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Bekim Sejranovic: Nirgendwo, nirgendher. Auszug. Partner + Propaganda | Christine Koschmieder | 0341 99 39 177 | [email protected] Bekim Sejranović: Nirgendwo, nirgendher Übersetzung: Boris Perić | Übersetzungslektorat: Christine Koschmieder Originaltitel: Nigdje, niotkuda. (Profil, Zagreb 2008). Roman, 254 S. Ausgezeichnet mit dem Meša Selimovic-Preis 2009 IV 1. Dino und Natascha Gleich da, wo unsere Straße anfängt, steht auf der linken Seite ein Haus mit grüner Fassade. Die glitzert als wäre sie mit Brillanten besetzt. Mein Freund Dino, der da wohnt, behauptet, dass es die Sandkörner sind, die so glitzern, und der Sand sei Bestandteil des Mörtels, mit dem die Fassade verputzt ist. Ich hab ihm das nicht abgekauft und versucht, ihn zu überreden, die Brillanten aus dem Putz zu kratzen und damit reich zu werden. Aber er wollte nicht, und immerhin war es ja sein Haus, außerdem hatte er Schiss vor seinem Großvater. Seit seine Eltern offiziell geschieden waren, war sein Vater weggezogen und deswegen wohnte Dino mit seiner Mutter bei seinen Großeltern. Zu seiner Großmutter sagte er Mutter, genau wie ich zu meiner. Ich war eifersüchtig auf Dino: nicht nur, weil er der bessere Fußballer war und von der Statur her viel eher als Bruce Lee durchging als ich, nein, am unerträglichsten war, dass auch noch Natascha in ihn verknallt sein musste. Irgendwann, als wir noch viel kleiner waren, war diese Familie aus Srijem bei Dino im Haus eingezogen. Die hatten eine Tochter – nämlich Natascha - und einen Sohn, Mališa. Ihr Vater spielte Fußball und war Torwart beim FC Einheit in der Zweiten Liga West. Natascha war blond und süß und von Anfang an in Dino verknallt. Mir lag gar nicht so viel an Natascha, aber es ging mir gegen den Strich, dass sie sich ausgerechnet in Dino verliebte, der sie ununterbrochen fertig machte, ihr an den Haaren

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Bekim Sejranovic: Nirgendwo, nirgendher. Auszug.

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Bekim Sejranović: Nirgendwo, nirgendher

Übersetzung: Boris Perić | Übersetzungslektorat: Christine Koschmieder

Originaltitel: Nigdje, niotkuda. (Profil, Zagreb 2008). Roman, 254 S. Ausgezeichnet mit dem Meša

Selimovic-Preis 2009

IV

1. Dino und Natascha

Gleich da, wo unsere Straße anfängt, steht auf der linken Seite ein Haus mit

grüner Fassade. Die glitzert als wäre sie mit Brillanten besetzt. Mein Freund Dino, der

da wohnt, behauptet, dass es die Sandkörner sind, die so glitzern, und der Sand sei

Bestandteil des Mörtels, mit dem die Fassade verputzt ist. Ich hab ihm das nicht

abgekauft und versucht, ihn zu überreden, die Brillanten aus dem Putz zu kratzen und

damit reich zu werden. Aber er wollte nicht, und immerhin war es ja sein Haus,

außerdem hatte er Schiss vor seinem Großvater. Seit seine Eltern offiziell geschieden

waren, war sein Vater weggezogen und deswegen wohnte Dino mit seiner Mutter bei

seinen Großeltern. Zu seiner Großmutter sagte er Mutter, genau wie ich zu meiner.

Ich war eifersüchtig auf Dino: nicht nur, weil er der bessere Fußballer war und

von der Statur her viel eher als Bruce Lee durchging als ich, nein, am unerträglichsten

war, dass auch noch Natascha in ihn verknallt sein musste. Irgendwann, als wir noch

viel kleiner waren, war diese Familie aus Srijem bei Dino im Haus eingezogen. Die

hatten eine Tochter – nämlich Natascha - und einen Sohn, Mališa. Ihr Vater spielte

Fußball und war Torwart beim FC Einheit in der Zweiten Liga West.

Natascha war blond und süß und von Anfang an in Dino verknallt. Mir lag gar

nicht so viel an Natascha, aber es ging mir gegen den Strich, dass sie sich

ausgerechnet in Dino verliebte, der sie ununterbrochen fertig machte, ihr an den Haaren

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zog, unanständige Lieder sang, furzte, rülpste und all sowas, und trotzdem konnte sie

nicht aufhören, ihn mit ihren naiven blauen Augen fast zu verschlingen. Um sie von ihm

abzubringen, hab ich ihr irgendwelche Lügenmärchen aufgetischt. Aber trotz meiner

abenteuerlichen Geschichten und Erlebnisse hat sie sich immer nur über mich lustig

gemacht. Dino hingegen musste nur kommen, tief aus seinem Magen einen Rülpser aus

aufsteigen lassen und dazu „Knooooorr“ sagen, wie in der Werbung für Knorr-

Brühwürfel, und sofort hat Natascha in die Hände geklatscht, ein Duckface aufgesetzt,

„iiih, was bist du eklig!“ gesagt – und ist ihm dann trotzdem weiter hinterhergelaufen.

Einmal hab ich Natascha nach ihrer Mutter gefragt. Sie hätte keine Mutter, nur

eine Großmutter in Sremska Mitrovica, aber die sei schon verstorben. Ich wusste nicht,

was verstorben bedeutet, und deswegen ist es mir passiert, dass ich irgendwann mal

auf diese verstorbene Großmutter geschimpft habe und Natascha deswegen weinen

musste. Seitdem wollte sie nicht mehr mit mir sprechen. Ich hab dann Susanna gefragt,

was verstorben bedeutet. „Das ist, wenn jemand tot ist, kapiert?“

2. Pele und Liso

Pele, der auf der Straßenseite gegenüber wohnte, war blond und garstig. In

seiner Gegenwart musstest du wie ein Schießhund aufpassen, was du gesagt hast, weil

der immer sofort ausgerastet ist und, was es noch schlimmer machte, dann richtig

hinterhältig werden konnte. Ein falscher Ton und er hat dich tagelang gepiesackt, schon

die belangloseste Kleinigkeit hat ausgereicht, um ihn auf 180 zu bringen. Sein Bruder,

der war zwei Jahre älter, hieß Liso, das bedeutet Fuchs. Ich weiß noch, wie ich mal zu

Dino gesagt hab, dass Liso ja irgendwie ein echter Fuchs ist, erst andere zu

Dummheiten anstiften und sich anschließend auf ihre Kosten lustig machen. Und

natürlich haben immer alle mitgespottet. Wer letztendlich am meisten unter seinen

grausamen Späßen zu leiden hatte, war sein Bruder Pele, der dann seinerseits keine

Gelegenheit ungenutzt gelassen hat, sich mit einer Schlägerei zu revanchieren.

Gnadenlos sind die aufeinander losgegangen und haben sich angebrüllt wie bekloppt.

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Aber hätte einer von uns sich gewagt, Pele zu beschimpfen, hätte Liso sich sofort auf

den gestürzt. Allerdings konnte Pele es nicht ausstehen, von seinem Bruder verteidigt

zu werden, und ist dann gleich auf beide losgegangen, also auf Liso und auf den, mit

dem er eigentlich im Clinch lag.

3. Fußball

Dino und Pele waren Partizan-Fans, Liso und ich hingegen für Zvezda, was

natürlich Anlass zu Dauerkonflikt bot: welche Mannschaft ist toller, wer hat mehr

Meisterschaften gewonnen, wer ist der bessere Spieler, Momčilo Vukotić oder Vladimir

Petrović Pižon? Von uns war ich der schlechteste Spieler und Liso der beste. Also

spielten immer Liso und ich gegen Pele und Dino.

Eigentlich ist mir schon damals klargeworden, dass Fußball das absolut

Schlechteste in jedem Menschen zum Vorschein bringt. Unsere Konflikte, die nicht

selten in blutige, kleine Kriege ausarteten, wurden regelmäßig durch die Tatsache

ausgelöst, dass wir keine richtigen Tore hatten. Also haben wir die improvisiert, aus

Steinen oder den Oberteilen unserer Trainingsanzüge oder wir haben einfach Pflöcke in

den Boden gesteckt. Das hätte auch funktionieren können, vorausgesetzt, der Ball wäre

eben wirklich einfach nur durchs Tor gerollt, aber so war es ja nie. Fast jedes Mal kam

er über die Flanke, flog also oberhalb der Steine oder eins von unseren

Kleidungsstücken entlang. Und wenn er wirklich mal mitten im Tor gelandet ist, hat

natürlich sofort einer behauptet, er sei zu hoch, also übers Tor hinausgeschossen. Der

imaginierte Balken, den unsere stillschweigende Vereinbarung vorsah, befand sich

ungefähr auf Kniehöhe. Das Problem war nur, nach wessen Knie sollten wir uns richten,

wir waren ja alle unterschiedlich groß.

