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SED CONTRA:
Dialoge zu Grundfragen der Literaturwissenschaft
1. Folge
Interpretation oder Präsenz?
An welchem Aufgabenverständnis sollte sich die Literaturwissenschaft
orientieren?
CARSTEN DUTT
Werkzentrierte Interpretation:
Zur Kritik kontextualistischer Orientierungen
in der Literaturwissenschaft
“daß gepfleget werde
Der veste Buchstab und Bestehendes gut
Gedeutet”
Die Literaturwissenschaft der Gegenwart ist eine gebeutelte, von mittlerweile
etlichen turns und (wissenschaftstheoretisch zu Unrecht so genannten) Paradig-
menwechseln heimgesuchte Disziplin. Ihre immer wieder einmal thematisch wer-
dende “Krise” besteht freilich nicht schon in der Abundanz der in den letzten Jahr-
zehnten akkumulierten Fragestellungen und Untersuchungshinsichten, sondern in
einem unkritischen Pluralismus, der diese Abundanz vielerorts verwaltet, und einer
Neuerungssucht, die sie gedankenlos und vokabelverliebt vermehrt. “Mich inte-
ressiert, was sich aus Benn für den iconic turn herausholen lässt,” so ließ mich vor
knapp zwei Jahren eine Kollegin wörtlich auf die Frage hin wissen, welche wissen-
schaftlichen Pläne sie derzeit verfolge. “Mich interessiert, was sich aus Benn für den
iconic turn herausholen lässt”—es geht mir nicht um die Ironisierung der hier
anonym bleibenden Kollegin, sondern um ein prägnantes (und hoffentlich
aufrüttelndes) Beispiel für die innerhalb der Literaturwissenschaft (und wohl nicht
nur innerhalb ihres germanistischen Zweiges) anzutreffende Unart, Methoden und
The German Quarterly 86.3 (Summer 2013) 235
©2013, American Association of Teachers of German
quasi-methodische Begrifflichkeiten um ihrer selbst willen zu pflegen und mit
Gespür fürs Modische und Aktuelle gegenüber nüchternen Fragen nach ihrer
Sachangemessenheit und Ergiebigkeit abzuschirmen. Prüfen zu wollen, inwiefern
der heuristische Einsatz der bildtheoretischen und—wenn es sie denn geben
sollte—texttheoretischen Vorschläge der Propagatoren des iconic turn an Benns
Gedichten, Prosatexten oder Szenen etwas wahrzunehmen erlaube, das bislang
noch nicht wahrgenommen wurde und in der Benn-Forschung zu Unrecht un-
notiert blieb—: dies wäre eine seriöse, Einsicht in den Vorrang der Erkenntnis-
gegenstände vor den Erkenntnismitteln bekundende Auskunft auf meine arglose
Frage gewesen.
Ich habe übrigens den Eindruck, dass ein gewisses Unbehagen an den sich
mehrenden Anzeichen von Beliebigkeitsstimmung innerhalb der Literaturwissen-
schaft eines der Motive dafür bildet, sich verstärkt in ihre Historie zu vertiefen, statt
des Fachs also Fachgeschichte zu treiben. In der Tat erleben wir seit längerem einen
wahren Boom disziplinhistorischer Publikationen in den neueren Philologien und
zumal in der Neugermanistik. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist inzwischen
in weiten Teilen aufgearbeitet, und so wendet man sich denn verstärkt den
Nachkriegsjahrzehnten zu, um u.a. die Aktivitäten und Ergebnisse der Arbeits-
gruppe Poetik und Hermeneutik zu historisieren: personengeschichtlich, institu-
tionsgeschichtlich, theorie- und methodengeschichtlich.1
Soweit ich die neuerdings entstandene Literatur zur Geschichte der deutsch-
sprachigen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts kenne, dominieren in ihr
erstaunlicherweise rein historische Interessen. Man versucht zu beschreiben, wie es
fachgeschichtlich gewesen ist, und selbstverständlich auch zu erklären, warum es
fachgeschichtlich so kam, wie es kam. Hier und da spielen überdies—Stichwort
“Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus”—kritische, nämlich ideologie-
und opportunismuskritische Aspekte eine Rolle. Die für die theoretisch-metho-
dologische Orientierung gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Arbeit vor-
rangig relevante Frage hingegen, ob es denn richtig und daher epistemisch ergiebig
oder falsch und daher unergiebig war, dass literaturwissenschaftliche Unter-
suchungen von X oder Y ehedem so betrieben wurden, wie sie betrieben wurden, die
Frage also, in welchem Maße ältere Begriffsbildungen und Forschungsprogramme
der Literaturwissenschaft noch immer als brauchbar oder gar wegweisend gelten
können, bleibt im Gros der Rekonstruktionsliteratur außer Betracht. Methoden-
geschichte und normativ gehaltvolle Methodenkritik treten auseinander, und es
wäre im Hinblick auf das eingangs zur Lage des Fachs Gesagte wohl einmal zu
überlegen, warum das so ist.
Hin und wieder allerdings verbindet sich die gelehrte Beschäftigung mit einem
bestimmten Strang der jüngeren Fachgeschichte anstatt mit antiquarischer
Abstinenz gegenüber der Prüfung von Geltungsansprüchen mit der Emphase
236 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
methodologischer Wiederentdeckung und Wiedererweckung, um der Gegenwart
eine Paradigma-Restauration zu bescheren. In letzter Zeit galten entsprechende
Vorstöße—nein, nicht schon der Konstanzer Schule, nicht Hans Robert Jauß’
Rezeptionsästhetik, die darauf vorerst noch warten muss, sondern einem deutlich
älteren Bestand des literaturwissenschaftlichen Theorie- und Methodenarsenals:
der in die deutschen 1920er Jahre zurückreichenden und vor allem mit dem Wirken
des Göttinger Germanisten Rudolf Unger verbundenen literaturwissenschaft-
lichen Problemgeschichte.2
Karl Eibl zunächst und in ausdrücklicher Anknüpfung an ihn Dirk Werle haben
nachdrücklich für eine Erneuerung der literaturwissenschaftlichen Problem-
geschichte plädiert, und zwar mit dem Anspruch, in ihrem Zeichen Literatur-
wissenschaft und Ideenhistorie zu verbinden: “Die […] Konzeption einer
literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte ermöglicht die literaturhistorische
Rekonstruktion ideenhistorischer Zusammenhänge in ihrer Reichhaltigkeit und
Komplexität” (497). DasZitathatden Vorzug, die epistemischen Ziele der visierten
Restauration klar zu benennen: Es geht um ideenhistorische Zusammenhänge—
selbstverständlich “in ihrer Reichhaltigkeit und Komplexität”—und damit um eine
der vielen Strukturdynamiken, die sich als geschichtlich bewegte und, sofern ihnen
in mindestens einer Hinsicht Faktorenstatus zukommt, ihrerseits bewegende
Kontexte der Literatur identifizieren, voneinander abheben und aufeinander
beziehen lassen. Geistesgeschichtliche, sozialgeschichtliche, mentalitätsgeschicht-
liche, diskursgeschichtliche, mediengeschichtliche Zusammenhänge—: all dies
sind Erkenntnisobjekte bzw. Komplexe von Erkenntnisobjekten, auf die sich die
Literaturwissenschaft in kontextualistischer Orientierung bezieht, um sie anhand
ihrer immediaten Gegenstände, anhand literarischer Werke nämlich, dingfest,
diachron übersichtlich und in dieseroder jenerHinsicht aussagekräftigzumachen.
Ich bin damit bei meiner Absicht, durch einige Bemerkungen zur Kritik
kontextualistischer, z.B. ideengeschichtlicher Orientierungen in der Literatur-
wissenschaft zur (hoffentlich praxistauglichen) Definition ihres gegenwärtigen
Aufgabenverständnisses beizutragen. Einen weiteren turn habe ich insoweit nicht
vorzuschlagen.Nicht um die Anpreisung von Neuem geht es, sondern im Gegenteil
um die Erinnerung an Altes, dabei Unaufgebliches. Wenn man so will, handelt es
sich bei meinem Votum um eine methodologisch normative Gegenerinnerung zur
Erinnerung an die Erkenntnisziele der werk- und epochenübergreifend verfahren-
den Problemgeschichte innerhalb der von Dilthey her geisteshistorischen Aus-
richtung unseres Fachs. Die Rede ist von der im Bereich germanistischer
Literaturwissenschaft vor allem mit den Namen Wolfgang Kayser, Emil Staiger,
Peter Szondi und Gerhard Kaiser verbundenen Paradigma werkzentrierter Interpre-
tation, das—von der politisch korrekten Germanistik der späten sechziger und
siebziger Jahre sachlich zu Unrecht, aber diskreditierungseffektiv zur sogenannten
SED CONTRA 237
Werkimmanenz stilisiert3—als ästhetisches und mikrohistorisches Korrektiv
geistesgeschichtlicher Zuordnungshermeneutik auf den Plan trat. Wie immer die
Praxis werkzentrierter Interpretation in den zurückliegenden Jahrzehnten durch
andere Priorisierungen literaturwissenschaftlicher Arbeit ergänzt oder auch
polemisch verabschiedet worden sein mag: ihre Errungenschaften bilden einen in
wohlbestimmter Hinsicht paradigmenübergreifenden Genauigkeitsstandard lite-
raturwissenschaftlicher Arbeit, an den heute zu erinnern nicht nur aus Gleich-
gewichtsgründen am Platze ist. Die in literaturwissenschaftlichen Texten um sich
greifende Beschreibungsarmut etwa—lyrische Gedichte werden in einschlägigen
Qualifikationsschriften zwar selbstverständlich noch immer zitiert, allzu oft aber
statt mit eindringlichen Analysen mit Paraphrasen saisonal “angesagter” Theo-
retiker oder Pseudotheoretiker bedacht—fände ein heilsames Korrektiv in den
analytischen und deskriptiven Subtilitäten der Kunst werkzentrierter Interpreta-
tion.
