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Dewid Laspe/Charlotte Schubert (Leipzig) Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie bei Pseudo-Xenophon 1. Einleitung As far as I know, the history of the idea of thalassocracy in Greek thought has never been written a surprising fact. So leitete Arnoldo Momigliano vor fast 70 Jahren sei- nen kurzen Aufsatz über Sea-Power in Greek Thoughtein. 1 Wenige Althistoriker ha- ben die damalige Anregung des Altmeisters aufgenommen. 2 Gleichwohl erfreut sich die pseudo-xenophontische Athenaion Politeia, die einzige antike Schrift, die im Unterschied zu anderen Autoren keine Beispiele historischer Thalassokratien aufzählt, sondern Über- legungen zu wirtschaftlichen, politischen und strategischen Bedingungen des Herrschafts- gebildes der attischen Polis präsentiert, neuerdings eines auffallenden Interesses der Al- tertumswissenschaften. Neben Kommentaren und Editionen sind auch zunehmend die intertextuellen Bezüge zwischen der, keinem bekannten Autor wirklich sicher zuzu- weisenden Schrift und dem ungleich bekannteren Thukydides analysiert worden. 3 Neuer- dings ist auch Insularitätals Phänomen, insbesondere im Kontext der historischen Thalassokratien des Ägäis-Raums dazugekommen. 4 Die Verweise auf die pseudo-xeno- phontische Athenaion Politeia fehlen in diesem Zusammenhang nie, auch nicht ihre über- aus enge Beziehung zu der zentralen Passage in der perikleischen Kriegsrede bei Thuky- dides 1,140 144, in der das Inselthema auch angesprochen wird. Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Autoren zueinander ist ausgiebig in der Forschung behandelt und meist zugunsten des viel berühmteren thukydideischen Werks beantwortet worden. Mitt- lerweile sind alle Varianten der gegenseitigen und einseitigen Beeinflussung und der dar- aus folgenden Konsequenzen für die Datierung durchgespielt. Die Frage, welcher der beiden Autoren der jüngere und welcher der ältere ist, wurde je nach Bewertung der Ab- hängigkeit beantwortet. 5 Zum Teil sind auch Stilfragen zu Kontextfragen und Kontext- 1 Momigliano (1944) 1. 2 Ceccarelli (1993). Starr (1978) 345 hat das Thema angeschnitten, wenngleich es ihm doch mehr darum zu gehen scheint, eine moderne Kritik an Mahan zu untermauern (zu Starrs Kritik an Mahan siehe Bloom [2005]). Die Bedeutung der pseudo-xenophontischen Schrift für die konzeptionelle Entwicklung schätzte er nicht sehr hoch ein. Einige grundsätzliche Überlegungen auch bei Lesky (1947) 217. 3 Eine ausführliche Übersicht dazu in der jüngst erschienenen Ausgabe von Weber (2010) 31 ff. Die Liste der Kommentare, die in den letzten 10 Jahren erschienen sind, zeigt das gewachsene Interesse an dieser Schrift: Leduc (1976); Serra (1979); Lapini (1997), der ausführlich auf die Probleme der Manuskripttradition und die sich daraus ergebenden Ergänzungen/Tilgungen eingeht; Katsaros (2001); Osborne (2004); Gray (2007); Marr/Rhodes (2008); Weber (2010). Zur Manuskripttradition vgl. auch Bowersock (1966). 4 Lätsch (2005); Constantakopoulou (2007), zu Athen 137 ff. 5 Weber (2010) 20 ff. zur Datierung und 25 ff. zum Autor. Für die Datierung nennt Weber (2010) 21 vier Gruppen (a. a. O. Anm. 67 mit einer Übersicht der wichtigsten Datierungsansätze in der Forschung): 1. vor KLIO 94 2012 1 55 81

Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie bei Pseudo-Xenophon

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  • Dewid Laspe/Charlotte Schubert (Leipzig)

    Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategiebei Pseudo-Xenophon

    1. Einleitung

    As far as I know, the history of the idea of thalassocracy in Greek thought has neverbeen written a surprising fact. So leitete Arnoldo Momigliano vor fast 70 Jahren sei-nen kurzen Aufsatz ber Sea-Power in Greek Thought ein.1 Wenige Althistoriker ha-ben die damalige Anregung des Altmeisters aufgenommen.2 Gleichwohl erfreut sich diepseudo-xenophontische Athenaion Politeia, die einzige antike Schrift, die im Unterschiedzu anderen Autoren keine Beispiele historischer Thalassokratien aufzhlt, sondern ber-legungen zu wirtschaftlichen, politischen und strategischen Bedingungen des Herrschafts-gebildes der attischen Polis prsentiert, neuerdings eines auffallenden Interesses der Al-tertumswissenschaften. Neben Kommentaren und Editionen sind auch zunehmend dieintertextuellen Bezge zwischen der, keinem bekannten Autor wirklich sicher zuzu-weisenden Schrift und dem ungleich bekannteren Thukydides analysiert worden.3 Neuer-dings ist auch Insularitt als Phnomen, insbesondere im Kontext der historischenThalassokratien des gis-Raums dazugekommen.4 Die Verweise auf die pseudo-xeno-phontische Athenaion Politeia fehlen in diesem Zusammenhang nie, auch nicht ihre ber-aus enge Beziehung zu der zentralen Passage in der perikleischen Kriegsrede bei Thuky-dides 1,140144, in der das Inselthema auch angesprochen wird. Die Frage nach demVerhltnis der beiden Autoren zueinander ist ausgiebig in der Forschung behandelt undmeist zugunsten des viel berhmteren thukydideischen Werks beantwortet worden. Mitt-lerweile sind alle Varianten der gegenseitigen und einseitigen Beeinflussung und der dar-aus folgenden Konsequenzen fr die Datierung durchgespielt. Die Frage, welcher derbeiden Autoren der jngere und welcher der ltere ist, wurde je nach Bewertung der Ab-hngigkeit beantwortet.5 Zum Teil sind auch Stilfragen zu Kontextfragen und Kontext-

    1 Momigliano (1944) 1.2 Ceccarelli (1993). Starr (1978) 345 hat das Thema angeschnitten, wenngleich es ihm doch mehr darum zugehen scheint, eine moderne Kritik an Mahan zu untermauern (zu Starrs Kritik an Mahan siehe Bloom[2005]). Die Bedeutung der pseudo-xenophontischen Schrift fr die konzeptionelle Entwicklung schtzte ernicht sehr hoch ein. Einige grundstzliche berlegungen auch bei Lesky (1947) 217.

    3 Eine ausfhrliche bersicht dazu in der jngst erschienenen Ausgabe von Weber (2010) 31 ff. Die Liste derKommentare, die in den letzten 10 Jahren erschienen sind, zeigt das gewachsene Interesse an dieser Schrift:Leduc (1976); Serra (1979); Lapini (1997), der ausfhrlich auf die Probleme der Manuskripttradition und diesich daraus ergebenden Ergnzungen/Tilgungen eingeht; Katsaros (2001); Osborne (2004); Gray (2007);Marr/Rhodes (2008); Weber (2010). Zur Manuskripttradition vgl. auch Bowersock (1966).

    4 Ltsch (2005); Constantakopoulou (2007), zu Athen 137 ff.5 Weber (2010) 20 ff. zur Datierung und 25 ff. zum Autor. Fr die Datierung nennt Weber (2010) 21 vierGruppen (a. a. O. Anm. 67 mit einer bersicht der wichtigsten Datierungsanstze in der Forschung): 1. vor

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  • fragen zu Stilfragen umgedeutet worden.6 Angesichts dieser Differenzen mu man sichmit der nchternen Feststellung begngen, da die bisherigen Versuche in ihrer Erkl-rungsreichweite wohl ausgeschpft sind. Im Hinblick auf einen mglichen Versuch, denAutor der pseudo-xenophontischen Schrift zu identifizieren, ist angesichts der Differen-zen in der Bewertung von Stil und Ernsthaftigkeit Zurckhaltung angemessen.

    Andererseits wurde die von Momigliano vor so langer Zeit schon angesprochene The-matik bislang noch nicht vertieft untersucht, obwohl sie sowohl in der pseudo-xeno-phontischen Schrift wie auch in den ihr so nahestehenden Passagen des thukydideischenWerkes zu den zentralen Aussagen fhrt. Eine erschpfende Untersuchung des Phno-mens Seemacht wie sie Momigliano vorschwebte, kann hier nicht geleistet werden. Essoll aber der Versuch unternommen werden zu zeigen, da im Hinblick auf Seemachtund die daraus abzuleitenden Vorstellungen von Seestrategie und Seekriegsfhrung beiPseudo-Xenophon eine Konzeption formuliert wird, die in der antiken berlieferung hierzum ersten Mal begegnet und die den inhaltlichen Zusammenhang zwischen ihm undThukydides deutlicher erkennen lt. Die Besonderheit dieses Zusammenhangs ergibtsich nicht aus dem Gesamtinhalt einerseits des thukydideischen Werkes, andererseits ausder von Pseudo-Xenophon vorgetragenen Kritik an der attischen Demokratie. Vielmehrsoll hier dargelegt werden, da in den Ausfhrungen Pseudo-Xenophons zur attischenSeemacht eine fr sich stehende, programmatische Vorstellung verwendet wird, die ingleicher Weise auch bei Thukydides zu finden ist und deren Kohrenz auffallend ist. Umdies zu verdeutlichen, gleichzeitig auch die Tragweite und Bedeutung dieser Konzeptionzu erlutern, soll daher ein Vergleich mit dem Klassiker der modernen Seemachts- undSeestrategie, Alfred Thayer Mahan, als Ausgangspunkt und Grundlage dienen.

    2. Mahans sea power und Pseudo-Xenophons

    Mahan, geboren 1840, war Offizier der US-Navy. Bereits frh fing er an sich mit Fragender Seemacht und Seestrategie zu beschftigen.7 1884 nahm er eine Lehrttigkeit amNaval War College in Newport auf, wo er Seekriegsgeschichte und -taktik unterrichtete.1890 verffentlichte er sein Buch The Influence of Sea Power upon History 16601783, welches sich als Standartwerk der Seemachts- und Seestrategie etablierte.8 Von18861889 und 18921893 war er Prsident des Colleges. 1896 nahm Mahan Abschiedvon der US-Navy.9 1898 wurde er in das Naval War Board berufen und nahm mageb-

    dem Peloponnesischen Krieg (446431 v. Chr.), 2. zu Beginn des Peloponn. Krieges (431424 v. Chr.),3. zwischen dem Nikias-Frieden und der Sizilischen Expedition (421413 v. Chr.), 4. nach der SizilischenExpedition bzw. den oligarchischen Umstrzen; seiner eigenen Ansicht, da eine Spanne von 450 bis 413evident sei, schlieen wir uns an: vgl. das Ergebnis der hier vorgelegten Analyse in Kapitel 3 und 4.

    6 Katsaros (2001) 158 ff. zum Thema Seemacht und Thalassokratie; Katsaros geht davon aus, da Pseudo-Xenophon bereits ber ein Set von festgefgten Bausteinen und Argumentationsschablonen verfgt. (Wirdanken in diesem Zusammenhang besonders Andrea Helen Katsaros fr die Zusendung ihrer bislang unver-ffentlichten Dissertation zur Einsichtnahme.) Vgl. Hornblower (2000) 373 f.

    7 Zum Leben und Werk Mahans siehe: Hanke (1974) und Proksch (2002).8 Wolter in der Einfhrung zu Mahan (1967) 11 f.: Der Begriff Seemacht ist bei Mahan wie auch im Deut-schen mehrdeutig. Er beschrnkt sich im Wesentlichen jedoch auf zwei Bedeutungen []: Seemacht alsMachtinstrument und Seemacht als Staatsart. [] Wohl versteht man im Englischen unter seapower aberauch einen Staat, der vornehmlich und entscheidend die See in die Planung seiner Gesamtpolitik einbeziehtund sie mittels ausreichender Flotte und seestrategischer Positionen also mit Seemacht als Machtinstru-ment zum Feld politischer Einflunahme macht.

