich kann.» Seine Schlussfolgerung aus der Sache? «Es nützt nichts, da man muss ran an den Speck.» Und im Fall von Tenören be- steht der Speck eben aus Schu- berts «Schönen Müllerin» (2014 Livealbum), aus Schumanns «Dichterliebe» (2016 Album bei Sony) und als absoluten Höhe- punkt: die Rolle des Tamino in Mozarts Zauberflöte zur Eröff- nung der Salzburger Festspiele 2018. Die Stadt war Mozarts Hei- matstadt. Und wie die Wiener ih- ren Walzer, wissen die Salzburger ziemlich genau, wie man «ihren» Mozart zu spielen – oder zu sin- gen – hat. Dort mit Tamino anzu- treten, ist vergleichbar mit einem Bad im Haifischbecken. Champions-League-Finale «Das ist wie das Champions- League-Finale», meint Mauro Pe- ter lachend auf die Frage, wie nervös ihn der Auftritt mache. «Wenn man da nicht nervös ist, dann weiss ich auch nicht.» Es sei ihm wichtig, dass der Auftritt nicht nur «gut» oder «okay» her- auskomme, sondern: «Ich will hundert Prozent von dem zeigen, was ich draufhabe.» Umso mehr, als Mauro Peter sich als Mozart- Sänger sieht – und auch so wahr- genommen werden will. Warum Mozart? «Seine Musik und seine Schlichtheit berühren mich ex- trem», ist die ehrliche Antwort. «Da ist nichts so offensichtlich wie bei Puccini, wo die Emotio- nen zack! wumm! herauskom- men! Bei Mozart kommt alles auf eine andere, subtilere Art heraus. Das ist unfassbar schöne Musik.» Die Begeisterung ist echt, so wie alles an Mauro Peter echt und ungekünstelt erscheint. Wenn er feststellt: «Ich kommuniziere gern», gilt das im Gespräch wie auf der Bühne, wo er die Saallich- ter leuchten lässt, um besseren Kontakt zum Publikum zu haben. Worte sprudeln genauso aus ihm heraus wie Töne, sein Hoch- deutsch ist österreichisch gefärbt (Mozart lässt grüssen) und seine Sätze skandiert – alles intensiv, al- les voller Emotionen. Emotionen sind für ihn der Schlüssel zur Musik – insbesondere als Liedsänger: «Ich gehe nie mit Distanz an die Lieder heran, son- dern lasse mich wirklich berüh- ren», erklärt er und fügt an: «So werden die Geschichten zu meinen Geschichten.» Seine Lebensge- schichte begann als Sohn eines Gipsers. Darum ärgert es ihn, wenn Kandidaten bei «Deutsch- land sucht den Superstar» sagen: «Ich war ganz unten. Ich war Ma- ler.» Umso mehr, als die Show vermittelt: Drei Wochen bei Boh- len, und schon kann man singen. Mauro Peter weiss aus Erfahrung: Fürs Singen braucht es mehr. «Ich arbeite sehr viel und muss einiges einstecken können. Man muss den Willen und die Ausdau- er haben, aus seinem Talent et- was zu machen. Ohne das Ich- will-Gen geht es nicht.» «Es braucht das Ich-will-Gen» Der Schweizer Mauro Peter singt im Sommer den Tamino an der Er- öffnung der Salzburger Festspiele. VON ANNA KARDOS Kein Understatement- Typ: Tenor Mauro Peter . HO Liederabend mit Mauro Peter und Helmut Deutsch. Oper Zürich, Mo, 28. 5., 19 Uhr . wollen wir den Zuschauern nicht den gan- zen Spass verderben. Nun gut, vielleicht ein Detail: Paul Weilenmann zeigt uns drei Geräte, die wie eiserne Telefonkabinen mit kleinem Guckloch aussehen. Das seien «Personenschleudern», erläutert der Re- gisseur. Die Schauspieler stehen dabei auf einer Platte und werden mittels Druckluft in die Luft gespickt. Bei Karl’s kühne Gas- senschau scheint der Kindheitstraum vom Fliegen in Erfüllung zu gehen. Die Verantwortung für die gesamte tech- nische und materielle Umsetzung tragen Markus Heller und Otmar Faschian. Ihre Abteilung muss nicht nur über technisches Know-how verfügen, sondern auch ein Fingerspitzengefühl für das Theatralische haben. «Es reicht nicht, dass die Mechanik funktioniert. Es muss auch noch gut ausse- hen», so Weilenmann. Er muss es wissen, denn Weilenmann ist von Beginn an dabei, als die kühnen Karl’s noch wortwörtlich in den Gassen spielten. Von der Gasse zur Grossbühne Der ausgebildete Primarlehrer entdeckte seine Leidenschaft für das Varieté vor über dreissig Jahren an einem Kurs der Panto- mimenschule Ilg in Zürich. An der Schule hat Weilenmann die restlichen Gründungs- mitglieder der Gassenschau kennen ge- lernt: Brigitt Maag (Künstlerische Leitung), Markus Heller (Technische Gesamtleitung) und Ernesto Graf (Botschafter). Ab 1984 tingelten die Artisten als Karl’s kühne Gas- senschau über den Sommer von Stadt zu Stadt. Als Bühne diente ihnen die Strasse. «Wir lebten von den Hutsammlungen und hatten ein einziges Stromkabel für unsere Show. Heute haben wir die Strominfra- struktur eines kleinen Dorfes», fasst Wei- lenmann die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte zusammen. Auch wenn die Gassenschau mittlerwei- le vor einer Grossbühne mit 1400 Plätzen spielt, ist sie sich über die Jahre treu ge- blieben und hat stets kritische Themen aufgegriffen. Nach der Überalterung der Gesellschaft («Silo 8») und der globalisier- ten Wirtschaft («Fabrikk») knöpfen sich die Karl’s in «Sektor 1» die Umweltver- schmutzung vor. «Das Aufgreifen von zeit- kritischen Themen war uns immer wich- tig. Wir wollen uns aber nicht anmassen, die Zuschauer mit dem Moralfinger zu be- lehren», sagt Weilenmann. Wenn die Leu- te sich unterhalten fühlen und sich im Nachhinein ein paar Fragen stellen, dann hätten sie ihr Ziel erreicht. Seit den Anfängen hat sich Weilenmanns Position von der Bühne in den Hinter- grund verlagert, und mit Brigitt Maag ist er heute für die künstlerische Leitung der Produktionen verantwortlich. Wie sieht seine Zukunft innerhalb der Gassenschau aus? «Ich werde dieses Jahr sechzig und muss langsam den Übergang planen. Ein Enddatum sehe ich aber noch nicht. Ich besitze eine Schauspielerseele und spiele auch bei ‹Sektor 1› immer noch mit», sagt er lachend. Das ist nicht verwunderlich, denn wer würde schon auf das Fliegen ver- zichten? n. Die Überraschungen von «Sektor befinden sich aber unter der Bühne. HO/REGINA JAEGER tüte unter Karls kühne Gassenschau wurde vor 34 Jahren durch Paul Weilen- mann, Brigitt Maag, Markus Heller und Ernesto Graf gegründet. Was als Strassen-Varieté mit vier Artis- ten begann, ist zu einer Grosspro- duktion mit rund 100 Mitarbeitern angewachsen. 34 «Sektor 1», Karls kühne Gassenschau. Bis zum 1. September 2018 in Olten. Infos auf www.sektor1.ch.