Und genau da ging dann der Streit los: war das ein Tor oder war es keins?

Vollkommen sinnlos, dass wie alle nacheinander unsere Mütter, Väter, toten Großväter

und Großmütter beschworen. Keiner gab nach und schließlich endete alles in einer

Prügelei. Die Unterlegenen mussten dann dem anderen Team den Sieg zugestehen.

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Bei meiner Mutter zu schwören, beinhaltete für mich die geringste Tragweite, bei

meiner Mutter schwor ich nur bei kleineren Streitereien. Schwerer wogen da schon ein

toter Großvater oder eine tote Großmutter, unabhängig davon, ob sie wirklich tot waren

oder noch lebten. Und wenn es wirklich um etwas ging, dann schwor ich bei Tito.

4. Soll Tito doch verrecken

Es war ein Sonntag und wir kickten hinter der technischen Schule. Eigentlich auf

dem Lehrerparkplatz, einer ungleichmäßig betonierten Fläche, aber für Fußball mit

Aushilfstoren völlig ausreichend. Wir spielten in der üblichen Aufstellung, Liso und ich

gegen Pele und Dino. Beziehungsweise das Derby Zvezda gegen Partizan.

Für dieses spezielle Sonntagsderby hatten wir sogar Trikots. Liso und sein

Bruder Pele waren irgendwie an echte rangekommen, Liso trug eins von Zvezda, Pele

eins von Partizan. Sie sahen wirklich fast wie ihre Vorbilder aus, sogar mit Nummern auf

dem Rücken, Liso die Sieben, Pele die Neun, allerdings waren ihm die Ärmel viel zu

lang und er musste sie dauernd hochschieben.

Ich trug auch ein Zvezda-Trikot, aber nicht so eins wie Liso. Ich hatte meins von

meinem Vater bekommen, ursprünglich ohne Rückennummer. Erst meine Mutter hat mir

später eine weiße Fünf draufgenäht, eine irgendwie schiefe, traurige Fünf.

Ursprünglich war das mal ein Trikot vom FC Kozara aus Bosanska Gradiška, ein

rotes Hemd mit zwei weißen Streifen auf der Vorderseite. Ich hatte meinen Vater darauf

hingewiesen, dass es nicht für ein Zvezda-Hemd durchginge, die weißen Streifen waren

zu schmal, auf dem Zvezda-Trikot sind die weißen und roten Streifen gleich breit und

symmetrisch angeordnet. Daraufhin hatte mein Vater grimmig geguckt und behauptet,

das mache keinen Unterschied.

- Ist es rot-weiß? Ja. Also was? – Der Blick, mit dem er mich dabei bedacht hat,

gehört zu denen, die die augenblicklich jeden Widerspruch über Bord werfen lassen.

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Als der Ball plötzlich unerwartet auf mich zurollte, stand es 3:2 für Partizan.

Zwischen dem Tor und mir nur Dino, der sich in Position brachte, um mir den Ball

abzunehmen. Dribbeln hatte ich nicht sonderlich gut drauf, also drosch ich auf Teufel

komm´ raus los. Der Ball schoss Dino ans Bein, prallte schräg ab und landete hinter

dem Tor. Liso und ich brüllten auf:

- Tooooooor! – worauf die beiden von Partizan erwiderten: - Träumt weiter, der

Ball ist von der Latte abgeprallt, das war ein Abseits!

Unsere Torlatten markierten heute zwei Steine, der Ball war über den linken

hinweggeschossen, ob von außen oder von innen, lässt sich da wirklich schwer sagen.

Also kriegten wir uns in die Haare und mussten nacheinander all unsere Vorfahren

beschwören, lebendig, tot, egal.

Lisos und Peles Großväter lebten noch, also fluchte Liso:

- Mein Großvater soll verrecken, wenn das kein Tor war!

Pele brüllte: - Mein Großvater UND meine Großmutter sollen verrecken, wenn es

eins war!

Jetzt lag es bei Dino und mir, die Entscheidung herbeizuführen. Es brauchte ganz

klar härtere Argumente als Großväter und Großmütter.

Dino fing an: - Wenn das ein Tor war, dann will ich Tito nicht mehr lieben! Nehmt

das.

- Aaaaah – schrie ich. – Du liebst Tito nicht mehr! Dino liebt Tito nicht mehr!

- Wer liebt Tito nicht!? – patzte der zurück. – Schwör doch was Besseres, wenn

du dich traust.

Liso und Pele fingen an zu brüllen: - Los, los!

Liso kreischte: - Los, schwör! Es war ein Tor, so wahr mir Tito helfe, ich hab´s

genau gesehen.

Pele brüllte: - Von wegen Tor! Los, lass ihn bei Tito schwören, wenn er sich traut.

Was blieb mir anderes übrig?

Ich sagte: - Es war ein Tor, bei Tito, es war ein Tor!

Und plötzlich grinst Dino mich hinterhältig an: - Los, sag schon, falls du dich

traust: Tito soll verrecken, wenn das kein Tor war!

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Ich zögerte kurz. Hundert Prozent sicher war ich mir auch wieder nicht, dass es

ein Tor war, aber was sollte ich machen? Und sie konnten es ja auch bloß nicht wissen.

- Tito soll auf der Stelle verrecken, wenn das kein Tor war!

Plötzlich sagte keiner mehr was. Das war´s. Einen stärkeren Schwur gab es

nicht. Man musste nur die Courage haben, ihn auszusprechen.

- Ihr habt´s nicht anders gewollt, dann eben drei zu drei, aber dafür werdet Ihr

jetzt büßen – zischte Pele und wechselte dabei Blicke mit seinem Bruder, der boshaft

kicherte.

5. Tito ist tot, wer hätte das gedacht

Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es damals ein Tor war oder nicht, aber

zumindest ist Tito nicht auf der Stelle gestorben, sondern erst sieben Tage später.

Dino und ich übten auf der Straße Zuschießen, spielten uns gegenseitig den Ball

zu, nur eben ohne Tore. Plötzlich kam Dinos Mutter auf uns zugelaufen. Dino konnte sie

nicht sehen, weil er mit dem Rücken zu ihr stand, und so sah nur ich sie die Straße

runtergekommen. Sie wirkte völlig außer sich und hatte ein grünes Hauskleid aus

Frottee an.

Jetzt kriegt Dino Ärger, ist es mir durch den Kopf geschossen und hatte kurz

Mitleid mit ihm, aber wirklich nur kurz.

In dem Moment, als sich mein vorübergehendes Mitleid in Schadenfreude

verwandeln wollte, rief sie:

- Dino, sofort nach Hause! Tito ist gestorben!

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, drehte sie sich auch schon wieder

um marschierte ins Haus. Der Ball, den ich Dino gerade zugespielt hatte, war vor seinen

Füßen zum Stillstand gekommen und kurz setzte er sich drauf, dann fiel er auf die Knie

und starrte mich erschreckt an, als wäre ich ihm eine Erklärung schuldig.

Ich sagte: - Deine Alte lügt doch. Einer wie Tito stirbt nicht. Los, schieß.

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Ein paar Augenblicke lang starrten wir uns an, bevor uns eine Erregung überkam

wie sonst nur bei einem Abenteuer, einem Coup oder einer Schlägerei.

6. Tränen für Tito

Wir trollten uns beide heimwärts. Bei mir zuhause hockte mein Großvater mit

unserem Nachbarn Sakib, der war alt, um die achtzig, aber immer noch rüstig, sie

rauchten und bliesen den Rauch in die Luft.

Sakib und seine Frau lebten nebenan, er hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr

mit ihr gesprochen und niemand kannte ihren Namen, weil alle sie bloß Sakibs Frau

nannten.

Sakib seufzte: - Genosse Walter ist gestorben.

- Ja, mein Sakib, er ist gestorben – erwiderte mein Großvater mit aufrichtiger

Traurigkeit.

Als ich in die Küche kam und meine Mutter an den Töpfen herumhantieren sah,

fragte ich sie, was passiert sei. Sie sagte nur, ich sollte den Mund halten, Tito sei

gestorben. – Es ist am besten, jetzt zu schweigen – wiederholte sie.

Mein Großvater rief: - Kannst du nicht mit diesem Krach aufhören. Musst du

ausgerechnet jetzt die Töpfe sauber machen?

Dann hockten wir uns alle vor den Fernseher. Ich saß auf den Boden, umarmte

meine Knie und wartete, was passieren würde. Im Hintergrund spielte tragische Musik

und quer über dem schwarzen Bildschirm stand „Sondernachrichten“. Die Musik machte

mich schläfrig, ich musste gähnen und wenn ich gähne, kommen mir die Tränen. Sehr

hilfreich, um in der Schule Bauchschmerzen oder Kopfweh vorzutäuschen. Ein, zwei Mal

gähnen und schon kommen die Tränen.

