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Hauke Friedrich Schulerinnen- und Schulervorstellungen vom Grenzwertbegriff beim Ableiten 305 Mit dieser Arbeit werden im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: Zunlichst sollen Vorstel- lungen, die Schiilerinnen und SchUler beim Umgang mit dem Grenzwertbegriffbeim Ab- leiten entwickeln, rekonstruiert werden. Weiterhin wird versucht, Ursachen fUr die men- talen Reprlisentationen yom Grenzwertbegriff zu analysieren, wobei zwischen realen An- wendungskontexten und ihrem mathematischen Modell unterschieden wird. Zuletzt sol- len Perspektiven fUr den schulischen Unterricht abgeleitet werden. 1m ersten Kapitel findet sich eine Auseinandersetzung mit Newtons Vorstellungen und seinem KalkUI zur Differenzialrechung. Diese wird mit der z.Z. propagierten Idee des anwendungsorientierten Mathematikunterrichts in Verb in dung gebracht. Die Anlage der empirischen Untersuchung wird im zweiten Kapitel aufgezeigt. Der Au- tor nutzt sowohl Methoden der empirischen Unterrichtsforschung als auch der klassi- schen didaktischen Sachanalyse. Zunachst wird die Aufgabe vorgestellt, die die Schiile- rinnen und SchUler bearbeiten sollten: Gegeben war eine (quadratische) Weg-Zeit-Funk- tion, die wiedergibt, wie we it der Radfahrer Jan Ullrich vorangekommen ist. Zunachst sollten ein Funktionswert, anschlieBend einige Durchschnittsgeschwindigkeiten berech- net werden. Dann wurde geftagt, ob es auch so etwas wie eine Momentangeschwindig- keit zu einem Zeitpunkt gibt. Weiterhin war zu klaren, wie genau die Momentange- schwindigkeit berechnet werden kann. - Zur Rekonstruktion der SchUlerinnen- und Schii- lervorstellungen fUhrt der Autor Einzelfallstudien durch: 32 Schiilerinnen und Schiilem bearbeiten paarweise eine Aufgabe. Dabei werden sie gefilmt und die Videos an- schlieBend transkribiert. Zur Unterscheidung von Argumenten, die den Anwendungskon- text betreffen, von den en, die einem mathematischen Kontext zuzuschreiben sind, wird der Begriff der Denkwelt gepragt: Der Autor unterscheidet zwischen der realen Alltags- welt (r-Welt) und der Welt der Mathematik (m-Welt). Innerhalb beider Denkwelten ist zudem zwischen individualpsychologischen Aspekten der SchUlerinnen- und Schiiler- auBerungen (subjektive Erfahrungsbereiche) und sachlogischen (normativen) Aspekten zu unterscheiden. - 1m dritten Abschnitt versucht der Autor mit Hilfe der gegenstands- bezogenen Theorie (grounded theory) eine Briicke zwischen der empirischen Unterrichts- methode und der Sachanalyse zu schlagen. Die ZusammenfUhrung der beiden Ansatze zu einer neuen Forschungsmethode und die Umsetzung dieser Methode in der vorliegenden Arbeit stellt den zentralen methodischen Punkt der Arbeit dar. 1m dritten Kapitel wird eine Sachanalyse des Begriffs der Momentangeschwindigkeit durchgefuhrt. Hier zeigt sich deutlich die ZusammenfUhrung der beiden Forschungsan- satze: Immer wieder werden Schiilerinnen- und SchUlerzitate aus der Diskussion, ob es Momentangeschwindigkeit zu einem Zeitpunkt gibt, bei der Reflektion mathematischer und physikalischer Begriffe beriicksichtigt. Die SchUlerinnen und SchUler unterscheiden in der Diskussion dieser Frage genau zwischen Durchschnitts- und Momentangeschwin- digkeit. Es zeigt sich, dass eine Bewegungssituation eine tragfahige Plattform zur Analy- se der didaktischen Problematik des infinitesimalen Denkens darstellt. (JMD 22 (2001) H. 3/4 S. 305-306)

