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1 Tilman Rhode-Jüchtern (2012) ([email protected]) „Sense(s) of place“ – Narrative Räume Narrative Geographie Was ist ein Ei? Eigentlich eine einfache Frage. Aber so kann man die Frage nicht stellen, denn ein Ei ist nicht einfach ein Ei. Es ist vielmehr ein Ei aus der Sicht eines Architekten, einer Lehrerin, eines Designers, eines Physikers. Oder es ist ein Ei mit einer bestimmten hier beachteten Eigenschaft. Das Ei hat zwar eine Reihe von objektiven Eigenschaften, z.B. seine Form. Aber das allein sagt noch nicht viel, jedenfalls nicht alles aus; vielmehr sagen die Betrachter etwas aus über das Ei. Auch Architekten fragen sich: Wie sieht ein Designer-Ei aus, wie ein Informatiker-Ei, wie ein Lehrerinnen-Ei?? So ist das auch mit Räumen. Räume sind „Container“ oder „Systeme von Lagebeziehungen“ oder eine „Kategorie der Sinneswahrnehmung“ oder „Soziale, technische oder politische Konstruktionen“ diese Definitionen finden wir im Dokument „Curriculum 2000+“ der Deutschen Gesellschaft für

„Sense(s) of place – Narrative Räume Narrative Geographie · und Tokio dar. Auch der hochgerühmte Soziologe Richard Sennett (1994, 168f) macht z.B. seine

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Tilman Rhode-Jüchtern (2012) ([email protected])

„Sense(s) of place“ – Narrative Räume – Narrative Geographie Was ist ein Ei? Eigentlich eine einfache Frage. Aber so kann man die Frage nicht stellen, denn ein Ei ist nicht einfach ein Ei. Es ist vielmehr ein Ei aus der Sicht eines Architekten, einer Lehrerin, eines Designers, eines Physikers. Oder es ist ein Ei mit einer bestimmten hier beachteten Eigenschaft. Das Ei hat zwar eine Reihe von objektiven Eigenschaften, z.B. seine Form. Aber das allein sagt noch nicht viel, jedenfalls nicht alles aus; vielmehr sagen die Betrachter etwas aus über das Ei.

Auch Architekten fragen sich:

Wie sieht ein Designer-Ei aus, wie ein Informatiker-Ei, wie ein Lehrerinnen-Ei??

So ist das auch mit Räumen. Räume sind „Container“ oder „Systeme von Lagebeziehungen“ oder eine „Kategorie der Sinneswahrnehmung“ oder „Soziale, technische oder politische Konstruktionen“ – diese Definitionen finden wir im Dokument „Curriculum 2000+“ der Deutschen Gesellschaft für

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Geographie (DGfG), in dem möglichst alle Geographen verschiedener Fraktionen ihren Gegenstand wieder erkennen sollen. Immer steht dabei das Wort „Räume“ in Anführungsstrichen, denn wir beschäftigen uns mit Räumen nicht nur als äußerliche fixe Gegenstände. Wir erkennen und definieren einen interessanten Aspekt aus einer bestimmten Perspektive und dann kommunizieren wir darüber. Dafür fassen wir den „Raum“ in Texte. Auch ein Planer, der den Raum als äußeren Gegenstand behandelt, auf Wirkungen reagiert und Eingriffe vorbereitet, tut nichts anderes. „Raum als Text“? Kein Problem. Sogar Karten sollen „Texte“ sein, nämlich „nicht-kontinuierliche“ Texte; dazu gehören außerdem Tabellen, Listen, Grafiken, Diagramme, Schaubilder. Man kann sich Räume und räumliche Probleme also vielfältig in Texten und als Texte wiedergegeben vorstellen; sie werden, wie alle Texte, geschrieben, gelesen und verstanden. Diese Texte funktionieren wie sprachliche Systeme (langue) und in praktischer Kommunikation (parole). Sie haben zudem eine bestimmte Oberflächen- und eine unbestimmte Tiefenstruktur.

Zwei Minuten Theorie

Textverstehen kann nach dem literacy-Konzept der PISA-Studie als ein Prozess angesehen werden: Informationen ermitteln, textbezogenes Interpretieren, Reflektieren und Bewerten. Neben der Information, die der Text liefert, trägt der Rezipient eigenes Wissen an den Text heran:

Textstrukturwissen: Wissen über den Aufbau von Texten, Textsorten, Funktionen von Textteilen.

Weltwissen: Wissen über Sachverhalte, die in einem Text behandelt werden. Dieses Wissen ist in einer spezifischen Weise organisiert: in Typen, in Mustern und Schemata, in Szenarien.