Schreiben, lieben, leben «Es braucht das Ich-will …...Schweiz am Wochenende 26. Mai 2018 kultur W4 Seine Bühne erstreckt sich hinaus aus der Oper, die Hintertreppe hinunter, bis

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Page 1: Schreiben, lieben, leben «Es braucht das Ich-will …...Schweiz am Wochenende 26. Mai 2018 kultur W4 Seine Bühne erstreckt sich hinaus aus der Oper, die Hintertreppe hinunter, bis

Schweiz am Wochenende26. Mai 2018 kultur W 4

Seine Bühne erstreckt sich hinausaus der Oper, die Hintertreppehinunter, bis auf die Strasse mitden Kaugummiflecken. Kurz: Woimmer Mauro Peter hingeht, fin-det er ein passendes Podium. «Esgehört schon etwas Narzissmusdazu», feixt der internationalwohl gefragteste Schweizer Jung-tenor zur Begrüssung. Mit «dazu»meint er den Beruf des Sängers,der sich in seinem Fall zur steilenKarriere entwickelte: Von der Mu-sikhochschule weg 2013 ans Zür-cher Opernhaus engagiert, seitder Schubertiade Hohenems 2012ein gefragter Liedsänger, ist derLuzerner mit der glasklaren Dikti-on und strahlenden Stimme aufbeiden Bühnen unterwegs.

Und am kommenden Montag ge-meinsam mit Kult-Begleiter HelmutDeutsch für einen Liederabend inZürich. Das Programm? Lieder vonLiszt und Schubert. Natürlich,Schubert!, könnte man anmerken.Denn Mozart, Schumann undSchubert heissen die Hausheiligenvon Mauro Peter. Statt sich überweniger bekannte Lieder zum klas-sischen Kernrepertoire vorzutas-ten, hat er – zack! – mit Mitte zwan-zig die Blockbuster der Klassik ein-geheimst.

Ran an den Speck«Das ist Teil meiner Ambitionen»,gibt der 31-Jährige entwaffnendehrlich zu. «Ein bisserl unschwei-zerisch ist es schon, aber ich warimmer selbstbewusst und nichtso der Understatement-Typ. Ichweiss, woran ich noch zu arbei-ten habe – aber ich wusste immerschon, was ich kann.» SeineSchlussfolgerung aus der Sache?«Es nützt nichts, da man mussran an den Speck.»

Und im Fall von Tenören be-steht der Speck eben aus Schu-berts «Schönen Müllerin» (2014Livealbum), aus Schumanns«Dichterliebe» (2016 Album beiSony) und als absoluten Höhe-punkt: die Rolle des Tamino inMozarts Zauberflöte zur Eröff-nung der Salzburger Festspiele2018. Die Stadt war Mozarts Hei-matstadt. Und wie die Wiener ih-ren Walzer, wissen die Salzburgerziemlich genau, wie man «ihren»

Mozart zu spielen – oder zu sin-gen – hat. Dort mit Tamino anzu-treten, ist vergleichbar mit einemBad im Haifischbecken.

Champions-League-Finale«Das ist wie das Champions-League-Finale», meint Mauro Pe-ter lachend auf die Frage, wienervös ihn der Auftritt mache.«Wenn man da nicht nervös ist,dann weiss ich auch nicht.» Es seiihm wichtig, dass der Auftrittnicht nur «gut» oder «okay» her-auskomme, sondern: «Ich willhundert Prozent von dem zeigen,was ich draufhabe.» Umso mehr,als Mauro Peter sich als Mozart-Sänger sieht – und auch so wahr-genommen werden will. WarumMozart? «Seine Musik und seineSchlichtheit berühren mich ex-trem», ist die ehrliche Antwort.«Da ist nichts so offensichtlichwie bei Puccini, wo die Emotio-nen zack! wumm! herauskom-men! Bei Mozart kommt alles aufeine andere, subtilere Art heraus.Das ist unfassbar schöne Musik.»