    9 Wallach (1972) 317.

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  • lich Einflu auf die Strategie der USA im Krieg gegen Spanien (1898). Auch in den Jah-ren danach blieb Mahan der wichtigste Berater Prsident Roosevelts in Fragen der See-strategie und der Seestreitkrfte.10 1902 wurde er zum Prsidenten der American Histori-cal Association ernannt. Ab dem Jahr 1907 bekleidete er den Rang eines Konteradmirala. D. (Rear Admiral). Mahan starb am 1. Dezember 1914, zuvor hatte er noch den Unter-gang der deutschen Flotte und die Niederlage der Mittelmchte im I. Weltkrieg prophe-zeit.11

    Die militrwissenschaftliche Bedeutung Mahans lt sich kaum berschtzen. Er giltals der Clausewitz des Seekrieges, da er als erster klar zwischen Seekriegstaktik und See-strategie unterschied. So wie Clausewitz fr den Landkrieg entwickelte Mahan eine Philo-sophie der Seemacht und eine ganz neue Theorie der Seestrategie, die nicht nur beiMarineangehrigen Anklang fanden, sondern darber hinaus die Politik ganzer Nationendamals und heute beeinflussen.12

    Basierend auf seiner historischen Untersuchung des maritimen Aufstiegs Englands zurfhrenden Seemacht seiner Zeit, leitete Mahan sechs Kriterien ab, die fr die Entwick-lung eines Landes zur Seemacht von wesentlicher Bedeutung sind.13 Vergleicht mandiese von Mahan formulierten Kriterien mit den von Pseudo-Xenophon in seiner Schriftber den Staat der Athener genannten Grnde fr die Seemachtstellung Athens im See-bund, so ergeben sich beachtenswerte bereinstimmungen:

    2.1 Die geographische Lage (Geographical Position)

    Mahan untersuchte fr seine Forschungen u. a. die englisch-hollndischen Seekriege undin der Folge auch die englisch-franzsische Rivalitt bei der kolonialen Aufteilung derWelt. Dabei fiel ihm immer wieder die Vorteilhaftigkeit der englischen Insellage auf.Staaten mit Landgrenzen mten immer groe Armeen zu deren Verteidigung unterhal-ten und zersplitterten dabei ihre militrischen Anstrengungen zwischen Heer und Flotte.Dagegen knne sich ein Staat in Insellage immer ganz auf die Flotte konzentrieren.14

    Auch Pseudo-Xenophon (Xen. Ath. pol. 2,14), ist sich bewut, da den Athenern ge-nau dieser wichtige geographische Vorteil fehlt: Eine Schwachstelle aber haben sie:Wenn nmlich die Athener Bewohner einer Insel und Seeherrscher wren, wren sie inder Lage, sich bel zu verhalten, wenn sie wollten, bruchten aber nichts zu erleiden,

    10 Stahel (2004) 175178.11 Wallach (1972) 318.12 Wallach (1972) 318; Siehe auch Ebd. 326: Mahans Lehre der Seemacht und ihrer Komponenten beein-

    flute schon kurz nach Verffentlichung seiner ersten Werke das politische und strategische Denken seinerHeimat, hauptschlich in der Prsidentschaft Theodore Roosevelts. Aber nicht nur in den Vereinigten Staa-ten von Amerika, sondern auch in Europa im besonderen in England und im Deutschland Wilhelms II. und sogar im Fernen Osten fand seine Lehre weiten Anklang. [] Wer die Globalstrategie der Sowjet-union seit den fnfziger Jahren des 20. Jahrhunderts verfolgt, [], kann sich sicher nicht des Gefhls er-wehren, da hier ein spter Einflu der Mahanschen Seemachtstheorie wirksam wird.; Stahel (2004) 184:Da die Werke von Mahan an der Naval Academy und am Naval War College immer noch studiert wer-den, drften seine Thesen auch in der Gegenwart die Globalstrategie und Machtpolitik der USA beeinflus-sen. [] Mit der Navy sichern die USA im Frieden und im Krieg ihren Einfluss und ihre Macht.

    13 Fr die vorliegende Untersuchung wurde die berarbeitete Mahan-Ausgabe von 1967 verwendet. In derenglischsprachigen Originalausgabe von 1890 sind die entsprechenden Kriterien auf den Seiten 2959 be-schrieben. In der ersten deutschen bersetzung von 1898 auf den Seiten 2855.

    14 Mahan (1967) 23 f.

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  • solange sie das Meer beherrschten, und es kme nicht zur Verheerung des eigenen Lan-des und sie mssten nicht der Feinde aushalten.15

    2.2 Die physikalische Beschaffenheit (Physical Conformation)

    Fr das Aufstreben eines Landes zur Seemacht reicht nach Mahan der Umstand, dadieses Land einen direkten Zugang zum Meer hat, allein nicht aus. Denn mindestensebenso wichtig ist, da die Kste eines solchen Landes physikalisch so beschaffen ist,da sie einer ausgedehnten Schiffahrt die gnstigsten Bedingungen gewhrt. Zahlreicheund tiefe Hfen sind Quellen von Strke und Reichtum und zwar doppelt, wenn siegleichzeitig an den Mndungen schiffbarer Strme liegen.16 Ferner mu sich die Bevl-kerung dieses Landes, durch besondere Umstnde dazu gedrngt, veranlat sehen, denWeg auf die See auch tatschlich zu beschreiten. Diese besonderen Umstnde sind nachMahan z. B. die Armut des Bodens, die seinerzeit die Hollnder durch verstrktenFischfang und die Etablierung und Ausdehnung des berseefernhandels auszugleichensuchten.17 Umstnde, die sich langfristig frderlich auf die Seefahrt Hollands auswirkten.

    Die physikalische Beschaffenheit eines Landes ist das einzige von Mahan genannteKriterium, fr das es im Werk Pseudo-Xenophons keine inhaltliche Entsprechung gibt.Der Grund dafr drften die unterschiedlichen Ursachen sein, die dazu fhrten, da sichz. B. Hollnder und Athener auf die See begaben. Steht bei den Hollndern nach Mahantatschlich die physikalische Beschaffenheit des Mutterlandes im Vordergrund, so werdenfr die Entstehung der attischen Flotte in den Quellen ausschlielich militrische Erw-gungen genannt.18 Da es aber in der Kolonisationszeit auch im gisraum bedeutendeBewegungen ber See gab, die u. a. durch Siedlungsraumknappheit und damit im weite-sten Sinn durch die physikalische Beschaffenheit des Landes ausgelst wurden, mu auchPseudo-Xenophon bekannt gewesen sein. Sein Schweigen in diesem Punkt erklrt sichwohl ausschlielich aus seiner rein auf das zeitgenssische Athen konzentrierten Darstel-lung.19

    2.3 Die Ausdehnung des Machtbereichs (Extent of Territory)

    In diesem Zusammenhang mu auch die Lnge der Kste und der Charakter der Hfeneines Landes beachtet werden. Bei gleichen geographischen Bedingungen kann die Lngeeiner Kste eine Quelle der Strke oder der Schwche sein, je nachdem die Bevlkerunggro oder klein ist.20 Mahan leitete das Kriterium der Ausdehnung des Machtbereichsaus seinen Beobachtungen zum amerikanischen Brgerkrieg ab. Obwohl die Konfdera-tion ber eine viel lngere Kste und bessere Hfen an groen Strmen als die Unionverfgte das Land also geographisch wesentlich besser fr die Seefahrt geeignet warals das der Union entwickelte sich diese ausgedehnte Kste, die mit ihren gnstigenHfen ein Quell des Wohlstands fr die Sdstaaten in Friedenszeiten gewesen war, fr

    15 , , , , , - (Text und bersetzung hier und im Folgenden aus Weber [2010]).

    16 Mahan (1967) 24.17 Mahan (1967) 25.18 Quellen zu Themistokles Flottenbauprogramm: Hdt. 7,143 f.; Nep. Themis. 2; Plut. Themis. 4.19 Vgl. dazu Kap. 3.9.20 Mahan (1967) 26.

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  • die Konfderierten im Laufe des Krieges immer mehr zu einem bedeutenden Nachteil.Die Ursache dafr war, da die Konfderation nicht ber eine ausreichend groe Bevl-kerung verfgte, um zum einen eine Flotte bemannen zu knnen, die in der Lage war,der Unionsflotte entgegenzutreten, und um zum anderen die eigene ausgedehnte Ksteeffektiv verteidigen zu knnen. Das Resultat war die fortwhrende Eroberung konfde-rierter Hafenstdte durch Landeunternehmungen der Union.21

    Auch Pseudo-Xenophon schreibt ber die Bedeutung der Bevlkerungszahl fr dieNotwendigkeiten der Flottenbemannung und Kstenverteidigung. Nach ihm (Xen. Ath.pol. 1,12) wurde das Problem der Rekrutierung von Mannschaften in Athen durch dieHinzuziehung von Unfreien und Metken zum Flottendienst gelst: Deshalb also habenwir auch fr die Sklaven gleiches Recht auf Rede eingefhrt gegen die freien (Mnner)und fr die Metken gegen die Brger der Stadt, weil die Stadt der Metken bedarfwegen der Flle der Handwerksfertigkeiten und wegen der Flotte.22 Und wie Mahanwei auch Pseudo-Xenophon (Xen. Ath. pol. 2,13) um die Schwierigkeiten bei der Ver-teidigung ausgedehnter Ksten; allerdings beschreibt er diesen Aspekt, anders als Mahan,aus der Sicht des Angreifers: Darber hinaus ist noch bei jedem Festland entweder einvorspringendes Vorgebirge oder eine Insel oder irgendeine Meerenge vorhanden; deshalbist es den Herren des Meeres mglich, dort anzulegen und die Bewohner des Festlandeszu schdigen.23

    2.4 Die Bevlkerungszahl (Number of Population)

    Bei der Ausdehnung ist weniger die Zahl der Quadratmeilen eines Landes als die Lngeund Beschaffenheit der Seekste wichtig; ebenso mu nicht nur die Gesamtzahl der Ein-wohner sondern auch die Strke der seemnnischen Bevlkerung gezhlt werden, d. h.derjenigen Mnner, die das Seehandwerk betreiben oder doch leicht zum Schiffsdienstund zur Herstellung von Schiffsmaterialien herangezogen werden knnen. [] Auch ge-hren zu einem namhaften schwimmenden Schiffsmaterial eine groe Zahl Menschen,die in der Schiffbauindustrie oder in den Zulieferungsbetrieben ttig sind. Sie alle bildeneine notwendige Grundlage fr das Vorhandensein und das Gewicht einer Seemacht.24

    Das Kriterium der B e v l k e r u n g s z a h l unterscheidet sich von dem der Au s d e h -n u n g d e s M a c h t b e r e i c h s dadurch, da es bei der A u s d e h n u n g d e s M a c h t b e -r e i c h e s lediglich darauf ankommt, da ein Land eine ausreichend groe Bevlkerunghat, die in gnstiger Relation zur eigenen Flottenmacht und zur Lnge der eigenen Kstesteht. Somit ist das Kriterium der Ausdehnung des Machtbereichs ein eher quantitatives.Das Kriterium der B e v l k e r u n g s z a h l ist hingegen von qualitativer Natur. Wichtig istnicht nur die reine Bevlkerungszahl, sondern ob eine mglichst hohe Zahl an qualifi-ziertem und gebtem Personal zur Verfgung steht, das im Bedarfsfall zeitnah und ohneweiteres direkt als Schiffsbesatzung oder fr das Schiffbauhandwerk im weitesten Sinneherangezogen werden kann.

    21 Mahan (1967) 26 f.22 , ,

    Vgl. auch Xen. Ath. pol. 1,2.23

    .24 Mahan (1967) 27.

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  • Auch Pseudo-Xenophon (Xen. Ath. pol. 1,2) bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck,wenn er schreibt: Zuerst also werde ich dies aussprechen, da hier [in Athen] die Ar-men und das Volk mit Recht beanspruchen, mehr zu haben als die Vornehmen und dieReichen, deswegen, weil das Volk es ist, das die Schiffe rudert und dadurch der Stadtihre Machtstellung verschafft, und die Steuerleute, die Bootsleute, die Unterabteilungs-Kommandanten, die Vorderdeckwarte und die Schiffszimmermnner diese sind es, dieder Stadt ihre Macht verschaffen, weit mehr als die Hopliten, und die Vornehmen unddie Guten.25 Und an anderer Stelle (Xen. Ath. pol. 1,19 f.) noch deutlicher formuliert:Darber hinaus, aufgrund des Besitzes im Ausland und aufgrund der mter, die sie[Athener] ins Ausland fhren, haben sie unbewut gelernt, das Ruder zu fhren, sieselbst und ihre Begleiter; denn es ist unumgnglich, da ein Mensch, der oft zur Seefhrt, ein Ruder zur Hand nimmt, er selbst und sein Diener, und nautisches Vokabularlernt. Und sie werden gute Steuerleute aufgrund von Erfahrung mit den Fahrten undaufgrund von bung. Gebt aber haben sich manche in der Steuerung eines Bootes,andere in der Steuerung eines Frachtschiffes, von da aus kamen einige auf die Trieren.Die Masse aber ist sogleich in der Lage zu rudern, wenn sie die Schiffe nur besteigen,weil sie in ihrem ganzen Leben zuvor bung gehabt haben.26

    2.5 Der Nationalcharakter (National Character)

    Wenn eine Seemacht [] auf einem ausgedehnten Handel im Frieden beruht, so mudie Veranlagung zu Handelsunternehmungen ein hervorstechender Zug der Vlker sein,die zur See gro gewesen sind. [] Abgesehen von den Rmern findet sich kein bemer-kenswertes Beispiel fr das Gegenteil.27 In frheren Zeiten rekrutierten sich die Mann-schaften der Kriegsschiffe hauptschlich aus den Matrosen der Handelsmarine, weil diesemit der Seefahrt bereits bestens vertraut waren. Des weiteren erforderte eine groe Han-delsflotte immer auch eine starke infrastrukturelle Basis wie Werften, Reparaturdocksund Zulieferbetriebe aller Art. Diese Einrichtungen dienten dann auch gleichzeitig demBau und der Instandhaltung der Kriegsschiffe. Zudem erforderten lange Seeverbindun-gen ein System von Sttzpunkten, an denen Handelsschiffe Frischwasser aufnehmen,sich neu verproviantieren und ntige Reparaturen ausfhren konnten. Dieses Netz vonSttzpunkten steht natrlich auch der Kriegsflotte zur Verfgung. Je weitreichender undausgebauter es ist, desto grer sind deren strategische Einsatzmglichkeiten. Nicht zu-letzt wird eine starke Kriegsflotte gerade dazu bentigt, im Krieg die eigenen Seeverbin-dungen offen zu halten und die eigenen Handelsschiffe zu schtzen, um so die berseei-schen Hilfsquellen weiter nutzen zu knnen, was sich wiederum positiv auf denberseehandel auswirkt. Aus diesen Aspekten ableitend, bedingen sich eine starke Han-

    25 , - , , . Vgl. Weber (2010) 89 f.