Daneben ist zu bedenken, dass Textverstehen in einem Kommunikationsprozess entsteht; dieser ist ggf. als solcher zu erkennen (Absichten des Produzenten und des Rezipienten, Interessen, Decodierfähigkeiten, Konventionen etc.). Indem neben den textlichen Informationen auch eigenes Vorwissen und Vorleben zum Aufbau der Textbedeutung beitragen, wird auch das Textverstehen ein konstruktiver Prozess.1

1 Der Lingust und Erzähltheoretiker Sigfried J. Schmidt bindet in seinem Buch „Geschichten und Diskurse.

Abschied vom Konstruktivismus“ (2003) die Erzählung/ Geschichte (als Handlungszusammenhang) an den Diskurs (als sozialen Kommunikationszusammenhang):„Unter Geschichte verstehe ich einen unter einer Sinnkategorie (von sinnvoll bis sinnlos) geordneten Zusammenhang von Handlungsfolgen eines Aktanten. Geschichten entstehen durch die intrinsische Verkettung bzw. Vernetzung von Handlungen in der Weise, dass jede Handlung als Setzung von Voraussetzungen zur Voraussetzung von für nachfolgende Handlungen wird und so weiter. Jeder Aktant lebt seine und lebt in seiner Geschichte aus Geschichten, also in einem von ihm selbst bewusst geordneten oder aber sich in seiner Lebenspraxis gleichsam selbst ordnenden Zusammenhang von Handlungsfolgen, den er durch Bezug auf sich zu für ihn sinnvollen Geschichten synthetisiert.“ (S. 49). „Geschichte und Diskurse bilden in ihrer Gesamtheit einen eigenen komplementären Wirkungszusammenhang, der in der Beobachtung doppelt perspektivierbar ist, …“ (S. 53) „Abschied vom Konstruktivismus“ bedeutet für Schmidt in diesem Zusammenhang vermutlich Abschied vom „Radikalen“ Konstruktivismus. Der Sinnzusammenhang einer Geschichte entsteht immer aus einem Zusammenspiel von subjektiver und sozialer Sinnzuweisung. Textstrukturwissen und Weltwissen fallen also dem Subjekt nicht einfach als Individuum in den Schoß.

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Abb. „Landkarte des eigenen Lebens“: Diese Karikatur erinnert uns an die individuellen Prägungen in der Weltaneignung. Auf diesen Denkpfaden erfahren wir „die“ als unsere Welt.

Abb: „In die Wupper“ – Diese Karikatur erinnert an die – individuellen oder kollektiven – Blinden Flecken und Tunnelblicke und Sprachspiele in der kommunikativen Deutung von Welt.

Neben dem Verstehensprozess ist die Dimension der Sachaspekte zu bedenken. Dinge/ Orte/ „Räume“ haben verschiedene Eigenschaften, die ihnen eingeschrieben, aber nicht immer klar lesbar sind bzw. nicht allesamt gelesen werden. Diese Eigenschaften werfen als Aspekte selektiert und in Texten aktiv angeordnet/ hergestellt/ konstituiert; danach werden sie passiv rezipiert/ interpretiert/ synthetisiert. Im Falle räumlicher Gegenstände spricht man von „Spacing“. Das Spacing vollzieht sich nicht einfach „aktiv“ als unbegrenzte Mitteilung, sondern im Rahmen bereits begriffener räumlicher Strukturen; das Interpretieren geschieht umgekehrt nicht einfach „passiv“ , sondern aufgrund von bereits bekannten und angeeigneten sozialen Strukturen und Regeln – wie in der „Landkarte des eigenen Lebens“ ableitbar. Aus diesen Raum-Texten entstehen – neben Daten und Informationen – bestimmte Atmosphären, Emotionen und Ortsbezüge („Sense of place“), Topophilien und Topophobien, Einschluss und Ausschluss. „Emotionale Ortsbezogenheit“ ist nicht nur für Insider möglich, die für einen bestimmten

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Ort Gefühle aufgrund persönlicher Erfahrungen, Erinnerungen und symbolhaften Bedeutungen entwickeln; der Begriff kann sich ebenso darauf beziehen, „wie der Charakter eines Ortes, dessen spezifische physische Merkmale und/oder die seiner Bewohner, von Außenstehenden (outsiders) wahrgenommen wird.“ (Knox/ Marston 2008, 3862). In der Didaktik und Pädagogik sprechen wir von der subjektiven Anschließung und vom imaginativen, verständnisintensiven Lernen. Erkenntnistheoretisch ist die Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive von Belang, um zu klären: Wer spricht und aus welcher Perspektive? Dies wiederum ist wichtig, um essentialistischen Aussagen („Es ist so!“) aus dem Weg zu gehen und die Relativität und Relationalität geographischer Erkenntnisse zu betonen („Ist es so?“).