Dann erfolgte die Ansage, dass an diesem Tag, genau um 15.05 Uhr, das große

Herz unseres geliebten Genossen Tito zu schlagen aufgehört habe. Es klang

bedrohlich, ohne Frage. Und in gewisser Hinsicht war es das ja auch, nur dass niemand

wusste, in welcher. Zumindest damals noch nicht.

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7. Das Messer

Als ich am nächsten Tag zur Schule aufbrechen wollte, stand auf einmal das Auto

meines Vaters vor der Tür. Ich war überrascht, ihn zu sehen. Schnell wich die

Überraschung einem leichten Unbehagen. Er tauchte immer überraschend auf. Erst sah

ich ihn monatelang nicht, und dann war er auf einmal da, um zuerst an meinen

Klamotten und an meinen Schuhen rumzumeckern und sich zu beschweren, dass ich

mein T-Shirt nicht in die Hose steckte (worauf ich ihm am liebsten gesagt hätte, dass

das nur Vollidioten machen, aber das ging ja nicht), warum meine Fingernägel nicht

sauber waren und mein Hals so dreckig, als hätte ich mich monatelang nicht

gewaschen, nur um im Anschluss mit mir Cevapcici essen zu gehen oder etwas trinken

oder einkaufen.

Einmal sind wir in ein Kaufhaus gegangen und er hat mich aufgefordert: - So,

mein Sohn, such dir mal eine Hose aus, die Papa dir kaufen soll.

Aber als ich ohne zu Zögern auf ein Paar grüne Stoffhosen zugegangen war, die

mir ausgesprochen gut gefielen, hatte mein Vater mir mit der Hand in den Nacken

geschlagen und gezischt: - Warum gerade die grünen, du Bauerntölpel?

Und mir stattdessen eine Jeans mit weißer Naht gekauft. Nicht nur, dass ich die

nicht mochte und mir der Nacken wehtat, am schlimmsten war, dass er mich einen

Bauerntölpel genannt hatte. Ganz abgesehen davon, dass er sein Versprechen nicht

gehalten hatte, dass ich mir die Hose selber aussuchen durfte. Auch wenn ich längst

nicht mehr sagen kann, warum, war es genau diese grüne Hose war, die ich haben

wollte.

Und dann taucht er plötzlich zu Titos Tod auf und zitiert mich an sein Auto, einen

polnischen Fiat, zu dem wir „der Pole“ sagten. Nachdem wir uns eine Zeit lang im Auto

unterhalten hatten, schenkte mein Vater mir ein blaues Messer, das ich den ganzen

Schulweg über bewunderte. Ich mochte seine Farbe.

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8. Es war ein Tor

Auch in der Schule wurden wir von der Lehrerin uns noch einmal erneut über

alles unterrichtet und erfuhren, dass wir statt des Mathematik- und

Naturkundeunterrichts heute über Tito sprechen würden. Außerdem, so teilte sie uns

mit, seien ab jetzt sieben Tage Trauer verhängt, und damit: kein Singen, kein Pfeifen,

kein lautes Geschrei, kein Lachen, nichts. Ich sah trotzdem viele, die auf der Straße

pfiffen oder lachten, und ein schnurrbärtiger Mann, der auf dem Fahrrad die Straße

entlang fuhr, summte sogar ein Liedchen, das hatte ich genau gesehen. Wie konnte er

summen, wenn doch Trauer verordnet war? Ich sang und pfiff nicht. In dieser Woche

fielen auch die Zeichentrickfilme um 19.15 Uhr aus.

Als Dino, Pele und ich uns an diesem Montag nach der Schule auf den Heimweg

machten, mussten sie natürlich wieder von dem Tor anfangen.

Pele fing an: - Siehste, das kommt davon, wenn man schwört und dabei lügt.

Dino konnte seinen Einsatz kaum erwarten, sie hatten sich ganz klar gut

vorbereitet.

- Pass auf, wir erzählen rum, wie es dazu gekommen ist, und dann geht´s dir so

richtig an den Kragen!

Und dann fingen sie an, mich fertig zu machen und ich muss zugeben, das

machten sie ziemlich gut.

Eine Weile hielt ich durch, aber irgendwann schrie ich sie an: - Schert euch zum

Teufel, alle beide! – und flüchtete mich nach Hause.

Jetzt musste ich wirklich heulen, aber nicht aus Angst, dass sie mich verpetzen

würden, sondern aus Wut über mich selber, dass mich das so fertigmachte. Wo ich doch

wusste, dass Tito nicht meinetwegen tot war. Er wäre auch so gestorben. Ein Tor war es

trotzdem.

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9. Spitzname: Cigo

Am Dienstag wurde in der Schule weiter über Tito gesprochen. Natürlich wurde er

über den grünen Klee gelobt. In der Halle vor dem Lehrerzimmer hatten sie einen Tisch

aufgebaut, darüber lag ein rotes Tischtuch und darauf stand ein Schwarzweißbild von

Tito aus den Fünfzigern. Oben links war ein schwarzer Trauerflor befestigt. Alle zehn

Minuten lösten sich zwei vorschriftlich bekleidete Schüler mit der Totenwache am Tisch

ab, auf dem Kopf eine Tito-Mütze, um den Hals das rote Halstuch der Pioniere. Auch ich

hatte die Ehre, zusammen mit Mustafa. Er war klein, kräftig und dunkelhäutig. Noch

dunkler als ich. Und schon zu mir sagten sie Cigo.

Das hatte mich nie gestört, bis ich einmal heulend und mit gebrochener Nase

nach Hause gekommen war, weil ich mich mit einem gewissen Osman geprügelt hatte,

der mich die ganze Zeit geärgert und einen Zigeuner genannt hatte, und mir Onkel Alija

erklärte:

- Zigeuner sind Menschen wie du und ich, die sich allerdings nicht für Fußball

oder Politik interessieren, weswegen Fußball und Politik verboten gehören, alles klar? –

Er hatte mir bekräftigend mit dem Fingerknöchel auf den Kopf geschlagen und war wie

ein Weiser aus dem Osten vom Hof spaziert, während ich mit blutender Nase am Tor

stand und mir den Schädel rieb, der mir vom Schlag seines Mittelfingers wehtat.

Mustafa also, von dem ich´s gerade hatte, wuchsen die Haare beinahe schon aus

der Stirn. Er war eine miese Type, aber einer von der dämlichen Sorte, die dir weder

Angst einflößen noch dich zum Lachen bringen. Zumindest eines von beiden solltest du

allerdings draufhaben, auch wenn das damals noch keinem von uns klar war.

Während wir also stramm standen, besagter Mutsche und ich, jeder auf seiner

Seite, spürte ich, wie er mich anstarrte. Ich fauchte ihn an - was willst du von mir?, und

er flüsterte: Sag mal, war das echt ein Tor?

Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört, und verfluchte ihn innerlich. Und Pele und

Dino gleich mit. Als Mutsche nicht aufhörte, mir auf die Nerven zu gehen, sammelte ich

Spucke im Mund, bis ich genug hatte, trat an ihn heran und spuckte ihm ins Gesicht. Er

wischte sich die Spucke ab und ging auf mich los. Da kamen aber schon die neuen

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Ehrenwachen und zerrten uns auseinander. Im Klassenzimmer behauptete Mutsche

dann, ich hätte ihn grundlos angespuckt.

Ich kassierte ein Paar Schläge mit dem Lineal auf den Hintern, Mutsche musste

sich nur setzen. Die Lehrerin war außer sich, allerdings mehr aus Beunruhigung als aus

Wut. Als sie mit mir fertig war, sagte sie, nur Zigeuner würden andere anspucken.

10. Die unglückliche Lehrerin

Die Lehrerin war mittelalt, blond und sehr hübsch und ihr Mann hatte einen

Spielsalon am Ort: Videospiele, Tischfußball, Flipper, lauter Zeug, um

Heranwachsenden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Einmal hatte ich meinem

Großvater eine ganze Rolle Silbermünzen mit Titos Bild drauf geklaut, um ein Spiel zu

spielen, das „Pacman“ hieß. Statt der üblichen fünf Dinar hatte ich die Silbermünzen in

den Schlitz geworfen und der Automat hatte sie problemlos akzeptiert. Ich weiß nicht, ob

das zu ihrem plötzlichen Reichtum geführt hatte, jedenfalls bauten sie kurz darauf ein

großes Haus und gründeten eine Firma.

Ihren Mann haben sie in den ersten Kriegstagen umgebracht und sie ist nach

Deutschland geflüchtet. Auch als ältere Frau war sie noch sehr schön. Unglücklich war

sie sowohl als junge als auch als ältere Frau.

In ihrer Jugend, weil sie wegen des Geldes geheiratet hatte, und als sie älter war,

weil sie in ihrer Jugend mal schön gewesen war.

11. Titos Begräbnis

Am Mittwoch fand Titos Beerdigung statt. Der Unterricht wurde an diesem Tag

früher beendet, damit wir uns die Fernsehübertragung ansehen konnten.