Die Begeisterung ist echt, sowie alles an Mauro Peter echt undungekünstelt erscheint. Wenn erfeststellt: «Ich kommunizieregern», gilt das im Gespräch wieauf der Bühne, wo er die Saallich-ter leuchten lässt, um besserenKontakt zum Publikum zu haben.Worte sprudeln genauso aus ihmheraus wie Töne, sein Hoch-deutsch ist österreichisch gefärbt(Mozart lässt grüssen) und seineSätze skandiert – alles intensiv, al-les voller Emotionen.

Emotionen sind für ihn derSchlüssel zur Musik – insbesondereals Liedsänger: «Ich gehe nie mitDistanz an die Lieder heran, son-dern lasse mich wirklich berüh-ren», erklärt er und fügt an: «Sowerden die Geschichten zu meinenGeschichten.» Seine Lebensge-schichte begann als Sohn einesGipsers. Darum ärgert es ihn,wenn Kandidaten bei «Deutsch-land sucht den Superstar» sagen:«Ich war ganz unten. Ich war Ma-ler.» Umso mehr, als die Showvermittelt: Drei Wochen bei Boh-len, und schon kann man singen.Mauro Peter weiss aus Erfahrung:Fürs Singen braucht es mehr.«Ich arbeite sehr viel und musseiniges einstecken können. Manmuss den Willen und die Ausdau-er haben, aus seinem Talent et-was zu machen. Ohne das Ich-will-Gen geht es nicht.»

«Es braucht dasIch-will-Gen»Der Schweizer MauroPeter singt im Sommerden Tamino an der Er-öffnung der SalzburgerFestspiele.� �

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VON ANNA KARDOS

Kein Understatement-Typ: Tenor Mauro Peter. HO

Liederabend mit Mauro Peter undHelmut Deutsch. Oper Zürich,Mo, 28. 5., 19 Uhr.

Eines Nachts um drei Uhr wartetder Philosophiestudent Heinz Hellein einer Werbeagentur in Hamburgauf eine Rückmeldung aus der Gra-fik. Da öffnet er Google und tippt:«Schreiben studieren». Zur glei-chen Zeit merkt die FotofachfrauJulia Weber auf einer Reportage miteinem Fotografen in Simbabwe,dass sie die Menschen noch lieberals in Bildern in Worten erfasst. We-ber und Helle bewerben sich amSchweizerischen Literaturinstitut inBiel und studieren ab Herbst 2009«Literarisches Schreiben».

Sie wird Dauergast in der Studen-ten-WG, in der er wohnt. Die an-gehenden Literaten lesen sich näch-telang bei Kaffee, Wein und Zigaret-ten Texte vor, diskutieren überSprache und den Sinn des Schrei-bens. Julia Weber und Heinz Hellesind nicht die Einzigen, die sich andiesem Institut verlieben. Sie kom-men nicht sofort zusammen, beidesind vergeben.

Doch das ändert sich. Im Winter2011, zurück aus einer Schreib-woche zu zweit bei Wind und Regenauf Helgoland, antworten sie einerBekannten, die sie am Bahnhof Bieltreffen: Ja, sie seien ein Paar. Nachdem Studium ziehen sie in der ehe-maligen WG zusammen, bekommenTochter Nelly und heiraten. Heutewohnen sie in Zürich.

Der präzise Klang«Schreiben ist eine Welt, die manteilt», sagt sie. «Biel war in jederHinsicht eine aufwühlende Zeit»,sagt er. «Unsere Liebesbeziehungwar für mich auch ein Grund, dasliterarische Schreiben ernst zu neh-men.» Der 39-jährige Autor und die35-jährige Autorin teilen eine Be-geisterung für lyrisch-präziseSprachkonstruktionen. Und die Ge-wohnheit, ihre Geschichten vonHand in Notizbüchern zu beginnen.

Der Münchner Heinz Helle veröf-fentlichte 2014 bei Suhrkamp «Derberuhigende Klang von explodie-rendem Kerosin», 2015 folgte «Ei-gentlich müssten wir tanzen» – bei-

des eher dystopische Romane mitmännlichen Protagonisten. JuliaWeber gab ihr Debüt letztes Jahrbeim Limmat Verlag. «Immer ist al-les schön» nimmt abwechselnd diePerspektive einer alleinerziehen-den, alkoholabhängigen Mutterund deren tapferen, eigenwilligenTochter ein.

Postkarten, Skizzen, Fotografien,Malereien, Pflanzen, Lichterkettenund Teppiche schmücken die Ge-nossenschaftswohnung mit Balkonund Altbau-Charme. Es gibt einWohnzimmer, ein Schlafzimmer, einKinderzimmer und ein Arbeitszim-mer. Weber und Helle arbeiten in

der Nähe des Fensters an einem lan-gen Tisch, sie an der einen Längssei-te, er an der anderen. An der Wandhängen Blätter mit selbst gezeichne-ten Wochenplänen: «Lesungen sindauch Arbeit (nicht vergessen)», «Di& Do zusammen essen» oder «Le-sen, Schreiben, Nelly».

Fliessende ÜbergängeDie fünfjährige Nelly ist heute nichtim Kindergarten, weil Feiertag ist,und beobachtet das Fotoshootingim Wohnzimmer. «Das grössteWohnzimmer der Welt», findet sie,und ihr Vater ergänzt: «UnsererWelt.» Hier verlaufen die Grenzen

zwischen Berufs- und Familienlebenfliessend. «Eine klare Trennung gin-ge nicht, weil Schreiben überallstattfindet», sagt Weber.

Ihr nächstes Buch handelt von ei-ner modernen Hexe. «Unser tägli-ches Leben ist für mich immerauch Material», sagt Helle. Im Sep-tember erscheint sein neuer Ro-man «Die Überwindung derSchwerkraft» über die Frage, obman Kinder in die Welt setzen solloder nicht. Für ungestörtes Arbei-ten haben beide je ein Atelier in derStadt.

