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V on Seattle kommt Tim Koffler ein- fach nicht weg. Versucht hat er es, ein paarmal schon. Als junger Mann zog der 40-jährige Fitness- trainer nach Brisbane in Austra- lien, dann nach Los Angeles. Die grandiosen Strände konnten ihn nicht hal- ten. Selbst die Sonne nicht, Mangelware in der Heimatstadt, wo es an 140 Tagen im Jahr regnet und der Himmel an 220 Tagen zumindest wolkenverhangen ist. „Ich habe Seattle jeden Tag vermisst“, sagt Koffler. „Die Menschen, die Architektur, die Berge, die Bäume.“ Und dann kam er eben wieder nach Hause. An diesem Tag scheint die Sonne in Seattle. Koffler sitzt auf der Dachterrasse seines Apartmenthauses in Southlake Union, im Süden der Stadt, die ihm hier richtiggehend zu Füßen liegt. Am Horizont hinter ihm thront wie ein Gemälde der schneebedeckte Gipfel des 4392 Meter hohen Vulkans Mount Rainiers. Koffler nickt. „Ich kann nicht ohne Seattle“, sagt er noch einmal, drückt den Satz ins Gespräch wie einen offiziellen Stempel. Eine Stadt, die süchtig macht, also. Einst war sie nicht viel mehr als die Kulisse zu einem abgetakelten Industriehafen, heu- te gehört Seattle zu den trendigsten Me- tropolen der USA. Sie ist liberal, fortschritt- lich, öko, sexy. Und wie zu allen guten und schlechten Zeiten wunderschön gelegen im Nordwesten des Landes am Puget Sound, dem riesigen Sund hin zum Pazifik, am Mount Rainier mit seinen Gletschern und dem nur ein paar Meilen entfernten Nationalpark Olympic Mountain. Eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Nicht so dreckig, hektisch und kaputt wie New York, nicht so schwitzig und anstrengend wie Los Angeles oder San Francisco. Boom und Wandel Erfolgreich ist Seattle obendrein. Hier baut Boeing den Karbonflieger Dreamliner, be- gann Starbucks seinen Siegeszug um die Welt, schraubte Bill Gates in einer Garage seinen ersten Computer zusammen. Hier prägte Kurt Cobain mit Nirvana den Grunge, startete Amazon, das gerade ein neues Hauptquartier baut und 17 000 Leu- te einstellen will, seinen Aufstieg als Inter- nethändler. Facebook, Google und der Webhoster GoDaddy sind mit Niederlas- sungen in die Stadt gezogen. Das lockt Mehr Sein als Schein Seattle sehen und bleiben: Die Heimatstadt von Microsoft, Amazon, Grunge und amerikanischer Café-Kultur hat sich ihren hemdsärmeligen Charme bewahrt, es riecht nach Kaffee, Meer und oft auch nach Regen. Eine verlockende Mischung Kleine Fluchten: Erholung liegt in Seattle ganz nah, zum Bei- spiel am Ufer des Lake Union im Gas Works Park Von Alexandra Kraft; Fotos: Tegra Stone Nuess 12.11.2015 149 KULTUR-MAGAZIN REISE 4

Seattle

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Von Seattle kommt Tim Koffler ein-fach nicht weg. Versucht hat er es, ein paarmal schon. Als junger Mann zog der 40-jährige Fitness-trainer nach Brisbane in Austra-lien, dann nach Los Angeles. Die

grandiosen Strände konnten ihn nicht hal-ten. Selbst die Sonne nicht, Mangelware in der Heimatstadt, wo es an 140 Tagen im Jahr regnet und der Himmel an 220 Tagen zumindest wolkenverhangen ist. „Ich habe Seattle jeden Tag vermisst“, sagt Koffler. „Die Menschen, die Architektur, die Berge, die Bäume.“ Und dann kam er eben wieder nach Hause.