Reiseberichte und Reiseführer zum Beispiel bedienen sich aus diesem Bedeutungs-Fundus aus Alltagserfahrung, Vorstellungen und Imaginationen in besonderer Weise. In dem Buch „Nie wieder! – Die schlimmsten Reisen der Welt“ bietet Hans Magnus Enzensberger (1995)3 ein weltweites Panorama von subjektiven Ortsbeschreibungen, von Frankfurt am Main über Irland bis Katmandu und Tokio dar. Auch der hochgerühmte Soziologe Richard Sennett (1994, 168f) macht z.B. seine Beschreibung von Manhattan im Rahmen eines persönlichen Stadtspazierganges intensiv und sinnlich nachvollziehbar4. Und er bringt dies auf den Begriff: Eine „fragmentierte Stadt“ wird von einem „fragmentierten Selbst” chamäleonartig in „segmentierten Rollen” erfahren; so sehen es auch die Stadtsoziologen der Chicagoer Schule.

Die narrative Methode und die Mehrperspektivität sind dafür ein/das Konzept. „Eine Frau, die nur in den Kategorien männlich/weiblich denkt, ein Geschäftsmann, der nur in den Kategorien reich/arm denkt, ein Jamaikaner, der nur in den Kategorien weiß/schwarz denkt – sie alle erlangen von der Außenwelt wenig Anregung.“ (Sennett 1994, 167) Das ließe sich auch auf einen Schüler übertragen: Ein Schüler, der nur in den Kategorien gute Note/ schlechte Note denkt, erlangt von der Schule wenig Anregung.

Die Kategorien des Spacing und „sense of space“ erweisen sich als doppeldeutig-hilfreich: Es geht bei „sense“/ „Sinn“ nicht nur um die sinnliche Wahrnehmung, sondern zugleich um Bedeutung und Verstand. (Dies könnte für unsere Zwecke gut bei Kant und seiner transzendentalen Ästhetik in der „Kritik der reinen Vernunft“ nachgelesen werden: Für ihn bilden empirische Anschauung und begriffliches Denken zusammen die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“).

Drei Beispiele Diese einerseits selbstverständlichen, andererseits komplizierten Wechselwirkungen sollen jetzt an drei Beispielen entziffert werden: Ortsbedeutungen (Rafik Schami: Damaskus), Ortssymbole („Der Blaue Strich“), Ortsfunktionen (Projekt Migropolis: Venedig). Daran kann diskutiert werden, inwieweit die Figur „Raum als Text“ bzw. „Sense(s) of Space“ geeignet ist, im Fachunterricht die Welt wahrnehmbar, vorstellbar und begreifbar zu machen und darin eine bewusste und reflektierte Kognitionsleistung zu erkennen. Mehr noch: Diese Erkenntnis auf den zwei Stämmen Anschauung und begriffliches Denken kann sich als die tragfähige verständnisintensive Didaktik erweisen, wo wissensbasierte und testorientierte Instruktion mittel- und langfristig versagen. Noch mehr: Auch in der Fachwissenschaft hat sich das Paradigma der Handlungs- und Subjektzentrierung etabliert, das in besonderer Weise die Mensch-Natur-Verhältnisse fokussiert.

2 Paul L. Knox/ Sallie A. Marston: Humangeographie. Hgg. Von Hans Gebhardt, Peter Meusburger, Doris Wastl-Walter

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2004). Heidelberg (orig. 2007: Places and Regions in Global Context – Human Geography) 3 Hans Magnus Enzensberger (Hg)(1995): Nie wieder! Die schlimmsten Reisen der Welt. Frankfurt/M.

4 Richard Sennett (1994): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt/M. (orig. The Conscience of the

Eye. The Design and Social Life of Cities. 1990)

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Beispiel 1: Das Fenster der Poesie - Reise zwischen Nacht und Morgen Angenommen, im Lehrplan ist die „Orientalische Stadt“ zu behandeln. Dann kann es sein, dass die Schüler zu Beginn mit einer Atlaskarte5 konfrontiert werden, womöglich mit der Frage “Was seht Ihr?“ Zwar ist die Karte auch ein Text, aber sie ist zunächst keine Erzählung. Sie hat als solche keine Anschließung, keinen Kontext und keine Problemstellung. Was kann man dann mehr tun, als das Kartenbild mithilfe der Legende zu reproduzieren?

Abb.: „Damaskus – Orientalische Stadt“ (aus: Diercke 2008, 161)

Ähnlich dürfte es dem Betrachter mit dem Luftbild von Bagdad, dem Schauplatz von „Tausendundeine Nacht“ gehen. Auch ein Luftbild ist ein Text und doch nicht selbsterklärend. Es muss interpretiert werden. Überschrift und Unterschrift sind bereits geronnene Interpretationen bzw. Vorentscheidungen darüber, was interpretiert werden soll.