Nicht immer alles einfachAm Ende von «Immer ist allesschön» dankt Weber unter ande-rem ihrem Mann für «das Reden»,«das Wachhalten» und «dasMenschbleiben nicht Maschinewer-den». Meistens ist er ihr erster Le-ser und umgekehrt. Immer noch le-sen sie sich auch gerne ihre Textevor. Sie unterstützen und verbes-sern sich gegenseitig – im Unter-schied zu anderen, vor allem älte-ren Paaren der Literatur, bei denenoft die Frau im Schatten des Man-nes blieb. Zum Beispiel ist überlie-fert, dass Véra Nabokov, die ihrenMann Vladimir beriet, lektorierteund übersetzte, das erste Kapitelvon «Lolita» vor der Gartenmüllver-brennungsanlage rettete.

Als Konkurrenten sehen sichHeinz Helle und Julia Weber nicht,«wobei es Zeiten gab, in denen esnicht so einfach war», wie sie sagt.«Stimmt, als du noch keinen Verlaghattest.» – «Du schon das zweiteBuch und ich immer noch am ers-ten, da wurde ich ungeduldig.» In-zwischen haben sich beide einenNamen gemacht, Preise gewonnen,Stipendien erhalten. Sie haben vor,weiterhin nicht gleichzeitig Bücherzu veröffentlichen, weil es sonstTerminkollisionen gäbe. Denn vorArbeit überquellende Wochenplänemöchte das Paar nicht zeichnenmüssen.

Schreiben, lieben, lebenunter einem DachDas Autorenpaar Heinz Helle und Julia Weber schafft es, Arbeit,Beziehung und Familie zu vereinen

Nächtelang feilten sie an Texten, philosophierten übers Schreiben – und verliebten sich. KEYSTONE

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VON CÉLINE GRAF

«Schreiben isteine Welt,die man teilt.»JULIA WEBER

Dieser Text wurde durch die Gottlieb undHans Vogt-Stiftung für Medienförderungermöglicht.

«Unsere Beziehungwar für mich auchein Grund, das lite-rarische Schreibenernst zu nehmen.»HEINZ HELLE

Karl’s kühne Gassenschau. Diese drei Wor-te stehen für Theater im Grossformat mitspektakulären Effekten und waghalsigenStunts. Nach zwei erfolgreichen Saisons inWinterthur feierte das Stück «Sektor 1»nun seine Premiere in Olten. Paul Weilen-mann, Regisseur der Produktion, begrüsstdie «Schweiz am Wochenende» wohlge-launt auf dem Südwest-Areal in Olten undführt uns auf einen exklusiven Rundganghinter die Kulissen. «Wir haben alles wie-der von null aufgebaut. Als wir hierher-kamen, gab es keine Wege, keinen Strom,kein Abwasser — nichts», erklärt Weilen-mann mit einer Geste über das Gelände.«Man könnte meinen, wir machen ja nurein Theaterstück, aber am Schluss isch esebe scho huere vill», sagt der Regisseur fastein wenig verwundert ob der Grösse dereigenen Produktion.

Auch wenn die Windmaschinen, Flam-menwerfer und weiteren technischenSpielereien vor sich hindösen, herrschtkeineswegs Stillstand auf dem Areal. AusZelten und Containern laufen Leute einund aus, Techniker/-innen sind emsig amHämmern und am Bohren, und ein kleinerBagger dreht auf dem Kiesweg seine Run-

den. Als ein Techniker mit dem Fahrradvorbeifährt und zum Gruss freundlich mitder Glocke klingelt, wähnt man sich end-gültig in einer Kleinstadt, deren Alltag sicheinzig um das Theaterstück dreht.

«Sektor 1» spielt in einer nicht allzu fer-nen Zukunft, in der die Menschheit wegengrosser Abfallberge unterzugehen droht.Die Lösung für das Problem: Der Müll wirdeingesammelt und mittels Raketen in denOrbit hinaufgejagt. Damit es auch sauberbleibt, werden Umweltsünden hart be-straft. Wer hingegen brav Öko-Punkte sam-melt, darf auf einen Urlaub in die Wohl-fühloase «Sektor 1». Das friedliche Ferien-resort mit grüner Wiese und Enten imTeich entpuppt sich aber schnell als Trug-bild, denn in «Sektor 1» herrscht ebenfallsein Regime. Als es zu allem Unheil auchnoch Abfallsäcke vom Himmel regnet,bahnt sich ein Aufstand an.

Abstieg ins HerzDie Tour durch das Areal beginnt mit ei-nem Blick in die Holz- und Töffliwerkstatt.Nebenan ist ein monströses Gefährt par-kiert, das ohne weiteres in die apokalypti-sche Filmreihe «Mad Max» passen würde.Über die Bühne und den Kunstrasen derWohlfühloase «Sektor 1» geht es weiter un-ter die Erde. Eine steile Stahltreppe führtin das Herz der unteren Bühne hinab – die«Wundertüte», wie sie die Gassenschau-Crew nennt. Wer die vorherigen Produkti-onen der Karl’s kennt, der weiss, dass imUntergrund ihrer Bühnenbilder so mancheine Überraschung schlummert. Mehr seian dieser Stelle nicht verraten, schliesslich

wollen wir den Zuschauern nicht den gan-zen Spass verderben. Nun gut, vielleichtein Detail: Paul Weilenmann zeigt uns dreiGeräte, die wie eiserne Telefonkabinenmit kleinem Guckloch aussehen. Das seien«Personenschleudern», erläutert der Re-gisseur. Die Schauspieler stehen dabei aufeiner Platte und werden mittels Druckluftin die Luft gespickt. Bei Karl’s kühne Gas-senschau scheint der Kindheitstraum vomFliegen in Erfüllung zu gehen.

