Sergio Bologna - Geld und Krise. Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune 1856-57 (Wildcat 85 Beilage)

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  • 8/9/2019 Sergio Bologna - Geld und Krise. Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune 1856-57 (Wildcat 85 Beilage)

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    Beilage zur Wildcat 85, Herbst 20091

    Sergio Bologna

    Geld und Krise.

    Marx als Korrespondent der New York Daily Tribune1856-57*

    Anfang 1855, in der Neuen Oder Zeitungvom 11., 12., 20. und 25. Januar 1855,und in den darauf folgenden Monaten noch mehrmals beschftigte sich Marx mitden zyklischen Krisen und weiteren Fragen im Zusammenhang mit der britischenBankreform von 1844. Die ersten Vorboten der groen Rezession von 1856-58

    waren zu spren; es war dringend ntig, ihre Ursachen grndlich zu analysieren.Marx unverffentlichte Notizen ber Geldwesen, Kreditwesen, Krisen stammen

    aus der Zeit von November 1854 bis Januar 1855: das Verhltnis zwischen Geld-form und allgemeiner Krise muss ihm also schon vor der direkten Krisenerfahrung

    von 1857 klar gewesen sein. Trotzdem kann man wohl sagen, dass speziell dieseErfahrung ein entscheidender Wendepunkt war, in dessen Zentrum der langsamGestalt annehmende Plan fr das Kapitalund der wiedererwachte Wille standen,praktisch die Grundlagen einer revolutionren, internationalen Arbeiterpartei zu le-gen. Vielleicht htte Marx auch die grundlegende Einheit zwischen theoretischemKonzept und Parteiprojekt nicht so solide umgesetzt, wenn er nicht die Geldkrise

    von 1857 gesehen, erforscht, verfolgt htte. Ausgehend von diesen Prmissen habenwir noch einmal die Artikel zum Thema gelesen, die Marx von Juni 1856 bis De-zember 1858 fr dieNew York Daily Tribune schrieb.1

    Dieser Teil von Marx journalistischer Ttigkeit hat bisher kaum Beachtung ge-funden, was wohl auch an seiner eigenen Darstellung dieser Arbeit liegt. Bei jederGelegenheit lie er seine Verachtung fr die Zeitung durchblicken: Ich habe ges-tern wieder die N.-Y.T. (weekly) gesehen. Nichts als Electoral dodge fllt dasganze Blatt und wird so noch fr Monate tun. Ernsthaft kann die N.-Y.T. erst

    wieder angepackt werden, sobald die Prsidentschaftsscheie zu Ende ist.2 W-tend ber die gekrzten Honorare, die im brigen seine einzige feste Einkommens-quelle darstellten, schrieb er am 23. Januar 1857 erneut an den Freund: Es ist inder Tat ekelhaft, dass man verdammt ist, es als ein Glck zu betrachten, wenn einsolches Lschpapier einen mit in sein Boot aufnimmt. Knochen stampfen, mahlenund Suppe draus kochen wie die Paupers im Workhaus, darauf reduziert sich die

    * Moneta e crisi:Marx corrispondentedella New York DailyTribune, 1856-57, in:Sergio Bologna, PaoloCarpignano, Antonio Ne-gri: Crisi e organizzazioneoperaia, Mailand 1974, S.

    9-72. Zuerst erschienenin: Primo MaggioNo. 1,September 1973.

    1 Die vorliegendeArbeit sttzt sich auf dieMikrofilme der entspre-chenden Jahrgnge derNew York Daily Tribune(im folgenden abgekrztNYDT), freundlicherweisezur Verfgung gestelltvom Istituto Feltrinelli.Der Autor dankt dafrder Leitung und dem

    Personal des Instituts.[In der deutschen ber-setzung sind die Artikelzitiert nach der deutschenFassung in Marx EngelsWerke [MEW], Berlin:Dietz Verlag, Band 12,Anm. d. bers.] Auchdie anderen im Texterwhnten Schriften undBriefe von Marx sindnach den MEWbzw. derGrundrisse-Ausgabe von1953 zitiert.

    2 Marx an Engels,1. August 1856,MEW29, S. 68.

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    politische Arbeit, zu der man reichlich in solchem concern verdammt ist. Als Eselbin ich mir zugleich bewusst, nicht grade in dieser letzten Zeit, aber whrend Jah-ren, den Burschen zuviel fr ihr Geld geliefert zu haben.3

    An Lassalle schreibt er am 12. November 1858, er habe fr wenigstens zweiDruckbnde englische Leitartikel de omnibus rebus et quibusdam aliis geschrie-ben.4 Handelte es sich also um eine Gelegenheitsarbeit, vllig aufgezwungen undauerhalb der eigenen Interessen? Eine entfremdete Lohnarbeit? Ein Hungerjob?Gewiss. Seine Frau wird gegenber Conrad Schramm sehr deutlich: Karl arbeitetam Tage, um frs tgliche Brot zu sorgen, nachts, um seine konomie zur Voll-endung zu bringen.5 Zudem bin ich nicht Herr meiner Zeit, sondern ratherKnecht.6 Ich bin gezwungen, den Tag zu tten mit Erwerbsarbeiten. Es bleibt mirnur die Nacht fr wirklicheArbeiten ber7, schreibt Marx bei zwei verschiedenenGelegenheiten an Lassalle.

    Und doch ringt er sich im zuletzt zitierten Brief ein wichtiges Gestndnis ab:Die gegenwrtige kommerzielle Krise hat mich dazu angespornt, mich nun ernst-haft an die Ausarbeitung meiner Grundzge der konomie zu geben.8 Fr diesesGestndnis lassen sich indes zahlreiche Belege finden; die Gegenberstellung derfr dieNYDT-Artikel gesammelten Materialien mit den in den Artikeln selbst ent-haltenen Einschtzungen und mit dem Text der Grundrissezeigt, dass es tatschlichkeinen Bruch zwischen der Tag- und der Nachtarbeit gab. Uns geht es hier abernicht um eine bloe philologische Rekonstruktion, um eine bessere Katalogisierungder Quellen der Grundrisseund somit des Kapitals, sondern darum, dass die Analyseder Geldkrise von 1857 politisch und theoretisch zentral war auch wenn sie durchdie journalistischen Umstnde gefrbt war. Diese Hypothese ist alles andere als ori-ginell. Mit gewohnter Schrfe hat schon Rosdolsky sehr przise seine Vermutungformuliert: Vom Sommer 1852 bis zum Herbst 1856 wurde Marxens Arbeit ander Kritik der Nationalkonomie durch seine publizistische Erwerbsttigkeit un-terbrochen. Das heit natrlich nicht, dass die Studien, die Marx zu diesem Behufebetrieb, ohne Bedeutung fr sein nationalkonomisches Werk gewesen seien. ImGegenteil: da sehr viele seiner Korrespondenzen von auffallenden konomischenEreignissen in England und auf dem Kontinent handelten, musste sich Marx mitpraktischen Details vertraut machen, die zwar auerhalb des Bereichs der eigentli-chen Wissenschaft der politischen konomie lagen, die ihm aber trotzdem spterzustatten kamen. Es gengt hier, auf seine zahlreichen Artikel ber die Wirtschafts-konjunkturen, die Fragen der Handelspolitik und ber die englische Arbeiter- undStreikbewegung hinzuweisen.9 Und weiter: Es ist sehr charakteristisch, dass derunmittelbare Entschluss, den Rohentwurf niederzuschreiben, und die fieberhafteEile, mit der dies geschah (das ganze, fast 50 Druckbogen starke Manuskript wurdein neun Monaten vom Juli 1857 bis Mrz 1858 fertig!), vor allem dem Ausbruchder Wirtschaftskrise 1857 geschuldet waren.10 Rosdolsky schliet also: Es wregewiss sehr lohnend, die wirtschaftshistorischen Themata, die Marx einerseits inseinen Artikel in der N. Y. Tribune und andrerseits im Kapital behandelt, nherzu vergleichen.11

    Die politische Wut, die in dieser Zeit seines Lebens aus Marx spricht, richtetsich voll und ganz auf eine Rckkehr zur Militanz, auf ein Organisationsprojektmit dem Kapitalals Programm und theoretischer Grundlage. Er stellt sich zwar alsarmen Akkordarbeiter vonNYDT-Chefredakteur Dana dar, aber er ist immer nochderselbe Marx, der die Gesetze des Arbeiterverhaltens in der 1848er Revolution inFrankreich untersuchte, und er macht da weiter, wo er mit den Klassenkmpfen in

    3Marx an Engels, 23.Januar 1857, ebendaS. 102.

    4 Marx an FerdinandLassalle, 12. November1858, ebenda S. 567.[ber alles Wissbareund einiges andere]

    5 Jenny Marx anKonrad Schramm, 8.Dezember 1857, ebenda,S. 645.

    6 Marx an Lassalle,22. Februar 1858, eben-da, S. 550.

    7 Marx an Lassalle,21. Dezember 1857,ebenda, S. 548.

    8 Ebenda.

    9 Roman Rosdolsky,Zur Entstehungsge-schichte des MarxschenKapital, Frankfurt a.M.,Wien: EVA 1968, S. 20.Rosdolsky zitiert hierMarx aus Zur Kritik derPolitischen konomie,MEW 13, S. 11.

    10 Rosdolsky, a.a.O.,S. 21.

    11 Ebenda, S. 20, Fu-note 35. Vgl. besondersauch die Anmerkungen

    von Tronti in seinerEinleitung zu Karl Marx,Scritti inediti di economiapolitica, Rom: Ed.Riuniti 1963, S. XVIIff.[In diesem Band erschienzum ersten Mal der 1858erstellte sogenannteUrtextvon Zur Kritik derpolitischen konomieauf Italienisch. DerHerausgeber des Buches,Mario Tronti, weist inseinem Vorwort ebenfalls

    auf den Zusammenhangmit den Artikeln fr dieNYDThin.]

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    Frankreich angefangen hatte. Der Marx, der den Freund in Manchester in dieser Zeitimmer wieder, geradezu besessen ausfragt, wie die Krise in den Unternehmer- undKaufmannszirkeln der nordenglischen Textilindustrie gesehen wird, ist der Marxdes ersten Bands des Kapitals. Aber im Verhltnis zwischen Krise und Geldformsteckt noch etwas anderes: eine Neuinterpretation der politischen Institutionenausgehend von der Geldorganisation und eine Neuinterpretation der Wertgesetzeausgehend von einem bereits reifen Stadium der kapitalistischen Entwicklung. DieKrise erschttert die neuen Geschftsbanken und das politische Gleichgewicht desbonapartistischen Regimes, verurteilt das kapitalistische Umstrukturierungspro-gramm von Napoleon III. zum Scheitern und zeigt der Arbeiterklasse das neueKampfterrain und die neuen Ausmae der Organisation fr die Macht. Auch dieSchlacht gegen den sozialistischen Doktrinarismus erreicht ein neues Niveau, undMarx Polemik richtet sich nicht so sehr gegen die labouristischen Tendenzen,gegen die von Louis Blanc propagierten Nationalwerksttten, als vielmehr gegendie Proudhonschen Utopien ber das Verhltnis zwischen Ware und Geld, gegendie sozialistischen Illusionen von der Abschaffung der Ausbeutung durch die Ab-schaffung des Geldes. Bonaparte zwischen den Gebrdern Preire und der Utopieder Stundenzettel des Saint-Simonianers Gray: mit wtender Schadenfreude siehtMarx diesen historischen Block in der allgemeinen Krise endlich zerfallen und den

    Weg freimachen fr den neuen Aufstand der Arbeiter. Dieser historische Blocksttzt sich direkt auf den Weltmarkt als etwas Homogenes, als neuen Stand der Pro-duktivkrfte, als neue historische Form des Kapitals nach der Krise von 1848, aufeinen Weltmarkt, der die Krise zugleich voraussetzt und von ihr berwunden

    wird.