    26 , , , . Vgl. Weber (2010) 102105.

    27 Mahan (1967) 27 f.

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  • dels- als auch eine starke Kriegsflotte nach Mahan immer gegenseitig.28 Ein Land, dessenBevlkerung sich stark in berseeischen Handelsunternehmungen engagiert, wird beimAufbau einer Kriegsflotte immer im Vorteil den Lndern gegenber sein, deren Bevlke-rung keinen so ausgeprgten Hang zum berseehandel hat.

    Diese starke Interdependenz von berseehandel und Seemacht beschreibt auch Pseu-do-Xenophon (Xen. Ath. pol. 2,7): Wenn man aber auch geringere Vorteile erwhnensoll: Aufgrund der Herrschaft ber das Meer haben sie [die Athener] erstens Arten vonLuxusspeisen entdeckt, indem sie unter andere Leute an anderem Ort mischten: Wasimmer es an Delikatessen in Sizilien oder Italien oder auf Zypern oder in gypten oderin Lydien oder im Pontos-Gebiet oder auf der Peloponnes oder sonst irgendwo gibt, diesalles ist an einem Punkt [Athen] zusammengebracht aufgrund der Herrschaft ber dasMeer.29 Und weiter unten (Xen. Ath. pol. 2,11 f.): Den Reichtum der Griechen undBarbaren zu besitzen sind allein sie in der Lage. Wenn nmlich irgendeine Stadt reich istan Schiffsbauholz, wo wird sie es absetzen, wenn sie nicht die Herren des Meeres zurZustimmung bringt? Was aber, wenn eine Stadt an Eisen oder Kupfer oder Flachs reichist, wo wird sie es absetzen, wenn sie nicht den Herrn des Meeres zur Zustimmungbringt? Aus gerade diesen Materialien baue ich freilich auch meine Schiffe, von dem ei-nen (bekomme ich) Holz, von dem anderen Eisen, von dem Kupfer, von dem Flachs,von dem Wachs. Darber werden sie nicht erlauben, die Produkte anderswohin zu ver-frachten, wo welche von unseren Konkurrenten sind, oder diese werden das Meer nichtbentzen knnen. Und so habe ich, ohne etwas aus dem Land zu produzieren, all diesesdurch das Meer, keine andere Stadt freilich hat zwei von diesen Produkten.30 Auch weiPseudo-Xenophon (Xen. Ath. pol. 1,20), wie bereits oben in Kapitel 2,4 beschrieben, umdie Tatsache, da gute Matrosen fr die Kriegsflotte aus den Reihen der Handelsmarinestammen.

    2.6 Der Charakter der Regierung (Character and Policy of Government)

    Erstens im Frieden: Die Regierung eines Landes kann durch bestimmte ManahmenHandel, Schiffahrt und Seeinteressen bewut frdern oder hemmen bzw. untergraben.Damit wird auch das Gewicht eines Landes zur See bestimmt.

    Zweitens fr Kriegszeiten: Der Einflu der Regierung zeigt sich daran, da sie eineKriegsmarine unterhlt, die der Gre der nationalen Schiffahrt und den mit ihr zusam-menhngenden Belangen entspricht. Wichtiger noch als die augenblickliche Gre der

    28 Vgl. Mahan (1967) 92: Kriegsmarinen allein oder Handel allein haben sich nie als ausreichend erwiesen.Erst in der Kombination beider liegt Strke und Wirkung einer Seemacht.

    29 , , .

    30 . -, , , , , , , , , . . , Vgl. dazu Weber (2010) 119122. Siehe auchXen. Ath. pol. 2,3: Denn es gibt keine Stadt, die nicht irgendeines Imports oder Exports bedarf; dieseMglichkeiten werden fr sie nicht bestehen, wenn sie nicht den Herrschern des Meeres untertan ist. ( . , .) Vgl. Weber (2010) 109.

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  • Marine sind die Einrichtungen fr eine rasche Mobilmachung und die Bereitstellung einerentsprechenden Reserve an Mannschaften und Schiffen. Ebenso gehrt hierher die Un-terhaltung geeigneter Marinestationen.31

    Auch Pseudo-Xenophon beschreibt in seiner Schrift Manahmen des attischen Staates,die sich zum einen auf die Gre der Flotte, als auch der Infrastruktur und der Rekrutie-rung ausreichender Rudermannschaften fr die Flotte beziehen. So wrden jedes Jahr400 Trierarchen bestellt, deren Aufgabe es sei, ihre ihnen anvertrauten Trieren instandzu halten.32 Vernachligte ein Trierarch diese Pflicht, mute er mit rechtlichen Konse-quenzen rechnen.33 Weiter habe die Boule u. a. auch Sorge fr die Schiffswerften zutragen.34 Und schlielich gewinne der Staat durch die Heranziehung von Metken zumRuderdienst ausreichend Personal zur Bemannung der Schiffe.35

    2.7 Seestrategie

    Wie sich zeigte, weisen Pseudo-Xenophon und Mahan eine beachtenswerte bereinstim-mung in ihren Vorstellungen ber die Kriterien auf, die ihrer Ansicht nach aus einemStaat eine Seemacht werden lassen. Diese bereinstimmung setzt sich auch in den see-strategischen Konzepten ber den Einsatz der Flotte fort. So wissen beide um den Vor-teil der I n n e r e n L i n i e n. Dieser Begriff von Clausewitz geprgt beschreibt imLandkrieg einen Vorzug, den meistens der Verteidiger innehat. Der Verteidiger, selbst imZentrum stehend, ist in der Lage, seine Krfte unter Nutzung relativ kurzer eigener Ver-bindungen leicht zu verschieben und zu konzentrieren. Der Angreifer ist hingegen aufdie u e r e n L i n i e n beschrnkt, die ihn, da sie lnger sind, bei der Verschiebung undKonzentration seiner Truppen gegenber dem Verteidiger benachteiligen.36 Am BeispielEnglands bezog Mahan das Prinzip der inneren Linien auch auf die Seestrategie: Dar-ber hinaus kann die geographische Lage nicht nur das Zusammenhalten der Flotten-streitkrfte begnstigen, sondern sie vermag auch den strategischen Vorteil einer zentra-len Stellung und einer guten Angriffsbasis zu bieten. Auch dies traf fr England zu.Wenn es, wie es zuweilen vorkam, von einem Bndnis Frankreichs mit den Seestaatender Nord- und Ostsee bedroht war, so nahmen seine Flotten in den Downs, im Kanaloder vor Brest die innere Stellung ein und waren so jederzeit in der Lage, ihre vereinteKraft gegen eine einzelne feindliche Flotte einzusetzen, die es versuchte, den Kanal zupassieren, um sich mit den Verbndeten zu vereinigen.37 Bei Pseudo-Xenophon (Xen.Ath. pol. 2,2) liest sich die Beschreibung des gleichen Sachverhalts so: Fr diejenigen,die zu Lande beherrscht werden, ist es mglich, aus kleinen Stdten zusammen zu sie-deln und gemeinsam zu kmpfen; fr diejenigen, die zu Wasser beherrscht werden, so-

    31 Mahan (1967) 34.32 Xen. Ath. pol. 3,4: , []. Zur Zahl von 400 Trierarchen

    vgl. Weber (2010) 147.33 Xen. Ath. pol. 3,4: , []. Vgl Weber (2010) 145.34 Xen. Ath. pol. 3,2: , [], [] [].35 Xen. Ath. pol. 1,12: [], .36 Clausewitz (1833) 163, 6. Buch, 4. Kapitel: Hat die Vertheidigung einmal das Prinzip der Bewegung in sich

    aufgenommen (einer Bewegung, die zwar spter anfngt wie die des Angreifenden, aber immer zeitig genug,um die Fesseln der erstarrenden Passivitt zu lsen), so wird dieser Vortheil der greren Vereinigung undder inneren Linien ein sehr entscheidender und meistens wirksamer zum Siege als die konzentrische Figurdes Angriffs.

    37 Mahan (1967) 23.

    62 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • weit sie Inselbewohner sind, ist es nicht mglich, ihre Stdte an einem und demselbenPunkt zusammenzubringen; denn das Meer liegt zwischen ihnen, die Herrschenden ha-ben die Herrschaft ber das Meer.38 Der einzige Unterschied in den Beschreibungen ist,da Pseudo-Xenophon ganz allgemein die See selbst als innere Linie gegenber demLand und den Inseln versteht, whrend Mahan auch auf der See sowohl innere als auchuere Linien sieht.

    Ein weiterer seestrategischer Aspekt, der von beiden benannt wird, ist das Prinzip derF e r nw i r k u n g d e r F l o t t e. Pseudo-Xenophon (Xen. Ath. pol. 2,4 f.) schreibt dazu:Ferner, es ist den Herrschern des Meeres mglich zu tun, was die Herrscher zu Landenur manchmal knnen, nmlich das Land der Strkeren zu verwsten. Es ist nmlichmglich, bis dorthin heranzufahren, wo kein Feind ist oder nur wenige, wenn jene aberheranstrmen, das Schiff zu besteigen und abzufahren. Und wenn einer dies so macht,gert er in geringere Schwierigkeiten als derjenige, der mit Futruppen zu Hilfe eilt. Fer-ner, den Herrschern zur See ist es mglich, von ihrer Heimat wegzufahren, so weit dufahren willst, den Herrschern zu Lande aber ist es nicht mglich, aus ihrer Heimat einenWeg von vielen Tagen wegzugehen; langsam sind nmlich die Mrsche, und es ist nichtmglich, Nahrung fr lange Zeit mitzunehmen, wenn man zu Fu marschiert; und frdenjenigen, der zu Fu marschiert, ist es ntig, durch Freundesland zu marschieren odersich siegreich durchzukmpfen, demjenigen aber, der sich zu Schiff fortbewegt, ist esmglich, wo er der Strkere ist, an Land zu gehen, wo aber nicht, an diesem Punkt desLandes nicht auszusteigen, sondern vorbeizusegeln, bis er befreundetes Gebiet erreichtoder solche, die schwcher sind als er.39 Mahan greift zur Verdeutlichung dieses Punk-tes wieder auf England zurck: Englands Macht reichte so weit, wie seine Schiffe segelnkonnten. Dadurch wurden seine eigenen Streitkrfte vervielfacht, die seiner Feinde zer-splittert und geschwcht.40 Die See ist der grte und leistungsfhigste Transportwegder Erde.41 Und das nicht nur fr Passagiere und Gter, sondern auch fr Truppen.Eine Armee, die zu Lande marschiert, ist vielfltigen Einschrnkungen unterworfen. Pro-viant mu kraftraubend mitgefhrt oder mhsam und zeitaufwendig an Ort und Stellebeschafft werden. Tglich stellt sich die Frage nach einer Unterkunft neu. Die abver-langte Marschleistung ermdet die Truppen. Schwierige Wege und feindliche Kmpfererschweren den Vormarsch. Eine Seemacht kann dagegen soweit wirken, soweit ihreFlotten fahren. Den an Bord befindlichen Truppen bleiben die Strapazen eines langenFumarsches erspart. Die Schiffe sind Unterkunft und Proviantlager in einem und brin-gen eine Streitmacht oft wesentlich weiter, schneller und ausgeruhter ans Ziel, als es aufdem Landweg mglich wre. Als Brasidas mit seiner berschaubaren Schar vielbeachtetvon Sparta nach Makedonien zog, hatten athenische Armeen in den Jahrzehnten zuvor,

    38 . , , , Vgl. Weber (2010) 107 f.

    39 , , , , . . , , , , , , , . Vgl. Weber (2010) 110 f.

    40 Mahan (1967) 135 f.; vgl. auch 133 u. 155.41 Mahan (1967) 21.

    KLIO 94 (2012) 1 63

  • von der eigenen Flotte ber das Meer gebracht, viel weiter entfernt in Phnikien undgypten gekmpft. Und auch Xenophons Zehntausend stieen beim Anblick der Seeeuphorisch ihr Thalatta, Thalatta (Xen. an. 4,7,24) aus. Wohlwissend, da ihre Heimat-stdte in Griechenland auf dem Seeweg wesentlich schneller und unbeschwerlicher zuerreichen waren als auf dem Landweg.

    Richmond hat Pseudo-Xenophon zum Vorwurf gemacht, da dieser von den drei we-sentlichen Elementen einer Seemacht, nmlich Kriegsschiffe, Sttzpunkte und Handels-schiffe42 nur die Kriegsschiffe behandelt habe.43 Dieser Vorwurf ist aber nur zur Hlfteberechtigt, denn wie oben gezeigt (Kapitel 2.5 Der Nationalcharakter) ist sich Pseudo-Xenophon sehr wohl der gegenseitigen Bedeutung von Seemacht und Seehandel bewut,auch wenn er es nicht so pointiert ausdrckt wie Mahan. Nur zur Bedeutung von Sttz-punkten fr eine Seemacht schweigt Pseudo-Xenophon. Der Pirus wird zwar erwhnt(Xen. Ath. pol. 1,17), jedoch nicht in seiner Funktion als Heimatbasis der athenischenFlotte, sondern lediglich als Zollstation. Das athenische Seereich ist fr ihn eine Einnah-mequelle Athens.