In Sachen Kontextorientierung nun aber das Positive und Selbstverständliche
vorab: Solide literaturwissenschaftliche Arbeit setzt solide Kontextstudien voraus;
sie sind in Gestalt des Gewinns sprachgeschichtlicher, sozialgeschichtlicher, poli-
tikgeschichtlicher, ideengeschichtlicher, kunstgeschichtlicher, mediengeschicht-
licher und vieler weiterer Kenntnisse ein unabdingbares Hilfsmittel literatur-
wissenschaftlicher Arbeit; der Einzelwerkerschließung ebenso dienstbar wie der
Erschließung einzelwerkübergreifender Einheiten der Literaturgeschichte. Wer
etwa—um ein Beispiel aus dem Bezugsfeld von Literaturwissenschaft und Ideen-
geschichte zu bemühen—Justus Lipsius nicht gelesen und daher keine hinrei-
chenden Kenntnisse der Anthropologie und Moralphilosophie des frühneuzeit-
lichen Stoizismus hat, wer daher nicht um die Zentralstellung der Idee der
constantia in der neostoischen Lebenslehre weiß, der läuft in der Beschäftigung mit
AndreasGryphius und anderenAutoren des schlesischenLiteraturbarock auf Sand.
Schon den Doppeltitel von Gryphius’ zweitem, um 1648/49 entstandenem
Trauerspiel Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit wird der
ideengeschichtliche Unterinformierte nicht richtig lesen. Er wird den Bezug und a
fortiori den Signalwert des Bezugs auf die Idee einer—so die Definition in der 1599
erschienenen deutschen Übersetzung von Lipsius’ Traktat De Constantia (1584)
—“rechtmeßige[n] und unbewegliche[n] stercke des gemüts / die von keinem
eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder untergedrückt wird” (10), übersehen.
Andererseits gilt, dass das einschlägige ideengeschichtliche Wissen zwar eine
unabdingbare Voraussetzung, nicht aber auch schon die Garantie einer
angemessenen Interpretation des Gryph’schen Trauerspiels bildet, das sich nicht in
der szenischen Illustration neostoischer Ideenvorgaben erschöpft, diese Vorgaben
vielmehr auf seine Weise transformiert, indem es die constantia-Lehre in die Form
eines christlichen Märtyrerdramas übersetzt und zu den Bedingungen dieser Form
238 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
providenz- und gnadentheologisch wendet (vgl. dazu Schings). Das Beispiel, das
sich mutatis mutandis auch auf diskursgeschichtliche oder gattungsgeschichtliche
Kontextualisierungen übertragen ließe, soll sagen: Die literaturwissenschaftliche
Arbeit an Texten hat diese nicht einfach auf ihre konstitutiven oder regulativen
Kontexte zurückzuführen; vielmehr hat sie die Aufgabe, die produktive
Verarbeitung der Kontexte durch die Texte, die insoweit intentional verantwortete
Werke sind, zu erhellen.4 Nur insoweit ist kontextualistisch orientierte Arbeit an
Literatur literaturwissenschaftlich hinreichend ergiebig.
Es versteht sich, dass ich in diesem Punkt normativ argumentiere. Und das
Losungswort dieser theoretisch-methodologischen Normativität ist das Wort von
der Werkzentrierung literaturwissenschaftlicher Arbeit, die als Arbeit an intentional
verantworteten (und typischerweise hochkomplexen) Textgebilden eine Form
individualisierender, nicht lediglich typisierender Erkenntnis ist. Gewiss:
Literarische Werke sind in mannigfacher Hinsicht Vorkommnisse von Typen; sie
sind Exemplare von Gattungen, ideenhistorischen Formationen, mentalitäts-
geschichtlichen Lagen, diskursiven Strategien etc., dies jedoch—so die Geschäfts-
grundlage werkzentrierter Interpretation—auf je und je einzigartige, unver-
wechselbare und eben deshalb den Bemühungen individualisierender Erkenntnis
aufgegebene Weise. Werkzentrierte Interpretation erschließt die Individualität der
Werke, indem sie die individuelle Verarbeitung nichtindividueller (z.B.generischer
oder ideengeschichtlicher) Kontextvorgaben erschließt.
Wohlgemerkt: Ich möchte mich insoweit keineswegs gegen kontextualistische
Orientierungen aussprechen, und schon gar nicht gegen die Einspeisung spezifisch
kontextbezogenen Wissens in die werkzentrierte Erkenntnistätigkeit der Litera-
turwissenschaft—dort, wo dies geraten ist. Wohl aber möchte ich vor einem
unterkomplexen Gebrauch dieses Wissens warnen und in dieser Absicht die
begriffliche Weichenstellung zugunsten kontextualistischer Reduktionismen im litera-
turwissenschaftlichen Umgang mit Literatur bezeichnen. Sie erfolgt, so meine ich,
überall dort, wo der Begriff des literarischen Werks und seine Spezifikationen keine
oder eine nurmehr marginale Rolle im Begriffsnetz der Untersuchungen spielen,
die sich in kontextualistischer Orientierung auf Literatur beziehen. Wo exklusiv
von Ideen und Ideenentwicklungen, wo exklusiv von Diskursen und Dispositiven,
wo exklusiv von kulturellen Energien und kulturellen Ökonomien, nicht aber auch
von literarischen Werken die Rede ist, dort geht mit der Kategorie für den primären
Erkenntnisgegenstand der Literaturwissenschaft der kategoriale Anhalt für die
Untersuchung der semantischen, pragmatischen und nicht zuletzt ästhetischen
Produktivität verloren, die die hochkomplexen Textindividuen der Literatur in und
zu ihren (so oder so definierten) Kontexten entfalten. Wie Wittgenstein—
PhilosophischeUntersuchungen § 570—sagt: “Begriffe leiten uns zu Untersuchungen.
Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse” (239). Mit der
SED CONTRA 239
untersuchungsprogrammatischen Preisgabe oder Marginalisierung der Kategorie
des literarischen Werks verkümmert untersuchungspraktisch die Aufmerksamkeit
auf die der Literatur relativ zu ihren Kontexten individuell eigentümlichen
Aussage- und Ausdruckspotentiale.
Selbst dort, wo ein Werk eher ein Werkchen und zum Beispiel nicht viel mehr
als die Versifikation eines theologisch oder philosophisch vorgedachten Gedankens
ist, selbst dort also, wo Literatur Wissens- und Ideenordnungen lediglich in die
komplexe Prägnanz verssprachlicher Verdichtung hebt, ist es der werkhaft
generierte Mehrwert dieser Verdichtung, der Literaturwissenschaftler spezifisch
beschäftigen sollte. In keinem Fall geht die Produktivität literarischer Werke
nämlich im bloßen Transport, in der restlos transparenten, sich selbst zum
Verschwinden bringenden Repräsentation oder Exemplifikation jener Kontexte
auf, die ihnen, den Werken, geschichtlich vorausliegen und in dieser oder jener
Weise auch einbeschrieben sind.
Ich sagte schon, dasswerkzentriertes Interpretieren ehedem als ästhetischesund
mikrohistorisches Korrektiv geistesgeschichtlicher Zuordnungshermeneutik zu
Bestand gekommen sei. Das dabei leitende Interesse war (und ist) das Interesse an
individualisierender, nicht lediglich typisierender Erkenntnis im Umgang mit
Werken der Literatur. Das theoretische Fundament dieses Individualisierungs-
interesses besteht in der Einsicht in die Bedeutung der Form, d.h. in der
Anerkennung der semantischen, pragmatischen und ästhetischen Produktivität der
in keinem ihrer Details substituierbaren (weil in keinem ihrer Details insigni-
fikanten) Gestalt eines Werkes. Unübertrefflich genau hat Gerhard Kaiser diesen
Grundsatz formuliert: “Interpretation sagt nicht, was die Werke sagen, noch
einmal. Sie sagt vielmehr, daß es nichts am Werk gibt, das nicht spricht” (33f.).
