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ABHANDLUNGEN DER NORDRHEIN-WESTfÄLiSCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN Band 97 Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern Referate des Kolloquiums der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 17./18. Februar 1994 in Bonn herausgegeben von RudoIf Schieffer

Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern · Ganshof nennt außerdem Zirkulare und Mobilmachungsbcfehle, Anweisungen an Einzelpersonen, an die Söhne, die eigene Königreiche

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ABHANDLUNGEN DER NORDRHEIN-WESTfÄLiSCHEN AKADEMIEDER WISSENSCHAFTEN

Band 97

Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den KarolingernReferate des Kolloquiums der Nordrhein-Westfälischen Akademie

der Wissenschaften am 17./18. Februar 1994 in Bonn

herausgegeben vonRudoIf Schieffer

Schriftkultur undReichsverwaltung unter

den Karolingern

Referate des Kolloquiums derNordrhein -Westfälischen Akademie

der Wissenschaftenam 17./18. Februar 1994 in Bonn

herausgegeben vonRudolf Schieffet

WESTDEUTSCHER VERLAG

Regierungspraxis und Schriftlichkeit im Karolingerreich:Das Fallbeispiel der Mandate und Briefe

VonMARK MERSIOWSKY

I. Zur Erforschung der administrativen Schriftlichkeit im Karolingerreich

Als Tbcodor Sickcl 1867 seine "Lehre von den Urkunden der ersten Karo-linger" veröffentlichte, war sein Ziel das einer "förmlichen Urkundenlehre".Als seinen Beitrag zur Diplornatik verstand er die "Einleitung in diese Wissen-schaft überhaupt [...] und ein System der letzteren [... ]" 1. Ganz selbstverständ-lich galt sein Augenmerk in erster Linie den Diplorncn. Sie waren sein wich-tigstes Material, bildeten den Großteil des infragekommenden Fundus, lagenin größerer Zahl als Originale vor, trugen die Unterschriften der verschiedenenNotare, folgten einem strengen formalen Aufbau. An ihnen entwickelte er diemoderne diplomarische Methode, d. h. aus der Untersuchung der als Origi-nale vorliegenden Stücke Kriterien für die Beurteilung der abgeleiteten Über-lieferung zu gewinnen2. Den Briefen und Mandaten der ersten Karolingerwidmete er nur einen knappen Abriß ', den er bezeichnenderweise hinter seineSynthese stellte, in der er seine allgemeinen Regeln für die Urkundenkritik zu-sammenfaßte.

Trotz seiner Kürze ist dieser Überblick zu den Briefen und Mandaten immernoch lesenswert. Sickel unterteilte die kurz skizzierten Dokumente nachZweck und Empfängern in zwei Klassen: Zur ersten zählte er im weiterenSinne als literarisch zu bezeichnende Briefe an Familienmitglieder, Fürsten,Vertraute und den Papst, zur anderen solche rein geschäftlichen Inhalts,gerichtet an Untertanen. Natürlich interessierten ihn letztere besonders, under gab einen prägnanten Überblick über ihre Inhalte und Zwecke. Im An-schluß behandelt er kurz die inneren und äußeren Merkmale der Briefe undMandate.

I SICKEL, Urkundenlehre S. XI, XII.2 Dargelegt SICKH, Urkundenlehre S. 366-393. Vg!. Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkunden-

lehre für Deutschland und Italien, Bd. 1 ('1912) S. 41-43; Carlrichard BRÜIIL, Gli ani sovrani,in: Fonti medioevali e problematica storiografica. Atti del congresso intcrnazionalc tcnuto inoccasione del 90 annivcrsario della fondazione dell'Istituto storico Italiano (1 SS3-1973) Bd. 1.Rclazioni (1976) S. 19-40, hier S. 27-29.

3 SICKEL, Urkundenlehre S. 394-407.

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Die Bedeutung administrativer Schriftlichkeit im Karolingerreich setzteTheodor Sickcl hoch an. Zu den Verhältnissen unter Karl dem Großen be-merkte er: "Vor allem aber muss seine Regententhätigkeit, die sich ordnendund ncucs gestaltend bis in jeden noch so entfernten Gau erstreckte, sovielauch auf Reichsversammlungen oder durch die Königsboten in mündlichemVerkehr erledigt sein mag, zu einer sehr lebhaften GeschäftscorrespondenzAnlass gegeben haben. Unter Ludwig treten bald andere, jedoch der Viel-schreiberei nicht minder förderliche Verhältnisse ein [... ]"4. Mit Verweisen aufdie von Grafen und missi eingeforderten Berichte und die vom Hof gelenkten,erst allmählich selbständige Herrschaft ausübenden Söhne kam Sickcl zu fol-gender Einschätzung: "Wir müssen in Anbetracht dieser Verhältnisse dieAnzahl der Briefe und currenten Geschäftsstücke, welche von der Kanzleioder von Secrotaren abgefasst und expediert wurden, sehr hoch anschlagen">.

Sickel entwarf in seiner Urkundenlehre ein zeitgebundenes Bild der Kanzleials Behörde. Sichtlich prägten seine Erfahrungen als Zeitgenosse der ent-wickelten französischen und ostcrreichisch-ungarischen Ministerialbürokratiedes 19. Jahrhunderts die Vorstellungen von der Karolingerzeit. Mit dem Vor-anschreiten der Editionsarbeiten an den Hcrrscherdiplomcn des Früh-mittelalters mehrte sich die Kritik an Sickcls Auffassung. Die hinlänglichbekannte Diskussion braucht hier nicht referiert zu werden. Michael Tangl,Paul Fridolin Kehr, Hans- Waiter Klewitz und J osef Fleckenstein revidiertendas Bild von der Kanzlei des Frühmittelalters. Die Kanzlei als Institution oderBehörde hat es im Frühmittelalter nicht gegeben, der Begriff Kanzlei ist viel-mehr ein Hilfskonstrukt der Diplomatikv. Mit der grundsätzlichen Revisiondes Siekelseheu Kanzleibegriffs verloren seine Aussagen zur Schriftlichkeit inder Regierungspraxis entscheidend an Gewicht. Sickcls Einschätzungen vomUmfang der ,Geschäftscorrespondenz' beruhten zwar auf umfassender Mate-rialkenntnis, aber seine Terminologie, besonders die Verwendung des Begriffs,Geschäftscorrespondenz', erweist, wie stark sein Gesamturteil von inzwi-schen revidierten Vorstellungen von der Kanzlei und ihren Geschäften gespeistwar".

4 SICKFL, cbda. S. 3')9.0; SICHL, ehda. S. 399.(, Maßgeblich Hans-Walter Ki.lwrrz, Cancellaria. Ein Beitrag zur Geschichte des geistlichen Hof-

dienstes, DA 1 (1937) S. 44-79. Zum Gang der Forschunj; mit entsprechenden Nachweisen josefhFCKI'NSTFIN, Die Hofkapelle der deutschen Kilnige. l. Teil, Grundlegung. Die karolingischeHofkapelle (Schriften der MGH 16, I, 1959) S. 74-79.

7 BRFSSLAL,Handbuch 1 (wie Anm. 2) S. 54 f. vermied jegliche Aussage zu diesem Problem,wohingegen Wilhclm ERBI'N, Die Kaiser- und Königsurkunden des Mittelalters in Deutschland,Frankreich und Italien, in: Wilhdm ERBEN, Ludwig SCII\lITZ-KALLENBERG, Oswald REDLICH,Urkundenlehre.!. Teil (Handbuch der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte. Abteilung 4,

RCl'icrungspraxis und Schriftlichkeit III

Natürlich ist die Rolle der Schrift in der Karolingerzeit ein Thema, mit demsich Forscher verschiedener Fachrichtungen immer wieder - und verstärkt imletzten Jahrzehnt - beschäftigt haben. Es führt zu weit, wollte man dieseDiskussion hier im einzelnen darstellen". Ich beschränke mich daher auf dieBeiträge, die für die Rolle der Schriftlichkeit in der karolingischen Admini-stration und Verwaltungspraxis maßgeblich sind.

1951 erschien Franccis Louis Ganshofs Aufsatz "Charlemagne et l'usage del'ecrit en matiere administrative?". Sein inzwischen klassischer Überblick zumadministrativen Schriftgebrauch unter Kar! dem Großen stützte sich über-wiegend auf die Kapitularien. Anders als unter den späten Merowingern oderunter Pippin Ill. enthalten die Quellen für die Zeit Karls des Großen eineganze Anzahl von Hinweisen auf schriftliche Verwaltungstätigkeit. Ganshofunterschied verschiedene Kategorien von Schriftstücken. Eine erste Gruppebilden die Aufzeichnungen für den internen Gebrauch des Hofes. Eine zweiteGruppe sind die vom Hof ausgesandten Stücke, in erster Linie die mit denTätigkeiten der missi dominici verbundenen Dokumente. Ganshof verwies aufganz unterschiedliche Schreiben. Die capitulsria misserum enthielten mehroder minder allgemeine Anweisungen für die jeweiligen Missionen. DieKönigsboten waren mit Traktorion versehen. Ganshof nennt außerdemZirkulare und Mobilmachungsbcfehle, Anweisungen an Einzelpersonen, andie Söhne, die eigene Königreiche beherrschten, wie an Konzilien. Die dritteGruppe umfaßt nach Ganshof die schriftliche Produktion der Königsbotenund örtlichen Sachwalter. Nach der Skizzierung dieses Spektrums von Schrift-gebrauch verwies er auf eine Reihe von Problemen. Wo am Hofe standen dieKapazitäten zur Herstellung der benötigten Kopien von Zirkularen, Instruk-tionen u. ä. zur Verfügung? Wie stand es mit den Schreibkapazitäten beiGrafen und missi? Wie stand es mit den zentralen und lokalen Archivierungs-möglichkeiten? Unter Kar! dem Großen spielte, so resümierte Ganshof, dieSchriftlichkeit eine neue, politisch gewollte Rolle. Ludwig der Fromme undKar! der Kahle führten diese Politik weiter. Dennoch entfaltete sich schriftge-

Hilfswissenschaften und Altertümer, 1907) S. 37-369, sehr global vermerkt, "in Zeiten guterVerwaltung mU!1 die Zahl derartiger geschäftlicher Briefe auch bei den weltlichen Herrscherndes Mittelalters sehr bedeutend gewesen sein" (S. 181).

8 Vg!. die ncucrcn Überblicke bei Giles BROWN, Introduction: the Carolingian Renaissance, in:Carolingian Culture: emulation and innovation, hg. von Rosamond McKrrn.Rlcli. (1994)S. 1-51, hier S. 27 f. sowie in dem Sammelband Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. vonU rsula SCHAlTER (ScriptOralia 53, 1993).

9 Franccis Louis GANSllOl:, Charlemagne et l'usage de l'ccrit en rnatierc administrative, Le MovcnAge 57 (1951) S. 1-25, zumeist zitiert nach der nicht überarbeiteten englischen Übcrsctzuug:The use of the written word in Charlemagne's administration, in: dcrs., The Carolingians andthe Frankish Monarchy. Studies in Carolingian History (1971) S. 125-142.

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stützte Verwaltung nur bis zu einem gewissen Grad. Fallweise sei sie eingesetztworden, doch sicher nicht allgemein - selbst wenn es intendiert war. NachGanshofs Meinung fehlte eine allgemeine Schriftlichkeit, fehlten die Kennt-nisse, auf lokaler, aber auch zentraler Ebene mit schriftlichen Verwaltungs-behelfen umzugehen. Damit konnte sich keine funktionierende schriftgestütz-te Administration ausbilden.

Nach dieser umfassenden Synthese richtete die Forschung ihr Interesse ver-stärkt auf Teilprobleme. Besondere Aufmerksamkeit galt den Kapitularien.Ganshof sah die rechtliche Geltung dieser Satzungen im mündlichen Akt derVerkündung begründet, wobei die Schriftform lediglich der Verbreitungdiene1o. Dieser Auffassung trat Rcinhard Schneider 1967 entgegen und be-tonte die wesentliche Rolle der Schriftform bei der Gesetzgebung. Das mit denMitteln der Herrscherurkunde beglaubigte Originalexemplar hatte - soSchneider - beweisrechtlichen Charakter!'. Bei intcnsivcr Auseinandersetzungmit den von Schneider angeführten Belegen kam Arnold Bühler 1986 und 1990zu dem Ergebnis, dag es keine regelmägigen Originalausfertigungen gegebenhat; mit Ganshof stimmte er in der Bewertung des mündlichen Verfahrensübcrein+-. Hubert Mordek konnte 1986 - ausgehend vom Überlieferungs-befund - den Thesen Schneiders ebenfalls nicht zustimmen. Seiner Auffassungnach kam es "zumindest in der Frühzeit der Kapitulariengesetzgebung für dieGeltung eines Textes weniger auf die formale Unangreifbarkeit an als vielmehrauf die sachliche Authentizität, d. h. auf die inhaltliche Ordnungsgemäß-heit"l3.

Im Bereich der Kapitularien haben Ganshofs Darstellungen und SchneidcrsGegenentwurf für eine fruchtbare Diskussion gesorgt. In anderen Bereichensetzte die Forschung punktueller an. Beim Vergleich mit angelsächsischenVerhältnissen gelangte James Campbell 1980 zu der Annahme, die karolin-

10 GANSHll!', Kapitularien S. 35-40.11 SCIINFlIJER, Rechtliche Bedeutung der Kapitularientexte bes. S. 294; dcrs., Schriftlichkeit und

Mündlichkeit S. 257-279.12 BÜIII.ER, Capitularia Rclccta S. 446-466; ders. Wort und Schrift.1.1 MOIUJEK, Karolingische Kapitularien S. 35. Ncucrc Zusammenfassungen: Hubcrr MORDEK,

Kapitularien, in: Lex. MA 5 (1990) Sp. 943-946; Reinhard SCHNEIDER, Das Frankenreich(Oldenbourg Grundrif der Geschichte 5, '1990) S. 119 f. Nur am Rande berührte WilfriedHARTMANN, Rechtskenntnis und Rechtsverständnis bei den Laien des früheren Mittelalters, in:Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kotrjc zum 65. Geburtstag, hg. vonHubort MORDEK (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 3, 1992) S. 1-20 hierinteressierende hagen. Er lenkte den Blick auf die Wirksamkeit frühmittelalterlichen Rechts,insbesondere der karolingischen Kapitularicngesetzgcbung, und sammelte Belege dafür, daßnicht nur Adel und Kirche Rechtskenntnisse hatten. Auch das einfache ,Volk' verfügte überausreichende Informationen, um erfolgreich das Recht zu umgehen. Somit lasse sich eine Reso-nanz der Gesetzgebung feststellen.

Rcgicrungspraxis und Schriftlichkcit 113

gische Verwaltung sei - gerade im Bereich der Schriftproduktion - effizientergewesen, als dies die Forschung allgemein annehme!+, 1982 untersuchte PeterJohanek die Urkundentätigkeit der missi dominici und der gräflichen Ge-richtsschreiber am Beispiel der Raffelstettener Zollordnung und frühmittel-alterlicher Markbeschreibungen. Ganshof hatte große Zweifel daran, daß dieKönigsboten und lokalen Sachwalter, vor allem die Grafen, in größerem Um-fang von der Schrift Gebrauch machten. Johanek interpretierte zumeist süd-ostdeutsche Zeugnisse als Splitter umfassenderer dezentraler, regionalerSchriftlichkeitl5. Bei der eingehenden Untersuchung westfränkischer placitahob Janet L. Nelson mehrfach hervor, daß im Beweisverfahren schriftlicheUnterlagen verschiedener Art gebräuchlich warcn!>. 1990 lenkte Peter Joha-nek den Blick auf die globale Bedeutung der Schriftlichkeit in der karolingi-schen Verfassung, und zwar für die Regierungszeit Ludwigs des Frommen.Die eigentliche Urkundtätigkeit sei angestiegen, Ludwig habe "das Instrumentder Privilegierung zielstrebiger und stetiger gehandhabt als sein Vater ... " 17.Johanek verwies überdies auf die Rolle, die die Schrift bei der Bekannt-machung, Durchsetzung und Verwirklichung der in den Diplornen festgeleg-ten Rechtsnormen spielte!",

So wichtig diese Ergebnisse im einzelnen auch waren, haben sie GanshofsEntwurf keine neue Gesamtdarstellung entgegengestellt. 1989legte RosamondMcKitterick ihren umfassenden Überblick "The Carolingians and the writtenword" vor!". Programmatisch formulierte sie: "The written word became afundamental element of Carolingian culture, and Frankish society in theCarolingian period was transformed into one largely dependent on the writtenword for its religion, law, government and learning. "20 Eines ihrer erstenKapitel widmete sie dem Gebrauch des .geschriebencn Wortes' in der karolin-

14 James CAMPBELL, The Significance of the Anglo-Norman State in the Administrative Historyof Western Europe, in: Histoirc comparce de I'administration (IYC_XYIIlc sieclcs), hg. vonWerner PARAVICINI u. Kar! Fcrdinand WERNER (Beihefte der Francia 9, 1980) S. 117-134, hierS. 128-130.

15 JOHANEK, Raffclstetter Zollordnung passim. Eine neucrc Übersicht zu den fruhrnittelaltcr-lichen Markbeschreibungen gibt jetzt Reinhard BAUER, Frühmittelalterliche Grenzbe-schreibungen als Quelle für die Namenforschung, in: Frühmittelalterliche Grenzbeschrei-bungen und Namenforschung. Jahrespreis 1991 der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Förde-rung der deutschen Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage, hg. von FricdhclmDEBUS (Beiträge zur Namenforschung N. E, Beiheft 42, 1992) S. 35-60.

16 Janet L. NELSON, Dispute settlement in Carolingian West Francia, in: The Settlement of Dis-putes in Early Medieval Europe, hg. von Wendy DAVIES und Paul FOURACRF (1986) S. 45-64.

17 JUHANEK, Probleme einer zukünftigen Edition S. 421.IS JOHANEK, ebda. S. 422 f.19 McKITIERICK, Carolingians and written word.20 McKITIERICK, ebda. S. 2.

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gischen Rcgierungspraxis-". Die Auseinandersetzung mit Ganshofs Darlegun-gen steht am Beginn dieses Abschnitts. Es verwunderte McKitterick, daßGanshof ungeachtet der Fülle der von ihm zusammengetragenen Infor-mationcn zum Schriftgebrauch in der karolingischen Administration die Rolleder Schriftlichkeit nicht allzu hoch hatte ansetzen wollen22. Die sich daran an-schließenden Ausführungen greifen auf die in den Kapitularien-Ausgabengedruckten Texte sowie die handschriftliche Überlieferung von Kapitularienzurück+'. Die administrative Schriftlichkeit war für McKitterick allerdings nurein Aspekt des Verhältnisses der Karolinger zum ,geschriebenen Wort'. Siespannte den Bogen weiter von der Sprache über die leges und Rechtshand-schriften, die St. Galler Privaturkunden, die Buchproduktion. Bibliothekenund Bibliothckskataloge bis hin zur Litcralitat der Laicn-".

janct L. Nelson hat 1990 Ganshofs Entwurf einer eingehenden, neuerlichenSichtung untcrworfcn->, Ihre Kritik setzte ebenfalls an Ganshofs implizitenVorstellungen von Staatlichkcit an, die ihr als Magstab für die Verhältnisse des8. und 9. Jahrhunderts nicht adäquat crschicncn=. Nelson deutet das geschrie-bene Wort nicht allein als Mittel des Herrschers zur Befehlsübermittlung undVereinheitlichung des Rechtswesens. Die Befähigung zu seiner Nutzung - soNelson - habe in der karolingischen Welt zur Teilhabe an der Herrschaft be-fähigt und eine Elite definiert27. Daher hatte die Schrift nicht nur funktionale,sondern symbolische Bcdcutung-". Immer wieder weist sie darauf hin, dagneben dem Schriftgebrauch auch mündliche Verfahren effektive Herrschafts-und Verwaltungsmittel warcn-",

Überblickt man den hier nur angerissenen Gang der Diskussion um Schrift-lichkeit und Regierungspraxis im Karolingerreich, so zeigt sich eine deutlicheVerlagerung. Thcodor Sickcl prägte sein Bild von der adrninistrativen ,VicI-schrciberci' ausdrücklich bei der Betrachtung von Briefen und Mandaten. In

21 McKrrnRICK, cbd«. S. 22: "Let us turn ... to the evidence provided by the practice ofCarolingian ~overnIllent and its use of the written word."

22 McKnTERlcK, cbda. S. 25-27, vgl. S. 26: " ... but Ganshof introduces a note of unexplainedscepticism ... ", S. 27: "But such is the wei~ht of Ganshof's authority, that his scepticism andcaution have become the orthodox point of view and it is his qualifying phrases that have beenregistcred rather than the outstanding quantity of information he actually presented."

2.l McKnTERlcK, cbda, S. 27-37.24 Gerade in bezu~ auf den letzten Punkt sind ihre Darstellungen hdti~ an~egriffen worden,

v~1. RIClITFR, Zur Laienschriftlichkeit passim.25 NELSON, Literacy in Carolingian ~overnl11cnt S. 258-296.21, NELSON, ebda. S. 258-262.27 NELSON, cbda, S. 272.2X NELSON, cbda, S. 284.29 NELS()N, cbda. S. 273 f. (Gütcrverwaltung), S. 278 f. (militärische Mobilisierung), S. 284 f.

(Kapitularien), all~. S 282.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 115

der modernen Diskussion aber spielte dieser Sektor bislang nur eine Neben-rolleJo• Die heutige Sicht ist vor allem in der Analyse der in den Kapitularienenthaltenen Bestimmungen und der die Kapitularien begleitenden Schrift-stücke begründet. Das von Sickel seinen Aussagen zugrundegelegte Materialaber wurde nur ansatzweise herangezogen, obwohl es heute weitgehend leichtzugänglich ist-". Die Gründe dafür dürften im Gang der Forschung liegen.Durch die veränderte Fokussierung der Schriftlichkeitsdiskussion gerietenBriefe und Mandate aus dem Blick. Für die Urkundenforschung blieben siestets Nebensache, denn im Mittelpunkt der grogen Herrscherurkunden-Editionen des vorigen wie unseres Jahrhunderts und der diese Arbeitenflankierenden Kanzleiuntersuchungen standen natürlich die Diplornc. DieMandate spielten nur am Rande eine Rolle. Die Briefe wurden in die Episto-lae-Ausgaben verwiesen, selbst dann, wenn sie urkundengernaß verfaßt waren,und fielen für die Diplomara aus. Mit der Scheidung der ,offiziellen', in denDiplomara gedruckten Dokumente von den .privatcn', in den Epistolae ent-haltenen Stücke wirkt das verfassungsgeschichtliche Denken des 19. Jahr-hunderts nach+'.

30 So wird von NELSON, cbda, S. 293 f. nur ein entsprechendes Beispiel ausführlicher behandelt.31 Das Material liegt zum grüllten Teil in den Ausgaben der MG! l-Diplomata und Episrolac, der

Chartes et Diplörncs, der Diplomi der Fonti per la sroria d'Italia sowie einiger weiterer Editio-nen vor. Neufunde sind vor allem im Bereich der Briefe zu vermelden; ich nenne hier nurArthur MENTZ, Ein Brief des 9. Jahrhunderts in Tironischcn Noten, AUF 14 (1'.136) S. 211-230;Hansmartin SCIIWARZMAIER, Ein Brief des Markgrafen Aribo an König Arnulf über die Ver-hältnisse in Mähren, FmSt 6 (1972) S. 55-66; Bcrnhard BI5ClIOIT, Salzburger Formeluüchcrund Briefe aus Tass ilonischcr und Karolingischer Zeit (SB München 1'.173, l left 4, 1973), vg!.dazu Bengt LÖISITIlT, Carol D. LANIIAM, Zu den neuaufgdundenen Salzburger Formel-büchern und Briefen, Eranos 73 (1'.175) S. 69-100; Thomas GROSS, Das unbekannte Fragmenteines Brides Hinkmars von Reims aus dem Jahre S59, DA 32 (1976) S. 187-192; GerhardSCHMITZ, Wucher in Laon. Eine neue Quelle zu Karl dem Kahlen und Hinkrnar von Reims,DA 37 (1981) S. 529-558; Daniel MISllNNE, Mandemerit incdit d'Advcntius de Mctz a l'occa-sion d'une incursion normande (Mai-Juin 8(7), Revue Benedictine 93 (1983) S. 71-79;Bernhard BISCllOIT, Briefe des neunten Jahrhunderts, in: Anecdota Novissima. Texte des vier-ten bis sechzehnten Jahrhunderts, hg. von Bcrnhard BI5CII0I'I' (Quellen und Untersuchungenzur lateinischen Philologie des Mittelalters 7, 1984) S. 123-138, vgl, dazu EduardHLAWITSCIlKA, Kaiser Wido und das Westfrankenreich, in: Person und Gemeinschaft imMittelalter. Karl Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag, hg. von Gerd AlTIIOFF, DieterGEUENICII, Otto Gerhard OEXLE und Joachim WllLLASCII (1988) S. 187-198; RudolfPOKORNY, Ein unerkanntes Brieffragment Argrims von Lyon-Langres aus den Jahren 894/95und zwei umstrittene Bischofsweihen in der Kirchenprovinz Lyon, Francia 13 (1985) S.602-622; Martina STRATMANN, Karls des Kahlen Auseinandersetzung mit dem Klerus vonRavenna. Ein Briefwechsel, ZKG 105 (1994) S. 329-343; dies., Die Briefsammlung des BischofsHerfrid von Auxcrrc (887-909), DA SO (1994) S. 127-144; Hartmut HOlTMANN, Das Fragmenteiner karolingischen oder ottonischen Briefsammlung. cbda, S. 145-157. Ich danke Frau Dr.Martina Stratmann, München, für freundliche Hinweise.

32 Konsequenterweise spielen Briefe eher als Zeugnisse für karolingischen Litcratur- undSchulbetrieb eine Rolle, vg!. etwa John J. CONTRENI, The Carolingian School: Letters [rom the

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Der von Sicke! dargestellte Bereich adrninistrativcr Schriftlichkeit harrt bis-her einer abermaligen, kritischen Ausleuehrung. Eine neuerliche Betrachtungist in verschiedener Hinsicht sinnvoll. Es böte sich dadurch eine Abrundungder vor allem von den Kapitularien ausgehenden allgemeinen Schriftlich-keitsdiskussion. Bei der Beurteilung der in den Kapitularien enthaltenenBestimmungen besteht aufgrund ihres normativen Charakters stets die Un-sicherheit, ob diese Anordnungen wirklich befolgt wurden oder Ideal-vorstellungen blieben. Ob man sich für oder gegen den Realitätsgehalt derKapitularien entscheidet, hängt von den Vorstellungen ab, die man von derVerbreitung der Schriftlichkeit hat, ob und in welchem Maße man die Karolin-gerzeit als rein orale Gesellschaft sieht-". Die Sichtung des Problemkreises vonden Briefen und Mandaten als überlieferten Überresten des Schriftgebrauchsher ermöglicht einen Perspektivenwechsel gegenüber der bisherigen For-schung. In anderen Bereichen hat dieser Ansatz bereits wichtige Ergebnissegezeitigt. Martina Stratmann eröffnete 1991 mit ihrer Untersuchung über"Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz" einenEinblick in die Diözesan- und Metropolitanverwaltung der Karolingerzeit. Siemaß in dieser und nachfolgenden Studien der Schriftlichkeit eine nicht uner-hebliche Rolle zu34. Ihre Ergebnisse fordern einen Vergleich mit der .staat-lichen' Verwaltung geradezu heraus.

Im folgenden soll gewissermaßen archäologisch verfahren werden. Deroben referierte Gang der Diskussion hat gezeigt, daf man sich innerlich voneinem Denken im Behördenschema trennen mug. Es ist verfehlt, moderne

Classroom, in: Giovanni Scoto ncl suo tempo. L'organizzazionc del sapcre in eta carolingia(Ani dei Convegni dcll'Accadernia Tudcrtina c del Ccntro di studi sulla spiritualita medievale.N.S. 1,1989) S. 81-111; Albrecht CI.ASSEN, Frauenbriefe an Bonifatius. FrühmittelalterlicheLitcraturdcnkrnalcr aus literarhistorischer Sicht, Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990)S. 251-273; Philippe DEPREUX, Büchersuche und Büchertausch im Zeitalter der karolingischenRenaissance am Beispiel des Briefwechsels des Lupus von Fcrricrcs, ebda. 76 (1994) S. 267-284.

33 Vgl. VOLI.RATfI, Typik oraler Gesellschaften S. 588-594; Hagen KELLER, Vom .heiligcn Buch'zur ,Buchführung'. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, FmSt 26 (1992) S. 1-31, hierS. 7-9. Vg!. par allele Beobachtungen in der Bewertung der Quellen zum karolingischenHandel: Peter JOHANEK, Der fränkische Handel der Karolingerzeit im Spiegel der Schriftquel-lcn, in: Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mit-tel- und Nordeuropa. Teil 4, Der Handel der Karolinger- und Wikingerzeit. Bericht über dieKolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas in den Jahren1980 bis 1983, hg. von Klaus DüwEL, Herbort JANKUHN, Harald SIEMS, Dieter TIMPE (Abh.Göttingen 3. Folge 156, 1987) S. 7-68, hier S. 8-13.

34 Martina STRATMANN, Hinkmar von Reims als Verwalter von Bistum und Kirchenprovinz(Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 6, 1991); vg!. auch dics., Briefe anHink mar von Reims, DA 48 (1992) S. 37-81; dies., Bricfsammlung Herfrids von Auxcrre (wieAnm.31).