5 Z.B. Diercke Weltatlas (2008): Damaskus – Orientalische Stadt. Maßstab 1:25.000. 161 (7)

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Abb. Luftbild von Bagdad: „Der Irrgarten der Demokratie“. Es soll – laut Unterschrift – einen Wahlkampf illustrieren: „Unterwegs in einer Stadt, in der sich Politiker nicht zum Wähler trauen“ (Thomas Avenarius: Finde den Kandidaten. Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2010)

Es gibt hier noch keine begriffene räumliche Struktur und keine bekannten sozialen Strukturen und Regeln. Man sieht alles und nichts6. Wechseln wir also abermals das Medium.

Abb. Weltbeschreibung

als Erzählung vom Okzident über den Orient

Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami beschreibt die Reise seines Alter Ego, des alten Zirkusdirektors Valentin, nach Damaskus, allerdings in Begleitung von dessen deutscher Freundin Pia,

6 Vgl. Tilman Rhode-Jüchtern (2011): Beyond Geography. The World with wide Eyes. Jena. 9

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einer Briefträgerin7. Die Erzählungen richten sich in den drei hier ausgewählten Ausschnitten auf den Souk von Damaskus (im Atlas ist dies nur ein Grundriss in der einheitlichen Farbsignatur „rotbraun“). Es soll damit nicht nur atmosphärisch dicht erzählt bzw. zugehört werden, sondern hinter der kleinen Erzählung steht die große Erzählung von der Orientalischen Stadt.

Beobachtungen, Szenen, Gefühle in Ulania, aufgeschrieben, um nicht zu vergessen und um den Gefühlen meiner Mutter näherzukommen

1. (Valentin) Ich bin wie verzaubert. Mit jedem Schritt. Nach ein paar Schritten bin ich im Innern der Stadt. Mitten in den Adern und Arterien bewege ich mich. Bei uns geht man auf der Haut der Städte und ist nie drinnen. Das Licht der Basare ist anders. Es ist einladend, ohne aufdringlich zu sein. Hier hat die Stadt Gesicht und Geschichte, Charakter und Seele. Sie ist ein atmendes Wesen. Wenn ich durch die Gassen gehe und sehe die Bögen, Säulen, Erker und Arkaden aus dem ersten, zweiten oder fünften Jahrhundert, die immer noch ein Teil der Häuser sind, dann denke ich, wie arm unsere Städte sind. Hier glotzt man sie nicht an wie erstarrte Geschichte, sondern man bewohnt sie. Die Zeit scheint hier stillzustehen, doch Dornröschen wird täglich wachgeküsst. Hier hat alles seinen Namen, seinen Geruch und seine Stimme.

(Pia) Ich bin auch im vierten Gang durch den Basar noch entsetzt, dass ich immer gleich in ein Gedränge gerate. So nahe kamen mir fremde Menschen noch nie, nicht einmal bei einer Feier. Alles riecht zu intensiv. Bis zur Straßenmitte stank es aus einer Metzgerei nach Blut und ranzigem Fett. Die überdachten Basare sind mir zu dunkel, und manche Ecke wage ich nicht einmal aus der Nähe anzuschauen, weil ich ahne, dass jemand dort hockt. Ich sehe nur nackte Füße, und das Ganze wirkt bedrohlich. Draußen, wo die Sonne erbarmungslos niederbrennt, weht mir der Staub in den Mund. Und überall diese Marktverkäufer, die ihre Angebote rücksichtslos jedem Vorbeigehenden ins Ohr brüllen.

2. (Valentin) Ich werde nie müde. Hier wartet nach jedem Schritt eine Überraschung. Jede Fußgängerzone langweilt mich nach drei Gängen. Hier gehe ich fast täglich durch den Basar, und er ist immer wieder neu. Der ärmste arabische Verkäufer erzählt mehr als zu Hause das gesamte Personal eines großen Einkaufszentrums. Hier genießt man die Geschichten, und die Ware ist nur ein Anlass, sie zu hören oder zu erzählen.

(Pia) Ein friedlicher Mann verwandelt sich, sobald ich nur in die Nähe seines Verkaufstandes komme, in ein lautes, herumfuchtelndes Wesen, das mir irgendetwas andrehen will. Und dann diese Blicke, die die Verkäufer auf die Passanten werfen – dagegen ist ein Röntgenstrahl gnädig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir ihr Blick das Kleid versengt. Ich wollte einen Ring für Margret, meine liebste Kollegin, kaufen, also suchte ich einen Goldschmied, und er zeigte mir mehrere Ringe. Einer davon gefiel mir, und wir einigten uns schnell über den Preis. Dann fragte ich, ob der Stein darin ein echter Rubin sei. Der Mann sprach perfekt Englisch, aber ein „yes“ kam ihm nicht über die Lippen. Stattdessen erzählte er mir eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, und plötzlich war der Ring verpackt. Ich habe bezahlt und erst draußen auf der Straße gemerkt, dass ich keine Antwort auf meine Frage erhalten hatte.