Werkzentriertes Interpretieren stößt insoweit von allen Interpretationsmodellen
ab, die literarische Texte programmatisch oder per accidens auf den Status von
Containern, sekundären und inerten Behältnissen, kontextuell vordefinierter
Größen und damit auf den Status bloßer Belegfälle für die Macht und Streuweite
des Primären herabstufen; wobei es wenig verschlägt, ob die als primär und wirksam
angesetzten Größen nun Ideen oder Diskurse oder kulturell flottierende Energien
sein sollen. Zu Erkenntnisgegenständen mit dem Anspruch auf Individualisie-
rungsgenauigkeit rücken literarische Werke in keiner Version des Container-
Modells auf.
Im Aufgabenverständnis und Arbeitsmodus werkzentrierter Interpretation
hingegen gibt die Literaturwissenschaft diesem Anspruch statt. Unter den
Aussagepotentialen der Literatur, die sie dabei entdeckt, ist auch jenes, das ich als
Interrogativität der Werke bezeichnen möchte und das wohl am eindringlichsten auf
die Leistungsgrenzen kontextualistischer Orientierungen im Umgang mit
Literatur verweist: Vollends seit ihrer Autonomisierung und Ästhetisierung im 18.
240 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
Jahrhunderts beziehen sich literarische Werke nicht mehr vorwiegend im Modus
der Affirmation, sondern im Modus der Interrogation auf Ideen, Diskurse und
andere Kontextvorgaben. Werkzentrierte Interpretation lässt es sich dement-
sprechend angelegen sein, die individuelle Form der Interrogation, die ein
literarisches Werk als dieses eine Werk leistet, herauszuarbeiten. Dass sich
Literaturwissenschaftler dabei nicht auf das explizit Gesagte beschränken können,
dass sie gerade auch das zu berücksichtigen und verstehend auszulegen haben, was
man Formsprache nennt, also etwa die spezifisch literarischen Aussage- und
Ausdrucksmöglichkeiten der Bildlichkeit, der Lautlichkeit, des Metrums, des
Rhythmus, der narrativen oder szenischen Situationsbildung eines Werkes, dürfte
ohne weitere Exemplifikation und Begründung einleuchten; ebenso, dass man in
interdisziplinären Foren, die ausdrücklich an übergreifenden Kontextfragen, an
Diskurs- oder Ideengeschichten zum Beispiel, interessiert sind, die Expertise der
Literaturwissenschaftlerin gerade dann besonders schätzen wird, wenn sie vor dem
Hintergrund bestimmter Kontexte aus einem literarischen Werk nicht wiederum
nur jene Kontexte und ihre Merkmale herausfiltert, also nicht nur das, was
innerhalb eines bestimmten Kontextes auch hier zur Sprache kommt, vielmehr das,
was so nur dieses eine Werk artikuliert und erfahrbar macht—in Differenz zu den
Daten, die ihm vorausliegen und von denen es bis zu einem bestimmten
Punkt—dem springenden Punkt seiner Interpretation—durchdrungen sein mag.
Gewiss ist, um abschließend nochmals ein Beispiel zu bemühen, die Lyrik
Gottfried Benns auf Ideen bezogen, die Friedrich Nietzsche philosophisch promi-
nent und weltanschaulich wirksam gemacht hat; so insbesondere auf Nietzsches
Diagnose der Heraufkunft des Nihilismus und die von ihm in bestimmten Phasen
seinesDenkens zur Überwindung desNihilismus stilisierte Idee desKunstschaffens
als letzter metaphysischer Tätigkeit, der “Artistenmetaphysik,” des “Olymps des
Scheins.”5 Kein Zweifel: Benn dichtet von dieser Idee her, aber er dichtet auch
gegen sie an; jedenfalls übersetzt er sie nicht einfach in Verse, aus denen sie sich als
dieselbe wiedergewinnen ließe. Nein, Benns Lyrik verlangt einen anderen,
genaueren, einen werkzentrierten Blick, der ihre differentielle Identität gewahrt:
Ein Wort—, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich—,
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich. (303)
Das hier nur mit seiner zweiten Strophe zitierte Gedicht Ein Wort (vollendet 1941)
bezieht sich fraglos auf Nietzsches “Olymp des Scheins;” aber es ist nicht diese Idee,
die das Gedicht präsentiert. In der dramatisch bewegten Inszenierung des
Transitorischen, der Flüchtigkeit ästhetischen Glanzes präsentiert es vielmehr sich
selbst: das literarische Werk vergänglichen Scheins im Abstand zu jener
SED CONTRA 241
hochgemuten und selbstgewissen Idee. Benn lässt Nietzsches Olymp als
wortinduziertes Sehnsuchtsprodukt aufscheinen und im Dunkel existentieller
Ratlosigkeit, einer von aller Metaphysik, auch der Artistenmetaphysik, verlassenen
Ratlosigkeit, untergehen. Was das Gedicht seinen Lesern im Vollzug dieser
Bewegung zumutet—die klimaktisch organisierte Evokation der Evokation eines
Sternenstrichs kippt buchstäblich zurück in die Fläche: ins Schwarz eines
Gedankenstrichs—, ist die poetische Konsumtion einer kunstphilosophischen Idee;
was es leistet, ist die Transformation einer ideengeschichtlich vorgegebenen
Antwort auf das Sinnvakuum des Nihilismus in die Offenheit und Ungewissheit
einer dichterischen Frage. Mit einer Formulierung aus Benns Problemen der Lyrik,
die nicht von ungefähr das letzte,dasGrenz-und Sprengwort des zitierten Gedichts
aufnimmt, lässt sich diese Frage näher bezeichnen. Es ist “die Frage nach dem Ich”
(511).
Um meine Argumentation zusammenzufassen: Für die im Wissen um die
eigensinnige Intentionalität und Komplexität ihrer Gegenstände um Individuali-
sierungsgenauigkeit bemühte Literaturwissenschaft können kontextualistische
Orientierungen allenfalls subsidiäre Funktion, nicht aber den Status von Inte-
grationsdisziplinen haben, in die sich die Literaturwissenschaft als einer unter
mehreren Anwendungsbereichen könnte eingliedern lassen. Werkzentrierte
Literaturwissenschaft nutzt die Resultate kontextualistischer Zugriffe: die
Resultate der Ideengeschichte, der Sozialgeschichte, der historischen Diskurs-
forschung etc.; sie nutzt sie indessen nicht als Subsumtionsschemata, sondern als
Reflexionsmedien individualisierender Erkenntnisarbeit.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Individualisierung heißt
nicht Punktualisierung oder Isolierung der Werke; Werkzentrierung heißt nicht
Entkoppelung deskriptiver—Wie-Fragen beantwortender—und explanatorischer
—Warum-Fragen beantwortender—Zugriffe; Werkzentrierung bedeutet nicht
Dekontextualisierung und schon gar nicht Enthistorisierung. Im Gegenteil: Die
Erkenntnis (oder hermeneutisch gesprochen: das Verstehen) des Einzelwerks
bedarf der Erkenntnis nicht nur seiner intrinsischen, sondern auch seiner relationalen
Eigenschaften, also der komplexen Verhältnisse, in die es eingelassen ist und die es
kraft seiner Individualität auch wieder überragt. Umgekehrt bedarf die
Untersuchung begrifflich höher aggregierter Einheiten, die Untersuchung von
Epochen, Gattungsentwicklungen, Stilen etc., der vergleichenden Untersuchung
des einzelnen, alsoder Werke innerhalb ihrer. Die Erkenntnis desAllgemeinen und
die Erkenntnis des Individuellen entwickeln sich nach dem hier in Erinnerung
gerufenen Programm werkzentrierter Interpretation in wechselseitiger Fundierung
und Ergänzung. Besser als ich es könnte, hat diese produktive Verschränkung vor
über einem halben Jahrhundert Emil Staiger beschrieben und dabei auf den
242 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
spezifisch begriffsbildungskritischen Nutzen werkzentrierter Interpretation für die
Literaturgeschichtsschreibung aufmerksam gemacht:
Wie die Kunst der Interpretation auf geschichtlicher und sprachlicher Forschung
beruht, so soll sie ihrerseits wieder bestrebt sein, diesen Zweigen der Forschung zu
dienen. Ich bin überzeugt, gerade so, mit den Mitteln der Interpretation, mit ihrer Art,
sich restlos ihren jeweiligen Gegenständen zu widmen, gelingt es am besten, jene
schematischen Aufteilungen zu überwinden, die soviel Vorurteile erzeugen und uns
verhindern, in eines Dichters Worten zu lesen, was eigentlich dasteht. Niemand, der
Werke des späteren Lessing oder des jüngeren Goethe in allen Einzelheiten
interpretiert hat, wird mehr so rasch die Begriffe ‘Sturm und Drang’ und ‘Aufklärung’
anwenden. Dennoch bleibt die Geschichtswissenschaft auf solche Begriffe
angewiesen, wenn sie sich äußern und wenn sie sich ihren gewaltigen Stoff aneignen
will. Sie dürfen indes nicht einfach übernommen, sie müssen von Zeit zu Zeit gereinigt
und erneuert werden. Soll eine solche Erneuerung literaturwissenschaftlich gültig sein,
so darf sie nicht aufgrund von geschichtsphilosophischen Spekulationen oder anderen
fragwürdigen Künsten erfolgen, sondern allein auf Grund einer neuen gründlichen
Überprüfung der Texte. Diese leistet die Interpretation. (25f.)