Rq;i.:rungspraxis und Schriftlichkcit 117

administrative Magstäbe für die Zeit der Karolinger anzulegen->. Setzt manetwa aus den Kapitularien entnommene Bestimmungsstücke moderner Staat-lichkeit unreflektiert zu einem Bild zusammen oder bewertet sie vor der Foliemoderner Staatlichkeit, lassen sich grobe Verzeichnungen nicht vermeiden.Ausgehend von den Denkformen der Karolingerzcit-" mug mit einem ange-messenen, offenen Verständnis von Regierungs- und VerwaItungspraxis ope-riert werden, ohne die Perspektive von vornherein durch ein Denken inInstitutionen zu verengen. Genausowenig darf die Auswahl des Materials denBlick ablenken. Zöge man ausschließlich die in die Urkundeneditionenaufgenommenen Mandate heran, ginge man zwangsläufig fehl. Bekanntlichsind die Grenzen zwischen Briefen und Mandaten fliegend37. Da mit der Rolleder Schriftlichkeit in der karolingischen Regierungspraxis überdies funktionaleFragen im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, soll von Differenzie-rungen hier abgesehen werden.

Am Anfang stehen Betrachtungen zu den Überlieferungsbedingungen. An-schließend sollen die auf uns gekommenen einschlägigen Überlieferungssplit-ter gesichtet und verortet werden. In der Zusammenschau soll der aus diesenResten zu rekonstuierenden Schriftlichkeit in der karolingischer Regierungs-praxis nachgegangen und die ganze Bandbreite karolingischer Briefe undMandate auf ihre Rolle und Funktion darin untersucht werden38. Neben denim Volltext erhaltenen Stücken werden - soweit erreichbar - auch die Doper-dita herangezogen.

Ein wichtiger Sektor bleibt ausgeklammert, der diplomarische Briefwechsel.Mit dem Basileus, den arabischen Kalifen, den Khaganen und dem Papst ver-kehrten die karolingischen Herrscher schriftlich, ebenso mit ihren eigenen Ge-sandten. Neuerliche ausgreifende Darstellungen des diplomarischen Schrift-

}) So etwa Edouard PERROY, Le Monde Carolingicn, Paris 1974, hier benutzt nach dcrs.,Carolingian Administration, in: Early Medieval Society, hg. von Sylvia L. TIIRUI'I' (1'167)S. 129-146, der cbda, S. 146 denn auch zu dem Ergebnis kam: ..The truth is that localadministration was as non-existent as central administration."

36 Vg!. Hans-Wcrner Cosrz, Rcgnurn: Zum politischen Denken der Karolingerzeit. ZRG Germ.104 (1987) S. 110-189 mit umfassender Lit.; Otto Gerherd OEXLE, Haus und Ökonomie imfrüheren Mittelalter, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter S. 101-122, hier S. 111-116;[anct L. NELSON, Kingship and empire in the Carolingian world, in: Carolingian Culture (wieAnm. 8) S. 52-87.

37 Vg!. Giles CONSTABLE, Letters and Letter-Collections (Typologic des Sources du Movcn AgeOccidental 17, 1976) S. 22-24; A. GA\\'LIK, Littcrac der Kaiser und Kiinige, in: I.ex. MA 5(1991) Sp. 2023 f.

38 Einige der zu behandelnden Zeugnisse wurden zwar von Borctius und Krause in ihre Kapitula-rienausgabe aufgenonnen, doch schon Ganshof hob sie aufgrund inhaltlicher Kriterien von deneigentlichen Satzungen der Karolinger ab, vg], GANSIIOl', Kapitularien S. 25 f. Bühler konnteähnliche Befunde von der handschriftlichen Uberlicferung her machen, vgl, BÜIILER, Capitu-laria relccta S. 410-414, 468 f. Soweit diese Schriftstücke briefahnliehen oder ruandatorisehenCharakter haben, werden sie mit in die Betrachtung einbezogen.

us Mark Mersiowsky

wechscls erübrigen sich, da die Rolle von Briefen in diesem Sektor in der karo-lingischen Annalistik, den Urkunden wie den Kapitularien gut belegt ist.Überdies besitzen wir dank des Archivs von Saint-Denis sogar zwei originaleSchriftstücke des diplomarischen Verkehrst". Die entsprechenden Zeugnissewurden von Ganshof eingehend besprochen; über Stellenwert der Schriftlichkeitin diesem Bereich bestehen daher keine sonderlich divergierenden Ansichren+e.

Ir. Zur Überlieferung karolingischer Briefe und Mandate

Vor der Sichtung der Einzelzeugnisse seien einige Betrachtungen zum ver-fügbaren Material und den Formen seiner Überlieferung angestellt. Die Zahlder im Original vorliegenden karolingischen Briefe und Mandate ist klein.Ähnliche Beobachtungen lassen sich im übrigen für das gesamte Mittelaltermachcn+'. Für die Kaiser und Könige sind lediglich zwei Originalbriefe be-

)') Das Schreiben Papst Hadrians I. an die Gesandten Karls des Grollen von 7SS ist die älteste imOri);inal erhaltene Papsturkundc: ChLA 16 Nr. 630 S. 67-71. Die mall);cbliche Liste der erhal-tenen originalen Papsturkunden bei Paul RAllIKAUSKAS, Die römische Kuriale in der päpst-lichen Kanzlei (Miscellanea Historiae Ponnficiac 20. 1958) S. 225-242. Der sogenannte Kaiser-brief von Saint-Dcnis ist ein an einen Karolin);er gerichtetes Auslandsschreiben. das einzigeerhaltene Exemplar einer byzantinischen Kaiserurkunde aus dem Frühmittelalter. Vg!. mit derAngabe der älteren Lit. Documents impcriaux et royaux de l'Europe mcdievalc. Catalogue del'cxpositiun [Archives Nationales] (1977) Nr. I (in die Zeit l.udwigs des Frommen datiert).Abbildung u. a. bei Franz Dl)I.GFR/Johanncs KARAYANNOPUI.OS, Byzantinische Urkunden-lehre. Erster Abschnitt, Die Kaiserurkunden (Byzantinisches Handbuch im Rahmen des Hand-buchs der Altertumswissenschaft 3. Teil, I. Bd., I. Abschnitt = Ilandbuch der Altertumswis-senschaft 12. Abt. 3. Teil, I. Bd., I. Abschnitt, 1968) Tafel3.

40 I'rancois Louis GANSIIOI', Lcs relations cxtcricurcs de la rnonarchic [ranquc SOllS lcs premierssouvcrains carolingiens, Annali di storia del diritto 5/6 (1961-62) S. I-53. Vgl, auch MichaelBORcoITE, Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden lind mit dem Patri-archcn von Jerusalem (Münchcncr Beiträge zur Mcdiävistik und Renaissance-Forschung 25,1976) S. 52, 83,101-107; Gertrud TIIOMA, Papst Hadrian I.und Karl der Grolle. Beobachtungenzur Kommunikation zwischen Papst und König nach den Briefen des Codex Carolinus, in: Fest-schrift für Eduard Hlawitschka zum 65. Geburtstag, h);. von Karl Rudolf SCllNITll und RolandPAULFR(Miinchcncr Historische Studien. Abteilung Mittelalterliche Geschichte 5,1993) S. 37-58.

4\ Eine komplette Aufstellung dieser Stücke fehlt bislan);; die von Rolf KÜHN, Latein lind Volks-sprache, Schriftlichkeit und Mundlichkcit in der Korrespondenz des lateinischen Mittel-alters, in: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongrdhkten zum ersten Symposium desMediävistenverbandes in Tubingcn, 1984, h);. von Joerg O. FIClIlT, Kar! Heim. GOl.l.ER undBernhard SCl11M\IFU'ITNNIG (1986) S. 340-356, hier S. 346 Anm. 19, und dcrs., Zur Quellen-kritik kopial überlieferter Korrespondenz im lateinischen Mittelalter, zurnal in Briefsumm-lungen, MIÖG 101 (1993) S. 284-310, hier S. 289 f. angekündigte Sammlung ist m.W. bishernicht publiziert worden. Die umfassendste Sammlung bei Hartmut HOI'HIANN, Zur mittel-alterlichen Brieftechnik. in: Spiegel der Geschichte. Festgabe für Max Braubach zum 10. April1964, hg. von Konrad REPGEN und Stcphan SKALWElT(1964) S. 141-170, hier S. 147-150. Vg!.BISClIOIT, Paläographie S. 58; CONSTABLE, Letters (wie Anm. 37) S. 55. Aufgrund des For-schungsstandcs kann auch meine Übersicht nur vorläufig sein.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 119

kannt: derjenige Ludwigs des Frommen an den Erzbischof von Salzburg ausdem Jahre 82342 und ein sog. geschlossener Brief Karls des Kahlen an die Ein-wohner von Barcelona+'. In zwei weiteren Fällen ist die Originalität zweifel-haft. Ein palimpsestierter Text Karls des Großen an Papst Hadrian wohl ausdem Jahre 791 gilt nach allgemeiner Auffassung als "Urabschrift für AbtWaldo oder Reichenau", so der Editor Munding aufgrund seiner Annahmenüber die Herkunft des Palimpsestes aus dem Kloster Reichenau+'. Kar! derGroße wandte sich in dem betreffenden Schriftstück an den Papst und bat die-sen, den vom König zum Bischof von Pavia ernannten Reichenauer Abt Waldodurch die Weihe zu bestätigen. Die Formulierungen des Briefes weisen daraufhin, daß Kar! zu diesem Behuf den Kandidaten mit dem Schriftstück aus-stattete45. Es ist durchaus denkbar, daß man nach dem Sakralakt Waldo dasEmpfehlungsschreiben wieder ausgehändigte oder Waldo - aus welchen Grün-den auch immer - niemals in dieser Sache beim Papst vorstellig wurde unddaher der Brief beim Überbringer vcrblieb+s, Der Befund läßt es durchaus zu,in ihm ein Original zu sehen. So sind noch heute Spuren der Faltung sieht-

42 MGH Epp. 5 S. 311 f. Nr. 8; B1\12Nr. 774. Kaiserurkunden in Abbildungen, hg. von Heinrich vonSYBEl. und Thcodor von SICKEl. (1880-1890) Lieferung XI, Tafel 1; vg!. den Kommentar vonTheodor von SICKEt, in: Kaiserurkunden in Abbildungen, hg. von Ileinrich von SYIIEl. undTheodor von SICKE!.. Text (1891) S. 465 f.; Georges TESSIER, Diplomatique Royale Francaise(1962) S. 123.

43 TESSIER, Rccucil Z S. 431 f. Nr. 417.44 Clm 6333, fo!. 87, fo!. 90. Vg!. Königsbricf Karls d. Gr. an Papst Hadrian über Abt-Bischof

Waldo von Rcichcnau-Pavia, Palimpsest-Urkunde aus Cod. lat. monac. 6333, hg. von Em-manucl MUNIlING (Texte und Arbeiten hg. durch die Erzabtei Beuron, I. Abteilung, Beiträgezur Ergründung des älteren lateinischen christlichen Schrifttums und Gottesdienstes 6, 1920)Abb. S. 2, Ed. S. 3 f., Einordnung S. 20 f.; ChLA 12 Nr. 543 S. 74 f., Faks. S. 75; CONSTAIIl.E,Letters (wie Anm. 37) S. 55. Wilhclm ERIIEN, Anwendung neuer Lichtbildverfahren für dieHerausgabe der Kaiser-Urkunden, NA 46 (1926) S. 11-33, hier S. 11-13 ließ die Frage derOriginalität offen. Er beobachtete Ähnlichkeiten von Clm 6333, fo!. H7/90 mit ebda. fo!. 32/35,einem heute völlig unlesbaren Brief wohl an Karl den Grollen (zur Lesbarkeit MUNllIN(;,Kiinigsbricf S. 46; die mir freundlicherweise ermöglichte Autopsie mit Quarzlampe hat keineweiteren Erkenntnisse erbracht).

4S Ilis itaquc pracmissis patcrnitati vcsrrae studuimus trenstnittcrc pr.1CSCIICcmprscdistirutioncmuidclicct Uualtoncm ... (cd. ChLA 12 Nr. 543 S. 74).

46 Der Editor des Briefes lieg bald eine Biographic Waldos folgen, vg!. Emmanuel MUNllIN(;,Abt-Bischof Waldo. Begründer des goldenen Zeitalters der Reicheneu (Texte und Arbeiten hg,durch die Erzabtei Beuron, I. Abteilung, Beiträge zur Ergründung des älteren lateinischenchristlichen Schrifttums und Gottesdienstes 10/11, 1924). Dag Waldo zwar eine zeitlang für dasBistum Pavia zuständig war, aber niemals zum Bischof geweiht wurde, zeigte DonaldA. BULl.OUGH, ,Baiuli' in the Carolingian ,regnum Langobardorum' and the career of AbbotWaldo (t 813), The English Historical Review 77 (1962) S. 625-637, hier S. 632-635. Ich dankeFrau Dr. Heike Mierau, Münster, für den freundlichen Hinweis auf diesen Aufsatz. RalfPETERS, Die Entwicklung des Grundbesitzes der Abtei Saint-Dcnis in merowingischer undkarolingischer Zeit (1993) S. 167, hält es (nur mit Verweis auf Munding und Bullough) für frag-lich, ob Waldo Bischof wurde.

120 1\1ark Mcrsiowsky

bar+'. Mundings paläographische Zuschreibung an die Schreibschule derReicherrau wurde von Bernhard Bischoff korrigiert, Nach Bischoff entstandder Codex zwischen 810 und 825 in Bcnediktbcuern, der Brief konnte keinembekannten Scriptorium zugewiesen werden, Wie bei einigen anderen Stückenist es nicht ersichtlich, wie der genannte Brief nach Bencdiktbeucrn geriet, woer palimpsestiert wurde48,

Nicht besser als um die cpistolee der Herrscher ist es um die originalen,Privat'-Briefe bestellt!". Oft diskutiert worden ist der Brief des Abts Magi-narius von Saint-Denis an Kar! den Großen aus dem Jahre 78850, Kaum mehrals die Adresse ist noch vom Text eines palimpsestierten Schreibens eines Bi-schofs (?) an Karl den Großen lesbar>'. Wir kennen ferner aus der späterenKarolingerzeit den Brief Gunthars von Köln an Hinkmar von Reims von 86352

und den Brief Bischof Hildegrims von Halberstadt an Propst Reginbert vonWerden53, Als Makulatur in einer Reichenauer Handschrift wurde ein Briefdes Markgrafen Aribo an König Arnulf aus der Zeit um 890/91 iiberliefert>'.üb ein Entschuldigungsschreiben Hinkmars von Reims von 863 als originalzu gelten hat, ist noch nicht endgültig geklärt55, Gleiches gilt für das Schreibendes Mönchs Bernhard an den Konig'v, Der in der Monumenta-Edition undder Literatur darüber hinaus genannte Brief des Bischofs Erkanbert kann hin-

47 Nach Autopsie des elm 6333.4K BISCIlOll', Schreibschulcn 1 S. 32-34; vg!. Adriaan VERIlULST, Das Besitzverzeichnis der

Center Sankt-Bavo-Abtci von ea. SOD (elm (333). Ein Beitrag zur Kritik der karolingischenUrbarialaufzcichnungen, FmSt 5 (1971) S. 193-234, hier S. 195 f.

49 Jüngste Zusammenstellung bei STRATMANN,Briefe (wie Anm. 34) S. so.,0 MGH Epp. 3, S. 655-657 Nr. 2; Faks. Ch LA 16, Nr. 629 S. 59-65.,I elm 6333, fol. 32/35; vgl. MUNI>JNc, Königsbrief (wie Anm. 44) S. 46; ERIII':N, Anwendung

(wie Anm. 44) S. 12.,2 Köln, Dombibliothek Hs. 117, Iol. 93-97. Ernst PERELS, Propagandatcchnik im IX. Jahrhun-

dert. Ein Original-Aktenstück für Erzbischof Gunthar von Köln, AUF IS (1938) S. 423-425;Horst I'UlIRMANN, Eine im Original erhaltene Propagandaschrift des Erzbischofs Gunthar vonKoln (865), AfD 4 (1958) S. 1-51. Fuhrmann (S. 35) nimmt an, Hinkrnar habe - dem WunschGunthars folgend - die Rechtssammlung verbreitet und dabei das Original an den kölnischenKlerus geschickt. Die Überlegungen bei STRATMANN,Briefe (wie Anm. 34) S. 49 f., Hinkmarhabe nach Kenntnisnahme und Veranlassung entsprechender Schritte den Brief an den Ab-sender zurückgesandt, leuchten weniger ein.

>3 StA Münster, Fürstentum Münster Urk. 2 (MGH Epp. 6 S. 194 f. Nr. 30).54 LB Karlsruhc, Fragm. Aug. ISO; cd. SCIIWARnlAIER, Brief (wie Anm. 31).ss MGH Epp. 8, 1 S. 141 f. Nr. 164. Für die Originalität tritt ein (mit Nachweisen der älteren

Litcratur) H. SILVESTRE,Notices et cxtraits des manuscrits 5413-22, 10098-105 et 10127-44 dela Bibliothcquc Royalc de Bruxcllcs, Sacris erudiri 5 (1953), S. 174-192, hier S. 177-179;zurückhaltender STRATMANN,Briefe (wie Anm. 34) S. SO f.

SI, StA Münster, Stift Nottuln Urk. 1 (MGH Epp. 6 S. 131 Nr. 2). HOIH1ANN, Brieftechnik (wieAnm. 41) S. 149 Anm. 34 hielt das Stück, da Ruckadresse. Schlußgruß und Faltung fehlen, fürein Konzept. Der Überlicferungsgeschichte dieses Stückes werde ich demnächst eine knappeStudie widmen.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 121

gegen nicht in diese Reihe gestellt werden, denn der kodikologische Befunddes Clm 6382 verbietet die Einordnung als Original'". Zu den zweifelhaftenStücken zählen zwei St. Galler Fragmente. Das erste ist ein kleines Bruchstückaus Papyrus, vom Text sind nur Teile dreier Zeilen und ein Subskriptions-zeichen erhalrcn-''. Im zweiten Fragment wandte sich Erzbischof Richulf vonMainz 810 an Egino von Konstanz. Nach Albert Bruckner weist der paläogra-phische Befund auf eine Konstanzcr Kopie des Schreibens>".

Eine eingehende hilfswissenschaftliche Untersuchung der originalen Briefesteht ebenfalls bisher aus. Nur vorläufige Bemerkungen seien mitgeteilt. NurAbt Maginarius benutzte Papyrus als Beschreibstoff. Das erhaltene Fragmentbesteht aus sechs pJaguJae und hat eine Länge von 89 cm. Die übrigen Briefesind zumeist auf deutlich kleineren, querrechteckigen Pergamentstücken mun-dien. Begegnen wir im achten Jahrhundert noch kursiven Schriften, so setztsich im neunten Jahrhundert durchgehend die karolingische Minuskel durch.Zum Teil beginnen die einfachen Schreiben mit einem Chrismon. Neben denBriefen wurden auch umfangreichere Schriftstücke zu kleinen Heftehen gefal-tet versandtv",

Auch die Zahl der originalen Mandate hält sich in Grcnzcnv'. Ludwig derFromme wandte sich um 831-833 an Bischof Baderad von Padcrborn'<.Andere Stücke stellten Ludwig 11. 85363 und Ludwig der Deutsche um 854/55,in diesem Fall an verschiedene alemannische Grafen zugunsten von St. Gallen,

57 Der Brief (Cl m 6382, fol. 4-F, MGH Epp. 5 S. 338 Nr. 23) befindet sich auf einer etwas be-schnittenen Pcrgarncntscitc, auf der Rückseite finden sich Tirucnspurcn, Rasuren und Spurender Blindlinierung. Anzeichen einer Falturig konnte ich nicht ausmachen. Die Seite bildet dasäußere Blatt des ersten Quaternio einer Handschrift des achten Jahrhunderts von GrcgorsMoralium pars ultima. Vgl, dazu schon BISCHOI+, Schreibschulen 1 S. 73. HOIIMANN,Brieftechnik (wie Anm. 41) S. 149 Anm. 34 reihte das Stück unter der Rubrik Konzepte ein.

58 ChLA 2 Nr. 174 S. 128 f., dort als "Fragment of Letter" angesprochen.59 ChLA 2, Nr. 176 S. 132 f. Vgl. dazu unten S. 136 Anm. 124, S. 161 f. Anm. 252.60 Hier ist auf das dem Brief Gunthars von Köln beigelegte Dossier (vgl, Anm. 52) zu verweisen.

Diese Praxis wurde vor allem bei hagiographischen Schriften beobachtet; vgI. BcrnhardBISCIiOIT, Über gefaltete Handschriften, vornehmlich hagiographiscbcn Inhalts, in: dcrs.,Mittelalterliche Studien 1 S. 93-100 (zuerst in: Bulletino dell'"Archivio Palcografica ltaliano",N.S. 2-3, I [1956/57]).

61 VgI. die unvollständigen Aufstellungen bei ERBEN, Kaiserurkunden (wie Anm. 7) S. 180 f.;Robert-Henri BAUTIFR, La chancellcric et lcs acres royaux dans les royaurncs carolingicns,BECh 142 (1984) S. 5-80, hier S. 66 Anm. I. Den aktuellen Kenntnisstand über karolingischeMandate faßte Robert-Hcnri BAUTIER, ebda. S. 61-67 prägnant zusammen.

62 BM2 924 (StA Münster, Urk. Corvcy Nr. 4). Kaiserurkunden in Abbildungen (wie Anm. 42)I,7a; Hans FOERSTER,Urkundenlehre in Abbildungen. Mit Erläuterungen und Transkriptionen(1951) S. 18.

(,) D Lu. Il. 12. Diplomi Irnpcriali c Reali delle Canccllcric d'Italia (1892) Tav. 11; vgl. dazuNotizic e Traserizioni dei Diplorni Irnpcriali c Reali delle Canccllcric d'ltaIia (1892) 11 (Kom-mentar von Tbcodor von Sickcl),

122 Mark Mersiowsky

aus64. Gleich zwei noch erhaltene Originale stammen von Arnolf. Sie ergingenzugunsten St. Gallens wohl 89365 und Corveys 89766. Das zeitlich spätesteoriginale Mandat ließ Berengar 1. für Bischof Wido von Piacenza in der Zeitum 920 ausfertigcn=/. Nicht einhellig sind die Meinungen hinsichtlich einesSchreibens Karls des Kahlen an den Erzbischof Wenilo von Sens von 858. DerText ist nur auf einem Fragment im Kathedralschatz von Sens überliefert.Während die Edition der Urkunden Karls des Kahlen den Überlieferungs-träger als Kopie des neunten oder zehnten Jahrhunderts qualifizierte, hält ihnRobcrt-Henri Bautier für das Original68.

Obwohl diese Zusammenstellung der originalen Briefe und Mandate derKarolingerzeit nur vorläufig ist, zeichnet sich ein klares Bild ab. Sie liegenäußerst selten im Original od er als Einzelabschrift vor. Die Masse des Materialsist vielmehr in Briefsammlungen enthalten, von denen noch zu sprechen seinwird69. Die Ursachen für die schlechte Überlieferung liegen auf der Hand.Formale wie inhaltliche Gründe spielen eine Rolle. Zunächst sei ein Blick aufdie Formalia geworfen. Mandaten und Briefen fehlten zumeist die typische,traditionsreiche und sinngeladene Diplomschrift sowie alle Schriftzeichen.,Richtige' Schrift und Schriftzeichen aber machen einen Gutteil der Wirkungder Urkunde aus. Die graphischen Symbole fungieren als Garanten der Echt-heit und Rechtskraft auf Dauer. Ihr Fehlen verschlechtert die Überlieferungs-chancen erheblich. Das Überlieferungsinteresse bestand im Fall der Diplomedarin, daß ihre materielle Existenz vermittels ihrer Ausstattung die in ihnenenthaltenen Rechtstitel garantierte. Vor allem seit dem Siegeszug der Siegclur-kunde gehörten originale Briefe und Mandate ähnlich wie die Traditionsnotizenschon von ihren Formalia her zu den unnützen Pergamenten. Dazu treten, engdamit verzahnt, natürlich inhaltliche Kriterien, die die Überlieferungschance

(,4 D LD. 71; Diplomara Karolinorum. Faksimile-Ausgabe der in der Schweiz liegenden origina-len Karolingerdiplomc, hg. von Albert BRUCIi.NER(1969-1974) Nr. 31.

fo5 DArn. 111; BRUCIi.NER,Diplomara Karolinorum (wie Anm. 64) 98.fofo DArn. 155; Kaiserurkunden in Abbildungen (wie Anm. 42) 1,7".fo7 SCIIIAPAREU.I, D Berengar I. 133; Archivio Paleografico Italiano, hg. von Ernesto MONACI,

Vo!. 9 (Fase. 36), hg. von Luigi SCHIAI'ARELl.1(1911) Tav. 18.«s TrssII'R, Rccucil 1 S. 5(,3 f. Nr. 224; BAUTIER,Chaneellerio (wie Anm. 61) S. 66. Da das Schrift-

stück schon für Bautier nicht auffindbar war, habe ich keinen Versuch der Autopsie unternom-J11C!1.

(0') Zu den Briefsammlungen Carl ERDMANN, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im elftenJahrhundert (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde 1, 1938) S. 1 f.;Rudolf SCIIIElH.R, Briefe und Briefsammlungen als Editionsaufgabe. I. Die Zeit bis 1100, in:Mittelalterliche Textüberlicferung und ihre kritische Aufarbeitung (1976) S. 60-63, hier S. 60 f.Instruktiver Überblick bei Bernhard SCIIMEIDLER, Ueber Bricfsammlungen des früherenMittelalters in Deutschland und ihre kritische Verwertung (Vctcnskaps-Socictctcn i Lund. Ärs-bok 1926 = Yearbook of the New Society of Letters at Lund, 1926) S. 19-23; CONSTABLE,Letters (wie Anm. 37) S. 56-62; KÜIIN, Quellenkritik (wie Anm. 41) S. 296-307.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 123

vermindern. Die originalen Briefe und Mandate verloren meist rasch nachEmpfang an Bedeutung. Sie waren zumeist für spätere Zeiten nicht rechts-erheblich und landeten daher schnell im ,Pergamentkorb' der Geschichte".

Da also die Originale leicht der Vergessenheit anhcimticlcn, kommt der ab-schriftlichen Tradierung große Bedeutung zu. Doch auch diese hat ihreTücken. Aufgrund ihrer geringen oder nur temporären Rechtsbedeutung wur-den Mandate oft nicht in die mittelalterlichen Chartulare aufgenommen. Soliegt uns beispielsweise dasjenige Ludwigs des Frommen an den Grafen Arna-deus und die Vasallen Helias, Waldo, Iscnbart und Ratbcrt nur in Abschrift derChronik von Saint-Benigne in Dijon vor, nicht aber im gleichzeitigenChartular oder späteren U rkundenabschriftcn/I. Dem Chronisten dürfte in-haltliches Interesse die Feder geführt haben: Das Mandat enthält Nachrichtenüber die Restaurierung und Wiedereindeckung der Klosterkirche. Hätte essein Interesse nicht gefunden, wäre das Stück heute verlorcn/J,

Überlieferung über Briefsammlungen verminderte im Falle der uns hierinteressierenden Briefe administrativen Inhalts die ohnehin geringen Über-lieferungschancen. Als Indikator taugt Ernst Pereis Epistolae-Ausgabe derBriefe Hinkmars. Dank der Kirchengeschichte Flodoards von Reims aus derMitte des 10. Jahrhunderts besitzen wir von vielen Schreiben wenigstens kurzeRegesten. Nach der (noch unvollständigen) MGH-Ausgabe sind für fast allehier interessanten Stücke nur die Regesten Flodoards crhaltcn ". Für viele von

70 Vg!. Mark MERSlO\\SK Y, Graphische Symbole in den Urkunden Ludwigs des Frommen, in:Graphische Symbole in mittelalterlichen Urkunden. Beiträge zu einer diplomarischen Semio-tik, hg. von Peter RÜCK (Historische Hilfswissenschaften 3, (996) (im Druck) mit Angabt' derweiterführenden Litcratur; SCHWARZMAlER, Brief (wie Anm. 31) S. SS f. Instruktiv ist der Ver-gleich mit den gleichartigen Verhältnissen im 12. Jh., die Peter CLASSEN, Aus der WerkstattGerhochs von Reichcrsberg. Studien zur Entstehung und Überlieferung von Briefen,Briefsammlungen und Widmungen, DA 23 (1967) S. 31-92, hier nach Ausgcwahlre Aufsatzevon Peter Classen. Unter Mitwirkung von Carl Joachim CLASSEN und Johannes FRIED hg. VOll

Josef fLFCKENSTElN (Vorträge und Forschungen 28, 1983) S. 379-430, hier S. 380-387 für diegut dokumentierte Schriftproduktion Gerhochs von Reichcrsberg herausarbeiten konnte.

71 B~F 800; cd, Charrcs et Documents de Saint-Benigne de Dijon. Pneures et dcpcndanccs desorigines a 1300, hg. von Georges CIlEVRlER und Maurice CIIAUME, 1 (Vlv-X" sieclcs), bcarb.von Robcrt FOLZ unter Mitarbeit von Jean MARlLlFR (Analecta Burgundica, 1986) Nr. 34 S. 69.Vg!. Charlotte DAIILMA:'-lN, Untersuchungen zur Chronik von Saint-Benigne in Dijon, NA 49(1932) S. 281-331, hier 5.324 Nr. 18.