Die Verantwortung für die gesamte tech-nische und materielle Umsetzung tragenMarkus Heller und Otmar Faschian. IhreAbteilung muss nicht nur über technischesKnow-how verfügen, sondern auch einFingerspitzengefühl für das Theatralischehaben. «Es reicht nicht, dass die Mechanikfunktioniert. Es muss auch noch gut ausse-hen», so Weilenmann. Er muss es wissen,denn Weilenmann ist von Beginn an dabei,als die kühnen Karl’s noch wortwörtlich inden Gassen spielten.

Von der Gasse zur GrossbühneDer ausgebildete Primarlehrer entdeckteseine Leidenschaft für das Varieté vor überdreissig Jahren an einem Kurs der Panto-mimenschule Ilg in Zürich. An der Schulehat Weilenmann die restlichen Gründungs-mitglieder der Gassenschau kennen ge-lernt: Brigitt Maag (Künstlerische Leitung),Markus Heller (Technische Gesamtleitung)und Ernesto Graf (Botschafter). Ab 1984tingelten die Artisten als Karl’s kühne Gas-senschau über den Sommer von Stadt zuStadt. Als Bühne diente ihnen die Strasse.«Wir lebten von den Hutsammlungen und

hatten ein einziges Stromkabel für unsereShow. Heute haben wir die Strominfra-struktur eines kleinen Dorfes», fasst Wei-lenmann die Entwicklung der letzten dreiJahrzehnte zusammen.

Auch wenn die Gassenschau mittlerwei-le vor einer Grossbühne mit 1400 Plätzenspielt, ist sie sich über die Jahre treu ge-blieben und hat stets kritische Themenaufgegriffen. Nach der Überalterung derGesellschaft («Silo 8») und der globalisier-ten Wirtschaft («Fabrikk») knöpfen sichdie Karl’s in «Sektor 1» die Umweltver-schmutzung vor. «Das Aufgreifen von zeit-kritischen Themen war uns immer wich-tig. Wir wollen uns aber nicht anmassen,die Zuschauer mit dem Moralfinger zu be-lehren», sagt Weilenmann. Wenn die Leu-te sich unterhalten fühlen und sich imNachhinein ein paar Fragen stellen, dannhätten sie ihr Ziel erreicht.

Seit den Anfängen hat sich WeilenmannsPosition von der Bühne in den Hinter-grund verlagert, und mit Brigitt Maag ist erheute für die künstlerische Leitung derProduktionen verantwortlich. Wie siehtseine Zukunft innerhalb der Gassenschauaus? «Ich werde dieses Jahr sechzig undmuss langsam den Übergang planen. EinEnddatum sehe ich aber noch nicht. Ichbesitze eine Schauspielerseele und spieleauch bei ‹Sektor 1› immer noch mit», sagter lachend. Das ist nicht verwunderlich,denn wer würde schon auf das Fliegen ver-zichten?

Karl’s kühne Gassenschaugastiert mit «Sektor 1» bis imHerbst in Olten. Ein Blick hin-ter die Kulissen mit RegisseurPaul Weilenmann.� �

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VON DARIO POLLICE

Dröhnende Maschinen und fliegende Abfallsäcke – Karl’s kühne Gassenschau geizt nicht mit Effekten. Die Überraschungen von «Sektor 1» befinden sich aber unter der Bühne. HO/REGINA JAEGER

Die Wundertüte unterder Erde

Karl’s kühne Gassenschau wurdevor 34 Jahren durch Paul Weilen-mann, Brigitt Maag, Markus Hellerund Ernesto Graf gegründet. Was

als Strassen-Varieté mit vier Artis-ten begann, ist zu einer Grosspro-duktion mit rund 100 Mitarbeiternangewachsen.

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«Sektor 1», Karl’s kühne Gassenschau. Bis zum 1.September 2018 in Olten. Infos auf www.sektor1.ch.

Schweiz am Wochenende26. Mai 2018 kultur W 5

Seine Bühne erstreckt sich hinausaus der Oper, die Hintertreppehinunter, bis auf die Strasse mitden Kaugummiflecken. Kurz: Woimmer Mauro Peter hingeht, fin-det er ein passendes Podium. «Esgehört schon etwas Narzissmusdazu», feixt der internationalwohl gefragteste Schweizer Jung-tenor zur Begrüssung. Mit «dazu»meint er den Beruf des Sängers,der sich in seinem Fall zur steilenKarriere entwickelte: Von der Mu-sikhochschule weg 2013 ans Zür-cher Opernhaus engagiert, seitder Schubertiade Hohenems 2012ein gefragter Liedsänger, ist derLuzerner mit der glasklaren Dikti-on und strahlenden Stimme aufbeiden Bühnen unterwegs.

Und am kommenden Montag ge-meinsam mit Kult-Begleiter HelmutDeutsch für einen Liederabend inZürich. Das Programm? Lieder vonLiszt und Schubert. Natürlich,Schubert!, könnte man anmerken.Denn Mozart, Schumann undSchubert heissen die Hausheiligenvon Mauro Peter. Statt sich überweniger bekannte Lieder zum klas-sischen Kernrepertoire vorzutas-ten, hat er – zack! – mit Mitte zwan-zig die Blockbuster der Klassik ein-geheimst.

Ran an den Speck«Das ist Teil meiner Ambitionen»,gibt der 31-Jährige entwaffnendehrlich zu. «Ein bisserl unschwei-zerisch ist es schon, aber ich warimmer selbstbewusst und nichtso der Understatement-Typ. Ichweiss, woran ich noch zu arbei-ten habe – aber ich wusste immerschon, was ich kann.» SeineSchlussfolgerung aus der Sache?«Es nützt nichts, da man mussran an den Speck.»