    Marx als Manchesterianer

    Viel davon war schon in den Artikeln ber die Klassenkmpfe in Frankreich ange-deutet gewesen: die Bedeutung der Bankiers, sowohl in der Julimonarchie als auchim Regime des neuen Napoleon, war ausreichend deutlich geworden. Nach der

    Julirevolution, als der liberale Bankier Lafitte seinen compre, den Herzog von Or-lans, im Triumph auf das Htel de Ville geleitete, lie er das Wort fallen: Vonnun an werden die Bankiers herrschen. Lafitte hatte das Geheimnis der Revolution

    verraten. Nicht die franzsische Bourgeoisie herrschte unter Louis-Philippe, son-dern eine Fraktion derselben, Bankiers, Brsenknige, Eisenbahnknige, Besitzer

    von Kohlen- und Eisenbergwerken und Waldungen, ein Teil des mit ihnen alliiertenGrundeigentums die sogenannte Finanzaristokratie. Sie sa auf dem Throne, siediktierte in den Kammern Gesetze, sie vergab die Staatsstellen vom Ministeriumbis zum Tabaksbro. Die eigentliche industrielle Bourgeoisiebildete einen Teil deroffiziellen Opposition, d.h., sie war in der Kammer nur als Minoritt vertreten.12Die Parabel schliet sich 1850: Sein Finanzminister hie Fould. Fould Finanzmi-nister, das ist die offizielle Preisgebung des franzsischen Nationalreichtums an dieBrse, die Verwaltung des Staatsvermgens durch die Brse und im Interesse derBrse. Mit der Ernennung Foulds zeigte die Finanzaristokratie ihre Restaurationim Moniteur an.13

    In dieser historischen Bewertung zeigt Marx sich aber noch als echter Man-chesterianer: Es gibt eine fortschrittliche, reformerische, produktivistische In-dustriebourgeoisie, und es gibt eine rckschrittliche, konservative und parasitre

    12 Karl Marx, Die Klas-senkmpfe in Frankreich1848 bis 1850, MEW7,S. 12.

    13 Ebenda, S. 77.

    Saint-Simon

    Begrnder einer Schuledes franzsischen utopi-schen Sozialismus.Sein Ziel war eineGesellschaft, die aufder Arbeit aller beruhte.Dabei sollten Arbeiterwie Unternehmer nachihrer Leistung entlohntwerden, whrend dieparasitren Klassenwie Adel oder Zwischen-hndler leer ausgingen.

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    Finanzbourgeoisie. Bei Marx gibt es noch eine vllig starre Gegenberstellung:auf der einen Seite das Wertgesetz und auf der anderen das Kapital als Zins. DieFinanzwelt, die Bank ist fr Marx noch das Symbol des ancien rgime. Und wie de-finiert er letztlich die Finanzaristokratie? Als Wiedergeburt des Lumpenproletariatsauf den Hhen der brgerlichen Gesellschaft.14 Industrielle Arbeiter, Grundbesitzer Bauern, Lumpenbourgeoisie Lumpenproletariat.

    Was in diesem symmetrischen und thomistisch-formelhaft starren Schema nichtvorkam, war die soziale Basis des Sozialismus, der Boden, auf dem die utopischenIdeologien gediehen: das Kleinbrgertum. Marx war erbarmungslos gegen die Dok-trinre, gegen Louis Blanc und P. J. Proudhon, aber whrend er gerne zuzugab, dassdie labouristischen Parolen die Mystifikation einer realen Forderung nach Macht

    waren, hielt er die Projekte zur Neuorganisation des Kredits fr reine Hirngespinsteeines Doktrinrs, weit entfernt von jeder und sei es noch so mystifizierten realenForderung der Arbeiterklasse: Das Recht auf Arbeit ist im brgerlichen Sinn ein

    Widersinn, ein elender, frommer Wunsch, aber hinter dem Rechte auf Arbeit stehtdie Gewalt ber das Kapital, hinter der Gewalt ber das Kapital die Aneignung derProduktionsmittel, ihre Unterwerfung unter die assoziierte Arbeiterklasse, also dieAufhebung der Lohnarbeit, des Kapitals und ihres Wechselverhltnisses. Hinterdem Recht auf Arbeit stand die Juniinsurrektion.15 Und wenn der Privatkreditauf dem Vertrauen beruht, dass die brgerliche Produktion in dem ganzen Umfangeihrer Verhltnisse, dass die brgerliche Ordnung unangetastet und unantastbar ist,

    wie musste eine Revolution wirken, welche die Grundlage der brgerlichen Produk-tion, die konomische Sklaverei des Proletariats in Frage stellte, welche der Brsegegenber die Sphinx des Luxembourg aufrichtet? Die Erhebung des Proletariats,das ist die Abschaffung des brgerlichen Kredits; denn es ist die Abschaffung derbrgerlichen Produktion und ihrer Ordnung.16

    1856 musste Marx diese in den Klassenkmpfen in Frankreich begonnenen Fra-gen wieder aufnehmen. Man htte erwarten knnen, dass er sein Hauptaugenmerkpolemisch auf jenen Teil der Proudhonschen sozialistischen Lehren richten wrde,die das Recht auf Arbeit, die gesellschaftliche Organisation der Produktion und dieLeitung der Fabrik durch die Arbeiter betrafen; man htte also erwarten knnen,dass er mit seiner Analyse wieder bei der Werttheorie, am Fabrikverhltnis, am di-rekten Produktionsverhltnis ansetzen wrde. Stattdessen stieg Marx in den Grund-rissen mit dem Abschnitt ber das Geld ein, sogar mit der Kritik eines Buches eineseindeutig mittelmigen Autors, jenes Darimon, der schon zahlreiche Vorworte frdie Werke von Proudhon voller Lobhudeleien auf den Meister geschrieben hatte.

    Was war inzwischen geschehen? Es stimmt: am 31. Januar 1849 war Proudhon beimPariser Notar Dassaignes vorstellig geworden und hatte die Satzung der Banquedu Peuple hinterlegt, der Verkrperung seiner Idee vom kostenlosen Kredit, durchden die Emanzipation des Arbeiters und seine Verwandlung vom Lohnarbeiter ineinen mit einer einheitlichen genossenschaftlichen gesellschaftlichen Organisationassoziierten Arbeiter erreicht werden sollte. Aber in den Revolutionsjahren war daseine nebenschliche Episode geblieben, in ihrer Tragweite vergleichbar mit demVorschlag des Romanciers Sue, der sich eine Banque de lhonneur vorgestellt hatte,eine Bank, die Arbeitern gegen ihr Ehrenwort Geld lieh.

    Auch wenn Proudhon 1848 und 1849 die ganze Zeit ber, eingeleitet von seinemtreuen Herold Darimon, weiterhin groe Propaganda fr seine Idee vom kosten-losen Kredit17 gemacht hatte, auch wenn er sich darber eine direkte Polemik mitBastiat (ber die Marx spter ausfhrlich in den Grundrissen spricht) geliefert hatte,

    14 Ebenda, S. 12.15 Ebenda, S. 42.

    16 Ebenda, S. 23.17 P. J. Proudhon,

    Banque du Peuple suiviedu Rapport de la Com-mission des dlgusdu Luxembourg, Paris1849, und Rsum de laQuestion sociale; Banquedexchange(mit einerEinleitung von AlfredDarimon), Paris 1849.Zu diesem Thema vgl.G. M. Bravo, Storia delsocialismo 1789-1848,Rom: Ed. Riuniti 1971,das im Anhang eine aus-

    gezeichnete Bibliographieenthlt (S. 119-141 undS. 172-186).

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    waren die praktischen Auswirkungen der Bankutopien, ihr ideologischer Einflussauf die Proletarier doch vllig nebenschlich geblieben, vor allem im Vergleich zuden Auswirkungen der Parole vom Recht auf Arbeit. Hatten den Juniaufstand nichtdie Massen aus den aufgelsten Nationalwerksttten ausgelst, d.h. aus den pseu-do-wohlttigen Zwangsarbeitsorganisationen, die laut provisorischer Regierungdas Recht auf Arbeit erfllen sollten? Fr die Umsetzung der Bankutopien warenbestimmt keine Barrikaden gebaut worden! Und trotzdem insistiert Marx in denGrundrissen auf diesem Aspekt der sozialistischen Doktrinen.

    Hatte nicht er gesagt, dass die Finanzaristokratie nur eine Fraktion der Bourgeoi-sie darstellte, und zwar diejenige, die nichtdie Bewegung des Kapitals als Prozess,sondern nur als bloes zirkulierendes Kapital, als Produzent von Zinsen ausdrckte?Und doch wird 1856 die institutionelle Organisation der Geldform, die Bank wie-der zum Ausgangspunkt fr eine Analyse der gesamten Bourgeoisie, des Gesamtka-pitals. Was war inzwischen geschehen? Die Antwort auf diese Frage suchen wir inden Artikeln fr dieNYDT.

    Wenn man alleine diese Artikel liest, kann man tatschlich den Eindruck gewin-nen, dass Marx die Finanzkrise, die Eben des Geldes und die spekulativen Wur-zeln der Krise von 1857 so behandelt, als fasse er Krisen als Fehlentwicklungenaus. Das ist aber ein oberflchlicher Eindruck, eine Interpretation, die einer radi-kal-brgerlichen Verflschung von Marx Vorschub leistet. Man knnte unzhligeStellen aus der Korrespondenz mit Engels zitieren, aus denen klar wird, dass erdie monetary panic als Vorankndigung des industrial crash sieht. Die Krise mussdas gesamte neue Terrain der Arbeiterinitiative, die internationalistischen Dimen-sionen des kommunistischen Programms wieder aufdecken. Aber Marx und dasist einzigartig schenkt dem Verhalten der Arbeiter in der Krise so gut wie kei-ne Aufmerksamkeit. Engels fhrt fr ihn gewissenhaft Buch ber die reduzierteArbeitszeit im Baumwoll- und allgemein im Textilsektor, aber Marx konzentriertsich stattdessen vllig auf die Geldform, auf den Weltmarkt. Und das Verhltniszwischen Weltmarkt und Krise wird an einem gewissen Punkt derart wesentlich,dass er zum Endpunkt einer der vielen Zusammenfassungen des Kapitals wird der,die er in der berhmtenEinleitungvon 1857 umreit.18 Aus dem hier Erworbenenergibt sich die Dringlichkeit, die politische Arbeit, die organisatorischen Beziehun-gen wieder aufzunehmen. Marx versucht Lassalle dafr zu gewinnen, Zur Kritikder Politischen konomiein Deutschland zu verffentlichen; das ist schwieriger, ent-spricht aber eher den Partei-Anforderungen.19 Einfacher wre es gewesen, sie inLondon zu verffentlichen, da man in England an Ausfhrungen zur konomi-schen Wissenschaft gewhnt ist aber gleichzeitig so unsicher, was das Verhltniszu den Arbeitergesellschaften nach der Zerstrung der chartistischen Bewegungdurch Urquhardt und Co. betrifft.20 Dann lieber Lassalle und seine Beziehungenmit den Arbeitergesellschaften. So wie er sich nicht mit der Spontanitt der Reakti-onen der Arbeiter in den Textildistrikten auf die Krise aufhlt, sucht und bevorzugtMarx auch eine formale Beziehung mit dem Organisationsprojekt in Deutschland.Aber da jeder Organisationsvorschlag, der vom Zusammenraufen der Emigrationausgeht, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist21, konzentriert sich immer nochalles auf Frankreich, das Land, in dem die Arbeiter es zum ersten Mal gewagt ha-ben, gegen die radikale Bourgeoisie aufzustehen. Das Frankreich des Juni 1848, dasinzwischen zum Frankreich des kaiserlichen Sozialismus, des Geldproudhonismus,des Crdit mobilier geworden ist.

    18 Siehe Einleitung[zur Kritik der Politischenkonomie], MEW13,S. 639.

    19 Siehe die Briefe vonMarx an Lassalle vom 22.Februar 1858, vom 12.November 1858 und vom31. Mai 1859, MEW29.

    20 Siehe Asa Briggs,Chartist Studies,Macmillan, London1962; aufschlussreich

    zu diesem Thema ist derBriefwechsel zwischenMarx und Engels, MEW29.

    21 ... habe ich, seitdem Klner Prozess,mich vollstndig inmeine Studierstubezurckgezogen. MeineZeit war mir zu kostbar,um sie in vergeblichenAnstrengungen undkleinlichen Znkereien zuverschleien. Marx an

    Joseph Weydemeyer, 1.Februar 1859, ebenda,S. 572.

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    Lsst sich die Zusammenarbeit mit der NYDT als kleiner Teil dieser Organi-sierungsarbeit sehen, die Marx parallel zum Entwurf des Kapitals betrieb? Lassensich auch die Formen des politischen Journalismus als eine Wende gegenber denfrheren historischen Werken sehen?

    So gesehen stand hinter der andauernden Zusammenarbeit mit dieser so sehrverachteten Zeitung nicht nur Marx Weigerung, sich in eine money-making ma-chine zu verwandeln22, wie er einmal an Weydemayer geschrieben hatte, sondernauch die Notwendigkeit, eine und sei sie noch so mystifizierte und hauchdn-ne politische Verbindung mit den USA, mit den Militanten jenseits des Ozeansaufrechtzuerhalten. Das nchste kommunistische Organisationsprojekt musste sichkonkret auf dem vom Weltmarkt geschaffenen Terrain bewhren.