72 Zu den wenigen Urkunden, die Gerhoch von Reichcrsberg im 12.Jahrhundert nicht kopierenließ, gehiiren mehrere Mandate, und die einzige verlorene Urkunde ist ein solches; vg!.Cl,ASSEN, Werkstatt (wie Anrn. 70) S. 382.

73 Nur als Regesten erhalten sind etwa folgende Briefe Hinkmars: MGH Epp. 8,1 Nr. 5,6,10,11,13,16,18,29,30,31,41-43,45-47,49,50,62,63,65,68,69, 70, 75, 77, 92, 93, 9'i, 98,103,105,107,114,116,117,118,128,130,138-140,142-144,151-155, 157, 167, 168, 171-178, 180, 191,196,Über Text verfügen wir im Falle von Hinkmar, Brief 12, cbda, S. 4 f. Vg!. auch STRATMANN,Briefe (wie Anm. 34) S. 66.

124 Mark Mcrsiowsky

Hinkmars thcologischcn, kirchenrechtlichen und literarischen Schreiben (hierbesonders seine Widmungsbriefe) verfügen wir hingegen über Texte. Hättenicht Flodoard die aus der Regierungspraxis stammenden Briefe verarbeitet,wären sie samt und sonders verloren. Briefsammlungen wurden nach jeweilseigenen Kriterien zusammengestellt: Neben archivisch-dokumentarischen undautobiographischen spielen literarische und didaktische Momente eine ent-scheidende Rollc/". Briefe alltäglichen Charakters überwanden die Hürde ausinhaltlichen wie formalen Gründen zumeist nicht, anders als solche Schrift-stücke, die im weitesten Sinne literarisch oder geistlichen Inhalts sind undentsprechend kunstvoller ausgestaltet wurden. Allein die Tatsache, daf admi-nistrative Stücke durchwegs in Prosa abgefaßt sind, verminderte ihre Über-lieferungschance gegenüber poetisch kunstvolleren Produkten/>. Nicht nurFlodoards Regesten geben uns einen Eindruck von den Verlusten, die durchdie beschriebenen Überlieferungsverhältnisse eintraten. Besonders auffällig istder Kontrast zu Briefsammlungen, die administrativcn Zwecken dienten. Hiertaugen vor allem die von Frothar von Toul gesammelten Schreiben als ein-drucksvolles Beispiel. Diese Formularsammlung enthält wegen der Zugrun-dclegung nichtliterarischer Kopier intcrcsscn Dokumente ganz anderenCharakters".

Ill. Administrative Schriftlichkeit im Spiegel der Briefe und Mandate

Bevor wir nun zur Rolle von Schriftlichkeit in Regierung und Verwaltungder Karolingerzeit kommen, muß noch kurz der verfassungsgeschichtlicheRahmen skizziert werden. Hier stehen die Regierungszeiten Karls des Großen,Ludwigs des Frommen und seiner Söhne im Mittelpunkt. An der Spitze desReichs stand der König als Banninhaber, Kriegsherr, Hüter von Recht undFrieden und oberster Richter. Um ihn herum gruppierte sich der Hof, sein per-sonales Umfeld. Organisiert war dieser Verband nach dem Prinzip des ganzenHauses; wichtige Funktionen lagen in der Hand der entsprechenden Hof-

74 Den literarischen Charakter betonte besonders ERllMANN, Briefe (wie Anm. 68) S. 1 L; vgl.auch K()! IN, Latein und Volkssprache (wie Anm. 41) S. 342. COr-.:STAIlLE,Letters (wie Anm. 37)S. 56 L unterscheidet zwischen archivischcn, didaktischen und literarischen Sammlungen. Vgl.jetzt die Differenzierung zwischen Briefregister. Briefbuch. Bricfsammlung und Briefsteller beiKou», Quellenkritik (wie Anm. 41) S. 296-307.

7, Vgl. Dieter SClIALLER, Vortrags- und Zirkulardichtung am Hof Karls des Grollen, Mittel-lateinisches Jahrbuch (, (1')69) S. 14-36, hier S. 14.

l!. Kar! HAMI'E, Zur Datierung der Briefe des Bischofs Frothar von Toul, NA 21 (18%)S. 747-760, hier S. 747 spricht davon, datl die Sammlung "den Charakter einer Formclsamrn-lung" trage; vgl. auch den Beitrag von Martina Stratmann in diesem Band S. 8S.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 125

ämter. Innerhalb bestimmter Kernlandschaften war der Hof mobil, bevorzugteallerdings bestimmte Pfalzen. Unterstützt wurde der Monarch von seinenconsijiarii, zu denen die Inhaber bestimmter Hofämter gehörten. Darüber hin-aus gab es regclmägige Hoftage und allgemeine Reichsversammlungen als Be-ratungsgremien. Der zum Hofdienst verpflichtete Personalverband der Geist-lichkeit am Hof wird als Hofkapelle bezeichnet; an ihrer Spitze stand der ober-ste oder Erz-Kapellan. Aus der Hofkapelle rekrutierte sich die Kanzlei, anderen Spitze der (Erz- )Kanzler stand.". Als regionale Sachwalter der karolin-gischen Herrschaft fungierten in erster Linie die Grafen. Sie waren die Stellver-treter des Königs in den Grafschaften, in die das Karolingerreich mehr oderminder vollständig eingeteilt war. Die missi dominici, die Königsboten, warenzunächst persönliche Abgesandte, die die regionalen Machthaber kontrollierensollten und im königlichen Auftrag korrigierend eingreifen konnten. In seitdem frühen neunten Jahrhundert verfestigten Missionssprengeln agiertenzumeist ein geistlicher und ein weltlicher Großer dieser Region als missi/".

77 Francois Louis GANSIiOF, Lcs traits gcncraux du systcmc dinstitutions de la monarchic [ran-que, in: 11p.lssaggin dall'antichitn ollmcdiocvo in occidcntc (Scttirnanc Ji studio del Ccntro ita-liano di studi sull'alro mediocvo 9,19(2) S. 127; dcrs., The impact of Charlemagne on the insti-tutions of the Frankish realm, Speculum 40 (1965) S. 47-62; dcrs., Charlemagne et lcs institu-tions tie la mon.irchic franque, in: Karl tier Grolle. Lebenswerk und Nachleben, hg. von Wolf-gang BRAuNIELs, Bd. I: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von Helmut BEUMANN (J1%7)S. 349-393; WFRNER, Missus - Marchio - Comes S. 191-239; [ohanncs FRIED, Der karolin-gische Herrschaftsverband im 9. Jh. zwischen .Kirchc' und ,Kiinigshaus', HZ 235 (19H2) S.1-43. Vg!. auch die neucrcn Übersichten bei Pierre RIClIf.:, La vie quotidicnne dans l'cmpircCarolingien (1973) S. 109-120, dt.: Die Welt der Karolinger (21984) S. 109-119; ders., I.esCarolingiens. Une [arnillc qui fit l'Europc (1983) S. 130-US, dt.: Die Karolinger. Eine Familieformt Europa (1987) S. 157-163; Rosamond McKllTERICK, The Frankish Kingdoms under theCarolingians, 751-987 (1983) S. 77-105; SCHNEIDER, Frankenreich (wie Anm. U) S. 52-5(,;Hans K. SCHULZE, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger undKarolinger (1987) S. 214-221; [ohannes FRIW, Der Weg in die Geschichte. Die UrsprüngeDeutschlands. Bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands I, 1994) S. 294-319.

78 Zur Grafschaftsverfassung vg!. Hans K. SCHULZE, Die Grafschaftsverfassung der Karolinger-zeit in den Gebieten östlich des Rheins (Schriften zur Verfassungsgeschichte 19, 1973); dcrs.,Grundprobleme der Grafschaftsverfassung. Kritische Bemerkungen zu einer Neuerscheinung,Zs. für Württembcrgischc LG 44 (1985) S. 265-282; Michael BURGUJ:rE, Die Geschichte derGrafengewalt im Elsaß von Dagobcrt I. bis Otto dem Grollen, ZGORh 131 (1983) S. 3-54;dcrs., Geschichte der Grafschaften Alcmannicns in fränkischer Zeit (Vorträge und ForschungenSonderband 31, 1984); dcrs., Die Grafen Alcmannicns in merowingischer und karolingischerZeit. Eine Prosopographie (Archäologie und Geschichte 2, 19S6); Thomas ZUTZ,Grafschaftsverfassung und Personengeschichte. Zu einem neuen Werk über das karolingerzeit-liche Alemannicn, ZGORh 136 (1988) S. 1-16; Ulrich NONN, Pagus und Comitatus in Nieder-lothringen. Untersuchungen zur politischen Raumgliederung im früheren Mittelalter (BonncrHistorische Forschungen 49, 1983); dcrs., Probleme der Iruhminclaltcrlichcn Grafschafts-verfassung am Beispiel des Rhein-Mosel-Raums, Jb. für westdeutsche LG 17 (1991) S. 29-41.Zu den missi mit Nachweis der älteren Litcratur WERNER, Missus - Marchio - ComesS. 195-205; Jürgen HANNIG, Paupcriorcs vassi de infra palatio? Zur Entstehung der karolin-gischen Königsbotenorganisation, MIÖG 91 (1983) S. 309-374; dcrs., Zentrale Kontrolle und

126 Mark Mcrsiowsky

Schreib- und Lesefähigkeit waren - zumindest in bestimmtem Maße - aufden verschiedenen Ebenen gegeben. Gerade diese Voraussetzung ist allerdingsumstritten. Ohne die vie! diskutierte Frage der Laienschriftlichkeit hier noch-mals aufzunehmen, sei darauf verwiesen, dag alle karolingischen AmtsträgerZugriff auf oder Kontakt zu Klerikern hatten. Am Hofe stand neben denKlerikern der Hofkapelle mit den pucri pelatini eine turba scriptorum - soAlkuin - zur Verfügung?". Auch an die Schreiber der Pfalzgrafen ist zu den-ken. Auf lokaler Ebene konnte man sich entweder der ortsansässigen Klerikerbedienen, die zur Anfertigung von carrae und cpistolec fähig sein sollten, oderder Gerichtsschreiber. Nicht nur die Untersuchungen von Rosamond McKit-terick lassen vermuten, daß Grafen und weltliche Größen sich zumindest mitder Hilfe Bediensteter schriftlicher Kommunikation bedienen konnten'P.

Das fränkische Großreich war allein aufgrund seiner geographischen Aus-dehnung auf Kommunikation zwischen Hof und regionaler Ebene angewie-sen. Nach Kar! Ferdinand Werner haben die karolingischen Herrscher 90%ihres Reiches nie während ihrer Herrschaft besucht, wurden sie nicht durch

regionale Machtbalance. Beobachtungen zum System der karolingischen Königsboten am Bei-spiel des Mirrclrhcingcbietes, Archiv für Kulturgeschichte 66 (1984) S. 1-46.

7'1 Alkuin, Carmen 26,26 (MGH Poctae 1 S. 246). In mehreren Schreiben des Lupus von Fcrriercsist von einem Mönch G. am Hofe Lothars I. die Rede. Die Werke des Lupus liegen in drei Edi-tionen vor: MGH Epp. 6 S. 1-126; Loup de Fcrricres, Corrcspondancc, hg. von LconLEVILLAIN, Bd. 1: 829-847, Bd. 2: 847-862 (Les Classiques de l'Histoirc de France au MoycnAge 10, 16, 1927/35, 21%4); Scrvati Lupi Epistulae, hg. von Peter K. MARSHALl. (BibliothecaScriptorum Graecorum et Romanorum Teubncriana, 1')84). Die Zählung bei Dümmlcr (MG H)und Marshall stimmt überein, die Angabe nach Lcvillain folgt in Klammer. Über G. heißt es inLupus, Brief 108 (L. 29), ed. MARSllAl.l. 108,3 S. 104 Z. 24 in officio condcndsrum cpistolatuniI'cncucrarct. Die Identifizierung des Mönchs G. mit Glorius, dem aus der Kanzlei Ludwigs desFrommen stammenden Notar, der in Lochars Kanzlei wechselte, nach Mühlbacher bei FLECKEN-STEIN, Hofkapelle (wie Anm. 6) S. 105 Anm. 387, S. 126 Anm. S5. Vorsichtiger TheodorSUIIII'FJ-R, Die Doppelurkunde Lothars I. aus Mainz (BM. 1071 für Mctz), Archiv für mittel-rheinische KG 14 (1962) S. 417-426, hier S. 425; dcrs., DD Kar. III S. 18,28 f. Es ist aber nichtzwingend, die Formulierung des Lupus auf die Kanzlei zu beziehen. Wenn er eindeutig von Ur-kunden spricht, benutzt er nicht litters oder cpistola, sondern in Lupus, Brief 11 (L. 19), cd,MARSIlALL 11, 2 S. 20 Z. 17 cdicrum, ebenso Lupus, Brief 12 (L. 71), cd. MARSIlALl. 12, 3 S. 21Z. 10, oder pr;lcceptum, so Lupus, Brief 71 (L. 42), cd. MARSHAl.L 71, 3 S. 74 Z. 18,22 (wieüberhaupt die Karolingerzeit zwischen den Textsorten gut zu unterscheiden wußte). G. mugalso nicht mit Glorius identifiziert werden, sondern könnte auch ein mit Briefeschreibenbefaßter Kleriker am Hofe gewesen sein.

SD Vgl. mit entsprechenden Nachweisen für den Hof Pierre RICHI" La Formation des Scribes dansle Monde Merovingicn et Carolingien, in: Histoire cornparce de I'administration (wie Anm. 14)S. 75-80, hier S. 77 f. Die Tätigkeit dieser Schreiber ist vor allem durch die Inforrnationcn, dieuns für den jungen Hinkrnar von Reims zur Verfügung stehen, gut belegt; vgl. Heinz LÖWE,Hinkrnar von Reims und der Apocrisiar. Beiträge zur Interpretation von De ordinc p;ll.ltii, in:Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd, 3 (Ver-öffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36,3, 1972) 5.197-225, hier S. 201 f.Für lokale Kleriker und Gerichtsschreiber vgl. JOIIANEK, Rechtliche Funktion S. 138-143.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 127

kriegerische Umstände dazu gezwungen81. Eine solche Praxis erforderte einfunktionsfähiges Kommunikationssystem, in das auch die weltlichen Amts-träger eingebunden waren. Wenn die Karolinger diese Form der Herrschaftvor allem in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts praktizieren konnten, sokönnte man argumentieren, zeige dies im Rückschluß bereits Existenz undEffektivität dieses Systems. Die Analyse der überlieferten Trümmer des Kom-munikationssystems im Rahmen der skizzierten Verfassung vermag festerenBoden zu schaffen. Die Betrachtungen zum Einsatz der Schriftlichkeif sollenzunächst auf den Hof und sein Umfeld konzentriert werden. Im Anschlußdaran lenken wir den Blick auf die mittels Briefen und Mandaten vom Hofausgehenden Regierungs- und Verwaltungshandlungen. Mit den an die regio-nalen Sachwalter gerichteten Anordnungen, dann mit deren Schreiben an dieZentrale steht die vertikale Komponente im Mittelpunkt. Dem Schriftverkehrder verschiedenen Amtsträger untereinander, also der horizontalen Kompo-nente, widmet sich der dritte Darstellungsteil.

IlL I. Herrscher und Hof

Der Hof als Personenverband bildete das zentrale Regierungsinstrumentdes Herrschers. Dieses Charakteristikum macht ihn für traditioncllc, institu-tionengebundene Betrachtungen so schwer faßbar82• Legt man statt desinstitutionellen den personalen Begriff des Hofes zugrunde, erweisen sich vieleSchreiben als Ausdruck karolingischer Regierungs- und Verwaltungspraxis.Kontakt zum Hof und Zugang zum Herrscher waren für die Durchsetzungeigener Interessen notwendig. Briefe waren neben persönlicher Präsenz undeinflußreichen Fürsprechern das Mittel, um in Kontakt mit dem Herrscher zukommen. Daher erhielten die karolingischen Kaiser und Könige eine Vielzahlvon Bittbriefen, Beschwerden, Berichten und Anfragen in unterschiedlichenAngelegenheiten83. Oft waren diese Schriften dossierartig und recht umfang-

SI WERNER, Missus - Marchio - Comes S. 194.H2 Vg!. Joscf FLECKENSTFlN, Kar! der Grolle und sein Hof, in: Kar] der GroEe. Lebenswerk und

Nachleben 1 (wie Anm. 77) S. 24-50; ders., Die Struktur des Hofes Karls des Grollen im Spiegelvon Hinkmars De ordine palatii, Zs. des Aachcncr Gcschichtsvcrcins 83 (197(,) S. 5-22 sowiejetzt den Beitrag von Peter Johanek in diesem Band. Zum Problem frühmittelalterlicher Sra.u-[ichkcit GOITZ, Regnum (wie Anm. 36); PERROY, Administration (wie Anm. 35) S. 133-141geht von modernen Staatlichkcitskritcrien aus und zeichnet daher ein sehr dunkles Bild.

S3 Vg!. etwa die verschiedenen Briefe in den karolingischen Formularsammlungen (cd. MGHFormulae): Formulae Marculfinae acvi Karolini 19 S. 120; Formulae Murbaconses 4-5S. 330-331; Formulae Augienscs B Nr. 43 S. 363-364; Formulae Augicnscs C Nr. 6 S. 367;Formulae Sangallenses miscellancac Nr. 1 S. 380, Nr. 29 S. 415; Formulae Collcctionis s.mctiDionysii Nr. 15 S. 504, Nr. 18 S. 505-506, Nr. 22 S. 507-508; Collcctio Codicis Havnicnsis 1')43Nr. 1-2 S. 522-523; Indicularius Thiathildis Nr. 1-2 S. 525-526; E Codiee Parisicnsi Lat. 13090

128 Mark Mcrsiowsky

reichH4• Dabei waren es keineswegs nur die Großen des Reichs, deren Briefesich erhalten habenf>. Es ist hier nicht der Ort, die zahlreich überliefertenZeugnisse vorzustellen. Stattdessen soll es um andere Typen von Schrift-stücken gehen, die an den Hof gerichtet waren.

Den Zutritt zum Herrscher ermöglichten oder erleichterten Empfehlungs-schreiben. 795 erhielt Johannes durch ein Diplom Karls des Großen die VillaFantes. Dort heigt es: Iohanne ad nos vcnicnte et ostendit nobis epistola, quedilcctus filius nosier Ludovicus ei ieeerat et per ipsum ad nos direxit. Johanneshatte sich im Kampf gegen die Sarazenen hervorgetan und erschien mitEmpfehlungen Ludwigs des Frommen an den Königshofw. In diesem Fall

Nr. 1 S. 528-529; Formulae Negotiorum Civilium Nr. 1-2 S. 533-534. Eine Vielzahl vonMaterien ist in Hinkmars Briefen an die verschiedenen Karolinger enthalten: MGH Epp. 8, 1Nr. 6 S. 3, Nr. 18 S. 7, Nr. 29-31 S. 10, Nr. 60-61 S. 34, Nr. 73 S. 38, Nr. 75 S. 39, Nr. 95 S. 43,Nr. 107 S. 52, Nr. 114 S. 57, Nr. 117 S. 58, Nr. 138 S. 107, Nr. 139-140 S. 108, Nr. 143-145S. 116, 151 S. 119, Nr. 153 S. 119, Nr. 168 S. 143, Nr. 178 S. 167 (ohne Widmungsbricfe ctc.),Einhard: MGH Epp. 5 Nr. 10 S. 113 f., Nr. 34 S. 126 f. Zum Teil appellierten in Streitfragenbcidc Seiten gleichzeitig an den Herrscher, vg!. etwa Kar! an Alkuin, Brief 247 (MGH Epp. 4S. 399 Z. 40 f.): Pridic, quam ad nostram prxcscntum a vobis missa vctussct cpistola; adl.itiu:nobis sunt littcrac a Thcodulio cpiscopo missal' ... (dazu unten S. 152 f.). Vg!. auch Paul KIRN,Reklamationsbricfc und Reklamationsrecht in der Karolingcrzcir, in: Festschrift EdmundE. Sterigel zum 70. Geburtstag am 24. Dezember 1949 (1952) S. 195-202.

X4 Hier nur wenige Beispiele. Der wohl erkrankte Erzbischof Leidrad von Lyon gab 813/14 demKaiser eine Art Rechenschaftsbericht über seine Handlungen nach Antritt des Amtes; Brief 30(MGH Epp. 4 S. 542-544), überholt durch Alfred COVILLE, Recherehes sur l'Histoire de Lyondu VOlleSiede au IX",e Siede (450-soo) (1928) S. 268-287; vg!. Hubert GERNER, Lyon im Früh-mittclaltcr, Studien zur Geschichte der Stadt, des Erzbistums und der Grafschaft im 9. und10. Jahrhundert (1968) S. 174-178; Ono Gerhard OEXLE, Forschungen zu monastischen undgeistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich (Münstcrschc Mittelalter-Schriften 31,1975) S. 134-141. Das berühmteste Beispiel ist sicher der supplex libel/us der Fuldaer Mönche,der erstmals 812 Kar! dem Großen und 816/17 in der erhaltenen Form Ludwig dem Frommenvorgelegt wurde, cd. Supplex libcllus monachorum Fuldensium Carolo imperatori porrcctus(812 et 817), ed.JoscfSEMMLER (CCM 1 [1963] S. 320-327); vgl. Joscf SEMMLER, Studien zumSupplex Libellus und zur anianischen Reform in Fulda, ZKG 69 (1958) S. 268-298. Weitere Be-schwerdeliriefe liegen etwa für Bischof Viktor 11. von Chur (MGH Epp. 3 S. 309 Nr. 7),vg!. dazu BORCOITE, Geschichte der Grafschaften (wie Anm. 78) S. 219-229, und St. Mcdardin Soissons aus der Zeit um 860-870 (MGH Epp. 6 S. 179 f. Nr. 25, 2) vor.

s, So besitzen wir noch den Text eines Schreibens eines Sachsen sowie dessen Mutter undSchwester an Ludwig den Frorurnen. Sie baten den Kaiser, ihnen ihr väterliches Erbe wieder-zuerstatten, das ihnen in den Wirren der Sachsenkriege verloren gegangen war: MGH Epp. 5S. 300 f. Nr. 2; vg!. dazu KIRN, Rcklamationsbricfc (wie Anm. 83) S. 197 f.

Xf, D Kar. I 179 (Zitat S. 241 Z. 40-42). Zu Johannes R. J. H. COLLINS, Charles the Bald and Wifredthe Hairy, in: Charles the Bald. Court and Kingdom, hg. von Margaret T. GIBSON und [anet L.NELSON (21990) S. 169-188, hier S. 186 f. Vg!. zum Umfeld Walther KIENAST, Die fränkischeVasall it at. Von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen, hg. vonPeter HERDE (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge. Kulturwissenschaftliche Reihe 18, 1990)S. 147. JOIIANEK, Probleme einer z.ukiinftigcn Edition S. 421 f. hob das hier zutagetretendeInteresse I.udwigs an der schriftlichen Fixierung von Rechtstiteln hervor.

Rl'~icrun~spr"xis und Schriftlichkcit 12')

besitzen wir nur den Hinweis auf ein derartiges Schreiben, in anderen hinge-gen auch den Text. Alkuin etwa gab einem Kleriker eine Empfehlung an KönigPippin von Italien mit und stellte Erzbischof Aethclhard von Canterburyeinen entsprechenden Brief an Karl den Großen ausH7•

Eine der wichtigsten Aufgaben der Hofangehörigen war es, den Monarchenvon Bittstellern abzuschirmen und ihm nur solche Belange vorzutragen, dienicht anderweitig entschieden werden konnten. In seiner Schrift Oe ordinepalatii spricht Hinkmur von Reims davon, dag der König von allen Sorgen umHaus und Hof befreit sein solle, um sein Denken ganz auf Gott sowie Ord-nung und Erhalt des Reiches konzentrieren zu können: Haec autem omnia ethis similia eo intcndcbsnt, ut ab omni sollicitudine domestic» vel palatina [... }domnus rcx omtiipotcnti Deo spem suam indesinenter committens ad totiusregni statum ordinandum vel conscrvendutn snunum semper suum promptumhabererH8• Das berühmte Gedicht ad Karolum tcgem des Theodulf von Orle-ans schildert bei der Darstellung des Pfalzbetriebes unter Karl dem Großenlebendig den begrenzten Zugang zum Herrscher: Plebs eat et rcdeat atria l0I1h.1

wrens, / lsnus pendatur multisquc volcntibus intrcnt / Pauci, quos sursumquiJibet ordo tulirH9•

Agobard von Lyon berichtete 822 anschaulich, wie eine Audienz am Hofeablief. Er hatte seinen Ansprechpartnern Adalhard, Helisachar und Wala seineAngelegenheiten vorgetragen, mit denen diese vor den Kaiser traten. Zwarermöglichten sie Agobards persönliches Erscheinen vor dem Monarchen, dochan der eigentlichen Verhandlung durfte er nicht teilnehmen: Vos ingressi cstisin conspectu principis, ego stcti ante ostium; post pauluium fecistis, ut ingrcde-rer, sed nihil audivi, nisi absolutionem disccdcndi. Quid rarnen vos dixcritisclementissimo principi prciata de causa, qualucrquc accepctit, quidve rcspon-derit, non audivj90. Bitter empfand der Lyoner Erzbischof diese Zurück-setzung gegenüber seinen Gegnern, die sich ihrer besseren Kontakte zum Hofeöffentlich rühmten?'. In einem um 822 zu datierenden Brief beklagte er sich

87 MGH Epp. 4 S. 71 Nr. 29, S. 375 f. Nr. 231.88 Vg!. Hinkmar von Reims, De ordinc palatii, hg. u. übers. von Thomas GROSS und Rudolf

SCIIIEITER (MGH Fonres iuris 3 [1')80] S. 74, Z. 368-372, Übersetzung cbda. S. 75).89 Thcodulf, Carmen 25, 64-66 (MGH Poctac 1 S. 485).'JO Agobard, Brief 5 (MGH Epp. 5 S. 164 Z. 31-34); Agobardi Lugduncnsis Opera Omnia, hg. von

Lievcn van ACKER (CC Cont. Med. 52 [1')81] Nr. 6, S. 115 Z. 7-11). In diesem wie den nachfol-genden Fällen unterscheiden sich die Editionen lediglich in der Schreibung u-v und einigenBeistrich- bzw. Semikolon-Wechseln. Vgl. zur Situation Agobards Egon Bosnor, ErzbischofAgobard von Lyon. Leben und Werk (Kölner Historische Abhandlungen 17, 1')(,')) S. 8'),S. 105 f.

'JI Agobard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 184 Z. 21-25); A~obardi op. (wie Anm. 90) 11, S. 194Z. 110-115: Dum cnim gloriaIlCurmcntientcs simplicibus chrisri;l1lis,quod clri sinr vobis prop-rer parrürch.ls, quod honor.lbilircr ingrcdi.1nrur ill conspectu vesrro er cgrcdi.lI1rur, quod

130 Mark Mersiowsky

wortgewaltig, die Missetäter seien sich dessen bewußt, daß Klagen über ihreÜbeltaten an den Hof gehen und dort an Hofangehörige delegiert würden. Dasie unter diesen Verwandte und Freunde hätten und Bestechungen ein übrigestäten, brauchten sie sich nicht zu sorgcn='. Er selbst könne es nicht ohne Ge-fahr sagen, aber viele der Übeltäter dächten, daß der angesprochene Graf Mat-frid eine Mauer zwischen ihnen und dem Kaiser sei, die sie vor korrigierendenEingriffen bcwahrc'P.

Hinkmar von Reims empfahl angesichts der notwendigen Zugangshürdenzum Herrscher, bei der Besetzung der Ämter eine Art regionalen Proporz zuwahren, damit jede Volksgruppe am Hof einen Ansprcchpartner habe94. DieBedeutung eines Fürsprechers am Hofe thematisierte aus eigener Erfahrungder Bittsteller Frothar: Constat quippc protcctioncm vcstram ianuam adessesalutis vcsttumquc regimen potturn solidissimc quictis'>. Die Konstruktiondes Verfassungselements Hof maß seinen Angehörigen eine wichtige Rolle zu.Daher verfügen wir über eine erstaunliche Reihe von Schreiben an Hofan-gehörige. Diese sollten die Absender informieren, sich für sie einsetzen, sieentschuldigen, ihre Wünsche unterstützen und diese dem Herrscher vor-tragen%. Bischof Frothar von Toul ersuchte den Höfling Gerung um Unter-

cxccllcfltissim~' l'crson~' cupiant eorum oruioncs cc bcncdictioncs, CC Ietcantur talcm se legisJuccorem habere vcllc, qu.ilcm ipsi hiibcnt, dum dieuni consiliuorcs vestros commocos advcr-suIII nos eoru m c.wsa .. ,

'12 Agobard, Brief 10 (MGH Epp. 5 S. 202 Z. 8-22); Agobardi op. (wie Anm. 90) 13, S, 226Z. 29-35. Zur Datierung BOSIlOI', Agobard (wie Anm. 90) S. 115, 131.

~.l Agobard, Brief 10 (MGH Epp. 5 S, 202 Z. 22-24); Agobmli op. (wie Anm. 90) 13, S, 226Z. 49-51: Quodque sine periculo dicere nequeo, multi tslium PUt.1I1tvos esse mumm inter se etirnpcruorcni, per quem dcicndantur a corrcctionc.