Und im Fall von Tenören be-steht der Speck eben aus Schu-berts «Schönen Müllerin» (2014Livealbum), aus Schumanns«Dichterliebe» (2016 Album beiSony) und als absoluten Höhe-punkt: die Rolle des Tamino inMozarts Zauberflöte zur Eröff-nung der Salzburger Festspiele2018. Die Stadt war Mozarts Hei-matstadt. Und wie die Wiener ih-ren Walzer, wissen die Salzburgerziemlich genau, wie man «ihren»

Mozart zu spielen – oder zu sin-gen – hat. Dort mit Tamino anzu-treten, ist vergleichbar mit einemBad im Haifischbecken.

Champions-League-Finale«Das ist wie das Champions-League-Finale», meint Mauro Pe-ter lachend auf die Frage, wienervös ihn der Auftritt mache.«Wenn man da nicht nervös ist,dann weiss ich auch nicht.» Es seiihm wichtig, dass der Auftrittnicht nur «gut» oder «okay» her-auskomme, sondern: «Ich willhundert Prozent von dem zeigen,was ich draufhabe.» Umso mehr,als Mauro Peter sich als Mozart-Sänger sieht – und auch so wahr-genommen werden will. WarumMozart? «Seine Musik und seineSchlichtheit berühren mich ex-trem», ist die ehrliche Antwort.«Da ist nichts so offensichtlichwie bei Puccini, wo die Emotio-nen zack! wumm! herauskom-men! Bei Mozart kommt alles aufeine andere, subtilere Art heraus.Das ist unfassbar schöne Musik.»

Die Begeisterung ist echt, sowie alles an Mauro Peter echt undungekünstelt erscheint. Wenn erfeststellt: «Ich kommunizieregern», gilt das im Gespräch wieauf der Bühne, wo er die Saallich-ter leuchten lässt, um besserenKontakt zum Publikum zu haben.Worte sprudeln genauso aus ihmheraus wie Töne, sein Hoch-deutsch ist österreichisch gefärbt(Mozart lässt grüssen) und seineSätze skandiert – alles intensiv, al-les voller Emotionen.

Emotionen sind für ihn derSchlüssel zur Musik – insbesondereals Liedsänger: «Ich gehe nie mitDistanz an die Lieder heran, son-dern lasse mich wirklich berüh-ren», erklärt er und fügt an: «Sowerden die Geschichten zu meinenGeschichten.» Seine Lebensge-schichte begann als Sohn einesGipsers. Darum ärgert es ihn,wenn Kandidaten bei «Deutsch-land sucht den Superstar» sagen:«Ich war ganz unten. Ich war Ma-ler.» Umso mehr, als die Showvermittelt: Drei Wochen bei Boh-len, und schon kann man singen.Mauro Peter weiss aus Erfahrung:Fürs Singen braucht es mehr.«Ich arbeite sehr viel und musseiniges einstecken können. Manmuss den Willen und die Ausdau-er haben, aus seinem Talent et-was zu machen. Ohne das Ich-will-Gen geht es nicht.»

«Es braucht dasIch-will-Gen»Der Schweizer MauroPeter singt im Sommerden Tamino an der Er-öffnung der SalzburgerFestspiele.� �

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VON ANNA KARDOS

Kein Understatement-Typ: Tenor Mauro Peter. HO

Liederabend mit Mauro Peter undHelmut Deutsch. Oper Zürich,Mo, 28. 5., 19 Uhr.

Eines Nachts um drei Uhr wartetder Philosophiestudent Heinz Hellein einer Werbeagentur in Hamburgauf eine Rückmeldung aus der Gra-fik. Da öffnet er Google und tippt:«Schreiben studieren». Zur glei-chen Zeit merkt die FotofachfrauJulia Weber auf einer Reportage miteinem Fotografen in Simbabwe,dass sie die Menschen noch lieberals in Bildern in Worten erfasst. We-ber und Helle bewerben sich amSchweizerischen Literaturinstitut inBiel und studieren ab Herbst 2009«Literarisches Schreiben».

Sie wird Dauergast in der Studen-ten-WG, in der er wohnt. Die an-gehenden Literaten lesen sich näch-telang bei Kaffee, Wein und Zigaret-ten Texte vor, diskutieren überSprache und den Sinn des Schrei-bens. Julia Weber und Heinz Hellesind nicht die Einzigen, die sich andiesem Institut verlieben. Sie kom-men nicht sofort zusammen, beidesind vergeben.

Doch das ändert sich. Im Winter2011, zurück aus einer Schreib-woche zu zweit bei Wind und Regenauf Helgoland, antworten sie einerBekannten, die sie am Bahnhof Bieltreffen: Ja, sie seien ein Paar. Nachdem Studium ziehen sie in der ehe-maligen WG zusammen, bekommenTochter Nelly und heiraten. Heutewohnen sie in Zürich.

Der präzise Klang«Schreiben ist eine Welt, die manteilt», sagt sie. «Biel war in jederHinsicht eine aufwühlende Zeit»,sagt er. «Unsere Liebesbeziehungwar für mich auch ein Grund, dasliterarische Schreiben ernst zu neh-men.» Der 39-jährige Autor und die35-jährige Autorin teilen eine Be-geisterung für lyrisch-präziseSprachkonstruktionen. Und die Ge-wohnheit, ihre Geschichten vonHand in Notizbüchern zu beginnen.