Es wäre gewinnbringend, wenn solche Überprüfung demnächst wieder zu den
Hauptgeschäften der Literaturwissenschaft zählen würde.
HANS ULRICH GUMBRECHT
Verkrampft, zerstreut—präsent:
Für einen anderen Ernst beim Lesen von Literatur
Wovon ich mich am weitesten entfernt fühle im Text meines Freunds Carsten
Dutt, ist ein bestimmter Ton des Ernstes. Nicht dass es ihm so ernst ist mit der
Literatur, irritiert mich (im Gegenteil!) —und kaum eines der Ziele oder Kriterien,
an denen ihm liegt. Wie er bin ich ja sehr für “Individualisierungsgenauigkeit” und
gegen “Beschreibungsarmut” (oder genauer: gegen das, was er mit dem einen, und
für das, was er mit dem anderen Begriff meint), aber seit langem schon verwende ich
solche Wörter nicht mehr. Denn sie fühlen sich an wie Produkte aus dem
Schraubstock einer ebenso ehrgeizigen wie unnachgiebigen “Wissenschaftlich-
keit,” die den Flügen des Geistes und der Heiterkeit der Sinne vor gut hundert
Jahren auferlegt wurden—kleine Bleikugeln, viel gewichtiger als man ohnehin
SED CONTRA 243
denkt. Tatsächlich, und weil wir beide hier vor allem für Leser in den Vereinigten
Staaten schreiben: ich bin heilfroh, dass ich in den vergangenen vierundzwanzig
Jahren, seit ich in Stanford ankam, nicht mehr verpflichtet gewesen bin, meinen
beruflichen Alltag und seine Ergebnisse durch das Anlegen einer Messlatte von
“Wissenschaftlichkeit” rechtfertigen und mit der Arbeit von Nuklear-Physikern,
Zell-Biologen oder Wirtschafts-Juristen (zum Beispiel) vergleichen zu müssen. I
enjoy being a humanist—obwohl mir dieses Wort nun wieder zu “humanitär” klingt.
Dabei war der Ernstder Literaturwissenschaft viel, fast alles für mich, als ich 1967 in
München das Studium anfing. Ich komme für einen Moment zu diesem Beginn
zurück, um zu beschreiben, was sich seither verändert hat.
Es war im ersten oder zweiten Semester, als vor einer Germanistik-Vorlesung
(Walter Müller-Seidel—und solche Vorlesungen hatten damals zweimal pro
Woche Hunderte von Hörern), als ein Kommilitone mit schwerem Schweizer
Akzent, den ich aus dem SDS-“Kapitel” kannte, an einen bevorstehenden
Gastvortrag von Peter Szondi erinnerte, weil dies “politisch wichtig” sei. Natürlich
folgte ich Studienanfänger und SDS-Fußsoldat der Anweisung und war
beeindruckt von der in Peter Szondis Anzug, Krawatte und Diktion sich
materialisierenden Eleganz. Er sprach über philologische und stilistische Details in
einem Text von Friedrich Schlegel, viel zu voraussetzungsreich und subtil für
meinen Erstsemester-Verstand, aber ich glaubte, dass alles, was Szondi sagte,
wichtig war.Ganzanders als in derGoethe-VorlesungvonFriedrich Sengle, die mit
dem oberlehrerhaften Satz angefangen hatte: “Bei Goethe ist kein Satz unwichtig,”
war uns der ernste Szondi politisch wichtig. Seine Politisches keinesfalls
erwähnenden Textkommentare, unterstellten wir, und unsere revolutionären Pläne
zur Befreiung des deutschen Proletariats wie der “Dritten Welt” (so sagte man
damals noch mit gutem Gewissen) sollten sich im endlichen Ziel eines zu
verwirklichenden Ideals treffen. Und deswegen, wegen des Ideals (an das zu
glauben, ich nur wenige Monate später aufhörte), erinnere ich mich bis heute an
Szondis Vortrag als einen Moment von schönem Ernst. Ähnlich geht es mir—in
der Emphase deutlich gedämpfter und einer entsprechend noch vageren Vision des
Ideals—mit dem Ernst der Diskussionen zwischen solid-sozialdemokratischen
Verteidigern der Moderne und bohemischen Illuminaten der Postmoderne seit
dem Ende der siebziger Jahre, und selbst mit der darauf folgenden deutsch-
heroischen Abwehrschlacht gegen die angeblich “irrationale” Dekonstruktion,
deren Ernst allerdings schon die feuchten Luft eines allzu akademischen
Grabenkriegs durchzog.
Heute stoße ich in Deutschland nicht nur allenthalben (ebenso wie Carsten
Dutt) auf Kolleginnen, die daran “interessiert sind, was sich aus Benn für den iconic
turn herausholen lässt”—so etwas ist ja nicht mal der Schlimmstfall, denn mit
244 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
einigem guten Willen lässt sich da Sehnsucht nach intellektueller Lebhaftigkeit
ausmachen. Unvergesslich wird mir hingegen das Arbeitsessen mit einem Dekan
bleiben, dem es um Themen für die Gründung eines Sonderforschungsbereichs
ging—zum Zweck der Allokation von aus dem Exzellenzstatus seiner Universität
fließenden Finanzmitteln. Warum sollte man “forschen,” wenn es keine Fragen
gibt? Die Antwort heißt, dass zum wichtigsten Fluchtpunkt des geisteswissen-
schaftlichen Ernstes in Deutschland mittlerweile die Allokation der reichlich
fließenden, aus Steuern geschöpften Gelder geworden ist—und (häufiger erwähnt)
die “Einwerbung von Drittmitteln.” Vielleicht erklärt diese Verlegung des
wissenschaftlichen Wettspiels in die Arena wirtschaftlicher Konkurrenz, warum es
heute üblich geworden ist, beim ersten Anzeichen von Meinungsverschiedenheit
über die Position des Kontrahenten das tödliche Anathem des “Unwissen-
schaftlichen” zu verhängen. Wie eine permanente Muskelverhärtung wirkt das auf
mich, wie eine Verkrampfung ohne Massage oder Entmüdungsbecken. Und
jedenfalls führt zu solcher Verkrampfung und Verhärtung wohl wieder mal ein
“deutscher Sonderweg” (der Motivation), denn es gibt Grund zur Vermutung,
dass—trotz des basso continuo der üblich einschlägigen Klagen—nirgends und noch
nie soviel Geld in die Geisteswissenschaften gepumpt worden ist wie heute von der
deutschen Gesellschaft. Zugleich wachsen das Gerede und die Zahl von Work-
shops über “Strategien des Karrieremanagements” ins absurd Uferlose. Natürlich
behaupte ich nicht, dass Carsten Dutts wissenschaftlicher Ernst solche—vor allem
finanzielle—Fluchtpunkte anvisiert (er arbeitet ja auch mittlerweile an der Univer-
sity of Notre Dame). Aber sein Ernst, der Ernst der “Individualisierungs-
genauigkeit” und der “semantischen Komplexität,” kommt mir eigenartig
intransitiv vor. “Werkzentrierte Interpretation,” dazu ließe ich mich spät im Leben
ganz gerne verführen—aber wem soll damit gedient sein (außer den Vertretern
einer wissenschaftlichen “Strenge,” die ich nicht mit “Ernst” verwechselt wissen
möchte)?