Schülerinnen- und Schülervorstellungen vom Grenzwertbegriff beim Ableiten

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Hauke Friedrich

Schulerinnen- und Schulervorstellungen vom Grenzwertbegriff beim Ableiten

305

Mit dieser Arbeit werden im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: Zunlichst sollen Vorstel­lungen, die Schiilerinnen und SchUler beim Umgang mit dem Grenzwertbegriffbeim Ab­leiten entwickeln, rekonstruiert werden. Weiterhin wird versucht, Ursachen fUr die men­talen Reprlisentationen yom Grenzwertbegriff zu analysieren, wobei zwischen realen An­wendungskontexten und ihrem mathematischen Modell unterschieden wird. Zuletzt sol­len Perspektiven fUr den schulischen Unterricht abgeleitet werden.

1m ersten Kapitel findet sich eine Auseinandersetzung mit Newtons Vorstellungen und seinem KalkUI zur Differenzialrechung. Diese wird mit der z.Z. propagierten Idee des anwendungsorientierten Mathematikunterrichts in Verb in dung gebracht.

Die Anlage der empirischen Untersuchung wird im zweiten Kapitel aufgezeigt. Der Au­tor nutzt sowohl Methoden der empirischen Unterrichtsforschung als auch der klassi­schen didaktischen Sachanalyse. Zunachst wird die Aufgabe vorgestellt, die die Schiile­rinnen und SchUler bearbeiten sollten: Gegeben war eine (quadratische) Weg-Zeit-Funk­tion, die wiedergibt, wie we it der Radfahrer Jan Ullrich vorangekommen ist. Zunachst sollten ein Funktionswert, anschlieBend einige Durchschnittsgeschwindigkeiten berech­net werden. Dann wurde geftagt, ob es auch so etwas wie eine Momentangeschwindig­keit zu einem Zeitpunkt gibt. Weiterhin war zu klaren, wie genau die Momentange­schwindigkeit berechnet werden kann. - Zur Rekonstruktion der SchUlerinnen- und Schii­lervorstellungen fUhrt der Autor Einzelfallstudien durch: 32 Schiilerinnen und Schiilem bearbeiten paarweise eine Aufgabe. Dabei werden sie gefilmt und die Videos an­schlieBend transkribiert. Zur Unterscheidung von Argumenten, die den Anwendungskon­text betreffen, von den en, die einem mathematischen Kontext zuzuschreiben sind, wird der Begriff der Denkwelt gepragt: Der Autor unterscheidet zwischen der realen Alltags­welt (r-Welt) und der Welt der Mathematik (m-Welt). Innerhalb beider Denkwelten ist zudem zwischen individualpsychologischen Aspekten der SchUlerinnen- und Schiiler­auBerungen (subjektive Erfahrungsbereiche) und sachlogischen (normativen) Aspekten zu unterscheiden. - 1m dritten Abschnitt versucht der Autor mit Hilfe der gegenstands­bezogenen Theorie (grounded theory) eine Briicke zwischen der empirischen Unterrichts­methode und der Sachanalyse zu schlagen. Die ZusammenfUhrung der beiden Ansatze zu einer neuen Forschungsmethode und die Umsetzung dieser Methode in der vorliegenden Arbeit stellt den zentralen methodischen Punkt der Arbeit dar.

1m dritten Kapitel wird eine Sachanalyse des Begriffs der Momentangeschwindigkeit durchgefuhrt. Hier zeigt sich deutlich die ZusammenfUhrung der beiden Forschungsan­satze: Immer wieder werden Schiilerinnen- und SchUlerzitate aus der Diskussion, ob es Momentangeschwindigkeit zu einem Zeitpunkt gibt, bei der Reflektion mathematischer und physikalischer Begriffe beriicksichtigt. Die SchUlerinnen und SchUler unterscheiden in der Diskussion dieser Frage genau zwischen Durchschnitts- und Momentangeschwin­digkeit. Es zeigt sich, dass eine Bewegungssituation eine tragfahige Plattform zur Analy­se der didaktischen Problematik des infinitesimalen Denkens darstellt.