    Diesmal wird der crash so unerhrt wie noch nie

    Military and finance, ber diese Themen sollte Marx fr dieNYDTschreiben. Marxmachte sich zunutze, dass Militrgeschichte ein Hobby von Engels war, und brach-te jene lange Artikelfolge ber Indien und China ins Blatt, die so viel Interessebei Leuten geweckt hat, die nach Aussagen von Marx zum Thema Imperialismusgesucht haben. Diese aus berhaupt nicht mysterisen Grnden einzigartigenArtikel zu Kolonial-Themen sind inzwischen sorgfltig gesammelt und kommen-tiert worden23, fast so als ginge es gegenber der Krise um ein separates und in sichabgeschlossenes Thema. Eigentlich stellen sie aber eher eine Ergnzung dar; die

    Widersprche, die die imperialistischen Abenteuer auf dem Weltmarkt auslsen,tragen schlielich zu den Vorzeichen der Revolution in den Metropolen bei. Wiedereinmal wird das, was in China oder in Indien geschieht, unter dem Gesichtspunktdes Verlaufs des Arbeiteraufstands in Europa gesehen.

    Engels trug zu dieser Gruppe von Artikeln oft genauso viel bei wie Marx. Aberwenn wir aufmerksam den Briefwechsel lesen, stellen wir fest, dass die Mitarbeitvon Engels sich auch in den Artikeln zur internationalen Krise niederschlug; mehrals einmal bernimmt Marx seine Einschtzungen wortwrtlich.

    Engels selbst sah in einem Brief an den Freund vom 14. April 1856 den katastro-phischen Charakter der bevorstehenden Krise mit Sicherheit voraus: Diesmal wirdder crash so unerhrt wie noch nie; alle Elemente sind da: Intensivitt, universelleAusbreitung und Hineinverwicklung aller besitzenden und herrschenden sozialenElemente.24 Engels versucht in diesem Brief auch, den richtigen Zusammenhangzwischen Abnormitt der Spekulation und Normalitt des Produktionsprozesseszu finden, als empfindliches Gleichgewicht, das in der Krise kippt, ausgehend voneinem Sektor, nmlich den Eisenbahnen, der als Element des Ungleichgewicht fun-giert und den Prozess der berproduktion auslst. Um mit den Bemerkungen berdie Konkurrenz zwischen England und dem Kontinent zu enden: In diesem enor-men Aufschwung der kontinentalen Industrie liegt aber der lebensfhigste Keim derenglischen Revolution.25

    Als treibende Kraft dieser Spekulation auf Weltebene sah man schon damals diesich in ganz Europa ausbreitenden Finanzinstitute vom Typ Crdit mobilier. AberMarx bohrende Analyse des franzsischen Crdit mobilier war noch viel umfassen-der und besser ausgearbeitet. Der erste Artikel erschien im chartistischen PeoplesPaperam 7. Juni 1856 und wurde von derNYDTin der Ausgabe vom 21. Juni 1856nachgedruckt. Marx nimmt kein Blatt vor den Mund: Der Crdit mobilier erweist

    22 Mir ging es eher

    schlecht als gut whrendder letzten zwei Jahre,da einerseits die braveTribune bei Gelegenheitder Krise meine Einnah-me um die Hlfte krzte,obgleich sie mir in Zeitender Prosperitt nie einenPfennig Zuschuss geben;andrerseits die Zeit er-heischt fr meine Studienber politische konomie(darber gleich mehr)mich zwang, sehr ein-

    trgliche Anerbietungen,die mir in London undWien gemacht waren,(wenn auch mit schwe-rem Herze) abzulehnen.Aber ich muss meinenZweck durch dick unddnn verfolgen und derbrgerlichen Gesellschaftnicht erlauben, michin eine money-makingmachine zu verwandeln.Ebenda, S. 570.

    23 Karl Marx, India

    Cina Russia, hrsg. v.Bruno Maffi, Mailand: IlSaggiatore 1960; KarlMarx, ber China, Berlin:Dietz Verlag 1955; NikolajBucharin, I problemidella rivoluzione cinese,Paris: Edizione Italianadi Cultura Sociale, o.J.;Karl Marx on Colonialism& Modernisation, hrsg.v. Shlomo Avineri, NewYork: Doubleday AnchorBooks 1969.

    24 Marx an Engels,14. April 1856, MEW29,S. 41.

    25 Ebenda, S. 42.

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    sich somit als eine der merkwrdigsten konomischen Erscheinungen unserer Zeit,die grndlich untersucht werden will.26 Diese Institution sei der Hauptvertreterdes kaiserlichen Sozialismus in Frankreich27. Ohne Untersuchung der Funktions-mechanismen des Crdit mobilier lieen sich nicht die Symptome der allgemeinensozialen Erschtterung verstehen, die sich in ganz Europa zeigen.28 Ausgehend

    von den Statuten der Gesellschaft versucht Marx ihr Wesen zu bestimmen. DerCrdit mobilier, der zur Frderung der Entwicklung der Industrie der ffentlichenArbeiten29 gegrndet worden war, kaufte schlielich einen Groteil der Aktien der

    verschiedenen franzsischen Gesellschaften auf, gab dafr eine eigene gemeinsameAktie heraus und wurde dadurch einerseits zum Eigentmer des grten Teils derfranzsischen Industrie und trieb andererseits die Zentralisierung und Einebnungdes Kapitalmarktes voran. Da die Existenz des Crdit mobilier sowie die andererMonopole von einem kaiserlichen Privileg abhngt, kontrolliert Bonaparte durchdies sein Geschpf faktisch die gesamte franzsische Industrie. Aber genau diesegroe gegenseitige Abhngigkeit zwischen Regime und Crdit mobilier sorgt dafr,dass das politische Schicksal des ersteren an das konomische Geschick des letzte-ren gebunden ist, dass die bonapartistische Stabilitt auf den Sand der Spekulationgebaut ist und dass der Crdit mobilier umgekehrt der Sklave der Schatzkammerund der Despot des kommerziellen Kredits wird30. Im zweiten Artikel, der am 24.

    Juni erschien, wendet sich Marx erneut dem engen Verhltnis zwischen Bank undRegime zu und erkannte im System der Abschpfung aller Ersparnisse durch dieFilialen des Crdit mobilier eine der wichtigsten Methoden, mit denen ansonstenungentzte Ressourcen mobilisiert und den Entscheidungen des Regimes unter-

    worfen wurden; eines Regimes, das an die Macht gekommen war, um die Bourgeoi-sieund die materielle Ordnung vor der roten Anarchie, aber gleichzeitig auch dieArbeiterklasse vor dem in der Nationalversammlung konzentrierten Despotismusder Bourgeoisie zu retten. Aber wie konnten diese diametral entgegengesetzten31Ziele vershnt, wie dieser komplizierte Knoten entwirrt werden32? Die Antwortist einfach: All die vielfltigen vergangenen Erfahrungen Bonapartes wiesen aufdie eine groe Hilfsquelle, die ihm ber die schwierigsten konomischen Situatio-nen hinweggeholfen hatte den Kredit. Und zufllig gab es in Frankreich die Schu-le Saint-Simons, die zu ihren Anfngen wie bei ihrem Niedergang sich dem Traumhingegeben hatte, der ganze Antagonismus der Klassen msse verschwinden, wennein allgemeiner Wohlstand durch irgendein ausgeklgeltes System des ffentlichenKredits geschaffen werde. Und der Saint-Simonismus war in dieser Form zur Zeitdes coup dtat noch nicht ausgestorben. Da war Michel Chevalier, der konomdes Journal des Dbats, da war Proudhon, der versuchte, den schlimmsten Teil dersaint-simonistischen Lehre unter der Maske exzentrischer Originalitt zu verber-gen; und da gab es zwei portugiesische Juden, mit der Brsenspekulation und mitRothschild praktisch verbunden, die Pre Enfantin zu Fen gesessen hatten undauf Grund ihrer praktischen Erfahrung die Khnheit besaen, hinter dem Sozia-lismus Brsenspekulation und hinter Saint-Simon Law zu wittern. Diese Mnner Emile und Isaac Preire sind die Begrnder des Crdit mobilier und die Urheberdes bonapartistischen Sozialismus.33 Marx sprt, dass er es mit einer Vernderungin den Mechanismen der Mehrwertabpressung zu tun hat. Bonaparte konnte nichtmehr auf eine direkte Kontrolle der Fabrikarbeitskraft zhlen. Einer Arbeiterklasse,die die Revolution von 1848 gemacht hatte und sich nicht mehr ber gewisse Gren-zen hinaus ausbeuten und unterhalb gewisser Grenzen bezahlen lie. Das bonapar-tistische Regime brauchte eine entwicklungsorientierte Ideologie der kollektiven

    26 Karl Marx, Derfranzsische Crditmobilier [Erster Artikel],New-York Daily TribuneNr. 4735 vom 21. Juni1856, MEW12, S. 22.

    27 Ebenda, S. 20.

    28 Ebenda, S. 22.29 Ebenda, S. 23.

    30 Ebenda, S. 24.31 Karl Marx, Der

    franzsische Crdit mo-bilier [Zweiter Artikel],New-York Daily TribuneNr. 4737 vom 24. Juni1856, MEW12, S. 26.

    32 Ebenda, S 27.33 Ebenda.

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    groen Teil dunkel, vor allem wurde das gegenseitige Verhltnis zwischen bonapar-tistischem Staat, Pariser Brse und Crdit nicht klar. Jetzt dringt Marx endlich indie technische Erklrung dieses so komplexen Zusammenhangs ein. Die Chefs desCrdit behaupten, sie htten die Formel gefunden, seine Ttigkeit zu vervielfa-chen und das Risiko zu verringern38. Marx versucht diese Behauptung zu ber-prfen, indem er sie der blumigen Sprache des Saint-Simonismus entkleidet39.Massenweise Aktien zeichnen, damit spekulieren, sich den Kursgewinn einsteckenund sie dann schnellstmglich wieder loswerden. Wie? Da der Crdit Regierungs-privilegien geniet und somit ber ausreichend Kapital und Kredite verfgen kann,ist klar, dass jedes neue Industrieprojekt, das er auf die Beine stellt, sofort beimBrsengang Kursgewinne verzeichnet. Dann gibt er an seine Aktionre zum Nenn-

    wert so viele Aktien aus, wie es ihrem Anteil an der Gesellschaft entspricht, die alsDeckung dient. Der den Aktionren damit garantierte Profit spiegelt sich vor allemin den Aktien des Crdit wider, whrend ihr hoher Kurs dafr sorgt, dass die Aktienbei der nchsten Emission einen hheren Wert haben. Auf diese Weise verfgt derCrdit ber eine groe Menge von geliehenem Kapital. Abgesehen von den Ge-

    winnen, die er herauszieht, indem er die Aktien ber dem Nennwert verkauft, istdie Auswirkung auf das Kapital genau das Gegenteil der eigentlichen Funktion derHandelsbanken: Diese machen ber ihre Rediskontierungs-, Kredit- und sonstigen-geschfte fixes Kapital vorbergehend frei, whrend der Crdit flssiges Kapitalfestlegt. Stnde der Teil des Kapitals, den ein Fabrikant in Gebuden und Ma-schinen angelegt hat, in keinem entsprechenden Verhltnis zu dem Teil, der fr dieZahlung von Lhnen und den Einkauf von Rohstoffen reserviert ist, der Fabrikantshe seine Fabrik bald stillgelegt. Dasselbe gilt auch fr eine Nation. Fast jede Han-delskrise in unserer Zeit ist mit einer Verletzung der richtigen Proportion zwischenflssigem und fixem Kapital verbunden gewesen. Welches Ergebnis muss danndas Wirken einer Institution wie des Crdit mobilier haben, dessen unmittelbarerZweck es ist, so viel von dem Leihkapital des Landes in Eisenbahnen, Kanlen,Bergwerken, Werften, Dampfschiffen, Eisenwerken und anderen industriellen Un-ternehmungen festzulegen, ohne jede Rcksicht auf die Produktionsmglichkeitendes Landes?40