In den Vereinigten Staaten—und auf Deutschland und die Vereinigten Staaten
möchte ich mich konzentrieren—liegt der Fluchtpunkt der Humanities and Arts in
einer ganz anderen, nicht unbedingt besseren Zone des Horizonts akademischer
Disziplinen. Unseren institutionell-intellektuellen Vorvätern, den bis tief in die
zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf den britischen Inseln und in
Nordamerika dominierenden New Critics, ging es im Sinn ihrer von Matthew
Arnold begründeten Tradition um “höhere” ethische Wahrheiten für ihre
Studenten und Leser, die in einen engmaschigen Code für den Alltags-Benimm
umzuschreiben, ihnen nur selten in den Sinn kam. Rückblickend kann man dem
Kampf ihrer Erben gegen die als “Nihilismus” identifizierte Dekonstruktion eine
gewisse, götterdämmernde Größe zusprechen. “Götterdämmernd,” weil—für eine
kurze Spanne der frühen achtziger Jahre wenigstens—die Dekonstruktion Tsu-
SED CONTRA 245
nami-artige Kräfte zu entfalten schien. Diese Kräfte sind dann sehr schnell und
unversehens—in einer eigentümlichen Transsubstantiation der Werte, deren
Herkunft und Vektor ich nie recht verstanden habe—zur engmaschigen und
engstirnigen Polizeimentalität der political correctness geworden, zu einer neuen und
oft in ihrer Konsequenz brutalen Welle aus der nationalen Genealogie moralischer
“Vigilanz.” Dies, befürchte ich nicht allein, ist der bei uns dominante Fluchtpunkt
im akademisch lizensierten Umgang mit Literatur, zu dem natürlich eine
spezifische Symptomatologie von Verkrampfungen gehört. Längst sind unter
ihrem institutionellen Einfluss unsere Freshmen schon vor ihrem ersten Humani-
ties-Seminar im College darauf abgerichtet, jeden literarischen Text als Allegorie
politisch-korrekter Werte zu lesen—und viele von ihnen genügen der
Verschreibung durch eine sympathisch jugendfrische Mischung aus Zynismus und
Nonchalance. Mit fast allen jener Werte kann ich mich natürlich bis zum Überdruss
identifizieren, das Problem liegt in ihrer Banalisierung und in der schneidenden
Schärfe des dogmatischen Tons.
�
Ich weiß, “man sollte differenzieren,” denn natürlich gibt es auch heute nicht
wenige junge Kollegen und sogar Kollegen meines hohen Alters, deren Text-
Konzentration, philosophische Klarheit, Bildung, Heiterkeit und Ernst ich
bewundere (das vergaß ich zu erwähnen, als ich meinem Kollegen Karl Ellerbrock
am 25. Mai diesen Jahres mit einem grauen Pessimismus auf die Nerven ging). Aber
ich nehme solche Zeichen von Kompetenz und Talent mittlerweile als Ausnahmen
wahr in einem Beruf, der an seinen historischen Anfängen auf Inspiration und
Intensität ausgerichtet war—und solche Ideale vor lauter versorgungsorientierter
Finanzverwaltung und moralischer Disziplinierung aus dem Blick verloren hat.
Dass dieser Beruf überhaupt je entstanden ist und dass weltweit ein paar
Zehntausende von uns gar nicht so schlecht davon leben, über Literatur zu reden
und zu schreiben, ist ja (wie Niklas Luhmann gesagt hätte) ein durchaus
“unwahrscheinliches” Phänomen oder (wie sich mit un-Luhmannischem Pathos
formulieren ließe) eine “erstaunliche Kulturleistung.” Deshalb kommt mir
manchmal die Vorstellung in den Sinn—wenn ich wieder einmal bemerkt habe, wie
durchaus kultivierte Zeitgenossen heute keine Ahnung von der Existenz dieses
Berufs mehr haben oder wie die Zahl der an unseren Fächern interessierten
Studenten weiter gesunken ist—dass das historische Ende der “Literatur-
wissenschaft” und des akademischen Literary Criticism nahe sein könnte, und dass
die Öffentlichkeit ihr Verschwinden vielleicht gar nicht wahrnähme (so wie ja auch
der Tod des letzten Exemplars einer Gattung im Normalfall keine Schlagzeilen
246 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
macht). Wie würde der “kritische” Typ des deutschen Steuerzahlers wohl reagieren,
wenn ihm klar wäre, dass viele Millionen Euro in geisteswissenschaftliche
Sonderforschungsbereiche fließen, deren ausschließliche Funktionen und Ziele
Mittel-Allokation und Mitarbeiter-Versorgung sind? Zur Bestätigung meines
privaten “Millenarismus” gibt es allerdings keine überzeugenden Anzeichen, was
den selbstkritischen Gedanken unabweisbar macht, dass meine Sicht der Dinge
Produkt einer milden Altersdepression sein könnte. Doch solch dunkle Visionen
deprimieren mich ja nicht einmal. Im Gegenteil: wenn es meinen Beruf nicht mehr
gäbe, dann müsste er mir auch nicht mehr peinlich sein.
Glücklicherweise eher hängt die Zukunft dieses Berufs weder von meinen
Prognosen noch von meinen Gefühlen der Peinlichkeit ab. Bis zur Emeritierung
wenigstens sollte ich mich also fragen, was denn für meine Studenten, vor allem für
die Undergraduates (die meisten Graduate Students haben ja eine individuelle und oft
allzu konturierte Motivation), was für meine Undergraduates dabei herauskommt
und was ich “vermitteln” möchte, wenn ich mit ihnen Balzac oder García Lorca,
Kleist oder Chrétien de Troyes, Clarice Lispector oder Dante lese. Ernsthaft
überzeugende Antworten zu finden, fällt mir viel schwerer als den meisten
Kollegen—schwerer auch, als die tuition-zahlenden Eltern unserer Studenten wohl
annehmen. Da ich diesen Text in einem Trimester schreibe, das ich mit neunzehn
besonders intelligenten, hochmotivierten und mir ans Herz gewachsenen Stanford
Undergraduates (keine[r] von ihnen hat einen geisteswissenschaftlichen Schwer-
punkt als major gewählt) an unserem Overseas Campus in Santiago de Chile
verbringe, bin ich auf die Frage gekommen, ob es einen spezifischen Wunsch für sie
gibt, den ich—jenseits aller pädagogischen Standard-Rhetorik—mit meinen
beiden Seminaren hier verbinden kann. Die eine Antwort, an der mir liegt, lässt sich
am besten im Blick auf die Lyrik beschreiben—und Lyrik unterrichte ich gar nicht
in diesem Santiago Trimester. Aber andererseits passt sie gut ins Argument, weil
sich ja auch Carsten Dutt in seinem Text auf ein Gedicht (von Gottfried Benn)
konzentriert.
�
Was ich zu sagenhabe, soll einsetzenmit RichardRorty,dernicht nur ein großer
Philosoph und ein Meister der Worte war, sondern auch der erfolgreichste und am
meisten charismatische Lehrer junger Studenten, mit dem als Kollegen
zusammenzuarbeiten ich je die Ehre und die Freude hatte. Als Richard Rorty in
einem Gespräch wenige Wochen vor seinem Tod Texte benennen sollte, die er
gernegelesenhätte, abernun nicht mehr lesenwürde (gemeint waren wohl vor allem
philosophische, theologische und religiöse Texte), sprach er von seinem Bedauern
SED CONTRA 247
darüber, nicht viel mehr Gedichte auswendig gelernt zu haben. Und auf die etwas
irritierte Nachfrage, warum ihm denn so sehr an auswendig gelernten Gedichten
läge, reagierte er mit dem für ihn typischen Gesprächs-Minimalismus: “weil sie so
gut klingen.” Ich bin—wegen dieses Satzes—zuversichtlich, dass Richard Rorty zu
überzeugen gewesen wäre, mit mir der (von Carsten Dutt zitierten) Meinung
Gerhard Kaisers zu widersprechen, “dass es nichts am Werk gibt, das nicht spricht.”
Vieles lässt uns annehmen, dass Kaiser sagen wollte, alle Elemente eines “Werks”
(also auch eines Gedichts) trügen zur Konstitution seiner Bedeutung bei—und
seien deshalb durch Kommentar und Interpretation in nichts als Bedeutung zu
überführen. Dass man versuchen kann, den prosodischen Elementen eines
Gedichts Bedeutung zuzurechnen, steht außer Frage—aber auch, dass man dabei
nie über einen hohen Grad an Beliebigkeit hinauskommt. Dies ist ein Grund,
warum ich mich daran gewöhnt habe, Versform, Reim und die verschiedenen
Dimensionen des Rhythmus in einem Gedicht als das Andere seiner Bedeutung
hervorzuheben, statt sie der Bedeutung unterzuordnen (oder funktional mit der
Bedeutung zu verbinden). Hans-Georg Gadamer hat sich auf genau diese
Heteronomie—übrigens in einem mit Carsten Dutt geführten Gespräch—als
“Volumen” des Gedichts bezogen (62f.).