    Die Entstehungsgeschichte des athenischen Seereiches und die relative Kleinrumig-keit des Mittelmeeres im Vergleich zu den groen Ozeanen mag dazu beigetragen haben,da Pseudo-Xenophon die Bedeutung von Sttzpunkten fr eine Seemacht nicht er-kannte. Anders als England, das sein weltumspannendes Kolonialreich nur durch einNetz von Sttzpunkten aufbauen und zusammenhalten konnte, war Athen zu den we-sentlichen Teilen seines Seereiches eher pltzlich und unvermittelt gelangt. Es hatte esnicht erobern oder kolonisieren mssen wie England. Auch waren die Entfernungen imSeereich nicht mit denen des englischen Kolonialreiches zu vergleichen. Bentigte dieCutty Sark bei ihrer Jungfernfahrt noch 110 Tage von England nach China,44 so berichtetThukydides (3,49), da einmal ein Schiff die Strecke von Athen nach Mytilene von einemTag zum anderen zurckgelegt habe. Und auch fr alle anderen Stdte im Seebund darfman annehmen, da sie von einer athenischen Flotte in wenigen Tagen ohne zwingendenZwischenaufenthalt zu erreichen waren.45

    3. Gemeinsamkeiten bei Pseudo-Xenophon und Thukydides

    Die Bezge beider Werke mit ihren Parallelen zueinander sind seit langem und immerwieder verglichen worden.46 Umstritten ist aber nach wie vor, welcher Natur diese Par-allelen sind. Whrend Kalinka sie seinerzeit nur als natrliche Folge der Gemeinsamkeit

    42 Vgl. Mahan (1967) 92 u. 172.43 Richmond (1947) 10.44 Cucari (2006) 148.45 Dazu Hornblower (1997) I 439 f.46 Da Pseudo-Xenophons Schrift auch zu Teilen des Werks Thukydides beachtliche inhaltliche Parallelstellen

    aufweist, haben bereits Kalinka und Frisch herausgearbeitet. Ausf. zur Literatur der Komm. von Weber(2010) 123127. Auch Starr (1978) 344 ff. hat einen solchen Vergleich unter dem Aspekt der Seemacht frbeide Autoren durchgefhrt. Allerdings hat er eine ganz andere Vergleichssystematik zugrundegelegt: De-mokratie und Seemacht gehren zusammen (1.), ebenso Seemacht und Sklaverei (2.), bung (3.), strategi-sche und finanzielle Vorteile der Seemacht (4.a), Inseln knnen sich gegen eine Seemacht nicht zusammen-schlieen (4.b), Fernwirkung der Flotte (4.c), Kontrolle des Im- und Exports (4.d) und Einfuhr derLuxusgter (4.e) und kosmopolitische Einstellung (5.). Als Kritiker Mahans (a. a. O. 345 misreading mo-dern European History) lehnt er dessen Perspektive und damit auch dessen Systematik ab. Daher kommter zu dem Ergebnis, da nur fr den vierten Punkt Gemeinsamkeiten auszumachen sind. Dieser Bewertunghat sich Ceccarelli (1993) 445 angeschlossen.

    64 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • des Zeitalters, des Vaterlandes, teilweise auch der Partei der Verfasser betrachtete, alsokeinen konkreten Bezug zwischen beiden sah,47 waren die gleichen Parallelen fr Nestleso eindeutig von inhaltlich identischer Natur, da beide Texte fr ihn aus ein und dersel-ben Feder stammen muten, Pseudo-Xenophon also mit Thukydides identisch sei.48

    Und auch Frisch hat die Gemeinsamkeiten ausfhrlich diskutiert.49

    Die bislang unternommenen Vergleiche beider Schriften konzentrierten sich jeweilsnur auf die inhaltlichen Aspekte, ignorierten aber strukturelle hnlichkeiten, vor allemwird der konzeptionell begrndete Zusammenhang, insbesondere fr Pseudo-Xenophon,entweder negiert oder aufgrund eines anderen Fokus bei der Betrachtung ignoriert.50 Ge-rade aber fr die Beantwortung der Frage nach einem gemeinsamen Ursprung der beidenTexte ist besonders das Ausfindigmachen solcher strukturellen Parallelen unverzichtbar.51

    Ein solcher Vergleich scheint besonders zwischen zwei speziellen Passagen lohnenswert.Dies sind die Abschnitte 1,19 bis 2,17 der pseudo-xenophontischen Athenaion Politeia unddie Kriegsrede des Perikles in Thuk. 1,140144.

    3.1 Parallelstelle I: Xen. Ath. pol. 1,19 f. Thuk. 1,142,5143,252

    Beiden Passagen ist gemeinsam, da sie den Stand der Ausbildung der Schiffsbesatzun-gen speziell im Falle Athens als essentiell fr die Schlagkraft einer Kriegsmarinedarstellen. Whrend Pseudo-Xenophon diesen Punkt ohne weitere Bezugnahme darlegt,lt Thukydides Perikles diesen Sachverhalt im Vergleich zu Sparta entwickeln: Die athe-nische Marine ist durch die kontinuierliche bung der Besatzungen der peloponnesischenjetzt und auf Dauer deutlich berlegen. Und auf Grund des Mangels an Geld wrde esSparta unmglich sein, gebte Mannschaften von auswrts anzuwerben. Chancen Spartasauf eine erfolgreiche maritime Kriegfhrung seien daher praktisch nicht vorhanden.

    47 Kalinka (1913) 17.48 Nestle (1968) 387402.49 Frisch (1942) 79 ff.50 Auch bspw. Ober (1985) 71, der sich explizit in seinem Werk mit Kriegsstrategien auseinandersetzt, vertritt

    die Ansicht, da die Autoren des 5. Jh. deutlich weniger theoretisch entwickelte Ansichten vertreten htten.51 Von Katsaros (2001) 199 wird ein solcher struktureller Zusammenhang, der inhaltlich fundiert ist, sogar

    explizit abgelehnt. Constantakopoulou (2007) 147 f. betont zwar die Gemeinsamkeit beider, sieht dies je-doch ganz im Kontext der Inselrhetorik, vgl. dazu unten i. E. Romilly (1962), sie will lediglich einen ge-meinsamen Kenntnisstand als Grundlage der Gemeinsamkeiten sehen. Leduc (1976) 106 u. 146 sieht dieenge Verbindung gegeben, meint auch, da sie aus derselben Quelle kommen mssen, die ihrer Ansichtnach eine Rede des Perikles gewesen sein mu. Das wiederum lehnt Hornblower (2000) 367 ff., hier bes.379 dezidiert ab; seiner Ansicht nach ist die Schrift Pseudo-Xenophons ein gutes Zeugnis fr die Haltun-gen, die man im 4. Jh. gegenber dem attischen Imperialismus einnahm.

    52 Die zentralen Stze sind: Xen. Ath. pol. 1,20: Und sie werden gute Steuerleute aufgrund von Erfahrungmit den Fahrten und aufgrund von bung. ( ) Thuk. 1,143,1: das ist also immer mglich, und, was entscheidend ist, als Steuerleute haben wirBrger und auch fr die brige Maatschaft mehr und bessere Leute als das gesamte brige Hellas. ( , , ) bersetzung hier und im folgendem von Landmann. Vgl. Gomme (1945) I 460 f.; Horn-blower (1997) I 229.

    KLIO 94 (2012) 1 65

  • 3.2 Parallelstelle II: Xen. Ath. pol. 2,13 Thuk. 1,143,553

    Diese beiden Passagen beinhalten die einfache Feststellung, da die Hauptaufgabe desathenischen Heeres die Kontrolle und Einschchterung der Bundesgenossen ist, undnicht die offene Schlacht gegen uere Feinde.

    3.3 Parallelstelle III: Xen. Ath. pol. 2,46 Thuk. 1,143,3 f.54

    Die Thematik beider Passagen ist die Gegenstzlichkeit von Land- und Seekriegsfhrung.Whrend Pseudo-Xenophon die Mglichkeiten einer Seemacht, besonders unter demAspekt der Fernwirkung, als denen einer Landmacht deutlich berlegen beschreibt,kommt diese berlegenheit in der perikleischen Kriegsrede des Thukydides nur indirektzum Tragen. Hier sorgt die Flotte zunchst fr ein ausgleichendes Moment, indem sie esder zu Land schwcheren Partei ebenso ermglicht, das Land des Gegners zu verheeren.Der Vorteil der Seemacht stellt sich erst danach eher indirekt ein. Eine Seemacht ist inder Lage, die durch die Verheerungen verursachten landwirtschaftlichen Ausflle durchuere Einfuhren wieder auszugleichen. Einer Landmacht, der die See versperrt ist, istdies nicht mglich. Damit ist es in der Tat nicht das gleiche, ob vom Peloponnes einTeil kahlgelegt wird oder selbst ganz Attika. (Thuk. 1,143,4)

    3.4 Parallelstelle IV: Xen. Ath. pol. 2,712 Thuk. 1,141,2142,155

    Hier ist die Parallelitt nicht auf den ersten Blick ersichtlich und offenbart sich in ihrerGnze erst bei einer Gesamtschau aller Parallelstellen und ihrer Struktur. Fr beide Pas-sagen ist jedoch kennzeichnend, da sie von konomischer berlegenheit der Seemacht

    53 Der zentrale Satz bei Xen. Ath. pol. (2,1) ist (mit der Konjektur , vgl. Weber ad loc.): Was dasLandheer angeht, mit dem es sich in Athen am wenigsten gut zu verhalten scheint, trifft dies so zu und sieglauben zwar, da sie selbst schwcher als die Feinde sind, doch sind sie im Vergleich mit den Bundes-genossen, die den Tribut leisten, auch zu Lande am strksten, und sie meinen, das Landheer reiche aus,wenn sie strker sind als die Bundesgenossen. ( , , , , , , , .) Dievollstndige Parallelstelle bei Thukydides (1,143,5) lautet: denn ein Sieg bringt uns nur knftige Kmpfemit noch greren Scharen, und unterliegen wir, so gehen uns unsre Verbndeten, wo unsere Kraft liegt,mit verloren; sie werden ja nicht Ruhe halten, sobald wir nicht mehr stark genug sind, sie zu bekriegen( , , , - ). Vgl. Gomme (1945) I 461 f.

    54 Die zentralen Stze sind: Xen. Ath. pol. 2,5: Ferner, den Herrschern zur See ist es mglich, von ihrerHeimat wegzufahren, so weit du fahren willst, den Herrschern zu Lande aber ist es nicht mglich, aus ihrerHeimat einen Weg von vielen Tagen wegzugehen; [] ( , ) und 2,4: Ferner, es ist den Herrschern des Meeres mglich zu tun, was dieHerrscher zu Lande nur manchmal knnen, nmlich das Land der Strkeren zu verwsten. ( , ) Thuk. 1,143,4:Marschieren sie aber in unser Land ein, so fahren wir gegen das ihrige, und dann bedeutet es nicht mehrdas gleiche, ob vom Peloponnes ein Teil kahlgelegt wird oder selbst ganz Attika; ( , , ). Vgl. Gomme (1945) I 461.

    55 Die zentralen Stze sind: Xen. Ath. pol. 2,12: Und so habe ich, ohne etwas aus dem Land zu produzieren,all dieses durch das Meer, keine andere Stadt freilich hat zwei von den Produkten: [] ( , ) Thuk. 1,142,1: Unddas Wichtigste, ihr Mangel an Geld wird sie behindern, wenn ihnen ber mhsamer Beschaffung Zeit ver-

    66 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • bzw. konomischer Unterlegenheit der Landmacht sprechen. Aufeinander bezogen, lie-gen die beiden Passagen inhaltlich praktisch i n v e r t i e r t vor. Indem Pseudo-Xenophonden wirtschaftlichen berflu Athens herausstreicht und Thukydides Perikles vom mo-netren Mangel Spartas berichten lt, beschreiben die beiden Stellen in sich ungewhn-lich ergnzender Art und Weise die jeweiligen konomischen Verhltnisse von See- undLandmacht, und damit die wirtschaftlichen Ausgangslagen von Athen und Sparta zu Be-ginn des Peloponnesischen Krieges.

    3.5 Parallelstelle V: Xen. Ath. pol. 2,13 Thuk. 1,142,2456

    Diese Passagen kommen noch einmal auf die Fhigkeit einer Seemacht zurck, die geg-nerische Kste anzugreifen und sich dort an geeigneten Pltzen dauerhaft festzusetzen.Thukydides lt Perikles diesen Sachverhalt wieder als Reaktion auf eine Invasion desPeloponnesischen Bundes vortragen, praktisch als strategisch ausgleichendes Moment ge-genber der strkeren Landmacht des Gegners.

    3.6 Parallelstelle VI: Xen. Ath. pol. 2,1416 Thuk. 1,142,5143,257

    Diese beiden Passagen beinhalten die wohl augenflligste Parallelitt: Athen ist keine In-sel. Und auf Grund dieses geographischen Mangels ist es von einer Landmacht angreif-bar. Obwohl Athen selbst und seine Verbindung zum Meer durch die Stadtmauer unddie langen Mauern geschtzt sind, stehen das attische Umland und damit die heimischeLandwirtschaft und Existenz der lndlichen Bevlkerung dem Feind offen, der es mehroder weniger nach Belieben verheeren kann. Thukydides lt daher Perikles das attischeVolk auffordern, sich die Festung Athen selbst als Insel auf dem Land zu denken, anderen Mauern sinnbildlich die feindlichen Wellen vergebens anbranden. Der Preis freine so radikale Forderung ist freilich die Aufgabe aller Besitztmer auerhalb derStadt.58

    lorengeht ( , , .).