Susannas Mutter, Nachbar Sakib und Onkel Alija waren bei uns.

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Alle waren festlich und traurig, außer Alija. Der guckte nur finster und unrasiert.

Man hätte Angst vor ihm kriegen können, ohne eigentlich zu wissen, warum.

Das Begräbnis geriet zur großen Inszenierung. Hunderttausende waren in

Belgrad auf den Straßen und alle am Weinen. Weinende Frauen und Kinder lieben die

Kameras besonders.

Ich gähnte, so viel ich konnte, im Vergleich zu den Menschen auf dem Bildschirm

aber mit eher magerer Tränenausbeute und daher unzufrieden. Mein Großvater guckte

ernst. Auch meine Mutter hatte einen traurigen Gesichtsausdruck, war aber in

Gedanken wahrscheinlich eher beim Essen für den nächsten Tag. Nachbar Sakib

rauchte und biss seine dritten Zähne zusammen.

Als der Sarg in das marmorne Grab hinabgelassen wurde, erhob sich Susannas

Mutter, verschränkte die Arme vor dem Bauch und an ihren Wangen rollten die Tränen

hinunter. Auch mir kamen jetzt endlich mehr Tränen, aber ich kann nicht sagen, ob mein

Gähnen endlich den gewünschten Effekt erzeugte, oder ob ich wirklich weinen musste.

Es war ja auch nicht gerade leicht, bei dieser Nummer ungerührt zu bleiben.

Nur Alija blieb schweigend und mit starrem Gesichtsausdruck sitzen und rauchte

weiter seine Zigaretten, die er mit unglaublicher Geschwindigkeit drehen konnte. Er

hatte ein Feuerzeug, das nach Benzin roch. Ich roch leidenschaftlich gern daran. Alle

schwiegen und ich fragte mich, warum er wohl sitzenblieb. Vielleicht, so reimte ich mir

zusammen, wegen der Beinverletzung, die er sich im Bergwerk zugezogen hatte, aber

ich traute mich nicht, laut danach zu fragen.

Und ihn selber schon gleich gar nicht. Bei den Augenbrauen.

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XVII

1. Hokahe

Halbkreisförmig schraubt sich die Maschine der skandinavischen SAS über Oslo

in die Höhe, während sie die immer dichter werdende Wolkendecke durchdringt. Ich

werfe noch einen Blick auf die Stadt, in der ich jahrelang die Scherben meines Lebens

verbreitet habe. Vielleicht, fährt es mir durch den Kopf, sehe ich sie zum letzten Mal,

was mich aber nicht weiter tragisch stimmt.

Bevor das Flugzeug seine Nase in die dicke Wolkenschicht bohrt, genieße ich die

großartige Aussicht über den gesamten Oslofjord mit seinen vielen Inseln. Sobald es mit

dem ganzen Körper ins milchige Weiß eintaucht, schließe ich die Augen und unter

meinen geschlossenen Lidern beginnt die Vergangenheit zu flimmern und fügt sich zu

einem Mosaik aus Inseln, Schiffen und einem schmuddelig-weißen Papagei.

Es war mein sorglosester Sommer in Oslo. Von Sara waren nur ein paar

Erinnerungen geblieben, von denen ich behaupten kann, dass sie schön waren. Ein

paar Monate, nachdem wir unsere längst gestorbene Liebe für immer beerdigt hatten,

war sie in ihr Dorf im Süden Norwegens zurückgekehrt. Gegen Sommerbeginn, ein

halbes Jahr nach ihrem Weggang, hatte mich die Nachricht erreicht, dass sie wieder mit

ihrem Mann zusammenlebte und hochschwanger war. Ein Bekannter von mir, ein

Bosnier, der in Kristiansand lebte, hatte mir das am Telefon so behutsam nahegebracht,

als bedürfte ich der Schonung. Dabei hatten seine Worte mir letztendlich eine diffuse

und leicht trügerische Erleichterung verschafft, obwohl ich zugeben muss, dass mir die

Neuigkeiten anfangs wehtaten. Ich fühlte mich irgendwie verraten, konnte aber nicht

sagen wodurch, und außer meiner männlichen Eitelkeit bestand auch gar kein Anlass

dazu. Es brauchte also nicht lange, bevor ich mich endlich frei und leicht fühlte. Mich

nicht mehr fragte, ob Sara und ich uns nicht doch hätten versöhnen und dadurch etwas

in unseren öden Leben ändern sollen.

Es war ein warmer Sommer, wie es sie in Norwegen gibt. Oslo war voller

sonnengebräunter, verführerischer Blondinen, die, auffallend knapp bekleidet, vor aller

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Welt ihre Rundungen zur Schau stellten, wie Pfauen in zu engen Käfigen. Ich spielte

Gitarre und sang an der U-Bahn-Station beim Nationaltheater. Dabei suchte ich die

Blicke der Passanten, bemüht, sie dahingehend zu hypnotisieren, mir ein paar Kronen

mehr in den Koffer zu werfen. Es war schön, wieder frei zu sein, schoss es mir durch

den Kopf. Und schon bald blieb von Sara nicht einmal mehr die Erinnerung. Und das

war gut so.

Obwohl ich als Straßenmusiker ganz o.k. verdiente, reichte es für einen

angemessenen Lebensunterhalt nicht aus. Außerdem ödete es mich an, jeden Tag

spielen zu müssen. Ich guckte mich also nach einer vorübergehenden Beschäftigung

um. Ein bisschen arbeiten, ein bisschen Musik machen, wenn mir danach ist, und das

Leben wäre das reinste Vergnügen, so zumindest versuchte ich es mir einzureden.

Ich fand einen Job auf einer der Fähren, die kreuz und quer über den Oslofjord

schippern. Die Fähre legt in Oslo ab und bringt die Menschen zu den Inseln, von denen

unsere Route drei abdeckte: Hovedoya, Lindoya und Gressholmen. Auf diesen Inseln

befanden sich Wochenendhäuser, Strände und hier und da ein kleines Restaurant.

Meine wichtigste Aufgabe bestand darin, Fahrscheine zu verkaufen. Ich hatte eine

weiße Uniform, eine dunkle Brille und lächelte ununterbrochen den Mädchen in ihren

Badeanzügen zu. Manchmal auch ihren Müttern.

Mein Kollege Lars, ein kräftiger, kleiner Schwede, war an Bord für den Rest

zuständig. Manchmal verkaufte er mit mir Fahrscheine, manchmal putzte er das Deck,

hantierte am Motor herum oder stand am Ruder; kurz, er machte einfach alles. Und

darin war er sogar besser als der Kapitän, ein fast immer mürrischer alter Mann. Aber

um den kümmerten wir uns nicht, Lars und ich.

Zuerst hatte ich Lars für nur ein paar Jahre älter geschätzt als mich und war nicht

wenig erstaunt, als er mir sagte, dass er vierzig war. Alle paar Tage schor er sich den

Kopf kahl, aber aus seinem Bart war zu schließen, dass sein Haar leuchtend rot sein

musste. Unter seinen Hemdsärmeln guckten zahlreiche Tätowierungen hervor.

Hauptsächlich Motive aus der Mythologie der Wikinger: Schwerter, furchterregende

Riesentypen mit Äxten und Helmen, wie bei Hägar, dem Schrecklichen, oder Conan,

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dem Zerstörer. Später, als wir baden gingen, sah ich, dass eigentlich sein ganzer Körper

tätowiert war, der Rücken, die Brust, sogar die Schenkel.

Als wir am Ende des ersten Tages unsere Einnahmen abrechneten, stellte sich

heraus, dass zu viel Geld in der Kasse war. Nicht viel, vielleicht genug für ein paar

Biere. Als ich ihn fragte, was wir mit dem Geld anstellen sollten, lachte er nur:

- Was denkst du denn? Wir machen halbe-halbe.

Wir hatten später nicht mehr dieselbe Schicht, außer in dieser ersten Woche, als

Lars mich einwies. Einer arbeitete am Vormittag, der andere am Nachmittag, aber ein

paar Stunden Überschneidung, in denen wir zusammen arbeiteten, ergaben sich

meistens. Einmal bat er mich, für ihn einzuspringen, weil er seinen Papagei zum Tierarzt

bringen musste, wegen eines Beinbruchs, wie er mir zurückhaltend erklärte. Es fiel mir

schwer, mir diesen tätowierten, kahlköpfigen Wikinger vorzustellen, wie er einen

Papagei zur Beinbehandlung trägt. Ich musste lachen, hielt das Ganze für einen Scherz,

aber er war ernsthaft besorgt um seinen gefiederten Freund.

Lars und ich hatten den ganzen Sommer über zu viel Geld in der Kasse und

gingen jeden Abend zusammen Bier trinken. Aber nicht nur saßen wir abends bei fadem

norwegischen Bier zusammen, wir machten auch Ausflüge, gingen auf Konzerte oder

bei Regen ins Kino. Sogar Bücher ließ er sich von mir aufschwatzen, auch wenn es

mich meine ganze Überzeugungskraft kostete, ihm nahezubringen, dass sie lesenswert

waren. Einige gefielen ihm, einige gab er mir mit einem verächtlichen Lächeln zurück.