Wer ein Gedicht rezitiert (und ich denke, wir sollten zur Praxis kompetenter
Rezitation in unseren Seminaren zurückkehren), der berührt mit den durch seine
Prosodie hervorgebrachten Formen der Stimme den eigenen Körper und vor allem
die Körper der Zuhörer. Zugleich verkörpert er die vom Autor erfundene Form und
nimmt so an der ihn umgebenden Welt in einer ontologischen—und
existentiellen—Modalität teil, die über Bedeutung nicht zu haben ist (man kann sie
“Stimmung” nennen). Was immer wir als “Rhythmus” wahrnehmen, ist aber auch
eine Lösung des Problems, wie ein Husserl’sches “Zeitobjekt im speziellen Sinn”
(23), zum Beispiel Sprache, eine Form haben kann—und als zur Form gewordene
Sprache bilden Gedichte Enklaven in der endlos verlaufenden Zeit des Alltags,
Enklaven, welche die Zeit anhalten für solche Hörer oder Leser, die sich durch die
weiterlaufende Zeit nicht von der Konzentration auf die Formen der Gedichte
ablenken lassen. Es ist dieser Status von “Enklaven in der laufenden Zeit,” vermute
ich, aus dem die pragmatische Verbindung von Prosodie, gebundener Sprache und
Magie hervorging. Weil Gedichte suggerieren, sie könnten die laufende Zeit
anhalten, traut man ihnen zu, das gegenwärtig zu machen, was vergangen oder
entfernt ist.
Seit einiger Zeit habe ich mich daran gewöhnt, in Bezug auf all diese (und viele
andere) Effekte von Texten (und anderen Gegenständen) das Wort “Präsenz” zu
verwenden. Präsenzeffekte stellen sich selbstredend nur für den ein, der seine
Aufmerksamkeit einem einzelnen Gegenstand widmet (der “werkzentiert” ist,
248 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
würde Carsten Dutt sagen). Mit “Interpretation” als Zuschreibung von Bedeutung
allerdings ist der Fokus auf Prosodie nicht synonym—ohne andererseits zu so etwas
wie einem “Gegenprinzip” von Bedeutung zu werden. Vielmehr oszillieren
“Präsenzeffekte” und “Bedeutungseffekte”—grundsätzlich und besonders deutlich
beim Rezitieren und beim Lesen von Gedichten. Aber was hat dies alles mit meinen
Undergraduates in Santiago zu tun?
Ich sehe nun schon seit mehr als zwei Monaten, wie kompetent sie—als Kinder
von Silicon Valley—mit allen Kanälen und Möglichkeiten elektronischer Kommu-
nikation umgehen, wie viel Zeit sie Tag für Tag vor Computerbildschirmen
verbringen, und wie ihre Existenz immer mehr in einem endlosen, nach vielen
Richtungen strebenden Fluss von Kommunikation aufgeht. So laufen sie Gefahr,
“Opfer der Zerstreuung” zu werden—wie man wohl früher gesagt hätte. Vielleicht
sind sie ja auch, ohne es zu wissen, für ein Trimester ausgerechnet nach Chile
gekommen (statt nach Paris, Berlin oder Bejing), um vor solcher Zerstreuung als
Existenzform zu fliehen—und setzen aus demselben Grund soviel dafür ein, ihre
Wochenenden in Feuerland, Patagonien, der Osterinsel oder der Atacama-Wüste
zu verbringen. Zwar tragen unsere Studenten Sorge, dass die elektronische
Kommunikation ihnen auf all diesen Wegen folgt, aber ich stelle mir vor, dass sie
auch Sehnsucht haben nach Momenten des Einhaltens, des Überwältigtwerdens,
der Plötzlichkeit und der Präsenz (akademisch gesagt: nach Modalitäten
“ästhetischer Erfahrung”). Solche Momente, wissen wir, kann ein Gedicht seinen
Lesern geben, wenn sie ihm Ruhe und Konzentration widmen—aber ein Roman,
ein Konzert oder ein Film tut es auch. Sich diese Zeit und diese Konzentration zu
nehmen, fällt meinen Studenten über die Woche nicht leicht—und es ist wohl
tatsächlich schwieriger geworden als früher in der Welt, die wir für sie erfunden
haben. Einige von ihnen wollten unbedingt den großartigen brasilianisch-
französischen Film Orfeo Negro sehen, aber seit ich ihn besorgt habe, zirkuliert die
DVD, ohne dass sie je die neunzig Minuten finden, welche man braucht, um mit
diesem Film den Karneval der fünfziger Jahre in Rio, die Musik von Orpheus und
die Schönheit von Eurydike heraufzubeschwören.
“Kulturkritik” war nie meine Sache, aber ich vermute mittlerweile, dass es
weniger eine “innerwissenschaftliche Logik” war als eine wachsende Sehnsucht
nach starken Momenten der Bildung in einer immer elektronischeren und
zerstreuteren Welt, die mich auf den Ernst der “Präsenz” gebracht hat.
SED CONTRA 249
CARSTEN DUTT
Im Ernst
Eine Duplik
Hans Ulrich Gumbrechts freundliche Erwiderung wirft wichtige Fragen auf.
Zwei davon möchte ich in der gebotenen Kürze diskutieren.
Zunächst die Frage nach dem Nutzen werkzentrierter Interpretation. H.U.G.
stellt diese Frage ausdrücklich, ja er erklärt ihre Beantwortung geradezu zum
Prüfstein der Richtigkeit meiner Vorschläge, wobei er freilich nicht objektivierend
von Richtigkeit, sondern lustvoll subjektiv und mit einnehmender Eleganz von
seiner Bereitschaft spricht, sich “spät im Leben” zu werkzentriertem Interpretieren
“verführen” zu lassen—“aber wem soll damit gedient sein (außer den Vertretern
einer wissenschaftlichen ‘Strenge,’ die ich nicht mit ‘Ernst’ verwechselt wissen
möchte)?”
Nun habe ich mich in meinem Statement ja einigermaßen ausführlich über den
spezifischen Erkenntnisertrag werkzentrierten Interpretierens geäußert, dabei aber
offenbar nur den wissenschaftsinternen Nutzen des Verfahrens (das allerdings mehr
als ein Verfahren, nämlich eine Haltung, ein epistemisches Ethos im Umgang mit
literarischen Werken ist) deutlich machen können. H.U.G. scheint diesen Nutzen
zu konzedieren. Erfreulicherweise stimmen wir ja darin überein, dass kaum etwas
langweiliger, kaum etwas weniger erkenntnisproduktiv ist als das subsumtive
Einerlei dogmatisierter Kontextualisierungs- und Dechiffrierungsinteressen—
ganz gleich ob dieses Einerlei nun von “der Polizeimentalität der political correct-
ness,” von verholzten Marxisten, essentialistischen Dekonstruktivisten oder
Medientheoretikern, die sich in den Redundanzschleifen ihrer weiträumigen
Thesen verloren haben, generiert wird. Wer über ein literarisches Werk nur das zu
sagen weiß, was er auch über zehn oder zwanzig andere Werke zu sagen hat, sagt
zwar nicht notwendigerweise Falsches, wohl aber zu wenig Differenziertes. Die
Individualisierungsgenauigkeit werkzentrierter Interpretation, die ihrerseits
selbstverständlich nicht ohne Kontextualisierungsoperationen, Methoden der
Vergleichung und einschlägige (in unterschiedlichen Graden theoriebeladene)
Beobachtungstermini auskommt, ist das Korrektiv solchen Differenzierungs-
mangels—und überdies das Nadelöhr, durch welches die Begriffsbildungen und
Befunde der Literaturgeschichte hindurchgehen müssen, wenn sie wirklich Befunde
und Begriffsbildungen der Literaturgeschichte sein sollen.
250 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
H.U.G. stimmt zu, nennt aber den Ernst, in dem ich das vorgetragen habe,
“eigentümlich intransitiv.” Ich höre daraus den Vorwurf: “That’s literary criticism
for literary criticism’s sake!”Eigentlich ist mir dieser Vorwurf angenehm, erinnert er
doch an den intrinsischen Wert, den literaturwissenschaftliche Erkenntnis ebenso
hat wie geschichtswissenschaftliche, philosophische oder astrophysikalische. Hätte
sie diesen intrinsischen Wert nicht, welchen Grund sollten Universitäten und
andere Institutionen haben, Personalkosten für Forschung im Bereich der
Literaturwissenschaft zu finanzieren? Andererseits sollten Literaturwissen-
schaftlerinnen in der Lage sein, auch über den wissenschaftsexternen Nutzen ihrer
Arbeit Auskunft zu geben. In der Tat forschen und schreiben sie ja nicht nur
könnerschaftlich für Kollegen, sondern auch kennerschaftlich für Leser und
Liebhaber der Literatur. Deren Freude am Verstehen literarischer Werke zu
bereichern, sie durch augenöffnende Interpretationen zu steigern, ist ein
wesentliches Ziel und im Erfolgsfall der schönste Legitimationstitel werk-
zentrierter Arbeit. Wer wie H.U.G. das Glück hatte, von Peter Szondi durch einen
Text Friedrich Schlegels geführt zu werden, oder—um an unsere ortsgemeinsame,
wenn auch um 20 Jahre zeitversetzte Konstanzer Vergangenheit zu erinnern—das
Glück, Gedichte Heinrich Heines unter der Anleitung von Wolfgang Preisendanz
zu lesen, weiß, was ich meine. Erhöhter Genuss der Werke ist der Lohn für die
Mühen ihrer Erschließung, die insoweit freilich typischerweise andere Mühen sind
als die, sich bei Gelegenheit eines Heine-Gedichts in länglichen Lukács-,
Luhmann- oder Lacan-Referaten zu ergehen.