    56 Zur vollstndigen Passage bei Xen. Ath. pol. (2,13) siehe Anm. 23. Der zentrale Satz bei Thukydides(1,142,4): und von einem Bollwerk aus knnten sie gewi einen Teil des Landes schdigen durch Streifz-ge und berlufereien, aber niemals wird das ausreichen, um uns zu hindern, da wir nicht hinfahren unduns in ihrem Land verschanzen und uns, wo unsere Strke liegt, mit unseren Schiffen wehren. ( , , , , ). Vgl. Gomme (1945) I457 f.

    57 Die zentralen Stze sind: Xen. Ath. pol. 2,14: Eine Schwachstelle aber haben sie: Wenn nmlich die Athe-ner Bewohner einer Insel und Seeherrscher wren, wren sie in der Lage, sich bel zu verhalten, wenn siewollten, bruchten aber nichts zu erleiden, solange sie das Meer beherrschten, und es kme nicht zur Ver-heerung des eigenen Landes und sie mten nicht der Feinde aushalten. ( , , , , , ) Thuk. 1,143,5: Denktdoch: Bewohnten wir eine Insel, wer wre wohl unangreifbarer? So aber mt ihr euch dem so nahe wiemglich denken, mt Land und Gebude preisgeben, aber Meer und Stadt verteidigen ( , , , []). Vgl. Gomme (1945) I 461 f.; Hornblower (1997) I230.

    58 Vgl. dazu Weber (2010) 129 f.

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  • 3.7 Parallelstelle VII: Xen. Ath. pol. 2,17 Thuk. 1,140,159

    Diese beiden Passagen beschreiben ein wohl typisches Verhalten des attischen Demosim Umgang mit den eigenen Volksbeschlssen. Inhaltlich praktisch identisch berichtetPseudo-Xenophon eher erzhlerisch kritisierend, whrend Thukydides Perikles diese Pas-sage mahnend an das Volk richten lt.

    3.8 Parallelen in der Struktur

    Wie es sich mit den weiteren hnlichkeiten bei Pseudo-Xenophon und Thukydides ver-hlt, darauf soll hier nicht vertiefend eingegangen werden. Einige Stellen, z. B. Xen. Ath.pol. 2,7 und Thuk. 2,38, weisen jedoch eine so hohe inhaltliche Parallelitt auf,60 da einwie auch immer gearteter Bezug augenfllig ist, andere in der Literatur angefhrte Stellenscheinen hingegen tatschlich nicht ber die von Kalinka postulierte n a t r l i c h e G e -m e i n s amk e i t hinauszugehen.61 Drei Argumente sprechen allerdings dagegen, da essich auch bei den oben genannten sieben Parallelstellen nur um n a t r l i c h e Geme i n -s amk e i t e n handelt:

    Erstens die auffllig abweichende Thematik von Parallelstelle VII im Vergleich zu denanderen Parallelstellen. Es ist keine inhaltliche oder n a t r l i c h e G eme i n s amk e i t er-kenntlich, die den politisch fragwrdigen Umgang mit Volksbeschlssen, wie ihn Parallel-stelle VII beschreibt, solcherart in gleich zwei Texten in die Nhe von Seekriegsfhrungrckt, wie sie in den anderen sechs Parallelstellen thematisiert wird. Ihr zweimaliges ge-meinsames Vorkommen mu daher ber eine n a t r l i c h e Geme i n s amk e i t hinaus-gehen.

    Zweitens, Frisch merkte an, da die Parallelitt der beiden Texte ausschlielich inhalt-licher Natur sei.62 Das ist nicht korrekt, denn es gibt ebenso bereinstimmungen in derStruktur. So ist auffllig, da in beiden Abschnitten die Parallelstellen zusammenhngend

    59 Die zentralen Stze sind: Xen. Ath. pol. 2,17: Und wenn etwas Negatives aus dem erwchst, was das Volkbeschlossen hat, erhebt das Volk die Beschuldigung, da wenige Menschen ihm zuwidergehandelt und denBeschlu verdorben htten; wenn aber etwas Positives daraus erwchst, beanspruchen sie das Verdienst frsich selbst. ( , , .) Thuk. 1,140,1: So sehe ichauch jetzt Anla, meinen Rat gleich oder hnlich zu wiederholen, und wer von euch meine Meinung an-nimmt, der sollte, finde ich, auch wenn wir einmal Unglck haben, zum gemeinsamen Beschlu stehen,oder aber auch bei Erfolgen sich am klugen Plan keinen Anteil beimessen. ( - , , ,, .) Vgl. Gomme (1945) I 453.

    60 Vgl. dazu Romilly (1962) 235.61 Weitere Zusammenstellungen von Parallelstellen sind zu finden in: Frisch (1942) 7985; Gigante (1953)

    187191; Hornblower (2000) 367 ff. Hornblower nennt: Xen. Ath. pol. 1,9 = Thuk. 1,18,1; Xen. Ath.pol. 1,16 = Thuk. 1,77,1; Xen. Ath. pol. 1,18 = Thuk. 3,11,7; Xen. Ath. pol. 1,19 f. = Thuk. 1,142;Xen. Ath. pol. 2,1 = Thuk. 1,143; Xen. Ath. pol. 2,4 = Thuk. 1,143,4; Xen. Ath. pol. 2,10 f. = Thuk.2,38,2 und 1,120,2; Xen. Ath. pol. 2,9 = Thuk. 2,38,1; Xen. Ath. pol. 2,14 = Thuk. 1,143,5; Xen. Ath.pol. 2,16 = Thuk. 2,14. Rhodes (1988) 24 ergnzt noch Thuk. 2,65,2 = Xen. Ath. pol. 2,1416. Marr/Rhodes (2008) 96, 103 u. 121 ergnzen: Xen. Ath. pol. 1.19 f. = Thuk. 1,142 f.; Xen. Ath. pol. 2,2 ff. =Thuk. 1,142,5. 2,13,2. 2,65,7 (Thematik: Herrschaft zur See); Xen. Ath. pol. 2,14 16 = Thuk. 1,143,5(digression).

    62 Frisch (1942) 85.

    68 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • sind. Mit Ausnahme zweier kleinerer Passagen63 bilden die Parallelstellen als Kriegsrededes Perikles sogar im Werk des Thukydides einen eigenstndigen Abschnitt. Und auchbei Pseudo-Xenophon folgen die einzelnen Parallelstellen nahtlos aufeinander.

    Drittens sind auch in der Sequenz der Abfolge der einzelnen Parallelstellen Gemein-samkeiten vorhanden. So lt sich durch nur 3 Verschiebungen von Parallelstellen dieSequenz bei Pseudo-Xenophon (I II III IVVVIVII) in die Sequenz bei Thukydi-des (VII IVV I IIIVIII) umwandeln und vice versa:

    1. Parallelstelle VII wird an den Anfang gesetzt.2. Die Parallelstellen IV und V werden unter Beibehaltung ihrer Aufeinanderfolge nun

    unmittelbar vor Parallelstelle I verschoben.3. Parallelstelle II wird in Parallelstelle VI eingeschoben.

    Die Reihenfolge der Parallelstellen I, III und VI bleibt dabei auch in der neuen Sequenzerhalten. Auffllig ist auch, da Parallelstelle VII bei Pseudo-Xenophon das Ende desgesamten Abschnitts markiert und bei Thukydides an dessen Beginn steht, also in beidenTexten eine Art rahmende Funktion hat, die noch durch ihre abgesetzte Thematik ver-strkt wird.

    Auch wenn verschiedene Parallelstellen ausschweifender sein mgen als ihr jeweiligesPendant, so bleiben die Ausschweifungen doch immer in der jeweiligen Thematik derentsprechenden Passagen. Und auch der vergleichende Charakter zwischen der SeemachtAthen und der Landmacht Sparta, der sich aus der Funktion der Kriegsrede des Periklesim Werk des Thukydides erklrt und damit den wohl augenflligsten Unterschied zumentsprechenden Abschnitt bei Pseudo-Xenophon darstellt, kann nicht darber hinwegtu-schen, da sowohl bei Pseudo-Xenophon wie auch bei Thukydides zwei thematisch iden-tische und in ihrer Struktur deutliche Parallelen aufweisende Texte vorliegen.

    3.9 Parallelen zu anderen antiken Seemachtskonzeptionen

    Betrachtet man weiter die sechs Kriterien, auf die Mahan die Entwicklung von Seemachtzurckfhrt, so verweisen sie auf einen Kontext, der nach Aristoteles in der Antikedurchaus hufiger diskutiert wurde:64 Die g e o g r a p h i s c h e L a g e , H f e n , B e v l k e -r u n g s z a h l , A r t d e r R e g i e r u n g etc. sind Aspekte, die sich im Zusammenhang derBetrachtung von ordnungstheoretischen, politischen und verfassungstheoretischen ber-legungen finden. Parallelen lassen sich etwa in Thukydides Archologie65 oder auch als Gegenbild vom Standpunkt eines Kritikers der Seemachtskonzeption formuliert im4. Buch der Nomoi Platons sowie in der Politik des Aristoteles finden.66 Eine Zuord-nung zu den von Mahan herausgearbeiteten Kriterien ist unschwer mglich.

    63 Thuk. 1,140,2141,1 schiebt sich zwischen Parallelstelle VII und IV und trennt dadurch Parallelstelle VIIrumlich leicht von den anderen. Weiter fgt sich der Abschnitt Thuk. 1,144,14 in der Kriegsrede nochan die Parallelstellen an.

    64 Aristot. pol. 1327a 10 ff. So etwa auch die seemnnischen Fhigkeiten des attischen Demos im allgemeinen,die nicht nur von Pseudo-Xenophon und Thukydides thematisiert werden, sondern ebenso von Aristotelesund Xenophon (hell. 6,2,2730). Vgl. dazu ausfhrlich Gabrielsen (1994) 105 ff.

    65 Thuk. 1,217.66 Auf die Parallelen zu Aristoteles haben bereits Ceccarelli (1993) 455 ff. und Ltsch (2005) 209 hingewiesen.

    Zu Platon vgl. Constantakopoulou (2007) 96 f.

    KLIO 94 (2012) 1 69

  • In der Archologie des Thukydides wird die Genealogie der Thalassokratien67 von derZeit des Minos bis zur Entstehung des attischen Seereiches ebenfalls mit einer bestimm-ten Konstellation der geographischen Lage verbunden, whrend Platon invers dazu gerade die Entfernung von der Kste mit 80 Stadien als Bedingung seiner geplantenPolis nennt.68 Die physikalische Beschaffenheit des Landes findet sich bei Thukydides indem Argument von der Armut des attischen Bodens wieder, die die Besonderheit dieserRegion ausmache und die Autochthonie Attikas begrndet habe.69 In Platons Polis dage-gen soll der Boden besonders fruchtbar sein und darf aber andererseits auf keinen Fallden Holzanbau fr die Herstellung von Schiffen ermglichen.70 Die Ausdehnung desMachtbereichs einer Seemacht sieht Thukydides in engem Zusammenhang mit der Ent-wicklung der Handelsbeziehungen, whrend Platon dies fr seine Polis ausdrcklich ab-lehnt.71 Ebenso begegnet der Gedanke, da der Anstieg der Bevlkerungszahl eine ent-scheidende Voraussetzung fr die Entstehung einer Thalassokratie ist Platon hingegenwill die Bevlkerungszahl strikt begrenzen.72 Der N a t i o n a l c h a r a k t e r entwickelt sichbei Thukydides aus der spezifischen Erfahrung des Lebens im See- und Handelskontext,Platon wiederum vertritt demgegenber die Ansicht, da ein Volk zur Tugend durchGe s e t z e erzogen werden soll,73 also eben gerade seine Prgung nicht aus den Umstn-den der Geographie und der historischen Entwicklung erhalten sollte. Da schlielichauch das sechste Kriterium, der Einflu der Regierung, den beiden Werken zu entneh-men ist, berrascht dann nicht mehr: Thukydides verbindet die Entwicklung Athens zurSeemacht explizit mit der politischen Entwicklung in Athen, Platon hingegen kritisiertdenselben Kontext ganz offen.74

    Innerhalb der Einlassungen antiker Autoren zum Thema Seemacht nehmen allerdingsPseudo-Xenophon und Thukydides eine besondere Stellung ein: Der in der Kriegsrededes Perikles und in der Athenaion Politeia im Hinblick auf Athens Seemacht prsentierte,argumentative Zusammenhang ist przise und eindeutig auf das Thema der Seestrategieder Seemacht Athen ausgerichtet und nicht auf die allgemeine Frage, wie und unter wel-chen geographischen, politischen oder ordnungstheoretischen Bedingungen sich eine See-

    67 Momigliano (1944) 3. Zu der bewut unterschiedlichen Schwerpunktsetzung in der genealogischen Abfolgeim Vergleich zu Herodot: Irwin (2007).

    68 Thuk. 1,7,1 (hier in der Archologie wird die Entwicklung der Thalassokratien von Thukydides nicht mitdem Insel-Motiv bzw. der Insellage verbunden! Dazu i. e. unten); Plat. leg. 704a 1 ff.; vgl. 704c mit demBezug auf Kreta und 705a. Schpsdau (2003) 137143; Morrow (1960) 96100, der auch den Vergleichmit Aristoteles behandelt und diese Diskussion als von Aristoteles much debated bezeichnet zitiert: vgl.Aristot. pol. 1327a 1 ff. und 1330a 35 ff. und dazu Schtrumpf (2005) 313321.