    Man vergleiche diese Passage mit dem hervorragenden Exkurs ber die Krise inden Grundrissen. Das scheint diejenigen zu besttigen, die wie Grossmann die Dis-

    proportionalitts-Krise als zentrale Achse der Marxsche Krisentheorie verstehen.41Eigentlich sollten wir mit diesem Thema warten, bis wir uns mit den Artikeln be-schftigt haben, die Marx speziell der Geld- und Handelskrise von 1857 gewidmethat, daher beschrnken wir uns hier auf einige allgemeine Anmerkungen: Marxspricht von verschiedenen Disproportionen als Krisenursache: zwischen flssigemGeld und realem Reichtum, was im wesentlichen an der Institution des Kredits bzw.an dessen Natur liegt42, zwischen Abteilung I (Produktionsmittel) und AbteilungII (Konsumgter) im Rahmen der Reproduktionsschemata43; zwischen fixem und

    variablem Kapital im Rahmen einer steigenden organischen Zusammensetzung,die zum tendenziellen Fall der Profitrate fhrt44; zwischen notwendiger Arbeitund Mehrarbeit45. Letztlich ist immer dasselbe gemeint, aber je nachdem, welcheDisproportion man betont, landet man bei unterschiedlichen Einschtzungen derpolitischen Bedeutung der Theorie. Bei Betonung der ersten drei Disproportionen wobei das wohlgemerkt eine gewollte Schematisierung ist landet man leicht beieiner pathogenen Krisentheorie, so als seien Rechenfehler der Kapitalisten odereine mangelnde Planungsfhigkeit des Kapitals schuld an den Krisen und als lieen

    38 Ebenda.39 Ebenda.40 Ebenda, S. 33.41 Henryk Grossmann,

    Das Akkumulations- undZusammenbruchsgesetzdes kapitalistischenSystems. (Zugleich eine

    Krisentheorie). Leipzig:C. L. Hirschfeld, 1929.(Schriften des Institutsfr Sozialforschungan der UniversittFrankfurt a.M. Bd. I.Hrsg. v. Carl Grnberg.)[Nachdruck: Frankfurta.M.: Verlag Neue Kritik,1967]. Rosdolsky, a.a.O.;Colletti-Napoleoni (Hg.),Il futuro del capitalismo:crollo o sviluppo?, Bari:Laterza 1970.

    42 Karl Marx, Urtextzur Kritik der Politischenkonomie, im Anhangzu Grundrisse derKritik der politischenkonomie, Berlin: Dietz1953, S. 875. Anderswo,z.B. in den Theorienber den Mehrwert,unterstreicht Marx, dassdie von der exzessivenAusweitung des Kreditshervorgerufenen Krisenreine Erscheinungen

    von Ursachen seien, dieaus der Entwicklung desGelds als Zahlungsmittelentspringen, bzw. ausder Tatsache, dass derTausch, das Ware-Geld-Verhltnis, auszwei formal getrenntenMomenten und zweichronologisch getrenntenAkten besteht; diegewaltsame Trennungzwischen den beidenerklrt aber nur, warum

    die Krise als Geldkriseauftritt: Die allgemeineMglichkeit der Krisen istdie formelle Metamor-phose des Kapitalsselbst, das zeitliche undrumliche Auseinan-derfallen von Kauf undVerkauf. Aber dies ist niedie Ursache der Krise.(Karl Marx, Theorien berden Mehrwert, MEW26.2, S. 515.)

    43Vgl. Grossmann,a.a.O; Rosdolsky, a.a.O.;Colletti-Napoleoni, a.a.O.

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    Geld und Krise10

    sie sich vermeiden, indem man uerliche Korrektive anbringt, entgegenwirkendeTendenzen in Bewegung setzt, als knnte ein subjektiver Wille, ein Gesamtsubjekt(der Staat) das Gleichgewicht immer wieder herstellen. Vom unharmonischenMarx zur Theorie des Gleichgewichts, zur harmonischen Utopie der sozialisti-schen Lsungen, der sowjetischen Planung. Damit verschwinden die Spuren desArbeiterkampfs aus der Krise, die Kapitalisten selbst zerfallen in gesunde undkranke, in eine puritanische Unternehmerschaft und ein jdisches oder drcke-bergerisches Spekulantentum. Die kapitalistische Welt vervielfacht den gesellschaft-lichen Reichtum und und verschwendet ihn, mobilisiert die Produktivkrfte unddemtigt sie. Und in Zeiten allgemeiner Krise scheint der kranke Teil ber dengesunden die Oberhand zu bekommen und disproportional zu werden. Das Sub-

    jekt der Krise, der Alleinverantwortliche fr die Krise bleibt also der Kapitalismus.Durch die besondere Betonung einiger Disproportionen landet man bei partiellenSchlussfolgerungen, die jedoch nicht vllig falsch sind. Daher scheint es uns amsinnvollsten, von der Disproportion zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeitauszugehen, denn damit betrachtet man ein Gebiet, auf dem auch die Arbeiterklas-se handelndes Subjekt ist. Man begreift auch, wie die Arbeiter die Krise bestimmen,und damit wird die Krise zu einem beinahe idealen Terrain fr die revolutionreOrganisierung, zu einem Moment, in dem die Partei zur praktischen Mglichkeit

    wird. Und eben das suchte Marx in den allgemeinen Krisen: historische Gelegen-heiten fr den Aufstand, die als solche niemals katastrophal sind, sondern im-mer auf eine andere Gesellschaft anspielen, aber von allein nie ausreichen, um diealte Gesellschaft zu zerstren. Die theoretische Beschftigung mit der Krise von1857 geht in Marx Biographie einher mit dem Drngen, wieder ein Organisati-onsprojekt auf die Beine zu stellen. Aber seine Biographie ist der historische Wegdes Kommunismus. Entwicklung und Krise sind untrennbar verbunden, weil sie inden Institutionen selbst vereint sind: ohne unmige Ausweitung des Kredits keineAusweitung des Industriesystems, ohne unmiges Wachstum der organischen Zu-sammensetzung des Kapitals keine Zunahme der Profitmasse, ohne unmige Aus-

    weitung der Tauschsphre kein Weltmarkt, ohne unmige Zunahme der Mehr-arbeit keine Kontrolle ber die notwendige Arbeit. Die Ursachen der Krise sindunverzichtbar fr die Entwicklung. Kein Sprung nach vorn im bonapartistischenSystem ohne gesellschaftliche Verfgbarkeit des Kapitals durch den Crdit mobi-lier; aber die berlebensgesetze derselben Institution, die fr die Mobilisierung derfranzsischen Ressourcen sorgt, fhren zu Stagnation und Krise. Die Gesellschaftdes Kapitals zerfllt also nicht in einen gesunden und einen kranken Teil, son-dern Entwicklung und Stagnation gehen in ihren Institutionen eine Symbiose ein.Der Crdit mobilier hat nicht regressive, sondern revolutionre Auswirkungen aufden franzsischen Kapitalismus, aber das Tempo der Vervielfachung des Reichtumsder Aktionre entspricht nicht der Verringerung der notwendigen Arbeit, die Spe-kulation trifft nicht auf den Widerstand, auf den die Mehrarbeit in der Fabrik trifft:

    von der Geldform zu den Produktionsverhltnissen und umgekehrt.Marx zeigt, dass die Spekulation die Krise beschleunigt, aber nicht zur Erkl-

    rung der Krise taugt. Hier muss noch einmal auf die Grundrisse verwiesen wer-den. Es ist genau die historische Notwendigkeit der Ausweitung des Fabriksystemsund der Unterwerfung von stndig wachsenden Massen von Arbeitskraft unter dasLohnverhltnis im Kapitalismus, die zur Kostenkrise fhrt, es ist genau die his-torische Notwendigkeit der Reduzierung der notwendigen Arbeit im Kapitalismus,die zur Absatzkrise fhrt, es ist genau die Erhhung der Arbeitsproduktivitt als

    44 Karl Marx, DasKapital, Dritter Band,MEW25, S. 221-277.

    45 Karl Marx, Grund-risse, a.a.O, Heft IV, S.22, Berlin 1953, S. 318.

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    Antwort auf Rigiditten der notwendigen Arbeit , die zur Krise der berproduk-tion fhrt.46

    Die Industrialisierung basiert auf der Ausweitung des Kredits

    Als Bertrand Gille 1970 eine Sammlung seiner wichtigsten Aufstze ber diefranzsische Bankengeschichte des 19. Jahrhunderts vorstellte, rumte er ein, dassder Crdit mobilier immer noch die grte Lcke darstellte, da in den nationalenArchiven kaum mehr davon briggeblieben sei als das Material, das schon Marxzur Verfgung stand, nmlich die Reihe der Jahresberichte. Den Rest musste (undmuss) man sich aus der Gesamtgeschichte der franzsischen Banken und der fran-zsischen Finanzen dieser Zeit zusammenreimen, von Bouviers Monographie berden Crdit Lyonnais ber Ramons Monographie ber die Banque de France undDupont-Ferriers Monographie ber den Finanzmarkt im Zweiten Kaiserreich biszu Gilles eigenen Arbeiten ber die Rothschilds, ber Lafitte und ber die Saint-Simonisten.47 Trotzdem, und noch bevor eine systematische Erforschung derBankarchive begonnen hat, weisen alle Historiker des Zweiten Kaiserreichs demCrdit mobilier eine sinnbildliche Bedeutung in der konomischen EntwicklungFrankreichs zu: sowohl als wichtigster Faktor zur Ressourcenmobilisierung als auch umgekehrt als Mittter der bonapartistischen Stagnation. Marx grundstzli-che Einschtzung ist also von der spteren Geschichtsschreibung besttigt worden:die Doppelrolle von Bonaparte und das Doppelgesicht des Crdit mobilier. Trotz-dem kann man wohl davon ausgehen, dass diese Einschtzung der Historiker stark

    vom doktrinren Hintergrund beeinflusst ist, vor dem sich die Geschichte des fran-zsischen Bankwesens bewegt, nmlich der saint-simonistischen Schule. Einmalabgesehen von der in den 20er Jahren von marxistischen Gelehrten aufgeworfenenFrage, ob Saint-Simon als Vater des Sozialismus zu bezeichnen sei oder nicht48,

    vermittelt die Lektre der Schriften eines Enfantin oder noch besser eines Lafitteauf jeden Fall ein eindrucksvolles Bild der theoretischen Reife dieser Bankiers, die-ser Techniker hinsichtlich der Probleme der damaligen industriellen Entwicklung.Lafittes Planungen zur Grndung einer Investmentbank, Enfantins Ausfhrungenber die Notwendigkeit der Zentralisierung der Ressourcen, ihre Experimente mitder Spezialisierung der Kassen auf bestimmte Industriebranchen, ihre Auffassung,dass die Bank durch die Zentralisierung der Informationen eine Regulierungs- undPlanungsfunktion gegenber der Wirtschaft ausben knne also ihre hellsichtigeVorwegnahme der spteren institutionellen Organisation der modernen wirtschaft-lichen Entwicklung zeigte, dass das Bewusstsein der entstehenden franzsischenIndustriebourgeoisie viel weiter war als das der reinen Theoretiker wie Jean-Bap-tiste Say oder Frdric Bastiat. Whrend diese sich einer harmonischen Vision voneiner Wirtschaft hingaben, in der ein perfektes Gleichgewicht zwischen Produktionund Konsum herrschte und berproduktionskrisen unmglich waren, hatten dieBank-Techniker, die Doktrinre des Saint-Simonismus das eindeutige Gefhl,dass der industrielle Aufschwung in Frankreich besondere Anreize, neuartige Inter-

    ventionsinstrumente brauchte; sie hatten das ganz eindeutige Gefhl, dass das Erbeder franzsischen Revolution in wirtschaftlicher Hinsicht ein konservatives, belas-tendes Erbe war, dass ein guter Teil des Kapitals unbeweglich in den Ersparnissendes lndlichen Kleinbrgertums feststeckte und der Rest vom Adel in Immobili-enspekulationen gesteckt wurde. Nicht zufllig machten Lafitte und Enfantin ihreersten Versuche als Bankiers in Hypothekenkredit-Instituten.

    46 Ebenda.

    47 Bertrand Gille, LaBanque en France au XIX

    sicle, Paris: LibrairieDroz 1970. Zu denangegebenen Werkenverweise ich auf die dortenthaltene Bibliographieund auf die Bibliographieim Anhang zu D. Landes,Vielle Banque et Banquenouvelle: la rvolutionfinancire du XIX cicle,in: Revue dHistoire Mo-derne et Contemporaine,Juli-September 1956, S.204-222.