3. (Valentin) In der Altstadt spürt man, dass die Menschen viel lachen und dass sie eine Gemeinschaft bilden. Ich begreife langsam, dass Kauf und Verkauf nur die eine, die blasse Seite des Handels sind. Er ist zugleich ein Zeichen von Leben und von der Anerkennung der Vernunft. Mit Toten und Trotteln handelt kein Araber. Heute stand ich lange in der Nähe eines Bettlers, beobachtete ihn und fragte mich, was ihn von einem Bettler in einer Fußgängerzone in Deutschland unterscheidet. Hier verkauft der Bettler wortreich nicht sich, sondern seine Armut und den Nutzen, den jeder Passant davon hat, ihm Gutes zu tun, auf Erden wie im Jenseits. Nabil übersetzte mir die Sätze eines Bettlers. Die reinste Verführung! Bei uns sitzen die Bettler hinter Kartons, auf denen ihr Elend wie eine Gebrauchsanweisung steht.

(Pia) Nirgends fühlte ich mich so einsam wie heute hier in den Gassen und im Basar. Mir schien, als würden sich alle kennen und zueinander zu gehören. Ich war die einzige Fremde. In den Fußgängerzonen bin ich fremd unter Fremden, und das ist auch eine Art Geborgenheit. Hier ist jedes Kind, das sich gewandt wie ein Fisch in diesem Meer von Menschen bewegt, sicherer als ich. Die Bettler sind aufdringlich. Dass sie ihre Hand nicht in meine Tasche stecken, ist auch alles.

4. (Valentin) Überfall. Ein großer Junge, dunkelhäutig und mit verwegenem Blick, verfolgte mich im Basar und durch die Gassen. Und dann passte ich Dummkopf nicht auf und geriet in eine Sackgasse. Jetzt denke ich, dass er mich vielleicht sogar dorthin dirigiert hat. Dann plötzlich zückte er ein großes Messer. So etwas

7 Rafik Schami (1995): Reise zwischen Nacht und Morgen. Frankfurt/M. vgl. dazu auch: Tilman Rhode-Jüchtern

(2.

2006): Derselbe Himmel, verschiedene Horizonte. Wien, 24-37

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Furchtbares habe ich seit Indonesien (vor etwa zwanzig Jahren war ich da) nicht gesehen. Ich erklärte ihm, dass ich ihm mein Geld geben wolle, damit er nicht nervös wurde, wenn ich mein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche zog. Der Junge war gefährlich. Er wusste, wenn er gefasst wird, erwartet ihn eine Strafe bis zu lebenslänglicher Haft. Mit dieser Härte reagiert die Regierung hier auf jedes noch so geringe Vergehen gegen einen Fremden. Zugunsten des einträglichen Fremdenverkehrs lässt sie ein paar schwarze Schafe über die Klinge springen. Das hat eine große Sicherheit für die Ausländer zur Folge, aber auch eine gewisse Nervosität bei den Räubern. Man will schnell weg und die Spuren verwischen, was einen Ausländer wiederum das Leben kosten kann. Ein Teufelskreis!

(Pia) Ein junger Verrückter hielt mich freundlich in einer Gasse auf und machte mir eine Liebeserklärung in englischer Sprache. Es hörte sich nach einem Zitat aus einer Seifenoper an, ich lachte und wollte weitergehen. Da wurde er unangenehm und bedrohte mich mit einem rostigen Schraubenzieher. Doch schnell waren ein paar Nachbarn da, die von ihren Kindern alarmiert wurden. Sie hielten den Verrückten zurück, entschuldigten sich und baten mich, nicht die Polizei zu rufen, damit sie den Eltern des Jungen keine Probleme machten.

(aus: RAFIK SCHAMI: Reise zwischen Nacht und Morgen. 1995, S. 322–331)