    69 Thuk. 1,2,2.70 Plat. leg. 704c und 707cd zum Holz fr die Schiffe. Vgl. Aristot. pol. 1327a 30: sehr hnlich argumentiert

    schon der Autor der Schrift Hippokr. Ar. 12ff. Vgl. a. Aristot. pol. 1327b 20 ff.71 Thuk. 1,8,2 f.; Plat. leg. 704d705b.72 Thuk. 1,3,1; vgl. 1,2,25 und 1,15,1 zum attischen Bevlkerungsanstieg. Vgl. Plat. leg. 737e und rep. 460a

    5; Aristot. pol. 1327b 1 ff.73 Thuk. 1,18,4 und 7; Plat. leg. 708cd; vgl. dazu Ltsch (2005) 147 ff. und Constantakopoulou (2007) 90 ff.

    zu den Spezifika der Insularitt.74 Plat. leg. 712af; vgl. Aristot. pol. 1329a 1 ff. und 1331b 4 ff. (Auf 1327a 10 ff., wo er deutlich macht, da

    man das pro und contra dieser Aspekte seit langem diskutiert habe, verweist auch Katsaros [2001] 165ff.;dort 164 auch der Vergleich mit Isokr. Or. Panathenaikos 115,1116,4.) Thuk. 1,13. 1,14. 1,17,119,1 zuder politisch motivierten, stndigen bung als Ertchtigung fr den Seekrieg; vgl. dazu ausf. Weber (2010)105110; Constantakopoulou (2007) 124 f.; Ltsch (2005) 150 ff.; Starr (1978); Platias/Koliopoulos (2010)154 ff.; sowohl Starr als auch Koliopoulos kritisieren Mahan; Momigliano (1944) 17; Ober (2001) 90. Frdas 4. Jh. v. Chr. ausf.: Ceccarelli (1993) 451462.

    70 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • macht entwickelt. In beiden Passagen wird ein sehr spezieller, theoretisch-konzeptionellfundierter Zusammenhang formuliert, der zwar im greren Kontext des Themas See-macht steht, aber in dieser Art singulr auf die spezifische Situation Athens ausgerichtetist.75

    4. Das Verhltnis von Thukydides zu Pseudo-Xenophon

    Aus den beschriebenen Parallelen bei Pseudo-Xenophon und Thukydides ergibt sichzwingend, die Frage nach der Art der Abhngigkeit der beiden Autoren voneinander zustellen. Im Vordergrund der Diskussion ber den Ursprung der Parallelen steht dabei seitlangem der bis heute wirkmchtige thukydideische Text. Die in der antiken Literatur mit ganz wenigen Ausnahmen76 praktisch unbekannte Schrift, die dem Werk Xeno-phons zugewiesen wurde, wird in ihrer Bedeutung eher marginalisiert.77 Eine die ver-zweigte Argumentation stringent zusammenfassende bersicht hat Osborne gegeben:78

    Entweder waren Thukydides und Pseudo-Xenophon Zeitgenossen, die den gleichenKenntnisstand hatten und diesen in hnlichen, aber nicht identischen Formulierungenniedergeschrieben haben, eingearbeitet in ihren jeweiligen Kontext. Oder sie haben beidedieselben, fr die Zuhrer eindrcklichen Reden etwa des Perikles gehrt, so dadie argumentative Kohrenz und ganze Formulierungspassagen fest in ihrem Bewutseinverankert waren und bei der Abfassung der Werke wie selbstverstndlich abgerufen wer-den konnten. Drittens kann es nach Osborne sein, da Thukydides aus Pseudo-Xeno-phon schpfte oder viertens Pseudo-Xenophon aus Thukydides.

    Als entscheidend wird im allgemeinen die Frage nach der Richtung der Abhngigkeitangesehen, d. h. die Frage, ob Thukydides von Pseudo-Xenophon oder Pseudo-Xeno-phon von Thukydides abhngig ist. Gerade dies ist, wie schon mehrfach betont, fastimmer zugunsten von Thukydides entschieden worden.79 Auch die stilistischen Eigenhei-ten, die durchaus Aufschlu ber individuelle, generische oder in speziellen Abhngigkei-ten stehende Charakteristika geben knnen, sind im Hinblick auf die verwendeten Stil-mittel und -brche fr beide ausgiebig untersucht worden.80 Gerade fr Pseudo-Xenophon hat Katsaros in ihrer (leider bisher unverffentlichten) Dissertation sehr de-tailliert gezeigt, wie sich die Vorliebe des Autors fr antithetische Formulierungen undauch solche para prosdokian prgend fr den Charakter der Schrift auswirken.81 Je nach

    75 Ganz anders hat dies Gomme (1945) I 19 fr Thukydides bewertet: Thucydides gives no systematic ac-count, though he mentions much by the way.

    76 Weber (2010) 27 nennt zwei antike Erwhnungen der pseudo-xenophontischen Schrift: Poll. 7,167 und9,43 zu Xen. Ath. pol. 2,10; Stob. Florilegium 43,50 zu Xen. Ath. pol. 1,14 und 43,51 zu Xen. Ath. pol.2,20. Vgl. dazu auch Marr/Rhodes (2008) 29 und Katsaros (2001) 66. Hornblower (2000) 371 verweistdarauf, da sich die Tradition ber Diog. Laer. 2,57 immerhin bis auf Demetrius von Magnesia, d. h. bisins 1. Jh. v. Chr., zurckverfolgen lt!

    77 So sehr deutlich Hornblower (2000) 371, der davor warnt anzunehmen, da the molehill should havemoved the mountain. Sein Argument beschrnkt sich a. a. O. darauf festzustellen, da seiner Ansicht nachPseudo-Xenophon nicht in dieselbe Klasse von Autoren wie Hellanikos, Herodot und Euripides gehreund daher eine Bezugnahme auf ihn durch Thukydides unwahrscheinlich sei.

    78 Osborne (2004) 6.79 S. o. Anm. 78 mit der expliziten Formulierung bei Hornblower (2000) 367 und Marr/Rhodes (2008) 31 f.

    mit einer tabellarischen bersicht.80 Sehr ausfhrlich Katsaros (2001) und Lapini (1997).81 Katsaros (2001) 60 ff. zeigt, da der Autor a writer of a more sophisticated calibre than has been acknowl-

    edged in the past ist und billigt ihm (a. a. O. 218) durchaus eine theoretisch nicht unanspruchsvolle Posi-

    KLIO 94 (2012) 1 71

  • Bewertung dieser stilistischen und sprachlichen Mittel ist die Schrift als ein ernstgemein-tes oder im Gegensatz dazu als ein spielerisch-ironisches, eventuell sogar auch nur auseiner bloen Schulbung hervorgegangenes Werk einzuordnen,82 das entweder in dengesellschaftlich-politischen Kontext der Auseinandersetzung zwischen Demokraten undGegnern der Demokratie in Athen gehrt,83 oder aber auerhalb Athens einem Kreisvon Nicht-Athenern prsentiert wurde.84 Die zahlreichen, direkten Ansprachen verweisenzusammen mit den ironischen Seitenhieben auf eine Vortrags- bzw. Sprechsituation, dievon der eristischen Dialektik geprgt war, die vielleicht sogar einem hnlichen Kontext wieder Trugrede, etwa in der Art von Gorgias Lobrede auf Helena entsprechen knnte.85

    Unabhngig davon, ob es sich bei der Schrift von Pseudo-Xenophon um eine eri-stische, ironische oder lediglich zur rhetorischen Schulung formulierte Rede handelt, bleibtaber festzuhalten, da der argumentative Zusammenhang, insbesondere in 1,192,16 voneiner aufflligen Stringenz und Kohrenz ist, die ber das hinausgeht, was oben bereitsdurch den Vergleich mit Platon und Aristoteles gezeigt wurde. Aus dem Vergleich mitMahan wird ersichtlich, da man sich in der Antike sehr wohl mit einer konzeptionellausgearbeiteten Theorie der Seemacht auseinandergesetzt und da man dies pro und con-tra diskutiert hat.

    Die Textpassagen in der Kriegsrede des Perikles bei Thukydides und die damit vergli-chenen Passagen bei Pseuso-Xenophon gehen jedoch in ihren Gemeinsamkeiten darbernoch hinaus wie bereits oben anhand ihres inhaltlichen und strukturellen Zusammen-hangs gezeigt wurde. Gerade in diesen beiden Passagen stechen fast identische Formulie-rungen heraus wie etwa diejenigen, die die Inselmetaphorik verwenden.

    Die Beziehungen der Themen En tw i c k l u n g e i n e r S e em a c h t und I n s e l l a g esind in den letzten Jahren einige Male behandelt worden.86 Dieser Untersuchung desPhnomens der Insularitt gegenber ist das besondere der beiden hier in den Mittel-

    tion zu. Damit begrndet sie auch ihre Einordnung als sophistisch-literarisches Werk 162 ff. Auch Nakate-gawa (1995) 29 hat das Ziel: to give the author of AP a definite position in the history of ideas. DieVerwendung des Stilmittels para prosdokian Katsaros (2001) 66 ff.: 2,7 mit der Einfgung der Peloponnes alsSchlu der Aufzhlung weit entfernter Orte, von denen die Athener besondere Luxusgter und Delikates-sen importieren (Sizilien, Italien, Zypern, gypten, Lydien, Pontus-Gebiet); besonders deutlich etwa in Xen.Ath. pol. 2,15!

    82 Vgl. Marr/Rhodes (2008) 5 und 213. Sie sehen den Autor in enger Verbindung zu den Werken des Aristo-phanes und mchten daher auch sehr genau die Abfassungszeit auf 424 festlegen. Leduc (1976) 210 f. wie-derum will alles andere als eine ungelenke bzw. schlerhafte Arbeit in der Schrift sehen, da sie aus demVergleich mit den Figuren des Gorgias und Euthydemos bei Platon eine Charakterisierung als junger Olig-arch ableitet. Zu Pseudo-Xenophon als sowohl inhaltlich wie auch zeitlich der Sophistik zugehrig: Lapini(1997) 291 zu der Nhe zu Antiphon; Osborne (2004) 9; Marr/Rhodes (2008) 16 sehen in ihm sogarexplizit einen Schler Antiphons. Vgl. auch Cartledge (2009) 141; Weber (2010) 25.

    83 Marr/Rhodes (2008) 13 f.84 Low (2008) 258.85 Z. B. 1,19 fr das unabsichtliche Erringen der Seeherrschaft (dazu Katsaros [2001] 200) oder

    1,12, wo das Luxusleben der Sklaven beschrieben wird; 1,12 auch die Isegorie fr die Metken, wobei derAutor hier durch die Ironie noch deutlicher werden lt. Vgl. auch Ceccarelli (1993) 450 und Raaf-laub (1985) 277283, die hier ein Spiel mit der Doppelbedeutung der Isegorie als brgerlichem Recht derfreien Rede in der Ekklesie und als allgemeines Recht, seine Meinung frei sagen zu knnen, sehen. spricht hier allerdings eher fr eine Ironisierung des brgerlichen Rechts der Isegorie.

    86 Ltsch (2005) 150 f.; speziell zu den beiden Textpassagen bei Thukydides und Pseudo-Xenophon: Leduc(1976) 106 und 217 zu der Parallele zwischen Thuk. 2,38,1 und Xen. Ath. pol. 2,9 f.; Katsaros (2001) 158 ff.;Constantakopoulou (2007) 151 ff.

    72 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • punkt der berlegungen gestellten Textpassagen die auffllige bereinstimmung mit ei-nem Konzept von Seemacht, dessen strategische und machtpolitische Bedeutung erstwieder in der Moderne mit den Schriften Mahans seine Wirkung entfaltet hat. Die Ge-meinsamkeiten des Argumentationszusammenhangs und die strukturelle Kohrenz gebenAnla zu der Frage, ob wie fr Mahan in der machtpolitischen Entwicklung Englandsund der USA auch fr Thukydides und Pseudo-Xenophon fr den Zusammenhang vonSeemacht und Seestrategie ein Kontext rekonstruiert werden kann.

    Der Zusammenhang zwischen der Insellage und bestimmten Vor- und Nachteilen warim 5. Jh. v. Chr. offenbar ein vieldiskutiertes Thema. Aus der Zeit des ionischen Aufstan-des und der Unterwerfung Ioniens durch Kroisos berichten Herodot und Diodor mehre-re bemerkenswerte Aktionen,87 die genau diesen gesuchten Kontext zeigen:88 So soll derWeise Bias dem Lyderknig Kroisos den grundstzlichen Unterschied im strategischenEinsatz von See- und Landstreitkrften erlutert haben. Wiederum Bias, aber auch Heka-taios werden von Herodot fr die Zeit des ionischen Aufstandes als Protagonisten einervollstndigen Umsiedlung der ionischen Bevlkerung auf Inseln genannt. Hekataios sollweiterhin Aristagoras den Rat gegeben haben, sich vor den Persern auf der Insel Lerosin Sicherheit zu bringen und sich dort hinter einer Befestigung zu verschanzen, um sichso die Mglichkeit offen zu halten, Milet spter wieder zurckzuerobern.89 Eine etwasanders gelagerte Situation beschreibt Herodot in dem Scheitern des Aristagoras vor Na-xos, das aber wohl eher mit der guten Vorbereitung der Naxier zu erklren ist als mitder Insellage.90 Gemeinsam ist diesen Plnen und Ereignissen der Fokus Sicherheit: dieInsellage als Schutz vor Eroberung. Besonders deutlich wird dies im Vorschlag des He-kataios bei Herodot.