    48 Vgl. V. Volgin,ber die historischeStellung Saint Simons,in: Marx-Engels Archiv,Bd. 1, 1926, S. 82-117.

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    Geld und Krise12

    Die Sache wurde ein vlliger Fehlschlag, auch wenn Enfantin in seiner ZeitungProducteur wie besessen wiederholte, dass Kredit im wesentlichen Vertrauen be-deute (whrend die Hypothek als Schuldsicherheit der klassische Ausdruck einermisstrauischen Psychologie und damit einer unttigen Praxis sei). In eben dieserZeitung lassen sich auch die ersten Schritte der Gebrder Preire verfolgen. Am6. September 1830 hatten sie im Journal du Commercedas Projekt einer gesetzlichanerkannten Assoziation verffentlicht, die der Industrie und dem Handel Kapital

    vorschieen und an deren Gesellschaftskapital der Staat beteiligt sein sollte. DieComptoirs dEscompte in den Jahren nach 1848, an denen anfnglich der Staatund die Gemeinden beteiligt waren, folgten weitgehend dem Modell der Preires.Die erste Bank aber, die nach dem spter fr den Crdit mobilier typischen Musterarbeitete, war die Socit Gnrale de Belgique des Grafen de Meus.49

    Die Vernderung des traditionellen Verhaltens des franzsischen Sparers, deskleinen Rentiers, der seine Ersparnisse lieber in festverzinslichen Staatsanleihen an-legte, die Abschpfung der lndlichen Ersparnisse und ihre Mobilisierung fr dieIndustrie: das waren die Ziele von Bankiers wie den Preires. Diese programmati-schen Erklrungen htten bereits ausgereicht, um klarzumachen, dass es der Bankneuen Typs um die Vernderung und Mobilisierung der franzsischen Bourgeoisieging. Schon die Historiker derAnnales-Schule allen voran Moraz50 hatten aufdieses spezielle Verhltnis zwischen neuer Bank und Kleinbrgertum als Erbe der1789er Revolution hingewiesen. Diese Klassenschicht, die mit ihrer Unbeweglich-keit das Haupthindernis fr einen Take-off-Prozess darstellte, wurde in eine dyna-mische und innovative Richtung gelenkt, sie wurde von den Investmentbanken indie eigentliche industrielle Revolution einbezogen. David S. Landes hat sich immer

    wieder zu diesen Fragen geuert. Landes, der besser als jeder andere Historiker dieUnterschiede zwischen alter und neuer Bank deutlich gemacht und u.a. darauf hin-gewiesen hat, dass die Crdit mobiliers ihr positives Potenzial besonders in Lndernausspielen konnten, die arm an Kapital, aber reich an Investitionsmglichkeiten

    waren (der typische Fall war Deutschland), hat sehr viel Wert auf die Feststellunggelegt, dass die neuen Banktechniken in Frankreich relativ schlecht funktionierten,teils weil sich der kleine Rentier nicht ndern lie, vor allem aber, weil die franz-sische Industrie hauptschlich aus Familienbetrieben bestand. Zgern beim Erneu-ern von Maschinen, Hngen am Kleinbetrieb, Abneigung gegen Anleihen auf demKapitalmarkt, Misstrauen gegen die Geldverleiher, ausschlieliches Interesse an derProfitrate dies seien die Charakterzge des franzsischen Unternehmertums51, diedie napoleonische Zeit nicht abgeschwcht, sondern im Gegenteil noch verstrkthabe. Die familire Struktur habe dafr gesorgt, dass die Rolle der Konzerne in derGeschichte des franzsischen Geschftslebens sehr begrenzt gewesen sei. Meistenshabe es sich nicht um Neugrndungen, sondern um Konsolidierung bereits beste-hender Unternehmen gehandelt.

    Landes weist auf die extrem hohe Zahl von franzsischen Patenten hin, die imAusland Anwendung fanden, worin sich die extrem geringe Neigung zur techni-schen Innovation zeige. In einer solchen Situation, in der die neuen Mnner kei-ne Gelegenheit gehabt htten, voranzukommen, wo aus dem Firmengeheimnisdermaen eine Religion gemacht worden sei, dass man lieber im Ausland Krediteaufgenommen habe, nur um die eigenen Bilanzen oder die eigenen Projekte nicht

    vorzeigen zu mssen, wo man auf die Profitrate statt auf die Profitmasse geachtethabe htten es die Geschfte von Instituten wie dem Crdit mobilier sehr schwergehabt, eben weil es kaum Investitionsmglichkeiten gegeben habe. Laut Landes

    49 Siehe Gille, a.a.O.

    50 C. Moraz, Lesbourgeois conqurants,Paris: A. Colin 1957.

    51 David Landes,French Entrepreneur-ship and IndustrialGrowth in the Nineteenth

    Century, in The Journalof Economic History, vol.IX, 1949, S. 45-61.

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    erklren diese Haltungen der franzsischen Unternehmerschaft die stndige Suchenach staatlicher Sttze oder Absicherung. Halb Intrigant, halb Dieb sei der Staatin Frankreich immer brokratischer Aufseher, Vormund und Vater einer infanti-len Unternehmerschaft gewesen. Aber die franzsische Geschftswelt habe fest-gestellt, dass ihr in diesem Verhltnis mit dem Staat der Weg nach vorn vom Adel

    versperrt gewesen sei, der die ffentliche Verwaltung kontrolliert und diese Machtbenutzt habe, dem armen Businessman das Leben schwer zu machen. Von daherdas Umsichgreifen von staatlichen Monopolen, Privilegien, Konzessionen usw. Esergibt sich ein Bild totaler Stagnation. Daher sei die Funktion des Crdit mobilierals Motor der Entwicklung und Freisetzer von Ressourcen stark eingeschrnkt undseine Fhigkeit zur Verwandlung der franzsischen Wirtschaftswelt ziemlich be-grenzt gewesen.

    Entspricht dieses Bild den wenigen verfgbaren statistischen Daten? Landes gibtin seinem Hauptwerk52 einige Daten zur Entwicklung der Textilindustrie an: InGrobritannien stieg die Zahl der Spindeln zwischen 1852 und 1861 von 18 auf31 Millionen, in den USA von 5 auf 11 Millionen, in Deutschland von 900.000auf 2.235.000. In Frankreich dagegen stieg sie nur von 4,5 auf 5 Millionen, d.h. dasprozentuale Wachstum war niedriger als in allen anderen erwhnten Lndern. Aberder aussagekrftigste Indikator ist der der Stahlindustrie, denn in dieser Phase ver-drngen die Branchen mit hoher organischer Zusammensetzung, d.h. die Schwer-industrie, allmhlich die arbeitsintensive, in lndlichen Regionen verstreute usw.

    Textilindustrie.

    Die Aufspaltung des Volks von Paris

    Die grten Vernderungen aber fanden in Paris statt: Haussmann, Prfekt an derSeine, begann die groen urbanistisch-militrischen Arbeiten zur Vernichtung deralten Innenstadtviertel, des fr die Stadtguerilla so gnstigen Labyrinths von klei-nen Gassen und entwarf den Plan der groen Boulevards. Die Arbeiter werdenan den Stadtrand vertrieben und vom Krper des Volkes getrennt. ZeitgenssischeKommentatoren, darunter Proudhon, weinten bittere Trnen ber diese brutale

    Trennung zwischen Arbeiterklasse und Krmern, Kleinhndlern, Handwerkern.Das Volk, der kollektive Mensch, wie Darimon es nannte, wurde vom Regimeselbst, von der Entwicklung des Kapitalismus in Arbeiterklasse und Kleinbrger-tum geteilt. Aber die einheitliche Zusammensetzung der beiden Schichten sollte inMomenten groer politischer und aufstndiger Spannungen noch lange bestehenbleiben, fast bis in unsere Tage. In Wirklichkeit sollte die Trennung die Hegemonieder Arbeiter ber das Volk befrdern und den Niedergang des Proudhonismus be-schleunigen. ber die politische Klassenzusammensetzung sollten wir uns aber keinschematisches Bild machen.

    Dollans zhlte in seiner pedantischen Aufstellung ber die bonapartistische Re-pression 1850 Tagelhner, 1107 Schuster, 888 Tischler, 733 Maurer, 688 Schneider,642 Weber, 457 Schmiede, 428 Schlosser, 415 Bcker, 251 Steinmetze, 252 Friseure,224 Spinner, 238 Gerber usw. in absteigender Reihenfolge aber auch 5423 Bauern.Handelte es sich dabei in Wirklichkeit um vom Land vertriebene Landarbeiter,migrantische und arbeitslose Proletarier? War die industrielle Reservearmee in derKlassenzusammensetzung, die hinter dem Aufstand von 1848 stand, schon so stark

    vertreten? Die Agrarkrise von 1847 war noch nicht lange her, aber mit Bonaparte

    52 David Landes, Derentfesselte Prometheus.Technologischer Wandelund industrielle Entwick-lung in Westeuropa von

    1750 bis zur Gegenwart,Kln 1973, S. 205.

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    beschleunigte sich das Tempo der Entvlkerung der lndlichen Gegenden Frank-reichs, besonders in den Gegenden, wo die Heimarbeit florierte. Die Urbanisie-rungsprozesse nehmen hohes Tempo auf, und es entstehen neue Industrieregionen,besonders solche, die an den Kohe-Stahl-Zyklus gebunden sind, d.h. Lothringenund der Norden (Pas-de-Calais). Der bergang von pflanzlichen zu mineralischenBrennstoffen vollzog sich langsam, wenn man bedenkt, dass die Stahlverarbeitungin Frankreich eine sehr lange Tradition besa und das Land noch Anfang des 19.

    Jahrhunderts im Vergleich zu den anderen kapitalistischen Lndern die Nase vornhatte. Die Grnde fr diese Langsamkeit waren der ewige Mangel an Kohle, be-sonders an hochwertiger, die sich zum Stahlkochen eignete; auerdem lag die Kohlemeist weg von den Ksten, und im Vor-Eisenbahn-Zeitalter wirkten die hohen

    Transportkosten abschreckend. Auerdem wurde die Stahlindustrie zum groenTeil von kleinen Hochofen-Handwerkern betrieben, die technisch nicht viel Ah-nung hatten, aus Ressourcen- und Mentalittsgrnden am Kleinbetrieb hingen unddurch Einfuhrzlle, unerschwingliche Transportkosten und einen stillschweigenderVerzicht auf Preiskonkurrenz vor dem Wettbewerb durch effizientere Produzentengeschtzt wurden. Auf diesem Gebiet aber dasselbe gilt auch fr andere Branchen fand der Sprung der franzsischen Industrie nach vorn erst nach 1857, nach derheilsamen Krise statt.

    Vergleichen wir die Gesamteinschtzung von Landes mit Kuczynski53, der dieZeit zwischen 1848 und 1870 als bergangszeit des franzsischen Kapitalismusbezeichnet: Es finde ein bergang von der extensiven zur intensiven Ausbeutungder Arbeitskraft, von der Manufaktur zu den Grundlagen der Groindustrie statt,in dem nach und nach die organische Zusammensetzung des Kapitals steige. 1850umfasste das Eisenbahnnetz 3083 km, 1855 schon 5.611 km. Trotzdem stagniereder franzsische Anteil am Weltmarkt und sei 1870 niedriger als 1850. Es handelesich um eine Umstrukturierungs- und bergangs-, aber nicht um eine Boomphase,um eine Zeit besonders wenn wir den Abschnitt von 1850-57 bis zur groenKrise betrachten , in der sich der Akkumulationsprozess nur mhsam wieder inGang setzen lsst. Kuczynski kommt also auf anderen Wegen zu einer hnlichenEinschtzung wie die konomisch-statistischen Untersuchungen Marczewskis.54

    Zur Untermauerung von Rostows Stadientheorie und speziell des Take-off-Kon-zepts untersuchte Marczewski die historischen Reihen fr das ganze 19. Jahrhundertund stellte dabei fest, dass man fr Frankreich weder von Momenten groer Ent-

    wicklung noch von Momenten der Depression sprechen knne, sondern vielmehrvon einem allmhlichen und linearen Entwicklungsprozess. Das franzsische Mo-dell sei vor allem durch Stabilitt und Kontrolle gekennzeichnet gewesen ganz an-ders als etwa Deutschland oder Italien mit ihren gewaltsamen Sprngen und ihremuneinheitlichen Verlauf. Auch die Krise von 1857 wird dabei zurechtgerckt. Siehabe zwar die Kohle- und Stahlproduktion gebremst und den gerade begonnenenAufschwung unterbrochen, zwar sei der Baumwollverbrauch zurckgegangen unddie Grohandelspreise ins Unermessliche gestiegen, zwar habe es eine finanziellePanik gegeben trotzdem habe die Krise nicht zur Katastrophe, sondern im Gegen-teil zu einem Umstrukturierungsprozess und einer Wiederherstellung des Gleich-gewichts gefhrt und damit den Aufschwung der folgenden Jahre erleichtert.