Diese vier Textfragmente dauern im Vorlesen keine fünf Minuten. Jeder Zuhörer kann selbst beurteilen, ob ihm dieser geringe Zeitaufwand bereits ausgereicht hat, eine Imagination von Damaskus und dem Souk zu entwickeln. Wenn ja, wäre das eine sehr effektive Narration des Einzelfalls Damaskus/ des Typus Orientaltische Altstadt/ der Perspektivität der empirischen Anschauung und des begrifflichen Denkens. – Die Perspektive der Pia kann eine Anschließung an eigene Erfahrungen eröffnen, wenn man aus Deutschland ganz naiv in eine fremde Kultur (und städtische Räumlichkeit) eintaucht. Schließlich kann hier mit minimalem Aufwand weitergehend nachgefragt werden: Welche Sozialstruktur lässt sich aus dem Auftreten etwa der Bettler oder des gewalttätigen Jugendlichen und seiner Eltern bzw. Umgebung erschließen? Welcher Transfer ist damit möglich auf ähnliche Szenarien in anderer kultureller Umgebung (etwa gewalttätige Jugendliche bei uns in einer Altstadt)? Was geschieht bei einem Verkauf im Souk zwischen den Akteuren? Wie bewerten wir diese Befunde? Alles zusammen: Verständnisintensiver Geographieunterricht im narrativen, handlungs- und subjektzentrierten Paradigma. (Wenn wir nun noch den nicht-kontinuierlichen Text Atlaskarte hinzuziehen, wäre doch die Frage, was wir damit mehr oder anders erfahren können.) Gerade in Zeiten der Unübersichtlichkeit und Komplexität kann der Blick durch das Fenster der Poesie zur Orientierung verhelfen. David Lewis (Sozialpolitologe), Dennis Rodgers (Wirtschaftsgeograph), beide an der London School of Economics und Michael Woolcock (Soziologe) von der Weltbank erklären in ihrer Schrift „The Fiction of Development: Literary Representation as a Source of Authoritative Knowledge” (Journal of Developmental Studies Heft 2/2008):

“Trotz einer regelmäßigen Produktion von akademischen Studien, Expertenberichten und strategisch motivierten Positionspapieren leisten Romanautoren vermutlich ebenso gute – wenn nicht bessere – Arbeit, wenn es um die Darstellung und Vermittlung von Tatsachen der internationalen Entwicklung geht.“

Beispiel 2: Signifikative Geographie - Der Blaue Strich Räumen eignen verschiedenste Eigenschaften, die aber erst durch subjektive Entzifferung evident und wichtig werden. Wir betreten z.B. eine Passage im öffentlichen Raum („public space“)und es fallen uns zunächst nur die Läden und Stände auf, Verkaufen, Verzehren und Dienstleistung sind schließlich die offenkundigen und bestimmungsgemäßen Funktion. Die Passage bietet die Läden dar und diese werden von den Nutzern erkannt. Es könnte aber sein, dass im Winter Menschen hier nur Wärme suchen. Oder dass hier unerkannt bestimmte Geschäfte mit Drogen gemacht werden. Oder dass hier Jugendliche durch bloße Präsenz einen Angstraum erzeugen.

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Es kann auch sein, dass im Rahmen eines sozialräumlichen Experimentes Schüler hier ein kleines gepflegtes Frühstück am Rande der Fußgängerströme einrichten; sie sitzen nichtstörend auf dem Boden. Es kann dann sein, dass sofort ein Ladenbetreiber oder ein Sicherheitsmensch kommt und dies untersagt. Begründung: Es handele sich um privaten Raum. Die Öffentlichkeit des Raumes kollidiert nun plötzlich mit dieser Zuschreibung „Privat“. Auf die Frage, wie man diese Unterscheidung erkennen und den Platzverweis legitimieren könne, wird auf einen „Blauen Strich“ verwiesen.

Abb.: Der „Blaue Strich“ bedeutet vielleicht weiter nichts/ ein Ornament/ eine Grenze/ einen Rechtsstatus/ ein ???

Auflösung: Dieser Blaue Strich verläuft etwa einen Meter vor den Schaufenstern und markiert das mit gemietete „Hoheitsgebiet“ der Läden. Die räumliche Signatur fällt erst dann und nur denen auf, die eine zunächst unsichtbare Eigenschaft des Raumes durch ihr Handeln offenbar werden lassen. Der Blaue Strich ist eine heimliche Erzählung über die zwei genannten Raumeigenschaften , nämlich öffentliches Wegerecht und privates Eigentumsrecht ; diese werden aber nur einigen der vielen Nutzer offenbar gemacht. Der Blaue Strich ist nicht selbsterklärend wie etwa ein Stacheldraht oder eine Lichtschranke mit Sirene. Er ist signifikativ, gibt dem Raum Struktur, und diese wird den handelnden Subjekten nur im Zweifel und im Einzelfall auch noch in Worten erläutert.