Der Münchner Heinz Helle veröf-fentlichte 2014 bei Suhrkamp «Derberuhigende Klang von explodie-rendem Kerosin», 2015 folgte «Ei-gentlich müssten wir tanzen» – bei-

des eher dystopische Romane mitmännlichen Protagonisten. JuliaWeber gab ihr Debüt letztes Jahrbeim Limmat Verlag. «Immer ist al-les schön» nimmt abwechselnd diePerspektive einer alleinerziehen-den, alkoholabhängigen Mutterund deren tapferen, eigenwilligenTochter ein.

Postkarten, Skizzen, Fotografien,Malereien, Pflanzen, Lichterkettenund Teppiche schmücken die Ge-nossenschaftswohnung mit Balkonund Altbau-Charme. Es gibt einWohnzimmer, ein Schlafzimmer, einKinderzimmer und ein Arbeitszim-mer. Weber und Helle arbeiten in

der Nähe des Fensters an einem lan-gen Tisch, sie an der einen Längssei-te, er an der anderen. An der Wandhängen Blätter mit selbst gezeichne-ten Wochenplänen: «Lesungen sindauch Arbeit (nicht vergessen)», «Di& Do zusammen essen» oder «Le-sen, Schreiben, Nelly».

Fliessende ÜbergängeDie fünfjährige Nelly ist heute nichtim Kindergarten, weil Feiertag ist,und beobachtet das Fotoshootingim Wohnzimmer. «Das grössteWohnzimmer der Welt», findet sie,und ihr Vater ergänzt: «UnsererWelt.» Hier verlaufen die Grenzen

zwischen Berufs- und Familienlebenfliessend. «Eine klare Trennung gin-ge nicht, weil Schreiben überallstattfindet», sagt Weber.

Ihr nächstes Buch handelt von ei-ner modernen Hexe. «Unser tägli-ches Leben ist für mich immerauch Material», sagt Helle. Im Sep-tember erscheint sein neuer Ro-man «Die Überwindung derSchwerkraft» über die Frage, obman Kinder in die Welt setzen solloder nicht. Für ungestörtes Arbei-ten haben beide je ein Atelier in derStadt.

Nicht immer alles einfachAm Ende von «Immer ist allesschön» dankt Weber unter ande-rem ihrem Mann für «das Reden»,«das Wachhalten» und «dasMenschbleiben nicht Maschinewer-den». Meistens ist er ihr erster Le-ser und umgekehrt. Immer noch le-sen sie sich auch gerne ihre Textevor. Sie unterstützen und verbes-sern sich gegenseitig – im Unter-schied zu anderen, vor allem älte-ren Paaren der Literatur, bei denenoft die Frau im Schatten des Man-nes blieb. Zum Beispiel ist überlie-fert, dass Véra Nabokov, die ihrenMann Vladimir beriet, lektorierteund übersetzte, das erste Kapitelvon «Lolita» vor der Gartenmüllver-brennungsanlage rettete.

Als Konkurrenten sehen sichHeinz Helle und Julia Weber nicht,«wobei es Zeiten gab, in denen esnicht so einfach war», wie sie sagt.«Stimmt, als du noch keinen Verlaghattest.» – «Du schon das zweiteBuch und ich immer noch am ers-ten, da wurde ich ungeduldig.» In-zwischen haben sich beide einenNamen gemacht, Preise gewonnen,Stipendien erhalten. Sie haben vor,weiterhin nicht gleichzeitig Bücherzu veröffentlichen, weil es sonstTerminkollisionen gäbe. Denn vorArbeit überquellende Wochenplänemöchte das Paar nicht zeichnenmüssen.

Schreiben, lieben, lebenunter einem DachDas Autorenpaar Heinz Helle und Julia Weber schafft es, Arbeit,Beziehung und Familie zu vereinen

Nächtelang feilten sie an Texten, philosophierten übers Schreiben – und verliebten sich. KEYSTONE

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VON CÉLINE GRAF

«Schreiben isteine Welt,die man teilt.»JULIA WEBER

Dieser Text wurde durch die Gottlieb undHans Vogt-Stiftung für Medienförderungermöglicht.

«Unsere Beziehungwar für mich auchein Grund, das lite-rarische Schreibenernst zu nehmen.»HEINZ HELLE

Karl’s kühne Gassenschau. Diese drei Wor-te stehen für Theater im Grossformat mitspektakulären Effekten und waghalsigenStunts. Nach zwei erfolgreichen Saisons inWinterthur feierte das Stück «Sektor 1»nun seine Premiere in Olten. Paul Weilen-mann, Regisseur der Produktion, begrüsstdie «Schweiz am Wochenende» wohlge-launt auf dem Südwest-Areal in Olten undführt uns auf einen exklusiven Rundganghinter die Kulissen. «Wir haben alles wie-der von null aufgebaut. Als wir hierher-kamen, gab es keine Wege, keinen Strom,kein Abwasser — nichts», erklärt Weilen-mann mit einer Geste über das Gelände.«Man könnte meinen, wir machen ja nurein Theaterstück, aber am Schluss isch esebe scho huere vill», sagt der Regisseur fastein wenig verwundert ob der Grösse dereigenen Produktion.

Auch wenn die Windmaschinen, Flam-menwerfer und weiteren technischenSpielereien vor sich hindösen, herrschtkeineswegs Stillstand auf dem Areal. AusZelten und Containern laufen Leute einund aus, Techniker/-innen sind emsig amHämmern und am Bohren, und ein kleinerBagger dreht auf dem Kiesweg seine Run-

den. Als ein Techniker mit dem Fahrradvorbeifährt und zum Gruss freundlich mitder Glocke klingelt, wähnt man sich end-gültig in einer Kleinstadt, deren Alltag sicheinzig um das Theaterstück dreht.