'14 Hinkrnar, De ordinc palatii (wie Anm. 88) S. 66 Z. 299-301: ... qiulitcr Funilisrius quaequercgioncs pal.ltiulll adirc posscnt, dum su.ic gene.1/ogiae vel regionis cotisortcs in pslatio locumtenere cognosccrcnt. Zu den Zugangshürden vg!. cbda. S. 68 Z. 308-322; im Zusammenhang dergeistlichen Angelegenheiten heißt es bei ihm: er ea tuitununodo de cxtcrnis rcgcm adircnt, qual'sine illo plcnius diffiniri non potuisscnt ... (cbda, S. 70 Z. 326 f.); Et ut ex qU;lcunque p;mctouus rcgn], quicunquc dcsolstus, orb.uus, alieno acre oppress US, iniustc calumni« cuiusquesuffi"';lws seu cerera his simili.l ... um .,cniorum quamque er mediocrium uniuscuiusque secufl-dum SU.lm indigcnti.l111 \'el qU.llitatem, dOJJJinorulll vero misericordiam et picratcm semper adnUllum haheret, per quem singuli ad pias aures principi perferre poruissent (ebda. S. 78Z.419-426).

'IS Frothar, Brief 20 (MGH Epp. 5 S. 289 Z. 33 f.).'J(, Bonifatius bat für die Regelung scint:r eigenen Nachfolge 752 Fulrad von Saint- Denis um Für-

sprache bei Kiinig Pippin (MGH Epp. seI. 1 Nr. 93 S. 212-214); ein Abt bat vor 796, vielleicht788, um Nachrichten vom Hof, Informationen über die Awaren und die römische Kirche(BISClIOIT, Salzburger [ormelbücher lwie Anm. 31] 1I, 15 S. 38 f., vg!. dazu ebda. S. 14); Bi-schof Frothar von Toul wandte sich mehrfach an Hilduin, den Erzkaplan Ludwir;s des From-men, um von verschiedenen Bauarbeiten an den Pfalzen befreit zu werden (Frothar, Brief 9,MGH Epp. 5 S. 282 L), bat wegen der Restituierung zweier Mansen um Vortrag beim Kaiser(ebda. S. 287 f. Nr. 17) und suchte gegen die Entfremdung von verliehenen Lehngütern bei Hil-

Regierungspraxis und Schrifrlichkeir 131

stützung bei einer Sache, die er dem Kaiser persönlich referieren wollte. Ge-rung möge ihm secrete per vestras litteras et per pracscntem missum nostrumden günstigsten Termin für dieses Vorhaben mitteilcn'". Zum Teil verdichtetesich eine vortastende Kontaktaufnahme zur regelrechten Karnpagnc'". In denBriefen an Hofangehörige ging es nicht nur um persönliche Interessen der Ab-sender. Oft traten Persönlichkeiten mit Kontakten zum Hof auch als Mittlerzwischen Bittstellern und Fürsprechern auf99. Schwierige politische Konstel-lationen verschärften die Notwendigkeit, ein geneigtes Ohr zu finden. So erga-ben sich aus den politischen Umwälzungen der Jahre 833/34 große Probleme,da die Umschichtungen im Reichsgefüge und die neuen Grenzziehungen dierechtlichen Rahmenbedingungen verändcrtentw. Einhard schaltete sich füreinen Grafensohn namens Frumold ein, den eine Krankheit hinderte, persön-lich an den Hof zu kommen und sich Kaiser Lothar zu kommendieren. Dahermußte Frumold fürchten, seines Lehens bei Gent verlustig zu gehen. Im ersten

duin Unterstützung (ebda, S. 289 f. Nr. 20). Etwas mysteriös ist ein Brief zwcicr Personenan Walahfrid Strabo, den Kapcllan der Kaiserin judith. Sie erinnern ihn in bestimmtem Ton andie Einhaltung eines Versprechens, ohne irgendetwas über dessen Inhalt anzudeuten (Einhard,Brief 69, MGH Epp. 5 S. 143; zur Identifizierung vgl. cbda, Anm. 3; FLFCKENSTFlN, Hofkapel-le [wie Anrn. 6J S. 73).

97 Frothar, Brief 10 (MGH Epp. 5 S. 283, Zitat Z. 2S F.); vgl. zum Verh.iltnis von Frothar zuGerung auch Nr. 6 (S. 280), Nr. IS (S. 288 f.), Nr. 23 (S. 292).

98 Als kaiserliche misst den Elcktcn für das Erzbistum Sens abgelehnt hatten, wandte sich dieWahlversammlung in Einzelbriefen an Erzkaplan Hilduin, Einhard und Kaiserin judith, batenum Unterstützung und die Gelegenheit, den abgelehnten Elcktcn dem Kaiser persönlich vor-zuführen (Frothar, Brief 13-15, MGH Epp. 5 S. 285-287). Lupus von Fcrricrcs führte überJahre eine langanhaltende Korrespondenz mit verschiedenen Partnern, um Karl den Kahlenzur Rückgabe der Zelle Saint-Josse zu bewegen: Lupus, Brief (vgl. Anm. 79) 11 (L. 19), 42(L. 43),43 (L. 47), 44 (L. 48), 45 (L. 49), 53 (L. 57), 55 (L. 58), 60 (L. (5), (,I (L. S(,), 62 (L. 87),71 (L. 42), 83 (L. 82), 88 (L. 32), 92 (L. 36), 117 (L. 116). Zur Bedeutung dieser Zelle vg!.Pauline STAFfORD, Charles the Bald, Judith and England, in: Charles the Bald (wie Anm. 86)S. 139-153, hier S. 140 f. Auch für Hinkmar von Reims bill sich ähnliches zeigen (MGHEpp. 8, I S. 2-3 Nr. 5, S. 31 Nr. 50, S. 42 Nr. 92, S. 50 Nr. lOO, S. 119 Nr. 152).

99 Besonders aussagekräftig ist hier die Briefsammlung Einhards, Den comes l'.d.ltii Gcboinersuchte Einhard, sich die Anliegen eines p.lheIlsis namens David vortragen zu lassen, und,falls sie ihm gerechtfertigt erschienen, dem Manne die Vorsprache beim Kaiser zu ermöglichen.Er fügte noch hinzu, daß David ein Mann Lothars sei und ihm daher nicht nur wegen EinherdsBitte, sondern auch Lothars halber Unterstützung zuteil werde (MGH Epp. 5 S. 112 Nr. 6).Einhard wurde aulicrdcm für einen ungenannten Maler (ebda. S. 119 Nr. 18) und zwei seinerl'.thcIlSes et iunilisrcs namcns Aristeus und Thcothous tätig (cbda. S. 120 N r. 19). Lupus vonFcrrricrcs intervcnicrtc bei Pardulus von Laon CUIII repeto IIIClllori.1 intimos uos esst' rchifür das Kloster Saint-Colombc, vg!. Lupus, Brief (vg!. Anm. 79) 12 (L. 71), hier zit. nachMarshall 12,2 S. 21 Z. 2-3.

100 RICHf:, Karolinger (wie Anm. 77) S. 189-191; SCIIIEFlTR, Karolinger S. 135 f.; Eugen E\\'IG,Überlegungen zu den merowingischen und karolingischen Teilungen, in: Nascita dcll'Europacd Europa carolingia: un'cquazionc da verificare. 19-25 aprile 1979, Bd. I (Scttimanc di studiodel Ccntro italiano di studi sull'alto medinevo 27,1981), S. 225-253, hier S. 247-249.

132 Mark Mcrsiowsky

Brief erbat Einhard - ganz allgemein formuliert - Hilfe von einem ungenann-ten Grafen. Konkreter wurde er in einem zweiten Schreiben: Der Adressatmöge den Kaiser bitten, Frumold so lange das Lehen zu erhalten, bis er gene-sen sei, an den Hof komme und die Kommendation erfolgen könne.I?'

Die von den Bittstellern erhofften Interventionen gingen zum Teil selbstschriftlich vonstatten 102. Man bediente sich dieses Kommunikationsmittelsnatürlich auch für die Antworten. In einem Brief an Abt Usuald und denKonvent des Klosters San Salvatore di Monte Amiata teilte Alkuin mit: Vestraepctittonis et voluntetis ad damnum tegem, quantum velui, fui aduitor, secun-dum quod mihi Iretcrnitetis vestrae missus suggcssit; mihi adiutricem Liud-gardam piissimam in Deo icmituun adduxI103. Die Antworten an die Bittstellerliefen zum Teil über die Fürsprecher. Nur ein Beispiel: Einhard schrieb 828/29an Amalarius von Metz, er habe dessen Brief erhalten und den Kaiser infor-miert, worauf dieser ihm befohlen habe, an Amalarius zu schrcibcri'v+, Schrift-

101 Einhard, Brief 27 (MGH Epp. 5 S. 123). In einem anderen Fall besagen zwei Brüder gemein-sam ein Lehen von 15 Mansen im Gau Tournai und 5 Mansen jenseits des Rheins. Um dasLehen weiter gemeinsam innehaben zu können, beabsichtigte der eine Bruder, sich für dasLehen bei Tournai Kaiser Lothar zu Dienst zu verpflichten, der andere für das jenseits desRheins liegende Benefizium bei König Ludwig dem Deutschen. Der andere Bruder wollte demnur auf ausdrücklichen kaiserlichen Befehl zustimmen. Einhard versuchte, zugunsten desersten Bruders über einen Höfling Kaiser Lotbar zum Erlag dieses Befehls zu bewegen, vgl,Einhard, Brief 29 (MGH Epp. 5 S. 124). Auch einen Priester, der bei der Reichsteilung 833 seinLehen in Bayern verloren hatte und nun von Kaiser Lothar irgendeinen Lebensunterhalterhoffte, empfahl der Karlsbiograph einem Hofangehiirigen (cbda, S. 124 Nr. 30). Für einenFreund und Familiaren setzte er ein Schreiben an König Ludwig den Deutschen auf, wiederumging es um die durch Krankheit verhinderte persönliche Lchnsnahme (cbda. S. 126 f. Nr. 34).Übrigens mußte Einhard selbst Ludwig den Deutschen bitten, ihm ein kleines Lehen in Ost-franken zu erhalten, bis er von Kaiser Lothar die Genehmigung bekomme, zu Ludwig zugehen und sich ihm zu kornmcndicrcn (cbda. S. 122 Nr. 25). Auch Hinkmar wandte sich859/60 wegen der Güter eines gewissen Sigcbcrt, die im Herrschaftsbereich Ludwigs desDeutschen lagen, an Abt Grimald von St. Gallen (Hinkmar, Brief 130, MGH Epp. 8, I S. (8);zu Grimald vg!. Dieter GEUENICII, Beobachtungen zu Grimald von St. Gallen, Erzkapellanund Oberkanzler Ludwigs des Deutschen, in: Littcrac Medii Aevi. Festschrift für JohanneAutcnricth zu ihrem 65. Geburtstag, hg. von Michael BORGOlTE und Herrad SPII.LlNG (1988)S.55-6S.

102 Alkuin wurde von den Mönchen von St. Peter in Tours gebeten, sich brieflich wegen ver-schiedener, von alters her zu ihrer Kirche gehörender Zellen und eines Bauplatzes innerhalbder Stadt mit Karl dem Grollen in Verbindung zu setzen (Alkuin, Brief 211, MGH Epp. 4S. 351 Z. 27-32). Flodoard berichtet über Hinkmar von Reims: Setibis et Pippino regiAquiranico pro rcbus ccclesiac suac ... , pro quibus ctuun litteras Karol] regis ad eundemPippinum mirri olninuit ... (Hinkrnar, Brief 13, MGH Epp. S, 1 S. 6; TrssIER, Rceueil1 S.274Nr.103).

10} Alkuin, Brief 90 (MGH Epp. 4 S. 1342.20-22).104 Einhard, Brief 4 (MGH Epp. 5 S. 111 Z. 13 f.): Sed postqium ego litteras vcsrr.rs acccpi er

unpcratorcm de his, qU.1Cvoluistl, intcrrogsvi, precept milli vobis scribcrc ... Schriftlich wurdesogar mitgeteilt, wenn eine Fürsprache nicht eingelegt werden konnte: Quod pctistis nccdumregi suggcssi, quod oportunitas defuir. macurabo ramen vobis, cooper;lnre deo, morcm gerere,

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 133

lichkeit spielte nicht nur zur Überwindung der Hürden am Hofe eine Rolle.Man bediente sich ihrer auch für andere Zwecke. Für die Vorsprache beimKaiser im Zuge der Auseinandersetzung mit Theodulf von Orleans gab Alkuinseinen Schülern Candidus und NathanaeI genaue schriftliche Anweisungenmit. Er listete die Tatbestände, theologische und kirchenrechtliche Argumenteauf und machte verhandlungstaktische VorschlagelP>.

Natürlich bedienten sich nicht nur die Bittsteller und ihre Sachwalter derschriftlichen Form, sondern auch der Hof selbst. Einladungen an den Hof,Terminabsprachen und Terminverschiebungen konnten schriftlich vonstattengehen106. Gerade Vorladungen hatten immer wieder einen Schriftwechsel zurFolge, wenn solchen Einbestellungen nicht nachgekommen werden konnte.Alkuin entschuldigte sich 801 in gewohnt wortreicher Manier beim Kaiser,weil er einer Ladung nicht Folge leisten könne, und bat Gundrada in dieserSache um Fürsprache'v/. Einhard benachrichtigte im Frühjahr 830 KaiserinJudith, er könne wegen einer akuten Erkrankung nicht, wie ursprünglich an-geordnet, in Cornpiegne zu ihr stoßen. Er bat sie, ihn per Schiff von Maastrichtnach Gent mitzunehmen und ihn dort bis zu seiner Genesung zurückzulas-senI08. Er versicherte ihr: Deus testis est, quod de infirmitate mea nullam falsi-tatem vobis scripsi ... 109. Der Appell an Judith genügte offenbar nicht. Einhard

communi honcsiatc scrvara. Mit diesen lakonischen Worten beschied Lupus von Fcrriercs Rad-bertus van Corbie, cd. Lupus, Brief (vg!. Anm. 79) 58 (L. 50), cd. MARSHAl.l. 58, I S. 66 Z. 1 f.

105 Alkuin, Brief 245 (MGH Epp. 4 S. 393-398). Von den pagcnscs namens Aristeus und Thco-thous, Familiaren Einhards, wissen wir, daß sie cum cis linen's an den Hof kamen (Einhard,Brief 19, MGH Epp. 5 S. 120 Z. 9). Allerdings konncn damit auch Beweisdokumente gemeintsein.

106 Vgl. zur Terminabsprache Einhards Brief 4 an den Metzer Priester Amalarius, MGH Epp. 5 S.Ill. Ausdrücklich heißt es dort (Z. 14): ... preccpit [imperator] mihi vobis scribcrc, ut S.lIlC-

rum pasche diem domi cclebrsssctis ... Schon aus der frühen Karolingerzeit besitzen wireinschlägige Zeugnisse: Bonifatius teilte 753 König Pippin brieflich mit, daß er nach überstan-dener Krankheit wieder in dessen Dienste treten könne, und fragte an, ob er zu einembestimmten placitum kommen solle (Bonifatius, Brief 107, MGH Epp. scl, I S. 233 Z. 7-11).Frothar von Toul bat den Türhüter Gerung, ihn, falls der Kaiser ihn nach Spanien schickenwolle, zu entschuldigen, da sich dann beim geplanten Besuch des Kaisers in Toul Schwierig-keiten ergäben (Frothar, Brief 6, MGH Epp. 5 S. 280); Gerung wird als hostiarius summi sacripalatii bezeichnet. Vg!. dazu die Erläuterungen zu Hinkmar, De ordine (wie Anm. 88) Z. 280in Anm. 142 S. 64 f. Ein zweiter Brief mit Erwähnung des Spanienzuges ging möglicherweisean Drogo von Merz: Frothar, Brief 7, MGH Epp. 5 S. 280 f.

107 Alkuin, Brief 240,241 (MGH Epp. 4 S. 385-387). Daß entsprechende Appelle an karolingischeKöniginnen und Kaiserinnen gerichtet wurden, überrascht angesichts der wichtigen Stellungdieser Damen nicht; vg!. dazu (mit Schwerpunkt auf die spätere Karolingerzeit) Frauz-ReinerERKENS, »Sicut Esther Regina". Die westfränkische Königin als consors regni, Francia 20/1(1993) S. 15-38.

108 Einhard, Brief 13 (MGH Epp. 5 S. 116 f.); zur Situation auch zu vergleichen ebda. Nr. 14S.117.

109 Einhard, Brief 13 (MGH Epp. 5 S. 116 Z. 36 f.).

134 Mark Mcrsiowsky

versuchte, einen anonymen Hofangehärigen um erneute Fürsprache beimKaiser zu bewegen 110. Schließlich adressierte er einen Brief an den Kaiserselbst l U. Daß man auch Briefe schrieb, wenn man zu bestimmten Hoftagen(wider Erwarten) nicht geladen wurde, zeigt uns das Beispiel des Lupus vonFerricresl12.

Die Rolle der Schriftlichkeit für die alltägliche Belange des Hofes hingegen,vor allem für seine Mobilität und Versorgung, lälh sich aus den erhaltenenBriefen und Mandaten kaum ermessen. Bekannt ist der Brief Frothars an denAbt von Inden bezüglich einer Weinlicferung nach Aachen 113. Laut Hinkmarhatte der kaiserliche Quartiermeister die Aufgabe, die regionalen Sachwalterrechtzeitig von beabsichtigten Verlagerungen des Hofes zu benachrichtigen 114.

Entsprechende Schreiben haben leider die Zeiten nicht übcrdaucrt U>. Zumin-dest indirekt spielen solche Fragen aber im Briefwechsel Frothars eine Rolle.Er sollte zu einer Mission nach Spanien geschickt werden und sah daherProbleme für sein sctvituun beim geplanten Aufenthalt des Kaisers in Toul ' 16.In einem anderen Schreiben heißt es: quia ct ipse [Frotharius] secundum unpe-riale pr.1cccptum ad providcndas mansioncs, in quibus leg.1ti suscipi debcnt,

110 Einhard, Brief 14 (MGH Epp. 5 S. 117).III Einhard, Brief 15 (MGH Epp. 5 S. lIS). Die Zahl der Beispiele läßt sich noch erweitern.

Arnalarius von Metz war 828 oder 829 am l'fingsttage zum Kaiser bestellt worden. Er ersuchtebrieflich um Einhards Unterstützung, und dieser trat an Ludwig den Frommen heran.Nachdem Einhard den Kaiser in bestimmten Fragen um Stellungnahme gebeten hatte, erhieltAmalarius umgehend Antwort (cbda. Nr. 4 S. 111).

112 Lupus, Brief (vgl. Anm. 79) 7S (I.. 72), cp. 79 (L. 74).11.1 lrot har, Brief 31 (MGH Epp. 5 S. 297); vgl. Carlrichard BRÜIIL, Fodrurn, Gistum, Servitium

Regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und inden fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mittedes 14. Jahrhunderts, Bd. 1 (Kölncr Historische Abhandlungen 14, I, 1%8) S. 72 f.

114 Hinkmar, Dc ordinc palatii (wie Anm. 88) S. 76 Z. 385-394, Übersetzung ebda. S. 77. Vgl.FUCKENSTElN, Struktur (wie Anm. 82) S. 14 f.

11\ Leider besitzen wir nur die Regesten der Briefe, die Hinkmar an Ludwig den Deutschen rich-tete, als dieser Reims besuchen wollte. Lud wig hatte offenbar klare Anweisungen für seinenEinzug getroffen, und Hinknur wehrte sich dagq;en (Hinkmar, Brief 117, MGH Epp. 8, IS. SS): ltcm sentel .ICsecunda ,u] ipsum per se de his, qU.1C mandavcrat ab co fieri ill .ulvcntusuo Remis, ut non sicut dispOllCh.lt ... ; vgl. auch cbda. N r. 118 S. SS. Zur Bedeutung von Reimsfür die Karolinger vgl. jetzt Philippe DFl'KI:UX, Saint Rcmi et la royautc carolingienne, RevueHistoriquc 285 (1991) S. 235-260; dcrs., lmbucndis ad Fidem I'rdu!;;iduTll surresie lumen;;cll!ibus. La devotion a saint Rcrni de Reims aux IX' et X" sicclcs, Cahicrs de civilisationmcdicvalc 35 (1992) S. 111-129. Der von Pierre RIO II', Welt der Karolinger (wie Anm. 77)S. 29 zitierte Brief (MGI-! 101'1"4 S. 524-544 Nr. 30) ist keine Antwort auf eine konkrete An-weisung, sondern eine allgemeine Aussage im Rahmen der Rechenschaft des Leidrad (vgl.dazu oben Anm. 84).

I If, Froth.ir, Brief 6 (MGI! Epp. 5 S. 280). Zum "cl'\'irium vgl. BRÜll!., Fodrum (wie Anrn. 113)S. 97-102,107.

Regierungsrr,lxis und Schriftlichkcit 135

scilicet a monte [avis usque palatium Aquis ire debeo ... 117. Aus dem Wortlautgeht nicht hervor, in welcher Form der Befehl erteilt wurde. Von einem for-mularhaften Schreiben eines Episcopus ad mansionarium domni regis kennenwir nur die mitgeteilte Uberschrift+P.

Die sich mit dem Zugang zum Hofe, der Veranlassung und Beeinflussungvon Entscheidungen des Herrschers befassenden Briefe gehören zu denSchriftstücken, die sich vordergründig nicht in den karolingischen Instanzen-zug einpassen. Ganshof lieg sie daher bei seiner Betrachtung von vornhereinbeiseite. Dennoch sind die Briefe wichtige Zeugnisse der Regierungs- und Ver-waltungspraxis, da der Hof das einzige voll ausgebildete zentrale Regierungs-und Verwaltungsinstrument der karolingischen Herrscher war.

III.2. Der Kontakt zwischen Hof und regionaler Ebene

Kommen wir nun zum nächsten Punkt. Hier soll es um die vom Hofe imZuge der Regierungs- und Verwaltungspraxis ausgehenden Stücke gehen. Inerster Linie sind dies die eigentlichen Mandate, aber auch Briefe. In welchenAngelegenheiten bediente sich der karolingische Hof der Schriftform zurWeitergabe von Anordnungen, Befehlen und Nachrichten?

Die Bandbreite ist groß. In Angelegenheiten von Synoden wie anderenkirchlichen Belangen ist der Schriftgebrauch gut belegt. Vor allem in Fragender Bistumsbesetzung bedienten sich die Kaiser und Könige seiner, um ihreKandidaten zu lancieren und zu untcrsrutzcnl!". In besonderen Situationenkonnten die Karolinger wirksam mittels Brief auf Bistumsebene eingreifen,wenn ihnen dies erforderlich schien, und die Betroffenen von den Maßnahmen

117 Frothar, Brief 12 (l\1GH Err. 5 S. 284 Z. 26-28). Vgl, allg. zur ,Bcamten'-Gastung BRUIII,Fodrurn (wie Anm. 113) S. 107-115 (zu Frothar S. Ill). Vg]. auch Dungal Scottus, Brief 4(MGH Epp, 4 S. 579 f.): Dungal bat Abt Adam von jumicgcs um ein Ersatzpferd. da er aufdem Weg zum Hofe Karls des Grollen sei.

118 Formularuni codicis S. Emmerami Fragmcnta 1I1 (MGH Formulae Nr. 34 S. 46H).119 Synoden: vgl. etwa MGH Cone. 2, 2 Nr. 44 C S. 533, Nr. 50 B S. 599-601, Nr. 61 S. 792 f.

Bistumssachen: Lupus, Brief (vgl. Anrn. 79) 81 (L. 26), cd, Marshall 81,2 S. SO Z. 1-4: BriefeKarls des Kahlen. Erzbischof Ado von Vicnnc wurde 869 gleichzeitig von Kaiser Ludwij; l l.,Koni]; Lothar It. und König Karl in jeweils eigenen Briefen angeschrieben, da er l.otharsBefehl, den Kleriker Bcmarius zum Bischof zu weihen, nicht nachgekommen WJr (MGII Epp.6 S. 175-177 Nr. 23,1-3). Kaiser Karl l 11. hatte 887 nach einem Schreiben Bischof Waiters vonOrkans an den Klerus von Auxcrrc die Kandidatur des Mönchs Tcutbcrt durch einen Brief anden Orleaner Hirten propagiert; cd, BISOIOIT, Briefe (wie Anm. 31) Nr. 4 S. 130 Z. 14 f.:Prictcrc.i ITstr,1 novctit ptudcntia iniperuli scrcIlit,ttc litteras /lOSer,IC de/;lC.1Sesse nontue ...Vgl. zum Verhältnis der Karolinger zu Auxerrc Yvcs SASSIER,Les Carolingicns et Auxcrrc, in:L'Ecolc Cnrolingicnnc dAuxcrrc de Muretbach a Rcrni 830-908. Entrctiens dAuxcrrc 19S9,hg. von Dorniniquc !OGNA-I'RAT, Colctte JEUDY, Guy LOllRICIION (L'Histoirc dans l'actua-lite, 1991) S. 21-36.

136 Mark Mcrsiowsky

in Kenntnis setzcnl-". Ein Beispiel: In einem fragmentarischen Schreiben er-öffnete Kar! der Kahle dem Erzbischof von Sens die Maßnahmen gegen denvon plötzlicher Geisteskrankheit befallenen Bischof Herimann von Neversund teilte mit, daß er die Verwaltung der Diözese in die Hände des Hofbe-diensteten Lindo und eines Hofkaplans gebel21.

Für unser säkularisiertes Empfinden mag es verwunderlich scheinen, all-gemeines Fasten als Element der Regierungspraxis zu betrachten. Karolingi-sche Herrscher jedoch sahen aufgrund ihres ,Staatsverständnisses' Gebet,Fasten und Buße als wirksame Mittel der Politik an 122. Auch in diesem Sektornutzten sie die Schrift. 805 versandte Kar! der Große ein Rundschreiben an alleBischöfe des Reichs und ordnete ein dreitägiges Fasten an. Wir besitzen eineAbschrift des für Bischof Ghaerbald von Lüttich bestimmten Exernplarst=.Der Befehl Karls des Großen zum allgemeinen Fasten vom 9. bis zum 10. De-zember 810 liegt in einem Brief des Mainzer Erzbischofs an Bischofs Eginovon Konstanz vorl24. Ein vergleichbares Stück unter den Namen Ludwigs desFrommen und Lothars besitzen wir aus dem Jahr 829125.

Ein weiteres Einsatzgebiet von Briefen und Mandaten war der militärischeBereich. Mobilmachung und Logistik konnten schriftlich organisiert werden.In einem Brief an den Abt Fulrad von St. Quentin ordnete Kar! der Große an,daß sich dieser zu einem bestimmten Termin mit bewaffnetem, für einen län-geren Kriegszug ausgerüstetem Gefolge in Staßfurt zu einem placitum geneteleeinzufinden habe. Er bestimmte die genaue Ausrüstung und Verpflegungs-mengel26. Die zugrundeliegenden Praktiken blieben offensichtlich über dieZeit Karls des Großen hinaus in Gebrauch. Zum Jahre 899 berichtet etwaLiudprand von Cremona: Italorum igitur, Tuscorum, Volscorum, Camerino-

120 Nach den Konzilsakten von Soissons 853 übertrug Kar! der Kahle dem späteren Bischof vonChälons-sur-Marnc um 840/45 brieflich ansonsten Bischöfen reservierte liturgische Funk-tionen für die Zeit der Vakanz des Reirnscr Stuhls: TESSIER,Recueil 1 S. 516 f. N r. 681e,; vgl.zur Synode Wilfried HARTlvIANN,Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien(Konziliengeschichte. Reihe A, Darstellungen, 1989) S. 245-249.

121 TESSIER,Recueil 1 S. 563 f. Während HARTMANN,Synoden der Karolingerzeit (wie Anm. 120)S. 250 Anm. 15 aufgrund der Akten von Soissons und Verbcrie keine Aussagen über die Artder Krankheit treffen konnte, sind die Aussagen des Briefes eindeutig: insolcntism atque insa-niam sui cpiscopi (5. 564 Z. 21), per eius dementi" (Z. 24).

122 rRIED, Herrschaftsverband (wie Anm. 77); MISONNE, Mandemerit (wie Anm. 31) S. 77-79.123 Ed. ECKlIARDT, Kapitulariensammlung Ghaerbalds S. 116-119 als Text LXIX.124 Ed. Ch LA 2 Nr. 176 S. 133.125 MGH Cone. 2, 2 Nr. 50 B S. 599---{,01;vg!. dazu HARTMANN,Synoden (wie Anm. 120) 5.179 f.126 MGH Capit, 1 Nr. 75 S. 168. Vg!. GANSHOF, Kapitularien S. 167 (zur Datierung); Fricdrich

PRINZ, Klerus und Krieg im früheren Mittelalter. Untersuchungen zur Rolle der Kirche beimAufbau der Königsherrschaft (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 2, 1971)5.74-76.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 137

rum, Spoletinorum quosdam libris, alios nuntiis directis, omnes tamen 111

unum venire [Rex Berengarius] precccpit ... 127.Nicht nur im militärischen Bereich nutzten die Karolinger die Schrift. Briefe

und Mandate, mit denen karolingische Herrscher die ihnen untergeordnetenInstanzen zum Handeln veranlaßtcn, weisen ein weites Spektrum auf. DieVereidigung von Untertanen oder die Anfertigung von breves konnten brief-lich in Gang gesetzt128, Investituren angeordnet werden 129. Viele Zeugnissehaben sich aus den Tätigkeiten der missi dominici erhalten. Bei auftretendenProblemen wurden die zuständigen misst schriftlich verständigt und erhieltenkonkrete Aufträge. Der Anschaulichkeit halber sollen zwei Beispiele ausführ-licher behandelt werden. Als Original hat sich das Mandat Ludwigs des From-men an seinen missus Bischof Baderad von Paderborn erhalten. Abt Warin vonCorvey hatte sich beim Kaiser über die Verletzung der Immunität durch dieGrafen beklagt. Daraufhin ordnete Ludwig an, Baderad solle die Immunitäts-urkunde an sich nehmen, den zuständigen Grafen verlesen und ihnen in sei-nem Namen zu befehlen, das Privileg hinfort nicht mehr zu verletzen 130. Daszweite Beispiel: Aus politischen Gründen wurde 838 vermutlich der Abt Sig-mund von Saint-Calais abgcsctztl-t. Offenbar rebellierten dagegen die Mön-

127 Liudprandi Antapodosis 11, 9 (MGH SS rer, Germ. [41], S. 42 Z. 19-21); vgl, auch Ill, 41, cbda,S. 93 Z. 21-24 zu Hugo (931).