(JMD 22 (2001) H. 3/4 S. 305-306)

306 Dissertationen/Habilitationen

1m vierten Kapitel mUndet die Verbindung empirischer und sachanalytischer Ansatze in die Entwicklung von Kategorien: die einbettende und die isolierende Sichtweise. Hier werden die in den drei vorangegangenen Kapiteln immer wieder angefUhrten Argumente zur Frage, ob es Momentangeschwindigkeit zu einem Zeitpunkt gibt, systematisch un­tersucht. In beiden Denkwelten werden durchweg beide Sichtweisen mit den folgenden BegrUndungen vertreten. In der r-Welt: Narurlich gibt es eine Momentangeschwindigkeit, denn wenn man sich die ganze Zeit bewegt, bewegt man sich auch zu jedem Zeitpunkt des Bewegungsvorgangs (der besagte Zeitpunkt wird in einem Zeitintervall eingebettet gesehen), bzw.: Natlirlich gibt es keine Momentangeschwindigkeit, da man zu einem Zeitpunkt keinen Weg zurUcklegt (der Zeitpunkt wird von dem Zeitintervall isoliert gese­hen). In der m-Welt: Der Grenzwert kann ganz genau berechnet werden, er ist eine Zahl (der Grenzwert wird als LUckenwert in der Wertemenge der Differenzenquotientenfunk­tion eingebettet gesehen), bzw.: Der Grenzwert kann (nur) beJiebig oder unendlich genau berechnet werden. (die Differenzenquotientenfunktion wird nur an ihrer DefinitionslUcke betrachtet) - Es wird verdeutlicht, dass die einbettende Sichtweise den SchUlerinnen und SchUlem eine plausible Vorstellung von der Differentialrechung naher legt also die iso­lierende. - Der Autor zeigt anschlieBend anhand bekannter Paradoxien, dass die jeweils paradoxen Positionen durch die Sichtweisen beschrieben werden konnen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Auftreten der Sichtweise ein Indikator fUr das Auftreten des Grundparadoxons des infinitesimalen Denkens ist und dass dieses Grundparadoxon in den bekannten Grundvorstellungen "lokale Anderungsrate" und "Tangentensteigung" noch voll enthalten ist.

1m flinften Kapitel zeigt der Autor anhand austUhrlicher Transkriptanalysen, wie sich die einbettende und die isolierende Sichtweise zur Beschreibung und Begrilndung von Schii­lerinnen- und SchUlervorstellungen nutzen lassen.

Den Schluss der Arbeit bildet die Analyse einer Auswahl von Schulbiichem unter be son­derer BerUcksichtigung der entwickelten Kategorien. Der Autor vertritt die Meinung, dass eine Auseinandersetzung mit dem Grundparadoxon ein notwendiges geistiges Hin­demis fUr Lemende darstellt. Daher iiberlegt er, ob neben den iiblichen Grundvorstellun­gen auch die Sichtweisen im schulischen Unterricht in verschiedenen Einkleidungen diskutiert werden sollten. Dies konnte zur Bewusstmachung des Grundparadoxons bei­tragen und Schiilerinnen und Schiilem helfen, das Ziel eines "verstandigen Umgangs mit Mathematik" zu erreichen, anstatt unverstandene KalkUle computergleich auszufUhren.

Die Dissertation wurde unter gleichem Namen von der Universitatsbibliothek der Univer­sitat Paderbom unter ,,http://ubdata.uni-paderbom.de/ediss/ueber-17.htm'' verOffentlicht.

Gutachter: Prof. Dr. H.-D. Rinkens (Universitat Paderbom), Prof. Dr. P. Bender (Univer­sitat Paderbom), Prof. Dr. R. yom Hofe (Universitat Regensburg) Tag der miindlichen PrUfung: 21.5.2001

Dr. Hauke Friedrich FB 17 - Universitat Paderbom Warburger StraBe 100 33098 Paderbom