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Der Blaue Strich vermittelt zwischen räumlicher Struktur und raumgebundener Handlung. Damit befinden wir uns in einem grundsätzlichen Kategorienpaar der Sozialwissenschaften und zugleich der Geographie: Struktur und Handlung.8 Wenn man diese Funktionsweise des Blauen Strichs und seine Exemplarität verstanden hat, wird der Transfer leicht fallen und für Schüler reizvoll sein. Wo und wie wird im Raum Macht ausgeübt, in welcher Art und Weise? Gibt es verschiedene Raum- und Symboldeutungen, gibt es die Möglichkeit der Gegenmacht und –definition? Welche Medien und Methoden werden dafür genutzt? Polizei, Menschenmenge, Drohungen, Gespräch, Vereinbarungen auf Zeit etc.? Was lässt sich daraus für die Funktionsweise der Gesellschaft schließen über Definitionsmacht, vorauseilenden Gehorsam, Zusammenleben und Koexistenz, Werte/Normen und Gebräuche? Beispiel 3: Funktionsfolien einer Stadt - Venedig mit offenen Augen Das große Buchprojekt „Migropolis“ stellt uns Venedig mit einem weiten Blick vor, genauer: in einem ersten, einem zweiten und einem dritten Blick. Tausende von Bildern, Grafiken, Karten, Interviews und Erläuterungen durchstöbern Venedig als eine „Generic City“, also eine typische „gattungsmäßige“ Stadt in der Globalisierung – ganz anders als ein Reiseführer oder Bildband. Wer Venedig besucht, wird zunächst dieselben Gegenstände sehen wie jeder andere, aber er wird sie auf eigene Weise sehen. Und wer Venedig zweimal besucht, wird neue Dinge dazu und schon gesehene Dinge anders sehen. Machen wir dazu einen Versuch in zwei Spaziergängen. Zunächst sehen wir das Erwartete und Typische, manchmal etwas Irritierendes. 9

Abb.: Titel des Buches „Migropolis“ –

Gondel, Postkarten-Ensemble (teilweise wg. Renovierungsarbeiten zugehängt)

8 Vgl. Rhode-Jüchtern, T. (1999): Der blaue Strich. Zur Handlungsbedeutung aktionsräumlicher Zeichen. In: Geographische

Zeitschrift 3/1999, S. 211-222.

9 Vgl. Rhode-Jüchtern, T. (2011): „Beyond Geography!? – The World with wide Eyes”. A Course in 4 Steps. (Sozialgeographische Manuskripte 13/2011). Universität Jena, Lehrstuhl für Sozialgeographie, 07740 Jena

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Wolkengebirge über Venedig

Bettlerin

Freudlose Frau

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)

Straßenhändler

Chinesische Touristen

Schiffe auf dem Giudecca-Kanal

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An den Kreuzfahrtschiffen “Legend of the Seas” und „Zenith“

Typische Gondelszene

Wir machen uns noch einmal auf den Weg, wir sehen dieselben Dinge. Aber wir sehen jetzt etwas anderes.

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Die Gondel zeigt uns Fahrgäste mit dunkler Hautfarbe

und blauen Säcken statt Rollkoffern.

Die Renovierungsplanen vor den „Postkartengebäuden“ sind Reklametafeln

Die Wolken stammen aus einem großen Industriegebiet.

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Die alte Bettlerin entpuppt sich als ein junger Mann,

der seine junge Haut meist in Wollhandschuhen verbirgt, auch im Sommer, nun schon im fünften Jahr.

Die ältere Frau ist eine Putzfrau aus Moldawien,

deren Pass nicht mehr gültig ist und deren Visum abgelaufen ist; damals kostete es 2000 DM, jetzt wären es 5000 €.

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Die Menschen auf der Gondel sind Straßenhändler mit gefälschten Markenartikeln;

sie fliehen vor der Polizei, sind aber Minuten später wieder da.

Die Chinesinnen wollen Gucci-Taschen kaufen;

deshalb knibbeln die Händler die „Made in China“-Aufkleber vorher ab.

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Das Schiff zeigt seine enorme Größe im Verhältnis zu den Proportionen der Stadt Venedig;

ihre Abgase machen die Luft von Venedig zur drittschlechtesten in ganz Italien.

Der weiße Strich ist eine Abstandslinie zum Kreuzfahrtschiff;

nur Passagiere dürfen diese übertreten.

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Die Idylle von Venedig

ist in Wirklichkeit eine Kulisse in der Casinostadt Macau; die andere Idylle ist eine Filmkulisse in Luxemburg.