128 Nach den Annalen von Saint-Bertin ordnete Karl der Kahle 869 die Anfertigung von brevesdurch Rundschreiben an; cd. TESSIER, Rccucil Z S. 200 Nr. 318: ... per omne re};num suum lit-teras tiusit, ut cpiscopi, abbatcs et sbb.uissac breves ... inbrcvisrcnt. 844 (Levillain) mahnteLupus von Ferneres brieflich solche an: brcucs etism, quos de {aculeate monastcrii ucstri mit-ceredcbuistis, ut apud Scdclocum mihi rcddantur, absque ulla excusatione procu"zcc, so Lupus.Brief (vg!. Anm. 79) SO (L. 40), cd. MARSHAL!. 80,2 S. 79 Z. 25-27. Zu den breves mit Angabeweiterer Literatur NELSON, Literacy (wie Anm. 25) S. 273-278. Ob die 854 in Attigny ver-kündete Vereidigung der Untertanen Karls des Kahlen gleichfalls auf diesem Wege vorange-trieben wurde, wissen wir nicht. Einen Hinweis darauf gibt Flodoard. Er fertigte das Regesteines Briefes Hinkmars von Reims an Graf Bertram von Tardcnois, Der Brief beschäftigte sichmit der Eidleistung derjenigen, die sich in Bertrams Grafschaft befanden; Hinkmar, Brief 68(MGH Epp. 8, 1 S. 36). Vg!. zum Eid van S54 Charles Edwin OIlEGAARll, The Concept ofRoyal Power in Carolingian Oaths of Fidelity, Speculum 20 (1945) S. 279-289, hier S. 2H2.

129 Eine Urkunde Ludwigs 11. von 874 erwähnt, der Kaiser habe Bischof Grimoald von Pennebrieflich benachrichtigt, damit er gemeinsam mit Propst Cclsus von Casauria eine Irrvestiturvornehme: D Lu. 11. 62: Id ipsum aurcm ptcccpimus Celsi monacho et prcposito tnorustcrusanete Trinitatis, ut iunctus eum Grimoaldo vcncrabili cpiscopo, cui per nosrr.rm cpistolstnhoc intimnvimus, ut p.iritcr pcrgercnt ... (S. 189), vgl. ebda. N r. 104 S. 250 (Vermerk desDcpcrditum),

130 BM2 924 (vgl. Anm. 62): ... er ideo per has litteras nostras tibi praccipimus, ut cu illud pr;lC-cepwllI, quod sicut diximus cidcm motiastcrio [ccimus, adsumas et in praesenti: carutulcnicomicum, in cuius ministeria rcs praedieti monasterii esse noscumur, relc};i facias et ex nost"l,1uecoritate eis praecipias ut u/cerius nostrae auctorit,1tis prJeccpculll yiol.lre non I'raesu/ll,lIlt,scd pocius sicut in eodem pracccpro concinef1lr illud conservarc scudcam ...

131 Vgl. Waiter GOITART, The Le Mans Forgeries. A Chapter from the History of ChurchProperty in the Ninth Century (Harvard Historical Studies 76,1966) S. 314f.

138 Mark Mcrsiowsky

ehe. Ludwig der Fromme reagierte im gleichen Sommer 838 mittels zweierMandate an Bischof Jonas von Orleans und an Abt Heinrich. Das an jonasgerichtete enthält den Bericht, dag die Mönche beim eigenmächtigen Auszugdas Kloster ausgeplündert hätten. Jonas und Heinrich wurden angewiesen,dies zu untersuchen und das Kirchengut dem Kloster in vollem Umfang zurestituicreri'V. Im zweiten Mandat wurden Jonas und Heinrich als missibeauftragt, die Mönche aufgrund des Gelöbnisses der stebilitas loci zurRückkehr ins Kloster zu zwingenl33. Als Einbandmaterial hat sich eine origi-nale Instruktion Karls des Grogen für seine Gesandten an den Papst erhalten.Zwar stammt sie aus dem hier nicht zu behandelnden Bereich des diplornati-sehen Verkehrs, doch dürften ähnlich auch die Anweisungen an andere missiausgesehen haben. Sie enthält den genauen Wortlaut der Botschaft, die dieGesandten dem Papst übermitteln sollten, nebst genauen Regieanweisungen:VI. Postea vero deride est aepistul« dicentibus hoc modo: ,,{...r. VII. Deindediccndum est: ... 134. Neben unmittelbarer Beauftragung durch den Herrscherkennen wir indirekte Verfahren.

Wahrscheinlich im Jahr 868 schritt Karl der Kahle durch ein Mandat gegenWucher in Laon ein. Fast der gesamte Klerus von Laon hatte - so der König -Getreide zu Wucherzinsen vergeben. Karl befahl dem Reimser Erzbischof,dies zu unterbinden und zu diesem Zweck einen tnissus zu bestellen 135.

In den geschilderten Fällen diente die Schriftform dazu, die Königsbotenvom Willen des Herrschers zu unterrichten und sie zum Handeln in seinemSinne zu veranlassen. Doch damit ist die Rolle der Schriftlichkeit noch nichterschöpft. Die karolingischen Kaiser und Könige konnten sich dieses Kom-munikationsmittels bedienen, um den Boden für missarische Eingriffe zu be-reiten, ihren Beauftragten Unterstützung zu sichern und ihnen ein Forum zuschaffen. Wiederum einige Beispiele: Die königlichen Vasallen Germund,Wulfhard, Berchard und Bodo besagen Lehen aus dem Bistumsgut von LeMans, die durch Prekarien einst entfremdet worden waren. Der Kaiser wies

132 BM' 975, cd. Gcsta dornni Aldrici Ccnornannicac urbis cpiscopi a discipulis suis, hg. vonR. CI IARIES, L. FROGER (1889) S. 149; vg!. GOIIART, Le Mans Forgeries (wie Anm. 131) S. 315 f.

III BM' 976, cd, Gcsta Aldrici (wie Anm. 132) S. 149 f. Das Mandat ist interpoliert, vg!. diestichhaltige Argumentation bei GUITART, Le Mans Forgeries (wie Anm. 131) S. 315f., derm. E. zutreffend gq;en Mühlbacher den echten Kern des Mandats betont.

1.>4 MGH Capit, I Nr. I11 S. 225, neucrc Ed. und Faks.: Ch LA 15 Nr. 655 S. 64 f. Zitat cbda,S. 64 Z. 13-15.

13\ Vg!. Scml1TZ, Wucher in Laon (wie Anm. 31) S. 542-544 (zur Datierung), Ell. S. 556 Z. 1-14.Vg]. zu frühminclalterlichem Getreidewucher mit den Belegen aus den Kapitularien SiegfriedEI'I'ERLEIN, Zur weltlichen und kirchlichen Armenfürsorge im karolingischen Imperium. EinBeitrag zur Wirtschaftspolitik im Frankenreich. jb. für Wirtschaftsgeschichte (1963) S. 41-60,hier S. 53-55; jOlIA1\:FK, Fränkischer Handel (wie Anm. 33) S. 27 f., 30-32.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 139

daher den Bischof Aldrich an, sie in seinem Namen zurückzunehmen und biszu seinem Erscheinen zu verwahren. Er teilte ferner mit, daß er auf BittenAldrichs nach Entsendung eines Königsboten dem tnissus Hclisachar aufgetra-gen habe, bei seinem nächsten Aufenthalt in dieser Gegend den Bischof in denBesitz einzuweisen 136. Abschriftlich in der Briefsammlung Einhards findetsich ein Mandat an den Grafen G., möglicherweise an Gebhard im Niederlahn-gau. Ludwig 1. befiehlt darin dem Grafen, er solle sich darauf vorbereiten, dafam 18. Dezember der tnissus H. in das Dorf Hcilsmbruntio komme. Die dortim Namen des Kaisers dem Grafen wie anderen Grafen und Getreuen ver-kündeten Anordnungen solle G. ausführen+V.

Oft sind die mittels Briefen und Mandaten in Gang gebrachten Handlun-gen - zumindest aus der Sicht der Nachwelt - geringfügig. Wenn eine Bußefür die Tötung eines Klerikers erlassen, zwanzig Leute eines Klosters von derHeerbannpflicht befreit oder Lehnsleute zur Mithilfe bei der Instandsetzungeiner Kirche angehalten wurden, mag dies als Kleinigkeit betrachtet wcrdcnl-",

136 BM2 937, cd. Gem Aldrici (wie Anm. 132) S. 185 f.; die Bestätigungsurkundc liegt alsBM2 942, cd. Gesta Aldrici (wie Anm. 132) S. 186 f. vor. Nach den Akten des römischenKonzils vom Dezember 853 wurde im Exkommunikationsverfahren gegen AnastasiusBibliothecarius ein kaiserlicher Brief verlesen. Den Auszügen nach enthielt er Anweisungen,die kaiserlichen Gesandten bei der Festnahme und Vorführung des Gesuchten vor dem Papstzu unterstützen; cd. MGH Cone. 3 Nr. 32 S. 334 Z. 11-29: Tune sacratissimus 1'.11';1iml'cri;di-bus superins iun dietis missis dixit: Cur nobis sanctoque eonci/io secundum impcrislcmcpiswJam iam dictum [AnastasiumJ non prcscntatis prcsbitcrum? lpsi .wtem adiirm.uucsdixcrunt: Nos eum secundum preeeptionem domni m;lgnique impcratoris tcduccrc volnsqucl'rcsentare maluimus, sed minime il/um invcnirc potuinius .... Utuvcrsus cctus cinscopnruinrespondit: lmpcrialis, si vobis placet, cpistola tclcgatur. t;t cum re/eet.1 tuissct, in Col inter ceterarcpcrtutn est u«: Vestrae dcniquc scrctutatis industria cognoscat de An.1stasio prcsbucro, quurad \'05 non pcrvcncrit, nostm suis animo displlcuissc. Quare nunc ksrissimos misses nostros,loscph videlicet rcvcrcntissimutn cpiscopum uquc dilccti filii nostri Hludoici .lrchie.ll'el/.lnUIl1nee non ctum Petrum sanctae scdis Spolitinc vencrsbilcm cpiscopuin et Adclgisum illustrcmcotnitem nostrum, prcscntalitcr vobis mittimus, quidquid canonicc et secunduni dcuin superiI/o \·estr.l dclibcravu sctitcntia nil contradicentes. T.lIltum sol/ieite C.H·eH·.le prudcntcr tr.lt't;IH·cur;lte, ne in hoc facto dil'ina mluntas o!fend;ltur in aliquo. Vg!. zum Konzil IIARTMANN,Synoden (wie Anm. 120) S. 237.

137 Einhard, Brief 20 (MGH Epp. 5 S. 120). Zum Lahngau und seiner Dreiteilung vgl. WilhclmNIEMEYER, Der Pagus des frühen Mittelalters in Hessen (Schriften des Hessischen Landes-amtes für geschichtliche Landeskunde 30,19(8) S. 164-169.

138 Neben der Urkunde, mit der Lothar I. 854 die Villa Awans an das Eifclkloster Prüm schenkte,findet sich ein Mandat, in dem er Abt Eigil die vor der Schenkung von den fiskalinen zuleistende Buge für die Tötung eines Klerikers und weitere rückst:indigc Zahlungen erlicl\;D Lo. I 131 (Schenkung), 132 (Mandat). Buggcldcr gingen seit 763 nicht mehr an den König,sondern an den Abt von Prüm. Im vorlicgel1llcn Fall verzichtete Lothar I. auf die schon vordcr Schenkung an Prüm fällig gcwordenc Buge zugunsten des Abtes. Vg!. dazu LudolfKUCllENllUCll, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zurSozialstruktur der Familia der Abtei Prüm (Viertcljahrschrift für Sozial- und Wirtschafts-geschichte. Beiheft 66, 1978) S. 372. Ludwig der fromme wies den Grafen Anudcus und dic

140 Mark Mersiowsky

Gerade der Schrifteinsatz für so nebensächliche Angelegenheiten zeigt jedoch,welche Selbstverständlichkeit dem Gebrauch schriftlicher Anweisungen bei-gemessen wurde.

Ein großer Teil der vom Herrscher ausgesandten und noch erhaltenenBefehle reagierte auf Verletzungen verbriefter Rechte und sollte diese korrigie-ren. Zumeist wurden sie auf Vorsprache der Benachteiligten erlassen. Schonunter König Pippin besitzen wir entsprechende Hinweiset-", Anweisungen er-gingen seitens Ludwigs des Frommen an Graf Bego und die Amtsträger imParisgau, da die Zollfreiheit des Dionysiusmarktes 815 angetastet wordenwarl40. Um 831-833 reagierte der Kaiser auf die Mißachtung der Corveyer

Vasallen Hclias, Waldo, Isenbart und Ratbert per Mandat an, bei der Restaurierung undWiedereindeckung der Klosterkirche von St. Benigne in Dijon Hilfe zu leisten, da sie Besitzder Kirche zu Lehen hätten und Neurit und Zehnt leisten sollten; 13M2 800, cd. Chartes et Do-cuments de Saint-Benigne de Dijon 1 (wie Anm. 71), Nr. 34 S. 69. Im Fall der Basilika vonSeligenstadt besitzen wir die schriftliche Eingabe um Erlag eines Mandats. Einhard erinnertevermutlich 834 König Ludwig den Deutschen, dag dessen Vater, Ludwig der Fromme, be-stimmten Bischöfen befohlen habe, an diesem Bauvorhaben mitzuwirken. Einhard sah denErfolg nur dann gewährleistet, wenn Ludwig der Deutsche sich einschalte: ... et dcus nobis .1drncmoraros cpiscopos S.ler.1miussionctn vcsrrarn per littcrss gloriosissi11le auctoritstis vcsrrac,qU;lssane conrcmnere non sudeint. Einhard, Brief 33, MGH Epp. 5 S. 126, Zitat Z. 17-19;vgl, G. WEISE, Staatliche Baufronden in fränkischer Zeit, Vierteljahrschrift für Sozial- undWirtschaftsgeschichte 15 (1921) S. 341-380, hier S. 360. Zugunsren des Klosters Farfa wurdenunter Kaiser Ludwig 11. per Mandat zwanzig homines cattuiati des Klosters von der Heer-bannpflicht befreit: 0 Lu. 11. 47 S. 159 (Datierung auf 867 laut Editor interpoliert).

13') Aus einem Brief des Bonifatius an König Pippin erfahren wir, dag sich ein servus ccclcsiacnostrac mit einem angeblichen indiculus des Königs an Bonifatius wandte, damit ihmGerechtigkeit widerfahre: Quidam scrvusccclcsiac nostrac, et ipse mcnd.lcissimus, qui nos arte{ugieb.1t,Anslrid nomine, vcnicns ad nos cum indiculo vesrro rogans, ut ci iustitiun [accrcmus.Bonifatius, Brief 107 (MGH Epp. scl, 1 5.233 Z. 11-17).

140 13M2 553. Mühlbacher reihte dieses Mandat hinter die Bestätigung 13M' 552 ein, vg!. ebda.5.247. Nach 13M' 553 ist die Zollfreiheit et .1uetoritatc et prcccptis an' nostri Pippin! quondamregis er domni gctiitoris nostri K.1ro/ipie tnctnortc impcratoris nosrraque paritcr cotrobora-riolle gesichert. Mit dem Passus Ilostraque p.ititcr corroborationc ist m. E. BM' 552 gemeint.13M' 553 dient nicht der Publikation von 13M' 552, das ja vom sclbcn Tag wie zwei weitereBestätigungen für Saint-Dcnis stammt (13M' 551, 554), sondern reagiert auf eine Verletzung,die eine neuerliche Einschärfung verlangt: Ullde nune quoque compcricntcs, quod quidamprcdictotum ministcrlslium suprsdictts regiis euctorituibus tcmcrerio ausu in reddenda velcxigcndo eadem tclonco conrrairc apcttissims rciregationc vidcntur, hsnc nostre auctoritatisclrtu/am llleIllorato S;l/Jctoloco eiusque rectoribus dcnuo fieri iussimus, per quod viva ius-sione I'obis et omnibus successoribus vestris expresse precipimus, quatenus predicra lex etregie aucrorir.ltis decretum a nemine vestrorum ;ltque sueeessorum vestrorum violari umquJmpresum;ltur, sicut de dei ct nostra gratia cur;ztis. - In jedem Fall ist das Mandat vor dem TodBegos 816 einzuordnen, vgl. SCIlIElTFR, Karolinger S. 114. L. LEVILLAIN, Les comtes de Parisa l'cpoque franque, Le Moyen Age 41 (1941) S. 137-205, hier S. 163-174 zeigte, dall bismindestens 811 Bego noch nicht als Pariser Graf agierte und datierte das Mandat auf 815 (5.176). Ebda. S. 174-189 zur Biographie Begos. Zum Erfolg PETERS, Grundbesitz (wie Anm. 46)5.170.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 141

Immunität durch die Beauftragung des missus Baderadt+'. Ebo von Reimserwirkte von Ludwig einen Brief an Graf Robertl42. Auch für Aniane mußteder Monarch 822 eingreifen. Seine Sachwalter hatten sich auf den Standpunktgestellt, daf sich die vom Kaiser verliehene Immunität nur auf die Klausurbeziehe. Dahingegen stellte Ludwig der Fromme klar, daf nicht nur die Klau-sur, die Kirchen und ihre Vorhöfe unter diesen Schutz fallen, sondern der ge-samte Klosterbesitz. Da dieses Schriftstück in überarbeiteter Form in dieFormulae Imperiales aufgenommen wurde, liegt nahe, dag die Ausfertigungsolcher Schreiben nicht ungewöhnlich warl43. Arnolf schließlich verbot am21. Juni 897 den Bischöfen, Äbten, Grafen, Vikaren sowie allen übrigen Amts-trägern, die Vasallen des Klosters Corvey weiterhin zur Heerfahrt oder ande-ren Leistungen zu nötigenl44. Möglicherweise in Zusammenhang mit derImmunitätsbestätigung für Prüm durch Lothar I. steht sein knappes Mandat,in dem er die Grafen und Fiskalbeamten anwies, von den Hörigen diesesKlosters keinerlei Abgaben zu crhcbcnl+>,

In die Reihe der auf Rechtsverletzungen reagierenden Schreiben dürfte auchdas praeccptum pro Hispanis Karls des Großen von 812 zu stellen sein. EineGruppe von spanischen Ansiedlern hatte sich beim Kaiser wegen des von denGrafen und ihren Untergebenen erhobenen Zinses und der ihnen entzogenengerodeten Flächen auf Fiskalgut beschwert. Daraufhin erließ Kar! ein Mandat,das für die Verkündigung durch Erzbischof Johannes von Aries bestimmt warund sich an acht in der Adresse genannte Grafen richtete. Kar! hatte Johannesden Auftrag erteilt, ut tempore opottutio illuc vctuctis et vos in cius prcscntismvcnicntcs horditiarc faciat, quomodo sur qualitcr ipsi Ispsni vivcrc dcbcant.Und ferner: Proptcrca has littctss fieri precepimus .1tque demende 111us,ut . ,,146 - es folgt der Befehl an die Grafen. Der mandatorische Charakter ist

141 BM2 924, vg!. Anm. 62.142 Flodoardi Historia Rcrncnsis Ecclcsiae II c. 19 (MGH SS 13 S. 467 Z. 9-11): AI> unpcruorc

quoque Ludowico fierer;!s ad Rotbcnum comitcm pro ccclcsusticuum rerum dcicnsionc, qu.ISquidam pctvedcrc tnolicbetur, impetravu,

143 BM' 751: Cetera omnia, qiumvis ad ipsuni monastcrium pertinentia, extrJ inmuniutcm cssc,Propter hoc vohimus, ut in tcllih'ltis IlOIl soluni ad claustrum tnonastcrii vel ccclcsus .1tqUCuruecclesiarum immunuuls nomcn pcrtincrc, vcrum ctuun domos elvill.ls et sepl;1 villarum et pis-catoties msnuiacta vel quicquid Iossis vel sepibus aur alio cluserum hCllCTCprccingitut eademinlllunil.llis nOlllcn contui cri ... Überarbeitung: MGH Formulae Form. Imp. IS S. 296 f.:Pracccptum, quid sit uununitss.

144 D Am. ISS.145 D La. I. 57.146 D Kar. I 217 S. 290 Z. 16-IS; MGH Capit. I Nr. 76 Z. 26-29. Eingehend diskutiert l)('i

KIENAST, Fränkische Vasallität (wie Anm. 86) S. 146-153. Hilfreich zu den genanntenPersonen, aber im Gesamttenor umstrittell Abilio BARBFRu, La integraci6l1 social de los"hispani" del Pirineo oriental al reinn carolingio, in: Melanges oHerts a Rene Crozet a I'occa-sion de son soixante-dixicme .1nniversaire, hli. von Pierre GAJ.J.AIS u. Yves-Jean Rlou (1966)

142 Mark Mcrsiowsky

durch die abschließende Formel sicuti grstiun Dei et nostram vultis haberepropiciatn eindeutig erwiesen 147. Die Schwierigkeiten mit der Durchsetzungdieser Anordnungen mögen Ludwig den Frommen bewogen haben, formaleine Schritt weiterzugehen und von seinen Constltutioncs de Hispenis 815 und816 Prazcptc mit besonderen Publikationsvorschriften fertigen zu lassen 148.

Am Beispiel des pracceptum pro Hispanis bISt sich das Ineinandergreifen oderbesser die Eskalation verschiedener Formen schriftlicher Anordnungen gutbeobachten.

Zum Teil traten neben die Verleihung besonderer Rechte mittels PrivilegAusführungsbestimmungen in Form von Mandaten 149. Zumeist bleibt esoffen, ob diese routinemäßig mit dem Privileg ausgefertigt wurden - eineeigentlich zu bürokratische Vorstellung -, ob der Privilegierte der besserenVerwirklichung seiner Rechte halber um die Ausstellung solcher Schriftstückebat, oder ob sich bereits Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der verbrieftenRechte abzeichnen. Hier nur das Beispiel Sankt Gallen. Von Abt Grimald undanderen Personen erfuhr König Ludwig der Deutsche wahrscheinlich 854, daßSankt Gallen das Inquisitionsrccht noch nicht besaß, über das andere könig-liche Klöster und Beneficia verfügten, und ordnete die Gleichstellung SanktGallerts mit den übrigen Klöstern und Beneficia an. Verbrieft wurde dieserBefehl in Form eines an die Grafen Ato und Odalrich und die übrigen Grafenin Alemannion gerichteten Mandatsiso. Diese Maßnahme scheint nicht ge-fruchtet zu haben. 873 verlieh Ludwig der Deutsche dem St. Caller KonventImmunität mit Königsschutz und das Inquisitionsrccht nach dem Vorbild desKlosters Reichcnau 151. Zwei Monate später wurde dann ein ncues Mandat anLudwigs Sohn Kar! und alle Grafen und Getreuen in Alemannien ausgefertigt,worin ihnen eingeschärft wurde, das an St. Gallen verliehene Inquisitionsrechr

S. 67-75, hier S. 71-73. V~!. zu den hispani zusammenfassend COLI,INS, Charles and Wifred(wie Anm. 86) S. 185-188.

147 [) Kar. I 217 S. 290 Z. 26 f. (mit leichter Abweichung identisch mit MGH Capit. I Nr. 76S. 169 Z. 36 f.). Die Einschätzung von KIE!\AST, Fr.inkische Vasallit.it (wie Anm. 86) S. 148 als"Klageschrift" trifft m. E. den Charakter dieses Stückes nicht.

14S MG H Capit. 1 Nr. 132 f. S. 261-264; vg], dazu J( lIIANEK, Probleme einer zukünftigen EditionS. 422. KIFNAST, Fränkische Vasallitat (wie Anm. 86) S. 152 f. sieht hier ein Versagen derZentralregierung.

14') Derartige Ausführungsmandate kennen wir etwa für globale Immunitäten. Die Bestätigungder Verleihung Karls des Großen durch seinen Sohn Ludwig für das Kloster Saint-Martin inTours wurde von einem Mandat begleitet, in dem allen Amtstragern. in deren Sprengeln Güterdes Klosters lagen, die Beachtung der Immunität eingeschärft wurde: BM2 629 (Immunität),llf'vF 630 (Mandat).

1,0 [) LD. 71. Vg!. zu Graf Aw ß()R(;()LTE, Grafen Alemanniens (wie Anm. 78) S. 60-62, zuOJalrich/Udalrich ebda. S. 255-266; vg!. zu Grimald oben Anm. 101.

1)1 D LD. 144.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 143

zu wahreri'V. Interessanterweise wird auch die neuerliche Bestätigung Arnolfsim Jahre 893 von einem Ausführungsmandat begleitetl53.

Ein wichtiger Einsatzbereich schriftlicher Anordnungen war das Gerichts-wesenl54. Per Mandat ergingen Beauftragung und Ermächtigung zu einerinquisitio, und zumeist wurden alle Amtsträger aufgefordert, die Mandatarezu unterstützen. Nur ein Beispiel: Zwischen 869 und 874 bestellte Kar! derKahle per Mandat auf Bitten des Abts Frotar von Charroux den PfalzgrafenHimemno und einen gewissen Hiterius zu Königsboten, um die Güterangele-genheiten dieses Klosters rechtlich zu klären. Er befahl, die Königsboten beiihrem Inquisitionsverfahren zu unterstützen und traf noch einige Anord-nungen betreffs Heerbann und Gcriclusbarkeitl=. Die Zahl solcher Beispieleist großI56.

Viele der bisher betrachteten Dokumente entstanden aus Streitigkeiten, beiKonflikten, im Umfeld von Rechtsproblemen. Doch griffen karolingische

152 D LO. 146. Vg!. zu Karl und seiner Funktion BORCOlTE, Grafen (wie Anm. 78) S. 160-164.153 DArn. 110 (Immunität), 111 (Mandat).154 Immer noch unentbehrlich Heinrich BRUNNFR, Zeugen- und Inquisitionsbcwcis der karolin-

gischen Zeit (SB Wien 18(5) (wicdcrabgcdruckt in: dcrs., Forschungen zur Geschichte desdeutschen und französischen Rechtes. Gesammelte Aufsätze [1894] S. 88-247). Vg!. KathcrineFISCHER DREW, The Immunity in Carolingian Italy, Speculum 37 (1962) S. 182-197, hier5.188-192.

155 TESSIER, Rccucil 2 S. 334 H. Nr. 375.ISh Im Jahre 791 übertrug Karl der Grolle seinem Getreuen Hildcrich die Rechtssachen des

Klosters Farfa und wies alle Amtstr.iger an, ihn bei seinem lnquisitionsvcrfahrcn zu unterstüt-zen: 0 Kar. I 172. Nach Joachim FISCHER, Königtum, Adel und Kirche im Kiinigreich l talicn(774-875) (1965) S. 157 soll dies ein Sonderfall unter der Regierung Karls des Grollen gewe-sen sein. Der Amtsvorgänger des Patriarchen von Grado hatte aus Kirchenbesitz Güter an sei-nen Neffen vergeben. An den Grafen und nussus Boso erging die Anordnung, eine Inquisitionvorzunehmen und dem ermittelten Rechtsverhältnis entsprechende Regelungen zu treffen.Wir erfahren davon aus dem Schreiben Kaiser Ludwigs des Frommen an den Bittsteller, Patri-arch Vcrncrius von Gradn (BM' 838): cpistolas noser.IS, qU.IS \'05 vel idem diaconus indic«.verar, conscribcrc iussitnus, videlicet ad donunutn apostolicum ... nccnon cc Jd Hoso/lellleomieelll missum noserum de rcbus ccclcsic cue, quas anececssor tuus [-'"rtun.aus Vominiconcpoti suo dcdcru, ut inquisitioncm uidc [accrct cc secundum hoc, quod iustum esse invent-rer, ex noser.l iussionc eidein Dominica ptccipcrct. Lotbar I. bestellte 840 die Grafen Leo undJohannes als Königsboten zum Schutz der Kirche von Novara (D l.o, 142), 841 dieselben IU

Vögten des Nonnenklosters Santa Maria Theodota (U Lo. I. 59), und statrctc sie in heidenFällen mit dem Recht der Inquisition aus. Wahrscheinlich im Jahre 840 verlieh er auch derBischofskirche von Bergamo entsprechendes Recht (D La. I.43). Im Falle von Saint-Mihicl er-

neuerte er 841 das Inquisitionsrecht und bestellte den Königsboten Wolmod (D 1.0. I. 54). ImJahre 843 erging ein vergleichbares Mandat zugunsren von Cremona (I) Lo, I. 71). Allg. zurPolitik Lothars in bczug auf Recht und Besitz der Bistümer FISCHER, Königtum S. 94 f. Starkveruneehret liegt ein Stück auch für Nantua vor (I) Lo. I 119; vgl. GFRNER, Lyon (wie Anm.84) S. 241 f.). Zwei entsprechende Stücke lieg Ludwig 11. zugunsten des Bistums Lucca aus-stellen (DD Lu. 11. 7, 55; vgl. FISCHER, Königtum S. 95 L). Vgl. zu den Inquisitionslll.lI1d.nenallg. BRUNNER, Zeugen- und Inquisitionsbeweis (wie Anm. 154), S. 1n-205.