Ab und zu gab auch er mir auch eins der Bücher, die er gerade las. Ich konnte damit

nichts anfangen, musste ihm das aber jedes Mal behutsam beibringen. Es waren billige

historische Schinken, in denen Schwerter, Äxte und nackte Muskeln die Hauptrolle

spielten. Am häufigsten las er Waffenmagazine, kannte jedes Gewehr, jedes Messer,

von Kampfflugzeugen ganz zu schweigen.

Einmal machten wir einen Fahrradausflug in die Nordmark, ein waldbewachsenes

Gebiet, das sich über Hunderte Quadratmeter nördlich von Oslo erstreckt. Es verschlug

uns an den See Brjornjoen, an dem wir ein Kanu mieteten und zu einer kleinen Insel mit

einem Föhrenwald ruderten und dort unser Nachtlager aufschlugen. Lars hatte sich an

dem Tag einen Sonnenbrand zugezogen und ich zog ihn auf, dass er wie der letzte

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Mohikaner aussehe. Er konnte mit meinem Humor wenig anfangen, aber ich fand es

komisch, dass ein grimmiger Wikinger wie er sich einen krebsroten Rücken zugezogen

hatte. Ab und zu sagte ich „Howgh, Häuptling“ zu ihm, was er nicht verstand und ich ihm

nicht übersetzen konnte. In den Comics in meinem Land hätten die Indianer dieses Wort

in jedem Satz verwendet. Einmal sagte ich „hokahe“, das zumindest konnte ich erklären.

In der Sprache der Sioux bedeutet das „ein schöner Tag zum Sterben“. Das hatte ihm

gefallen, sodass er später lauthals davon Gebrauch machte, egal, ob es passte oder

nicht.

Eines Abends gingen wir nach dem Abendessen zusammen in die Stadt, liefen

von Pub zu Pub und ließen uns mit Bier volllaufen. Jedes Mal, wenn wir uns

zuprosteten, riefen wir: „Hokahe!“, und lachten lange und betrunken. In einer Kneipe

stießen wir auf ein ziemlich angetrunkenes Mädchen. Sie saß alleine am Nebentisch

und trank, suchte aber unvermittelt das Gespräch mit uns. Ich hatte den Eindruck, sie

hatte ein Problem, konnte aber nicht sagen, was für eins. Lars stürzte sich auf sie wie

ein hungriger Tiger und versuchte gar nicht erst, seine Absichten zu verbergen. Die

junge Frau war keine von denen, nach denen man sich umdreht oder pfeift, aber ich

welche Frau hätte zwei wie uns schon freiwillig angesprochen, einen schrägen Fremden

mit abgelaufenen Winterschuhen und einen tätowierten, kahlköpfigen Indianer.

Zu dritt zogen wir noch durch ein paar Kneipen, tranken, tanzten, ließen es uns

gutgehen. Lars wurde immer offensiver, fing an, ihr an die Schenkel zu fassen, an den

Po, sie zu umarmen und an sich zu zerren. Mir gefiel das kein bisschen, aber sie war zu

besoffen, um sich zu wehren. In der letzten Kneipe, als sie auf Toilette war, schlug Lars

vor, nach diesem Bier zu ihm zu gehen und sie dort flachzulegen. Kokain hätte er auch

zu Hause, was für ein Spaß. Ich dachte an das magere Mädchen, ihren Körper

zwischen Lars' tätowierten Händen. Und meinen. Zuerst war mir nach Heulen,

wahrscheinlich wegen des Alkohols, dann wollte ich Lars eins mit der Flasche

überziehen, mit dem Mädchen verschwinden, ihr zu essen geben und sie in meinem

Schoß einschlafen lassen, während ich ihr Haar streichelte.

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Stattdessen sagte ich, dass ich das für eine dämliche Idee hielt. Sie müsste doch

nur wieder nüchtern werden und sehen, wo sie gelandet wäre, um auf der Stelle die

Polizei zu rufen und zu behaupten, dass wir sie vergewaltigt hätten, was ja von der

Wahrheit nicht so weit entfernt läge. Lars schüttelte den Kopf und sagte:

- Kann uns doch egal sein, oder? Zwingt sie ja keiner, mit uns rumzuhängen.

Er ließ nicht locker, aber ich blieb hart. Da wurde er richtig sauer, ich sei ein

Arschloch, warf er mir vor, und dass er doch nur ficken wolle und sonst nix.

Dann ging er aufs Klo und ich blieb alleine mit dem Mädchen. Ich steckte ihr unter

dem Tisch einen Hundert-Kronen-Schein zu, fürs Taxi, und dass sie jetzt verschwinden

solle und genug getrunken habe. Ihr ginge es gut, gab sie zurück, und dass sie gerne

noch bleiben würde. Es gelang mir nicht, zu ihr durchzudringen, sie war viel zu besoffen,

um noch irgendetwas zu schnallen. Und da kam Lars auch schon zurück. Ihm war

anzusehen, dass ihm klar war, worüber ich mit ihr gesprochen hatte. Er legte sofort los,

brüllte mich an, drohte mir mit der Faust und legte seine knochigen Arme um meinen

Hals, wobei deutlich sichtbar die Adern auf seinem Schädel anschwollen und sich seine

Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Jetzt sah er wirklich wie ein Indianer aus. Einer

von der Sorte, die zu Dieben und zu Mördern werden, wenn ein Bleichgesicht sie mit

Feuerwasser abgefüllt hat.

Ich brüllte zurück, allerdings eher leidenschaftslos und wenig bedrohlich. Ich

werde aus diesem Kerl nicht schlau, dachte ich bei mir. Das Mädchen musste bei

unserem Anblick haltlos lachen. Dann nahm sie Lars an der Hand und führte ihn aus der

Kneipe. Kurz überlegte ich, ihnen zu folgen, aber da sah ich sie schon miteinander ins

Taxi steigen und verschwinden.

2. Lars

Einmal, als Lars mir ein paar Bücher zurückbrachte, die ich ihm zum Lesen

geliehen hatte, erwähnte er, dass er darüber nachdenke, selber ein Buch zu schreiben.

Über sein Leben. Er war überzeugt, dass das ein gutes Buch abgeben würde. Ich

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reagierte unfasslich arrogant, ließ ihn wie ein Kind dastehen, indem ich ihn belehrte,

dass es ja nicht so sehr darauf ankam, worüber jemand schreibt, sondern wie er

schreibt. Lars lachte verächtlich.

In diesem Sommer erfuhr ich dann Stück für Stück seine Lebensgeschichte,

während der Arbeit, in den Pausen, in stickigen Kneipen voller klebriger Ausdünstungen

oder auf einer der Inseln, auf die wir zum Stockfischangeln fuhren.

Lars war als Einzelkind und ohne Mutter in einem kleinen Ort mitten in Schweden

aufgewachsen, an einem der großen Seen, die das Land in zwei Hälften teilen. Seine

Kindheit hatte er mit Fischfang zugebracht, zusammen mit seinem Vater, einem

Holzfäller, dem ein Unfall das linke Schienbein zerschmettert hatte, weswegen er

vorzeitig in Rente war. Sie hatten Süßwasserfische geangelt, überwiegend Barsche und

Rotfedern, aber ihr größter Triumph war immer, wenn sie es schafften, einen Hecht an

Land zu ziehen.

Als seine Mutter die Familie verlassen hatte, hatte sein Vater noch heftiger als

zuvor dem illegalen Selbstgebrannten zugesprochen, der in Skandinavien mit Kaffee

gemischt und Krajsk genannt wird. Lars war sechzehn, als er erfuhr, dass seine Mutter

in Stockholm gestorben war. Weil er nicht mal einen Mittelschulabschluss hatte, hielt er

sich mit allen möglichen Jobs über Wasser, aber irgendwie war nie das Richtige für ihn

dabei. Als er sich in eine junge Frau aus seinem Ort verliebt und sie ein paar Monate

später geheiratet hatte, verkaufte der Vater das alte Haus der Familie, kaufte sich selbst

eine Wohnung und dem jungen Paar ein Häuschen, in dem sie die nächsten Jahre

lebten. Nach ein paar idyllischen Monaten, und als Lars das erzählte, betonte er

„idyllisch“ in Anführungszeichen, war er an diese Biker-Gang geraten. Er hatte die total

o.k. gefunden, immer gab es Partys, Bier, Frauen, man war die ganze Zeit auf Achse,

und klar, ehrlich betrachtet, räumte er missmutig ein, waren natürlich auch Drogen und

Gesetzeskonflikte Teil der Routine. Durch sein ständiges on the road-Leben verlor er

einen Job nach dem anderen. Er soff und lebte halsbrecherisch und so beschloss seine

Frau nach nur drei Jahren, ihn zu verlassen und künftig ihr Glück alleine zu suchen. Nur

wenige Monate später hatte dann auch Lars die Schnauze voll von den ewigen

Seeleuten und tätowierten Gangstern und Gesetzeskonflikten, weswegen er also sein

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Haus unter Wert verschleudert und kurz darauf erneut panisch zu werden, weil ihm auch

all die anderen Typen zuwider sind, die sich in der schwedischen Einöde den American

Dream vorgaukeln, und die Motorräder hat er sowieso auch satt. Am schlimmsten muss

ihm allerdings zugesetzt haben, dass die einzige Alternative darin zu bestehen schien,

sich selbst dabei zuzusehen, genau wie sein Alter zu werden, mit der Motorsäge

Tannen zu fällen, Krajsk zu saufen und darauf zu warten, dass der Hecht seines Lebens

an seinem Angelhaken landet.