An diesem Tag scheint die Sonne in Seattle. Koffler sitzt auf der Dachterrasse seines Apartmenthauses in Southlake Union, im Süden der Stadt, die ihm hier richtiggehend zu Füßen liegt. Am Horizont hinter ihm thront wie ein Gemälde der schneebedeckte Gipfel des 4392 Meter hohen Vulkans Mount Rainiers. Koffler nickt. „Ich kann nicht ohne Seattle“, sagt er noch einmal, drückt den Satz ins Gespräch wie einen offiziellen Stempel.

Eine Stadt, die süchtig macht, also. Einst war sie nicht viel mehr als die Kulisse zu einem abgetakelten Industriehafen, heu-te gehört Seattle zu den trendigsten Me-tropolen der USA. Sie ist liberal, fortschritt-lich, öko, sexy. Und wie zu allen guten und schlechten Zeiten wunderschön gelegen im Nordwesten des Landes am Puget Sound, dem riesigen Sund hin zum Pazifik, am Mount Rainier mit seinen Gletschern und dem nur ein paar Meilen entfernten Nationalpark Olympic Mountain. Eine Stadt mit hoher Lebensqualität. Nicht so dreckig, hektisch und kaputt wie New York, nicht so schwitzig und anstrengend wie Los Angeles oder San Francisco.

Boom und WandelErfolgreich ist Seattle obendrein. Hier baut Boeing den Karbonflieger Dreamliner, be-gann Starbucks seinen Siegeszug um die Welt, schraubte Bill Gates in einer Garage seinen ersten Computer zusammen. Hier prägte Kurt Cobain mit Nirvana den Grunge, startete Amazon, das gerade ein neues Hauptquartier baut und 17 000 Leu-te einstellen will, seinen Aufstieg als Inter-nethändler. Facebook, Google und der Webhoster GoDaddy sind mit Niederlas-sungen in die Stadt gezogen. Das lockt

Mehr Sein als ScheinSeattle sehen und bleiben: Die Heimatstadt von Microsoft, Amazon, Grunge und

amerikanischer Café-Kultur hat sich ihren hemdsärmeligen Charme bewahrt, es riecht nach Kaffee, Meer und oft auch nach Regen. Eine verlockende Mischung

Kleine Fluchten: Erholung liegt in Seattle ganz nah, zum Bei- spiel am Ufer des Lake Union im Gas Works Park

Von Alexandra Kraft; Fotos: Tegra Stone Nuess

12.11.2015 149

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Anzeige 1/2 Seite quer213 x 140 mm

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tionmobile.comEasy Street Cafe: eines von vielen ex­zellenten Kaffeehäu­sern in Seattle, gehört zu einem Platten­laden. 4559 California Ave. SW, Tel. +1/ 206/ 938 32 79, www.easys­treetonline.com/cafe

ErlebenCenter for Wooden Boats: Der Blick vom Lake Union aus auf die Stadt zählt zu den schönsten überhaupt. Hier kann man sich schöne Segel­ oder Ruderboote, Kayaks oder Kanus aus Holz ausleihen. 1010 Valley Street, www.cwb.org

The Great Wheel: Wer sich nicht aufs Wasser wagt, kann auch mit dem Riesenrad an der Elliot Bay fahren und so auf Seattle und den Puget Sound schauen. 1301 Alaskan Way, www.seattlegreat­

wheel.com

Undergroundtour: ein Ausflug in die Zeiten des Goldrausches. Die Tour führt unter die Straßen Seattles und gewährt überraschen­de Einblicke in die Geschichte der Stadt. 608 First Ave./ Pioneer Square, www. undergroundtour.com

REI: Seattle und Um­land sind ein Outdoor­paradies. Alles, was man für einen Aufent­halt im Freien braucht, kann man bei diesem Ausrüster ausleihen oder kaufen. 222 Yale Ave. N, www.rei.com

Experience Music Project: Das von Frank Gehry entworfene Ge­bäude beheimatet die weltweit zweitgrößte Ausstellung zur Ge­schichte der Pop­ und Rockmusik. Seattle Center, 325 5th Ave N,

ÜbernachtenInn at the Market: Das Hotel am Pike Place Market punktet mit schönen Möbeln und einer Dachterrasse. DZ ab ca. 200 Dollar, 86 Pine St., Tel. +1/ 206/443 36 00, www.innatthemarket.com