144 Mark Mersiowsky

Schreiber nicht nur bei solchen eher negativen Gelegenheiten im Auftrag desHerrschers zur Feder, Im Archiv der Kathedrale von Barcelona hat sich einOriginalbrief Karls des Kahlen an die Einwohner von Barcelona erhalten. Karlder Kahle bedankte sich bei ihnen für ihre Treue, die sie seinem Getreuen, demJuden Judas, erwiesen hatten. Judas habe ihm viel darüber berichtet. Karlerklärte sich zu Gegenleistungen bereit und stiftete der Kirche von Barcelona10 Pfund Silber für Kirchcnreparaturen.l'"

IIl.3. Die Rückmeldungen der regionalen Instanzen

Nachdem wir die Bandbreite schriftlicher Anweisungen der karolingischenHerrscher an ihre regionalen Sachwalter betrachtet haben, geht es nun um dieRückmeldungen. Die Kommunikationslinien vom Hof zu den lokalen In-stanzen waren keine Einbahnstraßen. Im capitulate de villis ordnete Kar! derGroße an, daß ihm von allen Amtsträgern die Zahl der erlegten Wölfe mit-geteilt werden solle158. Zufällig besitzen wir eine briefliche Erfolgsmeldungaus Frorhars Feder über die in den ihm zugeordneten königlichen Forstengetöteten Wölfe15'!. Hinkrnar von Reims 851 verständigte sich wegen militäri-scher Angelegenheiten bei der Belagerung von Beauvais mit Karl dem Kahlenund berichtete 864 von Maßnahmen zur Normannenabwehr am Pent-de-l' Arche über die Seine. Leider kennen wir in beiden Fällen wieder nur die kur-zen Regesten Flodoards. Ihm verdanken wir ebenfalls die Nachricht, daßHinkmar 851-861 mit Karl dem Kahlen über eine vom König angeordneteReimser Synode korrcspondiertc'v". Der briefliche Bericht des MarkgrafenAribo an König Arnulf um 890/91 über Friedensverhandlungen an der mahri-sehen Grenze hat sogar als Original die Zeiten ubcrdaucrtlv'. Gerhard Schmitzentdeckte eine kleine Sammlung Hinkrnars, die wohl 868 als Reaktion auf einkönigliches Mandat zum Wucher in Laon entstanden ist. Hinkmar bestimmte

157 TESSIER, Recueil2 S. 431 f. Nr. 417.ISH Capit. de villis c. 69: De lupis omtu rempore nobis ulnuntient, quanros unusquisq(ue)

conp(rac)hcI1Jcrir .. , (cd, Carlrichard BRLHl., Capitulate de Villis. Cod. Guelf. 254 Hclmst.der I{erzog August Bibliothek Wolfenbüttcl, Dokumente zur deutschen Geschichte inFaksimiles. Reihe 1, Mittelalter I [1971] S. 62 Z. 44 f.).

IS'I Frothar, Brief 1 (MGH Epp, 5 S. 277).160 Hinkrnar, Brief 45 (MGH Epp. 8, I S. 26, Nr. 172 S. 1(5). Zur kritischen Lage 85! [anct L.

NEl.SON, The Reign of Charles the Bald: A Survey, in: Charles the Bald (wie Anm. 86) S. 1-22,hier S. 8 f. Zum Ponr-dc-l'Archc bei Pitrcs (cp. 172) vg!. Kurt-Ulrich JÄSCHKE, Burgenbau undLandesverteidigung um 900. Überlegungen zu Beispielen aus Deutschland, Frankreich undEngland (Vorträge und Forschungen. Sonderband 16, 1975) S. 66-71; Simon COUPl.A"ID, Thefortified bridges of Charles the Bald, Journal of Medieval History 17 (1<J91) S. 1-12, hierS. 4-6. Zur Rcirnscr Synode Hinkrnar, Brief 139 (MGH Epp. 8, 1 S. 108).

Ihl SClIWARZMAIER, Brief (wie Anm. 31) S. 59-63.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 145

darin, daß die nach Laon zur Behebung der Mißstände entsandten missi in derStadt wiederum missi aus dem Laienstand bestellen sollten, die die Einhaltungder Anordnungen gegen den Wucher in der Grafschaft Laon beaufsichtigensollten: Et ipsi missi per brevem damno nostro regi rcnunticntv'ü, Seinen eige-nen Beauftragten befahl Hinkmar: Et vas missi illius renuntietc damno regiper seripturam, quos missos per quas villas ad hec excqucnda dcputatos liabc-bitisl63. Schon aus der frühen Karolingerzeit verfügen wir über ein solchesZeugnis, den Brief des Bonifatius an König Pippin aus der Zeit um 753. Umdie Unechtheit eines königlichen indicuJus zu erweisen, schickte Bonifatiusden verdächtigen setvus Ansfrid mit einem Boten und dem suspekten Schrift-stück an den Hof: Misimus illum ad vos cum ipsis litteris cum misso nostro, utcognoscatis, quia mentitus est vobis; pctentcs, ut nos pro mcrccdc vcstra dclcn-datis contra tales falsarios et eorum mendaciis non crcdeiist'»,

Klare Belege finden sich nicht nur dafür, daß regionale Sachwalter oder Be-auftragte Bericht erstatten sollten, sondern auch über die technische Orga-nisation dieser Rückmeldungen. Zwei Mandate wurden anläßlich der missaticaGraf Ruodberts und Erzbischof Heistulfs in der Erzdiözese Mainz ausge-stelltl65. Im ersten wird der Getreue H. angewiesen, einen seiner als kaiserlicheVasallen dienstleistenden Söhne, dem er das zutraue, bereitzuhalten, damit die-ser, falls Graf R[uodbert] und missus H[eistulf] irgendetwas an den Kaiserberichten wollen, ohne Verzug nach Tours aufbrechen könne, wo sich entwe-der der Kaiser oder seine Gattin aufhalten werden 166. Das zweite Mandat rich-tet sich in gleicher Sache an den Getreuen T. und setzt ihn in Bcrcitschafr'V.Zumindest T. sollte wohl von den missi einen schriftlichen Bericht erhalten 168.

Das wichtigste Zeugnis solcher Rückmeldungen ist der zwar fragmentarisch,aber als Original erhaltene Bericht des Abts Maginarius von Saint-Oenis anKarl den Großen. Er handelte Anfang des Jahres 788 detailliert von seinerGesandtschaft nach Beneventt=''.

162 Ed. SCHMITZ, Wucher in Laon (wie Anm. 31) S. 557 Z. 39 f. Vgl. dazu cbda. S. 553. Vgl, zudieser Sammlung unten S. 148 Anm. 182 H.

163 Ed. SCHMITZ, Wucher in Laon (wie Anm. 31) S. 558 Z. 50 f. Vgl. cbda. S. 554.164 Bonifatius, Brief 107 (MGH Epp. scl, I S. 233 Z. 11-17).165 MGH Capit. 1 Nr. 151 S. 308 Z. 13 f.; vgl. auch HANNIG, Zentrale Kontrolle (wie Anm. 78)

S. 14 f.166 Einhard, Brief 21 (MGH Epp. 5 S. 120 f.).167 Einhard, Brief 22 (MGH Epp. 5 S. 121).168 Einhard, Brief 22 (MGH Epp. 5 S. 121 Z. 11 f.): statim sine mora vcl aliqu« tsrdituc cum ipso

mandata ad Turonos pergere possis ...169 Vg!. oben S. 120 Anm. 50. Zur Legation vg!. Ottorino BERTOUNI, Carlomagno c Bcncvcnto,

in: Kar! der Große 1 (wie Anm. 77) S. 609-671, hier S. 639-641.

146 Mark Mcrsiowsky

IlIA. Schriftverkehr zwischen den regionalen Amtsträgern

Bei der Präsentation des adrninistrativcn Schriftverkehrs wurde bisher aufdie vertikale Komponente abgehoben, auf die vom Herrscher oder Hof ausge-henden, an die verschiedenen Amtsträger gerichteten Zeugnisse. Weniger zahl-reich sind die Überlieferungssplitter aus dem Schriftverkehr der einzelnenAmtsträger verschiedener hierarchischer Ordnung untereinander. DaG es imkarolingischen Reich überhaupt Informationsnetze und Nachrichtenaustauschgab, zeigt schon der Berichtshorizont der karolingischen Historiographen 170.

Dag zwischen den verschiedenen karolingischen Amtsträgern horizontalkommuniziert wurde, ist vorauszusetzen. In welchem Mage man sich dazu derSchriftform bediente, ist abermals zu überprüfen. Wir besitzen verschiedeneBriefe von Alkuinl71, Einhardl72, Agobardl73 und Hinkrnar+" an einzelne ka-rolingische Amtsträger, die als Überreste solcher Kommunikation interprctiertwerden können, daneben zahlreiche Formulare aus karolingischer Zeit175. DieBetreffe dieser Dokumente sind zum Teil Alltagsgeschäfte der Grafen: dieBitte, einen Vogt beim Einholen der Auskünfte über Gerechtsame von Hö-rigen zu unterstützen, Ersuchen um Heiratsgenehmigungen für Hintersassen,den Erlag einer Strafe für Diebstahl, da die Schuldigen zu arm sind. Oft erfah-ren wir wieder nur nebenbei von solchen Schreiben. Bischof Viktor Ill. vonChur beklagte sich bei Ludwig dem Frommen, dag seine Schreiben von GrafRodcrich und Herlein nicht beachtet wurden und wandte sich daher an dieübergeordnete Instanz 176.

Versuchen wir, die Einsatzbereiche solcher Schriftstücke abzustecken. Zu-nächst besitzen wir Zeugnisse darüber, daG Briefe zur Benachrichtigung undKoordination der regionalen Funktionsträger dienten. Bestimmte Informa-tioncn waren notwendig, um ein halbwegs reibungsloses Agieren zu ermög-

170 V~1. Marlcnc MIHR-GrBIJ., Zur annalistischcn Arbeitsweise Hinkmars von Reims, Francia15 (1987) S. 75-108, hier S. 94. Einen all~emeinell Überblick gibt jetzt l Ians-Wcr ncr GOETZ,

Vcrschriftlichung von Gcschichtskcnnmisscn. Die Historiegraphie der Karolingerzeit. in:Schriftlichkcit im frühen Mittelalter (ScriptOralia 53, 1993) S. 229-253.

171 Alkuin, Brief 33 (MGH Epp. 4 S. 74 I., Nr. 69 5. 112 f., Nr. 2245.3671.).171 Etwa Einhard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 112, Nr. S S. 112 f., Nr. 46 f. S. 133, Nr. 50 5. 134).17\ A~obarJ, Brief 10 (MGH Epp. 5 5. 201-203); Agobardi op. (wie Anm. 90) 13, S. 225-227.174 I !inkmar, Brief 49 (MGII Epp. 8, 1 S. 30 I., Nr. 63 S. 35, Nr. 68 S. 3(" Nr. 69 S. 36 I., Nr. 70

S. 37, Nr. 103 S. 50, Nr. 105 S. 51, Nr. 142 5.115, Nr. 173-175 5.1(6).J7) V~1. etwa (cd. MGI-I Formulae): Formulae Marculfinac .icvi Karolini Nr. 4 f. S. 116 I., Nr. 21

S. 122; Formulae Salzburgenses Nr. (,4 S. 454; Collectio Patavicnsis Nr. 2 S. 457; FormularumCodicis S. Emmerami lragmcnta I11 N r. 26, 31, 32, 33, 34 S. 468.

171, MGH Epp. 3 S. 309 Nr. 7 Z. 28 f.: Nul/a r.uio nostri ab cis tuit susccpts. Nulluni scriptumllostrum soltun audirc di;;ll.tti sunt. V~1. dazu BORGOITF, Geschichte der Grafschaften (wieAnm. 78) S. 219-229.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 147

lichen. Die Amtsträger bemühten sich daher, ebenso ihre Handlungspartnerwie sich selbst auf dem laufenden zu halten. Terminabsprachen und hand-lungsentscheidende Informationen wurden schriftlich ausgetauscht':", Klagenund Bitten verschiedensten Betreffs wurden gleichfalls per Brief crledigtl ".Aus Frothars Sammlung besitzen wir einen für die frühmitteIalterliche Diplo-matik und die Kenntnis karolingischer Privilegierungspraxis höchst bedeu-tenden Text. Abt Wichard von Inden (Kornclirniinster) sandte ihm, Frothar,brieflich Abschriften von drei Kaiserurkunden für Inden: einer Gütersehen-kung, einer Zollbefreiung und einer Immunitatsvcrleihungt/", So besorgte sichFrorhar Vorlagen für die Diplornc zugunsten seines Bistums, um deren (Wie-der- )Ausstellung er sich bemühte.

Die oft ad hoc angeordneten Handlungen der missi scheinen in hohemMalic auf solchen Informationsfluf angewiesen gewesen zu sein. In der Kapi-tulariensammlung Ghaerbalds von Lüttich findet sich ein formularhaftesSchreiben der Königsboten Adalhard, Fulrad, Unroch und Hrocculf vomMärz (?) 806 an einen Grafen ihres missaticum. Sie unterrichteten die unge-nannten Empfänger von personalen Veränderungen. Da Rado wegen Krank-heit ausgefallen sei, habe der Kaiser an seine Stelle Adalhard und Hrocculf ge-setzt. Sie schärfen dem Empfänger die Beachtung der Anordnungen ein, da sie

177 Frothar von Toul wandte sich wohl 829 an Erzbischof Hctti von Trier und bat urn schriftlich«Nachricht, wann er in Ausübung seiner Gesandtschaft ins Bistum Toul komme und wann eineSynode zusammengerufen werden solle. Er teilte überdies mit, dall er auf kaiserlichen Befehlim Oktober zur Bereitstellung von Unterkünften für misst unterwegs sein werde (Froth.ir,Brief 12, MGH Epp. 5 S. 284). An eine nur als E. ~enannte Person richtete Einhard Mitte H30die Frage, wo und wann eine allgemeine Reichsversammlung ab~ehalten wird, und ob l.otharaus Italien zurückkehrt, da davon abhänge, was er machen wird (Einhard, Brief 17, MGIIEpp. 5 S. 119). Eindrucksvoll ist der präzise Brief Od os von Fcrricrcs an Jonas von Orleans(840) über die Rückkehr von einem Fcldzu~ in Aquitanicn und das Itincrar Kiini~ Karls desKahlen, v~l. Lupus, Brief (vgl. Anm. 79) 28 (L. 17); vgl, auch den Brief des Lupus über Plan-anderungcn im ki)ni~lichen Itinerar (845): Lupus, Brief 31 (L. H); Sammlung von Informa-rioncn über die Ankunft des Kiini~s in Lupus, Brief 121 (L. 110).

In Einhard fragte Abt Hrabanus Maurus, ob er der Freistellung eines gewissen Gundhart, dervom Kloster Fulda abhängi~ war, vom Kriegsdienst zustimme (Einhard, Brief 42, MGIIEpp. 5 S. 131). Hrabanus selbst schrieb an Graf Bcrnhard, er mii~e ein trcucr tutor der luldacrBesitzungen in Italien sein. Wie dieser Brief ist auch ein Schreiben Hattos an einen Grafen nurals knapper Auszug aus einer verlorenen Fuldacr Briefsammlung erhalten (Hr.iban, Appendixc. 28, MGH Epp, 5 S. 529 Z. 24-26, S. 530 Z. 31 f.). Hinkmar benachrichtigte mehrfach diezuständigen Grafen von anstehenden Bischofswahlen oder dabei entstandenen Problemen undbat den Grafen Rcgirnund von Toulouse um U ntcrstutzu ng seiner Gesandten heiRevindikationen (Hinkmar, Brief 70, MGH Epp, 8,1 S. 37, Nr. 103 S. 50, Nr. 175 S. 166; v~1.STRAH1ANN, Hinknur [wie Anm. 34] S. 14-19). Es sei noch auf einen undatierten Brief in tiro-nischcn Noten verwiesen. Ein ungenannter Absender beklagte sich wohl bei einelll Bischofüber Übergriffe eines von dessen Vasallen, cd. MENTZ, Brief (wie Anm. 31) S. 212 f., KOIll-mentar ebda. S. 215.

17'1 Frothar, Brief 30 (MGH Epp. 5 S. 296 f. Z. 36-3).

148 Mark Mcrsiowsky

Mitte April dem Kaiser vermelden müßten, was von seinen Anordnungen um-gesetzt worden sei. Die formularhafte Fassung legt nahe, dag dieses Schreibenwirklich als Serienbrief an die verschiedenen Betroffenen versandt wordenistISO.Nicht immer war der Kontakt direkt, zum Teil wurden auch Mittelsleuteeingeschaltet. Die zu Beratungen über baycrischc Angelegenheiten vom Kaisereinbestellten Grafen Hatto, Poppo und Gebhard benachrichtigten Einhard,wie er in einem Brief einem weiteren comes mitteilte: Tune visum est illis beneesse, ut et tu et Atto in codctn placita Iuissctisv", Weiterhin führte Einhardaus: Ideo rogant vos, ut considcretis atquc illis mandetis, in quali loco vidcaturaptissimum esse, ubi ilIis conloquaminil82•

In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die von Gerhard Schmitz ent-deckte Textsammlung zum Wucher in Laon zurückzukommen. Schmitz stellteheraus, dag die Sammlung aus drei verschiedenen Stücken besteht. An derSpitze steht das Mandat Karls des Kahlen gegen den Wucher. Aufgrund derdarin enthaltenen Anordnung legte Hinkmar von Reims dann eine Sammlungder einschlägigen Kapitularienbestimmungen an, die den zweiten Teil bil-detlS3. Den dritten Teil vermochte Schmitz nicht exakt einzuordnen. SeinerAuffassung nach könne es ein fragmentarisch, nämlich ohne Proto- undEschatokoll überlieferter Brief, ein Konzept oder eine Mitschrift seinl84. Vorder Folie der Zeugnisse zur karolingischen Verwaltungspraxis läßt sich dieserText genauer ansprechen. Er beginnt mit einer Anweisung an die conlratrcs etcomministri nostri, qui per mandatum domni nostri regis Karoli Laudunumvcnistis's>, also an die Mitbrüder, die auf Befehl des Königs nach Laon gegan-gen waren. Sie sollten Klerus und Laien der Laoner Kirche eine Abschrift desköniglichen Befehls verlesen, sodann mit königlicher Banngewalt den Zu-hörern verbieten, fürderhin gegen die Bestimmungen zu verstoßenl86. WeitereAnordnungen folgen 187. Die Funktion dieses Textes ist wesentlich für dieNeuinterpretation der gesamten, nur in einer Abschrift des 12. Jahrhunderts

ISO Ed. ECKHARDT, Kapitulariensammlung Ghacrbalds S. 99-102; vg!. den Kommentar ebda.S.34-37.

ISI Einhard, Brief 41 (MGH Epp. 5 S. 131 Z.2 f.).IS2 Einhard, Brief 41 (MGH Epp. 5 S. 131 Z. 3-5).183 SCHMITZ, Wucher in Laon (wie Anm. 31) S. 542-552, cd. ebda. S. 556 Z. 1-14 (Mandat), S. 556

Z. 15-S. 557 Z. 31 (Bestimmungen über den Wucher).184 SCHMITZ, cbda. S. 552.ISS SCIIMITZ, cbda. S. 557 Z. 32 f.IH6 SCIIMITZ, ebda. S. 557 Z. 33-36: rclcgitc exemplar littcrsrum iJJius,qU.1Smini transmisit quas-

que vobis transscriptss dirigimus clcricis et laicis Laudunensis ccclcsic er interdiene iJ/is exbanno domni regis, ur contra hcc capirula non [ecixnt.

IS7 Vg!. oben S. 144H. Anm. 160 H.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 14')

überlieferten Sammlung. Hinkmar hatte aufgrund des königlichen Befehls dieentsprechenden Bestimmungen aus den Kapitularien zusammengestellt unddiese dann mitsamt einer Abschrift des Mandats und genauen Anweisungenden als missi nach Laon entsandten Rcimser Klerikern in schriftlicher FormanvertrautISS. Die angesprochene, nicht über Reims überlieferte Sammlungenthält nun genau dies: Sie besteht aus dem Mandat, dem von Hinkmur erstell-ten Dossier und den Instruktionen, die der Erzbischof seinen missi mit auf denWeg gab.

Die Sammlung zum Wucher in Laon bleibt nicht das einzige Beispiel fürumfangreichere Dossiers, die sich karolingische Amtsträger gegenseitig zu-stellten. Man nutzte die Briefform. um Kapitularien zu verbreiten und einzu-schärfen. Die Königsboten, die 806 in einem formularhaften Schreiben einemGrafen ihres missaticum die Beachtung der kaiserlichen Anordnungen insGedächtnis riefen, legten als Beilage ein Kapitular beils9. Sicher das prornincn-teste Beispiel ist die Synode von Quierzy. Das im Februar 857 von Karl demKahlen erlassene Kapitular ist in zwei Ausfertigungen überliefert, von deneneine an Bischof Jonas von Autun und Graf Isembert von Autun, die andere anBischof Hunfrid von Therouannc und die Grafen Engelschalk und Berengargerichtet warl90.

Angesichts des Einsatzes von Schriftstücken bei der Beauftragung, Informa-tion und Logistik der missi verwundern weitere Befunde kaum. Als Reaktionauf missarische Handlungen entstanden ebenfalls Briefe. An den KönigsbotenA. wandte sich Einhard vermutlich 832, weil dieser Einhards homines, dieauf Befehl des Kaisers Küstenwache hielten, zur Ablösung des Heerbannesdrängte. Da sie aber nur auf Befehl des Kaisers vor Orte waren, hielt Einharddie Forderung des Königsboten für ungerecht. Er bat den tnissus, solange ab-zuwarten, bis der Kaiser kommen werde, dann wolle er, Einhard, den Kaiseran seine Befehle erinnern und dieser solle darauf nach Gutdünken Anord-nungen trcffcnl'". In einem weiteren Brief an zwei missi bedankt sich der

ISS Besonders eindeutig geht dies JUS dem letzten S.HZ hervor: Er "os tnissi iI/ius rClIunri.lCc damnore);i per scriptur.un, quos mtssos per quas "il/as ad lice cxcuucnd: depotstos h.lbcbiris, cd,ScmIITZ, Wucher in Laon (wie Anm. 31) S. 558 2. 50 f. Schmitz liell chd.i. S. 554 offen, ohHinkrnar selbst nach LIOn reiste, "da der Charakter des folgenden Textes nicht g.lJlZ klar zubestimmen ist", nahm dieses aber als wahrscheinlich an. Die obige Intcrprctation des Texteslegt jedoch nahe, dag es eben die genannten Mitbrüder und Gesandten waren, die den kiinig-lichen Befehl in Laon ausführten. Die Praxis, bei der Weiterleitung licrrsclicr lichcr Befehle eineAbschrift des Mandats beizulegen, kennen wir bei Hinkmar; vgl. S. 161 Anm. 247.

ISY Ed. ECKHARllT, Kapitularicnsanunlung Ghacrbalds S. ')9 f. (Brief), S. 100-102 (Kapitular icn-sJmmlung).

IY: MGH Cone. 3 Nr. 38 S. 383-396; vgl. HAR"nIANN, Synoden (wie Anm. 120) S. 251-253.191 Einhard, Brief 23 (MGH Epp. 5 S. 121). Die Stationicrung von Wachtruppen in gefährdeten

Gebieten war eine weitverbreitete karolingische Praxis, vgl. Eduard HI.A\\"ITSCIIKA, Fr.mkcn,

ISO Mark Mersiowsky

Karlsbiograph bei diesen, daß sie in Ausübung ihres Auftrages seine Hinter-sassen unter anderem hinsichtlich des Heerbanns geschont hätten 192.

Bedrohliche Situationen, äußere Gefahren, vor denen es sich zu schützengalt, waren ebenfalls Anlaß für die regionalen Funktionsträger im karolingi-schen Reich, in besonderem Maße Informationen mittels Schrift auszutau-schen. Hinkmar von Reims teilte 864 Erzbischof Wenilo von Rouen Näheresüber die Maßnahmen zur Normannenabwehr an der Seine mitl93. Er selbstwurde wohl im Herbst 861 von Graf Gerhard von Vienne brieflich über einengeplanten Kriegszug Karls des Kahlen und eventuelle Beschlagnahme vonKlöstern informicrtt?", Welchen Umfang die schriftgestützte Kommunikationin Verteidigungssituationen hatte, läßt sich kaum abschätzen. In der kürzlichedierten Briefsammlung des Herfrid von Auxerre findet sich ein aufschlußrei-ches Zeugnis. Ein gewisser Launo, wohl weltlichen Standes, bat seinen Ver-wandten Herimbcrt um Unterstützung bei der Normannenabwehr. Die Aus-sagefähigkeit des Briefes ist damit aber keineswegs erschöpft. Es heißt nämlich:Miror namque, postquam vcstras vidi littetes measque vobis direxi, cur necmissuni nee litteras vestra a parte deletes videre tnerui'">. Wir erfahren nichtnur, daß schriftliche Kommunikationsverbindungen zwischen den Brief-partnern bestanden (oder besser: bestehen sollten), sondern können darüberhinaus einen Eindruck von den übermittelten Nachrichten gewinnen: Insuperliucraliter intimavi vobis, ut, si locus apcrirctur cclsitudinis, ubi vas inter-poneretis, utiquc indagaretis nobis, ut et nos nostrtque amici pro eodem decer-tamur loco; quod omnino respulstis, quia postea nullum a nobis qucstum exc-gistis. Am Ende des Briefes steht die Bitte, mit dem per Boten übersandtenGeld Pferde für den Absender zu kaufen, um Verluste zu ersetzcn'?». Noch

Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774-962). Zum Verständnis der fränki-schen Königsherrschaft in Italien (Forschungen zur oberrheinischen LG 8, 1960) S. 33-35.

1')2 Einhard, Brief 51 (\1GH Epp. 5 S. 135). Ähnliches Wh sich in Finhards Bricfsammlung übri-gens auch bei Inquisitionsvcrfahrcn feststellen: Nachdem Einhard dem Kaiser den von denGrafen Adalhard und Gebuin per Inquisition ermittelten Fall seines Hintersassen Alafrit demKaiser vorgetragen hatte, schrieb er einen Brief, denn il/c rcspotidit mihi: mirum sibi vidcri, curilla causa i.1m finita tuissct. Daher bittet Einhard in dem Schreiben den Grafen Hruotbert, ihmmitzuteilen, ob der Fall abgewiesen werde oder der Mann zu seinem Recht komme; Einhard,Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 112, Zitat ebda. Z. 20 f.). Vgl. zu Hruotbcrt HANNIG, ZentraleKontrolle (wie Anm. 78) S. 18 f. Franz STAAB,Untersuchungen zur Gesellschaft am Mittel-rhein in der Karolingerzeit (Geschichtliche Landeskunde 11, 1975) S. 434, sieht in diesen Brie-fen ein Zeichen für den mangelnden Zugriff der Zentralgewalt unter Ludwig dem Frommen.

19} Hinkrnar, Brief 171 (MGH Epp. 8, 15.1(5).194 l Iinkrnar, Brief 142 (MGH Epp. 8, I S. 115). Vg!. zu Gerhard zusammenfassend GERNER,

Lvon (wie Anm. 84) S. 47-49.1'15 E:'I. STRATMANN,Briefsammlung des Herfrid von Auxcrrc (wie Anm. 31) Brief 3, S. 141.1% Ed. STRATMANN,Bricfsammlung des Herfrid von Auxerrc (wie Anm. 31) Brief 3, S. 141 f.; vgl,

den Kommentar cbda. S. 132-134.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 151

aus dem frühen 10. Jahrhundert besitzen wir ein Zeugnis solcher brieflichenKommunikation. Die Grafen Robert von Paris und Manasses schrieben anGraf Richard von Burgund: Schote, quoniam fuimus petrccti contra Norman-nos, sed non invenientes regressi sumus Parisius mittenies ad vos et rcqulti-mus, utrum vos necne vctiictis ad nosl97.

Diese zufällig erhaltenen Dokumente zeigen, wie souverän sich geistlichewie weltliche Amtsträger zur Übermittlung von Nachrichten und zur Koordi-nation ihrer Aktionen untereinander schriftlicher Mittel bedienten.

Bei einer Anzahl von bischöflichen Schreiben ist es freigestellt, ob man sieals innerkirchliche Angelegenheiten oder Zeugnisse karolingischer Regie-rungspraxis interpretiert. Eine besondere Fundgrube ist eine in eine Hand-schrift von Alkuinbriefen eingetragene Briefsammlung aus dem späten9. Jahrhundert. Ein Teil der Schreiben geht auf Bischof Waiter von Orleanszurück. Die fast zur Hälfte aus tironischcn Noten bestehende Niederschriftenthält acht Briefe aus der Zeit ab 887. Darunter befinden sich Schreiben, indenen der Bischof von Le Mans um Unterstützung für die geflüchtetenMönche von Saint-Ouen gebeten wird, da diese auf ihrem Weg in die Graf-schaft Bayeux durch seine Diözese ziehen müssen, ferner ein Geleitbrief füreinen Mönch, der auf der Flucht vor den Normannen zu Verwandten nachItalien zieht, sowie ein Schreiben an den Klerus von Auxerre, in dem gegen denvon Kar! Ill. vorgeschlagenen Kandidaten Teutbert opponiert wird+'".