    Marczewskis Thesen sind immer wieder besttigt worden, vor allem von Markho-vitch, der versucht hat, quantitative Reihen der franzsischen Wirtschaft von 1789bis 1964 zu rekonstruieren.55 Lvy Leboyer, der die beiden vorhergehenden Un-tersuchungen zusammenfasste und um eigene Untersuchungsergebnisse ergnzte,

    53 Jrgen Kuczynski,Die Geschichte der Lageder Arbeiter unter demKapitalismus, Berlin:Adademie-Verlag 1955,Bd. 33, S. 48-95.

    54 I. Marczewski,Some Aspects of theEconomic Growth ofFrance, 1660-1958, in

    Economic Developmentand Cultural Change, Nr.3, 1961. Vgl. auch dieEinleitung von A. Ca-racciolo, La formazionedellItalia industriale,Bari: Laterza 1963.

    55 T. J. Markhovitch,Lindustrie francai-se de 1789 1964.Histoire quantitative delconomie francaise, inCahiers de lISEA, serieAF, Nr. 4, 5, 6, 7, Paris

    1965-66.

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    konnte in den Annales56 besttigten, dass es in Frankreich keinerlei lngerfristigeBeschleunigung der Industrieproduktion (ausgenommen die Baubranche) gegebenhabe. Die grten Wachstumsspitzen folgten politisch-militrischen Einschnittenund glichen diese eigentlich nur aus. Das durchschnittliche Wachstum der Indus-trieproduktion zwischen 1815 und 1913 betrgt laut Marczewski 2,73 Prozent, lautMarkhovitch 2,08 Prozent und laut Levy Leboyer 2,56 Prozent also ein mittelm-iger Wert, der auf die Regelmigkeit des Prozesses ohne dramatische Ausschlgenach oben oder nach unten hinweist. Hinsichtlich der Zyklen mittlerer Lnge haben

    wir z.B. in der Zeit von 1850 bis 1855 ein mittleres jhrliches Wachstum von 3,87Prozent nach einem extrem niedrigen Wert (1,83 Prozent) in der Zeit von 1845 bis1850. Das erlaubt Levy Leboyer, die Geschichte der franzsischen Wirtschaft indrei Abschnitte zu unterteilen: 1. Expansion (1815-40), 2. Stagnation (1840-1905)und 3. Rekonstruktion (1907-14).

    Der Take-off fand nicht statt

    Uns interessiert hier der zweite Zeitraum, dessen erste Phase zeitlich ungefhr mitdem Bonapartismus zusammenfllt und von einem berdurchschnittlichen Wachs-tum (2,87 Prozent im Jahresdurchschnitt auer auf dem Bau) gekennzeichnet war,gefolgt von einer zweiten Phase ab etwa 1867, in der sich klarere Anzeichen von Re-zession zeigen und die in eine echte Stagnationsphase bergeht. Auch Levy Leboy-er meint, dass die Folgen der Krise von 1857, was das Produktionsvolumen angeht,in Frankreich viel weniger sichtbar gewesen seien als in anderen Lndern (USA,Grobritannien), allerdings auch deshalb, weil die Wachstumsrate dort vorher hhergewesen sei. Der eigentliche Niedergang habe mit der Niederlage 1870 begonnen,als Frankreich unter der schweren Last von Verpflichtungen gegenber den Siegernes nach dem Niedergang der atlantischen Phase nicht geschafft habe, seinen Han-del auf den Pazifik umzustellen. Nach der Krise von 1857 sei eine tiefe Agrarkrisedazugekommen, ausgelst durch eine Reihe von Naturkatastrophen Missernten,berschwemmungen usw. und noch verschrft durch die Konkurrenz der jungengetreideexportierenden Lnder. Der Verfall der landwirtschaftlichen Erzeugerpreiseund des Fleisch-Grohandelspreises habe die Landwirtschaft, die aus den bereitserwhnten strukturellen Grnden nicht in der Lage gewesen sei, ihre Produktivittzu steigern, noch weiter belastet. Auf jeden Fall sei es nur der Zugkraft der Industrie(die zwischen 1810 und 1840 ein Viertel und zwischen 1850 und 1880 schon einDrittel zur Gesamtproduktion beitrug) zu verdanken, dass Frankreich wirtschaft-lich, landwirtschaftlich und kommerziell nicht noch viel tiefer in die Depressiongerutscht sei, als aus den quantitativen Reihen hervorgehe. Levy Leboyer kommt zuganz hnlichen Schlussfolgerungen wie Marczewski: Der Take-off, verstanden alskurzer bergang, in dem die Wirtschaft sich von ihren landwirtschaftlichen Tradi-tionen abkoppeln kann, fand in Frankreich nicht statt, denn die Industrialisierungberuhte auf zwei entgegengesetzten Strukturen: zunchst auf den traditionellenAgrarmrkten, die nach und nach von der Eisenbahn miteinander verbunden wer-den, und dann ab 1880 auf den stdtischen Mrkten, wo die lndliche Bevlkerungzusammengestrmt war.57

    In einer noch neueren Publikation konnte Francois Crouzet auf der Grundlageeiner Reihe von Indizes, die nach neuen Kriterien die hier nicht ausgefhrt wer-den mssen zusammengesetzt waren, besttigen: Als Reaktion auf bestimmte

    56 M. Levy Leboyer,Croissance conomiqueen France au XIX sicle,in: Annales, Juli-August1968, S. 788-807.

    57 Ebenda, S. 801.

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    Vorstellungen, die in der Nachkriegszeit en vogue waren und mittelmige Perfor-mances oder sogar eine Stagnation der franzsischen Wirtschaft im 19. Jahrhundertbehaupteten, neigen einige Historiker in letzter Zeit dazu, optimistischere Thesenzu vertreten. Vielleicht fhrt die vorliegende Arbeit dazu, diese revisionistischenAnstze wenn nicht wiederum zu revidieren, so doch abzuschwchen. Letztlichzeigen die Wachstumsraten der verschiedenen Gruppen, dass die Schwche derfranzsischen Industrie vor allem auf die langsame Vernderung und das langsa-me Wachstum der traditionellen Branchen wie der Textilindustrie zurckzufhrenist und nicht auf eine mangelnde Dynamik der groenteils neuen Industrien wieBergbau, Metallerzeugung und Chemie.58 Besonders interessant fr uns ist jeden-falls einer von Crouzets Indizes, der fr eine Gruppe von Schlsselindustrien zeigt,dass die Kurve fr das 19. Jahrhundert ihre hchsten Ausschlge zwischen 1850und 1857 verzeichnet: Es scheint, dass die franzsische Industrie die Phase ihresschnellsten Wachstums in der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte und dass diesePhase im autoritren Kaiserreich gipfelte, aber schon zum Ende der Julimonarchiehin begonnen hatte.59

    Crouzet besttigt also noch einmal die Version von Regelmigkeit, Kontinuitt,langsamem Voranschreiten: Die grten Hindernisse ... sind mit exogenen Fakto-ren wie der Revolution von 1848 und dem Krieg von 1870 verbunden. 60 ExogeneFaktoren! In diesem Ausdruck steckt die ganze Hohlheit der quantitativen Ge-schichtsschreibung. Aber selbst er sagt in seiner Unschuld etwas ziemlich Wich-tiges, nmlich dass sich sogar aus der Keimfreiheit der historischen Statistiken derganz und gar politische Charakter der proletarischen Verhaltensweisen in Frank-reich ergibt. Sicher, wenn nur die Arbeitskraft als abhngige Variable endogen ist,

    wenn nur der Lohn endogen ist, dann muss eine Arbeiterklasse, die sich auflehnt,natrlich als uerliche, absichtlich nicht erwhnte Erscheinung auftreten. Aberabgesehen davon knnte man aus den Grafiken, die uns die quantitativen Histori-ker vorlegen, noch ganz andere Schlussfolgerungen ziehen, vor allem die, dass dieAllmhlichkeit des Prozesses eine extrem strenge, bewusst dosierte Kontrolle berdie Entwicklung, ber die Stabilitt als oberstem Ziel der Regierung verrt. Dietraditionelle Prsenz des Staates, das soziale Erbe der brgerlichen Revolution von1789, der vorsichtige Opportunismus der Unternehmer all das zusammen alsobegnstigt die Stagnation. Und was ist mit den massenhaften Verhaltensweisen derArbeiter?

    Die Lage der ArbeiterInnen: Hunger und Repression

    Trotz der wenigen vorhandenen Daten hat Kuczynski versucht, die Lohnentwick-lung und den Warenkorb der Arbeiter zu berechnen: Nimmt man das Jahr 1900 alsBasis (= 100), dann ergibt sich fr die Reallhne im Zyklus 1833-39 ein Index von64, im Zyklus 1840-51 ein Index von 59, im Zyklus 1852-58 ein Index von 55 undim Zyklus 1859-68 ein Index von 66. Die erste Phase des Bonapartismus bedeu-tete demnach fr die Arbeiter die Zeit des schlimmstens Elends, die Hungerjahre.Allerdings lag der Lohnindex der Bergarbeiter bei 43 im Jahr 1852 und 53 im Jahr1857 (wiederum mit dem Jahr 1900 = 100), was noch unter dem Durchschnitt von49 bzw. 57 lag. Der Lohnindex der Metallarbeiter stieg im gleichen Zeitraum von54 auf 60, der der Bauarbeiter von 52 auf 59. Das Sinken der Reallhne trotz desAnstiegs der Nominallhne wre demnach auf den enormen Anstieg der Lebens-

    58 Francois Crouzet,Essai de constructiondun indice annuel de laproduction industriellefrancaise aus XIXesicle, in Annales,Januar-Februar 1970, S.56-99.

    59 Ebenda, S. 88.60 Ebenda, S. 91.

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    haltungskosten zurckzufhren: von einem Index von 81 im Jahr 1852 auf 112 imJahr 1855, 114 im Jahr 1856 und 105 im Jahr 1857. Nachdem er vorausschickt,dass damals noch 35 Prozent der Industriearbeiterschaft Frauen und Kinder waren,

    weist er daraufhin, dass eines der am weitesten verbreiteten Systeme zur Krzungder Lhne die berall bliche Verhngung von Strafen war. Oft wurde fr eineeinfache Versptung ein ganzer Tageslohn einbehalten. Oft wurde der Lohn auchin Naturalien auszahlt, wobei der Wert der verteilten Grundnahrungsmittel natr-lich hher angesetzt wurde als ihr tatschlicher Marktwert. So erklrt sich, dass die

    wenigen verfgbaren Daten ber den Warenkorb der Arbeiter, ber die Ernhrungdes Proletariats, ein Bild groen Elends vermitteln. Die Nominallohnsteigerungenin den besser bezahlten Branchen erklren sich also vor allem aus der Steigerungdes Stundenlohns, denn gleichzeitig sank die tgliche Durchschnittsarbeitszeit imZeitraum 1850-60 um eine Stunde.

    Die Daten ber die Streiks, die Dollans auf vermutlich soliderer Grundlage ge-sammelt hat, gehen weit auseinander. 1852 registriert er 109 Streiks, 1854 sind es68, 1855: 168, 1856: 73, 1857: 55, 1858: 53 und 1859: 58. Tendenziell geht die Zahlin Phasen der Normalitt nach oben und in Phasen der Krisen nach unten. Aucher geht aber von einer auerordentlichen Steigerung der Lebenshaltungskosten ausund gibt den Bericht eines Druckers wieder, der der franzsischen Delegation beider Weltausstellung in London angehrte und schrieb, dass sein Lohn in den zehn

    Jahren zwischen 1851 und 61 um 9 bis 10 Prozent, die Miete aber um 50 Prozentgestiegen sei.