Sleeping Bulldog: uri­ges B & B. Bei gutem Wetter können Gäste die Olympic Moun­tains sehen. DZ/F ab ca. 140 Dollar, 816 19th Ave. S, Tel. +1/206/325 02 02, www.sleeping­bulldog.com

Greenlake Guesthou­se: Die Zimmer des Holzhauses aus dem Jahr 1920 sind mit viel Liebe zum Detail ein­gerichtet. DZ/F ab ca. 140 Dollar, 7630 Green Lake Dr. N, Tel. +1/206/ 729 87 00, www.greenlakeguest­

house.comEssen und trinkenStateside: Franzö­sisch­vietnamesisches Essen in kühler Atmo­sphäre. Im Kneipen­ und Clubviertel Capi­tol Hill. 300 East Pike St., Tel. +1/206/ 557 72 73, www.statesidese­attle.com

Seattle Biscuit Com­pany: Auch in Seattle sind Foodtrucks sehr populär. Dieses Unter­nehmen ist für sein Frühstück bekannt. Wo der Truck hält, er­fahren Sie unter seatt­lebiscuitcompany.com

Marination Ma Kai: Steigen Sie in Down­town ins Wassertaxi an Pier 50 und landen Sie 15 Minuten später in Hawaii. Das Water­front­Restaurant Ma Kai macht es möglich. 1660 Harbor Ave. SW, Tel. +1/206/328 82 26, www.marina

TIPPS

Treiben lassenHotels, Restaurants, Sehens­wertes und mehr in Seattle

vor allem junge Menschen an, inzwischen bilden die 25- bis 34-Jährigen die größte Bevölkerungsgruppe der knapp 650 000 Einwohner. Amerikanische Wirtschafts-zeitungen spekulieren, die Stadt könnte dem Silicon Valley den Rang ablaufen. Schon jetzt zählt Seattle zu den zehn inno-vativsten Städten weltweit. Die für die USA geringe Arbeitslosenquote von knapp drei Prozent soll weiter sinken. Seit Anfang des Jahres gilt in Seattle ein gesetzlicher Mindestlohn von 15 Dollar, doppelt so viel wie im Rest des Landes. Die Stadt kann es sich leisten: Seattle ist reich. Boom und Wandel sind überall sichtbar. Apartment-häuser und Büros entstehen in großer Geschwindigkeit, kaum ein Monat vergeht, in dem nicht neue Klubs, Cafés und Res-taurants eröffnet werden. Dazwischen spektakuläre Gebäude wie der Glasbau der städtischen Bibliothek, entworfen vom Stararchitekten Rem Koolhaas.

Der Metropole am Pazifik – nebenbei auch Kaffeehauptstadt der USA mit etwa 100 Röstereien – ist es bei allem Wandel gelungen, ihre Seele zu bewahren; die Gen-trifizierung hat ihren Charakter nicht grundlegend verändert. Die Stadt hat einen hemdsärmeligen Charme, der in der Zeit des Klondike-Goldrausches geprägt wurde. Der spülte um die Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert massenweise Haudegen in die Stadt. Manche Seattliers verdanken ihre sympathischen Ecken und Kanten wohl diesen abenteuerlustigen Vorfahren.

Man protzt hier nicht mit seinem Wohl-stand. Sogar Manager fahren mit Nahver-kehrsbussen oder mit dem Fahrrad zur Arbeit. Seattle ist eine der wenigen Städte im PS-verrückten Amerika, die über ein hervorragend ausgebautes Netz an Rad-wegen verfügt. Beim Job trägt man eher T-Shirts, Jeans und Turnschuhe als Drei-reiher oder teure Kostüme, sicher auch eine Folge des Umstands, dass die hier so präsenten IT-und Internetunternehmen in T-Shirt und Hoodie gesteuert werden.