Womit ich bei der zweiten Frage wäre, die zu bedenken H.U.G.s Statement mir
aufgibt—in diesem Fall ohne sie ausdrücklich zu stellen. Es ist die Frage nach dem
Verhältnis von literarischer Interpretation und Präsenz. H.U.G. konstruiert es
dichotomisch, als ein quasi beziehungsloses, von Feedback-Strukturen freies
Oszillieren zwischen “Bedeutungseffekten” einerseits und “Präsenzeffekten”
andererseits, wobei er eine seltsam verengte Auffassung von Interpretation “als
Zuschreibung von Bedeutung” zugrunde legt. Als ob nicht gerade die
Wahrnehmung und Würdigung von Formalem (Sinnlichem), das sich nicht in
Bedeutung “überführen” lässt, wohl aber in der Erfahrungsganzheit eines
literarischen Werks auf Bedeutung bezogen ist, ein zentraler Bestandteil des
literaturwissenschaftlichen Interpretationsgeschäfts wäre! Gumbrecht missver-
steht denn auch das von mir als Parole werkzentrierter Interpretation zitierte
Diktum Gerhard Kaisers, dass es an einem literarischen Werk nichts gebe, das nicht
“spricht.” Kaiser meint damit nicht, dass alles an einem Werk “der Bedeutung
unterzuordnen” wäre. Er meint, dass literarische Werke noch auf andere als nur
semantische Weise sprechen: Sie sprechen nicht nur durch paraphrasierbare (und
insoweit durch approximative Äquivalente substituierbare) Wortbedeutungen,
Satzbedeutungen, suprasyntaktische Bedeutungen—die Kategorie der Bedeutung
SED CONTRA 251
ist freilich notorisch vage und bedürfte einer differenzierteren Diskussion—,
literarische Werke sprechen auch durch nicht substituierbare Formeigenschaften:
durch ein helles oder dunkles Klangbild, einen hüpfenden oder schleppenden
Rhythmus, arabeskenhaft spiralige Hypotaxen oder geradlinig voranschreitende
Parataxen. Nicht von ungefähr hat Kaiser im unmittelbaren Kontext des von mir
angeführten Satzes formuliert: “Etwas anders zu sagen, bedeutet, etwas anderes zu
sagen” (32). Damit wird der Begriff des Sagens über den kommunen Begriff
diskursiver Mitteilung hinaus literaturadäquat erweitert—und gerade nicht auf
semantische Funktionalität hin verkürzt. Treffend nennt H.U.G. seinerseits die
verschiedenen Dimensionen des Rhythmus in einem Gedicht “das Andere seiner
Bedeutung.” Es selbst ist dieses Andere jedoch nur in seiner Bezogenheit auf die
werkhaft individualisierte Bedeutung, deren Anderes es ist—andernfalls wäre es ja
nicht ihr Anderes, sondern einfach irgendetwas anderes, x-beliebig Rhythmisches.
Wenn etwa bei Heine traurigste Liebes-, Lebens- und Sterbensklagen in
aufdringlich schwungvollem Rhythmus einherkommen, so hören wir diesen
Rhythmus nur, wenn wir verstehen, womit er kontrastiert. Anders (und mit den
Begriffen H.U.G.s) gesagt: Literarische Präsenzeffekte sind, was sie sind, und
wirken, wie sie wirken, nur im Horizont werkindividueller Bedeutungseffekte
—und umgekehrt. Dem Erlebnis und Verständnis dieses wechselseitigen Fundie-
rungsverhältnisses von Bedeutung und Präsenz, Präsenz und Bedeutung dient die
Kunst der Interpretation.
Mit Notre Dames Undergraduates, die sich fantastischerweise auch als majors in
Economics, Classics oder Science für deutsche Literatur begeistern lassen, pflege ich
diese Kunst in Seminaren, in denen wir uns vor allem Zeit lassen. Auf ein Gedicht
Hölderlins, Eichendoffs, Benns oder Celans verwenden wir wenigstens zwei,
idealerweise aber drei Sitzungen, in denen wir zunächst philologische
Erläuterungsarbeit leisten und dann zeilenweise vorrücken—zeigend, beschrei-
bend, fragend, behauptend, zustimmend, einander widersprechend, ergänzend,
modifizierend, nuancierend: der zwischen uns erreichbaren Übereinstimmung über
das Ganze, seine Details und Kontexte entgegen. Nachdem wir ein Gedicht für uns
interpretiert haben, stellen wir üblicherweise zwei literaturwissenschaftliche
Interpretationen vergleichend auf den Prüfstand der Konfrontation mit dem
genauen Text selbst. Dabei zeigt sich, dass es eben nicht nur andere, sondern gute
und weniger gute, abstoßend oberflächliche und hinreißend genaue Inter-
pretationen gibt. Die Momente, in denen meine Studenten und ich solche
Unterschiede einsehen, sind—mit meiner Lieblingsformulierung aus H.U.G.s
Reflexionen—“Momente schönen Ernstes.” Es wird sie immer dann geben, wenn
man sich seinerseits mit Ernst, Umsicht und Genauigkeit auf die Interpretation
literarischer Werke einlässt.
252 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
HANS ULRICH GUMBRECHT
Auseinander-Setzung, trotz Allem
Coda
So geht es ja eigentlich immer bei öffentlichen Diskussionen in der
akademischen Welt, bei Diskussionen, die man unter den vorgestellten Augen
lesenderKollegen führt—und die einen deshalbverpflichten, auf intellektuell starke
Reaktionen des geneigten Kontrahenten mit viel gutem Willen einzugehen, statt
störrisch zu bleiben. Kaum hat man sein blass-buntes Fähnlein gehisst und die
eigene Position markiert, da steht auch schon eine sehr verständnisvolle Replik auf
dem Bildschirm des Laptops, die den ohnehin milden Wind der Polemik aus den
Segeln streicht. Carsten Dutts “Duplik” nimmt “Im Ernst” meinen Begriff vom
“schönen Ernst” bei der gemeinsamen Lektüre literarischer Texte so ernst, dass wir
uns fast schon in die Arme fallen. Doch wem wäre mit so einem rührenden Bild
gedient? Ist der gerade unter Deutschen heute allenthalben mit soviel Zähigkeit
gesuchte Konsens nicht ein Kältetod dessen, was universitäre Debatten her-
vorbringen sollen, nämlich (so sehe ich es wenigstens) ohne Ende sich steigernde
Komplexität der Begriffe und Argumente? Ich setze mich also—zum Zweck der
Komplexitätssteigerung und künstlich fast—am Ende noch einmal ab von den
beiden Konvergenzen, die Dutt identifiziert und zurecht hervorgehoben hat, von
der Konvergenz hinsichtlich des “wissenschaftsexternen” Nutzens “werkzentrierter
Interpretation” und von der Konvergenz im Blick auf das Verhältnis zwischen
“Bedeutungseffekten” und “Präsenzeffekten,” auf die wir—vor allem—in Gedich-
ten stoßen.
“Kennerschaftlich” sollen wir “die Freude von Lesern und Liebhabern der
Literatur” weiter befördern, genau das—und wir könnten weiter fragen, zu welcher
historisch besonderen Modalität von Bildung denn intensivere Freude am Lesen im
frühen einundzwanzigsten Jahrhundert beiträgt. Stattdessen will ausgerechnet ich
zunächst—und hoffentlich zu Carsten Dutts Überraschung—für einen Moment
über “wissenschaftsinterne” Wirkungen nachdenken. Der Rektor (“President”)
meiner Universität, ein Computer-Wissenschaftler und weithin sichtbarer Protag-
onist von Silicon Valley, hat einmal auf die Frage, wie er denn auf weltweit sinkende
Belegzahlen geisteswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen reagieren wolle, mit
der Feststellung geantwortet, dass Universitäten ohne Geisteswissenschaften keine
“intellektuellen Orte” sein können. Bewährt sich diese bemerkenswert optimisti-
SED CONTRA 253
scheÜberzeugung im Licht vonCarstenDuttsAuffassung der “werkzentrierten In-
terpretation?” Das ist der Fall, meine ich, wenn wir erstens den Aspekt der
ausschließlichen Konzentration (“ausschließlich” im Sinn von Husserls “Epoché”)
auf einen Text als—ganz wörtlich genommen—wohl umschriebenen Gegenstand
hervorheben und in unserer Praxis kultivieren. Intellektuelles Leben setzt die
Fähigkeit einer an Ekstase und Besessenheit grenzenden Konzentration voraus.