    Die harte Hand des Regimes war aber nicht nur auf wirtschaftlicher Ebenezu spren, sondern erst recht in der gnadenlosen Repression gegen die Arbeiter-organisationen, der Auflsung der Geheimgesellschaften und der Gewerkschaften,der Einfhrung eines Systems von Kontrollen der Mobilitt der Arbeit, vor allemdurch die Einrichtung des obligatorischen Arbeitsbuchs fr Heim-und Fabrikar-beiter. Aber diese Disziplinierung der Mobilitt wurde auch ohne formelle Normenund unter Zuhilfenahme von spontanen Mechanismen eingefhrt. In dieser Hin-sicht sind die Mitteilungen ber den Umgang mit Geld, ber den Geldbeutel derProletarier sehr interessant. Zwischen 1850 und 1860 zirkulieren noch sehr vielekleine Kupfermnzen. Der franzsische Staat zieht sie erst gegen Ende des Jahr-hunderts mit drastischen Manahmen aus dem Verkehr. Dieses monnaie de billon

    war zwar immer weniger wert, stellte aber das wichtigste Zahlungsmittel fr diekleinen Einkufe der Arbeiterfamilien dar und kostete enorme Preisaufschlge, weildie Hndler dieses Kupfergeld oft nicht annehmen wollten. Wie in Italien 1973fhrte damals in Frankreich der chronische Mangel an passendem Kleingeld zufaktischen Preiserhhungen vor allem fr Massengter des proletarischen Konsumsund heizte den Inflationsprozess an. Dessen nicht genug, bekamen die Arbeiterund Landarbeiter ihren Lohn in Kupfermnzen (oder Bronzemnzen), oft in vor-konfektionierten Pckchen, so dass sich dem franzsischen Proletariat ab diesemZeitpunkt das Problem der Konvertibilitt seines Lohns stellte. Diese nervenaufrei-bende Situation fhrte zu einer Reihe von Randerscheinungen wie Falschmnzerei,der Spekulation (in einigen Dpartements belief sich der Aufschlag fr Kupfergeldauf 2 bis 3 Prozent, in manchen anderen auf 15 bis 20 Prozent), aber besonders demillegalen Import von auslndischem Kleingeld. So liefen besonders in den grenzna-hen Dpartements viele argentinische, belgische, hollndische, schweizerische u.a.Mnzen um. Diese abnorme Whrungssituation fhrte nicht nur zu Preissteige-rungen und Inflation, sondern beschrnkte auch massiv die Mobilitt der Arbeits-

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    kraft, ihre Mglichkeit, innerhalb von Frankreich von einem Ort an den anderen zuziehen. Die Schwierigkeit, die Mnzen umzutauschen, mit denen er bezahlt wurde,kettete den Proletarier an die drflichen Vertrauensverhltnisse, vor allem gegen-ber den Krmern, den Vermietern und selbst den Beamten. Bestimmte Mnzenkonnten spontan von einer Gemeinde aus dem Verkehr gezogen werden, was sichdann im ganzen Dpartement fortsetzte.61

    Und das im Frankreich der Gebrder Preire, der groen Theoretiker des Kredits,der Erfinder der modernen Bank und des modernen Geldes.

    Wenn wir diese Daten betrachten, wundern wir uns schon wieder ber Marxvollkommene Gleichgltigkeit gegenber der Lage der Arbeiter in diesen Jahren,des proletarischen Alltagslebens. Als wrde die Frage der Organisation nicht tat-schlich von den massenhaften Verhaltensweisen des Proletariats, von seinen selb-stndigen und spontanen Reaktionen bestimmt; als enthalte die Theorie des Geldesnicht auch die Realitt des Kleingelds, mit dem die Proletarier Tag fr Tag auskom-men mussten; als seien diese Ungleichheiten nicht der allerbeste Beweis dafr, dassdie Reduzierung aller Waren auf das Geld eine egalitre Mystifikation bedeutet.

    Knnte es sein, dass das Elend der franzsischen Arbeiterklasse zur Verlangsa-mung des Entwicklungsprozesses beigetragen hat? Wenn wir die Daten der ver-schiedenen Autoren zusammentragen, sieht es so aus, als knnte man die ersten

    Jahre des bonapartistischen Regimes am besten als Stagflation bezeichnen. DieProbleme der Industrie haben wir ganz allgemein erwhnt, ber die Landwirtschafthaben wir noch nicht gesprochen, aber dazu reicht es auf die polemischen Ausfh-rungen von Romeo zum Zusammenhang zwischen Risorgimento und Kapitalismuszu verweisen, um ein Bild von einer ganzen historischen Schule zu bekommen, diedie Zersplitterung des Grundeigentums in Frankreich als ein Haupthindernis frdie Entwicklung der Produktivitt auf dem Lande gesehen haben. Die Stagnation

    wird hier mit strukturellen Grnden erklrt; der Akkumulationsprozess ist blockiertund muss sich andere Wege suchen.62

    Historische Einschtzungen dieser Art loben die Bank neuen Typs in den hchs-ten Tnen dafr, dass sie es mglich gemacht habe, die Akkumulationsblockade zudurchbrechen. Und wirklich knnen wir trotz aller oben gemachten Einschrnkun-gen hinsichtlich der tatschlichen Ergebnisse der franzsischen Wirtschaft in denersten Jahren des bonapartistischen Regimes, nmlich dass sie trotz der Durch-brechung der Akkumulationsblockade keinen groen Sprung nach vorn gemachthat, auf jeden Fall sagen, dass die Bank der Gebrder Preire eine Revolution imfranzsischen Kapitalismus ausgelst hat und die Jahre des Regimes mit der Ver-staatlichung der Kanle und der Fertigstellung des Eisenbahnnetzes die Grundlagefr die Groindustrie und den nationalen Markt gelegt haben. Vollzogen wurdedieser schwierige bergang des franzsischen Kapitalismus von einer Phase zur an-deren aber, indem auf die Arbeiterklasse ein gewaltsamer Druck ausgebt wurdeund raffinierte ideologische Prozesse in Gang gesetzt wurden, um sie zu kooptierenund zu verhindern, dass sie genauso gewaltsam reagierte. Das Einzigartige ist, dasssich die Klassenzusammensetzung (auer dem Verschwinden der Heimarbeiter) indiesen Jahren praktisch nicht verndert hat, und diese politische Operation, bzw.die von ihr bewirkte Kontrolle und Lhmung der Bewegungen des Gesamtarbeitersmuss berhaupt noch erst analysiert werden. Im brigen war es genau der bruta-le Druck auf das materielle Existenzniveau des Proletariats, die Ablehnung jeder

    vernnftigen Verbesserung seiner Lebensbedingungen, die jede konomistischeIllusion, jede reformistische Perspektive zunichte machte, egal was die Utopisten

    61 G. Thuillier, Pourune Histoire montaire

    de la France au IXI sicle:les monnaies de cuivreet de billon, in Annales,Januar-Februar 1949, S.65-90.

    62 R. Romeo, Risor-gimento e capitalismo,Bari: Laterza 1959. Zueinigen Aspekten der vondiesem Buch ausgelstenPolemik siehe Caracciolo,a.a.O. und A. Macchioro,Studi di storia del pen-siero economico, Milano:Feltrinelli 1970.

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    predigten. Stufenweise oder mittlere Ziele boten sich nicht an. Der Aufstand, dieaus der Subversion, der Gewalt, der proletarischen Rache geborene Macht wurdezum Mindestprogramm der franzsischen Arbeiterklasse, des Volks von Paris, auch

    wenn diese Zeichen von Autonomie erst langsam sichtbar wurden. Direkt nach derKrise von 1857 ging die Kurve der Streiks steil nach oben, aber das hielt nicht langean: Die Initative des Volkes stagnierte bis zur Kommune von 1871.

    Wie schon gesagt wurde der Crdit mobilier bekanntlich auf ausdrcklichen Wil-len des Regimes gegrndet, um ein Gegengewicht gegen die groen Privatbankenund den orlanistischen Adel63 zu schaffen. Aus Gilles Forschungen in den Archi-

    ven wissen wir heute, dass die Statuten des Crdit mobilier schon gleich nach ihrerFormulierung in den Ministerien fr Finanzen, fr ffentliche Arbeiten und fr

    Wirtschaft auf groe Vorbehalte stieen. Dort war man beunruhigt, dass den Grn-dern Privilegienrechte zugestanden wurden und dass die Bank Aktien in fnffacherHhe ihres Eigenkapitals ausgeben drfen sollte, weil sich die Spekulation schon

    vorhersehen lie.64

    Die Launen der Bankiers

    Die damalige Frontstellung zwischen zwei verschiedenen wirtschaftspolitischenKonzeptionen gleicht aufs Haar der heutigen in den kapitalistischen Staaten zwi-schen den Zentralbankprsidenten und den Finanzministerien. Preire war ber-zeugt, dass Louis Philippes Finanzen aus Liquidittsmangel zusammengebrochen

    waren, die anderen waren entgegengesetzter Ansicht. Am 24. Oktober 1852 lieder fr die Aktiengesellschaften zustndige Innenminister den anderen Ministernseine Antwort auf ihre Stellungnahmen zukommen: Er unterstrich, dass man einKreditinstitut zur Frderung der Investitionen brauche, und fgte hinzu: In einemMoment, in dem die Industriewerte sich vervielfachen, in dem die Zirkulation zu-rckgeht, in dem die Werte selbst hufigen und unvermeidlichen Schwankungenausgesetzt sind, kann die Gesellschaft den Kurs stabil halten, indem sie ihn regelt,und damit diese ansteckenden und katastrophalen Krisen verhindern.65 Das beein-druckendste Dokument aber ist die Note, die der wichtigste Vertreter der privatenBanken, James de Rothschild, noch am selben Tag, an dem die Regierung die Er-laubnis zur Grndung des Crdit erteilt (am 15. November 1852), an Napoleonschickt. Dadurch, dass die zuknftigen Direktoren des Crdit fnfmal so viele Werteausgeben knnten, wie ihr Eigenkapital betrage, werden sie mit Untersttzung undErlaubnis der Regierung eine groe Menge an Kreditwerten in Umlauf bringen, dieauf gegenseitigen, zweifelhaften und unsicheren Garantien beruhen. Wenn mandazu noch die ausgegebenen Wertpapiere rechne, entstnde zusammengenommeneine riesige Masse an Papiergeld, die im Moment einer Krise den ganzen ffentli-chen Reichtum mit sich in den Abgrund reien wrde. Man drfe sich auch nicht

    vormachen, dass das Kapital oder die Werte im Portfolio als Sicherheiten gehaltenwrden. Vielmehr wrden sie in Wertpapiere investiert werden, deren Einlsung inKrisenzeiten den Wert des Kapitals senke, whrend in guten Zeiten einfach nur mitihnen spekuliert werde. Da der Crdit weder Einlagen noch Einnahmen habe, wirder entweder ruiniert werden, oder man wird zu einer jener gefhrlichen Manah-men der Kursfestsetzung, des befohlenen Vertrauens, eines realen Zwangs greifen,die die Katastrophen nicht abwenden, sondern nur ihre Folgen mildern. Und wei-ter: Als Beute ihrer eigenen Launen und Interessen werden die unverantwortlichen

    63 Die Fraktion des1830-48 regierendenBrgerknigs LouisPhilippe; Anmerkung desbersetzers.

    64 Vgl. B. Gille, a.a.O.,S. 125-143. Dabeihandelt es sich um dieWiederverffentlichungeines Artikels desAutors fr das Bulletin duCentre de recherches surlhistoire des entreprisesNr. 3, Juni 1954.

    65 Ebenda, S. 130.

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    Direktoren dieser Bank Herren aller Unternehmen sein. Sie werden ein Geschftauf Kosten eines anderen bevorzugen knnen, den Wert aus dem Lot bringen, in-dem sie diesen loben und jenen erniedrigen, und sie werden allen ihre Bedingungendiktieren knnen. Aufgrund der Masse von Papieren in ihrem Besitz werden siedem Markt ihr Gesetz diktieren, ein Gesetz ohne Kontrolle und ohne Konkur-renz. Ebenso werden die verschiedenen Unternehmen, zu schwach, um den Kampfdurchzuhalten, gezwungen sein, sich dieser mchtigen Assoziation zur Verfgungzu stellen und deren Macht noch steigern. Und fatalerweise werden der groe Han-del und die groe Industrie am Ende berhaupt keine Freiheit und keine Sicherheitmehr haben und sich nur noch unter der Kontrolle einer einzigen Aktie bewegenknnen () Mit den Mitteln, die ihr zur Verfgung stehen werden, wird die Bankalle Verwaltungen der Eisenbahnen, der Bergwerke, der Kanle durchdringen; sie

    wird diese Verwaltungen nach Belieben besetzen, sie wird diese Unternehmen mitihren Agenten oder Personen ihrer Wahl lenken. Damit wird sie den grten Teildes ffentlichen Reichtums in ihren Hnden oder unter ihrer Autoritt vereinigen.Das ist nicht blo eine Gefahr, sondern ein Unheil. Auslschung jeder Konkurrenz,Vernichtung aller individuellen Krfte. Fr Industrie und Handel wird das Ergebniskatastrophal sein. Den Wohlstand des Landes vom Willen, der Fhigkeit, Unerfah-renheit oder den Interessen einer beschrnkten Zahl von Mnnern abhngig zu ma-chen, die nur indirekt von ihren eigenen Handlungen betroffen sein werden und dieVerantwortung fr die Fehler, die sie begangen haben, nicht an der eigenen Personerleiden werden mssen. Die grte Gefahr aber, schliet Rothschild, bestehe frdie Staatsfinanzen, fr das Regime als solches. Falls es Schatzbriefe ausgebe, fndendiese einen einzigen Konkurrenten: die Schuldverschreibungen des Crdit mobilier.Im Falle einer Staatsanleihe werde es auf dem Markt einen einzigen Bieter geben.In Zeiten der Krise werde das die Folgen verschrfen. Und was, wenn die Bank indie Hnde der Feinde des Regimes falle?66

    Es ist beeindruckend, wie klar und hellsichtig diese Kritik war. Punkt fr Punktwerden wir die Beschreibung des Crdit mobilier in den Ereignissen der folgendenJahre und in den Marxschen Analysen wiederfinden. Wenn Marx in den von unsuntersuchten Artikeln fr dieNYDTdie Natur des Crdit kritisiert, seine struktu-relle Beziehung zum Regime beschreibt, deckt sich seine Argumentation mit derdes groen Pariser Bankiers. Mehr noch, da Rothschild zu der Zeit, in der Marxschrieb, beschlossen hatte, seine eigene Kritik ffentlich zu machen, und in der in-ternationalen Presse zu einer Gegenoffensive gegen die Preires ausgeholt hatte, istnicht auszuschlieen, dass Marx seine Kritik kannte.