Jede Situation, jedes Bild enthält eine Tiefenstruktur, die eine andere oder weitere Wirklichkeit enthält. Man sieht sie aber nur, wenn man danach sucht, z.B. die Bettlerin stunden- oder tagelang beobachtet. Man kann die neuen Bedeutungen als Ergebnis eines Zweiten Blicks bezeichnen. Aber damit ist man noch nicht fertig, es gibt noch einen Dritten Blick. Wenn wir die alte Bettlerin als jungen Mann entlarvt haben – was bedeutet denn diese inhaltliche Verschiebung? Gibt man einem jungen Bettler nichts, einer alten Bettlerin aber doch? Hat ein junger Mann keinen Hunger? Oder hat er keinen Hunger, weil er Mitglied einer organisierten Bettlergruppe ist? Hat er kein Recht auf eine Geschäftsidee, die auf Täuschung beruht? Welche Moral verwenden wir für ihn innerhalb unserer Moral oder wohin verweisen wir ihn? Nach der Betrachtung einer Oberfläche – im Ersten Blick – stoßen wir auf überraschende Erklärungen – Zweiter Blick – und beurteilen und bewerten diese im Rahmen einer bestimmten Problemstellung – Dritter Blick. Und fachlich gesehen erkennen wir in all dem verschiedene Aspekte der Straßen von Venedig als einer „Generic City“, nämlich als Prospekt- Straße, als Globale Straße, als Subsistenz-Straße, als Konflikt-Straße, als Kulissen-Straße. In diesen Bedeutungsfeldern lässt sich der Fall angemessen komplex kommunizieren.

Fazit Wir haben versucht, einige Phänomene der äußeren Wirklichkeit zu erkennen, d.h. zu beobachten und zu erklären und am Ende darüber eine Meinung zu bilden. Dafür haben wir drei verschiedene Blicke genutzt: Oberfläche und Muster sehen, Interpretationen und Erklärungen entwickeln, Urteile und Bewertungen bilden. Wir haben dafür verschiedene Kompetenzen genutzt, indem wir bereits bekannte Regeln und Muster zur Hand hatten (Kompetenz), diese mit eigener Kreativität und Konstruktivität konkret weiter entwickelt haben und schließlich in eine Kommunikation überführt haben (Performanz): Was bedeutet die Beschreibung und Erklärung für Urteile, Bewertungen und Handlungsorientierung? Der Blaue Strich war objektiv vorhanden, konnte aber in seinen weiteren Eigenschaft noch nicht gelesen werden; dazu brauchte es ein konkretes Ereignis und eine subjektive Irritation. – Der Versuch, „die orientalische Stadt“ zu beschreiben, war am Atlas- und Luftbild nicht zufriedenstellend zu leisten, diese „Texte“ waren zu allgemein und abstrakt; helfen konnte uns ein narrativer Kontext , der sowohl Eigenschaften der Sache durch die Lesarten von Subjekten fokussierte und mit einem

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möglichen Sinn versah. – Im Fall der „Reise zwischen Nacht und Morgen“ gelang es sogar, ganz verschiedenartige Lesarten zu erhalten und damit nicht nur die Perspektivität von Subjekten, sondern auch die ihrer Herkünfte und Prägungen – hier: Okzident und Orient – nutzen zu können. Auch die Reise nach Venedig hat uns die „Sache“ erschlossen, indem wir eine bestimmte Methode des Entzifferns dieses verwickelten Textes Venedig gewählt haben, nämlich das zweimalige Lesen und danach das Kommunizieren, in einem Ersten, einem Zweiten und einem Dritten Blick.

Wenn wir diese Methodik, nämlich das Erkennen von Eigenschaften der Dinge und das Erzählen dieser Eigenschaften als Fallgeschichte handhaben, machen wir uns die Erfahrung auch anderer Fächer zunutze, nicht nur der Literaturwissenschaft und Erzähltheorie, sondern auch z.B. die Ausbildung in der Medizin und der Rechtswissenschaft. Diese lehren ihr Fach in Theorie und Praxis ganz wesentlich über Fälle. In einer prinzipiell unbegrenzten Komplexität und einem Übermaß des Wissens muss man eine Reduktion vornehmen, die das Wesentliche erhält und dies für den Einzelnen erkennbar macht.

Das Medium des Verstehens von Strukturen/ Regelhaftigkeiten und Handlungsweisen ist der Fall, die Geschichte. Wer meint, mit dem Geschichtenerzählen im abwertenden Sinne von Anekdoten würden wir dem Fach den wissenschaftlichen und sachlichen Anspruch verderben, dem sei gesagt: Damit sind auf der ganz sicheren Seite, auch der Hirnforschung. Für die Motivation gilt: „Geschichten und Zusammenhänge treiben uns um, nicht Fakten“ (Hirnforscher Manfred Spitzer 2004). Und für das Gedächtnis gilt: „Wir speichern Dinge als Geschichten.“ (holl. Psychologe und Gedächtnisforscher Douwe Draaisma, In: Der Spiegel 36/2004).

Und wo uns die quantitative Interessenforschung hinsichtlich der besonderen Motivation von Schülern nicht wirklich beseelt und wo uns die mäßigen Befunde über ihr Wissen und ihre Weltorientierung betrübt , brauchen wir noch etwas mehr qualitative Aufklärung, denn

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ (Cees Noteboom)