Also hat er´s mit Brasilien versucht, war eine Zeit durchs Land gereist und hatte

sich dann in Salvador de Bahia im Norden des Landes in eine wunderschöne

dunkelhäutige Frau verliebt, mit der er ein halbes Jahr zusammen war (dabei zuckte er

kommentierend mit den Augenbrauen). Die Zeit hatten sie mit Sex und Kokain

totgeschlagen. Die beste Frau, die er je hatte, seufzte Lars Karlsson, pathetisch wie ein

seniler Greis, dessen letzte Erektion nur noch eine meilenweit zurückliegende

Erinnerung ist. Sie hatte ihm einen herzzerreißenden, in schlechtem Englisch verfassten

Abschiedsbrief hinterlassen, garniert mit drei feuchten Flecken, die ihre Tränen

darstellen sollten. Danach hatte er in Thailand Station gemacht und versucht, seine

dunkelhäutige Liebe und das Kokain durch Prostituierte und Opium zu ersetzen. Was,

so seine enttäuschte Bilanz, sich auch nicht als das Wahre erwiesen hatte. Es folgte

eine Zeit auf den Philippinen, bevor er sich in Asien herumtrieb, aber nur bis Japan kam,

das sich als viel zu teuer zur Aufrechterhaltung seiner bevorzugten Leidenschaften

erwies. Und so landete er schließlich in Amsterdam, allerdings auch da nur für kurze

Zeit, bis ihm das Geld ausging und er sich als Seemann verdingte, auf einem

Transportfrachter, der unter panamesischer Flagge Schüttgut verschiffte. Dreizehn

Jahre war er zur See gefahren, unter wechselnder Flagge, hatte den Erdball ein paar

Mal umrundet, jede Hafenkneipe zwischen Indien und Südamerika besucht, mit einer

anzuzweifeln hohen Zahl von Nutten geschlafen und war, nachdem er von allem die

Schnauze voll hatte, mit einem kleinen Guthaben in sein Dorf in Schweden

zurückgekehrt, wo er eine Wohnung mietete und sich wieder seiner alten Clique

anschloss. Was ihn schon bald ins Gefängnis brachte, aus Gründen, die er mir nicht

mitteilen wollte, und nach Beendigung seiner Haftstrafe ein Jahr später wusste er nicht

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mehr, wohin mit sich. Mittellos, ohne Arbeit, ohne Bleibe. Eine Weile war er bei seinem

inzwischen senilen und vom Alkohol zerfressenen, kranken Vater untergekrochen, aber

dann zog es ihn wieder fort, kreuz und quer durch Schweden, wenn es sich ergab, nahm

er einen Job an und lebte ansonsten bescheiden und zurückgezogen. In Norwegen war

er erst seit ein paar Monaten und er hatte keinen Plan, wie lange es ihn hier halten

würde, aber das schien ihn auch nicht weiter zu bekümmern. Das einzige, was ihn

bekümmerte, war sein Riesenpapagei, der sich diesen Sommer das Bein gebrochen

hatte, ohne dass er mitgekriegt hatte, wie das passiert war.

3. Meine künftige ehemalige Frau

Ungefähr in der Mitte des Sommers wollte Lars nach Schweden, seinen Vater

besuchen. In den zwei Wochen seiner Abwesenheit war ich für seinen Papagei

zuständig, dem sie inzwischen den Gipsverband vom Bein entfernt hatten. Der Papagei

war groß und weiß, sah aber nichtsdestotrotz seltsam schäbig und abgenutzt aus. Das

einzige, was er sagen konnte war „Hasta la vista... hasta la vista, baby“, und das in

einem so krächzenden Tonfall, dass man ihn kaum verstand. Muss ich dazu sagen,

dass der Papagei Terminator hieß?

Während Lars weg war, lernte ich Selma kennen, meine künftige Frau. Meine

künftige ehemalige Frau und Mutter eines Kindes, das vielleicht nicht einmal von mir ist.

Einander zur Kenntnis genommen hatten wir schon lange vorher, weil sie jeden

Tag um 12.15 Uhr die Fähre nach Gressholmen nahm, eine Insel voll von Kaninchen.

Konntest keinen Schritt machen, ohne in Hasenscheiße zu treten. Hordenweise wurden

da Kinder hingeschifft, um die fettgefressenen Nager zu füttern, während ihre Eltern in

der Inselkneipe, in der Selma kellnerte, dicke, trübe Bierkrüge leersoffen. Spätabends

fuhr sie dann zurück, aber nicht täglich. Ich hatte die Vermutung, dass sie manchmal auf

der Insel übernachtete. Selma war groß, größer als ich, hatte ein kantiges Gesicht mit

ausgeprägten Knochen und eine Jungsfrisur. Eigentlich wirkte sie mit ihren viel zu

langen Beinen und den Minibrüsten eher wie ein frühpubertärer fünfzehnjähriger Junge.

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Ihre kugelrunden braunen Augen lagen tief in ihren Wölbungen. Wenn sie ernst guckte,

wirkte sie irgendwie ausgelaugt, manchmal sogar fast bedrohlich, aber wenn sie lachte,

lachte sie mit dem ganzen Gesicht, mit den Augen und dem ganzen Körper. Dabei

lachte sie viel zu laut, ein fast schon übertrieben aufdringliches Meckern, und später

machte mir ihr neurotisch-explosives Gekicher, das mich an Pinocchio erinnerte, sogar

Angst. Aber am Anfang fand ich ihr Lächeln und ihren dicken, schmerzlich gedehnten

Mund attraktiv. Ganz zu schweigen von ihrem perfekten, fast nicht vorhandenen

mageren Minihintern.

Zuerst grüßten wir einander nur mit einem „Hallo“ oder indem wir uns zunickten.

Wenn ich sie anlächelte, lächelte sie entweder zurück oder ignorierte mich mit

gespitzten Lippen und übereinandergeschlagenen Beinen, wobei sie versuchte, cool

und sexy gleichzeitig zu wirken. Wenn sie wütend guckte, was auch manchmal vorkam,

zogen sich ihre knabenhaften Augenbrauen zusammen und auf ihrer Stirn trat eine

dunkelblaue hervor.

An einem dieser Tage, als Lars schon in Schweden war, kamen wir ins

Gespräch. Wir tauschten ein paar Banalitäten aus und dabei lachte sie laut und schlug

mir übermütig mit der Hand aufs Knie, als würden wir uns schon lange kennen. Ich

fragte sie, ob sie abends mit mir was trinken gehen würde. Worauf sie nicht antwortete.

Als ich vorschlug ich vor, wir könnten ja auch an einem anderen Tag etwas

unternehmen, ganz wie es ihr passte, kippte ihre Stimmung und sie verpasste mir mit

dem Zeigefinger einen Schlag ins Gesicht, wie einem ungezogenen Kind, nicht fest,

aber entschlossen. Ich solle sie so etwas nie wieder fragen. In den folgenden Tagen

grüßten wir einander nicht.

Aber eines Tages kam sie dann plötzlich lächelnd auf mich zu, aufgeregt und

schrill wie ein überdrehtes Kind oder eine hysterische Frau, so genau konnte ich das

nicht einschätzen. Jedenfalls lud sie mich ein, nach der Arbeit bei ihr in der Kneipe

etwas zu trinken.

Weil ich auch Lars' Schicht übernehmen musste, war es schon gegen zehn, als

ich auf Gressholmen abstieg. Auf meinem Weg zur Kneipe musste ich unentwegt

Kaninchen vertreiben, die ungezieferartig aus dem Gebüsch hervorquollen. Kaum hatte

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sie mich erkannt, nahm sie ihre Schürze ab und wir setzten uns an einen Tisch in der

Ecke. Sie holte uns zwei Bier von der Theke. Gelegentlich tauchte ihr Chef auf, um die

Gäste zu bedienen. Er war um die fünfzig, sechzig Jahre alt, groß, schlank und wirkte

ziemlich jugendlich. Mit seinem Bart sah er ein bisschen wie Sean Connery aus. Es

missfiel ihm ganz offensichtlich, dass sie bei mir saß, und irgendwann stand er vor uns

und forderte sie mit väterlicher, autoritärer Stimme auf, ihm zu helfen, er müsse das

Essen vorbereiten und jemand müsse ja die Gäste bedienen.