IlLS. Zum Einsatz von Briefen und Mandaten in der Verwaltungspraxis

Um die Vielfalt der Einsatzbereiche karolingischer Mandate und Briefe in derRegierungspraxis aufzuzeigen, wurden bisher die Einzelbeispiele ausführlichvorgestellt. Zu leicht könnte der Eindruck entstehen, diese Zeugnisse stündenisoliert da. Eine nur auf das Einzelbeispiel bezogene Betrachtung verzerrt denBlick. Viel bezeichnender für den Grad der Verschriftlichung ist das Ncbcn-,Gegen- und Miteinander von Briefen und Mandaten im konkreten Hand-lungsablauf. Um beim Bild des archäologischen Vorgehens zu bleiben: bisherhaben wir die Funde, also einzelne Stücke betrachtet. Jetzt muß es um dieBefunde gehen. Besonders aufschlußreich sind der Bericht Frothars überMoyenmoutier, die Streitigkeiten Alkuins mit Theodulf von Orleans und Ago-bards von Lyon mit den Juden seiner Stadt sowie die Maßnahmen Karls desKahlen gegen den Wucher in Laon,

197 Ed. Walther VOGEL, Die Normannen und das fränkische Reich bis zur Gründung der Nor-mandie (799-911) (1906) S. 396. Vg!. STRATMANN, Bricfsammlung des Hcrfrid von Auxcrrc(wie Anm. 31) S. 134.

198 BISCIIOIT, Briefe (wie Anm. 31) Nr. 1 S. 126 f., Nr. 3 S. 128 f., Nr. 4 S. 129 f.

152 Mark Mcrsiowsky

Auf Befehl des Kaisers hatten Frothar und Smaragdus von Saint-MihielStreitigkeiten zwischen Patriarch Fortunatus von Grado als Abt und denMönchen von Moyenmoutier geschlichtet. Unter dem neuen Abt brachendiese Streitigkeiten erneut aus. Daher sandten Frothar und Smaragdus einenBericht an den Kaiser, und Frothar bat Erzkapellan Hilduin schriftlich, diesenLudwig dem Frommen vorzulegen. Frothar bedachte aber alle Widrigkeitenund gab daher dem Boten sicherheitshalber noch ein Schreiben an denTürhüter Gerung, seinen Vertrauten am Hof, mit, damit dieser bei Ab-wesenheit Hilduins den Brief dem Kaiser übergcbe+?",

Zum zweiten Fall. Zwischen Alkuin als Abt von Saint-Martin in Tours undErzbischof Theodulf von Orleans entbrannten heftige Auseinandersetzungenum einen aus der Haft entflohenen Kleriker, der in Saint-Martin Asyl gesuchtund an den Kaiser appelliert hatte. Doch statt ihn zum Hof ziehen zu lassen,versuchten die Häscher, ihn gewaltsam wieder in die Obhut des Erzbischofszu bringcn-P". Die den Streit eröffnenden Schriftstücke können nur erschlos-sen werden. Die ersten greifbaren Zeugnisse sind Schreiben des Metropolitenvon Orleans an den Hof und möglicherweise auch an Alkuin sclbst-?'. Karlder Große befahl daraufhin per Mandat, den Entflohenen auszuliefern; viel-leicht wurde der Spruch als Gerichtsurkunde ausgefertigt202. Die Männer des

I')') lrothar, Brief 21 (MGH Epp, 5 S. 290 f. [Bericht], Nr. 22 S. 291 f. [an Hilduin], Nr. 23 S. 292[an Gcrung l]. Zu Fortunatus, Moyenmoutier und Srnar.igdus vg!. Franz J. fITITN, Äbte undLaienabte im Frankenreich. Studie zum Verhältnis von Staat und Kirche im früherenMittelalter (Monographicn zur Geschichte des Mittelaltcrs 20, 1980) S. 40, 268 f. ZumVerhältnis zu Gerurig vh!. oben Anm. 106.

200 Vg], zu diesem Streit umfassend WAl.I.ACI!, Alcuin and Charlemagne S. 99-126. Wallach hatcbda. S. 99-101 die Abfolge verschiedener Dokumente in diesem Streit zu rekonstruieren ver-sucht, wobei er den Gerichtsgang auf Basis der älteren rechtsgeschichtlichen Litcratur alsModell zugrundelegt.

zci Daß der Streit durch einen Brief Theodulfs an Karl den Großen eingeleitet wurde, wieWALLAClI,Alcuin and Charlemagne, S. 99 N r. l " annahm, ist nicht zwingend; die Beschwerdekann auch anderweitig übermittelt worden sein. Ob ein heute verlorener Brief anzunehmenist, hängt auch von der Beurteilung der nichstcn Nachricht ab. WAU.AUI, Alcuin andCharlemagne S. 100 Nr. Y nahm mit Bezug auf Alkuin, Brief 245 (MGH Epp. 4 S. 394 Z. [6)(... sicut in cius lcgcbstur littcrls; und Z. 40 f. (Sed eundem rcum duboliun nonunari in vcnc-rabilis cpiscopi littcris invcnimus, non homincm) an, Thcodulf habe ein Schreiben an Alkuingerichtet. Aus diesen Belegen geht m. E. nicht eindeutig hervor, dall es sich um einen Brief anAlkuin gehandelt hatte. Das erste Zitat, auf das sich Wallach bezieht, lautet vollständig: Sedscio antc nominarum pontilicem muluis dicturum esse ,1ccusariones contra Fratresnosrros; erquae gcst« sunt exaggcr:lrc; er pluritn« :,ddere qU,lL' gest.1 non erallt, sicut in cius legeb.Hur lit-tens (cbda. Z. 14-16). Daher kann sich Alkuin auch auf die all Kar! gesandte Klageschriftbezogen haben (deren Schriftform hierdurch belegt wäre).

202 Alkuin, Brief 247 (MGH Epp. 4 S. 400 Z. 2-4): QU'l111 iussioncin de rcdditionc cuiusdam clc-rici ... sub nostri nominis suctontuc cotiscribcrc iussimus; cuius ctiam nobis cxctnplaria mi-

sistis; ähnlich ebda. Z. 23-26. In Nr. 245 S. 397 Z. 33-36 hebt Alkuin ebenfalls auf kaiserlicheBefehle ab, wenn er schreibt, er kiinne nicht glauben, Jag der Kaiser entgegen dem Kirchen-

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 153

Erzbischofs drangen - unter Führung des örtlichen Bischofs ]oseph von Tours-in die Martinskirche ein und wollten den Asylgenießenden, der vor dem Mar-tinsgrab lag, aus den Chorschranken entführen. Nachdem die Verhaftung auf-grund des Widerstands der Turonenser gescheitert war, wandte sich Theodulfschriftlich mit Anklagen gegen die Mönche an den Kaiser203• Alkuin hattedavon erfahren und schickte seinerseits nicht nur einen Brief an Karl, sonderneilends eine genau - und zwar schriftlich - instruierte Gesandtschaft-?'.Flankierend informierte er auch einen nicht genannten, befreundeten Bischof.Karl erhielt fast gleichzeitig Briefe beider Seiten-P> und reagierte nach beiderKenntnisnahme mit einem cntziirntcn Schreiben an Alkuin und den Konventvon Saint-Martin wegen der Mißachtung seines Befehls. Offenbar wurde seinneuerliches Schreiben einem missus mitgegeben, der eine Untersuchung vorOrt anstellen sollte206. Vermutlich schickte Alkuin den Verfolgten zu seinemSchüler Am nach Salzburg und gab diesem ein persönliches Schreiben an Ammit207. Er antwortete außerdem ausführlichst auf die kaiserlichen Vorhaltun-gen208.

recht und den Satzungen seiner Vorfahren befehle (praeeipi.H). Diese Bezeichnungen verwei-sen m. E. auf ein Mandat, das Alkuin (in Form einer Abschrift?) übermittelt wurde. WALLACH,Alcuin and Charlemagne intcrprcticrre die ersten beiden Nachrichten als Hinweis auf einenlndiculus commonltorius (S. 100 Nr. 2"'). Er verwies auf entsprechende Formulierungen incorroborariones (cbda, S. 109-111, doch können diese Termini auch für Mandate verwendetwerden). Dag eine Gerichtsurkunde ausgestellt wurde, ist allerdings mit Hinblick auf vonWallach hier nicht herangezogene Belege wahrscheinlich, schreibt Alkuin doch: 19irur vcner.r-bilis pater Thcudulius quibusdam coniratribus sancti Martini, Iidclibu« vcstrac prospcrit uisintcrccssotibus, de quodam reo iugitivo habet disccptationem, ähnlich ebda. Nr. 246 S. 398Z. 7-10 (ebenfalls ... habet disccptationcm ... ). In Asylfragen benutzte man übrigens des "he-ren Briefe, vgl. etwa das Schreiben Einhards an Graf Poppo (Einhard, Brief 47, MGH Epp. 5S.133).

m Alkuin, Brief 245 (MGH Epp. 4 S. 394 Z. 14-16). Vgl, WALLACH, Alcuin and CharlemagneS. 100 Nr. 4"-.

204 Alkuin, Brief 245 (MGH Epp. 4 S. 393-398). Vgl. WALLACH, cbda. S. 100 Nr. 6.2J5 Alkuin, Brief 247 (MGH Epp. 4 S. 399 Z. 40 f.): Prulic, qU;lm ;Id nostram praescntiam a \"Oh;,

missa vctussct epistou, adutac nobis sum littcrac ;! Thcodutlo cpiscopo missac, ... ; (cbda,S. 400 Z. 6 f.): Sed cum utrasquc cpistolas, vcstr.llll scilicet ac Tcodulti, nobis rclcgcrc [ccissc-mus ...

2J6 Vgl. Alkuin, Brief 247 (MGH Epp. 4 S. 399-401, zum Missus S. 401 Z. 2 L): ... iuxis quod pr.!c-sens niissus nosier vobis itulixcrit ... Vgl, WALLACH, Alcuin and Charlemagne S. 100 f. Nr. 7.

207 Alkuin, Brief 248 (MGH Epp, 4 S. 401). Vgl. WALLACH, Alcuin and Charlemagne S. 101Nr. 9. Zu Arn vgl. Joscf SEM~ILER, Zu den bayrisch-westfrankischcn Beziehungen in karolin-gischer Zeit, Zs. für baycrischc LG 29 (1'.166) S. 344-424, hier S. 391-397; Hcrwig WOLlRM1,Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378-907 (1987)S.206-216.

2J8 Alkuin, Brief 249 (MGH Epp. 4 S. 401-404). Vgl, WALLACH, Akuin and Charlemagne S. 101Nr. 11. Wallach nimmt cbda. Nr. 8'" und 10'" schriftliche Ladungen des Missus an die Miinchevon Saint Martin und einen schriftlichen Untersuchungsbericht an den Kaiser an. M. E. findensich keine konkreten Belege für diese Schriftstücke; in Alkuins Brief 249 (MGI1 Epp. 4 S. 402

154 Mark Mersiowsky

Auch Agobard von Lyon betrieb seinen Einspruch gegen die kaiserlichePolitik hinsichtlich der Taufe der Hörigen von Juden schriftlich-v". Nachdemein persönliches Vorsprechen beim Kaiser kein greifbares Ergebnis brachte,schrieb er um 823 an Adalhard, Helisachar und Wala210, Da Ludwig der From-me ein gegen Agobards Position sprechendes Urteil gefällt und dieses ur-kundlich hatte ausfertigen lassen-!', sah sich Agobard nach eigenen Wortenzwischen zwei Gefahren: entweder dem kaiserlichen Befehl zu gehorchen unddamit Gott zu mißachten oder den Auctoritates zu folgen und damit denKaiser zu belcidigcn-l-'. Daher appellierte er um 826 an Erzkaplan Hilduin undWala und bat diese um Intervention beim Kaiser+' '. Der Kaiser sandte nichtnur den Juden besiegelte Ausfertigungen seiner Entscheidung, sondern gabdem Lyoner vicecomes den schriftlichen Befehl, den Juden gegen AgobardHilfe zu leisten-!". Agobard reagierte mit einem ausführlichen persönlichenBrief an den Kaiser, worin er sich formal aus der Affäre zog, indem er daranzweifelte, daß die Urteile wirklich vom Kaiser srammten-!>. Die missi, die826/827 in Lyon auftraten, waren mit einer Tractoria und weiteren Schrift-stücken versehen: Deineie uenerunt et praedicti missi, hebcntcs in manibustractoriam stipendialem et capitularia sanctionum .. ,216, Erzbischof Agobard

Z. 5 f.) heißt es: Worum siquidem conversationem et vitam a vim pcrlccto et iudice incorruptoet misst>fideli Widone audirc potcstts ... - der Königsbote mußte nicht unbedingt die Schrift-form wählen.

20') Zusammenfassend dazu BOSIIOF, Agobard (wie Anm. 90) S. 102-138; Hans L1EllEscHÜTZ,Synagoge und Ecclesia. Religionsgeschichtliche Studien über die Auseinandersetzung derKirche mit dem Judentum im Hochmittclaltcr, hg. von Alexander PATSCIIOVSKY (1983)S. 55-94; vg!. GERNER, Lyon (wie Anm. 84) S. 60-65; Heribcrt MÜI.LER, Die Kirche von Lyonim Karolingerreich. Studien zur Bischofsliste des 8. und 9. Jahrhunderts, HJb 107 (1987)S. 225-253, hier S. 244-248.

210 Agobard, Brief 4 (MGH Epp. 5 S. 164-1(6); Agobardi op. (wie Anm. 90) 6, S. 115-117. ZurDatierung mit Angabe der älteren Litcratur BOSIIOF, Agobard (wie Anm. 90) S. 103.

211 Agobard, Brief 6 (MGH Epp. 5 S. 180 Z. 5 f.); hier nach der leicht abweichenden FassungAgobardi op. (wie Anm. 90) 10, S. 185 Z. 19 f.: Quoddam pracccptum ludci circumlctunt,quod sibi datum ab impcratorc glorianeur ...

212 Agobard, Brief 6 (MGH Epp. 5 S. 181 Z. 32-37); Agobardi op. (wie Anm. 90) 10, S. 188Z.109-115.

213 Agobard, Brief 6 (MGH Epp. 5 S. 179-182); Agobardi op. (wie Anm. 90) 10, S. 185-188. ZurDatierung BOSHOF, Agobard (wie Anm. 90) S. 108.

214 Agobard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 183 Z. 1-4); Agobardi op. (wie Anm. 90) 11, S. 192 Z. 34-37.Mit BOSlloF, Agobard (wie Anm. 90) S. 114 ist davon auszugehen, dag es sich bei den vonAgobard erwähnten indiculi um Mandate handelte.

215 Agobard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 183 Z. 4 f., 9 f., cbda. S. 184 Z. 30); Agobardi op. (wieAnm. 90) 11, S. 192 Z. 37-39, ebda. S. 194 Z. 120 f.: ... er continentia ucrba, ut puuutius, nonucr;l ... Übersehen wurden A~obards Anfechtungsversuche bei Ernst PITZ, Erschleichung undAnfechtung von Herrscher- und Papsturkunden vom 4. bis 10. Jahrhundert, in: Fälschungenim Mittelalter. Teil 3, Diplomarische Fälschungen 1 (MGH Schriften 33, 3, 1988) S. 69-113.

216 Agobard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 183 Z. 8-10); hier nach Agobardi op. (wie Anm. 90) 11,S. 192 Z. 44 f.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 155

verließ unter dem Vorwand, Streitigkeiten im Kloster Nantua schlichten zumüssen, seine Kathedralstadt und suchte stattdessen brieflich in Kontakt mitden Boten zu kornmen-!".

Die Maßnahmen gegen den \Vucher in Laon wurden oben schon ausgiebigdiskutiert, so daß hier nur eine knappe Zusammenfassung gegeben werdenmuß. Dem Wucher, den Laoner Kleriker mit ihren großen Getreidevorrätentrieben, begegnete Karl der Kahle durch ein Mandat an Erzbischof Hinkmarvon Reims. Er wies diesen an, einen missus nach Laon zu senden, der demKlerus von Laon Wucher und Zinsnahme verbietet und die einschlägigenRechtsvorschriften einschärft. Hinkrnar stellte die Bestimmungen zumWucher zusammen und übergab sie mitsamt einer Abschrift des Mandats undausführlichen schriftlichen Instruktionen seinen missi. Diese sollten den Textdes Mandats in Laon verlesen und unter Königsbann die Einhaltung derAnordnungen befehlen. Sowohl diese missi wie auch die von ihnen vor Ortbestellten Kontrolleure wurden angewiesen, dem König detailliert schriftlichzu berichten218•

Bei den vorgeführten Beispielen handelte es sich um konkrete Fälle derkarolingischen Verwaltungspraxis. Kommunikation und Auseinandersetzungkonnten schriftlich vonstatten gehen. Die überlieferten Briefe und Mandatehatten, wie oben festgestellt, eine große Bandbreite. Dieser Befund wird durchdie Analyse der Beispiele bestätigt. In den geschilderten Konflikten spieltenSchriftstücke mit ganz verschiedenen Funktionen eine wichtige Rolle. Einendeutlichen Hinweis dafür, daß ihr Einsatz den Zeitgenossen vertraut war, gibtuns zudem der Befund gefälschter Stücke. Die Fälscher wollten mit ihrenFalsikaten einen Effekt erzielen. Es wäre sinnlos gewesen, Dinge zu fälschen,die von den Zeitgenossen nicht akzeptiert worden wären. Die Geste Aldricimit den inserierten Urkunden von Le Mans und umfangreichen Dekretalertsind einer der interessantesten und immer noch nicht abschließend geklärtenFälschungskomplexe. Ohne hier die strittigen Fragen aufzugreifen, reicht es indiesem Zusammenhang, daß ein Mandat interpoliert wurde. Damit bezeugendie Gesta Aldrici, daß Briefe und Mandate als gängige Instrurncntc vonRegierungs- und Verwaltungspraxis galtcn-!".

217 Agobard, Brief 7 (MGH Epp. 5 S. 183 Z. 20-24); Agobardi op. (wie Anm. 90) 11, S. 192Z. 58---{'2.Vg!. GERNER, Lyon (wie Anm. 84) S. 239 f. BOSIIOI', Agobard (wie AnJ11. 90) S. 116sieht in der Visitationsrcise einen bewußten Rückzug aus Sicherheitsgründen.

21S Vg!. oben S. 144ff. Anm. 160 H.219 Bf.12 976, ed. Gesta Aldrici (wie Anm. 132) S. 149 f. (interpoliert, vg!. GUITART, Le Mans

Forgeries S. 315-316). Nach GOFFART, Le Mans Forgeries (wie Anm. 131) mit Ang.lbc derseitdem erschienenen Lit.: Philippe l.E MAITRE, L'ceuvrc d'Aldric du Mans et sa signification(832-857), Francia 8 (1980), S. 43-64; Margarete WFIDEMANN, Das Testament des BischofsAldricus von Le Mans - eine Fälschung?, in: Fälschungen im Mittelalter, Teil4, DiplomarischeFälschungen (2) (MGH Schriften 33,4,1988) S. 237-263.

156 Mark Mcrsiowsky

III.6. Mandate mit Privilegiencharakter

Vor der Folie dieser Erkenntnisse gewinnt eine Gruppe von Schriftstücken,die zwischen Mandat und Privileg angesiedelt sind, Konturen. Es sind diesetwa die von Karl dem Großen für Saint-Denis verbrieften Abgabenbefreiun-gen während des Dionysiusmarktcs=", ferner Regelungen von Zehntfragenund Baulasten. wie wir sie aus der Zeit seines Nachfolgers Ludwig als Formu-lar der Formulae Imperiales und als Ausfertigungen für das Bistum Macon unddas Kloster Saint-Mihicl besitzcn=", sowie Anordnungen zur Ergreifung undRückführung entlaufener Mönche und Oblaten aus der Zeit Ludwigs desFrommen für das Kloster Farfa222. Hinzu kommen privilegartige Mandate zurUnterstützung von Revindikationen, die Karl der Große vor 774 für dasSchottenkloster Honau und Ludwig der Fromme für Anianc 820 ausfertigenließen; in letzterem wurden ferner Fragen der Besitzsicherung und Ergreifungentsprungener Höriger geregelt223. Ein Mandat Ludwigs Ir. für Monte Amiatazur Restitution des Klosterbesitzes hat sich sogar als Original crhalten-J+.

Im Gegensatz zu den einfachen Mandaten und Briefen sind die Adressatender hier aufgeführten Stücke nicht genau spezifiziert. Zum Teil verschwimmthier die Grenze zwischen Mandat und Privileg. Diese oft aus aktuellem Anlaßverbrieften Anweisungen an die fränkischen Funktionsträger sind formal alsMandate anzusprechen, hatten aber eine über den Einzelfall hinausreichendeRechtswirksamkeit. Diese war intendiert, wie die z. T. diplomähnliche Auf-machung und das Formular zeigen. für die Frage nach der Bedeutung derSchriftlichkeit in der Verwaltungspraxis sind diese Stücke natürlich von hohemInteresse. Diejenigen, die den Kaiser um ihre Ausstellung ersuchten, rechnetendamit, dag sie entsprungene Mönche, Oblaten und Hörige mit Hilfe solcherverbriefter Dauerbefehle besser einfangen konnten, daß ihnen mandatähnlicheDokumente bei der Wiedererlangung ihres Klosterbesitzes oder der Eintrei-bung der Neunten und Zehnten halfen. Eine Bestimmung in einem Stück fürFarfa von 820 gibt uns einen Einblick in die praktische Verwendung solcherDokumente: ... et has litteras rclcctas eis teddcrc laciatis ... 225. Die regionalen

22J D Kar. I XX.221 MGH Formulae, Form. Imp. 21, BM' 609, 621.222 BM' 71S (cd. 11 Rcgesto di Farfa cornpilato da Gregorio di Catino 2, hg. von I. GIORGI,

U. BALZAf\;1 [1879] Nr. 262 S. 201).22.1 Vg]. etwa D Kar. I 77; B\l' 728, ed. Cartulaircs des Abbaycs d'Anianc et de Gcllonc, publics

daprcs lcs manuscrits originaux. Cartulaire d'Aniane, hg. von A. CASSAN u. E. MEYNIAl.(1')00) Nr. 14, S. 65 f.

224 D Lu. 11. 12.m BM' 71S (cd. Regcsto di Farb 2 [wie Anm. 222J Nr. 262 S. 201).

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 157

Sachwalter des karolingischen Staatswesens sollten also den Text lesen und denInhabern dann das Schriftstück zwecks weiterer Verwendung zurückgeben.Dieses Beispiel steht nicht allein da. Zu dieser Gruppe gehört auch das alsFormular erhaltene Pracccptum ncgotietorum Ludwigs des Frommen-Je. Sei-nen Bestimmungen zufolge sollte jeder der unter kaiserlichen Schutz genom-menen Kaufleute jährlich, zumindest aber nach Ablauf zwcicr Jahre, im Maiam Hofe erscheinen, Abgaben an die Kammer leisten hasquc litteras auctotita-tis tiostrc ostendet-V', Aus der Kanzlei Ludwigs des Frommen ist nur diesesFormular erhalten. Im Original hingegen hat eine Urkunde Ludwigs II. für dieÄbtissin Amclberga von San Salvatore in Brescia die Zeiten überdauert. Siebefreite den Kaufmann Ianuarius von allen Zöllen und Abgaben und verbriefteihm die freie Ausübung seiner Geschäfte für das Kloster228. EntsprechendeBemerkungen finden sich auch in Inquisitionsurkunden. So heigt es in der fürLucca erlassenen Urkunde Ludwigs II. von 871: ... ut cuicunque illorum prc-dictus cpiscopus Gherherdus vel advocetus ipsius anuntisvcrit vel h,11lC nostraepistola ostcnseru, ... 229. Neben den angeführten Mandaten lassen sich nochGeleitbriefe und Traktarien nennen230. Offensichtlich führten unterschied-liche Personengruppen Schriftstücke verschiedenerlei Charakters mit sich, mitdenen sie bei den lokalen Instanzen etwas bewirken konnten.

IV. Zur Praxis adrninistrativcn Schriftgebrauchs in der Karolingerzeit

Wie der verschiedentlich nachgewiesene Einsatz von Briefen und Mandatennun tatsächlich aussah, stand bisher noch nicht zur Diskussion. Natürlich wardie Schriftform weder die einzige noch die wichtigste Kommunikationsform.

226 BM' S51 (cd, MGH Formulae, Form. Imp. 37, S. 314 f.). Vgl, zum I'f.lCCCl'tlJlIl JllIIANFK,Fränkischer Handel (wie Anm. 33) S. 57-60; KIFNAST, Fränkische Vasallit it (wie Anrn. 86)S. ISS f.

127 BM' 851 (cd. MGH Formulae, Form. Imp. 37, S. 315 Z. 4 f.).228 I) Lu. II. 32.119 D Lu. I I. 55.130 In der Translatio Sancti Alcxandri ist ein Mandat Lothars I. von 850 inseriert, in dem er alle

Instanzen anweist, seinen Vasallen Walthert auf der Pilgerfahrt nach ROIll zu unterstützen:D Lo. I. 109; vgl. zum Hintergrund Dieter HÄ(;FRMANN, Bremen und Wildeshausen imFrühmittclalter. Heiliger Alexander und heiliger Willehad im Wettstreit, Oldcnburgcr Jb. SS(1985) S. IS-33, bcs. S. 24-28. Eine Tractoria ist als Formular in den Formulae lmpcrialcs ent-halten (MGH formulae, Form. Imp. 7 S. 292). Die im Streit zwischen Agobard und den Judenvon Lyon auftretenden inissi hatten S26/827 Traktorion bei sich: Agobard, Brief 7 (MGIIEpp. 5 S. 183 Z. 8-10); Agobardi op. (wie Anm. 90) 11, S. 1')2 Z. oH f. Vg!. z ur tr.ictori:allg. Francois Louis GANSIIOF, La Tractoria. Contribution a l'ctude des origincs du droit degite, Tijdschrift vom Rechtsgeschiedcnis. Revue dHistoirc du Droit S (Ins) S. 6')-')1; ehd.l.S. 90 f. auch die letzten Belege für Traktorjen (vor se,S).

158 Mark Mcrsiowsky

Entsprechende Zeugnisse sind Legion. Mündlichkcit und Schriftlichkeitergänzten sich. In einem Schreiben an Erzkaplan Hilduin kündigte BischofFrothar von Toul für den Fall, daß seinem brieflich vorgetragenen Anliegennicht stattgegeben werde, seine persönliche Vorsprache an231. In einem Briefan Erzbischof Hetti von Trier begründete er die Schriftform einleitend mit derFeststellung: IJuper mihi de pelstio regredienti dcluit iacultes vobiscumloquendi232. Zum Teil dienten Briefe der Anbahnung der persönlichen Vor-sprache beim Kaiser233. Für Einhard wissen wir, daß IT aufgrund einerKrankheit nicht persönlich an bestimmten Beratungen teilnehmen konnte unddaher einen Unbekannten bat, ut tam de ectis quam agcndis aput vos tcbus perlitteras vestras me, quanta celerius potuctitis, certum iecerc dignemini234• Oftbaten die Absender die Empfänger um mündliche oder schriftliche Ant-wort235. Lupus von Ferrieres sandte sogar eigens einen Boten an den Emp-fänger seiner Schreiben, der nach Absprache die Antwort einholen sollte, undgab seiner Hoffnung Ausdruck, dieser möge nicht leer oder zu spät zurückge-schickt werden236. Briefe konnten Gespräche anbahnen oder ersetzen. In die-sen Fällen wechseln sich mündliche und schriftliche Kommunikation ab. Da-neben gab es selbstverständlich Verschränkungen zwischen beiden Formen.Bekanntlich hatte der Bote im Mittelalter nicht nur die Funktion, den Brief alsmateriellen Träger einer Botschaft zu überreichen, sondern er beglaubigteseinen Inhalt und konnte darüber hinaus weitere mündliche Nachrichten -oft heiklen Charakters - iiberrnitteln-V. Ein klassisches Zeugnis dafür liefertEinhard. Er schrieb in einer heiklen Angelegenheit, es sei besser, diese einemtreuen Menschen als dem Pergament anzuvertrauen, da ein verlorengegan-genes Pergament alles offenbare, ein treuer Bote aber nicht einmal unter der

231 Frothar, Brief l) (MGH Epp. 5 S. 283 Z. 6-8): Alioquin per me ipsum ..d praesenti ..m domniimpcratoris ct "cstram pracscntiam supplicitcr obsccrabo ...

m Frothar, Brief 12 (MGH Epp. 5 S. 284 Z. 21 f.).23l Frothar, Brief 13-15 (MGH Epp, 5 S. 285-287).2.H Einhard, Brief 14 (MGH Epp. 5 S. 117 Z. 29-31).m Vgl. etwa Bonifatius, Brief 93 (MGH Epp. scl, 1 S. 214 Z. 1-5); Frothar, Brief 10 (MGH

Epp. 5 S. 283). Vg!. auch MGH Cone. 2, 1 Nr. 22 A S. 197 Z. 2-5.236 Lupus, Briefe (vg!. Anm. 79) 77 (L. 73), ed. MARSlIALL 77,2 S. 78 Z. 5-8: Secundum quod 5t.1-

tuistis, dircsi nuntium, qui super meis rcccntibus littcris quid uobis uisum fucrit et qUJeCU/ll-que cognitu necessaria iudicaucmis, comprclictisa ucstris apicibus reportaret. pcw itaquc ncilium uacuurn aut tardius rcniittstis.