    Anknpfend an das Thema Insularitt ist jngst die These aufgestellt worden, dabereits Themistokles mit der Forcierung des Flottenbaus, der Anlage des Pirus und demersten Mauerbau ein Konzept entwickelt habe, Athen zu einer Insel werden zu lassen,um daraus militrischen Schutz und die strategischen Vorteile der Seekriegsfhrung frAthen zu sichern.91 Allerdings wird im Zusammenhang mit Themistokles und auch sonstin der antiken berlieferung, die chronologisch vor den beiden Passagen aus Thukydidesund Pseudo-Xenophon liegt, nie in irgendeiner Weise auf die Insel Athen Bezug ge-nommen. Der festungsartige Ausbau Athens zuerst in themistokleischer Zeit und auchspter in den 50iger Jahren und unter Perikles lt sich aber zwanglos als Errichtungeiner fortifikatorischen Stellung Athens im Sinne einer Seefestung deuten.92 Ein gravie-render Einwand gegen die These von der Insel Athen sind die zahlreichen Belege, diedie Insellage mit erheblichen, strategischen Nachteilen in Verbindung sehen, i n s b e s o n -

    87 Diod. 9,25 (mglicherweise ist der Rat auch von Pittakos gegeben worden); zur Entstehung der Vorstellungvon den Sieben Weisen vgl. Schubert (2010) 69 ff. Marr/Rhodes (2008) 103 ad Xen. Ath. pol. 2,2 weisendarauf hin, da das hier (2,2) und 2,14 verwendete mit doppeltem Sigma gebraucht ist.Die attischen Inschriften verwenden im Unterschied zu dieser ionischen Form das doppelte Tau. Allerdingsverwenden Pseudo-Xenophon, Thukydides und Antiphon, ebenso wie die Tragdiendichter, das doppelteSigma. Daraus knne sich eventuell ein Hinweis darauf ableiten, da das Konzept einer Thalassokratie inIonien entstanden ist.

    88 Hdt. 1,170,1 f.; dazu Asheri et al. (2007) 191.89 Hdt. 5,125; dazu Constantakopoulou (2007) 121.90 Hdt. 5,34.91 Constantakopoulou (2007) 137 ff.92 Beispiele bei Ober (1985) 34: Neben Naxos (Hdt. 5,34,1) auch Eretria (Hdt. 6,101,2) und eine Diskussion

    in Athen vor Marathon: Hdt. 6,109,1.

    KLIO 94 (2012) 1 73

  • d e r e im Kriegsfall.93 Auch die Eigensicht der Athener zeigt sie geprgt von einer Fest-landsperspektive in einem sogar im expliziten Gegensatz zur Insularitt formuliertenSelbstbewutsein.94 Gegenber diesem Festland Athen erscheinen die Inseln der gisals natrliche Untertanen,95 denn Inseln sind in der Regel leicht zu erobern, schwacheVerbndete und eher mit Verachtung als mit Respekt zu betrachten.96 Vorteile der Insel-lage sind natrlich durchaus auch bekannt und Teil der Diskussion gewesen, aber es zeigtsich immer wieder, da man nicht mit einer allgemein verbindlichen und eindeutigenStrategie rechnen kann, die auf der Vorstellung einer gnstigen Lage von Inseln beruht.

    Entscheidend ist hierbei jedoch ein weiterer Punkt: Die in den Passagen bei Thuky-dides und Pseudo-Xenophon vorgetragenen Aspekte der Seestrategie basieren nicht aufeiner Konzeption der Insel Athen, sondern sie nehmen vielmehr eine Ge g e n p o s i -t i o n dazu ein. Thukydides lt Perikles seine Worte (1,143,4) imIrrealis formulieren, d. h. er prsentiert seinen Lesern den Zusammenhang hier in demSinn, da es darauf hinausluft, da Athen, wie jeder Zuhrer einer solchen Rede desPerikles gewut und wie es jeder Leser auch realisiert haben mu, eben gerade keineInsel war und ist.97 Ebenso schreibt auch Pseudo-Xenophon von einer Gegenposition,die deutlich macht, da Athen keine Insel ist. Denn daraus, da Athen k e i n e Insel ist,ergibt sich seiner Ansicht nach der Nachteil, da die Athener sich nicht ganz so belverhalten knnen wie sie es eigentlich wollen. Die Gefahr, da ein feindliches Heer imeigenen Land steht und dieses verwstet, stehe den Athenern also vor Augen, ebenso dieGefahr, da sich Feinde im Inneren, die die Demokratie umstrzen wollen, auf demLandweg mit Verbndeten zusammenschlieen (Xen. Ath. pol. 2,14 f.). Da nun aber, wieder Autor explizit sagt, Athen eben keine Insel sei, haben die Athener eine Lsung ge-funden, die aus diesem Nachteil noch eine Strke macht: Sie bringen ihre beweglicheHabe bei einer Invasion bers Meer auf die Inseln, in der Regel Euba, und sehen gelas-sen zu, wie Attika und damit auch das eigene Land verwstet wird; um ihre Herrschaftund ihre Demokratie zu bewahren, nehmen sie die Zerstrung ihres Landes hin. Pseudo-Xenophon geht es also darum zu zeigen, da Athen scheinbar eine Schwche hat, es inWirklichkeit aber eben doch eine Strke fr sich daraus machen kann zumindest schei-nen das die Demokraten, zu denen er spricht und deren Argumente er prsentiert, zuglauben.

    Hier wird auch deutlich, da er davon ausgeht, da die Athener ihre strategische Posi-tion als Herrscher ber die Inseln eng mit ihrer demokratischen Ordnung verbunden

    93 Constantakopoulou (2007) 100 f. zu der Unsicherheit und Armut der Inseln: Xen. hell. 6,1,12; Archilochosbei Athenaios: Athen. 1,7f8b = Archil. F124 und Archil. F21 zu Thasos: vgl. Antiphon F50 Thalheim zuSamothrake sowie die Antwort der Andrier an Themistokles, wonach ihre Insel von Penia und Amechaniageprgt sei (Hdt. 8,111,2 f.). Zu Seriphos als Synonym fr Armut und Bedeutungslosigkeit: Constantako-poulou (2007) 103 f.

    94 Irwin (2007) 212.95 Diod. 11,41: Hier wird Themistokles ein Konzept der Seeherrschaft in den Mund gelegt, das bereits die

    Untertanenschaft der Inseln impliziert. Vgl. auch die Aktionen des Miltiades nach Marathon mit seinem(gescheiterten) Versuch, Paros (Hdt. 6,132 ff.) und diejenige des Themistokles nach Salamis, Andros zuerobern (Hdt. 8,111,2 f.).

    96 Constantakopoulou (2007) 112 f.97 Vgl. Xen. Ath. pol. 2,14: []; der Autor verwendet die Wendung insg. fnf Mal in

    diesem Abschnitt. Als u. W. n. einzige hat bisher Katsaros (2001) 252 diesem Aspekt, da es in der Passagedarum geht, da Athen k e i n e Insel ist, grere Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings klassifiziert sie diesals absurdity und fhrt den Gedanken nicht weiter. Fr die Stellung, die diese Passage im thukydideischenWerk hat, vgl. Schubert/Laspe (2009) 373 ff.

    74 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • sehen, alles auf die Herrschaftssicherung ausrichten und dabei hchst erfolgreich sind.98

    Thukydides dagegen legt Perikles anllich des Streites um eine mgliche Aufhebung desMegara-Beschlusses (1,139,1) einen Defensivplan in den Mund, der eine komplette Eva-kuierung der gesamten Bevlkerung und ihrer beweglichen Habe hinter die Mauern vor-sieht. Dies scheint, wenn man Plutarch Glauben schenken kann, auch tatschlich inAthen kontrovers diskutiert worden zu sein:99 Einerseits berichtet Plutarch hier im Ge-gensatz zu Thukydides, da Perikles davon ausgegangen sei, der Krieg wrde nicht langedauern,100 andererseits beschreibt er anschaulich, welcher Sturm des Widerstands inAthen gegen diesen Rckzug hinter die Stadtmauern entbrannte.101 Thukydides legt Peri-kles zwar diesen berhmten Defensivplan in den Mund, beschreibt aber, ebenso wie Plu-tarch, eine eindeutig offensive Kriegsfhrung des Perikles.102 Dies alles lt den berech-tigten Schlu zu, da die Kriegsrede bei Thukydides nicht die Funktion hat, eine realeKriegsplanung zu prsentieren, sondern ihm dazu diente zu zeigen, da schon zu diesemZeitpunkt die Hybris der Athener Herrschaft sie selbst zum Scheitern verurteilt hat.103

    Aus diesem Kontext wird zumindest deutlich, da beide Autoren im Rahmen der Dis-kussion ber Seemacht und Seestrategien nicht der Insellage die ausschlaggebende Be-deutung geben, sondern dem Konzept der Seemacht, aus der sich nach dem damaligenKenntnis- und Diskussionsstand bestimmte, fr Athen gnstige oder auch ungnstigeStrategien ergaben, die dann die beiden Autoren in ganz unterschiedlicher Weise in ihrenWerken verarbeitet haben.

    Interessant ist, da Pseudo-Xenophon in 2,1416 genauso indirekt formuliert wieThukydides und daher ist auch immer angenommen worden, da es sich um eine Phrasegehandelt hat, die bekannt gewesen sein mu.104 Eine weitere, in diesem Zusammenhanggenauso aufschlureiche Formulierung, wird von beiden im Kontext der Diskussion umAthens Seemacht verwendet:105

    Xen. Ath. pol. 1,8: , . , ,

    Eine Stadt wre also nicht mit einer solchen Lebensweise wohl diebeste, aber die Demokratie wrde so am ehesten erhalten. Denn dasVolk will nicht in einer Stadt mit guten Gesetzen selbst Sklave sein,sondern frei sein und herrschen, der Zustand mit schlechten Gesetzenkmmert dagegen wenig.

    98 Anders Ceccarelli (1993).99 Plut. Perikles 34,4.

    100 Plut. Perikles 34,4 und im Gegensatz dazu spricht Perikles in Thuk. 1,141,4 davon, da sich der Kriegentgegen der Erwartung der Spartaner in die Lnge ziehen werde.

    101 Plut. Perikles 33; in Perikles 33 f. auch die Beschreibung der Flottenexpedition gegen die Ksten der Pelo-ponnes und die Feldzge gegen Megara und Epidauros.

    102 Schubert/Laspe (2009) zu den auf seine Initiative hin und z. T. unter seiner eigenen Leitung durchgefhr-ten, offensiven Feldzgen in den ersten Kriegsjahren.

    103 Schubert/Laspe (2009) 373 ff.104 Romilly (1962) 228 f. Hornblower (2000) 367 ff. Katsaros (2001) 251 ff.105 Vgl. Thuk. 2,63. Zu Xen. Ath. pol. 1,8 Weber (2010) 80 f.

    KLIO 94 (2012) 1 75

  • Diese politische Konnotation findet sich auch in einem vergleichbaren Kontext bei He-rodot 1,170: Damit die Ionier frei sein und herrschen knnen, legt Herodot Bias denVorschlag in den Mund, da alle ionischen Griechen nach Sardinien auswandern sollten,um sich die Insel zu unterwerfen.106 Diese Art des Selbstbewutseins sieht Aristoteles inAthen nach Salamis durch den nautikos ochlos herangewachsen, der sich aufgrund der See-macht die Demokratie in Athen erkmpft.107 Der Autor der Athenaion Politeia beschreibtdiese Entwicklung vom anti-demokratischen Standpunkt her, wie an seiner Verwendungdes Eunomia-Konzeptes deutlich wird.108 Die politische Konnotation mit dem Motivdes Freiseins und Herrschen, einer vorrangig mit der attischen Macht im Seebund ver-knpften Herrschaftskonzeption, steht eng zusammen mit der Geschichte Athens in derzweiten Hlfte des 5. Jh. v. Chr., wird hier jedoch von Pseudo-Xenophon in die Innen-politik getragen. Damit ist ein weiterer Anhaltspunkt dafr gewonnen, da die Entwick-lung dieser konzeptionell kohrenten Theorie der attischen Herrschaft als Seemacht undihrer Seestrategie in einer Epoche zu verorten ist, in der die attische Herrschaft bereitsetabliert und mit ihrer inneren Konsolidierung gegenber antidemokratisch-oligarchi-schen Tendenzen beschftigt ist. Dies ist die innenpolitische Situation in Athen, die mitder Auseinandersetzung zwischen Thukydides, Sohn des Melesias, und Perikles, u. a. beiPlutarch, als tiefgreifend und auch erstmals mit gegenstzlichen Konzepten politischerArt verbunden, beschrieben wird.109

    Fr das Verhltnis zwischen Thukydides und Pseudo-Xenophon ergeben sich Anhalts-punkte daraus, welche Rolle der Zusammenhang von Seemacht und Seestrategie in demjeweiligen Werk einnimmt, denn die Parallelstellen verweisen auf eine deutliche Intertex-tualitt. Thukydides beginnt sein Werk in der Archologie mit dem Thema der Seemachtganz allgemein, ihren Bedingungen und ihrer Entwicklung. Dieser Anfang ist program-matisch und das Thema hier in seiner herausgehobenen Position kaum strker zu beto-nen.110 Demgegenber geht es Pseudo-Xenophon nicht primr um Seemacht und See-strategie in ihren macht- und herrschaftspolitischen Konstellationen, sondern um dieDemokratie Athens, die auch wenn der Autor selbst dies nicht als ideal ansieht alsin sich perfekt funktionierendes System beschrieben wird. Insofern ist das Thema in sei-ner Schrift ein anderes und auch die Richtung der Argumentation ist anders ausgerichtetals bei Thukydides. Doch beide schreiben hier wie im Fall der Inselrhetorik voneiner Gegenposition aus, d. h. sie wenden sich gegen eine ihnen vor Augen stehendeMeinung: Sowohl Thukydides als auch Pseudo-Xenophon beziehen sich auf eine kritischeSicht der Demos-Herrschaft, die in beiden Passagen durch ihre Stellung am Anfang bzw.