- Verfick dich, Alter, siehst du nicht, dass ich Besuch habe? – der Ton, den sie

ihm gegenüber anschlug, war ziemlich intim.

Das war mir unangenehm und ich bot an, zu gehen, wo doch in der Kneipe so

viel los sei.

- Und wohin willst du gehen? Wie willst du in die Stadt kommen? Sigi kann dich

später mit dem Motorboot mitnehmen, stimmt doch, Sigi? – ihre Stimme klang meckernd

und provokativ.

Sigi seufzte resigniert und ging in die Küche zurück. Im Befehlston rief sie ihm

hinterher, uns noch zwei Bier und etwas zu essen zu bringen.

Später, kurz vor Sonnenuntergang, knapp vor Mitternacht, brachte uns der

Kneipenpächter, ich nennen ihn jetzt selber Sigi, weil Selma ihn so genannt hatte,

obwohl er eigentlich Harald heißt, mit seinem Motorboot in die Stadt. Selma und ich

waren betrunken und klammerten uns aneinander, als wir aus dem Boot stiegen. Ich

bedankte mich bei Harald für die Überfahrt, worauf mich Selma am Arm packte und das

Ufer entlang zerrte.

Harald, also Sigi, verschwand Richtung Insel. Als ich mich umdrehte, sah ich die

Sonne untergehen. Sie versank im Meer wie mein schlechtes Gewissen. Ich spürte, wie

Selma ihre Schritte mit meinen in Einklang brachte und wusste, dass jetzt alles vorbei

war.

Schnell tranken wir noch ein paar Tequila auf einer Terrasse an der Aker Brygge,

dann fiel mir ein, dass ich den Papagei füttern musste und ich lud sie ein, mitzukommen.

Als wir in meinem Zimmer ankamen, merkte sie verächtlich an, der Papagei habe

Nahrung und Wasser für mindestens zwei Tage. Sie überredete mich, ihn aus dem Käfig

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zu lassen. Terminator flatterte mit den Flügeln und stürzte sich wie ein Kamikaze auf

unsere Köpfe. Dabei krächzte er sein metallisches „Hasta la vista, baby, hasta la vista...

hasta... hastaaaa...“ Wir jagten ihn quer durchs ganze Zimmer und da ich mich dabei

ziemlich ungeschickt anstellte, habe ich wohl sein Bein etwas zu heftig gedrückt. Als er

wieder in seinem Käfig war, stand er jedenfalls nur noch auf einem Bein und hinkte

sichtlich, wenn er das Bein zu wechseln versuchte. In der tierärztlichen Notaufnahme

stellte sich dann aber anhand der Röntgenaufnahme heraus, dass das Bein in Ordnung

war. Der Tierarzt, ein schnurrbärtiger Mann im weißen Kittel, gab und ernsthaft die

Erklärung mit auf den Weg, dass ihm das Bein vermutlich noch wehtäte, nach der

langen Zeit im Gips. Streng ermahnte er uns, künftig besser auf ihn aufzupassen. Als wir

die Tierklinik verließen, küsste mich Selma zum ersten Mal. Ich hätte dem Papagei

beide Beine brechen können.

4. Vergiss die Aktion, Lars

Lars kehrte direkt zur Nachmittagsschicht aus Schweden zurück. Er wirkte müde

und erschöpft. Seine Pupillen waren fast nicht zu erkennen. Ich hätte ihm gerne von

meinem frischen Liebesglück erzählt, den Teil mit dem Papagei hätte ich natürlich

ausgelassen, aber er war in keiner Verfassung, mir zuzuhören.

In den nächsten Wochen änderte sich daran nicht viel. Lars kam mit verengten

Pupillen zur Arbeit und saß unbeteiligt am Heck.

Manchmal machte er kurz die Augen zu und sein Kopf senkte sich unkontrolliert

auf die Brust, dann schreckte er kurz hoch, blickte um sich und schlummerte wieder ein.

Von Zeit zu Zeit rauchte er eine Zigarette, kam zu mir an den Bug und begann ein

Gespräch, das weder Anfang noch Ende hatte und ebenso sinnlos war. Dann fingen

unvermittelt seine Knie zu zittern an und er ging zurück ans Heck. Seine weiße Uniform

wurde immer schmutziger. Er nahm immer mehr Geld aus der Kasse, ohne dabei

Fahrkarten zu verkaufen. Das hatten wir früher zwar auch gemacht, uns dabei aber

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Grenzen gesetzt. Er rief mich nie zu sich, so dass ich meine Freizeit hauptsächlich in

Selmas Gesellschaft verbrachte.

An einem verregneten Tag, als meine Schicht um war und mit großen Schritten

über den Anlegeplatz Vippetangen hastete, rief er nach mir und kam auf mich zu. Wir

liefen unter dem Vordach, das den Warteplatz für unsere Passagiere überdachte, die

Mole entlang. Er legte mir den Arm um die Schulter und flüsterte mir mit gedämpfter,

geheimnisvoller Stimme ins Ohr, ob ich Lust auf eine Chose hätte.

- Was für eine Chose? – ich stellte mich dumm.

- Eine Chose, die uns Geld einbringen wird, verstehst du? So eine Chose.

Ich hielt an, schob seinen Arm von meiner Schulter und sagte:

- Vergiss die Chose, Lars.

Ich ging in den Sommerregen hinaus und ließ ihn zurück.

5. Beim nächsten Mal fliegst du

Lars ließ nicht locker. Einige Male kam er noch mit irgendwelchen Chosen an. Als

ich ihm Mitte Herbst, es war einer von diesen kurzen, nordischen Herbsten, mitteilte,

dass Selma und ich beabsichtigten, nach unserer Hochzeit auf den Balkan zu fahren,

hatte er kurz eine neue Idee. Ob es dort unten noch Waffen gäbe, wollte er wissen. Mir

wurde klar, dass er jetzt wirklich von allen guten Geistern verlassen war. Davon,

erwiderte ich, hätte ich keine Ahnung. – Du bist ein echtes Arschloch! – stieß er hervor.

Ich redete auf ihn ein wie auf ein Kind, um ihm klar zu machen, dass ich kein

Interesse hatte und auch er sich da besser raushalten sollte. Selbst wenn die Idee an

sich nicht schlecht sei, versuchte ich ihm zu schmeicheln, hätte ich schlichtweg keine

Lust, wieder im Gefängnis zu landen. Bei der nächsten Dummheit, vertraute ich ihm an,

drohte mir die Abschiebung.

Ich hatte da Erfahrung mit, vor ein paar Jahren, als ich noch mit Sara zusammen

war und in einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim lebte. Ich arbeitete in einem

kleinen Unternehmen, für das ich Software-CDs für den Versand verpackte. Ich hatte

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rund fünfzig Multimedia-CDs mit Programmen zum Fremdsprachenerwerb geklaut und

die ganze Uni mit Anzeigen zugekleistert, in denen ich die CDs zu einem dreimal

niedrigeren Preis anbot, und zwar unter meinem vollständigen Namen und meiner

Telefonnummer. Natürlich gehörten die Autoren dieser Programme zur Fakultät und

kriegten meine Anzeigen natürlich zu Gesicht, sie hingen ja überall rum. Sie schöpften

natürlich Verdacht, denn die CDs standen noch gar nicht zum Verkauf. Also erkundigten

sie sich bei der Firma, für die ich arbeitete, dort schaltete man die Polizei ein und die

stellte mir eine Falle. Dabei hatte ich erst drei CDs verkaufen können. Insgesamt fünf

Polizeibeamte, die zwei Zivilpolizisten, die die Lockvögel gespielt hatten, sowie zwei

Kollegen und eine Kollegin, durchsuchten mein 12-Quadratmeter-Zimmer und fanden

neben den restlichen CDs und etwas Dope. Die Polizistin, optisch eher nicht mein Fall,

aber ziemlich sexy in ihrer Uniform, fand meine ziemlich umfangreiche und nicht ganz

harmlose Pornosammlung. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor sie sie zurück

in die Schublade legte.

Im Polizeiauto saß sie neben mir auf der Rückbank. Die Idee mit den CDs sei ja

nicht von schlechten Eltern.

- Du wärst ein guter Verkäufer – sagte sie lächelnd.

- Und du ein guter Pornostar – dachte ich hinterhältig. Und zwar in deiner

Sommeruniform.

Der korpulente ergraute Polizist, der auf der Polizeiwache meine Personalien

aufnahm, war ziemlich erstaunt, als er hörte, dass es sich um meine erste Verhaftung

handelte.

- Keine Sorge – ergänzte er und verzog die Oberlippe, während er mit den

Zeigefingern auf die Tastatur eindrosch – das bleibt garantiert nicht das letzte Mal. Und

beim nächsten Mal fliegst du... ha, ha...