«Sektor 1» spielt in einer nicht allzu fer-nen Zukunft, in der die Menschheit wegengrosser Abfallberge unterzugehen droht.Die Lösung für das Problem: Der Müll wirdeingesammelt und mittels Raketen in denOrbit hinaufgejagt. Damit es auch sauberbleibt, werden Umweltsünden hart be-straft. Wer hingegen brav Öko-Punkte sam-melt, darf auf einen Urlaub in die Wohl-fühloase «Sektor 1». Das friedliche Ferien-resort mit grüner Wiese und Enten imTeich entpuppt sich aber schnell als Trug-bild, denn in «Sektor 1» herrscht ebenfallsein Regime. Als es zu allem Unheil auchnoch Abfallsäcke vom Himmel regnet,bahnt sich ein Aufstand an.

Abstieg ins HerzDie Tour durch das Areal beginnt mit ei-nem Blick in die Holz- und Töffliwerkstatt.Nebenan ist ein monströses Gefährt par-kiert, das ohne weiteres in die apokalypti-sche Filmreihe «Mad Max» passen würde.Über die Bühne und den Kunstrasen derWohlfühloase «Sektor 1» geht es weiter un-ter die Erde. Eine steile Stahltreppe führtin das Herz der unteren Bühne hinab – die«Wundertüte», wie sie die Gassenschau-Crew nennt. Wer die vorherigen Produkti-onen der Karl’s kennt, der weiss, dass imUntergrund ihrer Bühnenbilder so mancheine Überraschung schlummert. Mehr seian dieser Stelle nicht verraten, schliesslich

wollen wir den Zuschauern nicht den gan-zen Spass verderben. Nun gut, vielleichtein Detail: Paul Weilenmann zeigt uns dreiGeräte, die wie eiserne Telefonkabinenmit kleinem Guckloch aussehen. Das seien«Personenschleudern», erläutert der Re-gisseur. Die Schauspieler stehen dabei aufeiner Platte und werden mittels Druckluftin die Luft gespickt. Bei Karl’s kühne Gas-senschau scheint der Kindheitstraum vomFliegen in Erfüllung zu gehen.

Die Verantwortung für die gesamte tech-nische und materielle Umsetzung tragenMarkus Heller und Otmar Faschian. IhreAbteilung muss nicht nur über technischesKnow-how verfügen, sondern auch einFingerspitzengefühl für das Theatralischehaben. «Es reicht nicht, dass die Mechanikfunktioniert. Es muss auch noch gut ausse-hen», so Weilenmann. Er muss es wissen,denn Weilenmann ist von Beginn an dabei,als die kühnen Karl’s noch wortwörtlich inden Gassen spielten.

Von der Gasse zur GrossbühneDer ausgebildete Primarlehrer entdeckteseine Leidenschaft für das Varieté vor überdreissig Jahren an einem Kurs der Panto-mimenschule Ilg in Zürich. An der Schulehat Weilenmann die restlichen Gründungs-mitglieder der Gassenschau kennen ge-lernt: Brigitt Maag (Künstlerische Leitung),Markus Heller (Technische Gesamtleitung)und Ernesto Graf (Botschafter). Ab 1984tingelten die Artisten als Karl’s kühne Gas-senschau über den Sommer von Stadt zuStadt. Als Bühne diente ihnen die Strasse.«Wir lebten von den Hutsammlungen und

hatten ein einziges Stromkabel für unsereShow. Heute haben wir die Strominfra-struktur eines kleinen Dorfes», fasst Wei-lenmann die Entwicklung der letzten dreiJahrzehnte zusammen.

Auch wenn die Gassenschau mittlerwei-le vor einer Grossbühne mit 1400 Plätzenspielt, ist sie sich über die Jahre treu ge-blieben und hat stets kritische Themenaufgegriffen. Nach der Überalterung derGesellschaft («Silo 8») und der globalisier-ten Wirtschaft («Fabrikk») knöpfen sichdie Karl’s in «Sektor 1» die Umweltver-schmutzung vor. «Das Aufgreifen von zeit-kritischen Themen war uns immer wich-tig. Wir wollen uns aber nicht anmassen,die Zuschauer mit dem Moralfinger zu be-lehren», sagt Weilenmann. Wenn die Leu-te sich unterhalten fühlen und sich imNachhinein ein paar Fragen stellen, dannhätten sie ihr Ziel erreicht.

Seit den Anfängen hat sich WeilenmannsPosition von der Bühne in den Hinter-grund verlagert, und mit Brigitt Maag ist erheute für die künstlerische Leitung derProduktionen verantwortlich. Wie siehtseine Zukunft innerhalb der Gassenschauaus? «Ich werde dieses Jahr sechzig undmuss langsam den Übergang planen. EinEnddatum sehe ich aber noch nicht. Ichbesitze eine Schauspielerseele und spieleauch bei ‹Sektor 1› immer noch mit», sagter lachend. Das ist nicht verwunderlich,denn wer würde schon auf das Fliegen ver-zichten?

Karl’s kühne Gassenschaugastiert mit «Sektor 1» bis imHerbst in Olten. Ein Blick hin-ter die Kulissen mit RegisseurPaul Weilenmann.� �

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Dröhnende Maschinen und fliegende Abfallsäcke – Karl’s kühne Gassenschau geizt nicht mit Effekten. Die Überraschungen von «Sektor 1» befinden sich aber unter der Bühne. HO/REGINA JAEGER

Die Wundertüte unterder Erde

Karl’s kühne Gassenschau wurdevor 34 Jahren durch Paul Weilen-mann, Brigitt Maag, Markus Hellerund Ernesto Graf gegründet. Was

als Strassen-Varieté mit vier Artis-ten begann, ist zu einer Grosspro-duktion mit rund 100 Mitarbeiternangewachsen.

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«Sektor 1», Karl’s kühne Gassenschau. Bis zum 1.September 2018 in Olten. Infos auf www.sektor1.ch.