    Allerdings war es James de Rothschild selbst gewesen, der Emile Preire in dieGeschftswelt eingefhrt hatte, indem er ihm die Mittel gab, um 1837 die Eisen-bahnlinie Paris-St. Germain zu bauen. Er musste die Gaben seines einstigen Zg-lings gut genug kennen, um sie zu frchten.

    Der epische Charakter des Konflikts zwischen Rothschild und Preire hat dieganze sptere Geschichtsschreibung bestimmt; von Se bis Duport-Ferrier ist dieGegenberstellung zwischen alter und neuer Bank zu einem Gemeinplatz der Ge-schichtsschreibung geworden. Landes versuchte als erster, die Fakten in ein anderesLicht zu stellen: Mir scheint, dass die traditionelle Auffassung von einem bewuss-ten Konflikt zwischen zwei Banksystemen ungenau ist: Sie beruht einerseits auf ei-ner Verwechslung zwischen einer persnlichen Rivalitt zweier Mnner mit der an-geblichen Konkurrenz der Finanztechniken, die sie verkrpert htten, andererseitsauf einer grundlegenden Verachtung fr das Wesen der Privatbank, des Merchant

    66 Ebenda, S. 132 ff.

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    Banking und der Rolle, die dieses in der sich Mitte des 19. Jahrhunderts entfalten-den Industriekonomie spielte.67 Landes macht deutlich, dass die alte und die neueBank weniger entgegengesetzte Techniken besessen, als vielmehr sich ergnzendeBereiche abgedeckt htten, indem sich die erstere auf kurzfristige Handelskrediteund die letztere auf langfristig angelegte Industriebeteiligungen konzentriert ht-ten. Der bergang von der einen zur anderen sei alles andere als starr und hartgewesen. Vielmehr knne man von einer langsamen gegenseitigen Durchdringungder beiden Aktivitten sprechen. Die alte Privatbank mit ihrem Korrespondenten-netz, ihrer Vertrauenskundschaft, ihrem Familienkapital sei viel geschmeidiger und

    wandlungsfhiger gewesen, als man denke.Im ersten Vorstand des Crdit mobilier finden wir brigens auch wichtige Ver-

    treter der alten Bank, und Rothschild und Preire selbst taten sich nach der Krisevon 1857 zu gemeinsamen Geschften zusammen. Trotzdem sorgte eben die Asso-ziationsideologie der Gebrder Preire fr eine Wende und drngte die Privatbankzu Geschften, die sie sonst aus eigenen Stcken nicht gewagt htte, also dazu, mitneuen Techniken zu experimentieren. Ihre Ideologie gab den Preires mehr Machtals ihr Kapital, und sie machte sie wie Landes selbst zugeben muss zu den Prot-agonisten der Bankenrevolution Mitte des Jahrhunderts.

    Propheten und Schwindler

    Ein neues Mittel in Umlauf bringen, ein neues Vertrauensgeld, sagte Isaac Preiredem ersten Vorstand des Crdit, das zum Trger seiner alltglichen Zinsen wirdund das die bescheidensten Ersparnisse und die grten Kapitale Frucht tragenlsst.68 Die Leere neben den Banknoten zu fllen, indem man einen valore om-nium schuf, der tglich Zinsen tragen und Rendite aus der einfachen Zirkulationabwerfen sollte das waren die ehrgeizigen Plne der beiden Bankiersbrder, derenVorstellungskraft und Einfallsreichtum weit ber ihre praktischen Mglichkeitenhinausgingen. Ihr valore omnium war nie kompatibel und konnte daher nie alsechtes Geld fungieren, aber er stellte sicherlich das utopische Symbol des Durch-schnittszinses, des Tendenzgesetzes des Kapitalismus dar. Im allgemeinen streben

    wir, wenn wir einem Industriesektor begegnen, vor allem danach, seine Entwick-lung nicht durch Konkurrenz, sondern durch Assoziation und Fusion zu erreichen,durch die konomischste Anwendung der Krfte, nicht durch ihren Gegensatzoder ihre gegenseitige Zerstrung, sagte Preire auf einer Vorstandssitzung 1855.69Hier haben wir es nicht mit einer Utopie zu tun, sondern mit einer Praxis, die denProzess der kapitalistischen Konzentration entscheidend vorantrieb, also selbst ein

    Tendenzgesetz des Kapitalismus ausdrckte. Auch die Rivalen von der alten Bankmussten sich diesem Gesetz beugen und taten sich 1857 unter Rothschilds Fhrungzu jenem Syndikat zusammen, aus dem spter die Socit Gnrale hervorging. Dieneuen Sektoren mit hoher organischer Zusammensetzung an erster Stelle, vor allemdie Schwerindustrie, machten einen Fusions- und Konzentrationsprozess unum-gnglich. Selbst die Ausdehnungsfhigkeit der Bank, ihre Fhigkeit, ihre Geschfteauf andere Lnder, besonders auf ressourcenarme Entwicklungslnder, auszuwei-ten, hing vom Assoziationismus ab. Die Preires trumten auch von der Schaffungeines Weltmarkts der Kapitale, von einem einzigen einheitlichen Whrungsraum:Zu den wichtigsten zu erwartenden Folgen ist die Mglichkeit zu zhlen, Kredit-papiere zu schaffen, deren Zinsen auf den Haupthandelspltzen Europas bedient

    67 D. Landes, VielleBanque, a.a.O., S. 207.

    68 B. Gille, a.a.O.,S. 135.

    69 Ebenda, S. 137.

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    werden auf der Grundlage zu vereinbarender fester Wechselkurse zwischen denWhrungen der verschiedenen Staaten70, also eine Art von internationaler ber-whrung, die Banknoten, Schecks und Wechselbriefe ersetzen sollte. Nicht dasGold, sondern die Assoziationskraft ist die wahre franzsische Finanzmacht auf der

    Welt, lautete eine weitere Maxime der Preires. Auch in diesem Sinne zeigt sichberraschend klar ihre Fhigkeit, die Tendenzen des Kapitalismus zu antizipieren.Es war die angemessene Antwort auf das Niveau des Arbeiterkampfs von 1848, diefortgeschrittenste Theorie des gesellschaftlichen Kapitals, des Weltmarkts.

    Dass das bonapartistische Regime diesen bergang auf eine fr die Pioniere undihre Theoretiker beschmende Weise lenken musste, muss uns nicht wundern. Ende1855 verbot die Regierung dem Crdit mobilier die Ausgabe weiterer Obligationen;am 9. Mrz 1856 verbot sie ihm, der ffentlichkeit irgendwelche neuen Geschftezu prsentieren. Die Aktivitten des Crdit wurden gelhmt, und Rothschild konn-te zu seinem Gegenangriff ansetzen. Am 21. Juli 1856 wandten sich die Preiresan Napoleon mit einem Brief voller Bitterkeit und Wut: Die Eiferschte, die eineungebremste Konkurrenz gegen uns und gegen den Crdit mobilier entfesselt hat,lhmen heute alles. Um uns ohnmchtig zu machen, hat man in allen Tonlagengeschrien, wir seien zu mchtig. Um sich der von uns ausgearbeiteten Geschf-te zu bemchtigen, hat man gesagt, dass wir alles selbst tun wollten. Wir habensystematisch Enthaltsamkeit ben mssen, ein ganzes Jahr lang haben wir nichtsmehr getan. Diese Pause, die Eurer Majestt aufgefallen ist, ist falsch interpretiert

    worden. Man hat geglaubt, wir seien halb erschpft, und jetzt will man mit unsererangeblichen Schwche Recht haben. Je mehr wir versuchen, uns zurckzuziehen,um keine wilden Eiferschte zu wecken, desto mehr hofft man, uns in den Streitzu verwickeln. Der grte Teil der Pariser Zeitungen und der Korrespondenten derauslndischen Zeitungen gehorchen offensichtlich einem Befehl. Es ist eine Entfes-selung von Angriffen, ein Konzert von Lgen und Verleumdungen, nicht nur gegenden Crdit mobilier, sondern auch gegen alle Geschfte, die er seit seiner Grndungunternommen hat.71

    Bonapartes Antwort ist nicht berliefert, aber wenn das Regime den Rothschildsund dem englischen Kapital freie Bahn lie (vor allem bei den neuen Eisenbahnli-nien), dann sicher nicht, um den Qualittssprung in der kapitalistischen Ordnungabzuwrgen, den die Preires theoretisiert und durchgesetzt hatten, sondern um ihnso zu managen, dass die ganze Finanzwelt und die Grobanken, die ganze Kapita-listenklasse daran teilnehmen konnten, damit er zum gemeinsamen Terrain fr alle

    wrde, jenseits persnlicher Rivalitten. Die Folgen wurden schon bald sichtbar inForm eines der robustesten Aufschwnge einiger Schlsselsektoren, bevor etwa drei

    Jahre vor dem Krieg von 1870 und der Kommune eine neue Depression begann.Aber der Crdit mobilier besa nicht nur diese Kraft der Antizipation, sondernentsprach auch einer bewussten Politik des Regimes hinsichtlich der Monopole. Zudiesem Thema wurde spter eine lange Schlacht gegen die bonapartistische Praxisder Intervention in die Wirtschaft gefhrt, weil sie die Freihit der Initiative ersti-cke. Auf genau diesem Gebiet entwickelte sich die radikale brgerliche Tradition,die in Frankreich so stark und stabil ist. So gesehen ist das Verhltnis zwischenneuer Bank und Regime mehr als eine einfache Konvergenz, mehr als ein einfacherDrang in Richtung objektiver Tendenz des Kapitalismus. Die oligarchischen undzentralisierenden Tendenzen des Konzentrationsprozesses wurden also unwiderruf-lich gestrkt. Staatliche Macht und konomische Macht wurden auch aus Sicht derArbeiterklasse identisch und stellten unmittelbarer und direkter die Frage nach dem

    70 Ebenda, S. 138.

    71 Ebenda, S. 151 f.

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    Verhltnis zwischen Klassenbewegung und Aufstand. Wie Marx spter im DrittenBand sagte:

    Wenn das Kreditwesen als Haupthebel der berproduktion und berspekulationim Handel erscheint, so nur, weil der Reproduktionsprozess, der seiner Natur nachelastisch ist, hier bis zur uersten Grenze forciert wird, und zwar deshalb forciert

    wird, weil ein groer Teil des gesellschaftlichen Kapitals von den Nichteigentmerndesselben angewandt wird, die daher ganz anders ins Zeug gehn als der ngstlich dieSchranken seines Privatkapitals erwgende Eigentmer, soweit er selbst fungiert.Es tritt damit nur hervor, dass die auf den gegenstzlichen Charakter der kapita-listischen Produktion gegrndete Verwertung des Kapitals die wirkliche, freie Ent-

    wicklung nur bis zu einem gewissen Punkt erlaubt, also in der Tat eine immanenteFessel und Schranke der Produktion bildet, die bestndig durch das Kreditwesendurchbrochen wird. Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwick-lung der Produktivkrfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielleGrundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Hhegrad herzu-stellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleich-zeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrche dieses Widerspruchs,die Krisen, und damit die Elemente der Auflsung der alten Produktionsweise. Diedem Kreditsystem