Zweitens—und hier vermute ich ein Potential zur Auseinander-Setzung—soll
unsere intellektuelle Lebensform (wie einleitend postuliert) Differenzen in
Wahrnehmung wie Erfahrung hervorbringen, registrieren und bewahren. Je mehr
ich die Interpretationen (das Wort geht mir nur schwer aus den Fingern), je mehr
ich die Text-Kommentare und Text-Analysen unserer großen literaturwissen-
schaftlichen Ahnen, wie Leo Spitzer und Erich Auerbach, Peter Szondi und
Wolfgang Preisendanz, bewundere, desto mehr wächst mein Verlangen, anders als
sie auf dieselben Texte zu reagieren. Ein klassischer Fall der “anxiety of influence”
wohl, auf deren Energie Harold Bloom seit langem setzt. Ganz unabhängig aber
vom psychischen Ursprung des Verlangens nach Differenz bringt es—bringt die
Betonung von Dissens—einen Überschuss an Möglichkeiten des Wahrnehmens,
Erfahrens und Denkens hervor, der unsere Existenz in der Welt flexibel hält. Und
auf diesen wesentlichen Beruf des intellektuellen Lebens können wir
Geisteswissenschaftler uns gerade deswegen einlassen, weil—anders als bei
Naturwissenschaftlern, Juristen oder Medizinern—die außerwissenschaftlichen
Erwartungen, unter denen wir stehen, bestenfalls vage sind.
Und dann—zweitens—noch zum Verhältnis zwischen “Bedeutungseffekten”
und “Sinneffekten” (in meinen eigenen Begriffen) oder, anders und gleich
aggressiver formuliert: zum Widerstand der Prosodie gegen die Hermeneutik.
Carsten Dutt besteht darauf, dass “die verschiedenen Dimensionen des Rhythmus
in einem Gedicht” als “das Andere seiner Bedeutung” allein wirken “im Horizont
werkindividueller Bedeutungseffekte” (“—und umgekehrt,” fügt er hinzu). Diese
Position illustriert Dutt mit einem Bezug auf Heinrich Heine: “Wenn etwa bei
Heine traurigste Liebes-, Lebens- und Sterbensklagen in aufdringlich
schwungvollen Rhythmen einherkommen, so hören wir diesen Rhythmus nur,
wenn wir verstehen, womit er kontrastiert.” Wir sind uns einig in der Prämisse, dass
innerhalb eines Gedichts Rhythmus (“als Rhythmus”) und Bedeutung (“als
Bedeutung”) nur erfahren werden dank ihres wechselseitigen—ontologischen—
Kontrasts. Aber der im Blick auf Heine geschriebene Satz scheint zu unterstellen,
dass man auch von einem anderen Kontrast reden kann, nämlich einem Kontrast
zwischen dem “Schwung” der Rhythmen und der “Traurigkeit” der Klagen. Mit
dieser Beobachtung werden die Rhythmen tendenziell in Bedeutung überführt und
einem hermeneutischen Absolutheitsanspruch unterworfen, nolens volens viel-
254 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013
leicht—aber jedenfalls möchte ich diesen Schritt nicht mitvollziehen. Ich bleibe bei
meinem Eindruck von der—in einem anderen Sinn “absoluten”—Heteronomieder
prosodischen Elemente im Gedicht.
Folgt aus dieser Weigerung, wie Carsten Dutt unterstellt, dass in meiner Sicht
das Prosodische zu “einfach irgendetwas anderem, x-beliebig Rhythmischen”
verkommt? Mit einer griffigen Alternative zu dem, was ich als Eingehen auf den
hermeneutischen Absolutheitsanspruch kritisiere, kann ich nicht aufwarten.
Immerhin aber gibt es einen Assoziationsansatz,der vielleicht andeutet, warum mir
an jener—absoluten—Heteronomie liegt. Wenn ich über Heideggers Intuition
vom “Wahrheitsereignis” als “Selbstentbergung des Seins” nachdenke, dann stelle
ich mir das Sein als dinglich und individuell vor, zum Beispiel als einen Stein, einen
Körper, einen Klang, und zwar so erlebt, dass die Gegenstände nicht durch [m]eine
subjektive und kulturelle Perspektive gebrochen sind. Dies scheint innerhalb der
Kultur einer Alltagswelt und in [m]einer subjektiven Erfahrung nicht möglich zu
sein. Aber könnte Prosodie—in Momenten ekstatischer Offenheit und Konzen-
tration—wenigstens als Versprechen des sich entbergenden Seins wirken? Ein
solches existentielles Potential will ich mir nicht verstellen durch die Überführung
von Prosodie in Bedeutung.
Und unter anderem deshalb liegt mir daran, mich weiter auseinander zu setzen
mit meinem Freund, dem Gadamer-Schüler Carsten Dutt.
Notes
SED CONTRA 255
1 Ich beziehe mich auf das Forschungsprojekt “‘Poetik und Hermeneutik.’ Eine
historische Epistemologie der Geisteswissenschaften” im Exzellenzcluster EXC 16
(“Kulturelle Grundlagen von Integration”) der Universität Konstanz: http://exc16.de/
cms/275.html (abgerufen am 10 Juni 2013).2Grundlegend war Ungers erstmals 1924 erschienene Abhandlung Literaturgeschichteals
Problemgeschichte.3 Exemplarisch hierfür Klaus W. Berghahn, “Wortkunst ohne Geschichte.”—Eine von
polemischen Verzeichnungen freie und theoretisch-methodologisch ertragreiche Ge-
schichte werkzentrierter Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Bereich ist noch zu
schreiben.4 Die entscheidenden Argumente zur kategorialen Differenzierung von Text(en) und
Werk(en) sind innerhalb der analytischen Literaturtheorie erarbeitet worden. Für eine erste
übersicht, siehe Gregory Currie, “Work and Text.”5 Vgl. etwa den Schluss der “Vorrede zur zweiten Ausgabe” der Fröhlichen Wissenschaft
(352).
Works Cited
Benn, Gottfried. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Ed. Bruno Hillebrand. Frankfurt am
Main: Fischer, 1982.
Benn, Gottfried. “Probleme der Lyrik.” Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Ed. Bruno
Hillebrand. Frankfurt am Main: Fischer, 1989. 505–35.
Berghahn, Klaus W. “Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der
Germanistik nach 1945.” Monatshefte 71.4 (1979): 387–98.
Bloom, Harold. The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. London: Oxford UP, 1973.
Currie, Gregory. “Work and Text.” Mind 100.399 (1991): 325–40.
Gadamer, Hans-Georg. Hermeneutik, Ästhetik, Praktische Philosophie. Hans-Georg Gadamer im
Gespräch. Ed. Carsten Dutt. 3rd ed. Heidelberg: Winter, 2000.
Husserl, Edmund. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Husserliana.
Ed. Rudolf Boehm. Vol. 10. Haag: Martinus Nijhoff, 1966.
Kaiser, Gerhard. Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in
Interpretationen. Vol. I: Von Goethe bis Heine. Frankfurt am Main: Insel, 1996. 28-38.
Lipsius, Justus. Von der Bestendigkeit. [De Constantia]. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des
Andreas Viritius nach der zweiten Auflage von c. 1601, mit den wichtigsten Lesarten der esrten
Auflage von 1599. Ed. Leonhard Forster. Stuttgart: Metzler, 1965.
Nietzsche, Friedrich. Die Fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Ed. Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. Bd. 3. 2nd ed. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1988.
43–651.
Schings, Hans-Jürgen. “Catharina von Georgien oder bewehrete Beständigkeit.” Die Dramen des
Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Ed. Gerhard Kaiser. Stuttgart:
Metzler, 1968. 35–72.
Staiger, Emil. “Die Kunst der Interpretation.” 1951. Die Kunst der Interpretation. Studien zur
deutschen Literaturgeschichte. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1971. 7–28.
Unger, Rudolf. Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit
besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey. Berlin: Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und
Geschichte, 1924.
Werle, Dirk. “Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte.” Jahrbuch der
deutschen Schillergesellschaft 50 (2006): 478–98.
Wittgenstein, Ludwig. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971.
256 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2013