237 HOFIMANN, Brieftechnik (wie Anm. 41) S. 145-147; KÜHN, Latein und Volkssprache (wieAnm. 41) S. 348 f.; TIIO\IA, Papst Hadrian (wie Anm. 40) S. 39-41. Aufschlußreiche Belege ausdem dichterischen Umkreis des Theodulf von Orleans bei Dieter SClIALI.ER, Briefgedichte alsZeitzeugen: Thcodulfs Sturz 817/818, in: Aus Archiven und Bibliothck en (wie Anm. 13)5.107-119, hier 5.111 f.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 159

Folter das ihm Anvertraute verriete238• Nicht alles konnte man dem Pergamentanvertrauen+". Eines der Schreiben Frothars ist an einen nobilissimus vir etcum omni honore nominandus gerichtet. Nach einer knappen Einleitung heißtes nur, er möge sich bemühen, das zu tun, was ihm der Bote Frothars vor-trage240. In einem Brief Ludwigs des Frommen an den Patriarchen von Gradowird nicht nur von einem per Boten vorgelegten Bittschreiben gesprochen,sondern auch bezeugt, daß weitere, ergänzende Fragen mündlich vorgetragenwurden241.

Schriftliche Kommunikation konnte in Konkurrenz zum persönlichenErscheinen treten. Offensichtlich rechnete man damit, daß ein Bote mit Briefden Adressaten schneller erreichte als ein Reisender. Ein Beispiel dafür:Frothar von Toul wandte sich brieflich an Erzkapellan Hilduin und schilderteihm einen Rechtsfall. Ludwig der Fromme habe eine von Pippin an das KlosterSancti Apri (Saint-Evre) bei Toul geschenkte villa dem Kloster restituiert. Eingewisser Joseph habe sie als Lehen auf Lebenszeit erhalten, doch völlig herun-tergewirtschaftet. Nun sei er gestorben und habe Frau und einen kleinen Sohnhinterlassen. Frothar habe vorgehabt, der Witwe causa ceritatis zehn Mansenund einen Weinberg mit einem Wert von 40 Scheffel Wein zu belassen und dierestlichen 20 Mansen den Brüdern des Klosters zurückzuerstatten. Dies habeaber die Witwe abgeschlagen, stattdessen komme sie an den Hof und forderedas ganze Lehen: Prxedicta autem mulier datum meum dispexit et nunc adpalatium veniens totum ipsum beneficium furtim et absque nostra tutitur pre-cipete voluntatc. Dem wollte Frothar zuvorkommen und ersuchte Hilduin,seinen Einfluß geltend zu machen242.

Die Besonderheiten des administrativen Schrifteinsatzes bildeten entspre-chende Prozeduren heraus. Geradezu ein Charakteristikum der karolingischen

238 Einhard, Brief 61 (MGH Epp. 5 S. 140 Z. 1-3): Potius enim fideli homini, quam katte eieden-dum iudico, nam charta sivc membrana, si se [crcnti clsbitur, omne quod continct sccrctlutupatciecit], at nuntius fidelis nee rortus sibi commissum prodit.

239 In einem Brief des Lupus von Fcrriercs hcißt es: QU;ledam ali.l comperi um caute rcucluida,ut ea liitcris cotnprchctidcrc tutum non putaucrim, tamquc neceSSJri.l cOlinitu, ur qu.lm pcnc-sris cclcrtus, pr.lerenra quslibct .1/iautilitatc, mihi ad colloquium occurrerc dcbcuis. Lupus,Briefe (vg!. Anm. 79) 57,3 cd. Marshall S. 65 Z. 21-24.

240 Frothar, Brief 19, MGH Epp. 5 S. 289 Z. 20 f.: er quidquid vobis istc nussus nosier siglll'fi'c.l-vcru, [accre studctc.

241 BM2 838: Quod pro rcvcrcntia atque honorc bcatissimorum m.lrryrum More] et I !erm.'gorcsuuitti ita fieri precepimus, necnon et cerer'l e.lpicul.l, quae idem Jiaconus ore proprio profe-rendo nobis intim.wir, proprer 11Onoremer vener.lrionem memor.1Corum S.lflccorUlllm.lrrITum,quibus ,'esrra S.lncta de\'(,ri" deservire dinoscitur, et libenrer ;lUdi",'mus ... Vg!. zum hi'lllri-sehen Hintergrund jetzt umfassend Harald KRAIIWINKLER, Friaul im Frühmittehltcr. Ge-schichte einer Region vom Ende des fünften bis zum Ende des zehnten Jahrhunderts (Ver-öffentlichungen dcs Instituts für österreichische Gcschichtsforschung 30, 1992) S. 172-179.

242 Frothar, Brief 20 (MGH Epp, 5 S. 289 f., Zitat S. 290 Z. 12-14).

160 Mark Mcrsiowsky

Zeit ist die Nutzung des .Kettcnbricfprinzips' zur Verbreitung von Briefenadministrativen Inhalts. In der Regel bediente sich der Herrscher, um alleEmpfänger zu erreichen, kirchlicher Strukturen; sie dienten, wie FriedrichPrinz es ausdrückte, als ,Transmissionsriemen' zwischen Hof und regionalenVcrwaltungsorgancn+U. In der Metzer Fassung der Epistola de litteris colendisheißt es: Huius usque epistolac excmplaria ad 0111nes suffragantes tuosquecocpiscopos et per universe monestetui dirigi non negliges, si gtetiem nostramhabere vis2H. Wir können eine ganze Reihe derartiger Zeugnisse aufführen.Der Praxis entsprang der Mobilmachungsbefehl von 817 an Hetti von Trier ausder Briefsammlung Frothars. Erzbischof Hetti von Trier benachrichtigte alskaiserlicher missus schriftlich seinen Suffragan Frothar von Toul. Er habeden schrecklichen Befehl des Kaisers erhalten, daß alle Betroffenen in seinemLegationssprengel für den Feldzug gegen Bernhard von Italien mobilisiertwerden, und weist den Bischof an, alle Äbte, Äbtissinnen, Grafen, Königs-vasallen und alle übrigen Heerpflichtigen zu alarmicrcn-ö>. Es ist nicht nach-zuweisen, ob sich Frothar auf der nächsttieferen Bekanntmachungsebene wie-derum der Schrift bcdicnte-:". Dem Aufstand seines Sohnes Karlmann begeg-nete Kar! der Kahle 870 mit schriftlichen Befehlen, indem er Hinkmar vonReims anwies, sich mit seinen Getreuen zu treffen und ihnen die Befehle gegen

243 PRINZ, Klerus und Krieg (wie Anm. 126) S. 90. Natürlich wurde dieses System keineswegs nurvon den Herrschern benutzt. So trägt eines der wenigen erhaltenen Originale, die Propa-gandaschrift des Erzbischofs Gunthar von Koln, folgenden Rückvcrmcrk: lstutn quatcmio-ncm cxcmplari [acitc in a/iis qu.uctniontbus quam plurihus et unum date l.iutbctto atclucpis-eopo et ad alios cpiscopos, quantum plus potcsus, pcrvenirc [acitc. Ad Coloniun unum exem-plar dirigirc, its ut in nuunbus [r.urutu perl'eniat, et illi ctiam cxcmplsri isciuu et ad cpiscoposnuttant. Uuillibcrtus spccialitcr indc provident et Amulfus pracpositus et Medaliridus et lngil-fridus et Bildricus et Ercmboldus similiter inde providcxnt et cctcri, qui spcculcs esse voluntIrstrcs. Ed. FUHRMANN, Propagandaschrift (wie Anm. 52) S. 51. Der Begriff "Kettenbrief" indiesem Zusammenhang cbda, Vg!. auch PERILS, Propagandatcchnik (wie Anm. 52) S. 424 f.mit weiteren Beispielen; BÜIlI.ER, Wort und Schrift 5.281-284.

2H MGI-l Capit, 1 Nr. 29 S. 79 Z. 43 I.; Thomas MARTIN, Bemerkungen zur .Epistola de liueriscolcndis', AfD 31 (1985) S. 227-272, cd, S. 234 Z. 31. Martin erklärte diesen Passus für einenachtragliehe Interpolation, vg!. cbda. S. 241, 251.

245 Frothar, Brief 2 (MGH Epp. 5 S. 277 f.). Zur Praxis der karolingischen Mobilmachung vgl.Francois Louis GANSIlOF, L'armce sous les Carolingiens, in: ürdinamenti militari inOccidente ncll'alto medioevo 1 (Settimane di studio dd Centro italiano di studi sull'altomedioevo 15, 1968) S. 109-130, hier S. 117-119; PRINZ, Klerus und Krieg (wie Anl11. 126)S. 90 f.; WERNI.R, rvlissus - Marchio - Comes S. 198.

241, PRINZ, Klerus und Krieg (wie Anm. 126) S. 90, sprach hierbei von einer Bcfehlskompetenz desBischofs gegenüber den Grafen, obwohl er (ebda. Anm. 58 S. 90 f.) selbst vor verfassungs-geschichtlich-rechtsdogmatischen Verallgemeinerungen warnt. Frothar hat keine eigentlicheBcfehlskompctcnz, sondern er übermittelt nur den schriftlich über seinen Metropoliten an ihnweitergeleiteten Befehl des Kaisers an dessen Amtsträger; der kirchliche Instal17.cnzug wirdinstrumentalisiert.

Regierungspraxis und Sehriftliehkcit 161

Karlmann zu übermitteln. Hinkmar sandte drei betroffenen Grafen Briefe undlegte jeweils eine Abschrift der königlichen Order bei247. 805 versandte Kar!der Große ein Rundschreiben an alle Bischöfe des Reichs und ordnete ein all-gemeines dreitägiges Fasten an. Wir besitzen eine Abschrift des für BischofGhaerbald von Lüttich bestimmten Exemplars. Zur allgemeinen Bekannt-machung bestimmte er: Et utiusquisque vestrum per singulas ccclesias bap-tismeles dirigite et bonos [ntcrprctes mittitc, qui omnia tradant, sicut supcriusdiximus. N.1m et per singula monestctis infra psrochiam tuam ita f.1cias24s. Esist keineswegs unwahrscheinlich, daß auch für die weitere Verbreitung desBefehls auf Bistumsebene schriftliche Anweisungen ausgefertigt wurden. Zwarsind im Falle des Fastenbefehls von 805 keine eindeutigen Hinweise daraufvorhanden, doch können wir auf Parallclon verweisen. Bischof Ghaerbaldwurde um dieselbe Zeit von Kaiser Kar! gerügt, da dieser bei einer Taufe imBistum Lüttich hatte feststellen müssen, dag viele der Paten Vaterunser undGlaubensbekenntnis nicht aufsagen konnten. Aufgrund dieser Ermahnungverfaßte der Bischof einen Brief an seine Diözesanen und versandte ihn miteinem Begleitschreiben an seine Pricstcr-t". In anderen Fällen konncn wir dieschriftliche Weitergabe des Fastenbefehls nachweisen. Bischof Adventins vonMetz bediente sich 867 der Briefform, um die [ussio regia zu drcitiigigcmFasten an seine Diözesanpriester zu übermitteln und befahl ihnen gleichzeitig,dies ihren Pfarrkindern zu vcrkiindcn-w. Möglicherweise besitzen wir sogarein originales Zeugnis dieser Praxis. Die Fastenanordnung Karls des Großen810 wurde vom Mainzcr Erzbischof brieflich an Bischof Egino von Konstanzübermittelt. Der Text zeigt, daß er zur allgemeinen Verbreitung bestimmtwar251. Das als Fragment in St. Gallen erhaltene Schriftstück zeigt deutlichalemannische Züge. Daher sprach Albert Bruckncr es als Konstanzcr Kopie

247 Flodoardi Historia I11 c. 26 (MGH SS 13 S. 543 Z. 25-27): Engclr.unno. Goslino et Ad.l/elmocomitiliu» scribit, mittens cis cum littcris suis littctnrutn regis exemplar, in qutlius contincb>cur, ut com'OClrct cptscopos et l.ucos fideles rc~is .Id prohihendum \'(,1 rcsistciulum K,lf/,,-mJIlnO di.ICOIlO, re~is [ilio, ... ; vgI. cbda, Z. 27-41, 45-50. VgI. zu Karlm.mn 5<:IIIIIIIR,Karolinger S. 159,

24S Ed. ECKIIAR[)T, Kapirularicnsamrnlung Ghacrbalds S. 116-119, hier S. 119; vgI. d.izu denKommentar cbda. S. 47-49. VgI. auch MISONNE, Mandemcut (wie Anm. 31) S. 77.

24') Ed. ECKIIAR!lT, Kapitulariensammlung Ghacrbalds S. 112-114 (Ermahnung Karls desGrollen), S. 106-112 (an die Diözesanen), S. 114-116 (an die Priester), vgI. d.izu denKommentar cbda, S. 37-47.

258 Ed, MIS(l!\;\IE, Mandemerit (wie Anm. 31) S. 72: Ex [ussionc r('gi,l nobis indirect», cog fl"',",'ut ... [ubcmus ctiatn ;ltquc iirmucr rnonrrnus ut hoc .. , unusquisquc saccrdos sui, p.lrOdli,lIli,annutniarc SrudC.1f. - Zeugnisse von Rundschreiben innerhalb der Diiizcse bcsitzcn wir auchvon Hinkmar, vgI. Hinkmar, Brief 125-126 (MGI-I Epp. S, 1 S.60-(5).

251 VgI.." ut uIlusquisque per SlU/ll parmchi.l/ll tridu.lIlU/ll [iciulliulll fccissentJ ... (cd. Chl.A 2Nr. 176 S. 133).

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des Mainzer Mandats an252. Auch Kapitularien wurden übrigens auf ähnlicheWeise bekannt gemacht253. Diese Prozeduren bildeten eine vertikal verlau-fende Befehlskette. Der Herrscher konnte sich mit der Kirche auf ein dasReich überspannendes, hierarchisch geordnetes System schriftkundiger Stellenstiitzen->'.

Die Verwendung des ,Kettenbriefprinzips' erinnert an moderne administra-tive Verhältnisse mit klarer Hierarchie, Postverteiler und Lautplan. Der Nor-malfall in der karolingischen Verwaltungspraxis dürfte anders ausgesehenhaben. Eigentlich ist ein ausgebildetes Botenwesen die Bedingung dafür, daßdie schriftlich fixierten Anweisungen die entsprechenden Stellen erreichten.Zur schnellen Fortbewegung war man auf ein ausgebautes und instandgehal-tenes Straßensystem mit Versorgungsstationen angewiesen. Diese Bedingun-gen waren in der Karolingerzeit keineswegs reichsüberspannend gegeben. Esgab Regionen, in denen die Herrscher auf eine entsprechende Infrastruk-tur zurückgreifen konnten, in anderen fehlte sie hingegen. Zum Ende des9. Jahrhunderts scheinen sich zudem die Verhältnisse verschlechtert zuhaben255. Die adrninistrativen Briefe und Mandate geben uns einen Eindruckdavon, wie man ohne umfassende Systeme dennoch mit einem gehörigen Maßvon Improvisation zurecht kam. Die Kommunikationswege waren viclgestal-

252 ChLA 2 N r. 176, S. 132 f. - Dieser Praxis mag ein nur als Regest bei Flodoard überlieferterBrief Hinkmars an Bischof Pardulus von Laon aus der Zeit um 850-853 entsprungen sein:Item de iciunio ,1 rcgin3 mandata, Hinkmar, Brief 57 (MGH Epp. 8, I S. 33).

25} V!-;!. die Zusammenstellung entsprechender Belege bei WFRNER, Missus - Marchio - ComesS. 199 f.; BÜIIl.FR, Wort und Schrift S. 281-283.

254 Vgl. PRINZ, Klerus und Krieg (wie Anm. 126) S. 90-107; WERNER, Missus - Marchio - ComesS. 197 f.

255 Vg!. BRÜHl., Fodrurn (wie Anm. 113) S. 62-66. Durch die Überlieferung des sog.Churrätischen Reichsurbars sind die Verhältnisse in Rarion besonders gut dokumentiert, vg!.Otto P. Cl.AVAllETSCHER, Verkehrsorganisation in Ration zur Karolingerzeit. SchweizerischeZs. für Geschichte 5 (1'155) S. 1-30. Thomas SZAB", Antikes Erbe und karolingisch-ottonischeVerkehrspolitik, in: Institutioncn, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für joscfFleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Lutz FENSKE, Werncr RÜSENER und ThomasZOTZ (1'184) S. 125-145 beobachtete, dag die Karolinger zunächst in antiker Tradition Straßenund Brücken instandhicltcn, sich dann aber mehr und mehr allein auf die Brücken konzen-trieren. Ein größeres Maß an Kontinuität sieht STAAll, Untersuchungen (wie Anm. 1'12)S. 32-88, 106-112 für gegeben an. Eine instruktive Darstellung der hochmittelalterlichenVerhältnisse bei Reinhard ELZE, Über die Leistungsfähigkeit von Gesandtschaften und Botenim 11. Jahrhundert. Aus der Vorgeschichte von Canossa 1075-1077, in Histoire cornparce del'administration (wie Anrn. 14) S. 3-10. Mit dem karolingischen Botenwesen und derReisegeschwindigkeit beschäftigten sich vor kurzem Herbert ZIELlNSKI, Reisegeschwindigkeitund Nachrichtenübermittlung als Problem der Regestenarbeit am Beispiel eines undatiertenKapitulars Lothars I. von 847 Frühjahr (846 Herbst?), in: Diplomarische und chronologischeStudien aus der Arbeit an den Regesta Imperii, hg. von Paul-Joachim HEINIG (1991) S. 37-49,und Klaus HERBERs, Der Konflikt Papst Nikolaus' l. mit Erzbischof Johannes VII. vonRavenna (861), ebda., S. 51-61>, hier S. 54-5'1.

Regierungspraxis und Schriftlichkcit 163

tig. Wenn kein Botennetz zur Verfügung stand, schickte man irgendeinenVertrauten. Nach Einhard lief etwa der Befehl zu einem Placitum über denvenator Dagolf: Domnus imperstor mandavit per Dagolfum venatorem: ... 256.Mandate lassen oft erkennen, dag sie nicht nur auf Bitten derjenigen erlassenwurden, die sich in ihren Rechten verletzt oder beeinträchtigt sahen. In denmeisten Fällen findet sich die Überlieferung nicht im Archiv der Empfänger,an die der Befehl gerichtet war, sondern in dem des Begünstigten. Wenn dieBittsteller oder Begünstigten am Hofe vorsprachen, dürften sie die Mandateund Briefe an regionale Sachwalter direkt ausgehändigt bekommen haben undselbst für den Transport gesorgt haben257.

Von besonderem Interesse für karolingische Botentechnik ist eine Passageaus einem Brief Einhards um 834: Misi per hunc pucrum litteras ad N. abba-tern. Quem, TOgO,si ire potucrit, ut per aliqucm Wurum usquc ad illum deducifacias; aut si forte propter lassitudinem iumentorum, ut cvenirc solct, lougius irenon potent, precor, ut litteras, quas Folconi mltto, accipies er ci per aliqucmdirigss eumque prccctis, ut mihi respondeat atque rcsponsum, quod ci darep1acuerit, tibi remutet; er tu ad mc, cum primum idoncum perletorein invcnc-ris, ipsum responsum facias petvcnircö", Einhard bat den nur mit F. bezeich-neten Empfänger sozusagen im Anhang zum eigentlichen Brief, den Boten zueinem weiteren Empfänger, wohl Abt Fuleo von Saint-Wandrillc->", geleitenzu lassen. Der Bote war beritten, und falls die Tiere zu erschöpft seien, mögeF. stattdessen das zweite Schreiben annehmen und für die weitere Bcföroerungsorgen. F. sollte Fulco bitten, Einhard zu antworten und diese Antwort anF. zu senden. Sobald F. einen geeigneten Überbringer finde, solle er diese anEinhard weiterleiten. Es waren die pucri, die als Boten herangezogen wur-den26o. War die direkte Zustellung eines Briefes nicht möglich, konnte mansich einer Art Staffelsystem bedienen und ihn über Dritte aushändigen las-sen261. Dabei richtete man sich offensichtlich nach den augenblicklichen Mög-lichkeiten. Ein entsprechendes Beispiel wurde schon oben besprochen: fürGraf Ruodbert und Bischof Hcistull wurden temporäre Kommunikations-

251> Einhard, Brief 41 (MGH Epp. 5 S. 130 Z. 27). Der König konnte auch Boten anfordern, vgl.Lupus, Brief (vgl. Anm. 79) 83 (L. 82), cd. MARSHAl.l. 83, 2 S. 82 Z. 2: l ussu regis ad l',d.aiul1ldirigcns nuntiutn ...

257 Vg!. oben S. 140-142.2SS Einhard, Brief 35 (MGH Epp. 5 S. 127 Z. 21-26). Vgl. auch Alkuin, Brief 57 (MGII Epp. 4

S. 100 Z. 29-31).259 Vgl. zu Fulco FLECKENSTEIN, Hofkapdie (wie Anm. 6), S. 54 f.260 Vgl. Einhard, Brief 4 (MGH Epp. 5 S. 111 Z. 11).261 Vgl. Einhard, Brief 52 (MGH Epp. 5 S. 135 Z. 32 f.): Non darum pcrlatorcs, si hoc, quod

scripscris, Bonotto viccdoniino nostro mitten' volucris.

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liniert für den Kontakt mit dem Kaiser eingcrichtct-v-. Bezeichnend für dieKarolingerzeit war, dag man sich in Ermangelung eines allgemeinen, öffent-lichen Postnetzes mit situativer Improvisation oder Rückgriff auf Subsystemewie die Strukturen zum Nachrichtenaustausch, die etwa innerhalb derGrundherrschaften bestanden263, begnügte.

V. Schlug

Versuchen wir abschließend, die Umrisse eines Bildes zu zeichnen. In derRegierungs- und Verwaltungspraxis griffen Mündlichkcit und Schriftlichkeitineinander, ergänzten, begleiteten, durchdrangen und überkreuzten sich=+.Thcodor Sickcl ging noch ganz selbstverständlich von einer geordneten ,Ge-schäftskorrespondenz' aus. Francois Louis Ganshof kam aus anderer Perspek-tive zu völlig anderen Ergebnissen. Wiederum vor einer zeitgebundenen Ge-genwartsfolie, diesmal der vollverschrifteten Verwaltung des 20. Jahrhunderts,erschien ihm die nicht durchgängig verschriftlichte karolingische Regierungs-und Verwaltungspraxis als defizitär. Mit Janet L. Nelson können wir dies abernicht als Unvollkommenheit, sondern als Wesenszug betrachten. Verwaltungs-aufbau wie Rechtswesen waren in der Karolingerzeit offen und bildeten keingeschlossenes System265. Situative Improvisation ersetzte strukturhafte Sy-steme. Die bisher der Diskussion zugrundegelegten, aus den Kapitularien ent-nommenen Soll-Bestimmungen mußten jeweils kritisch befragt werden, ob siedenn in die Verfassungswirklichkeit umgesetzt wurden. Diese Frage stellt sichbei Briefen und Mandaten nicht. Aufgrund ihrer geringen Überlicferungs-chance ist die aus den Trümmern ablesbare Vielgestaltigkeit der karolingischenadministrativen Schriftlichkcit um so höher zu bewerten. Vergleicht man dasumrissene Panorama der Überlieferung, so läßt es sich weithin mit den von

2(,2 Vgl. oben S. 145 Anm. 164 H. Bezeichnend für die Nutzung sich bietender Gelegenheiten auchLupus, Brief (vgl. Anm. 79) 83 (L. 82), wo Lupus von Fcrricrcs einem Boten, der auf Befehldes Kiinigs zum Hof gcht, befiehlt, Abt Ludwig von Saint-Dents einen Brief zu überreichen.

263 Vg]. die Ausführungen zum Prürncr Beispiel bei KUCIILNBUCII, Bauerliehe Gesellschaft (wieAnm. 138) S. 142-145,323-330. Die Belege für das Kloster Fulda analysiert bei McchthildSi\Nl)~lAN"', Wirkungsbereiche fuldischer Mönche, in: Die Klostergemeinschaft von Fulda imfrüheren Miuel.iltcr, hg. von Karl SCII~lIj), Bd. 2.2, Untersuchungen (Miinstcrschc Mittelalter-Schriften S/2. 2, IC)7S)S. (,92-791, hier S. 728-734.

2(,. Vgl. McKITrUUCIi., Carolingians and written word S. 27 f.2(,\ FRIED, Herrschaftsverband (wie Anm. 77) S. 10 f., 15-18. Dieses macht auch die Schwierigkeit

der Beseh:iftigung etwa mit der sogenannten .Grafschaftsvcrfassung' aus (vg], Anm. 78). Vgl.die Darstellung der Rechtstexte. Rosamond McKrrnRlcli., Some Carolingian lawbooks andtheir function, in: Authority and Power. Studies on Medieval Law and Government Presentedto Waiter Ullmann on his Seventieth ßirthdav (19S0) S. 13-27, hier S. 26 f.

Regierungspraxis und Schriftlichkeit 165

Ganshof und Nelson aus den normativen Quellen gewonnenen Erkenntnissenkorrelieren. Sicher war die karolingische Verwaltungspraxis nicht verschriftet,gab es keine auf Schrift basierende Verwaltung in modernem Sinne. DieTechniken, mit Verwaltungsschriftgut umzugehen, es sinnvoll zu archivierenund nutzbar zu machen, waren nicht ausgebildct=s. Das heißt aber nicht, daßdie Schriftlichkeit im adrninistrativen Bereich keine Rolle spielte. Im Gegen-teil, bei archäologischer Betrachtung der erhaltenen Briefe und Mandate zeigtesich trotz schlechter Überlieferungschancen ein eindrucksvolles Spektrum ent-sprechender Stücke auf und zwischen allen Ebenen karolingischer Verwaltung.Wenn die Schrift auch nicht zumindest idealiter zur Grundlage jeden Verwal-tens und Regierens wurde, so stand sie doch als praktikables Mitte! ohne Fragezur Verfügung. Persönliche Kontakte, Gesandtschaften, Boten und Briefewaren die Mittel, mit denen regiert und verwaltet wurde. Möglicherweisewar es gerade dieser funktionale Charakter, als Mittel, nicht als Wesenselementder Administration, der bei nachlassender Herrschaftsintensität im frühen10. Jahrhundert zum Rückgang der Schriftlichkeit führte.

Leider läßt die bruchstückhafte Überlieferungssituation regionale und zeit-liche Unterschiede kaum fassen. Sicher nicht zufällig fielen die meisten ange-führten Belege in die Zeit Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und sei-ner direkten Nachfolger. Sowohl der westfränkische wie der ostfränkische Be-reich konnten mittels Schrift verwaltet werden; selbst die angeblich so schrift-armen Gebiete jenseits des Rheins weisen zumindest eindrucksvolle Zeugnisseadministrativer Schreiben auf. Erst nach Karl dem Kahlen und nach Ludwigdem Deutschen besitzen wir kaum noch Mandate. Länger als die einfachenMandate begegnet uns Mischformen. Noch 899 stellte Kar! der Einfältige einsolches Stück bezüglich der "coutume detestable" zugunsten des Erzbischofsvon Narbonne aus. Auffälligerweise trug das nur abschriftlich überlieferteStück aber volle Diplomausstattung mit Monogramm, Rekognition und Sie-ge!267. In der Hochzeit der karolingischen Herrscherurkunde. und hier ist vorallem von der Zeit Ludwigs des Frommen zu sprechen, besaß der Kaiser einweitgefächertes, fein differenziertes Spektrum schriftlicher Äußerungsfor-men26S• Betrachten wir nur die äußerliche Gestaltung: vom feierlichsten Privi-

266 Von daher wird die schüttere Informationslage zum karolingischen Archivwesen verständlich,vgl, FICIlTENAU, Archive der Karolingerzeit passim.

267 LAUER, D Ch. le S. 24. Hans Eberhard Mayer machte für das sog. Rundschreiben Rudolfs 11.von Burgund paläographische Beobachtungen, die darauf schließen lassen, dag dieser Brief(D Burg. 23) in Diplomschrift rnundicrt war, vgl, Hans Eberhanf MAYER,Ein RundschreibenRudolfs 11. von Burgund aus dem Jahre 932, DA 17 (1961) S. 509. Eine eingehendeBearbeitung dieser Fragen bereite ich vor.

268 Das Spektrum steht ganz in der Tradition des von Peter Classcn skizzierten, umfassendenmerowingischen Schriftwesens, vg!. Peter CLASSEN,Kaiserreskript und Königsurkunde. Diplo-

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leg mit Goldbulle, Legimus und Monogramm, dem einfachen feierlichen Privi-leg mit Monogramm und Goldbulle, dem Privileg mit Monogramm undWachssiegel, dem einfachen Privileg ohne Monogramm, allein mit Kanzlei-rekognition und Wachssiegel, dem rekognoszierten und besiegelten Mandat,dem einfachen Mandat bis hin zum geschlossenen Brief reichte das Spektrum.In der späteren Karolingerzeit vereinfacht sich das System, fallen offenbarzunächst die Randbereiche der feierlichsten und schlichtesten Form aus. Dieformalen Unterschiede verwischen sich. Einem weniger ausgedehnten undfunktional nicht so breit gestreuten Schriftgebrauch reichten offensichtlichgröbere, weniger differenzierte Formen. Die Schriftlichkeit zog sich in derRegierungspraxis auf kleinere Reservate zurück, auf die Sphäre der Privilegien.

matische Studien zum Problem der Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter, Thessa-loniki 1977 (Byzantina Keimena Kai Meletai 15) S. 138-187.