Im Szeneviertel Capitol Hill sind die Zebrastreifen in den Regenbogenfarben der Schwulenbewegung gestrichen. Mari-huana ist längst legal, kein Thema. Sogar die Meerjungfrau auf dem Starbucks- Logo darf hier noch ihre nackten Brüste zeigen, die anderswo auf Werbeschildern durch langes Haar verdeckt werden müs-sen.

„Die Menschen hier sehen das Leben lo-ckerer. Wir sind einfach anders“, sagt Blair Robbins, 62. Die Filmemacherin steht auf dem Ponton ihres Hausboots, neben ihr Ehemann Bob Burk, 67, und Sandori, der Fa-

milienhund. Blair und Bob erlebten Seatt-les Aufstieg mit. Heute haben sie den bes-ten Blick auf die Skyline. Ihr Hausboot liegt in der ersten Reihe auf dem Lake Union, dem großen Binnensee mitten in der Stadt. Am Hauseingang zieht gerade ein Taucher Fässer unter Wasser. „Wir haben eine neue Tür bekommen, die ist so schwer, dass wir jetzt die Schieflage ausgleichen müssen“, erklärt Blair. Bob, ein Unternehmer, der in den 80er Jahren aus San Diego kam, sagt: „Wir sind in Seattle geblieben, weil wir hier die perfekte Mischung aus Stadt und Natur haben.“

Dann erzählt er davon, wie er gelegent-lich nachts aufsteht, sich auf die Terrasse stellt und hinüberschaut auf Downtown. Rechts die Space Needle, ein 190 Meter ho-her Turm, das Wahrzeichen Seattles, ge-baut zur Weltausstellung 1962. Links die Hochhäuser. „Wenn wir uns umdrehen, sehen wir Berge und Wälder.“ Wann immer die beiden Zeit haben, paddeln sie mit dem Kanu oder dem Surfboard los, wie so viele, die hier leben. Gerade haben sie sich Fahr-räder mit großen Schwimmreifen gekauft, um damit über den See zu radeln. „Wir wohnen auf einem riesigen Outdoorspiel-platz“, sagt Bob.

Gekommen, um zu bleibenKatelyn Goodheart zog vor einem Jahr aus Buffalo im Bundesstaat New York an die amerikanische Nordwestküste. Die 26-Jäh-rige arbeitet als Schiffslotsin bei der Coast Guard, ihr Büro ist am Pier 36 am Hafen. Direkt daneben legen die grün-weißen Autofähren von den umliegenden Inseln im 20-Minuten Takt an. „Ich kom-me immer hierher, bevor ich zur Arbeit gehe“, sagt Goodheart. Dann schaut sie den Menschen zu, wie sie ein- und aussteigen, und atmet die salzige Luft ein. „Die Leute sind hier offener“, sagt sie, das gefalle ihr. Als der Oberste Gerichtshof vor einigen Wochen die Homoehe erlaubt hat, habe die ganze Stadt gefeiert. „Alle lagen sich freudig in den Armen – Schwule, Lesben, Heteros.“

Das Neue erschreckt hier niemanden. Man ist eben optimistisch – vielleicht auch das ein Erbe der Goldschürfer, die ja voller Hoffnung hierher kamen. Der Optimis-mus zieht sich bis in die Freizeitgestaltung. Ach ja, der Regen. „Ich trainiere trotzdem viel mit meinen Kunden draußen“, sagt Fitnesscoach Tim Koffler. Außerdem sei das ja nicht wirklich Regen, sondern nur Nieseln. So denkt der Seattlier. Denn: „Wer in den vielen dunklen Tagen ohne Sonne seine gute Laune nicht verliert, der muss doch besonders sein.“ 2

Der Stadt am Pazifik

ist es ge­lungen, ihre

Seele zu bewahren

Erste Adresse für selbst gemachtes Eis: Molly Moon (o.). Der Pike Place Market wurde 1907 eröffnet (m.). Blair Robbins und Bob Burk leben auf einem Hausboot (u.l.). Fitnesstrainer Tim Koffler zeigt Arme, Beine und Hund auf der Dachterrasse seines Apartmenthauses (u. r.)

150 12.11.2015

KULTUR-MAGAZIN