Als ich Lars davon erzählt hatte, musste er aufrichtig lachen. Für solche Dinge, so

seine Einschätzung, sei ich viel zu planlos, und das sei mir anzusehen.

Was in mir die Frage aufwarf, warum er mich dann die ganze Zeit für

irgendwelche Chosen rekrutieren wollte, sprach es aber genauso wenig aus wie meinen

mitleidigen Gedanken, Du bist auch nicht gerade der größte Lebenskünstler.

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Immer, wenn ich versuchte, mehr über seine Knastgeschichten aus Lars

rauszuquetschen, winkte er nur ab, das sei nicht der Rede wert. Man habe ihn wegen

Erregung öffentlichen Ärgernisses und tätlichen Angriffs auf eine Dienstperson

eingesperrt. Natürlich völlig zu unrecht. Er habe sich nichts zuschulden kommen lassen,

für das man eingesperrt gehöre.

Ich lachte und bedrängte ihn, mir doch wenigstens ein paar Details zu berichten,

aber er hüllte sich in unerbittliches Schweigen.

Ich bin unschuldig, komplett unschuldig – beteuerte er.

Ich guckte auf seine verengten Pupillen und glaubte ihm kein Wort. Ich kam mir

vor wie Karadjos, der Gefängnisdirektor aus Ivo Andrićs „Der verdammte Hof“. Niemand

ist unschuldig.

Ich musste an Onkel Alija denken, von dem meine Mutter immer behauptet hatte,

dass er „völlig unschuldig im Gefängnis saß“.

6. Der verfluchte Alija

Am Abend war eine Gruppe von Jägern auf der Rückkehr von der Jagd an Alijas

Haus vorbeigekommen und Alijas Hund hatte angefangen zu bellen. Und wer weiß,

vielleicht war es Leichtsinn, vielleicht Enttäuschung, weil sie an dem Tag nichts erlegt

hatten, jedenfalls feuerte die Jagdgesellschaft ein Paar Schüsse ab und erschoss dabei

Alijas Hofhund. Als Alija aus dem Haus gestürzt kam, bot sich ihm natürlich ein schöner

Anblick: sein Hund, nur noch mit dem linken Hinterbein zuckend, auf ihn gerichtet

Gewehre, aus denen noch Rauch aufstieg. Alija, aufbrausend wie er war, wollte auf sie

losgehen, aber sie stießen ihn weg und richteten ihre Gewehre auf ihn. Daraufhin waren

Alija die Tränen aus den Augen geschossen und er fing an, sie ohnmächtig zu

verfluchen. Der Vater von einem der Jäger hieß Kita, wobei man ihn im Dorf eigentlich

nur so nannte, weil er mit Nachnamen Kitić hieß. Jedenfalls verfluchte Alija diesen Kita

mehrmals, bis die Jagdgesellschaft den Bach überquerte und kichernd und schreiend

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die Dorfstraße entlang lief. Als Alija zur Polizei ging, um den Vorfall anzuzeigen, wurde

er verhaftet, weil er angeblich Tito verflucht hatte. Kitas Sohn hatte ihn angezeigt.

- Du hast keine Chance – betonte meine Mutter. – Alija hat ja versucht, ihnen zu

erklären, dass er nicht Tito, sondern Kita verflucht hat, aber die Polizei hat das völlig

ungerührt gelassen. Schließlich ist es ja viel schwerwiegender, Tito zu verfluchen, als

wenn jemand deinen Hund totschießt. Als Alija nicht aufgehört hat zu beteuern, dass er

nichts getan habe, widersprachen sie ihm, das habe er wohl, und schlugen auf ihn ein,

bis Alija endlich gestand: ja, ich habe es getan, soll Tito euch doch alle ficken! Und

damit war ihm ein halbes Jahr Gefängnis sicher. Mit der Polizei ist nicht zu spaßen –

beendete meine Mutter ihre Version der Geschichte.

Mein Großvater hingegen hielt das für Unsinn und behauptete, es habe sich alles

habe sich ganz anders zugetragen.

- Was erzählst du denn da, von wegen er hätte Tito verflucht! – griff er meine

Mutter an. – Klar, stimmt schon, dass sie seinen Köter erschossen haben, aber Alija war

zu dem Zeitpunkt gar nicht zu Hause. Als er das spitzgekriegt hat, hat er sie der Reihe

nach verdroschen. Einen, den Sohn von diesem Kita, den man auch Kita nannte, hat er

in Agans Kneipe so zusammengeschlagen, dass er ins Krankenhaus musste.

Deswegen ist Alija in Knast gelandet.

- Sie haben seinen Köter totgeschossen – so ging die Version meines Großvaters

– weil er sie angegriffen hat und aus Schiss haben sie dann angefangen zu schießen. -

Da habt ihr eure Geschichte, von wegen Tito, das hättet ihr wohl alle nur gerne?

7. Hasta la vista, Lars

Als Selma und ich vom Balkan zurückkamen, war Lars nicht mehr da. Mein

garstiger Chef bedachte mich mit einem verächtlichen Blick und sagte, Leute wie Lars

hätten auf seiner Fähre nichts verloren. Ich musste ihm zustimmen. Lars sei übermüdet

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und verkatert zur Schicht erschienen und habe beim Fahrscheinverkauf Geld

unterschlagen. Also habe er ihm gekündigt und mit einer Anzeige gedroht.

- Wer weiß – stieß er böswillig nach – Vielleicht hat er auch Drogen genommen.

- Vielleicht – sagte ich vage.

Ich habe nie erfahren, was aus Lars geworden ist. Als ich ihn auf dem Handy zu

erreichen versuchte, war es ausgeschaltet. Also fuhr ich am nächsten Tag mit der U-

Bahn bis nach Lysaker, dem Vorort, in dem Lars im Erdgeschoss eines Hauses bei

Vidar und Heidi wohnte, einem ewig zugekifften Paar, von denen ich ab und zu mein

Dope bezog.

Ich versuchte es zuerst bei den beiden und als sie mir aufgemacht hatten, gingen

wir erstmal rein und rauchten einen Joint, bevor wir anfingen, uns zu unterhalten.

Seien schon ein paar Tage, seit sie Lars das letzte Mal gesehen hatten, aber wie

viele, konnten sie nicht sagen. Das letzte Mal sei er bei ihnen gewesen, um zu kotzen,

sagte Heidi und reichte mir die Wasserpfeife.

Nein, an seine Tür hätten sie nicht geklopft, er hätte sich doch gemeldet, wenn er

da gewesen wäre.

Wir gingen alle drei zu seiner Tür. Vidar hatte einen Schlüssel, aber die Tür war

nicht abgeschlossen.

Drinnen war es dunkel, stickig und leer. Plötzlich ertönte eine krächzende

Stimme: „Hasta la vista, baby, hasta la vista...“

Einbeinig stand der Papagei auf dem Schrank und taxierte uns mit eisigen

Blicken. An seinem Käfig hing etwas. Ich trat näher, um es mir anzugucken, ein Foto,

aber im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, wer drauf war. Ich steckte es ein und ging

zur Tür.

Es war ein Foto, das ich geschossen habe, als Lars und ich mit dem Kanu nach

Brjornsjoen gefahren waren und dort übernachtet hatten. Lars war aus dem Foto

herausgeschnitten. Ich drehte das Bild um.

Auf der Rückseite stand: „Hokahe“.

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„Bekim Sejranovićs Roman kann sowohl zeitgenössischer Roman als auch als

Handbuch eines Flüchtlingsdaseins gelesen werden. Vertrieben aus einer Sprache in

eine andere, aus Bosnien nach Kroatien, aus Rijeka nach Oslo, aus dem „Palach“ ins

Gefängnis für illegale Einwanderer, aus dem Leben in Formulare, aus der Zivilisation in

die Wildnis des hohen Nordens, aus der Kindheit in keineswegs gastfreundlichere

Landschaften des Erwachsenseins – die Helden diese Buches kommen tatsächlich

nirgendwo an und nirgendwo her, während die (keineswegs zufälligen) Verse der

Rockband „Let 3“ aus Rijeka zu einem Titel werden, der ihre Reiseroute, ihre

gegenwärtige Position, die Welt, in der sie leben, aber auch jene, aus der sie gekommen

sind, auf präzise Weise beschreibt.

Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das, wo sie herkommen, nicht mehr existiert,

während jenes, wo sie angekommen sind, zwar auf Landkarten zu finden ist, aber

keinerlei Bedeutung hat. Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das Ziel kein Ort ist, an

dem man sich ausruhen könnte und der Weg hierher auch keine Reise war. Aber Bekim

Sejranović lässt sich von dieser Last nicht brechen – inmitten all dieser Widersprüche

(und vielleicht auch ihnen zum Trotz) bleibt sein Buch ein warmer, frischer,

aussagekräftiger und lebendiger Roman, wie wir sie nicht oft zu lesen bekommen.“

Boris Perić