    106 Xen. Ath. pol. 1,8; Thuk. 3,45,6: vgl. zu dem Verhltnis zu Herodot Hornblower (1997) II 122 f. und 138 ff.107 Aristot. pol. 1304a 2228. Vgl. Aristot. Ath. pol. 24,1; dazu Constantakopoulou (2007) 157 und Ceccarelli

    (1993) 445 mit Verweis auf Aischyl. Pers. 728 und Hdt. 7,139; zur Eunomia: Katsaros (2001) 149 f. und229 f.

    108 Ausf. bei Weber (2010) 81; Katsaros (2001) 145149; Lapini (1997) 70 ff., dort auch zu dem Bezug aufSolon (frg. 4 West); Parallelen fr bei Lapini a. a. O.: Aristoph. Vesp. 515518;Eur. Phoen. 520; Dem. 1,23. 10,4. Zu dem historischen Hintergrund: Blsel (2000) 83 ff.; Raaflaub (2006)392 f.

    109 Plut. Perikles 11. Vgl. dazu Schubert (2008). Eine hnliche Bewertung dieser Jahre bei Leppin (1999) 34.110 Zu diesem Ergebnis im Hinblick auf die Wichtigkeit, die dieses Thema fr das thukydideische Werk hat,

    kommt auch Irwin (2007) in ihrer Untersuchung, die deutlich zeigt, wie vllig anders Herodot mit diesemThema umgeht. Vgl. Starr (1978) 344 f.; anders Ceccarelli (1993) 466, die im Hinblick auf die Genealogieder Thalassokratien keinerlei Verbindung zur Demokratie Athens einrumen will.

    76 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • am Ende der untersuchten Passagen (Parallelstelle VII) herausgehobenen wird: Pseudo-Xenophon schliet den Abschnitt ber die Seekriegsfhrung der Seemacht Athen mit dergrundstzlichen Kritik am demos apistos,111 der sich weder geschlossenen Vertrgen nochBndnissen noch den eigenen Beschlssen verpflichtet sieht.112 Thukydides wiederumgibt als Anla der perikleischen Kriegsrede die Diskussion in Athen an, die um die For-derung der Spartaner gefhrt wurde, das sog. Megarische Psephisma aufzuheben erverwendet also genau die entgegengesetzte Position, nmlich die Ansicht des Perikles,da die Athener bei ihren einmal gefaten Beschlssen bleiben sollen. Seine Begrndungist, da sie bei einem Nachgeben ihre Freiheit und natrlich auch ihre Herrschaft verlie-ren wrden.

    Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist nun, da sich bei Pseudo-Xeno-phon keine konkreten und eindeutigen Hinweise auf die Situation des PeloponnesischenKrieges finden, im Gegenteil, die gesamte Schrift ist geprgt von einer weder durchKrieg oder die Schwchung durch eine Seuche angefochtenen Herrschaft des attischenDemos. Doch ist die Schrift auch geprgt von dem Gegensatz zwischen Demokratenund Oligarchen, also einer Auseinandersetzung, die in der Mitte der 40iger Jahre ange-fangen hat und zusammen mit dem Kriegsausbruch sowie der Seuche den zeitlichenRahmen der Entstehung absteckt.113 Die hier untersuchten Passagen basieren auf derVoraussetzung des E r f o l g s der attischen Verbindung von Seemacht und Seestrategie.Thukydides Kontext hingegen verweist in der Perikles-Rede, die heute mit dem ganzenPerikles-Bild des Thukydides in der Regel zu den ganz spten, wohl erst nach demKriegsende von 404 v. Chr. fertiggestellten Passagen gerechnet wird,114 auf den M i e r -f o l g dieser Strategie, auch und gerade unter dem Eindruck des Kriegsendes, das denVerlust der attischen Seemacht und des attischen Seereiches, bedingt durch den Verlustder Flotte, bedeutete.

    5. Schlu

    Im Hinblick auf das Verhltnis von Pseudo-Xenophon und Thukydides sprechen die be-schriebenen Parallelen und Gemeinsamkeiten in ihrer Gesamtheit deutlich fr einen in-tertextuellen Zusammenhang der hier betrachteten Passagen, ordnen sich also der Posi-tion drei oder vier der von Osborne formulierten Mglichkeiten zu. So lassen sich dieParallelitten nicht aus einem natrlichen, von der Sache her gebotenen Kontext erklrenund stammen auch nicht aus einem in der communis opinio verankerten couranten Wissen.Vielmehr zeigt sich, da ein Autor Passagen aus einem ihm vorliegenden Text des an-deren Autors in seinen eigenen bernommen haben mu. Da Thukydides als der spterschreibende Autor fr die in Rede stehenden Passagen nach dem Kriegsende von404 v. Chr. sich dabei auf den frheren Text Pseudo-Xenophons nach unserer Ansichtaus der Zeit zwischen der Mitte der 40iger Jahre und der Anfangsphase des Peloponnesi-schen Krieges stammend bezieht, betrachten wir als eine naheliegende Konsequenz.

    111 Vgl. Thuk. 8,70,2; Weber (2010) 128.112 Lapini (1997) 221 f. zur versa fides des Demos in den Augen der Oligarchen. Weber (2010) 129 denkt hier

    an die Pylos-Episode, als die Athener den Spartanern die Schiffe nicht zurckgaben (Thuk. 4,23,1; vgl.Thuk. 6,105,1 und 7,18), sowie an Plat (Thuk. 2,73,3 mit 2,27. 2,9. 2,7178. 3,5268).

    113 Vgl. Datierung bei Bowersock (1966), Herrmann-Otto (1997) 134 und Leppin (1999) 34. Weitere bei We-ber (2010) 21, Anm. 69.

    114 Etwas anders Meier (2006) 148150, der die Kriegsplanrede zwar fr spt hlt, jedoch fr den Epitaphios(a. a. O. 151165) eine Frhdatierung in Erwgung zieht.

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  • Sicher wre auch eine andere Mglichkeit denkbar, da nmlich beide einen weiterenAnonymus vor sich hatten. Fr diesen haben wir allerdings keinen Anhaltspunkt, wedernamentlich noch inhaltlich.115 Es bleibt in diesem Punkt also bei der nicht neuen Feststellung, da die Schrift Pseudo-Xenophons die ltere ist.

    Darber hinausgehend zeigt der Vergleich, da die Aussagen bei Pseudo-Xenophon zuSeemacht und Seestrategie weitgehend konform zu den Einsichten sind, zu denen erstwesentlich spter Mahan am Ende des 19. Jh. in seinen Sea-Power-Abhandlungen ge-langte. Die kurze antike Schrift offenbart daher militrtheoretische Erkenntnisse, die bisins Atomzeitalter noch ihre absolute Gltigkeit haben.116 Das Meer ist nicht fr jedengleich. Eine gnstige geographische Lage kann auf die Ausbildung einer Seemacht einenbestimmenden Einflu ausben, mit der Insellage als einem Ideal. Schiff ist nicht gleichSchiff. Der Wert einer Flotte erschpft sich nicht in der bloen Anzahl der Schiffe.Rekrutierung, Verfgbarkeit und Ausbildungsstand der Mannschaften sind mindestensebenso wichtige Kriterien, wenn es um die maritime Machtentfaltung eines Landes geht.Wer das Meer beherrscht, beherrscht den Handel, woraus sich die enge Abhngigkeitvon Seemacht und Seehandel ergibt. Eine Flotte lt sich nicht improvisieren.117 Frden Aufbau einer starken Flotte bedarf es des staatlichen Willens und seiner organisato-rischen Kraft.118 Das Segel ist schneller als die Sandale. Die Fernwirkung der Flotte er-laubt es einer Seemacht, auch in Regionen militrisch aktiv zu werden, die zu Lande nurwesentlich schwerer oder gar nicht zu erreichen wren.

    Die groen Militrtheoretiker der Geschichte, angefangen bei Sun Tzu, ber die anti-ken Schreiber wie Aineias Taktikos und Onosander, hin zu den modernen Autoren wieClausewitz, Jomini und Liddell Hart, betrachteten in ihren Schriften ausschlielich denLandkrieg. Die Bedeutung der pseudo-xenophontischen Schrift liegt daher eben auchdarin, da sie neben Mahans Verffentlichungen in moderner Zeit die einzig berliefertemilitrtheoretische Abhandlung ber Seestrategie ist. Nimmt man die Zeit zwischen den40iger Jahren und der Anfangsphase des Peloponnesischen Krieges als Entstehungszeit-raum an, dann macht das aus Pseudo-Xenophons Staat der Athener nach Sun TzusKunst des Krieges die zweitlteste berlieferte militrtheoretische Schrift der Mensch-heit berhaupt und die lteste berlieferte militrtheoretische Schrift der westlichen Welt.

    Zusammenfassung

    Die aus der Feder eines Unbekannten stammende Schrift Athenaion Politeia ist seit langemGegenstand einer intensiven altertumswissenschaftlichen Forschung/Diskussion. Die mi-litrtheoretischen Aspekte dieser Quelle wurden aber bislang weitgehend vernachlssigt.Der vorliegende Beitrag versucht gerade diese Lcke zu schlieen. Dazu wurde in einemersten Schritt anhand eines Vergleichs mit dem Klassiker und Wegbereiter der modernen

    115 Momigliano (1944) 2 ist der Ansicht, da Stesimbrotos von Thasos (Plut. Themistokles 4) in seiner Schriftber Themistokles, Thukydides und Perikles einen solchen Angriff auf die attische Seemacht geschriebenhabe; anders Jacoby (FGrH 107) zu Stesimbrotos von Thasos F2, der den Kontext (die Athener sinddurch die Hinwendung zum Meer verdorben worden) auf Plat. leg. 706c bezieht, den Plutarch in diesemSatz auch zitiert. Insofern ist Stesimbrotos hier als Kandidat zu vage.

    116 Richmond (1947) 9: The writer known as the old Oligarch described the benefits of this control [of thesee] in terms that might almost have been written today; terms the thread of which runs through thewritings of Corbett and Mahan. Vgl. auch Wolter in der Einfhrung zu Mahan (1967) 713.

    117 Mahan (1967) 148.118 Die Wikingerflotten mgen in diesem Zusammenhang eine Ausnahme sein, die die Regel besttigt.

    78 D. Laspe/C. Schubert, Seemacht, Seeherrschaft und Seestrategie

  • Seemachts- und Seestrategie, A. T. Mahan, der hohe Grad an inhaltlicher bereinstim-mung in Fragen der Seemachtskonzeption mit der pseudo-xenophontischen Schrift auf-gezeigt.

    In einem zweiten Schritt wurde anhand der sich mit Seestrategie auseinandersetzendenPassagen Pseudo-Xenophons und der Kriegsrede des Perikles im Werk des Thukydides(1,140144) das Verhltnis der beiden Schriften zueinander untersucht. Wir kommen da-bei zu dem Ergebnis, da aufgrund starker inhaltlicher und struktureller Parallelen eineAbhngigkeit des Thukydides von Pseudo-Xenophon am wahrscheinlichsten ist.

    Somit nimmt die pseudo-xenophontische Athenaion Politeia einen zentralen Platz als er-ste unter den militrtheoretischen Schriften der westlichen Welt ein.

    Summary

    The Pseudo-Xenophontic treatise on the Athenaion Politeia has been the subject of livelyscholarly debate. Much scholarly attention has been lavished on the date of the treatise,but there has been little or no attention paid to aspects of military theory. The paper istrying to fill this gap. This was shown in a first step on the basis of a comparison withthe pioneer of modern sea power and naval strategy, A. T. Mahan. The Pseudo-Xeno-phontic treatise on the Athenaion Politeia shows not only intertextual relations, but also ahigh degree of similarity in the strategic analyses: our comparison shows clear parallelsbetween Mahans concept of sea power and the Pseudo-Xenophontic treatise.

    In a second step, the passages from Pseudo-Xenophon, which deal with sea powerand naval strategy, were compared with the war speech of Pericles in Thucydides(1,140144). We come to the conclusion that the similarities in form, structure and con-tent suggest a dependence of Thucydides from Pseudo-Xenophon.

    Thus, the Pseudo-Xenphontic Athenaion Politeia takes a central place in the canon ofstrategic thought as the first treatise on military theory in western thought.

    Key words: Pseudo-Xenophon, Mahan, Thukydides, Seemacht, Seeherrschaft, Thalasso-kratie

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